Die Philosophie Ernst Cassirers: Vom Ausdrucks- und Symbolcharakter kultureller Lebensformen 9783787334407, 9783787334391

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Die Philosophie Ernst Cassirers: Vom Ausdrucks- und Symbolcharakter kultureller Lebensformen
 9783787334407, 9783787334391

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Christian Möckel

Die Philosophie Ernst Cassirers Vom Ausdrucks- und Symbolcharakter kultureller Lebensformen

Meiner

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

Band 18

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Christian Möckel

Die Philosophie Ernst Cassirers Vom Ausdrucks- und Symbolcharakter kultureller Lebensformen

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3439-1 ISBN 978-3-7873-3440-7 (eBook)

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

I. LEBEN U N D FOR M

Simmels Begrifflichkeit der Formung als Anstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Leben‹ als Quell symbolischer Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der ›Lebensordnung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterwerfung des Geistes unter den Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ausdrucksphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geist und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 23 55 75 91 105

II. P O L I T I S C H E S A L S L E B E N S - U N D K U LT U R F O R M

Philosophie der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Politische als philosophischer Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . Staatsbegriff des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegel-Bilder im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung Hegels für die politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . Die Kant- und Hegelvorlesungen im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129 161 173 189 205 229 255

VI

Inhalt

III. K U LT U R PH I L O S O PH I E , K U LT U RW I S S E N S C H A F T, FOR M W ISSE NSCH A F T

Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten . . . . . . . . . . . . ›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Basisphänomene‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formenschau, Formenwandel und Formenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Lebendige Formen‹ und ›Formwissenschaft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie . . . . . . . . . . . . Philosophie, Wissenschaft, Wissenschaftsphilosophie . . . . . . . . . . . . .

293 311 325 345 367 397 419 445

I V. F O R M U N G , S Y M B O L I S I E RU N G U N D O B J E K T I VAT IO N

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . Cassirer und Heidegger über Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen . . . Kunst und Sprache als symbolische Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbol und Symbolisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolische Formen als Wissensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467 493 511 527 545 565 591

V. S Y S T E M , S T RU K T U R U N D S Y M B O L

Mythisch-magisches Denken als Kulturform und Symbolisierungsleistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Philosophie der symbolischen Strukturen‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . System und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cassirer und die strukturalistischen Linguisten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

607 631 655 703

Inhalt

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis verwendeter Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

737 743 745 779

Für Mia und Mero

Vorwort

D

ie unter dem Titel Vom Ausdrucks- und Symbolcharakter kultureller Lebensformen zusammengestellten zweidreißig Beiträge zur Philosophie Ernst Cassirers sind das Resultat langjähriger universitärer Forschungs- und Editionsarbeit. Sie wurden zum Einen mehrheitlich auf nationalen und internationalen Konferenzen vorgetragen, zum Anderen flossen sie vielfach in die universitäre Lehre des Verfassers ein, insbesondere an der HumboldtUniversität zu Berlin, an der Universität Hamburg und an der Universität Lissabon. Die Mehrzahl der Beiträge wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten, also zwischen 1996 und 2016, bereits einmal in Zeitschriften, Tagungs- und Sammelbänden im In- und Ausland veröffentlicht, zwei davon ausschließlich in russischer Sprache. Die Sammlung enthält aber auch sechs bislang unveröffentlichte Texte des Verfassers, drei von ihnen sollen 2018 zudem in fremdsprachigen Versionen erscheinen. Obwohl sich die für die Sammlung ausgewählten Beiträge zu einem mehr oder weniger geschlossenem Bild der Grundzüge, Eigenheiten und innovativen Einsichten der Philosophie Cassirers fügen, läßt der Umstand, daß sie über einen so langen Zeitraum zu unterschiedlichsten Gelegenheiten und an verschiedensten Orten publiziert wurden, einige bislang noch gar nicht, diesen ihren systematischen Zusammenhang für den interessierten Leser bislang kaum deutlich werden, manch ein Text scheint nahezu ›versteckt‹ abgedruckt worden zu sein. Dieser vom Verfasser als störend empfundene Mangel soll durch die vorliegende Sammlung behoben werden, nicht zuletzt auch verbunden mit der Erwartung, auf diese Weise die in ihnen vorgelegten Arbeitsergebnisse, Thesen und Hypothesen noch nachhaltiger in die philosophische Diskussion einbringen zu können. Dies betrifft im Besonderen die in den Beiträgen reichlich ausgewerteten und zitierten nachgelassenen Manuskripte und Texte Cassirers. Die Beiträge wurden, um ihren inneren Zusammenhang deutlicher hervortreten zu lassen, nach fünf Schwerpunkten gruppiert, innerhalb derer sie eine chronologische Anordnung gefunden haben: I. Leben und Form, II. Politisches als Lebens- und Kulturform, III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft, Formwissenschaft, IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation und V. System, Struktur und Symbol. Dem ersten Schwerpunkt sind Beiträge zugeordnet, die Cassirers unerwartete, sich durch sein gesamtes Werk ziehende Beschäftigung mit dem Lebensbegriff und dessen Abwand-

X

Vorwort

lungen dokumentieren, ebenso die originelle Ergänzung des Lebensbegriffs durch den der Form – bzw. des Geistigen – und den des Ausdrucks. Der zweite Schwerpunkt umfaßt Texte, die verschiedenen Aspekten sowohl von Cassirers Philosophie des Politischen als einer symbolischen Kulturform als auch seiner Beschäftigung mit verschiedenen historischen wie aktuellen Staatstheorien nachgehen, wobei seiner Hegelrezeption und der Auseinandersetzung mit den ›Ideen von 1914‹ eine besondere Bedeutung zukommt. Der dritte Schwerpunkt versammelt Beiträge, die sowohl Cassirers wissenschaftstheoretischen Versuche einer Grundlegung der Kulturwissenschaft , unter Rückgriff auf eine Phänomenologie der Ausdrucksfunktion und auf den Form- und den Strukturbegriff, als auch sein Bemühen, die Philosophie der symbolischen Kulturformen zur Fundierung einer originellen philosophischen Anthropologie zu nutzen, zum Gegenstand haben. Außerdem thematisieren die Beiträge Cassirers Versuch einer metaphysischen Begründung seiner Philosophie der symbolischen Kulturformen, unternommen mit Hilfe der Lehre von den Basisphänomenen. Dem vierten Schwerpunkt sind Texte eingruppiert, die dem Grundkonzept der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und ihren Grundbegriffen wie Symbolisches, symbolische Form, symbolische Prägnanz, Formtätigkeit bzw. symbolische Leistungen des Menschen gewidmet sind. Der abschließende fünfte Schwerpunkt umfaßt jüngste Arbeiten zum Verhältnis der Philosophie Cassirers zum Strukturalismus in der Linguistik und Ethnologie / Anthropologie und geht der Beziehung zwischen den Begriffen System, Struktur und Symbol bei Cassirer und den Strukturalisten nach. Die zu fünf Schwerpunkten geordneten Beiträge bringen nicht nur wichtige systematische Bestandteile und Bezüge der Cassirerschen ›Philosophie der symbolischen Formen‹ samt ihrer jahrzehntelangen Ausprägung bzw. Vertiefung zum Ausdruck, sondern auch entscheidende Aspekte der – durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft großzügig geförderten – langjährigen Forschungs- und Editionstätigkeit des Verfassers, wodurch die Schwerpunkte selbst eine gewisse, allerdings immer wieder unterbrochene, chronologische Ordnung bilden. Neben der Edition der von Cassirer während der Emigration gehaltenen Hegel- und Kantvorlesungen, die den Verfasser die letzten Jahre beschäftigt hat (daraus hervorgegangene Beiträge wurden dem II. Schwerpunkt zugeordnet),1 gilt dies sowohl für die Recherchen zum Lebensbegriff als einem Urphänomen im Werk Cassirers (I. Schwer-

E. Cassirer, Vorlesungen zu Hegels Philosophie der Moral, des Staates und der Geschichte, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 16, Hamburg 2013; E. Cassirer, Vorlesungen und Vorträge zu Kant, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 15, Hamburg 2016. 1

Vorwort

XI

punkt)2 als auch für die historisch-kritische Edition nachgelassener Manuskripte und Texte zur Philosophie der Politik (II. Schwerpunkt),3 nachgelassener Schriften zu den Ausdrucksphänomenen in ihrer Bedeutung für die Grundlegung der Kulturwissenschaften (III. Schwerpunkt) sowie für die Edition der Nachlaßmanuskripte zur symbolischen Prägnanz der Wahrnehmung als einem Grundstein von Cassirers Symbolphilosophie (IV. Schwerpunkt). 4 Die jüngst mit Paolo Rubini herausgegebenen Vorlesungen und Vorträge über rationalistische Philosophie spiegeln sich in den ausgewählten Beiträgen noch nicht wieder.5 Alle Beiträge wurden für den vorliegenden Band nochmals überprüft , sprachlich korrigiert und in der Zitierweise vereinheitlicht; Wiederholungen bestimmter Gedankengänge wurden der Lesbarkeit und Schlüssigkeit der einzelnen Texte wegen in der Regel nicht getilgt, gelegentlich wurden aber die Titel vereinfacht oder leicht modifiziert. In Zitaten anzutreffende eckige Klammern […] weisen auf sachlich oder stilistisch bedingte Weglassungen bzw. Umstellungen in den zitierten Passagen hin. Der kommentarlose Sperrdruck und die französischen Anführungszeichen »« bzw. ›‹ in den Zitaten verweisen auf Hervorhebungen in der wiedergegebenen Quelle, in den Texten selbst verantwortet sie der Verfasser. Die Schriften Ernst Cassirers werden grundsätzlich zitiert nach Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, 25 Bde., hrsg. von Birgit Recki, Hamburg 1998ff., und dies mit ECW und arabischer Band- sowie Seitenzahl; soweit andere Ausgaben herangezogen werden, erfolgt der Hinweis auf die entsprechenden Stellen in ECW. Die nachgelassenen Schriften einschließlich der Briefe an und von Cassirer werden nach Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, 18 Bde., hrsg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995ff., hrsg. von Christian Möckel, Hamburg 2014 ff., mit ECN und arabischer Band- sowie Seitenzahl zitiert. Die hier zum Wiederabdruck gebrachten Texte finden eine sachliche Ergänzung durch die vom Verfasser kürzlich in 2., stark erweiterter Auflage veröffentlichen siebzehn Beiträge im Sammelband Husserlsche Phänomeno-

Ch. Möckel, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, in: CF, Bd. 12, Hamburg 2005. 3 E. Cassirer, Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, in: ECN 9, Hamburg 2008. 4 E. Cassirer, Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 4, Hamburg 2011. 5 E. Cassirer, Descartes, Leibniz, Spinoza. Vorlesungen und Vorträge, Hrsg. von P. Rubini und Ch. Möckel, in: ECN 14, Hamburg 2018. 2

XII

Vorwort

logie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, 6 von denen mehrere der Beziehung Cassirers und seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zur Phänomenologie Husserls nachgehen. Der in ihnen manifestierte Blick des in Sachen Phänomenologie Recherchierenden auf diese Beziehung ist zwei Tatsachen geschuldet: zum Einen der objektiven, daß Cassirer Zeit seines Lebens die Phänomenologie rezipiert, geschätzt und sich mit einigen ihrer methodologischen Positionen identifiziert hat,7 zum Anderen der subjektiven, daß den Verfasser neben der Edition des Cassirerschen Nachlasses und dem Engagement in der Cassirerforschung die interessierte Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls ebenfalls seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder in Anspruch genommen und geprägt hat. 8 Der Dank des Verfassers gilt den Herausgebern der Sammelbände und Zeitschriften und den jeweiligen Verlagen, in denen die Beiträge erstmals veröffentlicht wurden, für die freundliche Genehmigung ihres Wiederabdrucks. Herzlicher Dank gilt auch dem Felix Meiner Verlag, insbesondere seinem Cheflektor, Marcel Simon-Gadhof, für die allseitige Beförderung des Vorhabens, diese Sammlung erscheinen zu lassen. Christian Möckel

Berlin Oktober 2018

Ch. Möckel, Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, 2., stark erweiterte Auflage, Berlin 2016. 7 Ch. Möckel, »Cassirer und die Phänomenologie Husserls. Inhaltliche Bezugspunkte, Kulturverständnis und Eigenheiten«, in: ebd., 299–334. 8 Siehe dazu P. Favuzzi/Y. Hamada/T. Klattenhoff, V. Nordsieck (Hrsg.), Symbol und Leben. Grundlinien einer Philosophie der Kultur und Gesellschaft , Berlin 2017, 7–44. 6

i. leben und form

Simmels Begrifflichkeit der Formung als Anstoß für eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ 1. Einführung in die Thematik Die vielfältige und nachhaltige Wirkung philosophischer Anregungen Georg Simmels auf Schüler und Zeitgenossen ist auf den Seiten der Simmel Newsletter schon mehrfach thematisiert worden.1 In dem Zusammenhang kam gelegentlich auch ein sonderbares Muster dieser geistesgeschichtlichen Wirkung zur Sprache, wonach sich entscheidende Ideen und Begriffe Simmels in fast allen bedeutenden philosophischen Konzepten des Jahrhunderts finden, ohne daß sie als solche kenntlich gemacht würden bzw. ohne daß sich die jeweiligen Denker immer dieser Anregungen bewußt wären. Simmel selbst hatte das vorhergesehen, als er in sein Tagebuch die Sätze niederschrieb: »Ich weiß, daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist auch gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt seinen Teil in irgend einen Erwerb um, der s e i n e r Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist«.2

Diese Voraussage dürfte sich am Beispiel seines Schülers Ernst Cassirer bestätigt haben, der wie Simmel zu den Begründern der neuen kulturphilosophischen Disziplin zählt.3 Wichtige Ideen und Begriffe, von Simmel seit seiner Philosophie des Geldes (1900) entwickelt, können als Anstöße für Cassirer auf dem Weg zur ›Philosophie der symbolischen [Kultur-]Formen‹ betrachtet werden. Deshalb soll folgende These aufgestellt werden: das von Cassirer 1922/23 detailliert entworfene, über Hermann Cohen hinausweisende Programm einer Kulturphilosophie, 4 das in dem Satz zum Ausdruck kommt: Vgl. z. B. H.-J. Gawoll, »Impulse der Lebensphilosophie. Anmerkungen zum Verhältnis von Heidegger und Simmel«, in: SNL, Vol. 3 (1993), Nr. 2, 139–151; H.-J. Dahme, »Georg Simmel und Gustav Schmoller: Berührungen zwischen Kathedersozialismus und Soziologie um 1890«, in: SNL, Vol. 3 (1993), Nr. 1, 39–52. 2 G. Simmel, »Aus Georg Simmels nachgelassenem Tagebuch«, in: Logos, VIII, 1919/20, zit. nach H.-J. Gawoll, »Impulse der Lebensphilosophie«, in: SNL, Vol. 3, a. a. O., 150. 3 Siehe dazu im vorliegenden Band insbesondere die Beiträge unter Schwerpunkt III. Philosophie der Kultur und Kulturwissenschaft, 293 ff. 4 Dieses Programm geht zurück auf Überlegungen zu einer »Philosophie des Symbolischen«, die Cassirer im Sommer 1917 zu Papier bringt. Siehe dazu A. Schubbach, 1

4

I. Leben und Form

»Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur«5 , ist von Simmel in nicht unerheblichem Maße vorgedacht worden. Das betrifft neben der Idee der Kultur als vielfältige Objektivation der Subjektivität/Seele und der zentralen Idee des Lebens bzw. der Lebensformen6 u. a. den Formungsgedanken selbst, der aus kantianisch-cohenscher Tradition stammt, den Gedanken eigenständiger, verschiedene kulturelle Sachreihen bildender geistiger Energien7 und die Idee eines symbolischen Verhältnisses in der Formung, d. h. des Zusammenhanges von Zeichen und Ideellem. Der zu führende und einzulösende Nachweis, wonach von dem ›Lebensphilosophen‹ und ›Metaphysiker des Lebens‹ Simmel entscheidende Anregungen und Prägungen auf den Marburger Neukantianer ausgegangen sind, belegt zum Einen den Tatbestand, daß die diversen, sich als gegensätzliche verstehende philosophischen Systeme einer Epoche trotz aller Gegensätzlichkeit einen einheitlichen philosophischen Zeitstrom bilden und Wirkungen aufeinander ausüben. Ihre Abgrenzung und Gegenüberstellung erweist sich folglich nur bedingt als methodologisch sinnvoll. Zum Anderen vermag ein solcher Nachweis die Entstehungsbedingungen und die zeitlichen Formierungsetappen der 1917 erstmals in Umrissen skizzierten Kulturphilosophie Cassirers zu erhellen. 8 Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, (CF, Bd. 16), Hamburg 2016; siehe dazu auch Anm. 8 im vorliegenden Beitrag. 5 E. Cassirer: PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz und J. Clemens, Hamburg 2001, 9. 6 Bei Cassirer fi ndet sich der für die Lebensphilosophie (Dilthey, Spengler) typische Verweis auf die philosophischen Auffassungen Goethes, die um den Begriff des Lebens und des Ganzheitlichen konzentriert sind. Kants Hinwendung zu den Begriffen Leben, Organismus und Zweckmäßigkeit erhebe ihn über den zeitgenössischen Geist der Mechanik. Siehe dazu E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 327 f. 7 Den Ausdruck der »seelischen Energie«, »die die Erscheinungen« der Geldwirtschaft oder die des Lebens in nicht geldwirtschaft lich bestimmten Perioden trage, gebraucht Simmel z. B. schon 1900. (G. Simmel, Philosophie des Geldes [1900], Berlin 6 1958 , 480). Eine allgemein-beliebig einsetzbare »Kulturenergie« stehe bereit, die von bestimmten »Kulturfaktoren« (Geld) aktiviert werden kann. (Ebd., 494) Cassirer wird die symbolischen Formen ähnlich als seelische bzw. geistige Energien beschreiben. Vgl. dazu auch: E.W. Orth, »Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus«, in: Reports on Philosophy, (Warschau/Krakau), Nr. 14 (1991), 116. 8 Sie sind bis auf den heutigen Tag [d. h. 1996 – C.M.] nur andeutungsweise frei gelegt und es wird noch immer auf die Anekdote verwiesen, die von E. Gawronsky, einem Schüler und Freund Cassirers, 1946 in dessen Bericht über diese Umstände erzählt wird: »Als der Verfasser [Gawronsky – C.M.] des vorliegenden Aufsatzes kurz nach dem Ersten Weltkrieg Cassirer wieder traf, steckte dieser schon tief in der Arbeit an seinem neuen Buch. Cassirer erzählte, wie ihm im Jahre 1917, als er gerade in eine Straßenbahn stieg, um nach

Simmels Begrifflichkeit der Formung

5

Wichtige Ideen und Begriffe, die Simmels kulturphilosophisches bzw. kulturkritisches Konzept seit 1910 tragen und prägen, und die auf die eine oder andere Weise in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ Cassirers nach 1922 wiederkehren, werden an Hand seiner lebensphilosophischmetaphysischen Kant-Kritik formuliert. Dieser Zusammenhang mit einer kritischen Rezeption Kants – und Cohens – gilt auch für die ›Philosophie der symbolischen Formen‹: Einige deren Ideen hatte sich Cassirer nicht zuletzt an Hand der Interpretation von Kants Kritik der Urteilskraft erarbeitet, wobei er von Cohens Kant-Verständnis geleitet war.9 Die wichtigen Ankündigungen der zukünftigen Philosophie schon in den Kant-Arbeiten von 1912 und 1916/18 dürften jedoch nicht ohne Anregungen durch Simmel zustande gekommen sein. Steht der mit seinem Kant-Verständnis bzw. der Transformation der Kantschen Philosophie von 1902/04 doch nicht allein, was sich teilweise in Cassirers Würdigungsbeitrag über Cohen (1912)10 und in seinem Buch Kants Leben und Lehre (1916/18) wiederfindet. Auch Cohen bleibt nicht bei einer orthodoxen Kant-Auslegung stehen.11 Beide fassen die Wissenschaft als eine der geschichtlich gewordenen, sich objektivierenden Kulturtatsachen auf, die dem Menschen als Kulturmächte gegenüber treten. Folglich mußte Cassirer bei seinen beiden Lehrern Simmel und Cohen nicht einfach »zwischen […] zwei sich ausschließenden Mög-

Hause zu fahren, der Plan einer ›Philosophie der Symbolischen Formen‹ aufleuchtete. Als er wenige Minuten später zu Hause ankam, stand die Konzeption dieses neuen großen Werkes fertig vor seinem geistigen Auge, mit allen Einzelheiten, wie er den Plan dann im Laufe der nächsten 10 Jahre ausarbeitete.« (D. Gawronsky, »Ernst Cassirer: Leben und Werk«, in: Ernst Cassirer, Hrsg. von P.A. Schilpp, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 19662 , 18). Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Episode stellt sich die Frage, ob eine so komplizierte und tiefsinnige Konzeption, die ganz entscheidend über den Kantianismus der Marburger Schule hinausgeht quasi aus dem Nichts geboren werden konnte, oder ob hier nicht Ideen zur Reife gelangten, die vorher schon vorlagen, sowohl im frühen philosophischen Werk Cassirers als auch im philosophischen Werk seines Lehrers Simmel. Siehe dazu auch Anm. 4 im vorliegenden Beitrag. 9 Auf diesen Zusammenhang hatte u. a. Jaromir Danek in seinem Buch über die Entwicklung des Neukantianismus hingewiesen: J. Danek, Transformation de la philosophie transcendentale: le néokantianisme et sa fondation épistémocritique, (Logos et éthos. Ètudes philosophiques), Université Laval, vol. I, Québec 1989, 107, 114–119. 10 E. Cassirer, »Herman Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, 119–138. 11 »Es gibt heute keine Kantianer mehr. Cohen gilt für orthodox, aber er weicht immer mehr von ihm ab u[nd] von mir kann ich wohl sagen, daß ich keinen Kantschen Satz ganz ohne Vorbehalt unterschreiben könnte […]« – P. Natorp an E. Husserl, 8.III. 1897, in: E. Husserl, Briefwechsel, Hrsg. von K. Schumann in Verbindung mit E. Schumann, (HuaDok III), Bd. V: Die Neukantianer, Dordrecht-Boston-London 1994, 51.

6

I. Leben und Form

lichkeiten wählen«.12 Deshalb sollen die Gemeinsamkeiten in den KantArbeiten beider Kulturphilosophen einen der beiden Schwerpunkte der vorliegenden Untersuchung bilden. Den Themen der vielfältigen Formungsenergien von Kulturwelten, ihres infolgedessen fragmentarischen Charakters und der symbolischen Beziehungen im Kulturprozeß, wie sie in Simmels kulturphilosophischen Schriften nach 1910 zum Ausdruck kommen und von Cassirer mit großer Wahrscheinlichkeit zur Kenntnis genommen werden, wovon zumindest spätere Bemerkungen zeugen, ist der zweite Schwerpunkt gewidmet. In dem Zusammenhang wird auch auf Cassirers kritische Simmel-Würdigung von 1928 eingegangen, in der die eigenartige Zurückhaltung, mit der er von seinem Lehrer – und Kollegen – aus der Berliner Zeit spricht, erneut hervortritt. Bei aller geäußerten Sympathie für den Kulturphilosophen Simmel, die in dem nachgelassenen Manuskript »›Geist‹ und ›Leben‹«13 (1928) und in der 5. Studie Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) anklingt, hat sich Cassirer niemals zu Anregungen durch ihn bekannt. Der Text von 1928 bietet zwar eine sehr weitreichende Würdigung des späten Simmel, vermeidet jedoch konsequent jegliche Aussage, die auf Anregungen durch Simmel bei der Herausbildung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ schließen ließen. Er erweckt lediglich den Eindruck, daß Simmel in den späten Arbeiten ebenfalls, parallel zu ihm bis dicht an das Verständnis des Symbolischen14 und der symbolischen Form herangekommen war, wegen seiner nunmehr metaphysischen Grundauffassung das symbolische Verhältnis von Form/Idee/Ideellem und Leben aber letztendlich nicht im Sinne der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu lösen vermochte. Das fehlende Bekenntnis zu Simmel steht in einem offensichtlichen Mißverhältnis zum Bekenntnis zu Cohen, das bekanntlich das Hinausschreiten über dessen Philosophie überdauert. Der Gedanke, Simmel müßte Anstöße für Cassirers ›Philosophie der symbolischen [Kultur-] Formen‹ gegeben haben bzw. in beider Philosophie träten zumindest Parallelen auf, wurde in der Simmel- und Cassirer-Rezep-

E.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: E. Cassirer, Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Hrsg. von E.W. Orth, Leipzig 1993, 13. »Beachtlich ist jedoch die Gemeinsamkeit zwischen Simmel und Cohen.« – Ebd., 12. 13 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 8–18. 14 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564. 12

Simmels Begrifflichkeit der Formung

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tion jedoch schon öfter ausgesprochen, meist als Vermutung oder Hinweis.15 Die einzige konkrete Untersuchung des Themas hat bislang [d. h. 1996 – C.M.] E.W. Orth in seinem Beitrag »Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus« 1991 unternommen. Er arbeitet – vor allem an Hand Simmels Philosophie des Geldes (1900) – eine Reihe von strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen den ursprünglich neukantianisch geprägten philosophischen Auffassungen beider heraus, die die These nahelegen, »daß Cassirers Philosophie der symbolischen Formen von Simmel positiv beeinflußt ist.«16 Auch spätere Stellungnahmen Orths zu Cassirer kommen auf das Thema zurück.17 Diejenigen Lebensumstände, die die persönliche Beziehung zwischen Simmel und dem um 16 Jahre jüngeren Cassirer betreffen, können zwar nicht als hinreichendes, wohl aber als wichtiges Indiz dafür gelten, daß eine geistige Orientierung an dem Älteren stattgefunden hat. Dazu gehört die Tatsache, daß Cassirer 1894 bei Simmel in Berlin Kant-Vorlesungen hörte und von diesem auf Cohen und Marburg verwiesen wird.18 Nach seinen Marburger Jahren – und von einer kurzen Münchner Episode 1902/03 unterbrochen – lebte Cassirer von 1899 bis 1919 wieder in Berlin, bis 1914 auch die Wirkungsstätte Simmels. Ob er im WS 1902/03 dessen Berliner Kant-Vorlesungen hörte, ist eher unwahrscheinlich, aber für den Umstand, daß beide miteinander in Kontakt stehen, gibt es Hinweise. Er findet sich u. a. 1968 bei M. Landmann und bezieht sich auf die Annahme je eigener Logiken in den unterschiedlichen kulturellen Welten (M. Landmann, »Vorwort des Herausgebers«, in: G. Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Hrsg. und eingeleitet von M. Landmann. Neuausgabe 1987 mit einem Nachwort von K.Ch. Köhnke, Frankfurt/Main 1987, 18 f. ), K. Ch. Köhnke behauptet 1992 einen Einfluß von Simmels Theorie der Moderne auf Cassirer (K.Ch. Köhnke, »Vorbemerkungen zu Georg Simmels ›Das individuelle Gesetz‹«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1993/2, 317 f. ). Demgegenüber weist R.A. Bast 1993 auf den prinzipiellen Unterschied in den Folgerungen, die Simmel und Cassirer aus der ›Tragödie der Kultur‹ ziehen, hin (R.A. Bast, »Einleitung«, in: E. Cassirer, Erkenntnis, Begriff, Kultur, Hrsg. von R.A. Bast, Hamburg 1993, XXXV). A. Graeser sieht die Folgen technischer Naturbeherrschung, die Cassirer problematisiere, schon bei Simmel herausgestellt. (A. Graeser, Ernst Cassirer, München 1994, 104) An Hand des Manuskriptes von 1928 stellte J.M. Krois 1994 auf einer Simmel-Tagung zehn Thesen zu Cassirers Interpretation der (Lebens-)Philosophie Simmels vor. (V. Krech, »Georg Simmels Philosophie – Ein Tagungsbericht«, in: SNL, Vol. 4, Nr. 2, Winter 1994, 178). 16 E.W. Orth, »Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus«, in: Reports on Philosophy, a. a. O., 116. 17 Für Orth besteht kein Zweifel daran, daß »Simmel […] von Cassirer [nach dem Besuch dessen Berliner Vorlesungen im Jahre 1894] nicht vergessen [wird].« – E.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: E. Cassirer, Geist und Leben, a. a. O., 11 f. 18 D. Gawronsky, »Ernst Cassirer: Leben und Werk«, in: Ernst Cassirer, a. a. O., 2 f. 15

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Für die Beziehungen der seit 1906 gemeinsam an der Berliner FriedrichWilhelm-Universität Lehrenden spricht der Versuch, zu dritt mit dem Privatdozenten M. Frischeisen-Köhler ein gemeinsames Kolleg abzuhalten, was die Berliner Fakultät jedoch nicht gestattet.19 Die mit dem Logos-Projekt 1909/10 verbundene Diskussion um eine zeitgemäße Kulturphilosophie als einer Antwort auf wahrgenommene Gefährdungen dürfte ihre Wirkung auch bei Cassirer hinterlassen und ihn u. a. auf Simmels Aufsatz »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (Logos II, 1911/12) aufmerksam gemacht haben. Auch dessen Idee, über die angestrebte Interdisziplinarität die Einheit von Welt, Wissenschaft und Philosophie im Namen einer kulturphilosophischen Anstrengung zu restituieren, 20 ist bei Cassirer auf fruchtbaren Boden gefallen. 1910 wird er von Simmel zur Mitarbeit am Logos aufgefordert.21 Die Zeitschrift gestaltet sich bekanntlich für Simmel zum wichtigsten Forum seiner späten kulturkritischen und metaphysischen Aufsätze, auf die Cassirer sowohl 1928 als auch 1942 Bezug nimmt.22 Im Band VII (1917/18) erscheint der erste Beitrag aus der Feder Cassirers (»Hölderlin und der deutsche Idealismus«). Außerdem wird seine Kant-Ausgabe rezensiert, im Band VIII bespricht R. Körner sein Kant-Buch (1918). 1924/25 wird Cassirer – für den verstorbenen P. Natorp – als Mitarbeiter kooptiert.

2. Transformation der Philosophie Kants bei Simmel und Cassirer. Ein erster Schritt zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ Die Kritik, die Simmel 1902/04 in seinen Kant-Vorlesungen an dessen ›intellektualistischer‹ Weise des Philosophierens übt, die »die für das Denken gültigen Normen als auf allen Lebensgebieten gültig zu erweisen« trachte, bereitet eine wichtige Erweiterung der drei Kantschen Kritiken unserer J.M. Krois, »Ernst Cassirer 1874–1945«, in: J.M. Krois/G. Lohse/R. Nicolaysen, Die Wissenschaft ler. Ernst Cassirer, Bruno Snell, Siegfried Landshut, (Hamburgische Lebensbilder, Bd. 8), Hamburg 1994, 15. 20 R. Kramme, »Brücke oder Trost? Zu Georg Simmels Engagement für den ›Logos‹«, in: SNL, Vol. 3, Nr. 1, Sommer 1993, 65. 21 E. Cassirer an J. Cohen vom 16. Januar 1910, Angabe nach: R. Kramme, »Brücke oder Trost?«, ebd., 71. 22 Die Auseinandersetzung mit Simmels ›Metaphysik des Lebens‹ greift auf zwei Kapitel aus dessen letztem Buch Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (München und Leipzig 1918) und, so lassen Formulierungen vermuten, auf die beiden kulturkritischen Aufsätze von 1911 und 1918 zurück. (E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 215, 217). Die 1942 veröffentlichte Simmel-Kritik bezieht sich nur noch auf den Aufsatz »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (1911). 19

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höheren Gemütsvermögen vor, die Cassirer aufnimmt und zur ›Kritik der Kultur‹ weitergestaltet. Für Simmel ist Philosophie bzw. Wahrheit bei weitem nicht identisch mit [Natur-]Wissenschaft, d. h. mit begrifflich-logischer Geistigkeit.23 Konsequent bezeichnet er 1904 den Intellektualismus Kants als einen »logischen Fanatismus, der dem gesamten Leben die Form mathematischer Exaktheit aufdrängen möchte« und der ein »auf das Logisch-Begriffliche gestelltes geistiges Lebensgefühl« zum Ausdruck bringe.24 Leben ist für Simmel mehr als Logos: es ist auch Gefühl und Seele.25 Diese Kritik, die ebenfalls gegen Cohens Kant-Interpretation gerichtet ist, wiederholt Cassirer de facto 1922 in seinem reifen Entwurf zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹. Das Konzept einer Logik der symbolischen Kulturformen entwerfend, der sich die Logik der theoretischen Erkenntnis ebenso einordnet wie die Logik des Mythos oder die Logik der Sprache, hält er Cohens Identifi kation der Logik mit der Logik der reinen Erkenntnis und diese mit der »Logik der mathematischen Naturwissenschaft« nunmehr für zu eng, 26 für das Thema auf eine einzige »›Modalität‹ der geistigen Auffassung und geistigen Formung« reduzierend.27 Was Cassirer dann in der Einleitung zum I. Teil der Philosophie der symbolischer Formen mit der Ankündigung, Kants bzw. Cohens dreiteilige Vernunftkritik zu erweitern, zu überwinden trachtet, ist vor allem die Beschränkung der Objektivität bzw. Objektivation auf wissenschaftliche Erkenntnis, auf ihren »rein logisch bestimmten Gegenstand«.28 Die eine und allgemeine menschliche Vernunft Kants erfährt nun ihre Historisierung und Spezifi zierung in viele ›Logiken‹, ohne daß der Gedanke eines funktionalen Gesamtzusammenhanges aufgegeben wird. Für einen solchen Schritt habe Kant selbst die Richtung vorgeben, betont Cassirer im Anschluß an Simmel. Der bezieht das 1904 auf die Anerkennung der »Selbständigkeit des Gefühls, [der] das Leben beherrschenden Macht des Willens [d. h. weiterer Seelenenergien – C.M.]«. 29 Die Alternative: Sittlichkeit (d. h. Pflicht) oder egoistisches Glück ablehnend, hebt G. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie (1910), Berlin-New York 19899, 27. G. Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen, Berlin 1904, 6. 25 »Es fehlt diesem Weltbild völlig die Mitwirkung des Gefühls und jener geheimnisvollen, unmittelbaren Beziehung der Seele zum Kern des Seins […]. Vielmehr, die Wirklichkeit ist mit der Summe der intellektuellen Begreifl ichkeiten abgeschlossen.« – Ebd., 74. 26 E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 5. 27 Ebd., 8. 28 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 8. 29 G. Simmel, Kant (1904), a. a. O., 5. 23

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Simmel als wichtigen philosophischen Fortschritt hervor, daß bei Kant Tugend und Glücksstreben als zwei selbständige Strömungen des Lebens von verschiedenen Ausgangspunkten auf unterschiedliche Ziele weisen. Jede der Strömungen ruhe in sich und erfahre ihre Geltung nur aus sich heraus. Diese Verselbständigung der einzelnen Triebe, die in die Moderne weise,30 müsse auch auf einen eigenständigen religiösen Trieb und folglich auf die Religion als eigenständiges [Wert-]Gebilde ausgedehnt werden.31 Eine nahezu analoge Deutung nimmt Cassirer später vor. Indem Kant das wahrhafte System der Vernunft im Ganzen von drei Kritiken entwarf, habe er die Enge des logischen Gegenstandes schon selbst empfunden. Im intelligiblen Reich der Freiheit, im Reich der Kunst und im Reich der organischen Naturformen trete »je eine neue Seite der Wirklichkeit heraus«, heißt es z. B. 1923.32 Cassirer spricht bereits 1912 – in Anlehnung an Cohen – bei Kant von einem »umfassenden System der Geltungswerte« der Wahrheit, innerhalb dessen die theoretische Vernunft den Geltungsarten der Subsysteme Ethik und Ästhetik/Teleologie gegenüberzustellen sei.33 Der Gedanke weist schon auf die zukünftige ›Kritik der Kultur‹ hin. Hier klingt die von Simmel 1904 geforderte Unterscheidung und getrennte Betrachtung unterschiedlicher Vermögen als eigenständiger, autonomer ›seelischer Energien‹ an. Bezeichnend für das Vordringen zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ sind auch Cassirers Aussagen zu Kants Ästhetik, da sich in ihnen der spätere philosophische Ansatz schon abzeichnet. Im Kunstwerk werde ein »eigentümliches Sein« lebendig, d. h. ein weiterer, ein dritter Geltungswert, der in eine entsprechende bildende Funktion verwoben ist. Die »Welt der ästhetischen Phantasie« stammt »aus einem eigentümlichen Prinzip des Aufbaues […], das selbständig eine neue gegenständliche Welt aus sich hervorgehen läßt.«34 Die Kunst gilt Cassirer 1912 geradezu als Modellfall für die geistige Formung einer Welt mit einem bestimmten Geltungswert. In Einklang mit dem Simmel von 1904 knüpft Cassirer auch 1916/18 erneut an den Gedanken an, daß wir es bei den oberen Erkenntnisvermögen Verstand (Natur), Vernunft (Sittlichkeit) und Urteilskraft mit selbständigen Vermögen, mit »reinen […] Energie[n] des Denkens«, »eigene[n] Prinzip[ein]« (Apriori) des Gemüts zu tun haben.35 Er ist um den NachEbd., 123–124. Ebd., 129–130. 32 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 8. 33 E. Cassirer, »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1926), a. a. O., 129 f. 34 Ebd., 137. 35 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, a. a. O., 3, 262. 30 31

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weis bemüht, wonach in Kants Philosophie die Idee »einer systematischen Bedeutungsdifferenz der Kulturgebiete« angelegt oder gar schon ausgesprochen ist.36 In ihren kritischen Würdigungen Kants weisen Simmel und Cassirer also unisono auf zwei weiterzuführende Anknüpfungspunkte hin: auf die idealistische Idee der geistigen Formung von Wirklichkeit (die ›Kopernikanische Wende‹ und die transzendentale Methode in Cohens Interpretation im Auge habend) und auf den bei Kant vorgefundenen Gedanken mehrerer ›innerer Energien‹, die gleichberechtigt ›Welt[en]‹ formen. Den Vorzug des Kantschen Idealismus als der Einsicht, daß unserer Verstand, unserer Geist nicht ein Abspiegeln von Gegebenem, sondern eine gesetzmäßige, formende, bildende und somit erzeugende Tätigkeit verrichtet, bestimmen Simmel und Cassirer fast wortgleich, und das weitgehend im Sinne Cohens. Dabei wird von Simmel – zumindest 1904 – der Gedanke eines ursprünglichen Zusammenhanges von formender Tätigkeit des Geistes, geformtem Material und Bildung des Materials in der Formung ausgesprochen: »Die formende Tätigkeit unseres Geistes enthüllt sich so als die Bedingung der elementarsten Vorstellungen, als die Bildnerin dessen, was wir unbefangnerweise als das schlechthin gegebene Material unserer Erkenntnisse hinzunehmen pflegen. Der […] Gedanke: daß jegliche Form der Dinge […] ein Tun des erkennenden Geistes ist, bildet den eigentlichen Kern des Kantschen ›Idealismus‹ […].«37

Im Vorwort zum Kant-Buch konstatiert Cassirer 1918, daß für ihn der methodische Grundgedanke der Cohenschen Kant-Deutung, die Auffassung der transzendentalen Methode als ein Erzeugen des Gegenstandes, gültig bleibe.38 Das idealistische, ursprünglich-bildende Prinzip habe Kant – so Simmel – auch auf die praktische Philosophie angewandt.39 Cassirer seinerseits betont 1912, Kant habe das idealistische Prinzip der Erzeugung des Ebd., 310. G. Simmel, Kant (1904), a. a. O., 37–38; »[…] Form […] ist, auf die Funktion hin angesehen, die sie verwirklicht, die Vereinheitlichung des Stoffes; sie ist die Überwindung des isolierten Fürsichseins seiner Teile […].« (Ebd., 38) »Es ist ein grundlegender Gedanke von wunderbarer Tiefe: wir erkennen den Gegenstand, indem wir ihn als Gegenstand erzeugen.« (Ebd., 40) 38 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, a. a. O., IX. 39 So hebt Simmel als Verdienst Kants hervor, auch die Sittlichkeit als eine spontane und formende Kraft unseres Innern aufgefaßt zu haben. D. h., auch in der praktischen Philosophie löse Kant alles in Tätigkeit, Energie, Formung innerer Kräfte auf. – G. Simmel, Kant (1904), a. a. O., 90. 36 37

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Gegenstandes auf die ästhetisch-teleologische Urteilsfunktion des Geistes ausgedehnt. Nun, so geht er 1923 konsequent weiter, gelte es, das Prinzip des geistigen Bildens mit gleichem Recht auf »jede Richtung und auf jedes Prinzip geistiger Gestaltung« zu übertragen, 40 denn »jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt.«41 Der Frage vielfältiger Typen geistiger Formung hatte sich Simmel auch über die Kritik von Kants Aprioritätslehre genähert. Hierbei kommt er zu dem Ergebnis, daß unsere geistigen Energien eine Vielzahl von formenden Apriori enthalten, die wir nachträglich reflektierend rational-begriffl ich deuten, da sie dem vorausgehende, objektive, übersubjektive, spontan in uns wirkende Kräfte seien. 42 In der Annahme von Apriori ausschließlich in der Sphäre wissenschaftlicher Erfahrung von Natur sieht Simmel eine der Beschränktheiten Kants, die zu überwinden sind. Er bringt die Gewißheit zum Ausdruck, daß auch die historischen Tatsachen jeweils durch die »Formung eines gegebenen Stoffes nach gefühlsmäßigen, intellektuellen, politischen, psychologischen, ethischen Kategorien« hervorgegangen sind. 43 Simmel sieht 1904/05 die Ausformung des psychologischen, d. h. empirisch-alltäglichen, und des geschichtlichen Weltbildes – neben dem naturwissenschaftlich-objektiven – von entsprechenden inneren Energien geformt. Die Vervielfältigung möglicher Typen von Weltbildung hat ebenfalls mit der Frage der Etablierung gleichberechtigter Geisteswissenschaften zu tun. Mit ihr bietet Simmel bereits einen Ausblick auf die spätere ›Philosophie der symbolischen [Kultur-]formen‹. Denn was für die Geschichte gilt, gelte auch für das Recht, das Kunstverständnis, die Psychologie und die Religion. Auf sie alle wirken Formen bzw. Apriori beim Zustandekommen als erfahrbare Tatbestände ein. 44 D. h., die a priori bestimmten Weisen der Formungstätigkeit werden als jeweils eigenständiges, eigengesetzliches Bilden in Naturerkenntnis, Kunst, Religion, Moral etc. verstanden, welche sie als geistig-ideelle Kulturgebilde damit erst schafft . Die verschiedensten Formungsgesetze machen das ›unmittelbare

E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 8. Ebd., 7. 42 G. Simmel, Kant (1904), a. a. O., S. 20. 43 Ebd., 24; Es gelte aufzuweisen, »daß der Geist auch das Bild des geistigen Daseins, das wir Geschichte nennen, durch die nur ihm, dem erkennenden, eigenen Kategorien souverän formt.« – G. Simmel, Probleme der Geschichtsphilosophie (1905), München und Leipzig 19214, VII. 44 G. Simmel, Kant (1904), a. a. O., 25. 40 41

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Leben‹ des Menschen aus. 45 Cassirer faßt zunächst die Kunst als die exemplarische symbolische Form auf, 46 da im Kunstwerk ein symbolisches Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem vorliege und die künstlerische Tätigkeit in ihm einen symbolischen Ausdruck des Grundverhältnisses der Gemütskräfte zu Wege bringe. 47 1922/23 unterscheidet er dann die Erkenntnisfunktion, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktionen mythischen und religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung als kulturelle Gestaltungsweisen von Welt. Simmel, bei dem die Sprache als Formungsweise von Welt fehlt, hatte schon 1904/05 Geschichte, Recht, Psychologie – d. h. empirisches Alltagsbewußtsein – und Moral in den Rang von Kulturformen erhoben, nachdem von ihm 1900 die ›Geldkultur‹ als eine wichtige symbolische Form beschrieben worden war. 48 Die von Simmel unterschiedenen ideellen Weltgebilde lassen in der Tat einen Ausblick auf die bei Cassirer herausgearbeiteten und untersuchten symbolischen Kulturformen zu, die – im Unterschied zu dessen fragmentarischen, »ontologisch auf derselben Stufe« stehenden ›Welten‹49 – allerdings eine genetische oder wertmäßige Hierarchie bilden, die im rationalnaturwissenschaftlichen Weltbild ihren Höhepunkt erreicht.50 Die unterschiedlichen ›Welten‹, die am gleichen ›Weltinhalt‹ durch verschiedene geistige Energien geformt wurden, geben bei Simmel kein einheitlichen Gesamtbild ab, das tun nur die jeweiligen fragmentarischen ›Bilder der Welt‹: das religiöse, das [natur-] wissenschaftliche etc. Weltbild, die für sich genommen Ganzheiten ausmachen. Cassirer folgt seinem Lehrer in der Überzeugung von der Eigengesetzlichkeit und Konsistenz der einzelnen ›Welten‹ von kultureller Bedeutung. So bestimmt er 1918 die ästhetische Urteilsfunktion als ein gestaltendes Prinzip, das ein Urphänomen darstelle, welches in die Geltungssphäre der anderen Funktionen nicht eingreift.51 Und 1922 betont er, daß jede symG. Simmel, Probleme der Geschichtsphilosophie (1905), a. a. O., VI. E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, a. a. O., 295. 47 Ebd., 311. 48 E.W. Ort, »Georg Simmel als Kulturphilosoph«, in: Reports on Philosophy, a. a. O., 117. 49 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, 36. 50 »Jede dieser ›Welten‹ [d. h., Wissenschaft , Religion, Kunst – C.M.] gehorcht [bei Simmel] einer in sich geschlossenen Logik, alle – also auch die ›Wirklichkeit‹ – sind koordiniert und stehen ontologisch auf derselben Stufe. Man vergleiche dies mit Cassirer, bei dem noch wie bei Comte die wissenschaft liche Formung allen anderen den Rang abläuft .« – M. Landmann, »Vorwort des Herausgebers«, in: G. Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, a. a. O., 18 f. 51 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, a. a. O., 286, 299, 341. 45

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bolische Form ihre eigene Logik, ihr Strukturprinzip, ihr Bildungsprinzip besitzt.52 Damit ist – wie bei Simmel – die Idee der Selbstgenügsamkeit der Kulturformen ausgesprochen. Für Simmel sind die jeweiligen kulturellen »Bilder der Welt« (Poesie, Malerei, Wissenschaft , Alltag, Religion usw.) in sich jeweils stimmig – bzw. können es sein –, zusammen ergeben sie aber, wie gesagt, kein »einheitliches« Bild von der Welt.53 Hier bezwingt der fragmentarische Charakter der Welt, des Daseins die übergreifende Einheit. Allein die Philosophie bzw. eine philosophische Typik vermag ein einheitliches Weltbild zu erschaffen, zu erfassen, das dann allerdings bei einer Anwendung auf das alltägliche oder wissenschaft liche Ergreifen einzelner Dinge versagt.54 Im Unterschied zu Simmel betont Cassirer jedoch, daß das transzendentale System einen geschlossenen Zusammenhang von »Erzeugungsweisen des Bewußtseins« darstellt, »deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt«.55 Da diese unter der Einheit des Bewußtseins stehen, sind sie miteinander verwandt, bilden allerdings keine »unterschiedslose Geltungseinheit«. Die »übergreifende Idee der Geltung spezifi ziert sich innerhalb dieser Einheit in ihre verschiedenen Unterarten«.56 Im KantBuch (1918) entwickelt er sein philosophisches Strukturprinzip am Thema der ästhetisch-teleologischen Urteilskraft weiter: die Verklammerung von je »eigentümlichen Gesetzesformen« der Gestaltung, unter denen die drei ›Welten‹ Natur, Sittlichkeit und Kunst-Teleologie als eigenständige Geltungen kulturellen Sinns stehen, mit dem Gelten eines einheitlichen, übergreifenden Struktur- oder Gestaltungsprinzips, wonach das Ganze, die Zweckmäßigkeit, ursprünglich und sinnstiftend für die Teile, die drei Sonderungen, ist. Alle unterschiedlichen Weisen, eine objektive Geltung von Sinn bzw. Bedeutung zu begründen, werden als Sonderformen im Rahmen des einen allgemeinen Prinzips begriffen.57 Im Weiteren formuliert Cassirer mit der Einheit der jeweiligen Kulturform in sich selbst und der Einheit, die von dem »wechselseitige[n] Verhältnis dieser Formen« gebildet wird, zwei entscheidende Aspekte seiner Kulturphilosophie der symbolischen Formen.58 Die besondere Form bzw. E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 8. 53 G. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie (1910), a. a. O., 36 f. 54 Ebd., 38, 41. 55 E. Cassirer, »Herman Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 138. 56 Ebd., S. 138. 57 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, a. a. O., 275 f. 58 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissen52

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›Welt‹ kann allerdings nicht aus dem allgemeinen Struktur- oder Gestaltungsprinzip von Objektivität deduziert, abgeleitet werden, sie folgt einer »selbstgenügsamen« Logik. Das Prinzip des Primates der Funktion vor dem Gegenstand nehme »in jedem Sondergebiet eine neue Gestalt an und [verlange] eine neue selbständige Begründung.«59 In seiner späteren Auseinandersetzung mit Simmel wird Cassirer das Verhältnis einzelner Akte zum Sinnganzen der symbolischen Form für die Sprachakte thematisieren. 60

3. Kulturwelten stiftende Formungsenergien und ihr symbolischer Charakter Nicht nur in der Simmelschen Philosophie des Geldes61 und in der KantDeutung, sondern auch in den Aufsätzen zur »Tragödie der Kultur« (1911), zum »Fragmentcharakter des Lebens« (1917) und zur »Metaphysik des Lebens« (1918) klingen immer wieder ›Vorgriffe‹ auf Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ an, kreist doch das Denken Simmels nach 1910 immer stärker um die Begriffe Leben, Seele, Kultur, Formen, Geist, Distanz. 62 In den späten Abhandlungen arbeitet Simmel »die großen Funktionsarten des Geistes« klar heraus, die die möglichen geistigen Inhalte »zu je einer, durch bewußt besonderen Charakter vereinheitlichten ›Welt‹ zusammen[-wachsen lassen].«63 Eine »identische Totalität von Inhalten zu einer jeweils in sich geschlossenen, einem unverkennlichen Grundprinzip untertanen ›Welt‹« entwickelnd bilden sie die Welt in den Formen der Kunst, der Erkenntnis, der Religion, »in der Form der Wert- und Bedeutungsabstufung überhaupt«. 64 schaften« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 96. 59 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 9. 60 E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 15, 218. 61 A. Haesler z. B. hat an Hand seiner Analyse von Simmels Philosophie des Geldes festgestellt, das hier das ›System der Dinge‹ als ein System idealer Gebilde, d. h. Zeichen aufgefaßt werden müsse, zumal eben Zeichengebilde unendlich produzierbar und vermehrbar sind. Anstelle substanzieller Gebilde setze Simmel mit dem Geld zirkulierende Zeichensysteme. – A. Haesler, »Substanzieller und funktioneller Fortschritt bei Georg Simmel«, in: Simmel Newsletter, Vol. 2, Nr. 2, Winter 1993, 121, 122. 62 Hervorheben ist in dem Zusammenhang auch Simmels Aufsatz »Vorformen der Idee« (Logos, VI, 1917), der als II. Kap. »Die Wendung zur Idee« in die Sammlung Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918) aufgenommen und von Cassirer 1928 ausgewertet und kommentiert wird. 63 G. Simmel, Lebensanschauung (1918), a. a. O., S. 30. 64 Ebd., 30.

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Allerdings fallen in dem Zusammenhang bei Simmel die mißverständlichen Worte vom ›Weltstoff‹, an dem die jeweiligen Grundprinzipien ›Welt[en]‹ bilden. 65 So spricht er vom ›Stoff‹ der kulturellen Bedeutungswelten, die von je einem Grundmotiv, von einer weltformenden Kategorie her diesen zur Welt des künstlerisch Erschaffbaren, zur Welt des theoretisch Erkennbaren oder zur Welt des religiös Konstruierbaren formen. 66 Cassirer macht den Bedeutungswandel eines Inhaltes als ›Stoff‹ unterschiedlicher geistiger Energien bzw. symbolischer Funktionen 1927 in seinem berühmten Beispiel vom Linienzug im Wahrnehmungserlebnis deutlich: ein Funktionswandel in der Wahrnehmung läßt aus dem »rein-sinnlichen Eindruck« der Zeichnung ein »ästhetisches Gebilde«, den Träger einer mythisch-religiösen Bedeutung oder ein Beispiel für einen rein logischbegrifflichen Strukturzusammenhang werden. 67 Simmel seinerseits läßt uns jedoch sofort wissen, daß »der Weltstoff […] nicht auf Borg von einer selbständigen Existenz her […]« in den geformten kulturellen Welten enthalten ist. 68 Das erläutert in den Hauptproblemen (1910) u. a. die Vorstellung, wonach die Welt als Inhalt ein für uns nicht unmittelbar greifbares Dasein bildet, wir den Weltinhalt nur dadurch ergreifen, weil er »in einer Mannigfaltigkeit von Formen ausgestaltet ist, deren jede prinzipiell [die] Ganzheit [von Gehalt und Form – C.M.] zu ihrem Inhalt gewinnt.«69 D. h., weder als solcher noch als ein bestimmter existiert für Simmel der ›Weltstoff‹ geschieden von seiner Formung, zumal er als geistiger Inhalt verstanden wird.70 Damit löst er das Problem von Gehalt und Form wohl eher auf ähnliche Weise wie Cassirer selbst, der immer die phänomenologisch »ungeschiedene Einheit« von »Sinnlichem« und »Sinnhaftem«, von Gehalt und Form betont.71 Den Simmelschen Gedanken, wonach die bildende Funktion der unter65 66

Ebd., 31. G. Simmel, »Der Fragmentcharakter des Lebens« (1917), in: Logos, VI, (1916/17),

34 f. E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 257 ff. 68 G. Simmel, Lebensanschauung (1918), a. a. O., 32. 69 G. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie (1910), a. a. O., 15; »Die Wissenschaft und die Kunst, die Religion und die gefühlsmäßig-innerliche Verarbeitung der Welt, die sinnliche Auffassung und der Zusammenhang der Dinge nach einem Sinn und Wert – dies und vielleicht noch andere sind die großen Formen, durch welche jeder einzelne Teil des Weltinhaltes sozusagen hindurchpassieren kann oder soll.« – Ebd., 15. 70 G. Simmel, »Der Fragmentcharakter des Lebens« (1917), in: Logos, VI, a. a. O., 30. 71 E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 258 f. 67

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schiedlichen geistigen Energien, die den Weltstoff, den Weltinhalt je zu eigenständigen Sachreihen formen, keine außer der Zeit und Geschichte sich vollziehende Funktion ist, sondern epochenweise durch einen bestimmten Stil oder »Zentralbegriff« geprägt wird, – zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den des Lebens72 –, fi ndet sich in der Kulturphilosophie Cassirers wieder. So wenn er die Kunst als eine symbolische Kulturform mit eigener Logik untersucht, die als immanente Symbolik auf bestimmten fundamentalen Strukturelementen unserer sinnlichen Erfahrung beruht, von denen die historischen Kunsttheorien und vorherrschenden Kunststile einzelne hervorheben, andere vernachlässigen.73 Für die Beantwortung der Frage, inwieweit Simmel neben der Idee der unterschiedlichen Formung vielfältigster kultureller Sinnstrukturen als ›Welten‹, die er schon lange vor Cassirer einführte, auch die Idee eines symbolischen Verhältnisses innerhalb der geistigen Formungsprozesse vorwegnimmt, bietet das nachgelassene Manuskript von 1928 einen wichtigen Fingerzeig, ja eine sozusagen autorisierte Quelle. Cassirer sieht in Simmels Annäherung an das Medium symbolische Form, vollzogen in den Jahren 1916–1918, allerdings keine Vorarbeit, keinen Anstoß für seine eigene Theorie, zumindest problematisiert er die Möglichkeit nicht, durch die Einsichten Simmels bei der eigenen Theoriebildung angeregt worden zu sein. Die wichtige Frage, wann Cassirer die Arbeiten Simmels zur Kenntnis genommen hat, läßt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Die Verbindungen zum Logos in den Jahren 1917/18 legen aber die sofortige Lektüre nahe. Nunmehr – 1928 – erkennt Cassirer aber zumindest an, daß Simmel das Grundverhältnis »durchschaut«, welches das Grundproblem der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ausmacht,74 er »deutet in die […] Richtung«, es vom Standpunkt der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ aus zu erklären,75 das von Simmel und der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ anvisierte »systematische Grundproblem« berühren sich,76 das Grundproblem läßt sich »im Spiegel« der symbolischen Form betrachten,77 Simmel kommt an das »Medium der symbolischen Form« heran.78 WelG. Simmel, »Der Konfl ikt der modernen Kultur« (1918), in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, a. a. O., 152. 73 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990, 212 ff. (= ECW 23, 149 ff.) 74 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 12. 75 Ebd., 10. 76 Ebd., 13. 77 Ebd., 18. 78 Ebd., 18. 72

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che Erkenntnisse und Wendungen Simmels gelten Cassirer 1928 als solche Schritte, die parallel zu den seinigen hin zum Verständnis der symbolischen Form als einem Gebilde von Zeichen und Bedeutung verlaufen? Vor allem die von Simmel 1917/18 ausgesprochene »Wendung [des unmittelbaren pulsierenden Lebens – C.M.] zur Idee«, vollzogen als »Achsendrehung des Lebens«, die eine »Wendung zur ›symbolischen Form‹« erfordert und vollzogen habe.79 Damit habe Simmel in seinen späten Abhandlungen die symbolische Form als das geistige Medium verstanden, in das das fließende, individuelle Leben als Schaffen, Bilden hineinströmt und aus dem es die Voraussetzung empfängt, sich bewähren und objektivieren zu können. Dennoch wirft Cassirer Simmel vor, wegen der ›Metaphysik des Lebens‹ an dieser Doppelrichtung des Lebens letztlich zu scheitern. 80 Insofern sichert die These, Simmel übertrage die philosophische Grundbeziehung letztendlich doch nicht auf eine wahrhaft symbolische Beziehung, sondern auf »räumliche Schemata«, die nicht als Symbol, wohl aber als Metapher wirkten, 81 Cassirer das ›Patent‹, das ›copy right‹ am Begriff der symbolischen Form. Die Formulierung von einem geistigen Medium ist u. a. aus dem Grunde so interessant, weil Simmel 1911 dieses Motiv mit seinem Bild der geformten Kulturwelt als einer ›Brücke‹ zwischen Subjekt und Objekt im Prinzip vorweggenommen hat. Die geistigen Erzeugnisse, so Simmel in dem Aufsatz, den Cassirer 1928 und 1942 auswertet, üben die Funktion von ›Brücken‹ zwischen dem Subjekt (Seele) und dem Objekt (Erzeugnis) aus. In einem bestimmten Sinne bilden die Formen diese ›Brücken‹ zwischen dem fließenden seelischen Leben und den ihm formfremd gewordenen, in selbstgenügsamer Abgeschlossenheit existierenden »kristallisierten Gebilden« (Inhalten) objektiver Kultur. 82 Tätigkeitsformen, die ein Brückenschlagen zwischen Subjekt und Objekt über das Ausformen eines geistigen – zeichenhaften, symbolischen – Gebildes ins Werk setzen, sind für Simmel 1911 Arbeit, Erkennen, Kunst und Religion. Das Brückenschlagen realisiert sich in »ethischen und intellektuellen, sozialen und ästhetischen, religiösen und technischen Formen«, in denen der Geist gegenständlich geworden ist und das seelische Leben entfaltet hat. 83 In Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ figuriert der Gedanke der Brückenfunktion symbolischer Formen bereits 1923. Sich nicht Ebd., 18, 13. Ebd., 13 f. 81 Ebd., 14. 82 G. Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (1911), in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, a. a. O., 120. 83 Ebd., 121. 79

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auf Simmel, sondern auf Humboldt beziehend ist für ihn die Sprache, die als ein Zeichensystem die Funktion einer symbolischen Form ausübt, »gleichsam die Brücke zwischen dem Subjektivem und dem Objektiven, weil sich in [ihr – C.M.] die wesentlichen Momente beider vereinen.«84 Als eine solche Brücke bilde die Sprache »eine vorher nicht gegebene Synthese von ›Ich‹ und ›Welt‹ […]. Und eine analoge Beziehung stellt sich weiterhin in jeder wahrhaft selbständigen und ursprünglichen Richtung des Bewußtseins her.«85

1925 bezeichnet Cassirer die symbolische Form, die ihre schöpferische Kraft als Zeichensystem im Mythos wie in der Sprache entfalte, als ein »mittleres Reich« der Objektivation einer geistigen Funktion, das zwischen Subjekt und Objekt trete. 86 Mit dem Herankommen an das Medium symbolische Form habe Simmel aber entscheidende Momente der symbolischen Formung erfaßt. Die Verknüpfung der »Hinwendung zum [unmittelbaren – C.M.] Leben« mit der »Wendung zur Idee« erschließe ihm das symbolische Verhältnis: die reinen Erzeugnisse des Lebens sind nicht ausschließlich dem individuellen Lebenszusammenhang verhaftet, sondern sie erweisen sich mit einem eigenen Sinn, mit einer autonomen Bedeutung erfüllt, die die unmittelbare Lebenstätigkeit zu formen und seine Inhalte zu ordnen vermag. 87 Es wird nunmehr deutlich, daß Cassirer den Simmelschen Begriff der »geistigen Energie« für die Termini symbolische Formung und symbolische Form benützt. 88 Simmel würdigend kommt er zu der Erkenntnis, daß das von diesem thematisierte Grundproblem der Dualität bzw. Polarität von Leben/Form, Fließen/Starre, Individualität/Allgemeinem, was eine »Grund- und Urschicht« des Daseins klar erfasse und seinen Lebensbegriff als »das ursprüngliche Quellgebiet des Geistes«, als sein »Urbild und Prototyp« erscheinen lasse, 89 auch das zentrale Problem der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ sei. Die ursprünglich undifferenzierte Einheit von Form und Inhalt, von Ideellem und Reellem differenziere sich erst im Vollzug

E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 23. Ebd., 24. 86 E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 29. 87 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 13. 88 Ebd., 15. 89 Ebd., 8 f. 84 85

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ausdrückender, objektivierender Funktionen des Geistes.90 Die Lösung, die das Grundproblem von Form und Stoff durch Simmel erfahren hat, befriedigt – wie gesagt – Cassirer nicht wirklich. Es heißt u. a. in dem hier ausgewerteten Manuskript, bei Simmel werde die Form als »fertige Form« aufgefaßt, was ihn immer wieder in die metaphysisch verstandene Antinomie von Form/Idee/Allgemeinem und Leben/Tat/Individualität verfallen lasse.91 Es ist allerdings zu bezweifeln, daß Simmel das früher »Entstandene und Gewordene«, das im Formungsprozeß einbezogen wird, lediglich als formlosen »Stoff« angesehen und behandelt hat. Auch ist Cassirer schwerlich zu folgen, wenn er behauptet, daß die Erkenntnis, wonach »die Beziehung und Spannung« des Lebens auf die mittelbare, nichtsinnliche Idee (Bedeutung) als eine ›Intention‹ der Lebensakte »schon ursprünglich in [ihnen] beschlossen« liege,92 bei Simmel nicht an- bzw. ausgesprochen werde. Gerade der Terminus der ›Achsendrehung‹93 drückt die von Cassirer geforderte Einsicht aus, daß der individuelle, formende Akt/Ausdruck auf die Bindung an ein »objektives, überindividuelles ›Medium‹ von Formen« angewiesen ist.94 So heißt es bei Simmel u. a., daß »jeder gegenständliche Bewußtseinsvorgang […] seinem Inhalt und Sinne nach in eine dieser [symbolischen – C.M.] Welten« gehört.95 Das ›Hinaustreten‹ des aktuellen Lebens in dasjenige, was nicht seine ›Aktualität‹ ist, macht das Leben selbst aus: ›immanente Transzendenz‹.96 Zumal kurz danach Cassirer wiederum selbst zustimmend hervorhebt, daß Simmel mit dem Ausdruck ›Achsendrehung‹ eine wichtige Funktion der symbolischen Form als dem Medium, dem ›mittleren Reich‹ erfasse: sie ist als geistiges Gebilde, erfüllt mit eignem Sinn und Bedeutung, nicht mehr nur das Ergebnis formender Lebenstätigkeit, sondern sie verlegt die Form ins Leben zurück, gibt der pulsierenden Lebens- und Formungstätigkeit ihre Formen vor.97 Die symbolische Form wird folglich als Medium begriffen, das formend geformte Mitte und Vermittlung ist, aus deren urIn dem kurz darauf veröffentlichten III. Teil wird Cassirer gegen die ungenügende Fassung des Problems bei Kant und Husserl polemisieren. – E. Cassirer, PSF, Teil III: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 7 ff. , 222 ff. 91 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in ECN 1, 16, 17. 92 Ebd., 18. 93 G. Simmel, Lebensanschauung (1918), a. a. O., 26, 38. 94 E. Cassirer, II. »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 218. 95 G. Simmel, Lebensanschauung (1918), a. a. O., 36. 96 Ebd., 14. 97 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der 90

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sprünglich polaren Einheit sich die gegensätzlichen Pole Leben und Form herausbilden, ohne sie je völlig zu zerreißen.98 Die lebendige Festigkeit und objektive Macht einer symbolischen Form als einem rückwirkenden Medium hatte Simmel zur Tragik und Entfremdung (Verfestigung) der Kultur ausgeweitet. Die Formungstätigkeit geistiger Energien, durch die das Leben die Stufe des objektiven Geistes ersteige, bewirke seine Fragmentierung, wenn die symbolischen Formen sich aus Durchgangspunkten, Mitteln, Brücken in Endziele, Zentren, Absolutheiten verwandeln.99 Cassirer sucht derartige Resultate in einen stetigen, unabschließbaren Prozeß des Fortschreitens des Menschen in einem symbolischen Universum zu integrieren. Über den unterschiedlichen Umgang mit der Grundspannung von Leben und Form, von Subjekt und Objekt bei beiden Kulturphilosophen bemerkt R.A. Bast tiefsinnig: »Sieht Georg Simmel aber das Verhältnis zwischen beiden als dialektisches und tragisches Verhängnis, als die ›Tragödie der Kultur‹, so will Cassirer diese Spannung, dieses ›Drama‹ nicht leugnen, versteht eben dies aber wiederum als Nachweis und Instrument der Freiheit des Menschen […].«100

Nicht zuletzt deshalb wendet sich Cassirer 1942 gegen das Tragische in Simmels Kulturkritik. So bestreitet er die zunehmende Fremdheit für das formende, bildende, einbeziehende, aneignende individuelle Subjekt, die Simmel u. a. mit der Feststellung behauptet hatte, daß – weil die geistigen Gebilde bzw. Sachreihen je eine eigene, innere Logik ausbilden – »[…] wir es gar nicht mehr in der Hand [haben], zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten […]«.101 Eben dadurch sind die fremdgewordenen äußeren geistigen Gebilde »die Inhalte irgendwelcher anderer Welten«.102 Cassirer sieht diesen Konflikt für die soziale Gemeinschaft jedoch abgeschwächt.103 symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 13 f. ; G. Simmel, Lebensanschauung (1918), a. a. O., 26. 98 E. Cassirer, II. »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 218. 99 G. Simmel, »Der Fragmentcharakter des Lebens« (1917), in: Logos, VI, a. a. O., 30 f. 100 R.A. Bast, »Einleitung«, in: E. Cassirer, Erkenntnis, Begriff, Kultur, Hrsg. von R.A. Bast, Hamburg 1993, XXXV. 101 G. Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (1918), in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, a. a. O., 135. 102 Ebd., 136. 103 Der Überzeugung von Simmel, wonach alles im ›Werk‹ des Subjektes ende, dem es dann ohnmächtig gegenüberstehe, antwortet Cassirer, daß »am Ende dieses Weges […] nicht das Werk [steht], in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt,

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Außerdem könne das Ich den Weg zu sich selbst nur über das Außen, seine Entäußerung finden, als Bewegung von außen nach innen. Das tätige Ich bleibe sozusagen immer innerhalb seiner weltbildenden Aktivität.104 Eher resignativ klingt das Problem dann im letzten Werk Cassirers an, wenn er der – politisch instrumentalisierten – mythischen Weltbildformung eine – zumindest in gesellschaft lichen Krisiszeiten – unerschütterliche Vitalität zugesteht.105 Die These Cassirers, wonach sich dasjenige, was bei Simmel »von außen gesehen als [das] Schicksal [des Lebens – C.M.] erscheint«, in Wahrheit als seine Notwendigkeit und damit als Zeugnis seiner Freiheit, seiner Selbstgestaltung erweist,106 stellt nur auf den ersten Blick eine völlig konträre kulturphilosophische Position dar. Auch wenn Cassirer keine schicksalhafte, d. h. unwiderrufl iche und der Lebenstätigkeit auf immer entzogene fremde Macht anerkennt, so stellen die vom Leben geschaffenen Realitäten doch eine faktische Macht dar, an der es sich – in unendlicher Aufgabe – abarbeiten muß. Simmel, für den der sich auft uende Riß zwischen subjektivem Leben und objektiver Kultur nur partiell überbrückbar ist, findet diese partielle Überbrückung ebenfalls als unendliche Aufgabe vor. Das Wissen von diesem Riß hebt diesen zwar nicht auf, enthebt uns aber der Verzweiflung, läßt ihn uns, weil wir uns seiner bewußt sind, überflügeln.107

sondern das ›Du‹, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. Jetzt erst zeigt sich, welcher Lösung die ›Tragödie der Kultur‹ fähig ist. Solange nicht der ›Gegenspieler‹ zum Ich hervorgetreten ist, kann sich der Kreis nicht schließen […]. [Ein] Werk ist und bleibt doch nur ein Durchgangspunkt.« – E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 468 f. 104 »[…] jene Verfestigung, die das Leben in den verschiedenen Formen der Kultur, in Sprache, Religion und Kunst erfährt, bildet […] nicht schlechthin den Gegensatz zu dem, was das Ich kraft seiner eigenen Natur verlangen muß, sondern sie bildet eine Voraussetzung dafür, daß es sich selbst in seiner eigenen Wesenheit findet und versteht.« – Ebd., 466. 105 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, 385– 390 (= ECW 25, 289 ff.). 106 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 18. 107 G. Simmel, Lebensanschauung (1918), a. a. O., 7.

›Leben‹ als Quell symbolischer Formen Eine Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel und Scheler

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ie Worte, mit denen Ernst Cassirer Ende der zwanziger Jahre seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zusammenfaßt und in ihrer Eigenart kenntlich macht, lassen den heutigen Leser auf den ersten Blick erstaunen, liest er doch von der »Urtatsache […] des ›Lebens‹«, dem »Urphänomen des Lebens selbst« nicht nur als dem Ausgangspunkt dieser Philosophie, sondern auch von deren Aufgabe, »dieses Urphänomen in seinem Bestand u[nd] in seiner vollständigen Entfaltung« darzustellen.1 Auf den zweiten Blick jedoch erschließt sich in der kritischen Aufnahme des Lebensbegriffs eine der beeindruckenden Seiten des Cassirerschen philosophischen Schaffens: die Fähigkeit, Leistungen und Erkenntnisse anderer, ja bekämpfter Systeme zu würdigen und der eigenen Theorie schöpferisch einzufügen.2 Die Beschäftigung mit dem Lebensbegriff im Werk Cassirers weist mindestens in zwei Richtungen: zum Einen auf die Frage nach der Bedeutung der zeitgenössischen Lebensphilosophie bei der Formierung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, zum Anderen auf die nach einer möglichen Integration des Lebensbegriffs ins eigene Werk. Im vorliegenden Beitrag soll ausschließlich der zweiten Frage nachgegangen werden.3 Die Tatsache, daß uns Cassirers Bekenntnis zum ›Urphänomen des Lebens‹ aufmerken läßt und erstaunen macht, hängt nicht zuletzt mit dem eigenartigen Schicksal des Begriffs zusammen, welches ein Grundmotiv der Philosophie zum Zentralbegriff einer bestimmten philosophischen Richtung werden ließ.

E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 263. 2 O. Schwemmer hat diesen Gedanken in einem anderen Zusammenhang prägnant formuliert: »Gerade das ist ja das Charakteristische der Cassirerschen Erfahrungsmetaphysik, daß sie sich nicht als eine Position gegen andere und neben anderen versteht, sondern als Übergehen zwischen den verschiedenen Positionen, die alle ihr Recht in sich haben […].« – O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 215. 3 Einen Überblick über Cassirers Verhältnis zur Lebensphilosophie insgesamt bietet die Monographie vom Verfasser, Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff (CF 12), Hamburg 2005. 1

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1. Lebensbegriff und Lebensphilosophie Leben, so heißt es im ehemals populären Philosophischen Wörterbuch, stellt ein »altes Grundmotiv weltanschaulichen Denkens« dar und ist als solches »der Inbegriff für das Erlebnis des Menschlichen, das Lebensschicksal überhaupt. Solange philosophisches Denken besteht, wird nach Sinn, Wert und Zweck des Lebens gefragt […].«4

Daneben bilden Leben und von ihm abgeleitete Begriffe einen festen Bestand in vielen philosophischen Systemen.5 Das gilt u. a. für die Philosophie Kants, die alle Gemütsvermögen des Menschen zueinander in Beziehung setzt und eine Anthropologie des sich selbst bestimmenden Menschen zum Ziel hat. Diese thematisiert z. B. die »Lebenskraft«, die durch die Einbildungskraft angeregt und gestärkt wird, oder Vorgänge, die sowohl das Denken »beleben« als auch dem Menschen die Last, die ursprünglich im »Leben überhaupt« liegt, zeitweilig vergessen machen. 6 Mehr noch, für Kant macht das Vermögen eines vernünftigen Wesens, den eigenen Vorstellungen gemäß zu handeln, eben »das Leben« aus.7 Selbst das Motiv, die Fülle des psychischen Lebens der Einseitigkeit bloßer Verstandesschlüsse entgegen zu halten, ist eine alte Manier des idealistischen Philosophierens. So gebraucht der auf die Harmonie von Kopf und Herz abzielende W. v. Humboldt dieses Motiv, wenn er der »bloß kalten Idee des Verstandes« das »warme Gefühl des Herzens« gegenüberstellt. 8 Dem »kalten und darum […] allemal unfeinen Verstand« stehen die »süßesten Gefühle« gegenüber, wobei das »Medium des Gefühls« es uns ermöglicht, dem »unbedingt gebietenden Gesetz« der Vernunft auf eine »menschliche Weise« zu gehorchen.9 Und Hegel polemisiert in seiner ›Rechtsphilosophie‹ heft ig gegen romantisch-lebensphilosophische Positionen in der Philosophie seiner Zeit. So übt er Kritik an einer PhiArtikel »Leben«, in: Philosophisches Wörterbuch, Hrsg. von H. Schmidt, 9. Aufl., Leipzig 1934, 362. 5 V. Gerhardt, »Vernunft und Leben. Eine Annäherung«, in: Dtsch. Z. Philos., Berlin 43 (1995) 4, 591 ff. 6 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Leipzig 1899, 62, 63, 67, 69. 7 I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Leipzig 1870, 9. 8 W.v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1791/92), in: Individuum und Staatsgewalt. Sozialphilosophische Ideen, Leipzig 1985, 121. 9 Ebd., 143. 4

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losophie, die das Wort »Leben« im Munde führt und dabei den »Haß gegen das Gesetz« der Vernunft predigt, d. h. Sache, Gesetz und Vernunft dem Gefühl opfert.10 Dennoch hat er, so stellt Cassirer fest, »die Rechte des Lebens« mitnichten seiner »panlogistischen Tendenz« geopfert, sondern einen »neuen, systematisch im höchsten Sinne fruchtbaren Begriff des Lebens geprägt«.11 Obwohl ein wichtiger Begriff in vielen philosophischen Systemen wird das Leben gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer besonderen Richtung der Philosophie, aber auch der Dichtung und der Kunst, zum zentralen Begriff, der Denken und Vernunft entgegensteht bzw. sich unterordnet. Die Philosophen des Lebens wie E. v. Hartmann, Nietzsche, Dilthey, Simmel, Klages oder Scheler, die in der Regel distanziert zur etablierten akademischen Universitätsphilosophie stehen, fragen nicht mehr nur »nach Sinn, Wert und Zweck des Lebens«, sondern arbeiten an dem Versuch, »das Leben auch innerhalb der rationalen Denksprache in Begriffe zu fassen, vor allem es als die Grundschicht auch des Denkens aufzufassen und zu deuten.«12 Die lebensphilosophische Wendung in der Philosophie bringt eine Verschiebung des Interesses und der Werte zum Ausdruck: ein vom Glauben an die Vernunft, die Naturwissenschaften und den sozialen wie technischen Fortschritt geprägtes 19. Jahrhundert besinnt sich auf Ganzheitlichkeit, auf das vergessene oder verdrängte irrationale Gefühl, auf das Individuelle und Singulare, auf das Tragische und Schicksalhafte. Die Wende hatte ihre Vorläufer u. a. in der frühen Philosophie des deutschen Idealismus zwischen 1795 und 1800.13 Neben der berechtigten Kritik an Einseitigkeiten der rationalistischen und positivistischen Philosophie14 bzw. Vernunft kultur bringt das neue Lebensgefühl, als dessen Sprachrohr sich die eigentlichen Philosophen des Lebens verstehen, eine gehörige Portion Krisisbewußtsein, Kulturkritik, Pessimismus und Nihilismus zum Ausdruck.15 Die fortschreitenden Objektivationen menschlicher Vermögen scheinen sich einer ordnenden Macht immer mehr zu entziehen und das alltägliche G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß (1820), Berlin 1981, 21 f. 11 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 201 f. 12 Artikel »Leben«, in: Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., 362 13 W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels (1906), in: GS IV, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1925, 58 f., 138 ff. 14 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in: GS I, Leipzig und Berlin 1922, XVIII. 15 K. Löwith, »Der europäische Nihilismus« (1940), in: Sämtliche Schriften, Bd. 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1983, 475–540. 10

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Dasein – der Städter – eher verarmen zu lassen denn zu bereichern. Als e i n e Reaktion auf die empfundene ›Krisis‹ des bürgerlich-liberalen Kosmos bzw. der auf ihn gerichteten vielfältigen Erwartungen beförderte die lebensphilosophische Wendung in Philosophie und Geistesleben die Suche nach einem geordneten Dasein jenseits dieses Kosmos, weshalb sie Gefahr laufen sollte, von antiliberalen Bedürfnissen vereinnahmt zu werden. Als einer der Ersten versucht der Phänomenologe Scheler sich über Anspruch und Bedeutung der ›Philosophie des Lebens‹ klar zu werden.16 Indem sie den Gegensatz des unmittelbar »gelebten Lebens« gegen alle anderen Weisen von Seiendem betont und zu ihrem Ausgangspunkt macht, formuliere sie die Aufgabe »der Umbildung der europäischen Weltanschauung«, die sie jedoch erst in »leisen Anfängen« bewältigt. »Die volle Nutzung [dieser] großen Antriebe« erhofft sich Scheler von Husserls Phänomenologie, die bestimmte Impulse der lebensphilosophischen Wende originell verarbeitet hatte.17 An eine in diesem Geiste vollzogene Umbildung der Weltanschauung knüpft Scheler sehr hochgesteckte Erwartungen, werde sie doch sein »wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten.«18 In dem Maße, wie der Begriff des Lebens seine Prägung, seine Bedeutungsnuancen, seinen Platz bzw. seine Funktion im kategorialen Apparat der Philosophie des 20. Jahrhunderts – inspiriert und forciert durch die Strömung einer speziellen Philosophie des Lebens – erfährt, wird er für das rezipierende philosophische Bewußtsein in einer konkreten philosophischen Konstellation bzw. Frontstellung erfahren und folglich instrumentalisiert: als relativistischer Gegenbegriff zum Titel einer allgemeinen Vernunft oder als Alternativbegriff zu einer angeblich reduktionistischen Auffassung vom Menschen als rationalem, begrifflich sich zur Welt verhaltendem, abstrahierendem Wesen. In der Folge erleidet der Lebensbegriff in der philosophischen und weltanschaulichen Diskussion das Schicksal eines Kampfbegriffes, das selbst heutzutage noch auf ihm zu lasten scheint.19 M. Scheler, »Versuche einer Philosophie des Lebens« (1914), in: Vom Umsturz der Werte, in: GW 3 (1955), hrsg. von Maria Scheler, 5. Aufl., Bern und München 1972, 314. 17 Obwohl Husserl im Ringen mit der von ihm diagnostizierten ›Krisis‹ der Philosophie, der Kultur und des modernen Menschentums an vernunft- und theoriekritische Positionen anknüpft , ist die Phänomenologie wohl eher als ein Gegenentwurf zur lebensphilosophischen Kulturkritik zu verstehen. Zur eigentlichen Lebensphilosophie hat sich Husserl nur sehr spärlich geäußert. Siehe dazu u. a. vom Verfasser, »Lebensphilosophie und Lebensbegriff in der Phänomenologie Husserls«, in: Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, 2. Aufl., Berlin 2016, 213–231. 18 M. Scheler, »Versuche einer Philosophie des Lebens« (1914), in: GW 3, a. a. O., 339. 19 V. Gerhardt, »Vernunft und Leben«, in: Dtsch. Z. Philos., (1995) 4, 591. 16

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Exemplarisch für eine nicht wirklich vorurteilsfreie, die philosophischen Potenzen kaum erschließende Kritik des Lebensbegriffs ist seine zeitgenössische Rezeption als Zentralbegriff einer ›Modephilosophie‹, die vor allem auf erkenntnistheoretischen Irrtümern beruhe.20 Die konsequenzenreiche Verstrickung des Lebensbegriffs in antihumanistische philosophische Theorien (Spengler, 21 A. Rosenberg 22) werden in einer weiteren exemplarischen Rezeptionslinie diesem selbst angelastet. Die Kritik kulminiert in der Behauptung, durch eine von ihm getragene ›Zerstörung der Vernunft‹ habe der Begriff des Lebens den Weg in die faschistische Ideologie gebahnt. 23 Mit seinen Untersuchungen zum Verhältnis von Diltheys Lebensphilosophie und Husserls Phänomenologie steht Misch für eine andere Weise der Rezeption, welche Bedeutung und Möglichkeiten des Lebensbegriffs gerechter wird und tiefer ausschöpft . Er spürt den Weiterentwicklungen und den Übergängen zwischen beiden philosophischen Konzepten von der Auslegung des Lebens her nach und prüft den Lebensbegriff am Verhältnis von Wissenschaft, Metaphysik und Weltanschauung.24 Nach langjähriger Rezeption, die in den Wortführern der Lebensphilosophie in erster Linie Denker am Werk sah, die objektiv Irrationalismus und Zerstörung der Vernunft – mit den bekannten Folgen – beförderten, ist inzwischen [d. h. 1998 – C.M.] ein erneutes und weniger voreingenommenes Interesse an der Lebensphilosophie erwacht. Es wird u. a. nach mögH. Rickert legt 1920 eine viel beachtete Abhandlung zum Lebensbegriff vor, die dessen unterschiedliche Bedeutungen zwar ernst nimmt, letztlich aber zu dem Resultat kommt, er eigne sich wegen seiner Unklarheiten und Widersprüche nicht als Grundbegriff einer wissenschaft lichen Philosophie der Erkenntnis. – H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit (1920), 2. Aufl. Tübingen 1922, 36, 46, 70. 21 In seinen letzten Schriften vertritt O. Spengler eine sozialdarwinistische, rassische und antiliberale Lebensphilosophie, für die »der Wille des Stärkeren, die gesunden Instinkte, die Rasse, der Wille zu Besitz und Macht« die »bewegenden Mächte der Zukunft« seien. – O. Spengler, Jahre der Entscheidung (1933), München 1934, 4. 22 A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit (1930), 163–166. Aufl., München 1940. 23 G. Lukács, der philosophisch von Dilthey und Simmel, aber auch von Rickert profitiert hatte, führt mit seinem 1937 entstandenen Manuskript die Rickertsche Kritik nicht nur weiter, sondern reduziert die zur »herrschenden Ideologie der ganzen imperialistischen Periode in Deutschland« erhobene Lebensphilosophie auf einen Irrationalismus, der die deutsche Philosophie – unbewußt – in die nationalsozialistische Ideologie geführt und jegliche Vernunftphilosophie diskreditiert habe. – G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft , 3. Aufl., Berlin und Weimar 1984, 318, 329. 24 G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, 2. Aufl ., Leipzig und Berlin 1931, 176. 20

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lichen Leistungen dieses Denkens für das heutige Philosophieren bzw. philosophische Selbstverständnis gefragt. Zumal die Philosophie des Lebens bzw. der Begriff des Lebens in der umfangreichen Rezeptionsliteratur zu Nietzsche, Dilthey, Simmel, Heidegger oder Scheler eine große Rolle spielt. So sind in den letzten Jahren sowohl allgemeine wie auch spezielle Darstellungen zu der Thematik erschienen.25 Ohne in Zweifel zu ziehen, daß der Lebensbegriff von weltanschaulichen und politischen Bewegungen mißbraucht und pervertiert worden ist, verfolgen auch nachstehende Überlegungen die Absicht, einen Beleg dafür zu erbringen, daß sich sein Schicksal und seine Bedeutung nicht in einem Kampfbegriff erschöpft. Sind doch von den Vertretern der Philosophie des Lebens durchaus wichtige Impulse und Anstöße für das philosophische Denken im 20. Jahrhundert (Hermeneutik, Kulturkritik, Rationalitätsanalyse, Phänomenologie, Existentialismus und Ontologie) ausgegangen, was nicht zuletzt Mischs Untersuchungen aufweisen. In dem Zusammenhang harrt die Frage, was die weit differierenden Lebensbegriffe dieser wichtigen Grundströmung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das philosophische Problembewußtsein im Einzelnen leisten, noch einer begründeten Antwort. Das Fragen nach möglichen Leistungen dieser Begriffe für das heutige Philosophieren bzw. philosophische Selbstverständnis schließt allerdings auch die Perspektive ein, gelegentlich zu einem negativen Resultat zu gelangen. Ein systematisch und wirkungsgeschichtlich interessiertes Nachdenken über den Begriff vom Leben führt u. a. auf seine kritische Funktion für eine Philosophie bzw. Theorie der Vernunft. Er kann zum kritischen Thematisieren eines übersteigerten oder ›bodenlosen‹ Verfahrens der Vernunft, einer Vorstellung vom Menschen als einem Vernunft wesen dienen, das sich von seinem subjektiven, anschaulichen Erfahrungsboden losgelöst hat. Vorarbeiten in diesem Sinne haben sowohl Rickert26 als auch Husserl 27 Siehe z. B. K. Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg/München 1995; F. Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek bei Hamburg 1993; M. Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/ Berlin 1991; ders., Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994. 26 Rickert gesteht dem lebensphilosophisch orientierten Denken eine wichtige methodische Funktion bei der notwendigen Kritik und Überwindung einseitiger, reduktionistisch-rationalistischer Positionen in der Philosophie zu. (H. Rickert, Die Philosophie des Lebens [1920], a. a. O., 175 ff.) Das Leben »in seinem Reichtum und in seiner unerschöpfl ichen Lebendigkeit« müsse Ausgangs- und Endpunkt des Philosophierens sein. (Ebd., 181) 27 Mit seiner Theorie der alltäglichen, anschaulichen und subjektiv-relativen Lebenswelt unternimmt Husserl den Versuch, der »entwurzelten«, bodenlosen Vernunft mit 25

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geleistet. Außerdem ist das methodische Potential des Lebensbegriffs für die Beschreibung ambivalenter Züge von Kultur bzw. Kulturprozessen weiter auszuloten und zu bestimmen. 28 Hierbei ist bei weitem nicht nur an G. Simmel zu denken, sondern auch an L. Goldstein, Klages, Lukács, Scheler, Heidegger, E. Jünger, Husserl, Spengler und andere. Zudem können Begriffe wie Leben, Lebensordnung, Lebenswelt aus rein sachlichen Gründen gar nicht allein der nach ihnen benannten philosophischen Richtung überlassen werden, kommt ihnen doch auch in denjenigen zeitgenössischen Systemen eine wichtige Funktion zu, die dieser Strömung nicht zugeordnet werden können. Die Überlegung erstreckt sich beileibe nicht nur auf Philosophen, die während bestimmter Perioden ihres Schaffens (Heidegger) lebensphilosophischen Positionen nahegestanden haben. Diese und ähnliche Begriffe fordern auch Philosophen heraus, die der lebensphilosophischen Richtung eher ablehnend gegenüber stehen (Cassirer), und bieten über eine kritische Rezeption wichtige Anregungen und Impulse für deren eigene Begrifflichkeit und Problemsicht. Die durch Cassirer zwischen 1928 und 1930 in Auseinandersetzung mit den Spätwerken von Simmel und Scheler (sowie Bergson, Klages, Spengler) angestellten Überlegungen über die Bedeutung des Lebens für eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bieten für unsere These ein sehr aufschlußreiches Untersuchungsfeld.29 In ihnen kommt Cassirer zu ähnlichen Ergebnissen wie Rickert, der Simmels Auffassung von der ›Transzendenz des Lebens‹ als Ausdruck einer klaren und tiefen Problemsicht würdigte, an der die Grenzen des Lebensphilosophie deutlich würden, sie aber dennoch wissenschaft lich scheitern sieht, da sie die Grenze des widerspruchslosen Denkens überschreite.30 Er geht aber einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ durch Bezüge auf die ihren frei schwebenden Idealisierungen wieder einen Geltungsboden zu eröffnen, was die »Fehlentwicklung« des Rationalismus seit Galilei beheben soll. – E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die phänomenologische Philosophie (1936), in: Hua VI; siehe auch vom Verfasser, Einführung in die transzendentale Phänomenologie, München 1998, §§ 19, 20. 28 L. Heidenbrink, »Sinn und Politik. Der erschöpfte Liberalismus und die Illusion der Gerechtigkeit«, in: Die Zeit, Nr. 41, 3. Oktober 1997, 56. 29 J.M. Werle, »Ernst Cassirers nachgelassene Aufzeichnungen über »›Leben‹ und ›Geist‹ – zur Kritik der Philosophie der Gegenwart«, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/E.W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. Main 1988, 274–289; Th . Knoppe, »Das Leben: ein Traum. Ernst Cassirer und die Lebensphilosophie«, in: H. Holzhey/E.W. Orth (Hrsg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994, 457–473; M. Ferrari, »Metafisica delle forme simboliche. Note su Cassirer inedito«, in: Revista di storia della fi losofia, n. 4, 1995, 809–837. 30 H. Rickert, Die Philosophie des Lebens (1920), a. a. O., 68, 70.

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›Urtatsache des Lebens‹ fundiert und eine weit positivere Würdigung der modernen Lebensphilosophie vornimmt.

2. Cassirer und die moderne Lebensphilosophie Die intensive Beschäftigung mit der Lebensphilosophie beginnt spätestens während der Arbeit an den beiden Kapiteln »Geist und Leben« und »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie«.31 Die beiden zu Lebzeiten nicht publizierten Kapitel, die in einen IV. Teil der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ aufgenommen werden sollten, entstehen 1928 unmittelbar im Anschluß an die Fertigstellung des III. Teiles. In dessen auf Juli 1929 datiertem Vorwort wird ein solcher IV. Teil mit der Begründung angekündigt, daß ein entsprechender Abschnitt schon für den III. Teil geplant, aber wieder fallen gelassen worden sei.32 Die beiden Kapitel enthalten prinzipielle Auseinandersetzungen mit Simmel, aber auch mit Klages und Bergson. Ein weiteres Mal wendet sich Cassirer im März/April 1929 konzentriert der Lebensphilosophie zu, wenn er, anläßlich der Davoser Hochschulkurse, einen Vortrag über »Geist und Leben in Schelers Philosophie« hält, der ein Jahr später in erweiterter Form publiziert wird.33 Im Jahr 1940 schreibt Cassirer Gedanken nieder über die drei ›Basisphänomene‹ Selbst, Wirken, Werk, zu denen ihn Goethes ›Urphänomene‹ Leben, Erlebtes, Tat inspirierten.34 Obwohl Cassirer in den nach 1930 publizierten Schriften immer wieder die Begriffe Leben, Lebensordnung und Lebensform gebraucht, erscheint es zu gewagt, von einer Ablösung des Begriffs der symbolischen Form durch

E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in ECN 1, a. a. O., 3–32, 32–112. 32 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, X f. 33 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, in: Die neue Rundschau, XXXXI. Jg., Bd. I, Berlin und Leipzig 1930, 244–264; siehe dasselbe in E. Cassirer, Aufsätze und kleine Schriften (1927–1932), in: ECW 17, a. a. O., 185–205. H. Paetzold meint sogar, der im III. Teil der PSF fallengelassene letzte Abschnitt zur Kritik der modernen Philosophie sollte ursprünglich den Titel dieses Aufsatzes tragen. – H. Paetzold, Ernst Cassirer – von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, 98 f. 34 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, a. a. O., 199/200; Vgl. auch ders., »Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen. Zu Cassirers Konzeption eines vierten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/1992, 227 ff. 31

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den Begriff Lebensordnung zu sprechen, wie E.W. Orth dies vorschlägt,35 von einer Fundierung der symbolischen Tätigkeit im Lebensbegriff läßt sich aber schon reden. Die Tatsache, daß Cassirer in den erwähnten Texten die Grundgedanken einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ in Auseinandersetzung mit den Lebensphilosophen formuliert, verdeutlicht nicht nur das eminente Gewicht, das er dieser zeitgenössischen Strömung zumißt, sondern demonstriert auch einen ungewöhnlichen Umgang mit einer grundsätzlich abgelehnten Philosophie. Diesen praktiziert er allerdings nicht voraussetzungslos oder aus einem Nichts heraus.

2.1. Lebensbegriff und Lebensphilosophie im Werk Cassirers vor 1928 Der Marburger Kantianismus, innerhalb dessen Schule Cassirer zunächst originell und eigenständig wirkt, hatte sich als logizistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hervorgetan. In dem Sinne kann er als ein philosophischer Gegenpol zur Lebensphilosophie verstanden werden. Und doch macht Cassirer von Anfang an deutlich, daß er sich für das Thema Leben interessiert. Das ist insofern nicht verwunderlich, als zumindest an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, an der er philosophisch tätig ist, lebensphilosophische Motive wie Ganzheitlichkeit, Totalität der Wirklichkeit und historisches Bewußtsein eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Und weil der Neukantianismus »eine durchaus vielfältige und mit anderen philosophischen ›Strömungen‹ mannigfach verwobene Forschungsrichtung [ist]«, kann Cassirer gleichzeitig Schüler von Simmel und Cohen bzw. Natorp sein.36 So bleibt er von Diltheys Lebensphilosophie und Historismus ebensowenig unbeeindruckt wie von Ideen des zunächst mehr dem Badener Kantianismus nahestehenden Simmel. Wenn Cassirer während der Weltkriegsjahre seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ entwirft,37 kann er wichtige Anregungen und Vorlagen seines Berliner Lehrers Simmel aufgreifen bzw. weiterführen.38 In der Folge entwickelt er den doppelten ImE.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: E. Cassirer, Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Hrsg. von E.W. Orth, Leipzig 1993, 9. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 55–74. 36 E. W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen, a. a. O., 13 37 Siehe dazu Anm. 4 auf S. 3 f. des vorliegenden Bandes. 38 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Simmels Begriffl ichkeit der Formung als Anstoß für eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 3–22. 35

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puls Cohens, die Idee der gesetzmäßigen Erzeugung des Gegenstandes u n d die Idee einer erzeugten Kultur, konsequent weiter zu einer allumfassenden Kulturphilosophie, deren unterschiedlichste Bedeutungssysteme auf jeweilige symbolisch-formende Funktionen des menschlichen Geistes zurückgehen. Hinter dem nunmehrigen Kulturbegriff verbirgt sich das Verständnis einer notwendigen Kritik der historischen Vernunft, wie sie von Dilthey entwickelt worden war. Der junge Cassirer nähert sich dem an, was dieser geschichtlich-kulturelle Welt nennt, und erblickt deren Träger in den großen historischen Personen und in der Literatur. Bereits 1906 finden sich bei ihm auf das Leben und seinen Zeitcharakter bezogene Termini, wenn er die Berechtigung einer historischen Darstellung der geistigen Kultur thematisiert. So bringt er u. a. zum Ausdruck, daß die historischen Erscheinungen uns zu einer »lebendigen und sinnvollen Einheit« werden sollen, daß die historische Relativität nicht eine Schranke, sondern das »eigentliche Leben der Erkenntnis« ausmache. 39 Verweise auf Scheler belegen die Bekanntschaft mit einem weiteren – künftigen – Vertreter der Lebensphilosophie. Mit ihnen teilt Cassirer die tiefe Verehrung für Persönlichkeit und philosophische Auffassungen Goethes, die sich um den Begriff des Lebens und des Ganzheitlichen zentrieren. 40 Neuere Forschungen sehen in der Renaissancephilosophie und in Goethe die eigentlichen historischen Quellen von Cassirers Denken. 41 Davon zeugt u. a. der große Abschnitt über Goethe in der 1916 veröffentlichten Schrift Freiheit und Form, deren »erste Entwürfe und Vorstudien« »viele Jahre zurück[liegen]«. 42 Schon hier fi nden sich neben dem Begriff der Lebensordnung, den auch Dilthey43 und Scheler44 gebraucht hatten, vielfach Termini wie Lebensform, Leben als Ganzes etc., die in der Lebensphilosophie gebräuchlich sind, sich aber auch von Goethe herleiten. In den historischen Lebensordnungen konstituiere sich jeweils ein »Leben des Ganzen«45 , dem je eigene – zusammenstimmende – weltanE. Cassirer, »Einleitung«, in: EP, I. Bd. (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999, 12 f. 40 J.M. Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, in: E. Rudolf/B.-O. Küppers (Hrsg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, (CF, Bd. 1), Hamburg 1995, 297–324. 41 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, a. a. O., 24, 221; B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998, 74, 92, 141. 42 E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 388. 43 W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels (1906), in: GS IV, a. a. O., 47. 44 M. Scheler, »Drei Aufsätze zum Problem des kapitalistischen Geistes«, in: Vom Umsturz der Werte, in: GW 3, a. a. O., 343, 343 f. 45 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 16 f. 39

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schauliche, sittliche, religiöse Lebensformen korrelieren. So kann Cassirer von einem mittelalterlichen – und entsprechend neuzeitlichen – »Lehrund Lebenssystem« sprechen. 46 Das Zusammenstimmen der Lebensformen einer Lebensordnung sieht er an der Person Goethe realisiert. Das neue ursprüngliche Verhältnis von Subjektivität (Empfi ndung) und Objektivität (Anschauung), in welchem »das Gefühl die Allheit der Lebenserscheinungen [befaßt] und […] sie rein aus sich selbst zu entfalten [vermag]«, eröffne eine »neue Form des geistigen Daseins«. 47 Diese trete bei Goethe in drei Grundformen auf: in der Lebensform, in der Form der Lyrik und in der Form der Naturbetrachtung. 48 Die Goethe entlehnten ›Urworte‹ Urphänomen, Form, Symbol, Leben und Befreiung rücken ins Zentrum der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, 49 deren entscheidender begrifflicher Durchbruch in die Jahre 1919 bis 1923 fällt. In den nunmehr entwickelten Funktionsbegriff geht eine Auffassung von Funktionalität ein, die das geistig Konkrete und dessen lebendigen Zusammenhang erfaßt. Die Form (wissenschaftliche Struktur) und der Gehalt (die geschichtlich-kulturelle Konkretion) bilden dabei eine Korrelation: die s y m b o l i s c h e F o r m . Jede kulturelle Welt oder Bedeutungsweise (Sprache, Mythos, Kunst, Wissenschaft) prägt sich um eine eigene Korrelation von Form und Gehalt aus. Bei allem Interesse am Historisch-Konkreten und am Lebensbegriff versteht sich Cassirer jedoch grundsätzlich als Opponent der lebensphilosophischen Strömung und setzt sich gelegentlich kritisch mit ihr auseinander. So erhebt er 1913 Einwände gegen die durch Frischeisen-Köhler »im engen Anschluß an Dilthey« vertretene Auffassung, den »Standpunkt des konkreten Erlebnisses« dem »Standpunkt des bloßen Denkens« gegenüberstellen zu müssen, wobei ersterer das Bewußtsein der Wirklichkeit ausbilden soll.50 Die 1923 formulierten kritischen Bemerkungen über die Erkenntnislehre des Intuitionalismus richten sich gegen die metaphysische Lebensphilosophie Bergsons und sind offenbar von Rickerts Buch angeregt.51 Sie zeugen von einem kritischen Interesse am Lebensbegriff, das später noch stärker werden wird. 46 47 48 49

Ebd., 19 f. Ebd., 185. Ebd., 185. J.M. Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret« (1995), in: CF, Bd. 1, a. a. O.,

319 f. E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, 159 f. 51 H. Rickert, Die Philosophie des Lebens (1920), a. a. O., 3. und 4. Kapitel, 34–72. 50

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Wenn Cassirer zwischen dem Anspruch des Intuitionalismus, die Unmittelbarkeit des Lebens zu erfassen, und seiner eigenen Auffassung einer notwendig vermittelnden Repräsentation einen unüberbrückbaren Gegensatz von metaphysischer Substanzphilosophie und symbolisch-funktionaler Geistesphilosophie sieht,52 dann ist hier ein grundsätzlicher Einwand gegenüber der Lebensphilosophie formuliert. Jede Hoffnung und aller Anspruch auf ›unmittelbares‹ Erfassen und Wiedergeben des Wirklichen sei aufzugeben: alle Objektivierung ist und bleibt in Wahrheit Vermittlung. Cassirer beschreitet damit konsequent einen Weg, der ihn vom Begriff unmittelbaren Lebens wegführt. Im III. Teil der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, dessen Manuskript »bereits zu Ende des Jahres 1927 abgeschlossen [war]«,53 erhebt er ähnliche Einwände gegenüber dem nunmehr genannten Bergson, Einwände, die in die Kritik an Simmel und Scheler einfließen werden. Bergsons Metaphysik gehe »von dem reinen Phänomen des Lebens aus, das nur in der Emanzipation von allen Formen des Wissens zu greifen sei«, verspreche aber zugleich »ein ›Wissen vom Leben‹«.54 Wenn er dem Lebensphilosophen vorhält, eine »Selbsterfassung des Lebens« sei nur dann möglich, wenn es nicht in sich selbst verbleibt, sondern »sich selber Form« gibt,55 dann greift er auf einen Gedanken Simmels zurück, den bereits Rickert einer kritischen Würdigung wert befunden hatte.56 Trotz aller skeptischen Bemerkungen über die Lebensphilosophie figuriert der Begriff des Lebens im III. Teil der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ schon als ein ›Urwort‹, das ein ›Urphänomen‹ »nicht jenseits des Seins, aber allen symbolischen Formen immer voraus« bezeichnet.57 Wenn Cassirer vor der Hypostasierung der verschiedenartigen repräsentativ-symbolischen Leistungen als Äußerung einer seinsmäßigen Grundkraft warnt, faßt er unter dem Begriff des Lebens die »Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen« zusammen, der die »spezifisch-geistigen Funktionen« gegenüber gestellt werden können. Z w i s c h e n beiden Sphären stehen »jene geistigen Gebilde, die sich unter den Einheitsbegriff der ›symbolischen Form‹ zusammenfassen lassen.« Das – unmittelbare – organisch-vitale Leben E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 46 f. 53 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., XI. 54 Ebd., 44 f. 55 Ebd., 45. 56 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, 1–27; siehe dazu H. Rickert, Die Philosophie des Lebens (1920), a. a. O., 72 57 J.M. Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret« (1995), in: CF, Bd. 1, a. a. O., 312. 52

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wird als ursprünglich »in sich selbst zweckvoll gestaltet, […] auf bestimmte Ziele gerichtet« bestimmt.58 Alles – geistige – Wissen um diese Lebensziele schließe aber grundsätzlich den Bruch mit der Unmittelbarkeit des organisch-vitalen Lebens ein. Den Bruch, die ›Distanz‹ in der Unmittelbarkeit füllen die symbolischen Formen Sprache, Mythos, Religion, Kunst, theoretische Erkenntnis aus, wobei sie diese Distanz gleichzeitig ausweiten. Die jeweiligen symbolischen Reiche eigener, innerer Bedeutsamkeit heben sich klar gegen das zweckhafte Verhalten innerhalb der biologischen Sphäre ab. Sie bedeuten – und realisieren – die ideelle Vorwegnahme der Zukunft, einen »Fortgang ins ›Ideelle‹«. Aus unmittelbarer Lebenszwecktätigkeit entsteht mit Hilfe von Sprache und Werkzeug »die neue Grundrichtung des ›mittelbaren‹ Verhaltens«59, welche repräsentativ-symbolische Grundleistungen vollzieht. Die organisch-vitalen Lebensfunktionen werden damit nicht außer Kraft gesetzt, an ihnen entfalte sich jedoch eine völlig neue Bewegung: der Aufbau einer Symbolwelt. In dem Sinne gilt Cassirer hier das ›unmittelbare Leben‹ nicht als ursprüngliche symbolische Form, wohl aber als Quellstätte der Formen. Für das menschliche Dasein scheint er damit eine ursprüngliche, natürliche, ausschließlich lebenszweckmäßig gerichtete Existenzform auszuschließen. Menschliches Leben ist immer schon ein Vollziehen symbolischer Funktionen, Leistungen. Jede noch so primitive Erscheinung menschlichen Bewußtseins enthält die Doppeltheit von Sinnerfüllung eines Sinnlichen, auch wenn das nicht gewußt wird. Die Setzung der bloß in ihm bestehenden Differenz vollzieht das Bewußtsein, wenn es »aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht.«60 Das gilt zunächst für das elementare Ausdruckserlebnis, das der unmittelbaren Wahrnehmung zugrunde liegt. Es benennt die sich vertiefende »Entzweiung« der immer schon bestehenden Doppelrichtung oder inneren Differenz noch nicht; dies vermag erst die theoretische Reflexion ü b e r das Ausdrucksphänomen. 61 Die Unmittelbarkeit des Lebens treibe nicht zunächst und zuerst in die mittelbaren geistigen Z w i s c h e n g e b i e t e von Sprache, empirischem Weltbild und Wissenschaft, sondern in das Gebiet des Mythos. 62 Als auf E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 319. 59 Ebd., 321. 60 Ebd., 105. 61 Ebd., 105. 62 Ebd., 74 f.; »Das Leben ist [für das mythische Weltbild – C.M.] noch ein einziger stetiger Strom des Werdens; ein dynamisches Fließen, das sich erst ganz allmählich in sich selbst teilt und sich in einzelne Wellen absetzt.« – Ebd., 79. 58

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der Ausdruckswahrnehmung beruhend ist der Mythos noch sehr dicht am unmittelbaren organisch-vitalen Leben und prägt aller wahrgenommenen Wirklichkeit die Form des Lebens, die Personifi kation, auf. Die Lebendigkeit dieser Weise der Weltgestaltung stehe »allen sonstigen Weisen der bloßen Vergegenständlichung unabhängig und selbständig gegenüber[…].«63 Die Ausdruckscharaktere des Lebens (das Band einer ursprünglichen »Sympathie«) befinden sich mit dem wahrgenommenen Seienden in Einheit. Obwohl sie noch die »Grund- und Urschicht« aller empirischen Wahrnehmung bilden, sieht das theoretische Bewußtsein schließlich von ihnen ab, ohne sie damit völlig zum Verschwinden zu bringen. Sonst würde das »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« erlöschen. 64 Andererseits verbürgt die Tatsache, daß jegliche Wahrnehmung eine Ausdruckswahrnehmung ist, sowohl die Möglichkeit, sie zu verstehen, als auch »das Leben schlechthin«, welches Lebendigkeit, Vielfältigkeit und Unpersönlichkeit kundgibt. 65 Den Ursprung der Absetzung, Differenzierung und Gliederung zwischen einer Ich-Konstanz und einer Ding-Konstanz in der Wahrnehmung verortet Cassirer in den geistigen Regionen der Sprache und der Darstellung. 66 Damit habe sich »die ursprünglich allein gegebene Sphäre des Lebens« in sich selbst unterschieden und sich, vermöge dieser Unterscheidung, mehr und mehr eingeschränkt. 67 Das ursprüngliche Moment der Ausdruckswahrnehmung, »jener seelisch-geistige Grundbestand«, lebt allerdings auch nunmehr weiter fort. 68

2.2. Leistung und Grenzen der Lebensphilosophie (Simmel, Scheler) 1. Im Unterschied zu Rickert erblickt Cassirer in der lebensphilosophischen Strömung keine bloße ›Modeströmung‹, sondern hält es für »unverkennbar, daß ihre Motive in einer Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefühls und des spezifisch-modernen Kulturgefühls wurzeln. Es ist eine innere Spannung, eine polare Gegensätzlichkeit dieses Lebens- und Kulturgefühls selbst, die hier zum Ausdruck drängt.«69 Ebd., 74 f. Ebd., 99. 65 Ebd., 82. 66 Ebd., 86. 67 Ebd., 99. 68 Ebd., 90. 69 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 8. 63

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Indem er ihr zugesteht, einen von den Menschen real empfundenen Gegensatz zwischen subjektivem Tun und zerklüfteten kulturellen Objektivationen einzufangen, den Simmel als ›Tragödie der Kultur‹ bezeichnet hatte, schreibt er der Lebensphilosophie ein kulturkritisches Potential oder Moment zu. Auf dieses Moment kommt Cassirer auch im Zusammenhang mit Scheler zu sprechen. Wiederum rechnet er der Lebensphilosophie zu, ein grundsätzliches, dem Menschen und seiner Kultur wesensmäßig einwohnendes Problem zu benennen, ohne es jedoch philosophisch zufriedenstellend auflösen zu können. Wenn sie den Gegensatz von ›Geist‹ und ›Leben‹, von rationalem Bewußtsein und Gefühl, von Unmittelbarkeit des Lebens und mittelbarer Geisteserkenntnis thematisiert, dann drücke sie ein Wissen darum aus, daß wir durch unsere Menschwerdung aus dem »Paradies der Unmittelbarkeit« vertrieben werden und die Wirklichkeit durch unsere Symbolwelten neu erschaffen müssen, um uns ihm am Ende wieder anzunähern.70 Die Lebensphilosophie spreche die Einsicht über diesen notwendigen Umweg aus. Obwohl sie den Gegensatz richtig benennt, hindere sie ihre metaphysischen Einheitsidee daran, ihn aufzulösen. Die Metaphysik des Lebens, zu der »Denker von so durchaus verschiedener Geistesart und von so verschiedener geistiger Herkunft wie Nietzsche und Bergson, wie Dilthey und Simmel« gehören, sieht Cassirer deshalb an dieser Aufgabe scheitern, weil sie die ›Dialektik‹ von subjektiver Einheit und objektiver Zerklüft ung als absoluten Gegensatz von subjektivem Leben und objektivem Geist verewige, anstelle sie von einem Mittleren her aufzubauen.71 Die Lebensphilosophie gehe letztlich von einer scheinbar absoluten, in Wirklichkeit durch nachträgliche Abstraktion gewonnenen Antithese aus, die sie auf ein vorgängiges Einheitliches zurückzuführen sucht. Doch ist der Gegensatz von Geist und Leben erst einmal als absoluter bestimmt, könne er auf keine Weise mehr einsichtig aufgehoben werden. Deshalb hält Cassirer den Lebensphilosophen vor, mit der Annahme eines »schlechthin-ursprünglichen, […] unmittelbar-gewissen Seins«72 das Leben als ein absolut geistloses, sinnloses Innen aufzufassen, von dem kein Weg zum geistigen Sinn in den Kulturwelten führt. Außer der Suche nach einer inexistenten Einheitssubstanz identifiziere die »reine ›LebensE. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 185 f. 71 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 8. 72 Ebd., 96. 70

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philosophie‹« zudem fälschlicherweise die Unterscheidung von innerer und äußerer Wahrnehmung mit dem Unterschied von ursprünglichem, unmittelbar-gewissen Sein und mittelbarem, abgeleiteten Sein. Zwischen beiden Seinsweisen bestehe aber keinerlei Mittleres, Gemeinsames. Folglich bieten die Lebensphilosophen keinen Ausweg aus der objektiven Dynamik entfremdeter Kulturformen, in der Cassirer durchaus die größte Herausforderung an den modernen Menschen sieht, 73 gewähre doch die beschworene Ursprünglichkeit des Lebens und Erlebens nur scheinbar einen Rückgang aus der Zerlegung der Kulturwelt in selbständige Schichten, Haltungen zur Welt, die sich voneinander entfernen und einander fremd werden.74 Dieser Konflikt lasse sich nur dann entschärfen, wenn eine universelle Norm gefunden wird, »die die Einzelnormen [der geistigen Kulturformen – C.M.] zugleich befriedigt und beschränkt«.75 Auf die Frage, inwieweit Cassirers Begriff von Metaphysik die Intentionen von Simmel und Scheler überhaupt trifft , kann im vorliegenden Beitrag nicht eingegangen werden.76 Trotz aller geäußerten Einschränkungen sieht er in der modernen Metaphysik des Lebens einen Fortschritt gegenüber traditioneller Metaphysik und begründet eine Sonderstellung Simmels und Schelers in ihr. Die philosophischen Verdienste der verehrten und geschätzten Kollegen macht er vor allem darin aus, das erwähnte Grundproblem der Kultur bzw. Philosophie benannt und sich dabei der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ a n g e n ä h e r t zu haben. Gleichzeitig besteht Cassirer auf ihrem Scheitern an metaphysischen Schranken, welche allein E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 173. 74 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 6. 75 E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 173. In dem Zusammenhang würdigt Cassirer Simmels Thematisierung der »›Tragödie der modernen Kultur‹«, die sich abzeichne, weil entfremdete Sachreihen den ursprünglichen, unmittelbaren Lebensstrom im Ich verebben lassen, und das je mehr, je mehr Schöpfungen der Mensch vor sich hinstellt (ebd., 172). 76 Cassirer deutet jede Erklärung als metaphysisch, die auf eine absolute Entzweiung zurückgreift , was keine Vermittlung der zerrissenen Zweiheit mehr gestatte. (E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, a. a. O., 105) Diese Differenz ›besteht‹ immer schon, ohne als solche ›gesetzt‹ zu sein. Ihre Setzung vollziehe sich mit dem Übergang des Bewußtseins »aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens.« (Ebd.) Außerdem hätten wir es immer dann mit einer metaphysischen Philosophie zu tun, wenn anstatt Funktionen Substanzen gedacht werden, Sinnprobleme Umsetzung in Seinsprobleme erfahren. Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ suche nicht nach Gemeinsamkeiten im Sein, sondern im Sinn verschiedenartiger repräsentativ-symbolischer Grundleistungen des Geistes. (Ebd., 319) 73

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die rein funktional argumentierende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu überschreiten vermöge. In dem ihm eigenen »Streben nach der letzten dialektischen Zurüstung und Zuspitzung der Probleme« habe vor allem Simmel die g e f ü h l t e Polarität in eine rein gedachte verwandelt und »auf ihre einfachste logische Formel« gebracht.77 Als These und Antithese gedeutet lasse sich der Grundgegensatz Geist und Leben, Objektivität und Subjektivität zwar nicht lösen, wohl aber bezeichnen, insbesondere mit Hilfe des Begriffs ›Transzendenz des Lebens‹, d. h. einer logischen Paradoxie. Der Begriff, der Leben als oszillierende Bewegung zwischen den Polen von reiner Immanenz und dem Heraustreten über sich fasse, gestatte einen Blick auf das symbolische Grundverhältnis. Das Bemühen Simmels, die Einheit der sich immer mehr zerlegenden Kultur zu retten, muß Cassirer bei aller Wertschätzung für das sich in ihm manifestierende Problembewußtsein abweisen. Seine Erklärung dieser Einheit mit Hilfe der geistigen Subjektivität des Menschen lasse die »objektive Gegensätzlichkeit der ›Formen‹ in der Einheit des ›Lebens‹ aufgehen« und verlege so die Dialektik von Subjektivität und Objektivation in ihr Gegenteil, in den Begriff des Lebens selbst zurück.78 Die dabei herausgekommene Scheinlösung gebe dem alten metaphysischen Problem nur einen neuen sprachlichen Ausdruck bei. Der Theorie einer logisch-paradoxen Transzendenz des Lebens fehle die Dynamik, die Begrifflichkeit des Prozeßhaften, die allein den Akt des SichLosreißens des Geistes von dem natürlichen Weltverhalten verstehen lasse. Den dabei festgestellten tiefen Widerspruch zwischen dem ununterbrochenen Werden des Lebens und dem aus dem Fluß herausgehobenen Gewordensein der Gehalte konstatiert auch Cassirer. Problematisch erscheint ihm allerdings, daß Simmel die reine Dynamik des Werdens als beständige Flucht des einen Prinzips vor dem anderen auffasse. Welche Ausdrücke der auch immer für die Bezeichnung des Gegensatzes verwende, stets behandle er ihn als einen unversöhnlichen Gegensatz im Denken. Cassirer jedoch läßt einen Denkwiderspruch zwischen dem unmittelbar gelebten Leben und seiner begrifflichen Deutung und Aussprache nicht gelten. 79 Folglich bleibe Simmel bei der Forderung nach Auflösung des Zentralproblems als begrifflicher Antinomie stehen.

E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 8. 78 Ebd., 7. 79 Ebd., 12. 77

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Dessen Lebensbegriff als reiner subjektiver Aktualität gesteht Cassirer zwar zu, keine Substantialität zu kennen, hält aber die Methode, durch die Simmel die Absolutheit des Lebens für das Denken erreiche, für sehr problematisch. Das absolute Leben ›erscheine‹ wegen seiner inneren Dualität »nicht nur als das ursprüngliche Quellgebiet des Geistes, sondern auch als dessen Urbild und Prototyp. Denn d i e s e l b e Doppeltheit ist es, die sich im Sein des Geistes in einer neuen gesteigerten Gestalt darstellt.«80

Zumindest der zweite Teil der Bestimmung wird von Cassirer nicht geteilt, lasse sich doch Geist nicht aus Leben ableiten, dessen Funktionen immer schon geistige Formkraft, z. B. als Fragen, kennen. Als fragwürdig an Cassirers Argumentation erscheint allerdings die These, Simmel fasse die Idee als eine dem Leben völlig fremde, transzendente Sphäre auf, wo sie sich doch schon als ›Vorform‹ in der Lebenszweckmäßigkeit bewährt. 81 Damit gehört der autonome Sinn der Ideen der Lebenslogik zwar noch nicht als bestimmendes Moment an, wirkt aber schon – ihr dienend – in ihr. Inwieweit ein »zu sich selbst Kommen« des Lebens, indem es die »Wendung zur Idee« vollzieht, nicht auch schon für Simmels Darstellung des Grundproblems gilt, 82 ist nicht schlüssig. Vielleicht will Cassirer so zum Ausdruck bringen, daß Simmel allein an der sprachlichen Fassung des Problems gescheitert ist. Er würdigt jedoch an Simmels Rede vom geistigen Leben, daß er nicht dem Irrtum des Intuitionismus (Bergson) verfalle zu meinen, durch einen eigentümlichen Akt des Schauens hinter die Welt der Formen zurückgehen zu können. 83 Auch Scheler unternehme – in dem veröffentlichten Vortrag »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (1928) – einen bemerkenswerten, wenngleich letztlich ebenfalls mißlungenen Versuch, die bereits von der Romantik ausgesprochene und von der zeitgenössischen Lebensphilosophie als unüberwindbar titulierte Entgegensetzung von ›eigentlicher‹ Unmittelbarkeit (Leben) und ›uneigentlicher‹, ›gefallener‹ Mittelbarkeit (Geist) zu versöhnen. Das Paradoxe sieht Cassirer daran, daß Scheler seine im Vergleich zur traditionellen Metaphysik n e u e Deutung des Dualismus von Geist und Leben erneut mit einer metaphysischen Lösung verbinde. Ihm wird zu Gute gehalten, uns f a s t aus dem mythisch-magischen Bannkreis erlöst Ebd., 9. G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918), a. a. O., 24. 82 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 18. 83 Ebd., 12. 80 81

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zu haben, in den uns Klages mit seiner Dämonisierung des Geistes führe, 84 aber halt nur fast. Doch selbst da, wo seine Lösung an metaphysischen Begriffen scheitere, weise seine Position über sich hinaus, eben auf die funktionale Lösung hin. Schelers größtes Problem sei, daß er die eigentlich schon nachmetaphysische Lösung des Grundproblems in der alten metaphysischen Sprache ausspreche. 85 Seine Gedankengänge, die eine »außerordentliche dialektische Kraft und Meisterschaft« auszeichne, fi ndet Cassirer originell, wichtig und fruchtbar. 86 So deuteten sie gelegentlich die theoretische Weltgestaltung als den Vollzug von bestimmten Ordnungsfunktionen, wobei Erkenntnisfunktionen als notwendige Funktionen und Schemata verstanden werden, die ins Ideelle und Mögliche weisen. Seine philosophische Schranke komme da zum Vorschein, wo die Antworten immer wieder in metaphysisches Seinsund Substanzdenken zurückführen und das Denken in bloßen Funktionen verlassen. 87 Das tritt ein, wenn Scheler die Einheit von Leben und Geist als zwei entgegengesetzten Funktionen auf die Einheit eines metaphysischen Weltgrundes zurückführt. 2. Die Untersuchung führt Cassirer zu dem Ergebnis, daß moderne Lebensphilosophen mit dem Gegensatz von Geist und Leben nicht nur ein Grundproblem benennen, das sich der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ebenfalls stellt, sondern sich in ihren Lösungsansätzen auch dem Verständnis der symbolischen Form als einem mittleren Reich gegenläufiger Energien weitgehend annähern. So beschreibe Simmel mit der Annahme einer doppelten Achsendrehung des Lebens, d. h. mit dem Gedanken, daß die Vorformen der Bedeutungssysteme von Kultur sich zwar von der unmittelbaren Lebenszweckmäßigkeit emanzipieren, danach aber ihre Abkunft vom Leben insofern nie ganz verlieren, weil sie als Formen für das strömende Leben fungieren, ein symbolisch-prägnantes Grundverhältnis. 88 Das symbolische Grundverhältnis werde durchschaut, wenn das wechselseitige

L. Klages, Mensch und Erde. Sieben Abhandlungen (1913), 3. Aufl., Jena 1929. E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931, a. a. O., 201. 86 Ebd., 199; Eine philosophische Würdigung von Cassirer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ hatte Scheler wenige Jahre vorher u. a. in seiner ›Wissenssoziologie‹ ausgesprochen – M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens (1924), in: Die Wissensformen und die Gesellschaft , Leipzig 1926, VII Anm. 1.; Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Symbolische Formen als Wissensformen«, 591–603. 87 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931, a. a. O., 192. 88 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 12. 84 85

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Umschlagen von Immanenz und Transzendenz als Bewegung durch einen Mittelpunkt, Durchgangspunkt geschildert wird. 89 Die von Simmel ausgesprochene doppelte Wendung dürfe nicht als ein Abschiednehmen des Lebens von sich selbst verstanden werden, sondern als ein In-sich-Zurückgehen, ein im Medium der symbolischen Form »zu sich selbst Kommen«.90 Da dieses Problemaufwerfen das von Cassirer anvisierte »systematische Grundproblem« berührt, indem es die »Wendung zur ›symbolischen Form‹ als Vorbedingung und als Durchgangspunkt« fordert, komme Simmel an das »Medium der symbolischen Form« heran, erreicht sie wegen seiner metaphysischen Gegenüberstellung von Geist und Leben jedoch nicht wirklich. Cassirer verzichtet leider auf eine Erklärung, ob und inwieweit er sich von Simmel selbst hat anregen lassen. Mit anderen Worten, das s y m b o l i s c h e M e d i u m , in dem bzw. durch das der menschliche Geist die Sinnstrukturen der Kultur ›aufbaut‹, werde von Simmel ganz richtig als ein Durchgangspunkt zwischen Unmittelbarem und Mittelbarem, Sinnlichem und Sinnhaften bestimmt. Indem die selbständig gewordenen Formen und Funktionen letztlich das Leben zwingen, seine Inhalte in sie einzuordnen, geben sie diesen Inhalten ihre letzte Wertund Sinnerfüllung.91 Das Problem sieht Cassirer jedoch da, wo Simmel die doppelte Achsendrehung des Lebens als metaphysische Seinsbestimmung eines absoluten Lebens deutet, und nicht als mittleres geistig-funktionales Medium zwischen subjektiver Lebendigkeit und objektiver Geistigkeit. Ein Absolutes jenseits des eigenständigen Mediums einer formend geformten Mitte – der symbolischen Form – gewähre keinen Ausweg aus den theoretischen Antinomien. Deshalb mußte Simmel – trotz des »rein symbolischen Charakters« seiner Beschreibungen – bei der Darstellung der gegenläufigen Funktionen (dem Leben Dienen u n d das Leben Unterwerfen), die von dem Durchgangspunkt ›symbolische Form‹ vermittelt zu denken sind, scheitern. Das manifestiere sich im Rückgriff auf räumliche Analogien (Innen, Außen), welche die gegenläufigen Geistesrichtungen als zwei Wirklichkeitsbezirke und nicht als zwei gegenläufige Funktionen vorstellen. Damit treten räumliche Schemata bzw. Metaphern an die Stelle der Symbole. Leben und Idee bilden für Cassirer jedoch keinen räumlichen Gegensatz, sondern bestimmen sich wechselseitig, korrelativ, was als eine primäre Tatsache anzusehen Ebd., 16. Ebd., 18. 91 »Denn was hier als die ›Achsendrehung des Lebens‹ beschrieben wird: das ist nichts anderes als jene eigentümliche Umkehr […], die es in sich erfährt, sobald es sich in dem Medium einer ›symbolischen Form‹ erblickt.« – Ebd., 13. 89

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ist. Vor diesem Problem versage nicht das logische Denken überhaupt, wie Simmel irrtümlich meint, sondern allein das verräumlichende Denken. An Stelle räumlicher Bilder vermögen dynamische Gleichnisse diesen »Pendelschlag des geistigen Lebens« sehr wohl sinnvoll und adäquat auszudrücken.92 Die räumlichen Metaphern, die eine Kluft zwischen dem Sinn in seiner idealen Reinheit (Form) und seinem bildhaften Ausdruck enthalten, erweisen sich folglich als die wahre Quelle der logischen Antinomie und verhindern eine wahrhaft symbolische Fassung des Problems. Wie Simmel nähere sich auch Scheler über einen Erkenntnisfortschritt hinsichtlich des Grundproblems dem Verständnis der symbolischen Form als einer doppelt gerichteten geistigen Funktion an. So geht er von der Vorstellung einer Wesenseinheit von Leben und Geist ab und sieht in ihnen entgegengesetzte Prinzipien, deren unaufhebbare Differenz kein Monismus überbrückt.93 Geist entstehe nicht aus Leben, sondern bedeute eine ›Umwendung‹ der Lebensfunktionen, eine neue Richtung der Funktionen, ihre Entbindung aus dem Triebleben, wobei ein ›Hemmen‹ des Lebens vollbracht werde. Wenn Scheler zum Ausdruck bringt, das Selbst erlange erst mit der Abkehr vom Leben Weltoffenheit, dann sieht Cassirer die grundlegende symbolische Erkenntnisfunktion gewonnen, die den Aufbau der objektiven Welt zustande bringt. Die Absage an die alte Auffassung von der Selbstmächtigkeit des Geistes als einer Substanz und die Annahme einer Machtlosigkeit des Geistes gegenüber dem Leben machen eine weitere entscheidende Einsicht Schelers aus.94 Der sieht den Geist seine Kraft im beständigen Kampfe mit dem Leben – durch geistige Askese – gewinnen, dabei den prallen Lebenskräften ein Ziel, einen Zweck, eine Richtung, einen Sinn gebend. Doch bei aller Annäherung an das grundlegende Problems der Doppelrichtung geistigsymbolischer Formung bleiben Schelers Antworten auf die Fragen hinsichtlich der Umkehr vom Leben zur Idee, von Simmel die ›Wendung zur Idee‹ genannt, offen. Die metaphysische Lösung des Grundproblems, die Scheler vorlegt, deute im ohnmächtigen Geist aber ein Positiv-Bestimmtes an, da Askese nicht als Abkehr vom Leben, sondern als innere Wandlung des Lebens gemeint sei, als innere Umkehr vom Leben zur Idee. Doch die so als methodisch-funktionaler Gegensatz aufgefaßten gegenläufigen Energien, Tätigkeiten des Gemüts werden, so Cassirer, am Ende wieder als metaphysisch-seinshafter Ebd., 16 f. E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 192, 199. 94 Ebd,, 190. 92 93

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Gegensatz genommen, der auf ein einfaches ›entweder – oder‹ hinauslaufe. Dies belege u. a. das an den Anfang Setzen eines »l e b e n s f r e m d e n Geistes« und eines »i d e e n b l i n d e n Lebens«.95 Auch wenn dabei beide nicht als substanzielle Wesen, sondern als gegensätzliche Vollzugssinne von Lebenstätigkeit bzw. von geistigem Tun aufgefaßt werden, lassen die verwendeten alten metaphysischen Begriffe den Geist als substanzielle Potenz erscheinen. 3. Noch in einem dritten Sinne kommt Cassirer auf den von der Lebensphilosophie thematisierten Gegensatz von Geist und Leben zu sprechen, um deutlich zu machen, warum sie trotz aller Fortschritte und Verdienste bekämpft werden müsse. Wenn der Geist als Wendung, als Umkehr des Lebens aufzufassen ist, dann laufe ihre Kritik an den ›Anmaßungen‹ des Geistes schon deshalb ins Leere, weil es sich dabei letztlich um eine Selbstanklage des Geistes handle. Und diese Selbstanklage zerstöre den Geist keineswegs, sondern diene seiner Selbstbejahung als Voraussetzung.96 Diese Überlegungen richten sich vor allem gegen ein Mythologisieren und Dämonisieren des Geistes bei Denkern wie Klages. Obwohl Cassirer mit der Rede von der Selbstanklage des Geistes die Kritik an Geist, Vernunft, Logos, Sprache abzuschwächen scheint, klingt hier dennoch ein Bewußtsein von Gefahr an. Mag die Anklage angemaßter Herrschaft des Geistes auch ein Fehlschluß sein, weil Geist und Leben sich als Gegensätze wissen, suchen und fordern, so spiele sich das »eigentliche Drama« in Wirklichkeit zwischen den gegensätzlichen Richtungen innerhalb des Geistes selbst ab.97 Und dieses Drama bildet für Cassirer den wirklich gefahrvollen, schicksalshaften Tatbestand, weil dem Geist neben der Kraft der Negation, des Protestes hinsichtlich des Anderen auch die bedrohliche Kraft einwohne, sich selbst zu negieren, wider sich selbst zu streiten. Diese Kraft der »Selbstzersetzung« mache den Menschen zum allein zur Frage fähigen Wesen, das ewig das problematische, fragwürdige Wesen bleibt. Obwohl die Selbstinfragestellung auch keinen Defekt des Geistes, keinen dämonischen Einbruch in die Sphäre des Lebens bedeute, ist sie doch nicht ungefährlich, da sich der Mensch in ihr selbst verlieren kann. Auf die Frage, ob dieser existentiellen Gefährdung ein metaphysisches Thematisieren des Gegensatzes von Geist und Lebens eher erliegt, als ein Philosophieren auf dem rein funktionalen Standpunkt der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, gibt Cassirer eine klare Antwort: Letzteres deute den Gegensatz zwar nicht weg, fasse ihn aber als eine funktionale Diffe95 96 97

Ebd., 199. Ebd., 203. Ebd., 202.

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renz auf und erspare sich so bestimmte Denkkonsequenzen, die eine geistfeindliche und nihilistische Grundhaltung bestärken und vertiefen. Folglich speist sich die Auseinandersetzung Cassirers mit der Lebensphilosophie aus mindestens zwei Motiven. Zum einen zollt er den Philosophen Simmel, Scheler, Klages und Spengler seinen Respekt wegen ihrer Leistung, das philosophische Grundproblem erfaßt, formuliert und auf neue, moderne Weise durchdacht zu haben. Trotz der erläuterten Grenzen bedeuteten ihre Positionen einen Fortschritt gegenüber der traditionellen Metaphysik. Zum anderen bekämpft er mit der Lebensphilosophie eine Geisteshaltung, welche danach trachtet, die Selbstzersetzungskraft des Geistes über die Einheit seiner funktionalen Prinzipien hinaus zu treiben. Unabhängig von der Absicht des konkreten Philosophen stelle sich das objektive Resultat ein, mit dem Rehabilitieren von Unmittelbarkeit des Lebens und Irrationalität des Gefühls dem modernen Menschen das Bewußtsein vom Wert der rationalen symbolischen Kulturwelten zu verdunkeln.98 Ihm wird auf diese Weise ein wichtiges Werkzeug der Selbstbefreiung aus der Hand geschlagen. Das Wiedererstarken des mythisch-magischen Ausdrucksbewußtseins betrachtet Cassirer als eine der Konsequenzen des Sich-Abwendens moderner Menschen vom Wert rationaler Symbolwelten. Das damit einhergehende Wiedereinbrechen mythisch-magischer Erwartungen, Überzeugungs- und Verhaltensweisen99 schaffe eine Situation, in der von einer inhumanen Politik geschaffene künstliche Mythen eine verhängnisvolle Wirkung erzielen können.100 Sind diese Bedingungen erst eingetreten, dann verlaufen die politischen und sozialen Handlungen der Menschen wieder nach mythisch-magischen Prinzipien, die auf die primitivsten Stufen der Kultur zurückführen, während in den theoretischen Betätigungen der Natur- und Technikwissenschaften – weitgehend – rationale Prinzipien orientierend wirken. Das bedrohliche Wiedereinbrechen mythisch-magischen Denkens in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts als Muster gemeinschaftlichen Handelns ›Rational‹ meint hier wissenschaft liche Rationalität beim Erklären, Wirken und Schaffen innerhalb von Symbolsystemen. Der Mythos besitzt eine eigene Art von Rationalität und Logik, allerdings eine magische und keine wissenschaft liche. 99 »Das Übergewicht mythischen Denkens über rationales Denken in einigen unserer politischen Systeme ist augenfällig.« – E. Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, 7 (= ECW 25, 7). 100 Da der Mythos als wichtigste kulturelle Aufgabe den frühen Menschen das Phänomen des Todes erklärte, indem er es einfach als einen Wechsel in der Lebensform »geleugnet und ›wegerklärt‹ hat« (ebd., 68), sei es nicht verwunderlich, daß politische Systeme, die zum Krieg um politischer Ziele willen greifen, besonders intensiv künstliche Mythen schaffen und in die Welt setzen lassen, um damit dem Tod seine Endgültigkeit, Sinnlosigkeit und Härte zu nehmen. 98

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deutet Cassirer keineswegs als voraussetzungslosen Vorgang. Der Mythos bilde vielmehr eine Grundform symbolischer Formung des Geistes schlechthin. Außerdem hatte sich die frühe Romantik dem Mythos wieder zugewandt und ihn verherrlicht. Die moderne Lebensphilosophie knüpfe nun daran an und vollziehe die Selbstinfragestellung des Geistes. Und nicht zuletzt lassen soziale Erschütterungen und gesellschaft liche Unordnung die rationalen Ordnungen an Geltungskraft verlieren. Schließlich bedient sich eine verbrecherische Politik der künstlichen Mythenschöpfung verbrecherischer Zielsetzungen wegen.

3. Lebensbegriff und Symbolbegriff. Alltag und Kultur Erweist sich die Lebensphilosophie als eine gefahrvolle Geistesströmung, so bedeutet dies für Cassirer nicht, daß damit der Lebensbegriff einem Verdikt verfallen muß. Unabhängig von der kritischen Würdigung hervorragender Vertreter ringt er um die Integration des Begriffs in seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹. Form setzend und zerstörend begreife sich das Leben als unendliche Formungsmöglichkeit, dessen Schranke zur eigenen Tat treibt. Jede symbolische Form gilt ihm nicht nur als geistiges Werden zur Form einer sinnhaften Kulturwelt, nicht nur als Anschauungs- oder Denkform, sondern auch als »ursprüngliche ›Lebensform‹«, die der Mensch nicht bloß ›hat‹, sondern i n welcher er ›lebt‹. Die unmittelbare Lebensnähe symbolischer Gestaltung trete umso deutlicher hervor, »je mehr wir uns der eigentlichen Urschicht des Mythischen zu nähern scheinen.«101 Der formzerstörende und -aufbauende Charakter religiöser und sprachlicher Gestaltung überwinde die Lebensnähe des mythischen Bewußtseins, ohne eine räumliche, seinsmäßige Trennung der Polarität zu bewirken. Die symbolische Gestaltung werde auch vom jeweiligen Lebensgefühl – auf je unterschiedliche Weise – bestimmt. Die Wendung zur Idee, d. h. der Übergang der reinen Lebensbewegung zur Form bedeutet für Cassirer »eine Steigerung dieser reinen Lebensbewegung«102 und keineswegs einen Abfall von ihr, wie dies die romantische Philosophie (Klages) behauptet. Geist und Form sind keine fremde, dämonische Schicksalsmacht, die in die Welt des Lebens einbricht, kein abgründiger Wille zur Macht, sondern der Wille zur Gestaltung, zur Formung der Welt.103 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 19. 102 Ebd., 22. 103 Ebd., 27. 101

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Der seine Richtung ändernde Blickstrahl auf das Wahrgenommene, der die geistige Formung und Sinngebung der erlebten Wirklichkeit vollbringt, tritt bei Cassirer an die Stelle von Simmels Wendung des unmittelbaren Lebens zur Idee. Die symbolische Form gelangt zu ihrem spezifischen Gehalt erst dadurch, daß sie den Kreis der bloßen Nützlichkeit, den Kreis bloßer Lebenszweckmäßigkeit durchbricht. Dieser ideelle, aus dem Kreis ausgebrochene Blickstrahl läßt das Erschaute selbst unangetastet, ununterworfen. Folglich wird der Urgrund des Lebens von ihm weder zerstört, noch vergewaltigt. Das Leben ist vielmehr sich selbst sichtbar geworden, auch wenn jede echte geistige Produktion dem unmittelbar Gegebenen und Erlebten als eine Reduktion erscheint.104 Den eigentlichen Gehalt der Formungs- und Gestaltungsakte macht das Sinngesetz aus, unter dem diese stehen, nicht aber ihre Erzeugnisse. Kraft dieses Gesetzes vollziehe sich ein ewig fortzeugender Akt, der in die Welt des Lebendigen eingreift und gleichsam immer wieder in sie zurücktaucht. Dieses Wechselspiel verhindert, daß die Welt der geistigen Formen in leeren Phantasmagorien aufgeht, was die Metaphysik des Lebens in Kauf nehme. Auch der »Wert des Lebens« sei diesem keineswegs immanent, sondern ermesse sich allein an einer vom Geist gesetzten Norm.105 »[D]ie Welt des Geistes ist der Welt des Lebens so wenig ›immanent‹ wie sie ihr ›transzendent‹ ist«, diese Doppeltheit oder Differenz ist allein für den ›Blickpunkt‹ des Geistes da.106 Alle unterschiedlichen Medien der Formgebung haben laut Cassirer ein gemeinsames Ziel: das eigentliche geistige ›Sehen‹ der Wirklichkeit. Der als Energie des Tu n s leistende, schauende Geist sei nicht als ein die Gegenstände zwingendes W i r k e n , sondern als bildende Aktivität des bloßen Denkens zu deuten, wofür bei Klages und Bergson der Begriff fehle. Das Leben wäre für sich allein, ohne diese leistende Kraft produktiver Einbildung, niemals »Urquell aller Wirklichkeit«, niemals »der Quell der Symbole, in denen uns diese Wirklichkeit erst faßbar und verständlich wird«.107 Diese geistige Funktion stiftet die Einheit der symbolischen Grundtypen des Verhaltens zu Welt, und nicht ein ursprünglich gemeinsames Sein, auch wenn immer wieder der Schein zu durchbrechen ist, das ungeschiedene Sein enthalte die Antwort. Deshalb finden wir in der »Schicht des Erlebens«, soweit sie als »die [ungeschiedene] Einheit des ›natürlichen Weltbildes‹« vollzogen wird, »die Fülle all der Motive […], die wir in der Gestaltung der 104 105 106 107

Ebd., 77. Ebd., 31. Ebd., 59. Ebd., 29 f.

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Sprache, des Mythos, der Erkenntnis wirksam sahen,« auch nur ›scheinbar‹ als noch nicht zerlegte und gespaltene Fülle wieder.108 Folglich haben für Cassirer die verschiedenen Sinngebungsdynamiken ihre ›Vorformen‹ (Simmel) nur ›scheinbar‹ bereits in der ›natürlichen Weltanschauung‹, die zwar in ihnen ›lebt‹, sie aber nicht als gesonderte ›hat‹, weil ›natürliche Weltanschauung‹ ein stetiges absatzloses Übergehen von einem Extrem zum anderen bedeutet. Anstelle einer Einheit aller geistigen Verhaltensweisen i m noch ungeschiedenen unmittelbaren Leben betont Cassirer die ursprüngliche Korrelation, Doppelrichtung des Geistes, in der für einen Dualismus lebloser Form u n d formlosen Lebens kein Platz ist. Leben und Form bilden als Formendes und Geformtes lediglich »zwei Accente, die wir im Fluß des Werden setzen.«109 Sie wohnen allen geistigen Energien und somit allen mittleren Medien, allen symbolischen Formen ein und vollziehen kein antinomisches, sondern ein wechselseitiges Aufbauen von Kräften. Die symbolische Form wird somit als Medium begriffen, das formend geformte Mitte ist, aus deren durch polare Accente geprägter ursprünglichen Einheit sich die gegensätzlichen Pole Leben und Form herausbilden, ohne freilich die funktionale Einheit je völlig zu zerreißen.110 Die Vorstellung von der Mächtigkeit des Geistes als einer Energie des ›Bildens‹ erkläre die wahre Beziehung zwischen Geist und Leben. In ihr verliere der Geist die dem Tier noch eigene unmittelbare Einheit mit dem Leben, die unmittelbare Einheit von Bemerken und Bewirken. Die Bildungsfunktion halte den Lebensstrom an, setze ihn zu dauernden Gestalten zusammen, was Umkehr, Rückkehr und Wandel von Sein und Richtung des Lebensstromes, der Lebensfunktionen bedeutet.111 Die mittelbare Tätigkeit des geistigen Bildens von symbolischen Kulturwelten bedeute ebenfalls ein reines Tun, wie es auch vom Leben in anderer, in unmittelbarer Richtung vollzogen wird. Das Zwischenreich der symbolischen Formen bzw. Bildwelten, die den Prozeß der geistigen Distanzierung zur unmittelbar erlebten Wirklichkeit leiten, bildet den Anschauungs- und Denkraum des Kulturmenschen aus. Mit dem sich von der Welt (ins Mittelbare) Entfernen und der Wirklichkeit theoretisch Nähern (aufs Unmittelbare zielen) vollzieht der Mensch einen notwendigen Umweg zur Welt, bei dem die neu herzustellende UnmittelEbd., 5 f. Ebd., 15. 110 Ebd., 218. 111 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 198. 108 109

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barkeit mit der ursprünglichen, rein organisch-vitalen nicht mehr identisch ist. Die war mit dem Aufdämmern des Geistes unwiederbringlich verloren gegangen, woran keine romantische Philosophie etwas zu ändern vermag. Hierbei sind die beiden Gegenrichtungen geistigen Tuns als ein einheitlicher, die Beziehung z w i s c h e n Subjekt und Welt vermittelnder Vorgang zu denken: die Symbolwelten treten nach und nach zwischen den lebenstätigen Menschen und seine natürliche wie künstliche Welt.112 Zur Welt als unmittelbarem Dasein hat der Modus geistiger Bewußtheit eine Gegenwelt der Zeichen geschaffen, die jene vorstellt und darstellt. Dabei teilen der parallele Aufbau der mythischen Welt des Lebens und der empirischen Objektwelt sowohl die ursprüngliche Anschaulichkeit und Bildlichkeit als auch die Begriffe von Raum, Zeit und Zahl, beides kommt aber in unterschiedlicher Bedeutung bzw. Richtung zum Einsatz.113 Die Gegenwelt der Zeichen wird nicht mehr in unbestimmten Gemeinsamkeiten erfaßt, wie noch auf der untersten Stufe des mythischen Bewußtseins, weil die symbolische Form Sprache den Kreis des mythischen Sinngesetzes überschreitet.114 Verdrängen Sprache und Kunst als darstellende Mittel der Objektivation den Mythos,115 so bringen die Ordnungssymbole der wissenschaft lichen Bedeutungswelt – auf dialektische Weise – die Flüssigkeit der Welt im Mythos zurück. Die empirische Wahrnehmungswelt als darstellende Objektivation des Geistes baut sich zwischen Mythos und Wissenschaft auf.116 Manchmal scheint Cassirer die Welt der empirischen Erfahrung in den Rang einer eigenständigen symbolischen Form zu erheben, die – im Gegensatz zur rein theoretischen Formung – eine alltägliche Lebenswelt der Menschen aufbaut, doch dann nähert er sie wieder – als Vorstufe – der Naturwissenschaft an oder bestimmt sie als Erfahrung von Fremdsubjekten.117 Aus dem Sachverhalt, daß Cassirer den Übergang vom emotionalen Ausdrucksbewußtsein zum sprachlichen Repräsentations- und DarstellungsbeEbd., 197. E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 95–97; siehe auch E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 68 f. 114 E. Cassirer, Zweites Kapitel: »Das Symbolische als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 71. 115 Ebd., 90. 116 Ebd., 94. 117 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 83. Es gebe »eine Art von Wirklichkeitserfahrung, die sich noch ganz außerhalb dieser Form der naturwissenschaft lichen Erklärung und Deutung hält«, nämlich die »Erfahrung von fremden Subjekten«. (Ebd., 69) 112 113

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wußtsein sowohl als strukturellen (Ausdruck, Darstellung, Bedeutung) wie auch als genetischen Schritt (Mythos, Sprache, Wissenschaft) auffaßt, resultieren gewisse Irritationen.118 In welcher Symbolwelt lebt der mythisch gestaltende Mensch jenseits der magischen Rituale und mythischen Erzählungen, wenn er alltäglich jagt, sich ernährt, vor Kälte schützt, mit Feinden kämpft? Bewußtes mythisches Schaffen setzt Sprache (Benennen) und Kunst (Bilden) voraus und findet in Abhebung zur empirischen Alltagswelt statt. Form gebe dem Leben nämlich als erste die »große geistige Trias« Mythos, Sprache und Kunst.119 Die Problematik führt auch auf die Frage, ob Cassirer in seinem System kultureller Bedeutungswelten neben den Sinnordnungen wie Mythos, Religion, Wissenschaft auch eine eigentümliche Alltagsform, Alltagsordnung kennt? Das scheinbare Desinteresse am Alltagsmenschen bzw. am Verhältnis von alltäglicher und speziell kulturbildender Tätigkeit hängt möglicherweise mit der anthropologischen Fragerichtung Cassirers zusammen. Ihn interessiert in erster Linie das den Menschen gegenüber dem Tier Auszeichnende und folglich der historische u n d strukturelle Übergang vom rein organisch-vitalen [Tier-]Leben zum symbolischen Kulturschaffen des Menschen. Die Beziehung von alltäglich-praktisch interessierter Tätigkeit und kulturellem Eigensinn verpflichteter symbolischer Gestaltung bleibt m. E. weitgehend unbelichtet.120 Dennoch fi nden Lebensformen des Alltags bei Cassirer Erwähnung, wenn auch nur am Rande. Es ist die Rede von »praktischen Zwecken«, die »den Menschen bei seinen alltäglichen Verrichtungen« orientieren,121 vom »Menschen unseres alltäglichen praktischen Umgangs«,122 von »unserer gewöhnlichen Erfahrung«,123 oder von der »Alltagssprache« als dem ersten »Versuch des Menschen, die Welt seiner Sinneswahrnehmungen zu gliedern«.124 Dem scheinen Äußerungen zu widersprechen, wonach die Für O. Schwemmer ist das Stufenschema Ausdruck-Darstellung-Bedeutung nicht mit dem Projekt einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als solchem verbunden. – O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, a. a. O., 40. 119 E. Cassirer, Zweites Kapitel: »Das Symbolische als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 88. 120 Interessante Überlegungen zu dieser Beziehung fi nden sich in O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, a. a. O., 143 f. 121 E. Cassirer, Versuch über den Menschen, Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990, 145 (= ECW 23, 91). 122 Ebd., 314 (= ECW 23, 223). 123 Ebd., 317 (= ECW 23, 225). 124 Ebd., 319, 317 (= ECW 23, 226 f., 225). 118

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symbolische Form Sprache nicht wesensmäßig Alltagswelt konstituiert, da sie »in erster Linie im Dienste der rein theoretischen Objektivierung [steht]: sie bau[t] die Welt des ›Logos‹, als gedachten und gesprochenen Logos, auf.«125 Hatte die emotionale Ausdruckswahrnehmung die Übergangsphase vom tierischen zum menschlichen Leben bestimmt, so kommt der Mythos, der »noch keinen logischen Darstellungs- oder Zeichen-Sinn« besitzt, für eine Alltagsform bzw. -ordnung ebenfalls kaum in Frage, da die mythische Gestaltung das Ungewöhnliche, Heilige in den Blick auf das Dasein legt. Gilt mythisches Bewußtsein einmal als ein erstes ordnendes Weltbild des a n i m a l s y m b o l i c u m , sich auf der Ebene des emotionalen Ausdrucks vollziehend, worauf sprachliche und künstlerische Gestaltungsweisen als darstellende Funktionen aufbauen, so wird ein andermal die Gleichzeitigkeit empirischen und mythischen Bewußtseins betont, was die Sprache als Gestaltungsmittel einschließt.126 Der ›Alltagsmensch‹ lebt und gestaltet in einer Vielzahl von symbolischen Welten, ohne sich besonders oder speziell auf die jeweiligen Funktionsweisen des Geistes zu konzentrieren, einlassen. Sprache, empirisches Weltbild, Kunst gehören, soweit sie sich auf der Ebene der symbolischen Repräsentation bewegen, sicher dazu. Dennoch wird der Einstellungswandel vom Alltagsleben (alltägliches Weltbilden) zum Kulturschaffen (arbeitsteiliges Kulturweltbilden) wenig thematisiert, während Simmel die alltägliche, praktisch-interessierte Welterfahrung als eine der »großen Funktionsweisen des Geistes«, die Wirklichkeit konstituiert, beschreibt.127 Die Weltform des praktischen Lebenswissens transzendiere sich nicht nur beständig selbst E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 74. 126 Mythische Realität ist für den Menschen eine aparte, heilige Realität neben oder innerhalb der empirischen ›Wirklichkeit‹, welche ihm »ein Ganzes von kausalen Verknüpfungen, von Ursachen und Wirkungen bedeutet.« (Ebd., 76) Als neue Geistigkeit des Menschen durchdringt mythisch-magisches Bewußtsein »die Schicht des alltäglichen Daseins und des in gewohnten Bahnen verlaufenden Geschehens« und scheidet sie in profanes und heiliges Dasein. (E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., 92) Dem Menschen der mythischen Kulturform »fehlt durchaus nicht die Fähigkeit, die empirischen Unterschiede zwischen den Dingen zu erfassen«, auch wenn die emotionale Ausdruckswahrnehmung diese überlagert. (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 131 [= ECW 23, 90]) »Die Magie wird nicht zu praktischen Zwecken eingesetzt, etwa um den Menschen bei seinen alltäglichen Verrichtungen zu unterstützen; sie ist für höhere Ziele da, für kühne, gefährliche Unternehmungen.« (Ebd., 145 [= ECW 23, 101]) 127 Die »sogenannte wirkliche Welt« als der »Ort unserer praktischen Interessiertheit« verberge, »daß jene [durch Religion oder Kunst – C.M.] anders geformten Inhalte eigenen Welten angehören, in welche sich die Kompetenz der Wirklichkeitsform nicht er125

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I. Leben und Form

in besondere Kulturwelten mit je eigenem Sinn, sondern trage bereits Vorformen aller besonderen Weltformen in sich. Als Individuen der empirischpraktischen Wirklichkeitsgestaltung sind wir embryonale Künstler und Wissenschaftler.128 Innerhalb der Lebenszweckmäßigkeit führt der Mensch also kein distanzlos-tierisches Leben, sondern ein praktisch-interessiertes mit allen Kulturformen im Ansatz, in Vorform, nur noch nicht um ihretwillen. Wenn sich keine eigentümliche symbolische Form Leben auffinden läßt, was bleibt dann von Begriffen wie »Urtatsache des ›Lebens‹«, »Urphänomen des Lebens« übrig?129 Obwohl Cassirer seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ immer mehr in Fragestellungen der philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner) einordnet, bleibt der Begriff des »bloß vegetativ-biologischen Daseins«130 ebenso abgewiesen wie der Begriff des Psychischen, den Scheler bemüht. Leben hat für Cassirer die Bedeutung von »geistigem Leben«, »geistigen Funktionen«131. Die »Urtatsache des ›Lebens‹« erklärt sich als geistiges Tun, geistige Energien in mannigfachen Richtungen. »Urphänomen des Lebens« bedeutet Bestand und Entfaltung dieser Energien in symbolischen Formen,132 worin die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ das einzig Absolute anerkennt, und läßt sich – mit Goethe – als »die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst« beschreiben, als Erschaffen und Vernichten von »Gestalten« des Dasein.133 Als Grundphänomen der symbolischen Form ist eben das Urphänomen des Gestaltens zu begreifen, das den Geist ausmacht, wobei die Gesamtheit der symbolischen Energien des Geistes den Urprozeß des Lebens bilden. Das Leben, als »geistiger Prozeß« autonomer Formgebung in symbolischen Formen, ist ein »freies Tun«.134 Den »Sinn des Lebens« löst Cassirer damit in einem idealistischen Geistesbegriff auf, der die Synthese von Leben und Form im Geist ausdrückt. Dabei ist die symbolische Form als »geistige Urpotenz«135 immer ein Mittelbares, das die subjektive Unmittelstreckt.« (G. Simmel, Lebensanschauung [1918], a. a. O., 33) Ontologisch sind alltäglichpraktische Weltform und alle anderen geistigen Weltformen gleichwertig, gleichrangig. 128 Ebd., 67. 129 E. Cassirer, »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 263, 264. 130 Ebd., 266. 131 Ebd., 261. 132 Ebd., 263. 133 Ebd., 264. 134 Ebd., 266. 135 E. Cassirer, Zweites Kapitel: »Das Symbolische als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 65.

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barkeit aufgehoben hat.136 In Unmittelbarkeit zu leben vermag nur das Tier, nicht der Mensch, dessen gegenständliches Bewußtsein sich mit keinerlei Unmittelbarkeit verträgt und ihn somit erst zum Menschen macht. Obwohl der ein fragendes Wesen ist, könne die Frage, w a r u m dem Menschen diese geistigen Energien eigen sind, nicht sinnvoll gestellt werden, hätte die Evolution doch auch beim Tier enden können.

E. Cassirer, »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 267. 136

Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ 1. Das Thema im Kontext der aktuellen Cassirerforschung In der Cassirerforschung wird bereits seit Längerem auf die intensive Rezeption der zeitgenössischen Lebensphilosophie hingewiesen, durch die Ernst Cassirer insbesondere gegen Ende der 20er Jahre eine erstaunliche Annäherung an den Begriff des Lebens vollzieht und ihm insbesondere im eigenen Spätwerk einen zentralen konzeptionellen Platz einräumt. In dem Zusammenhang stellen sich nicht nur die Fragen, warum Cassirer diese Annäherung an den Lebensbegriff vollzogen hat und was sie für das Konzept der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bedeutete, sondern auch die, ob die Hinwendung zum zentralen Begriff der lebensphilosophischen Richtung nicht eine Vorgeschichte in seinem Schaffen hatte, die bislang in der Rezeption wenig Beachtung gefunden hat? Wobei die Frage nach der Vorgeschichte nicht ausschließlich ein Interesse für die moderne Lebensphilosophie meint, sondern auch auf die philosophische Problematik des Lebens in allen wichtigen Systemen der Philosophie (Renaissancephilosophie, Descartes, Leibniz, Kant, Goethe, Hegel) zielt, die der junge Cassirer rezipierte. Nachdem 1995 die Nachlaßmanuskripte »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«1 publiziert wurden, die 1928 im Zusammenhang mit der Arbeit am III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1929) entstanden waren, sind die Antworten auf diese Fragen dringlicher und gleichzeitig praktikabler geworden. Die Manuskripte enthalten in der Tat sowohl eine erstaunlich zustimmende, würdigende Kritik wichtiger Vertreter der Lebensphilosophie (Dilthey, Simmel, Klages, Spengler, Bergson) als auch den systematischen Versuch, den Begriff des Lebens als Grundbegriff des symbolischen Aufbaus von kulturellen Sinneinheiten zu deuten. Die später entstandenen Texte »Über Basisphänomene« (1940)2 und »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« (1937–1940)3 enthalten ebenfalls aussagekräftiges Material, das Cassirers Zuwendung zum Thema des Lebens bzw. des lebendigen Geistes belegt. E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 3–109, 199–271. 2 Ebd., 113–195. 3 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 3–175. 1

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I. Leben und Form

Von einem Ü b e r g a n g auf lebensphilosophische Positionen kann allerdings selbst in den späten Texten Cassirers keine Rede sein. So bekräftigen die Manuskripte »Zur Metaphysik der symbolischen Formen« zum Einen die bereits in den drei Teilen des Werkes Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29) mehrfach begründete Ablehnung des romantisierenden Anspruches der Lebensphilosophie, die Unmittelbarkeit seelischgeistigen Erlebens real erfassen und aus dem reflexiven Begriffsdenken in sie zurücksteigen zu können, was den alten philosophischen Subjekt-Objekt-Gegensatz lösen würde. 4 Zum Anderen anerkennt und deutet Cassirer aber das subjektive, unmittelbare Leben (Erleben) als »Quell« und »Urgrund« aller symbolisch-darstellender Distanzierung oder Vermittlung, die der Mensch zu einer kulturellen, bedeutungstragenden Wirklichkeit aufbaut.5 Allerdings beharrt er weiterhin darauf, daß in jeglichem unmittelbaren Erleben, so auch im mythischen Bewußtsein, mit dem »AusdrucksErlebnis«, mit der »Erscheinung des Ausdrucks« bereits eine bestimmte Richtung der Formung, Repräsentation und Objektivierung zum Vollzug gelangt. 6 Auf diese Weise schreibt Cassirer Leben und Geist bereits von Anfang an eine sogenannte Doppelrichtung zu: die Richtung des »geistigen Deutens« (Formung) bildet ebenso wie die des fließenden subjektiven »Erlebens« »Urtatsache[n] des ›Lebens‹« – und des Geistes.7 Diese korrelative Doppelrichtung werde dem Menschen erst nachträglich bewußt, und dann setzt er sie in der Regel als absoluten Gegensatz von Leben (Seele) und Geist (Vernunft). Der formgebenden, sinngebenden Richtung am unmittelbaren Erleben – als einer »Urtatsache des ›Lebens‹« – ist dabei zwar »das Auseinandergehen in eine Mannigfaltigkeit verschiedener Richtungen durchaus wesentlich«, das »Urphänomen des Lebens« sei aber darin zu sehen, daß »es sich in dieser Divergenz in seiner tiefen unerschütterlichen E i n E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Texte und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 48 f.; ders., Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 12. 5 Simmels Auslegung des Lebensbegriffs als paradoxer Einheit von Leben und Form beipfl ichtend hält Cassirer u. a. fest, daß ein solcherart aufgefaßtes »Leben nicht nur als das ursprüngliche Quellgebiet des Geistes, sondern auch als dessen Urbild und Prototyp« gelten kann. – Ebd., in: ECN 1, a. a. O., 9; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Simmels Begriffl ichkeit der Formung als Anstoß für eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 3–22. 6 E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 24, 37, 67 f. 7 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 197, 200 f. 4

Der Begriff der ›Lebensordnung‹

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h e i t behauptet«. 8 Einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ komme die Aufgabe zu, »dieses Urphänomen in seinem Bestand u[nd] in seiner vollständigen Entfaltung« darzustellen.9 Dabei ist Leben für Cassirer keineswegs ein metaphysisches Prinzip. Die Notwendigkeit einer Einbeziehung des »Urphänomens des Lebens« in die erkenntnistheoretischen, kulturphilosophischen und anthropologischen Überlegungen gilt Cassirer nun keineswegs als eine völlig neue Erkenntnis, im Gegenteil. Springt doch bei einer entsprechend zielgerichteten Lektüre der drei Teile des Werkes Philosophie der symbolischen Formen die beständige, sich durchziehende Arbeit an und mit der Begrifflichkeit des Lebens regelrecht ins Auge. Gleiches läßt sich für die während des Ersten Weltkrieges verfaßten Schriften Freiheit und Form (1916) und Kants Leben und Lehre (1918) sagen, die bereits ein kultur- oder geistesphilosophischer Impetus auszeichnet. Doch selbst im »rationalistischen« bzw. »logizistischen« Frühwerk der sogenannten Marburger Periode bis etwa 1910 – vom Werk Leibniz‘ System (1902) über die beiden ersten Bände des Erkenntnisproblems (1906/07) bis hin zur Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) – fi nden sich mannigfache Bezüge zur Begriffl ichkeit des Lebens und der philosophischen Grundfragen, die mit ihr in Zusammenhang stehen: Unmittelbarkeit des Erlebens, Mittelbarkeit des Urteils etc. Zumal die Tatsache, daß Cassirer seine eigene philosophische Theorie und Terminologie oft mit Hilfe eines »rekonstruierenden Nachvollzugs«10 fremder philosophischer Konzepte entwickelt oder zumindest darlegt, diese frühen Werke, die historische Lehren der Philosophie und Naturwissenschaft auf systematische Weise als Herausbildung einer »neuen«, jegliches Substanz- und Seinsdenken überwindenden Denkart interpretieren und zur Darstellung bringen, in das Blickfeld einer Recherche zum Lebensbegriff im Cassirerschen Gesamtwerk rückt. Eine entsprechend orientierte Lektüre bestärkt dann auch die Annahme, daß sich der Lebensbegriff bzw. die Problematik des organisch-vitalen und geistigen Lebens als unverzichtbares Systemelement auch bei scheinbar rein rationalistischen Denkern wie Descartes, Leibniz, Kant und Hegel findet. Als bemerkenswert darf ebenfalls die Tatsache gelten, daß Cassirer mehrfach sowohl zentrale Begriffe seiner Philosophie (»Lebensordnung«, »Basisphänomene«) als auch ihre »Urworte« wie Urphänomen, Form, Symbol, Leben, Befreiung an Texten oder 8

E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 263. Ebd., 263. 10 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 199. 9

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I. Leben und Form

Aussagen Goethes entwickelt und erläutert.11 Gleichzeitig ist festzuhalten, daß er fremde philosophische Positionen oder Begriffl ichkeiten zwar zur Kenntnis nimmt, sich von ihnen anregen läßt, sie bearbeitet und weiterdenkt, diese eigentümliche Arbeitsweise mit den Termini aber oft nicht explizit thematisiert oder benennt. Das gilt insbesondere für die in seinen frühen Werken von Anfang an präsenten lebens- und kulturphilosophischen Konzepte bzw. Begriffl ichkeiten W. Diltheys und G. Simmels. Es ist das frühe Interesse am Lebensbegriff, auch wenn eine rein subjektiv-erlebende Unmittelbarkeit als ursprüngliche Weise der Wirklichkeitserkenntnis argumentativ abgewiesen wird, und die frühe Affinität zum Problem des Historischen und der Biographie großer Persönlichkeiten, was darauf hindeutet, daß bereits der junge Cassirer ebenfalls aus der lebensphilosophisch-historisierenden Tradition Diltheys schöpft.12 Er bedient sich ganz augenscheinlich der von dieser ausgebildeten Methode (Begrifflichkeit) bzw. stellt sich den von ihr aufgeworfenen Fragen. So, wenn er ein Hauptaugenmerk auf den seit der Renaissance geführten Kampf gegen die Metaphysik der ›substantiellen Form‹ richtet, deren Herrschaft und Verfall Dilthey im Zweiten Buch seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) nachspürt. Am Beispiel des Begriffs einer »Lebensordnung«, den Dilthey und Cassirer gemeinsam gebrauchen und der bei letzterem den zentralen Terminus der symbolischen Form vorbereitet, läßt sich dieser Eindruck verifizieren und konkretisieren. Dieser Begriff macht aber nur eine Facette, nur einen Bezug des philosophischen Terminus »Leben« aus. Damit ist zugleich festgehalten, daß es weit mehr Problem- und Begriffsfelder als bloß der Terminus der »Lebensordnung« sind, in denen Cassirer bereits mit den ersten Schriften die Diskussion um typische lebensphilosophische Positionen bzw. Fragestellungen aufnimmt. So beschäftigen ihn Themen wie: 1. »Leben« (Lebenskraft, Lebensfunktion, Lebensvorgang, Belebung, Lebendigkeit, Erleben, Lebensgefühl) als organisch-vitaler, psychischer und geistiger Zustand, der durch Individualität u n d Universalität charakterisiert ist. 2. Unmittelbarkeit des sinnlichen »Erlebens« als mögliche Rechtsquelle der Erkenntnis. Notwendiges Verlassen, Aufheben dieser subjektiven, erlebten Unmittelbarkeit im begrifflichen Denken. Naive und wissenschaftliche Weltanschauung als Stufen dieser Aufhebung. Verlorene Unmittelbarkeit und daraus folgende Unanschaulichkeit als problematische J.M. Krois, »Ernst Cassirer als Goethe-Interpret«, in: E. Rudolph/B.-O. Küppers (Hrsg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, (CF, Bd. 1), Hamburg 1995, 297–323, 300. 12 E.W. Orth, »Das Verhältnis von Ernst Cassirer und Wilhelm Dilthey mit Blick auf Georg Misch«, in: Dilthey-Jahrbuch, Band 12/1999–2000, Göttingen, 120–131. 11

Der Begriff der ›Lebensordnung‹

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Konsequenzen der Reflexion. 3. »Doppelrichtung« von Eindruck und Ausdruck bereits in den elementarsten Bewußtseinsregungen (mythisches, emotionales Bewußtsein). Symbol- bzw. Repräsentationsverhältnis und »Leben«. 4. Intuition bzw. Anschauung als unmittelbar »gebende« Leistung oder als mittelbares Ableiten, Bilden des konkreten »Gegebenen«? Kontemplation und Intuition als zwei konträre Weisen des »Schauens«. Erkenntnistheoretische Ansprüche des Intuitionismus. 5. Problem der lebendigen Anschaulichkeit des ideellen Allgemeinen, der Reihen-, In- und Funktionsbegriffe. »Leben«, Wert und die Besonderheit der Kultur- und Geisteswissenschaften. Der Beitrag geht im Folgenden in drei Schritten Cassirers Arbeit an und mit dem Begriff der »Lebensordnung« nach. Z u e r s t nehmen wir Bezug auf die auf Cassirers Spätwerk zielende These E.W. Orths, der Begriff der »Lebensordnung« ersetze den der symbolischen Form. Danach wird die früheste Anwendung des Begriffs »Lebensordnung« im 1. Bd. des Erkenntnisproblems (1906) verfolgt. Hierbei ist nach möglichen Anregungen und Quellen für diese Begrifflichkeit zu suchen. A b s c h l i e ß e n d soll dargestellt werden, in welcher Bedeutung dieser Terminus in der ›Übergangsperiode‹ zur eigentlichen ›Philosophie der symbolischen Formen‹ während des Ersten Weltkrieges verwandt wird, also in den Schriften Freiheit und Form (1916) und Kants Leben und Lehre (1918).

2. Kennzeichnet der Terminus ›Lebensordnung‹ das Spätwerk Cassirers? Die wohl eher rhetorisch gemeinte Frage, inwieweit der von Cassirer gelegentlich gebrauchte Begriff der Lebensordnung den eher szientifisch anmutenden Begriff der symbolischen Form regelrecht ersetze oder bloß besser fundiere, anders begründe, alternativ zum Ausdruck bringe oder nur einfach umschreibe, hatte Orth in der Einleitung zu der von ihm 1993 unter dem Titel Geist und Leben herausgegebenen Sammlung kleinerer Arbeiten Cassirers, die vornehmlich in der Zeit nach 1927 entstanden waren, aufgeworfen.13 Dabei spricht Orth zwar ganz grundsätzlich von »LebensordE.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: E. Cassirer, Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Hrsg. von E.W. Orth, Leipzig 1993, 9. In den abgedruckten Schriften gebraucht Cassirer den Ausdruck »symbolische Form« allerdings nur ein einziges Mal in dem Beitrag über »Strukturalismus in der modernen Linguistik« (1945) (ebd., 338 [= ECW 24, 314]) und einmal den Terminmus »symbolische Formung« im Beitrag »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930) (ebd., 47 [= ECW 17, 197]). 13

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I. Leben und Form

nungen«, behandelt aber kommentarlos den Begriff der »Lebensform« als synonymen Terminus. Das erklärt sich u. a. aus der Tatsache, daß in der als Beleg präsentierten Textsammlung von »Gelegenheitsschriften« der Begriff »Lebensordnung« nur ein einziges Mal vorkommt, auch wenn die durch ihn bezeichnete Ordnung mehrfach Thema der Beiträge ist.14 Indem der Herausgeber der Sammlung Geist und Leben in seine Argumentation einen Beitrag einbezieht, in welchem Cassirer 1923 die Sprache mehrfach als »Lebensform« bezeichnet,15 zielt er mit der These einer scheinbaren Ersetzung zeitlich und sachlich auch auf die Periode, in der der Erste Teil Die Sprache (1923) des Cassirerschen Hauptwerkes bereits entstanden und veröffentlicht war. Die im Beitrag zur Sprachphilosophie Kants und Humboldts anzutreffenden Textstellen, die den Terminus »Lebensform« benutzen bzw. erläutern, kommen in der Tat dem nahe, was Cassirers anderen Orts als »symbolische Form« oder als »Lebensordnung« thematisiert.16 In den bereits erwähnten, die Lebensphilosophie in den Blick nehmenden Arbeiten der Jahre 1928 bis 1930 kommt der Terminus »Lebensordnung« überhaupt nicht vor, wohl aber ist vielfach die Rede von der »symbolischen Form« und der »Lebensform«. Außerdem finden wir den bei Cassirer bereits im Frühwerk gebräuchlichen Begriff der »Ordnung« vor, der letztlich auf den ideell-relationalen Ordnungsbegriff in der modernen Naturwissenschaft und im Kritizismus (Raum- und Zeitlehre) zurückgeht und sich auf Leibniz’ Definition des Raumes als reinem Ordnungsbegriff beruft.17 Dabei wird der rein funktionale, gedankliche, symbolische Charakter der »Ordnungsbeziehung« betont.18 Dem im Beitrag über »Goethes Idee der Bildung und Erziehung« (1932) benutzten Begriff der »Lebensordnungen«19 Dagegen fi nden sich vielfach der Begriff »Leben« als organisches, geistiges, inneres oder eigentliches Leben und vom Lebensbegriff abgeleiteten Termini wie »Lebenslehre«, »Lebenskraft«, »Lebensführung«, »Lebensgefühl«, »Lebensepoche« etc. über die ganze Schriften-Sammlung verstreut. 15 E. Cassirer, »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ebd., 250, 260 (= ECW 16, 116, 124); Der Terminus »Lebensform« findet sich noch einmal in der 1945 verfaßten Besprechung von »Thomas Manns GoetheBild« (1945) (in: ebd., 157 [= ECW 24, 291]), ohne daß Orth in seiner Argumentation auf diese Stelle Bezug nimmt. 16 Auch Krois votiert dafür, eine »symbolische Form« wie die Technik als »Lebensform« zu bezeichnen. – J.M. Krois, »Ernst Cassirer als Goethe-Interpret«, in CF, Bd. 1, a. a. O., 304. 17 M. Ferrari, »Cassirer und der Raum. Sechs Variationen über ein Thema«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/1992, 168 ff., 176 f., 180. 18 E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., u. a. 91, 92, 94. 19 Cassirer beschreibt hier »feste und sichere, […] objektiv-bestimmte und geregelte Lebensordnungen« als diejenigen Felder, in die der zu erziehende Einzelne hineingestellt 14

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nähert sich Cassirer denn auch über die in Goethes Lehrgedicht »Die Metamorphose der Tiere« vorkommenden Termini des »Maßes« und der »beweglichen Ordnung«, 20 die eine variable, sich gegenseitig bedingende Einheit von Offenheit u n d Gebundenheit zum Ausdruck bringen. Dieser Begriff einer »beweglichen Ordnung«, die sich als »fest und ewig, aber zugleich [als] lebendig« erweist, erlaube es, unterschiedlichste Richtungen geistigen Gestaltens zu vereinen und zusammenzubinden. Indem Cassirer dieses für die »Welt der organischen Formen« beschriebene Ordnungsgefüge auch auf den »Aufbau der spezifisch-geistigen Bildungswelt« anwendet, 21 bezieht er den damit gemeinten Begriff der symbolischen Form implizit auch auf das spontane organische Leben. Die durch Orth unter Berufung auf die beiden genannten »Gelegenheitsschriften« Cassirers von 1923 und 1932 ausgesprochene Schlußfolgerung, wonach es »f a s t s c h e i nt […], als sollte das verständnisvolle Wort ›Lebensordnung‹ den szientifischen Begriff der ›symbolischen Form‹ ablösen«, 22 fi ndet auch im späten Textkörper (ECN 1, 2, Philosophie der Aufklärung [1932], Logik der Kulturwissenschaften [1942], Versuch über den Menschen [engl. 1944], Mythos des Staates [engl. 1946]) keine wortwörtliche Bestätigung. Etwas anders sieht es aus, wenn der Terminus »Lebensform« als synonym zu »Lebensordnung« betrachtet wird. Das ist aber nicht unproblematisch, weil Cassirer ihn in mehreren Bedeutungen verwendet, in einigen Fällen aber vertritt er in der Tat den Begriff symbolische Form mit großer Wahrscheinlichkeit.23 Die Schlußfolgerung war von Orth allerdings mit den Worten »f a s t s c h e i nt es« dahingehend eingeschränkt worden, daß Cassirers Hinwendung zum »Leben« bzw. zum Terminus »Lebensordnung« nicht als eine unerklärliche Wendung im Alterswerk verstanden werden darf. Bereits im Werk Die Sprache (1923) wechselte dieser zwischen szientifischen Termini und der Begrifflichkeit des »Lebens« hin und her, wobei »Leben« als »Mannigfaltigkeit und Fülle des geistigen Lebens« verwerden müsse. »Lebensordnungen« gelten somit als »bildsame Formen«, innerhalb derer sich die geistigen Kräfte des Individuums bewähren können. – E. Cassirer, »Goethes Idee der Bildung und Erziehung« (1932), in: Geist und Leben, a. a. O., 100 (= ECW 18, 132). 20 J.W. Goethe, »Die Metamorphose der Tiere«, in: HA 1: Gedichte und Epen, München 1998, 203. Siehe im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–396. 21 E. Cassirer, »Goethes Idee der Bildung und Erziehung« (1932), in: E. Cassirer, Geist und Leben, a. a. O., 100 (= ECW 18, 132). 22 E.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, a. a. O., 9. 23 Siehe dazu z. B.: E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 10 f., 15 f., 19, 41, 43, 48, 50, 52.

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standen wird, »dem selbst das Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist.«24 Für Orth ist mit der hier bezweckten »›Synthese von Welt und Geist‹«, die den Weltbegriff in den Kulturbegriff transponiert und so jeglichen radikalen Gegensatz zwischen Geist und Leben aufhebt, genau »das charakterisiert, was nun mit ›symbolischen Formen‹ gemeint ist.«25 Damit ist noch einmal betont, daß Cassirer Leben keineswegs mit jener subjektiv erlebten Unmittelbarkeit oder intuitiv erfaßten Unmittelbarkeit identifiziert, auf die die intuitivistische Variante innerhalb der lebensphilosophischen Strömung (Bergson) abzielt. Eingedenk dieser Einschränkung erschließt sich Orths Schlußfolgerung, wonach es ein falscher, trügerischer Anschein ist, daß Cassirer erst in den Arbeiten der späten 20er Jahre auf dem Wege zu einer eigenständigen »kulturanthropologisch orientierten Lebensphilosophie«, d. h. zu einer »modernen Philosophie des Konkreten« war, hat er doch seinen philosophischen Weg von früh an in engem Kontakt zu Philosophen des Lebens (Simmel) oder zu lebensphilosophischen Theorien (Dilthey) beschritten. Nicht zuletzt dieser Kontakt hatte dem ›Marburger‹ Kritizisten die Augen für die »konkrete historische Tatsächlichkeit der Kultur« geöffnet. »So manifestiert sich in dem jungen Ernst Cassirer auch jenes ›historische Bewußtsein‹ im Sinne Wilhelm Diltheys (1833–1911), das mit aktueller Weltoffenheit durchaus zusammenstimmt.«26 Es ist Orth zuzustimmen, daß sich in den »literarisch vermittelten, kulturhistorischen und personenbezogenen Darstellungen – im Leibniz-Buch [1902 – CM.] und im Erkenntnisproblem [1906/07 – C.M.] – […] über das ›rein‹ Funktionale das geistig Konkrete und dessen lebendiger Zusammenhang geltend [macht]«.27

Allerdings dürfte Cassirer Interesse und Verständnis für den lebendigen Zusammenhang des geistig Konkreten nicht allein der mit kritischer Aufmerksamkeit wahrgenommenen Lebensphilosophie Diltheyscher und Simmelscher Provenienz verdanken, sondern ebenfalls dem intensiven Studium der historischen Systeme der Philosophie seit der Renaissance. In jedem Fall haben wir es bereits in den frühesten Schriften Cassirers mit »eine[r] Art E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 46. E.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: E. Cassirer, Geist und Leben, a. a. O., 10. 26 Ebd., 14. 27 Ebd., 16. 24 25

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Vorspiel zu einer Philosophie der symbolischen Formen« zu tun, die es schließlich erlaubte, das Problem »der Geschichtlichkeit und Kulturhaftigkeit der Philosophie und der Wissenschaft […] zu bewältigen.«28 Demnach fließen in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ letztlich die szientifischen und die kulturphilosophisch-historischen Tendenzen zusammen, die beide Cassirers frühes Werk kennzeichnen. Bevor wir der Frage nachgehen, inwieweit Cassirer mit dem Begriff Lebensordnung bestimmte Intentionen der Idee der symbolischen Formen schon lange vor ihrer expliziten terminologischen Einführung im Jahre 1923 zum Ausdruck gebracht hatte, ist noch auf ein Problem aufmerksam zu machen. Das Konzept einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ringt29 sowohl um die »horizontale« Struktur der Richtungen des lebendigen Geistes (Mythos, Kunst, Religion, etc.), als auch um die »vertikale« Struktur der systematischen und historischen Genesis, Entfaltung der einzelnen Kulturformen von der reinen Ausdrucks- zur Bedeutungsfunktion, so innerhalb der Sprachform oder der Wissenschaft sform. Dies schließt den Aspekt einer »Höherentwicklung« des Geistes von seiner mythischen Form über die sprachlich-darstellende Form hin zur theoretischen, wissenschaftlichen Form ein. Einen anderen Gedanken – vergleichbar mit Spenglers Morphologie der Kulturindividuen – verfolgt Cassirer aber, wenn er versucht, den geistigen, ideenhaften Charakter einer bestimmten historischen Epoche der Kultur zu bestimmen und ihre mannigfaltigen Richtungen oder Äußerungsweisen auf ein einheitliches Prinzip, ein »Ideal« oder eine bestimmte »Denkart« (bzw. den Kampf zweier gegensätzlicher »Denkarten«) zurückzuführen. Dabei geht es ihm auch immer um die Abfolge, um den Wandel dieser historischen »Ordnungen«. Solche prägnanten, einzigartigen »Ordnungen« bilden für ihn im Erkenntnisproblem I/II z. B. die Antike, das Mittelalter und die Neue Zeit, in seinem Werk über die Philosophie der Aufklärung steht das 18. Jahrhundert als eine epochale »Ordnung« im Mittelpunkt, aber auch das 17. und das 19. Jahrhundert bilden eigene geistige »Ordnungen« aus. 30 Im Kontext solcher »Ordnungen« bzw. »LebensordEbd., 17. »[…] unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« – E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 79; siehe dazu auch Anm. 4 im ersten Beitrag des vorliegenden Bandes. 30 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2003, 3. 28 29

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nungen« bekommt der Begriff der »Richtung« des Geistes als Ausdruck einer besonderen »Denkart«, die eine ganze Kulturperiode prägt, eine andere Bedeutung als im eigentlichen Konzept der symbolischen Formen einer Kulturganzheit. So erweist sich der Begriff »Lebensordnung« als doppeldeutig, als Terminus mit äquivoker Bedeutung.

3. Der Begriff der ›Lebensordnung‹ im Frühwerk Cassirers Die historisch-systematischen Untersuchungen zu Leibniz’ System (1902) und zur Geschichte des Erkenntnisproblem[s] in Philosophie und Wissenschaft (I/II 1906/07) sind darauf gerichtet, wie sich die im Kritizismus Kants kulminierende bzw. sich erfüllende »neue Denkart« herausbildet, deren Vorzug es sei, jegliches Substanz- und Seinsdenken überwunden zu haben. Gleichzeitig entwickeln sie mit Hilfe eines »rekonstruierenden Nachvollzugs« (Schwemmer) geschichtlicher Systeme die eigene philosophische Theorie und Terminologie. Da die detailreiche Darstellung Cassirers diese »neue Denkart« sich über einen seit der Renaissance geführten »Kampf gegen die ›substantielle Form‹«, die in der scholastisch-mittelalterlichen Philosophie vorherrschte, durchsetzen läßt, provoziert dies folglich die Frage, ob er das Erkenntnisproblem nicht als einen alternativen Entwurf zu W. Diltheys Studie über Herrschaft und Verfall der »Metaphysik der substantiellen Form« versteht, oder sich von ihr als einem Referenzsystem anregen ließ?31 Das legen zumindest sowohl die in Vorrede und Einleitung zum Ersten Band des Erkenntnisproblems (1906) dargetanen methodischen Prinzipien und Mittel des Unternehmens als auch die Tatsache nahe, daß der frühe Cassirer mit Diltheys Schriften wohl vertraut war, wie zahlreiche Verweise und Zitate in den eigenen Texten belegen.32 Zunächst liest sich Cassirers Darstellung, die sich auf die Geschichte von Mathematik und Mechanik richtet und dabei Philosophie und sich etablierende Geisteswissenschaften mit einbezieht, eher als ein Gegenentwurf zu den von Dilthey so betonten gegensätzlichen methodischen Prinzipien in den Natur- und Geisteswissenschaften. Auch gelangen die Aussagen beider über die endgültige Ablösbarkeit der »Metaphysik der substantialen E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999, 63; zu Dilthey vgl. nachfolgende Anm. 39; siehe auch: V. Gerhardt/ R. Mehring/J. Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie, Berlin 1999, 207. 32 Cassirer verweist u. a. auf Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaft en (1883) und diejenigen Beiträge aus den 80er und 90er Jahren, die später den II. Band von Diltheys Gesammelten Schriften« (GS II, 1914) bilden. 31

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Formen«, getragen durch die moderne wissenschaft liche Denkart in Europa, zu recht unterschiedlichen Schlußfolgerungen. Dennoch weist der methodische Ansatz Cassirers, das historische Auftauchen des neuen Forschungs- und Erkenntnisideals nicht allein in der Geschichte der Logik, sondern vielmehr in den »verschiedenen geistigen Kulturmächte[n]« aufzusuchen, soweit sie »theoretisches Selbstbewußtsein« erringen, 33 eine große Nähe zu Diltheyschen Überlegungen auf. Das Gleiche gilt von der methodischen Absicht, die historische Darstellung des Werdens der Begriffe in eine konkrete – mittelalterliche oder neuzeitliche – »Lebensordnung« einzubetten. Obwohl Orth diesen frühzeitigen Gebrauch des Terminus »Lebensordnung« nicht erwähnt, bezieht sich sein Hinweis, daß Cassirer im Erkenntnisproblem I methodisch ein Doppelmotiv von exaktmathematischem »Funktionalismus« und geisteswissenschaft lich aufgefaßtem »lebendige[n] Zusammenhang der konkreten Kulturverhältnisse« realisiere,34 genau auf dieses Einbetten. Die bereits erwähnte Tatsache, daß der Begriff des organischen, geistigen und gesellschaft lichen »Lebens« und seine vielfachen Abwandlungen bereits in den frühen Schriften Cassirers ihren festen Platz haben, ergänzt diesen Tatbestand noch. So sieht Cassirer die »innere Fortbildung des Erkenntnisbegriffs« in die »Wandlungen [der] konkreten Welt- und Lebensauffassungen« einer bestimmten historischen Periode eingebunden, da diese »die Umformung ihrer logischen Grundansicht« anregen.35 Die Tatsache, daß ihn gerade die Quellen und Antriebe dieser Wandlungen und Umformungen interessieren, verbindet ihn mit Diltheys hermeneutischer Lebensphilosophie. Um die »intellektuelle Gesamtbewegung eines Zeitalters«, in der ein »treibende[s] Erkenntnisideal« vorherrscht, erfassen zu können, müssen »alle Inhalte und Richtungen der Kultur« in den Blick genommen werden, was wiederum Philosophie und Wissenschaft, als zwei »gleich selbständige und unentbehrliche Symptome« des Erkenntnisideals, sowie »die übrigen Gebiete geistiger Tätigkeit« wie Recht, Sprache, Kunst und Religion, einschließt.36 Cassirer ist bestrebt, das geistige Prinzip oder die »Denkart« herauszuarbeiten, die eine konkrete historische Epoche prägt, indem sie alle geistigen Lebensäußerungen formt und so in allen aufweisbar ist. Für die Annahme, daß er sein Projekt einer Geschichte des Erkenntnisproblems zu Diltheys Arbeiten über die Geschichte der Metaphysik E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, a. a. O., IX. E.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: E. Cassirer, Geist und Leben, a. a. O., 16. 35 E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, a. a. O., 6. 36 Ebd., 8 f. 33

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in Beziehung setzt und dabei von ihnen nicht völlig unbeeinflußt bleibt, spricht auch, daß die Herausbildung der neuen erkenntnistheoretischen Denkart in die sich wandelnde Totalität konkreter historischer Welt- und Lebensauffassungen eingebunden wird, wie sie die drei großen Epochen antike, mittelalterliche und moderne Welt darstellen. Ein Indiz für eine gewisse Empfänglichkeit Cassirers ist zudem, daß Diltheys lebensphilosophische Terminologie (»Leben«, »Lebensgefühl«, »Lebensansicht«, »Lebensführung«, »Lebensverhältnisse«, etc.) in seinen Texten immer wieder auftaucht oder anklingt, auch wenn er im Unterschied zu Dilthey ein sachliches, ideelles Formprinzip diese Totalitäten gestalten sieht. Im Zweiten Buch der Einleitung in die Geisteswissenschaft en (1883) verwendet Dilthey zudem mehrfach den Begriff der »Lebensordnung«, der den Terminus menschlich-geschichtlich-gesellschaft liche Wirklichkeit ergänzt. Um das komplette Bild vom geistigen und gesellschaft lichen Leben des Menschen in der historischen Ordnung des Mittelalters zu charakterisieren, spricht er z. B. von einer mittelalterlichen »Weltansicht und Lebensordnung«. 37 In anderen Texten handelt Dilthey von der »Lebensordnung« der römischen Gesellschaft und ihren typischen »Lebensbegriffen«.38 Außerdem beschäftigen ihn die Veränderungen, die der »moderne Mensch« vollzieht, wenn er seine Individualität entdeckt und, indem er sie behauptet, zu der ihn prägenden »Lebensordnung« findet.39 Eine »Lebensordnung« umfaßt bei Dilthey die »Grundlinien von wirtschaftlichem Leben, rechtlicher Ordnung, moralischem Gesetz, Schönheitsregeln, Gottesglauben und Gottesverehrung«, außerdem die Grundbegriffe im Denken, Dichten, Glauben und Handeln. 40 Er anerkennt keinerlei dauerhafte Lebensordnung auf der Grundlage eines »natürlichen Systems« oder eines geistigen Prinzips; die liberale individualistische kapitalistische Ordnung deutet er als ein historisches Durchgangsstadium. 41 Der Begriff einer »Lebensordnung« fi ndet sich auch in den späten Schriften Diltheys. So kommt er 1905 im Hegelbuch auf das von »Kant W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Zweites Buch: Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ihre Herrschaft und ihr Verfall, in: GS I, Hrsg. von B. Groethuysen, Leipzig und Berlin 1922, 354. 38 W. Dilthey, »Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert« (1891/92), in: Weltanschauung und Analyse des Menschen, in: GS II, Hrsg. von G. Misch, Leipzig und Berlin 1940, 11. 39 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Zweites Buch, in: GS I, a. a. O., 355. 40 W. Dilthey, »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« (1892/93), in: GS II, a. a. O., 91; siehe auch ebd., 175. 41 Ebd., 245. 37

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und seiner Schule« angewandte Verfahren zu sprechen, vom Seelenleben der Individuen auf die Bedingungen in ihm zurückzugehen, »die eine den einzelnen gemeinsame Welt in allgemeingültigen Erkenntnissen und in allgemeinen und notwendigen Lebensordnungen möglich machen.«42 Und in seinem letzten Werk entwickelt Dilthey 1911 die Typen der Weltanschauung in Übereinstimmung mit den Charaktertypen der großen Genies, weil deren »typische Lebensverfassung« mit ihrem Charakter eine Einheit bilde. Die typische Lebensverfassung »drückt sich in ihrer Lebensordnung aus. Sie erfüllt alle ihre Handlungen. Sie äußert sich in ihrem Stil.«43 Wenig später taucht der Terminus der »Lebensordnung« ebenfalls in Schriften Schelers auf. 44 Obwohl Cassirer den im Erkenntnisproblem I erstmals verwendeten Begriff der »Lebensordnung« wahrscheinlich auf einen idealistisch und rationalistisch verstandenen Ordnungsbegriff aufbaut, dürften die Texte Diltheys ihn darin angeregt oder bestärkt haben, die ideelle »Ordnung« und das historisch-konkrete geistige »Leben« zusammenzudenken. Eine Bestätigung gibt er allerdings weder hier noch in späteren Schriften, die ebenfalls auf den Begriff der »Lebensordnung« zurückgreifen. Cassirer bezieht den Begriff zunächst auf die Epoche der Renaissance, deren »einheitliche konkrete Lebensordnung […] auf der Einheit und durchgehenden Übereinstimmung […] zwischen der innerlichen gedanklichen Entwicklung und zwischen den mannigfachen Formen und Gestaltungen des äußeren Lebens [beruht].«45

Auf eine mit Dilthey vergleichbare Weise stellt er dabei fest, daß sowohl in der Epoche des Humanismus als auch in der des Mittelalters bei den großen Persönlichkeiten das vertretene »Lehrsystem« – d. h. die »theoretische Bildung« – und das praktizierte »Ideal individueller und gemeinschaftlicher Lebensführung« eine Einheit bilden. Dieses methodische Prinzip einer Einheit von »Lehre« und »Leben« findet später Eingang in die Darstellungen Goethes und Kants. W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels (1905), in: GS IV, Hrsg. von H. Nohl, Leipzig und Berlin 1925, 47. 43 W. Dilthey, »Die Typen der Weltanschauung« (1911), in: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, in: GS VIII, Hrsg. von B. Groethuysen, Leipzig und Berlin 1931, 98. 44 M. Scheler, »Drei Aufsätze zum Problem des kapitalistischen Geistes«, in: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, in: GW 3, Hrsg. von Maria Scheler, (1955), 5. Aufl., Bern und München 1972, 343, 343 f. 45 E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, a. a. O., 60. 42

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Im Unterschied zu den einzelnen symbolischen »Lebensordnungen«, in die Cassirer im Goethebeitrag von 1932 den zu erziehenden Menschen gestellt sieht, und die untereinander zusammenstimmen, bedeutet ihm 1906 die konkrete »Lebensordnung« einer Kultur- oder Geschichtsepoche lediglich die übereinstimmende Gesamtheit innerer und äußerer Motive, Denkrichtungen, Zwecksetzungen und Gestaltungen, die auf ein einheitliches prägenden Prinzip schließen lassen. Dieser Gedanke eines einheitlichen geistigen Prinzips oder Stils, der die subjektiven und objektiven Momente einer geschichtlich-gesellschaft lichen Totalität bestimmt, findet sich in abgewandelter Weise als »Zentralbegriff« einer »Kulturepoche« ebenfalls bei Simmel46 und als Typen der Arbeitsteilung und der Produktivkräfte bereits in Marx’ materialistisch-ökonomistischer Geschichtsphilosophie. 47 In dem Sinne einer durch ein geistiges Prinzip geprägten, gestalteten kulturellen Lebenstotalität hebt für Cassirer die neuzeitliche humanistische »Lebensordnung«, bzw. ihr neues Ideal der Lebensführung, »die gesamte soziale Gliederung des Mittelalters auf«, bis in die Gestaltung des »politischen Lebens« hinein. 48 Wenn er im Weiteren detailliert beschreibt, wie sich die neuzeitliche Lebensordnung gegenüber dem »Mittelalter« bzw. dem »mittelalterlichen Leben« und dessen korporativen Zügen durch einen »neue[n] Begriff des Bewußtseins« und eine neue »Auffassung des Individuums« auszeichnet, verarbeitet Cassirer entweder Diltheysche Anregungen oder befindet sich zumindest mit ihnen in Einklang. 49 Im neuen »Lebensideal« der Renaissancezeit komme im Unterschied zur »Lebensordnung« des Mittelalters ein neues Verständnis des »sittlichen Lebens« bzw. des sittlichen »Zweck[s] des Lebens« zum Ausdruck.50 Jede konkrete historische »Lebensordnung« ruhe nämlich auf einem charakteristischen »Lebens- und Selbstgefühl«, das sich in den »Lebensäußerungen« der Menschen objektiviert. Und weil alle Richtungen des geistigen Lebens einer Lebensordnung (z. B. Sprache, Terminologie, logische Lehren) von ein und denselben »Motiven« getragen sind, erweisen sie sich keineswegs bloß als die »zufällige und äußere Hülle des Gedankens«.51

G. Simmel, »Der Konfl ikt der modernen Kultur« (1918), in: GA 16, Hrsg. von G. Fitzi u. O. Rammstedt, Frankfurt a. Main 1999, 186 f. 47 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie (1845), in: MEW 3, 4. Aufl., Berlin 1973, 21 f. 48 E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, a. a. O., 60. 49 Ebd., 63 f. 50 Ebd., 95. 51 Ebd., 101 f. 46

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Die methodischen Vorgaben, die sich aus dieser Bedeutung des Begriffs der »Lebensordnung« ergeben, lassen das programmatische Aufsuchen der »Keime und Symptome einer neuen Denkweise im allgemeinen Bewußtsein« zu weit mehr als einer Spezialgeschichte des Erkenntnisproblems in »der neueren Zeit« geraten.52 Derartig »gestimmt« entwirft und setzt Cassirer vielmehr ein großes geisteswissenschaftliches Projekt um, welches den »Wechsel [der] Lebens- und Lehrformen« der historischen Zeitalter bzw. ihrer »Lebensordnungen« zur Darstellung bringt.53 Er stellt heraus, daß die konkrete »Welt- und Lebensansicht« in ihrem Ergebnis »mittelbar auf die Fassung und die systematische Stellung des Erkenntnisproblems zurück[wirkt]«.54 Damit finden sowohl die »Widersprüche der Welt- und Lebensanschauung« als auch die konkreten »Zeit- und Lebensbedingungen« der Philosophen oder Wissenschaft ler mittelbaren »Ausdruck und Reflex« in den Erkenntnistheorien.55 Das Cassirersche Projekt geht nicht zuletzt deshalb über eine bloße Geschichte der Erkenntnistheorien hinaus, weil es für die »neuere Zeit« darlegt, wie »die ganze Art der Lebensführung, der Kultur, der politischen und sozialen Ordnung sich geändert [hat]«.56 Goethe nachahmend und Spengler vorgreifend geht Cassirer »physiognomisch« an die konkreten Lebensäußerungen der Menschen heran, kommt es ihm doch nicht auf »das Äußere der Lebensformen einer […] Zeit«, sondern auf ihr inneres Prinzip an, das sie prägt, das den äußeren Formen ihre Bedeutung innerhalb der historischen und relativen Ordnung gibt.57 In jeder historisch-einmaligen Lebensordnung bilden jeweils andere zentrale Begriffe (z. B. göttliche Transzendenz, Selbstbewußtsein) den »Mittelpunkt für das geistige Leben«.58 Außerdem gewinne jede große epochale Lebensordnung in einem »Grundsystem der […] Lebensanschauung« eine gewisse Selbsteinsicht, ein gewisses Selbstverständnis der Logik ihrer Motive. Einzelne philosophische Denker (z. B. Montaigne) können, so heißt es bei Cassirer wie auch bei Dilthey, durch ihre »Lebensanschauung« als Repräsentanten oder Sprecher dieser, Ebd., 129. Ebd., 135. 54 Ebd., 153. 55 Ebd., 200. 56 Ebd., 137; Indem Cassirer hier im Plural von »Lebensformen einer Zeit« spricht, die einer historisch-konkreten »Lebensordnung« eingefügt sind, nimmt er eher mit diesem Begriff, und nicht mit dem der »Lebensordnungen«, inhaltlich dasjenige vorweg, was er später unter den »symbolischen Formen« der Kultur versteht. 57 Ebd., 138. 58 E. Cassirer, EP, Bd. 2 (1907), in: ECW 3, Text und Anm. bearbeitet von D. Vogel, Hamburg 1999, 1. 52 53

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eine ganze Geschichtsepoche prägenden »Welt- und Lebensanschauungen« fungieren.59

4. Der Terminus ›Lebensordnung‹ in den Schriften der ›Übergangsperiode‹ Die beiden vor allem »konkrete Kulturverhältnisse« darstellenden Werke Freiheit und Form (1916) und Kants Leben und Lehre (1918) bieten Cassirer die Gelegenheit, die auf das Konzept einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zulaufenden Termini »Lebensform« und »Lebensordnung« als tragende Begriffe der Darstellungen einzusetzen. Zudem zeugen beide Schriften von der mit Dilthey geteilten tiefen Verehrung für Persönlichkeit und philosophische Auffassungen Goethes, die sich nicht zuletzt um die Begriffe des Lebens und des Ganzheitlichen zentrieren. So faßt Cassirer das subjektive, sich ausdrückende »Leben« nicht als bloße, formlose Unmittelbarkeit des Fühlens, Drängens etc., sondern als frei u n d formgebunden, als »in der Freiheit gegründete Form« auf. 60 Den in beiden Werken mehrfach verwendeten Begriffen »Lebensordnung« und »Lebensform« schreibt Cassirer Sinn- und Bedeutungsinhalte zu, die bereits für den ersten Band des Erkenntnisproblems festzustellen waren. Allerdings, so scheint es, werden die beiden Begriffe nunmehr bewußter aufeinander bezogen. Sie repräsentieren unterschiedliche Aspekte der wenig später formulierten Konzeption symbolischer Formen des kulturellen Lebens. Erneut weist Cassirer mit Hilfe des Begriffs der eine ganze Kulturepoche prägenden »Lebensordnung« das Neue an der Weltanschauung bzw. am Selbstverständnis des Menschen der Reformationszeit auf. Und er konstatiert eine Übereinstimmung der »Umgestaltung des theoretischen Weltbildes« mit derjenigen »Umbildung, die sich seit der Reformation immer entschiedener und bewußter in der allgemeinen Lebensordnung vollzieht.«61 Die allgemeine »Lebensordnung« einer historischen Epoche, die Cassirer weiterhin durch ein einheitliches inneres Prinzip getragen sieht, realisiert sich – nicht anders als bei Dilthey – in einem strukturierten Kulturganzen unterschiedlicher »große[r] objektive[r] Ordnungen, wie Staat und Recht, Wissenschaft und Sittlichkeit« in Form eines »fortschreitende[n] E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, a. a. O., 145, 200. E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 111. 61 Ebd., 11; Im Inhaltsverzeichnis der 3. Auflage des Werkes durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt 1961, VII) enthält der 2. Abschnitt der Einleitung den Stichpunkt »Das System der mittelalterlichen Weltanschauung und Lebensordnung«. 59

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Aufbau[s] der geistigen Wirklichkeit«. 62 Da in dem von einem »einheitlichen Mittelpunkt aus« erfolgenden Aufbau eine Vielzahl von »Ordnungen« der Welt entstehen, in die die ihn vollziehenden Individuen gestellt sind, wird hier, wenn auch nicht der Begriff der »Lebensordnung«, so doch zumindest der Terminus der »Ordnungen« auf dasjenige erstreckt, was wenig später die einzelnen symbolischen Kulturformen beschreiben. Das läßt Cassirer aber auch gelegentlich durch den Begriff der »Lebensformen« ausdrücken, obwohl er den Terminus ebenfalls verwendet, wenn er nur bestimmte philosophische Positionen (Herder, Leibniz) wiedergibt. 63 Aber er stellt eben auch fest, daß sich in der mittelalterlichen und wie in der neuzeitlich-reformierten »Lebensordnung« jeweils ein »Leben als Ganzes« konstituiert, dem je eigentümliche weltanschauliche, sittliche, religiöse »Lebensformen« (»allgemeine Grundformen« menschlichen Daseins, »Kreise des Daseins«) korrelieren, die untereinander zusammenstimmen. 64 Wenn Cassirer allerdings ebenfalls geschichtliche Systeme der Philosophie als »Lebensformen« bezeichnet, dann rückt er diese eng an die allgemeinen epochalen »Lebensordnungen« heran. 65 Gleichzeitig wird der Begriff der »Lebensform«, sowohl in Bezug auf Goethe und die Richtungseinheit seiner verschiedenen Lebenstätigkeiten, einschließlich der »Lebensführung«, als auch hinsichtlich einer ganzen geschichtlichen Epoche, als einheitliches funktionales Prinzip der geistigen Gestaltung verstanden. Damit gilt die »Lebensform« hier letztlich als das innere Prinzip der allgemeinen »Lebensordnung« der Epoche. 66 Diese terminologischen und konzeptionellen Überlegungen fi nden auch in der biographischen Darstellung von Kants Leben und Lehre Anwendung. Hier ist zum einen das VI. Kapitel über die Kritik der Urteilskraft von großem Interesse, weil in ihm der Kantische Begriff organischen Lebens in Anlehnung an Goethes philosophische Terminologie als »ein Ganzes von Lebensformen« wiedergegeben wird, was meint, daß »Ein Geschehen« sich in einer immer weiter differenzierenden Vielzahl von Formen (Richtungen) verwirklicht, die es repräsentieren, ausdrücken. 67 In dem Zusammenhang würdigt Cassirer die Kant und Goethe gemeinsame Einsicht, wonach den »Lebensprozeß« eines Organismus die Tatsache ausmacht, daß »die besondere Lebensphase ihre Deutung erst aus der Gesamtheit der E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 17. Ebd., 87 f., 127. 64 Ebd., 16 f., 197. 65 Ebd., 265. 66 Ebd., 5, 151, 181, 190, 216, 267. 67 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 322 f. 62 63

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Lebensäußerungen [erhält], der sie angehört«. 68 Unter Bezugnahme auf Kant läßt Cassirer die Termini »Lebensprozeß«, »Lebensphase«, »Lebensäußerung« und »Lebensform« den Begriff des organischen »Lebens« bzw. der »lebenden Natur« konkretisieren. Der uns beschäftigende Begriff der »Lebensordnung« kommt gegenüber dem der organischen »Lebensformen« im VI. Kapitel allerdings nicht vor. Er hat aber implizit und explizit seinen Platz in der begrifflich-methodischen Konzeption des Buches. Zunächst implizit, indem Cassirer Kant in einer individuellen »Lebensordnung« verortet, die aber die typische »Lebensform«, das typische geistige Prinzip des 18. Jahrhunderts repräsentiert. Die Darstellung, die in biographischer Form die Entwicklung der kritischen Philosophie Kants liefern soll, beruft sich nämlich auf das Prinzip der Einheit von »Lebensform« und »Lehrform« bei Kant. Dafür gelte es zunächst, »die ›Lebensform‹ zu entdecken und anschaulich zu machen, die dieser Lehrform entspricht«. 69 Beides, »die persönliche Lebens- und Daseinsform« und »das Leben des abstrakten Gedankens«, sieht Cassirer in einem Wechselverhältnis, worin jedes »zugleich als bestimmend u n d als bestimmt« fungiert.70 Explizit verwendet Cassirer »Lebensordnung« in der Bemerkung, Kant sei mit all seinen Gewohnheiten und »mit seiner gesamten Lebensordnung« in seiner Vaterstadt Königsberg fest verwurzelt gewesen.71 Hier ist die Totalität, die geistige Ausrichtung aller Lebensäußerungen eines bedeutsamen Individuums gemeint, deren Objektivationen in ihrer funktionalen Grundrichtung übereinstimmen. An Formulierung und Sinn der Diltheyschen Begrifflichkeit erinnert, wenn Cassirer diese Richtungseinheit der unterschiedlichen »Lebensfunktionen« in der Lebensgeschichte Kants von ein und demselben repräsentativen »Lebensgefühl« (»Lebensform«) getragen sieht. Im Unterschied zu Kant habe Goethe jedoch die für das 18. Jahrhundert gültige »Lebensform« geistigen Schaffens zudem unmittelbar »gelebt« und somit verkörpert. Bezeichnenderweise fi ndet der Begriff »einer umfassenden gemeinsamen Lebensordnung« in dieser Schaffensperiode Cassirers mit dem eben erläuterten Sinngehalt eine letzte Anwendung in dem 1918 verfaßten Beitrag über Goethes Festspiel Pandora.72 Cassirer wird nämlich in den eingangs analysierten Überlegungen zu Goethes Erziehungskonzept (1932)

Ebd., 323. Ebd., 2. 70 Ebd., 2, 399. 71 Ebd., 377. 72 E. Cassirer, »Goethes ›Pandora‹« (1918), in: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist (1921), 2. Aufl. Berlin 1924, 22 (= ECW 9, 263). 68 69

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explizit auf diesen Beitrag verweisen und an ihn anknüpfen.73 Eine weitere, allerdings nicht sehr wahrscheinliche Anknüpfungsmöglichkeit eröffnete sich Cassirer zudem aus der Tatsache, daß Plessner 1928 in Die Stufen des Organischen und der Mensch den Begriff der »Lebensordnung« verwendet. Cassirer nimmt diese Schrift schnell zur Kenntnis und schätzt sie durchaus.74 Es kann zwar im Moment nicht belegt werden, welcher Quelle oder Inspiration Plessner diesen Terminus verdankt, sicher aber ist, daß ihm die Werke Diltheys, Schelers und Cassirers vertraut waren. In Plessners Werk, das sein anthropologisches Konzept von einem eigenen Lebensbegriff aus entwirft, ist, vergleichbar mit Diltheys Einleitung und Cassirers Erkenntnisproblem I, die Rede von der »patriarchalische[n] Lebensordnung«, die als kulturelle Hegemonie im 19. Jahrhundert kapituliere und neuen Philosophien und Weltanschauungen des Lebens Platz mache.75 Daß er den Begriff nicht zufällig oder episodenhaft aufgreift, belegen die 1934/35 gehaltenen Vorträge über Die verspätete Nation, die dem Einfluß der Lebensphilosophie in der deutschen Philosophie und Kultur nachgehen.76 Wenn es Plessner in den Stufen des Organischen vor allem »um das innere Konditionssystem [geht], welches zwischen den symbolischen Formen [der Kultur als den spezifischen Äußerungen der Lebenseinheit Mensch – C.M.] und der physischen Organisation [eben dieser Lebenseinheit – C.M.] herrscht«, 77

dann legt er zugleich den Finger an einen Schwachpunkt von Cassirers Konzept einer Philosophie der symbolischen Formen. Bleibt doch in der zunächst der konkrete Träger der symbolischen Formungsenergien des lebenE. Cassirer, Goethes Idee der Bildung und Erziehung« (1932), in: Geist und Leben, a. a. O., 109 (= ECW 18, 138 f.). 74 E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 36, 43, 60; E.W. Orth, »Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmut Plessner«, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7/1990–91, 250–274. 75 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin – New York 1975, 3. 76 Hier variiert er zunächst den Begriff der »Lebensordnung« und spricht von der »mittelalterliche[n], […] archaische[n] Lebensverfassung«, aus der »sich die außereuropäischen Völker [erheben]«. (H. Plessner, Die verspätete Nation [1959], Frankfurt a. Main 1998, 34). Für diese Epoche sieht er »das wissenschaft liche Denken [sich] in philosophischen Bahnen« eines »lebendigen Sinnzusammenhang[es]« bewegen, so »wie [sich] das Leben selber in der festgefügten patriarchalischen Lebensordnung« bewegte. (Ebd., 166) Außerdem ist von einer »mittelmeerischen und katholischen Lebensform« die Rede. (Ebd., 53) 77 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), a. a. O., 33. 73

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digen Geistes eigentümlich unscharf und unthematisiert. Die anthropologische ›Wende‹, die Cassirer, auch mit Blick auf Plessner, 1928 in den Texten »Zur Metaphysik der symbolischen Formen« seiner Erkenntnis- und Kulturphilosophie zumutet, und die in die Auffassung des Menschen als a n i m a l s y m b o l i c u m f ührt,78 bedarf eines Lebensbegriffs, der alle Facetten vom Organischen bis zum symbolisch Geistigen einschließt.79

E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990, 51 (= ECW 23, 31). 79 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324; »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 78

Die Unterwerfung des Geistes unter den Willen Cassirers versteckte Kritik an Nietzsche I. Während Georg Simmel dem Philosophen Friedrich Nietzsche bereits in den ersten Jahren des neuen 20. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit widmet,1 die sich in Zeitschriftenbeiträgen und schließlich in dem Vortragszyklus Schopenhauer und Nietzsche (1907) niederschlägt, und die ihn an Nietzsches Begriff des Lebens als Wille zur Macht anknüpfen läßt,2 hält sich sein ›Schüler‹ Cassirer,3 der sich zunächst dem Kritizismus und der ›Marburger Schule‹ (Cohen, Natorp) anschließt, in seinen der Geschichte des Erkenntnisproblems und dem Deutschen Idealismus gewidmeten Schriften von Kommentaren oder gar Studien zur philosophischen Bedeutung Nietzsches fern. Selbst das dreibändige Hauptwerk, die Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29), enthält keine Hinweise auf Nietzsche. Dennoch ist es nahezu unmöglich, daß Cassirer diesen drei Jahrzehnte lang nicht zur Kenntnis genommen haben soll. Auch wenn höchst wahrscheinlich kein systematisches Studium stattgefunden hat, muß er zumindest mit einzelnen Schriften Nietzsches bekannt gewesen sein. Für Simmel repräsentieren Goethe, Carlyle und Nietzsche den Typus von Geistern, die »zugleich einerseits prinzipiell anti-intellektualistisch gestimmt sind, und andererseits jene rechnerisch-exakte Naturdeutung völlig ablehnen, die [er – Simmel –] als das theoretische Gegenbild des Geldwesens erkannte[…].« – G. Simmel, Philosophie des Geldes (1900), Berlin 1958, 501. 2 Simmel deutet hier das Verhältnis der Lebensphilosophien Schopenhauers und Nietzsches auf ambivalente Weise. Zum Einen sei Schopenhauer der »unzweifelhaft größere Philosoph«, zum Anderen verteidige er »mit den besseren Kräften die schlechtere Sache«. (G. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GA, Bd. 10: Philosophie der Mode [1905], Die Religion [1906/1912], Kant und Goethe [1906/1917], Schopenhauer und Nietzsche, Hrsg. von M. Behr, V. Krech und G. Schmidt, Frankfurt a. Main 1995, 188). Das bezieht sich auf den Lebensbegriff: bei Nietzsche sei nämlich aus dem rein negativen Begriff ein positiver Entwicklungsbegriff geworden. Simmel wird dies in seinem letzten Werk Lebensanschauung (1918) als sich ständig transzendierendes ›Mehr-Leben‹ aufnehmen. – D. Solies, »›Mit den besseren Mitteln die schlechtere Sache verteidigen‹. Georg Simmels Rezeption von Nietzsches Lebensbegriff«, in: R. Reschke (Hrsg), Zeitenwende – Wertewende, Internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches 24.–27. August 2000 in Naumburg, Berlin 2001, 77 f. 3 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Simmels Begrifflichkeit der Formung als Anstoß für eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 3–22. 1

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I. Leben und Form

Haben sich doch u. a. mit Max Scheler (»Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche-Dilthey-Bergson« [1913]) und Heinrich Rickert (Die Philosophie des Lebens [1920]) noch weitere Kollegen, deren Werke Cassirer geschätzt und aufmerksam verfolgt hat, zur Philosophie Nietzsches geäußert. Daneben konnte ihm, der sich seit den ›Studien über deutsche Geistesgeschichte‹ in Freiheit und Form (1916) intensiv an der philosophischen Goethe-Deutung seiner Zeit beteiligt, Nietzsches Verehrung für Goethe nicht verborgen geblieben sein. 4 Doch am verwunderlichsten erscheint diese ›Enthaltsamkeit‹ vor dem Hintergrund dessen, daß der junge Cassirer selbst in seiner ›szientifischen‹ oder ›logizistischen‹ Phase (1902–1910) die erkenntnistheoretischen Fragen gewidmeten Schriften in engem Kontakt zu Lebensphilosophen und lebensphilosophischen Konzepten (Simmel, Dilthey) verfaßt und sich ausführlich mit zentralen, durch sie aufgeworfenen Themen (Intuition und Begriff, Erleben und Reflexion, Leben und Vernunft) auseinandersetzt.5 Die sich anschließenden geistesgeschichtlichen Studien zeugen ebenso wie die Philosophie der symbolischen Formen von einer noch viel bewußteren und intensiveren Hinwendung zu den durch die Romantik und die moderne Lebensphilosophie vollzogenen Entgegensetzungen (Wille/Leben versus Geist/Denken), ohne daß dies auf Nietzsche bezogen wird. Selbst das Schopenhauer-Kapitel im III. Band des Erkenntnisproblems (1920) enthält keinerlei Hinweis auf diesen. Die gegen eine Willensmetaphysik gerichtete Auffassung, wonach das Denken nicht dem Willen unterzuordnen ist, hebt Cassirer bereits 1902 in seiner ersten großen Schrift Leibniz’ System hervor. So lasse Leibniz den Unter Umständen läßt der »Goethes Pandora« (1918) gewidmete, 1921 in der Sammlung Idee und Gestalt veröffentlichte Beitrag erkennen, daß sich Cassirer der Bezüge zwischen der in Goethes Dichtung entworfenen Prometheus-Gestalt und Nietzsches Theorie des Dionysischen, wie sie in der Geburt der Tragödie (1873) formuliert wird, bewußt ist, wiewohl er Nietzsche nicht ausdrücklich erwähnt. (E. Cassirer, »Goethes Pandora« [1918], in: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist [1921], 2. Aufl. Berlin 1924, 24 f. [= ECW 9, 260 f.]; siehe dazu auch die Anm. 15 und 16 im vorliegenden Beitrag). Volker Gerhardt hat diese Vermutung bereits ausgesprochen: V. Gerhardt, »Nietzsche, Goethe und die Humanität«, in: R. Reschke (Hrsg), Zeitenwende – Wertewende, a. a. O., 19–30, 20. In dem Werk Versuch über den Menschen (1944) macht Cassirer explizit darauf aufmerksam, daß Nietzsche in der Schrift Geburt der Tragödie das Ästhetische einseitig auf das psychische, amorphe Dionysische gründet. – E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990, 250 (= ECW 23, 176). 5 Siehe dazu vom Verfasser, »Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer«, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 253. Jg., Heft 3/4, Göttingen 2001, 277–296; siehe ebenfalls im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die Philosophie der symbolischen Formen«, 55–74. 4

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ethischen Willen das Denken repräsentieren, indem ihm die psychischen »Tatsachen der inneren Erfahrung« bzw. »die tatsächlichen Wahrheiten« als »die konkrete Form und die Hülle« gelten, unter der sich das Rationale – die reine Vernunft – darbietet. 6 Folglich bringen der Wille bzw. »das praktische Bewußtsein […] nur ein Motiv, das in jedem theoretischen Denkakt bereits latent ist, zur Ausführung und Bestimmung. Beide Gebiete sind daher […] nur in unserer Abstraktion geschieden, während sie für das psychologische Erlebnis eine unmittelbare Einheit bilden.«7

Zustimmend gibt Cassirer die Leibnizsche Auffassung wieder, wonach »der Wille […] nicht minder ursprünglich [ist], als es das Denken ist; beide bedeuten primitive Richtungen, die sich jedoch nur in gegenseitiger Beziehung aufeinander darstellen […] lassen.«8 Wenn die ursprüngliche, erst durch Reflexion und Abstraktion zerlegte Einheit auch für den praktischen Willen und das Denken gilt, und Cassirer an dem ›Intellektualismus‹, wie Leibniz ihn vertritt, würdigt, daß er den Wert der Persönlichkeit nicht allein vom Intellekt, sondern auch von der Willenskraft abhängig macht,9 dann richtet sich das explizit oder implizit gegen Schopenhauer und Nietzsche, die beide den Geist dem Willen unterordnen.10 Und auch in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenüberstellung von Denken und konkretem Erlebnis als einem Willenserlebnis bei Wilhelm Dilthey und Max Frischeisen-Köhler spricht sich Cassirer 1913 gegen die Annahme einer Priorisierung des »willentlichen Lebens« gegenüber dem rationalen »bloßen Denken« im Wirklichkeitsbewußtsein aus.11 E. Cassirer, Leibniz‘ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998, 386. 7 Ebd., 387; Die Unterscheidung zwischen ursprünglich ganzheitlichem psychischen Erlebnis, subjektiven Erleben und erkenntnistheoretisch notwendiger Scheidung dieser ursprünglichen Einheit durch Abstraktion und Reflexion macht sich Cassirer zu Eigen bzw. sie entspricht auch seinem Standpunkt. Damit ist die Unmittelbarkeit des Lebens eine psychische bzw. psychologische Realität, die bloß erkenntnistheoretisch keinen Bestand haben kann. Gerade das beansprucht aber der Intuitionismus (Bergson). 8 Ebd., 388. 9 Ebd., 390. 10 Für Cassirer dagegen gilt, in Übereinstimmung mit Leibniz: »Die Vollkommenheit des Individuums […] kann nicht unmittelbar ergriffen [werden]: sie muß schrittweise in der Arbeit der Erkenntnis erzeugt werden« (ebd., 393), durch aktive »Operationen des Geistes und des Willens« (ebd., 393). 11 »Im engen Anschluß an Dilthey wird [bei Frischeisen-Köhler – C.M.] der Standpunkt des konkreten Erlebnisses dem Standpunkt des bloßen Denkens gegenübergestellt.« ›Wirklichkeit‹ bzw. ›Dasein‹ würden dem einzelnen Individuum »vor allem Denken im Erlebnis des Willens bewußt und gewiß«, wobei diese Potenz als »nicht weiter 6

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I. Leben und Form

Die daraus folgende Behauptung, wonach »sich auch jedes Wissen um den Zusammenhang dieser Wirklichkeit auf Erfahrungen [gründet], die aus unserem willentlichen Leben stammen«,12 hält Cassirer für eine zirkelhafte Erklärung, die das Abzuleitende letztlich voraussetzt. Im unmittelbaren Willenserlebnis werden auf die Weise eine Gliederung und damit eine ›gegenständliche‹ Struktur vorausgesetzt. Nimmt man aber das Wollen lediglich »ganz im Sinne eines bloßen ›Gefühls‹ des Strebens«, führe uns kein Weg »aus dem Kreise der Subjektivität wahrhaft heraus«.13 In seinem Aufsatz »Goethes Pandora« (1918), der das Dichtwerk Goethes als eine Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen dem Formreich (Pandora-Symbol) und dem konkreten wirklichen Leben interpretiert, richtet Cassirer große Aufmerksamkeit auf die dualistische alte Lebensordnung, die eine »Welt des […] des tatenlosen Sehnens und Schauens« und eine »der formlosen […] Tat« umfasse.14 In dem Zusammenhang deutet Cassirer dies als den Gegensatz von »dionysischem Rausch« (Tat) und »apollinischer Klarheit« (Sehen), den Goethe gestaltet habe, und der in der neuen, durch Pandora gestifteten Ordnung aufgehoben werde.15 Obwohl er hier gewiß Nietzsche im Blick hat, fällt der Name nicht.

II. Uns sollen im Moment die Gründe für diese Zurückhaltung Cassirers gegenüber Nietzsches Philosophie des Lebens nicht weiter beschäftigen, zumal er sie niemals thematisiert.16 In gewissem Sinne hat sich Cassirer gegenüber Simmel und dessen Kultur- und Lebensphilosophie, der er selbst ganz augenscheinlich viele Anregungen verdankt, ähnlich schweigsam verhalbegriffl ich deduzierbar«, wohl aber als jederzeit erfahrbar gilt. – E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, 159 f. 12 Ebd., 160. 13 Ebd., 161. 14 E. Cassirer, »Goethes Pandora« (1918), in: Idee und Gestalt (1921), a. a. O., 17, 22 (= ECW 9, 252 f., 257 f.). 15 Ebd., 24 f. (= ECW 9, 260) 16 Die Gründe, die Solies für die von Simmel 1907 in Schopenhauer und Nietzsche ausgesprochene philosophische »Abwertung Nietzsches« nennt (selektive Wahrnehmung von Nietzsches Werk, Einfluß der zeitgebundenen Lesart) könnten auch für Cassirer gelten. Zudem ihm Nietzsches Reserviertheit gegenüber der Naturwissenschaft und das Unsystematische seiner Philosophie suspekt sein müssen. – D. Solies, »Georg Simmels Rezeption von Nietzsches Lebensbegriff«, in: R. Reschke (Hrsg.), Zeitenwende – Wertewende, a. a. O., 80.

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ten.17 Die Parallele geht sogar noch weiter, da sich die erste vorbereitete, allerdings nicht veröffentlichte Stellungnahme zu den Lebensbegriffen Simmels und Nietzsches in ein und demselben Manuskript findet, auch wenn er in diesem Simmel sehr viel mehr Raum einräumt und dessen Lebensbegriff eine erstaunliche Nähe zum Begriff der symbolischen Form attestiert.18 Obwohl Cassirer beim Erläutern der von Simmel in der Sammlung Lebensanschauung (1918) vertretenen Positionen auch von der ›Transzendenz des Lebens‹ und von ›Mehr-Leben‹ spricht,19 bleibt offen, inwieweit ihm die Simmelschen Entlehnungen aus Nietzsches Lebensphilosophie gegenwärtig sind. Es handelt sich bei den Überlegungen um einen Text, an dem Cassirer 1928 arbeitet, und der sein Verhältnis zur zeitgenössischen Philosophie, insbesondere zur Lebensphilosophie, darstellen bzw. klären soll. In diesem Manuskript, das ursprünglich den III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1929) abschließen, später separat als IV. Teil veröffentlicht werden sollte, 20 setzt sich Cassirer das erste Mal ausführlich mit Nietzsches metaphysischer Lösung des Verhältnisses von »Leben« (Wille zur Macht) und »Geist« (Intellekt) auseinander. Von nun an finden sich in vielen publizierten und unpublizierten Schriften Cassirers, die aus unterschiedlichsten Anlässen entstehen, kurze Hinweise auf oder Auseinandersetzungen mit Nietzsches Lebensphilosophie. Eine eigene Abhandlung hat er Nietzsche allerdings niemals gewidmet, auch in Titeln oder Kapitelüberschriften seiner Werke kommt dessen Name meines Wissens nicht vor. Es bleibt uns also nichts weiter übrig, als mit den ›Bruchstücken‹ einer Nietzsche-Kritik bei Cassirer zu arbeiten. Und die gruppiert sich um Themen, die ihre Gemeinsamkeit letztlich im Zurückweisen der für die Lebensphilosophie typischen Unterwerfung des Geistes unter den Willen finden. In den 1928 ausgearbeiteten zwei Kapiteln über die Stellung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zur zeitgenössischen Philosophie (Lebensphilosophie, Existentialismus, Philosophische Anthropologie) polemisiert Cassirer zunächst gegen die von Rickert 1920 suggerierte Deutung der Lebensphilosophie als einer ›philosophischen Modeströmung unserer Zeit‹. Es sei nämlich gerade die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert agierende Metaphysik des Lebens, die nahezu alle wichtigen Gegensätze, die das Philosophieren kennt, in der Dialektik der gegensätzlichen ›Formen‹ und 17 18

Siehe dazu Anm. 4 im vorliegenden Beitrag.

Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Leben‹ als Quell symbolischer

Formen. Eine Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel und Scheler«, 23–53. 19 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 8, 10, 11, 18. 20 Editorische Hinweise [des Herausgebers J.M. Krois], in: ebd., 297–308.

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des einheitlichen ›Lebens‹ (oder des ›Geistes‹ und des ›Lebens‹) gebündelt »und mit der sie, mit immer neuen Begriffsmitteln, gerungen hat«.21 Dieses Verdienst der Lebensphilosophie, deren metaphysische Lösung des Grundgegensatzes Cassirer allerdings nicht genügt, will er insbesondere an Simmel aufzeigen. Selbstverständlich hat Rickert, für den – wie für Simmel und Cassirer auch – Philosophie Begriffsphilosophie und nicht vorbegriffliche Intuition des Lebens ist, die lebensphilosophische Richtung nicht pauschal abgetan, sondern sehr wohl auch ihre Wahrheiten gewürdigt.22 Dabei hat dieser sich ausführlich auch mit Nietzsche auseinandergesetzt, dessen »Dichtung [!] »Also sprach Zarathustra«« die »Lebensstimmung der Zeit am meisten […] angeregt« habe.23 Cassirer, der also den modernen Lebensphilosophen zugute hält, in die metaphysische Antithese von ›Geist‹ und ›Leben‹ alle denkbaren philosophischen Gegensätze, alle relevanten »Problemreihen« hingeführt zu haben, würdigt neben Bergson, Dilthey und Simmel nun auch Nietzsche als einen der »Denker von […] durchaus verschiedener Geistesart und von […] verschiedener geistiger Herkunft«, der »in diese Bewegung der Umprägung des metaphysischen Grundgegensatzes ein[greift]«.24 Die Motive der Lebensphilosophen, also auch Nietzsches, wurzelten »in einer Grundund Urschicht des modernen Lebensgefühls und des spezifisch-modernen Kulturgefühls«. 25 Diesem Lebensgefühl wohne »eine innere Spannung, eine polare Gegensätzlichkeit« ein, die in der Philosophie des Lebens »zum Ausdruck drängt«. 26 Auch die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ringe um ein Begreifen dieser inneren Spannung, die als der Gegensatz Ebd., 7 f. Im 11. Kapitel »Das Recht der Lebensphilosophie« seines Buches heißt es z. B.: »Die Besinnung auf die anschauliche und lebendige Unmittelbarkeit des Lebens […] kann im Interesse universaler Betrachtung dringend notwendig sein, wo man die Welt mit der Verstandeswelt gleichsetzt.« – H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit(1920), Tübingen 1922, 176 f. 23 Ebd., 20. 24 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 8. 25 Indem Cassirer dabei die moderne Lebensphilosophie zum prägnantesten Ausdruck des Lebensgefühls der Gegenwart erklärt (ebd., 8), nimmt er eine Anregung Simmels auf, für den zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff des Lebens zum ›Zentralbegriff‹ der ›Kulturepoche‹ geworden war. – G. Simmel, »Der Konfl ikt der modernen Kultur« (1918), in: GA 16: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Grundfragen der Soziologie, Vom Wesen des historischen Verstehens, Der Konfl ikt der modernen Kultur, Lebensanschauung, Hrsg. von G. Fitzi und O. Rammstedt, Frankfurt a. Main 1999, 186 f. 26 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 8. 21

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(Dialektik) zwischen Leben und Geist, zwischen Leben und Form (Idee) thematisiert wird.27 Den Vorzug, den er »Simmels Metaphysik« einräumt, erklärt Cassirer damit, daß diese im Unterschied zu den anderen »Gestaltungen des modernen ›Irrationalismus‹« – d. h. der Lebensphilosophie – dieses Grundverhältnis »aufs klarste durchschaut« habe.28 Zumindest in der in Simmels letztem Werk Lebensanschauung (1918) vorliegenden Gestalt berühre sich »die moderne Lebens-Metaphysik unmittelbar mit [dem] systematischen Grundproblem«, wie es die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ aufwirft, auch wenn der symbolische Charakter seiner Darstellung wegen der Verwendung räumlicher Schemata unbemerkt zu einer metaphorischen Darstellung werde.29 Die Wege der Lebensphilosophen und Cassirers trennen sich jedoch vor allem dann, wenn die »Metaphysik des Lebens« gegen den Begriff einer ›werdenden Form‹ einwendet, daß sie »der reinen Lebensbewegung [nicht] gewachsen« sei, daß der Übergang des Lebens zur Form keine »Steigerung«, sondern eine »Erschlaff ung und Verkümmerung« der »reinen Lebensbewegung« bedeute.30 In dieser »Anklage, die […] von Seiten des Lebens gegen […] die Welt der geistigen Formen erhoben wird«, 31 sieht Cassirer eine Gemeinsamkeit aller »romantische[n] Philosophie«, aller »moderne[n] Metaphysik« des Lebens.32 Obwohl er die Kritik an der darauf folgenden Absage an den Geist vor allem gegen Ludwig Klages richtet, schließt sie Nietzsche mehr oder weniger mit ein, denn »Klages’ Lehre bildet hier den folgerechten systematischen und historischen Abschluß einer Entwicklung, die in ihrer Wurzel auf Schopenhauer und Nietzsche zurückgeht«.33 Entstand doch bei beiden Vorläufern der modernen Lebensphilosophie zuerst »jene Auffassung des Geistigen, jene Ansicht vom ›Intellekt‹, die ihn schlechthin zum Sklaven des Willens macht«.34 Eine Auffassung, der der ›symbolische Idealist‹ Cassirer ganz energisch widerspricht. Im Unterschied zu Simmel kann er dabei jedoch Schopenhauers Philosophie mehr abgewinnen als der Nietzsches. Lasse Schopenhauer doch den Intellekt und seine Taten (Kunst, reine Erkenntnis, Religion) sich letztlich aus der Verkettung mit dem Willen losreißen und gegen ihn kehren, während für 27 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., 10. Ebd., 12. Ebd., 13 f. Ebd., 22. Ebd., 25. Ebd., 23. Ebd., 26. Ebd., 26.

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Nietzsche diese »Umkehr« ihren Sinn völlig verloren habe, und folglich bei ihm auch alle Taten des Intellekts »den Schein der Selbständigkeit, mit dem sie sich schmücken, verloren [haben]«.35 In diesen Taten sehe Nietzsche nur noch Verkleidungen und Masken, »mit denen der allgewaltige, der alleinherrschende ›Wille zur Macht‹ sich zudeckt«.36 Mit diesen Äußerungen bezieht sich Cassirer ganz offensichtlich auf entsprechende Aphorismen Nietzsches im 3. Kapitel (»Die maskierten Arten des Willens zur Macht«) des II. Buches der posthumen Zusammenstellung Der Wille zur Macht (1901).37 Dabei gesteht Cassirer Nietzsche durchaus eine folgerichtige und schlüssige Argumentation zu, die zur »völligen Entwertung und Verwerfung« des Geistes führen muß. Er hält jedoch die Prämisse der Argumentation, nämlich den »Begriff vom ›Geist‹, der hier vorausgesetzt wird«, für äußerst frag- und einspruchswürdig.38 Die »Lebens- und Willens-Metaphysik«, zu der Nietzsche als wichtiger Ideengeber gehört, habe mit ihrem Geistbegriff ein »bloßes Idol, ein Trug- und Schreckbild« erschaffen, dem nichts Faktisches, Wirkliches, keine »selbständige Macht« entspricht. Es ist für den kritischen bzw. symbolischen Idealisten Cassirer nichts mehr als ein Spuk, wenn diese – in der Person von Klages – im Geist lediglich eine »fremde und transzendente, eine dämonische Schicksalsmacht [sieht], die in die Welt des Lebens einbricht«.39 Diese ganzen Schatten verschwinden, wenn der Geist nicht metaphysisch, nicht transzendent-substantiell gedeutet, sondern in seinen »reinen Phänomenen« verfolgt wird, was z. B. die ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die dies tut, auf einen Erkenntnisweg »durch die konkreten Gebilde des Geistes hindurchführt«. Und auf diesem Weg erscheint der Geist eben nicht »sowohl als ›Wille zur Macht‹, als vielmehr als Wille zur Gestaltung«, d. h. erweist sich als das Bestreben, die Welt in unterschiedliche Formen von Bedeutung (Mythos, Sprache, Kunst, Erkenntnis, Religion) zu setzen. 40 Ebd., 27. Ebd., 27. 37 So zählt Nietzsche in einem Aphorismus (Nr. 256) zu den »maskierten Arten des Willens zur Macht« das »Verlangen nach Freiheit«, die »Einordnung« und das »Pfl ichtgefühl«. – F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, in: Werke in vier Bänden, Bd. II, Wien 1980, 206. 38 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 27. 39 Ebd., 27; Klages sieht mit dem Geist, symbolisiert durch den von seinen Fesseln befreiten Prometheus, »eine außerweltliche Macht in die Sphäre des Lebens einbr[echen].« – L. Klages, Mensch und Erde. Sieben Abhandlungen (1920), 3. Aufl., Jena 1929, 38. 40 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 27. 35

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Diese symbolischen Gestaltungsformen des Geistes stehen dabei am Anfang ihrer jeweiligen Entfaltung und Entwicklung, d. h. auf ihrer magischen Stufe, sehr wohl unter der Leitung des Affekts, des Bedürfnisses und des Willens. Die auf dieser Stufe durch die Menschen eingebildete, wie ein Zauber agierende ›Allmacht des Willens‹ erweist sich aber lediglich als das früheste Stadium. Bald weiche nämlich die magische »Wirk-Welt« der reinen Anschauungswelt, der »reine[n] Schau der Wirklichkeit«, und dann ist es mit der ›Allmacht des Willens‹ ein für allemal vorbei. 41 Dieses, das magische Erwirken ablösende Schauen trägt für Cassirer rein kontemplative, ideelle Züge. Es geht »über den Urgrund des ›Lebens‹ zwar hinaus[…] – aber dieser wird damit weder zerstört, noch vergewaltigt«. 42 Das sich hierbei an den angeschauten Gegenständen vollziehende ›Tun‹ habe mit dem ›Wirken‹ im mythisch-magischen Bewußtsein nichts mehr zu tun. Diesen entscheidenden Unterschied halte die moderne, sich auf Schopenhauer und Nietzsche stützende »Metaphysik des Lebens« nicht auseinander, im Gegenteil, sie lasse beide Weisen ineinander aufgehen. 43 Das strömende und strebende Leben bzw. der Wille ist zwar auch nach Cassirer als der »Urquell aller Wirklichkeit« zu verstehen, doch »für sich allein niemals [als] der Quell der Symbole, in denen uns diese Wirklichkeit erst faßbar […] wird«. 44 Die Symbole entstammen vielmehr dem »Gegenpol« des Lebens – den »reinen Energien des Geistes«. Mit dieser Kritik, die sich nicht auf die Begriffe Leben und Wille als solche, sondern auf ihre Deutung durch die Lebensphilosophie richtet, endet im Manuskript von 1928 die Nietzsche-Rezeption.

III. Bevor wir auf ihre Fortsetzung in einem weiteren nichtpublizierten Text eingehen, soll darauf hingewiesen werden, daß Cassirer die Privilegierung des Willens – und damit des Lebens – gegenüber dem Geist bzw. Intellekt auch dann beschäftigt, wenn die Namen Nietzsche und Schopenhauer nicht fallen. So polemisiert er 1930 in einem Vortrag gegen die Versuche, den Willen gegenüber der anschaulich-gegenständlichen Ordnung der Welt abzusondern und zu verabsolutieren. 45 Und im Bericht über den PsycholoEbd., 27 f. Ebd., 28. 43 Ebd., 28. 44 Ebd., 30. 45 E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 156. 41

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giekongreß 1932 hebt Cassirer hervor, daß auch bei der »Gestaltung der Willenswelt« als ethisch-praktischer Welt die symbolische Form der Sprache eine objektivierende, vergegenständlichende Funktion ausübt. Diese Überlegung richtet sich zumindest indirekt gegen die Gegenüberstellung von Geist und Willen bei Schopenhauer und Nietzsche, heißt es doch weiter, daß »die Welt des Willens«, wie auch die »Welt der ›Vorstellung‹«, immer auch ein »Werk der Sprache« sei. 46 In der zweiten Hälfte der 30er Jahre arbeitet Cassirer in Göteborg u. a. am IV. Band des Erkenntnisproblems, dessen Ende 1940 fertiggestelltes Manuskript Nietzsche als scharfsinnigen Kritiker des ›Historismus‹ würdigt. An den Einwendungen gegen diese Art der ›Historie‹, die Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873/74) erhebt, 47 ist Cassirer wichtig, daß sie am »spezifischen Erkenntniswert« des »historischen Denkens«, der »Methoden der historischen Erkenntnis« selbst nicht zweifeln. 48 Wenn Nietzsche hier »der Geschichte im Namen des Lebens den Krieg erklärt«, 49 dann hat dieser dabei die idyllisierende Geschichtsschreibung des lebensnahen Details (Riehl, Freytag) im Auge. Cassirer gibt sich sicher, daß sich die Kritik Nietzsches nicht gegen die Geschichtsschreibung überhaupt richtet, die bleibe für diesen vielmehr »eine echte und dauerhafte Quelle des Enthusiasmus«,50 wie er ihn für das in der Geburt der Tragödie (1872) tragisch gedeutete Griechentum hegte. Für die Forderung Nietzsches an jede echte Historie, daß sie »dem Leben […] dienen« müsse,51 klingt bei Cassirer Verständnis an. Weil sich der ›Historismus‹ des 19. Jahrhunderts bloß am Vergangenen erfreut, erfülle er diese Forderung jedoch nicht. Die geforderte »Art geschichtlicher Betrachtung fand Nietzsche [allein] in Jacob Burckhardt verkörpert«.52

E. Cassirer, »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hrsg. von E.W. Orth und J.M. Krois unter Mitwirkung von J.M. Werle, Hamburg 1995, 134. 47 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss – der Bekenner und der Schriftsteller (1873), in: KSA Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873, München 1999, 169. 48 E. Cassirer, EP. Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 253. 49 Ebd., 312. 50 Ebd., 313. 51 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: KSA Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen, a. a. O., 245 f., 256. 52 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 313 f. 46

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Burckhardt will Cassirer entgegen des landläufigen Urteils keinesfalls zum ›Historismus‹ gezählt wissen, glaube er doch ebenso wenig an eine »Versöhnung von ›Vernunft‹ und ›Wirk lichkeit‹«53 wie an den beständigen Fortschritt.54 Dabei ist der »große Historiker« Burckhardt von »Schopenhauers Philosophie« gebildet und geprägt, auch wenn die sowohl die »Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie« als auch die einer »Geschichtswissenschaft« bestreitet. Nach Schopenhauer sei der aller scheinbaren Geschichte zugrunde liegende Kern »ein blinder Wille, der nicht weiß, was er will«,55 und dieser Übermacht des Willens entkomme allein der Künstler, indem er »die wahre [kontemplative – C.M.] ›Ideenschau‹« vollzieht. Das kontemplativ erfaßbare »sich Wiederholende, Konstante, Typische« bilde auch für Burckhardts das Erkenntnisziel.56 Selbst der »ästhetische Individualismus Burckhardts entspricht noch […] der Grundanschauung Schopenhauers«. Doch sei dessen Anschauung eine metaphysische, überzeitliche Schau, wogegen »die [kontemplative – C.M.] Anschauung Burckhardts […] historische Anschauung [ist]«.57 Burckhardt gehe es letztlich um das ›Werden im Sein‹, um den »Gestaltenwandel der Bildwelt der Kunst, der Dichtung, der Sprache, der Mythologie, der Religion«, d. h. um die symbolischen Formen. Und genau damit habe er in Nietzsche »die Überzeugung [zu] wecken« vermocht, daß die echte Historie im ›Dienst der Zukunft und Gegenwart‹ steht, nicht aber im Dienste einer ›Schwächung der Gegenwart‹, der ›Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft‹.58 Den entscheidenden zweiten Referenztext für Cassirers Nietzsche-Rezeption bzw. Nietzsche-Kritik bildet das im Jahre 1940 entstandene und zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Manuskript »Über Basisphänomene«.59 In ihm nimmt er die kritischen Überlegungen aus dem Jahre 1928 über das Verhältnis von Geist und Willen in Nietzsches Philosophie wieder auf. Und dies im Zusammenhang mit der kritischen Besprechung derjenigen Erkenntnislehren, die den Erkenntnis- bzw. Wahrheitswert ausschließlich auf die »radikale Außen-Wirkung« setzen. Diese zentrifugalen ErkenntnisEbd., 315. Ebd., 319 f. 55 Ebd., 320. 56 Ebd., 321. 57 Ebd., 323. 58 Ebd., 324 f. ; siehe dazu F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: KSA, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen, a. a. O., 271. 59 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 113–198. 53

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theorien werden vom »Drang zur Expansion«, von der »Wendung zur Welt  – [zur] Eroberung der Welt« getragen, weshalb ihnen der »Wille als bloßer blinder Lebenstrieb« zu Grunde liegt. 60 Hatte Cassirer 1928 Nietzsche und Bergson als Vertreter einer mehr oder weniger einheitlichen, metaphysisch argumentierenden »Lebensphilosophie« bzw. »Metaphysik des Lebens« behandelt, so werden sie beide im Manuskript »Über Basisphänomene« vielfältigeren Gliederungsaspekten (einzelnen Basisphänomenen und philosophischen Disziplinen) zugeordnet, wobei Nietzsche nur einmal auftaucht, und dabei nicht mehr gemeinsam mit Bergson. Im Manuskript nimmt Cassirer seinen Ausgang von dem erkenntnistheoretischen Problem, inwieweit sich die Objektivität der Wahrheit durch die empirische Wahrnehmungsanschauung und durch die Weltbildung, die auf der emotional-seelischen Ausdrucksfunktion samt Fremdicherfahrung beruht, begründen läßt. Auf eine Begründung durch letztere ziele u. a. die »Theorie der unmittelbaren Erkenntnis«, des unmittelbaren Erlebens des Fremdichs, als deren Vertreter Cassirer H. Bergson nennt. 61 Vollziehe doch dessen »metaphysische[r] ›Intuitionismus‹« den »Sprung in die Metaphysik der ›unmittelbaren Erkenntnis‹«. 62 Sachliche Wahrnehmung und emotionaler Ausdruck als zwei Weisen der Weltbildung bzw. Objektivierung erweisen sich für Cassirer auf zwei unterschiedliche Basisphänomene geistigen Lebens – ›Es‹ und ›Du‹ – gegründet. Insgesamt beschreibt er unter Rückgriff auf Goethes Lehre von den ›Urphänomenen des Lebens‹ drei letzte, unhintergehbare Ur- oder Basisphänomene der Wirklichkeitsbildung, die er mit Ich/Ich/Selbst, Wirken/Du/Anderer und Werk/Es/Welt jeweils mehrfach umschreibt. 63 Diese Ur- oder Basisphänomene der Konstitution des Gegebenen treten nun einzeln, vereinseitigt bereits in der Geschichte sowohl der Psychologie Ebd., 180. Eigentümlicherweise würdigt Cassirer hierbei nicht Simmels Theorie des ästhetischen Fremdverstehens, wie sie in dessen Rembrandt-Studie niedergelegt ist. Nach Simmel bewirken nicht »Aufschlüsselung und Analyse einer reinen Äußerlichkeit« intuitivästhetisches Fremdverstehen, sondern allein der ›Lebensprozeß seines Werdens‹ könne es vermitteln. Das »Du stellt für Simmel eine ›ganz primäre, nicht weiter zurückführbare, nur unmittelbar zu erlebende Kategorie‹ der Wahrnehmung schlechthin dar.« – D. Solis, »Georg Simmels Rezeption von Nietzsches Lebensbegriff«, in: R. Reschke (Hrsg.), Zeitenwende – Wertewende, a. a. O., 79. 62 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 120. 63 Ebd., 137; siehe dazu auch O. Schwemmer, »Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Stuttgart, 1992, Heft 2, 226–249; M. Ferrari, Ernst Cassirer. Dalla scuola di Marburgo alla Filosofia della cultura, Firenze 1996, 312 ff. 60 61

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als auch der Metaphysik und Erkenntnistheorie auf. Für unsere Recherche sind zunächst die drei historischen Typen von Metaphysik interessant, die je ein Basisphänomen (Ich/Du/Es) als Grundprinzip zur Ausführung bringen. Den ersten Typus, den Cassirer auf dem Basisphänomen des Ich, des Lebens ruhen sieht, und der durch Bergson vertreten wird, thematisiere die »Intuition des Lebens« gegen das abstrakte Denken in Begriffen. 64 Den zweiten Typus der Metaphysik, der das Basisphänomen des Willens oder Wirkens, aber auch des Du (Fremdich) verwirklicht, sieht Cassirer sowohl durch Schopenhauers Willenslehre als auch durch die Ethik Fichtes, nicht aber durch Nietzsches Willensmetaphysik vertreten. 65 Allerdings könnten die Verweisungen auf Schopenhauers Fassung des Willens als »blindem Trieb« und als primär gegenüber der sachlichen Vorstellung auch Nietzsche mitmeinen. Hinsichtlich der Erkenntnistheorien unterscheidet Cassirer die Frage nach dem ›Ursprung‹ der Erkenntnis (Vernunft oder Erfahrung) von der Frage nach ihrem ›Modus‹, was die jeweilige »Basis der Erkenntnis« (IchBasis, Du-Basis, Es-Basis) meint. 66 Bergson erscheint hier noch einmal als Vertreter derjenigen Erkenntnistheorien, die auf das erste Basisphänomen (Ich) setzen und dies durch die monadische Intuition realisieren. Neben Descartes und Husserl berufe sich Bergson allein »auf die Erkenntnisquelle der Intuition, die für [ihn] als Fundament der Gewißheit unentbehrlich ist […]« und die mit der »universellen Intuition des ›Lebens‹« verschmilzt. 67 Wenn Cassirer den Typus der Erkenntnistheorie erläutert, der auf das Basisphänomen des Wirkens setzt, also auf den blinden Willen (Trieb), der den Intellekt aus sich heraus und als von sich abhängend schafft , 68 dann ist vom amerikanischen Pragmatismus (W. James, J. Dewey), von dem der Lebensphilosophie entwachsenen Existentialismus (M. Heidegger) und schließlich von Nietzsches Wahrheitslehre die Rede. Der pragmatistischen Erkenntnislehre macht Cassirer den Vorwurf, neben dem Grundphänomen des ›Triebes‹ und des ›Willens‹, neben den Kategorien Mittel und Zweck das Grundphänomen des Ich aus der Bewußtseinssphäre völlig zu verdrängen und damit genau dasjenige Subjekt zu verlieren, »das will«. 69 Um dem zu entgehen, werde von den Pragmatisten behauptet, Trieb und Wille gehörten einer anderen, der »rein-vitalen Schicht« an, E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 154. 65 Ebd., 154. 66 Ebd., 166 f. 67 Ebd., 169. 68 Ebd., 180. 69 Ebd., 182. 64

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wie dies Schopenhauer mit seiner Willensmetaphysik als dem ›Ursein‹, als den ›blinden‹ Potenzen, als dem ›Getriebenwerden‹ angenommen hatte. Für ihn habe das alles außerhalb »des Kreises des Bewußtseins«, in den »Instinkthandlungen« seinen Platz. Der Pragmatismus blendet durch das Zweck-Mittel-Schema nicht nur die Ich-Sphäre, sondern auch die »Sphäre der objektiven Werte und des objektiven Seins, der objektiven Wahrheit« aus.70 Und diese Ausblendung teile er mit Nietzsches Lehre vom ›Willen zur Macht‹. Werte, Sein, Wahrheit sind in dieser Lehre allein »Mittel zum Zweck (der Lebenserhaltung, Machterhaltung, Machtsteigerung)«. Objektive, autonome Werte wie die kontemplativen Ideen und ewigen Formen Platons, Kants oder der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ gibt es bei Nietzsche nicht, die sind für ihn alle »fremddienstlich« oder bloße Irrtümer. Damit erweise sich Nietzsche als »der schärfste und konsequenteste Vertreter dieser pragmatistischen Nivellierung des Wahrheitswertes«.71 Nietzsches Schlußfolgerung in Jenseits von Gut und Böse (1886), wonach Irrtum deshalb gelegentlich besser als Wahrheit sei,72 läßt der ›Phänomenologe der Erkenntnis‹ Cassirer nicht gelten.73 Wie er überhaupt von »lebensfördernden, machtsteigernden Irrtümern« nichts wissen will. Ebenso lehnt er den Lebensdrang als endlich durchschauten wirklichen Ursprung des Platonischen Ideenreiches, des Reiches der ewigen Formen ab.74 Objektives Sein und objektive Werte könnten niemals zu Recht »von einer ›Setzung‹ des Willens«, von »einem Machtspruch des Willens« abhängig gedacht werden. Ein solches unrechtmäßiges Denken verdränge die Wahrheit durch die Wirkung, verwechsle die Wahrheit mit der Wirkung. Durch die Beunruhigungen des Jahres 1940 bewegt und getrieben notiert sich Cassirer, daß diese von Nietzsche und dem modernen Pragmatismus vertretene »Reduktion der Wahrheit auf die Wirkung« alle diejenigen »Theorien [charakterisiert – C.M.], die den ›Willen zur Macht‹ zum obersten Prinzip erheben«. Und das sind für ihn »die faschistischen Theorien ebensowohl wie die marxistische Lehre vom Überbau«, welcher auf die Wirkung der ökonomischen Basis, »eines bestimmten ›Interesses‹« reduziert wird.75 Bei Ebd., 182. Ebd., 182. 72 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), Erstes Hauptstück, 18; Zweites Hauptstück, 48 f., in: KSA Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, München 1999, 52, 55. 73 E. Cassirer, III. »Zum Schluss-Kapitel«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 353. 74 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 183. 75 Ebd., 183. 70 71

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all diesen Theorien fungiere die Erkenntnistheorie lediglich »als die Technik d[…]er Enthüllung« desjenigen, was hinter den angeblichen objektiven Wahrheiten steckt, was in ihnen letztlich ›symbolisiert‹ ist.76

IV. In den großen Schriften des letzten Lebensjahres 1944/45, die von der Sorge um die Zukunft der europäischen Kultur geprägt sind, kommt Cassirer auch auf die Rolle und Bedeutung von Nietzsches Philosophie des Lebenswillens, des Machtwillens zurück. Sie erweist sich einmal als spekulativ gegenüber der Empirie, betreibe sie doch eine »Deutung des empirischen Materials«, die »von Anbeginn eine willkürliche Annahme« – den proklamierten »Willen zur Macht« – enthält. Auf die Weise werde Nietzsches Philosophie »zum Prokrustesbett« für die empirischen Tatsachen.77 Zum anderen weitet er den Einwand, den er gegen die Kunsttheorie in Bergsons Metaphysik des Lebens erhebt, auf »die psychologische [Kunst-]Theorie Nietzsches« aus.78 Für Bergson veranschauliche das Kunstwerk am besten »den grundsätzlichen Dualismus, die Unvereinbarkeit von Intuition und Vernunft«.79 Dabei sei für diesen die ästhetische Intuition des Lebens »kein wirklich aktives Prinzip«, sondern ein Modus von Rezeptivität, ein passives Vermögen. Nach Cassirer ist jedoch das Gefühl der Schönheit nur in einem aktiven, einfühlenden, das Schöpferische begleitenden Verhalten erlebbar. Es schließe notwendigerweise Urteilsakt und Besinnung, also Geist und Vernunft ein. 80 Indem Nietzsche in Die Geburt der Tragödie das Ästhetische auf das psychische, amorphe Dionysische gründet, 81 habe er in seiner psychologischen Theorie, so unterstellt ihm Cassirer, das rationale Apollinische als notwendigen Gegenpol, der die strukturierte Einheit des Kunstwerkes bewirkt, verloren bzw. ausgegrenzt. 82 Wenn Cassirer in diesem seinen letzten großen systematischen Werk Nietzsche beschuldigt, die an sich richtige Einsicht, daß die Vergangenheit nur aus dem Gegenwärtigen erklärt werden kann, insbesondere in den UnEbd., 184. E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 44 (= ECW 23, 26). 78 Ebd., 250 (= ECW 23, 176). 79 Ebd., 247 (= ECW 23, 174). 80 Ebd., 249 (= ECW 23, 175). 81 F. Nietzsche, »Versuch einer Selbstkritik« (1886), in: Die Geburt der Tragödie (1872/1886), in: KSA 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen, a. a. O., 15 ff. 82 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 250 (= ECW 23, 176). 76

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zeitgemäßen Betrachtungen für »einen heftigen Angriff auf den Nutzen der Historie« zu verwenden, 83 dann hat sich die Wertung gegenüber dem 1940 fertig gestellten IV. Band des Erkenntnisproblems ins Negative verschoben. Der Forderung Nietzsches, die Historie habe zwar »dem Leben und Handeln« zu dienen, ihnen aber keine Vorgaben zu machen, da sie dann dem Leben schade, gewinnt Cassirer nun nichts Zustimmendes mehr ab: »Diese Feststellung beruht auf Nietzsches künstlicher Trennung von Handeln und Denken«. 84 Als Anhänger Schopenhauers begreife er »das Leben als Manifestation eines blinden Willens«, und diese Blindheit gelte ihm als »Grundvoraussetzung des wirklich tätigen Lebens; Denken und Bewußtheit st[eh]en in einem Gegensatz zur Vitalität«. Diese Voraussetzungen lehnt der Kulturphilosoph Cassirer ab, da mit ihnen die Theorie der Historie fragwürdig werde. Das Geschichtsbewußtsein verschaffe uns vielmehr einen freieren Überblick über die Gegenwart und stärke so unserer aktives Handeln für die Zukunft, die sich nur so gestalten lasse. 85 Die große Bedeutung des historischen Bewußtseins erblickt Cassirer nicht zuletzt darin, daß es »die entgegengesetzten Pole der Zeit [verknüpft – C.M.] und […] uns damit ein Gefühl für die Kontinuität von Kultur [verschafft – C.M.]«. 86 Noch distanzierter und abweisender wirken die knappen Äußerungen, die Cassirer 1945 in dem Werk Der Mythus des Staates zu Nietzsche macht. So verweist er einmal darauf, daß der Rassentheoretiker Gobineau am tiefsten von genau demjenigen Gefühl durchdrungen war, »das Nietzsche das ›Pathos der Distanz‹ nennt«. 87 Er meint damit ein Gefühl der persönlichen, familiären, rassischen etc. Überlegenheit, was »allgemeine ethische Maßstäbe und Werte« ausschließt. Außerdem sei »Nietzsches ›Immoralismus‹« ideengeschichtlich gar kein neuer Zug gewesen, weil »er […] schon in Hegels System vorweggenommen [war]«. In ihm schaffe die Auffassung der allgemeinen Geschichte nämlich die gewöhnliche Unterscheidung zwischen ›altruistischen‹ und ›egoistischen‹ Handlungen einfach ab und lasse sie nicht mehr zu. 88 Zur wieder größer gewordenen Distanz zu dem Philosophen Nietzsche mag bei Cassirer während der Kriegsjahre nicht zuletzt der Mißbrauch beigetragen haben, der mit Schlagwörtern aus dessen Werken (›Übermensch‹, ›Wille zur Macht‹ etc.) getrieben wurde.

Ebd., 273 f. (=ECW 23, 193 f.). Ebd., 274 (= ECW 23, 193). 85 Ebd., 274 (= ECW 23, 193). 86 Ebd., 275 (= ECW 23, 194). 87 E. Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1946), Frankfurt a. Main 1988, 306 (= ECW 24, 232). 88 Ebd., 349 (= ECW 25, 265). 83

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Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt I. Die drei Teile der Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29) werden sowohl in der speziell Ernst Cassirer gewidmeten wissenschaft lichen Literatur als auch in vielen, einem systematischen Thema geschuldeten Abhandlungen ausführlich rezipiert,1 weshalb es sich verbietet, Anliegen und inhaltliche Realisierung des dreiteiligen Hauptwerkes noch einmal zu referieren. 2 Vielmehr soll anhand eines konkreten Problems die ungebrochene Aktualität des Cassirerschen Denkens, das die Philosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat, angedeutet werden. Als Referenzproblem dienen uns die in den drei Bänden entworfene Theorie der Ausdrucksfunktion und ihr Zusammenhang mit dem Problem des Lebens. Dieser Zusammenhang macht zudem verständlich, weshalb Cassirer im Unterschied zu Heinrich Rickert den Lebensbegriff für weit mehr als einen ›Modebegriff‹ hält und warum er sich Ende der 20er Jahre intensiv mit der philosophischen Strömung auseinandersetzt, die das Leben zu ihrem Zentralbegriff erhoben hatte. Eine aufmerksame Lektüre der drei Teile legt den Schluß nahe, daß Cassirer hinsichtlich seiner Auffassung der Kultur als eines Ganzen von Ausdrucksformen des Geistes zwischen dem Zweiten (1925) und dem Dritten Teil (1927/29) eine gewisse ›Wendung‹ oder Vertiefung vollzieht. Der 1923 veröffentlichte Erste Teil Die Sprache entwirft eine, im zwei Jahre später publizierten Zweiten Teil Das mythische Denken weitergeführte, a l l g e m e i n e Theorie der Ausdrucksfunktionen des Geistes, die in dem bereits 1927 fertiggestellten Dritten Teil Phänomenologie der Erkenntnis Siehe u. a. U. Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, (CF, Bd. 8), Hamburg 2002. 2 Anlaß für den vorliegenden Beitrag war eine Besprechung der neuerschienenen Bände ECW 11–13, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002, für den Philosophischen Literaturanzeiger, der erste Abschnitt mit den rezensierenden Ausführungen wird hier weitgehend weggelassen. Eine weitere Besprechung von Bänden der ECW durch den Verfasser siehe wie folgt: »Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer. (Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bde. 1–3)«, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 253, 3/4, (2001), 277–296. 1

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(1929) um eine Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung bzw. der Ausdrucksphänomene unterbaut und vertieft wird. Das unmittelbare Ausdruckserleben bzw. die noch ungeschiedene Ausdruckswahrnehmung wird von ihm dabei mit dem »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« identifiziert und als letzte Quelle bzw. Schicht aller kulturellen Symbolisierungsleistungen gedeutet. Mit dem Vollzug der Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung modifiziert sich auch Cassirers Verhältnis zur zeitgenössischen Lebensphilosophie. Bereits zu Beginn der 20er Jahre sieht er in ihr – und in der aus ihr hervorgehenden philosophischen Anthropologie – die wichtigste Repräsentantin der »modernen Philosophie«.3 Aber erst mit der Deutung der Ausdrucksphänomene als dem historischen wie systematischen ›Urboden‹ aller geistig-symbolischen Leistungen bzw. Formen der Kultur eröffnet sich ihm das Verständnis der zeitgenössischen Lebensphilosophie als einer Richtung, innerhalb derer einige Vertreter, trotz des Entgegensetzens von unmittelbarer Intuition des Lebens und begriffl icher Reflexion, von Leben und Kultur, sich echte Verdienste darum erworben haben, die Aufmerksamkeit der Philosophen auf die Ausdrucksphänomene und ihren protosymbolischen Charakter gelenkt zu haben. Aus dem Grunde sucht sich Cassirer seit 1927 verstärkt darüber klarzuwerden, inwieweit eine systematische Nähe dieser Theorien zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ besteht. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die allgemeine Ausdruckstheorie des lebendigen Geistes, mit deren Hilfe sich das Ganze des geistigen Kulturlebens erschließen läßt. II. Als Cassirer in den Jahren des Ersten Weltkrieges beginnt, die naturwissenschaft lichen Problemstellungen gezielt auf geisteswissenschaft liche auszuweiten, sieht er sich gezwungen, die in der systematischen Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) vertretene Erkenntnistheorie zu erweitern. Im Resultat gelangt er zu einer »›Formenlehre‹ des Geistes«, d. h. zur »Gesamtheit seiner Funktionen«, 4 die »die verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt« erfaßt und voneinander abgrenzt. Dabei entsteht »der Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen«,5 die die Subjektivität des Geistes ausmachen, worunter E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 46. 4 Ebd., 236. 5 Ebd., VII. 3

Das Ausdrucksphänomen

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die »neuere Philosophie« die »Spontaneität des Geistes« verstehe, »die sich gleich sehr als Spontaneität des Gefühls und des Willens, wie als solche der Erkenntnis erweist«. 6 Das durch diese allgemeine Ausdruckstheorie, die nicht zu deduzieren, sondern aus dem Bestand der Erfahrung herauszuarbeiten ist, eröffnete Philosophieren vom »Standpunkt des Systems der geistigen Ausdrucksformen« aus erschließt sich mit den Grundformen Mythos, Sprache und Wissenschaft als ›Philosophie der symbolischen Formen‹.7 Die symbolischen Formen werden als geistige Ausdrucksformen und damit als geistige Auffassungsweisen gedeutet, 8 die in einer Stufenfolge aus der unmittelbaren Welt des Lebens die »geistige Kultur« als ein System verschiedener Sinn- und Bedeutungsganzheiten ausbilden.9 In jeder der Auffassungsweisen wird »die passive Welt der bloßen [sinnlichen – C.M.] Eindrücke […] zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks« umgebildet.10 Andererseits erschließt sich der Gehalt des Geistes allein in seinen Äußerungen, für die er sich sinnlicher Zeichen bedient.11 Auf die Weise bekundet sich die reine, ideelle Aktivität des Geistes in »Systemen sinnlicher Symbole«, die mit einem »Objektivitäts- und Wertanspruch« auftreten.12 Der »systematische Überblick« über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks führt auf »eine Art Grammatik der symbolischen Formen«.13 Jede symbolische Form bzw. geistige Energie besitze einen eigenen »Ausdruckswillen«.14 Zum »Wesen jeder echten geistigen Ausdrucksform« gehöre eine innere »Dynamik«, die die scheinbaren Gegensätze des Innen und Außen, des Lebens und der Kultur ebenso verflüssigt15 wie den des Flusses und der Fixierung.16 Indem die »geistigen Ausdrucksformen« die Objektvierung eines rein Innerlichen zu einem Äußerlichen vollziehen, durchsetzen sie die »Anschauung des Äußeren« mit »innerlichen Bestimmungen«, mit dem »Pulsschlag eines inneren Lebens«.17 Deshalb, und dies formuliert Cassirer bereits 1923, hängt jeder noch so lebensfernen Aus-

Ebd., 88. E. Cassirer, PSF. II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, X. 8 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 101. 9 Ebd., 9. 10 Ebd., 10. 11 Ebd., 16 f. 12 Ebd., 19. 13 Ebd., 17. 14 E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 276. 15 Ebd., 117. 16 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 44 f. 17 E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 122. 6 7

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I. Leben und Form

drucksform des Geistes weiterhin ein emotionaler Charakter subjektiven Erlebens an.18 Für die allgemeine Ausdruckstheorie geistiger Formen und Bedeutungen fungieren die in Anspruch genommenen Zeichen als »eine Energie des Inneren, die sich in einem Äußeren ausprägt und objektiviert«.19 Das sinnliche Zeichen gewinnt ein »geistiges Leben«, indem dasjenige, »was es unmittelbar ist«, gegenüber dem, »was es mittelbar leistet und ›besagt‹«, zurücktritt. 20 Zudem macht Cassirer auf den Zusammenhang des Zeichencharakters der geistigen Ausdrucksformen mit der »Urfunktion der Repräsentation« des Bedeutungsganzen, der die »Grundfunktion des Bedeutens« zugrunde liegt, aufmerksam.21 Die somit symbolisch fungierenden Zeichen dienen ausschließlich als Mittel des »Ausdrucks für bestimmte Bedeutungskomplexe«.22 Mit dem Fortschreiten der symbolischen Medien (z. B. der Sprache) im Ganzen der Strukturformen der Erkenntnis geht der direkte Zusammenhang zwischen auszudrückender (innerer/ äußerer) Wirklichkeit und symbolischem Zeichensystem als Mittel dieses Ausdruckes immer mehr verloren. Am Ende sind z. B. die Sprachlaute zu bloßen »Bezeichnungs- und Bedeutungslauten« geworden, ihr materialer, sinnlicher Lautklang hat nun mit dem durch sie bezeichneten Inhalt nichts mehr gemein. 23 Jede der »selbständigen geistigen Grundfunktionen« (Sprache, Kunst, Mythos, Wissenschaft) besitzt eigene »Ausdrucksformen und Ausdrucksgesetze«. 24 In dem sich abzeichnenden System der Kultur, das sich als ein »Ganzes des geistigen Lebens« erschließt, 25 nehmen alle Ausdrucksformen somit eine »autonome Stellung« ein. 26 Die symbolischen Gestaltungen des Geistes, in »geistigen Energien« gründend, bilden niedere und höhere »Stufen« der kulturellen Wirklichkeit und machen so die »geistige Kultur« aus. 27 Diesen Prozeß der Kulturkonstitution bezeichnet Cassirer in Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) als das »konkrete Leben des Geistes« bzw. als die »konkreten Grundformen

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E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 91. Ebd., 23. Ebd., 25. Ebd., 32, 40. Ebd., 40. Ebd., 136. Ebd., 123. Ebd., 6. Ebd., IX. Ebd., 9.

Das Ausdrucksphänomen

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des geistigen Lebens«. 28 Die Stufenfolge autonomer geistiger Ausdrucksformen durchlaufend konstituiert sich die in »ganz verschiedenen Lebensund Kulturkreisen«29 und »Kulturstufen«30 lebende Menschheit ebenso wie die bedeutungsbesetzte kulturelle Wirklichkeit.31 An Oswald Spengler erinnernd hält Cassirer Ausschau nach dem jeweiligen Symbol, das die ästhetische oder religiöse »Grundanschauung« eines Kulturkreises bzw. einer Kulturstufe zum Ausdruck bringt.32 Mit Blick auf Hegels Phänomenologie des Geistes hebt er die für den Kulturprozeß charakteristische Besonderheit hervor, daß der Geist nicht nur in den von ihm selbstgeschaffenen Symbolen (Medien) ›lebt‹, sondern sie zunehmend als das ›begreift‹, was sie sind.33 Die Tatsache, daß sich für »die Gesamtheit der geistigen Ausdrucksfunktionen« ihre Leistungen »zunächst in durchaus unbewußter Form« vollziehen, erläutert Cassirer anhand einer Philosophie der Technik, die die Prägung der Außenwelt durch die sinnlich-leiblichen Organe des Menschen thematisiert. 34 Nach und nach entnimmt der Mensch seinen »geistigen Bildungen« schließlich »die objektiven Maße, an denen er sich mißt und durch die er sich als einen selbständigen Kosmos mit eigentümlichen Strukturgesetzen begreift«.35 Dieses »Verhältnis zwischen dem ›Innen‹ und ›Außen‹« bilde »für das Verständnis aller geistigen Ausdrucksformen die Richtschnur«.36 Wobei aus der Tatsache, daß sich jede »konkrete Grundform des geistigen Lebens«37 nicht lediglich als Teil der Wirklichkeit, sondern als »ein Ganzes« setzt und als solches »absolute Geltung« für sich in Anspruch nimmt, also versucht, »die eigentümliche Prägung, die sie mit sich führt, der Gesamtheit […] des geistigen Lebens aufzudrücken«, ernste »Konflikte der Kultur und Antinomien des Kulturbegriffs« resultieren.38 Die Gesamtheit der geistigen Ausdrucksformen bildet für Cassirer allerdings kein mechanisches Aggregat, sondern wird »als geistig-organische Einheit gedacht«.39 Indem er betont, daß ihm die Grundfunktionen geistigen Ausdrucks als die »letzten

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Ebd., 45. E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 121. Ebd., 128. Ebd., 16. Ebd., 151. Ebd., 33. Ebd., 255 f. Ebd., 257. Ebd., 260. E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 45. Ebd., 11. E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., XI.

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I. Leben und Form

Positionen des Geistes und des Lebens« gelten, macht er auf das Übergreifende, nicht auf das Trennende, von Geist und Leben aufmerksam. 40

III. Wenn Cassirer seit 1927 das Ausdrucksphänomen, von dem als »elementarer Ausdrucksbewegung« auch schon im Ersten Teil Die Sprache (1923) die Rede ist, 41 als das Grundphänomen des Lebendigen überhaupt beschreibt, dann geht dies mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für den Lebensbegriff und die Lebensphilosophie einher. Dabei hält er an der allgemeinen Ausdruckstheorie ebenso fest wie an der Idee einer dreifachen Stufenfolge der Ausdrucksform Sprache (unmittelbar emotionaler Ausdruck, anschaulichdarstellender Ausdruck und Ausdruck des begrifflichen Denkens)42 und an den Goethe entlehnten drei Stadien des »mimetischen, analogischen und des symbolischen Ausdrucks«, die jede Ausdrucksform des Geistes einmal durchschreite 43 . Gleichzeitig führt Cassirer in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) das sich hieran anlehnende Schema von drei Grundfunktionen oder Grunddimensionen des Geistes, die »geistige Trias der reinen Ausdrucksfunktion, der Darstellungs- und der Bedeutungsfunktion«, ein, die als »symbolische Funktionen« sowohl eine dreistufige Weltauffassung (Ausdruckswelt, Anschauungswelt, Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis) als auch Strukturformen der Erkenntnis bilden. 44 Hier ist der Terminus ›Ausdruck‹ nunmehr der elementarsten, ursprünglichsten Funktion reserviert, an der sich menschliches von tierischem Dasein zu scheiden beginnt, und die er Ausdruckswahrnehmung nennt. In scheinbar geist- bzw. ideenlosen, bloß sinnlich-emotionalen Lebensäußerungen blitzt bereits eine ideelle Formung auf, was den Begriff Ausdruck legitimiere. Diese »eigene Weise der geistigen Formung« in der Ausdruckswahrnehmung erweist sich aber als janusköpfig, 45 da sie der Unmittelbarkeit des Lebens und Erlebens noch verhaftet ist, obwohl sie »doch andererseits über diese bereits hinausgeht«. 46

Ebd., 5. E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 125. 42 Ebd., V f. 43 E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., 277 f. 44 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, V f., 114. 45 E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., XII. 46 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 125. 40 41

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Die elementare Ausdrucksbewegung, die ihre Gehalte in ungeschiedener, unmittelbar präsenter Weise erlebt, realisiert in ihren Ausdrucksphänomenen (Mitteilung, Wahrnehmung, Geste) die unauflösliche Einheit von Leben und Sinn (Bedeutung). 47 Der Ausdruckssinn eines Ausdrucksphänomens wird grundsätzlich unmittelbar erfahren, muß also nicht nachträglich gedeutet oder erklärt werden. 48 Damit erweist sich der Ausdruckssinn als »die einzige Form der Unmittelbarkeit, die Cassirer anerkennt«. 49 Werden die Ausdrucksphänomene in der phänomenologischen Analyse in ihrem Bestand aufgewiesen, sieht sich Cassirer auf das »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« zurückgeführt.50 Die Unmittelbarkeit des Sinnverstehens im elementaren Ausdruckserlebnis bindet dieses an das Leben als die Unmittelbarkeit par excellence. Die Unmittelbarkeit des Lebens schließt das »Urphänomen des Ausdrucks«, dessen Sinn unmittelbar erfaßt, verstanden wird, ein.51 Der Terminus eines »Grundphänomens des ›Lebendigen überhaupt‹« meint prononciert diese beiden Aspekte als korrelative und setzt sich somit gegen eine bestimmte lebensphilosophische Lesart ab, die das ideelle, geistige Moment als dem Leben äußerliches und feindliches Moment behauptet. Gleichzeitig gilt ihm Leben bzw. Lebendiges als »stetes Geschehen«, als »eine sich immer erneuernde Metamorphose« ohne »fertige Gestalt«, dabei aber gestalthaft , so wie dies das mythische Bewußtsein an seinen Gehalten erlebt.52 Die dem Grundphänomen des Lebendigen zugeschriebene subjektiv-fließende Unmittelbarkeit des Erlebens ohne ein Transzendieren des Hier und Jetzt wird durch die der Ausdruckswahrnehmung eigene latente Differenz von unmittelbar erfaßbarem Sinn, den Cassirer als eine ideell-geistige Dimension deutet, und anschaulich Sinnlichem bereits unterlaufen, obwohl sie noch keinen »Bruch« zwischen Bild und Sache, Zeichen und Bezeichnetem kennt.53 Denn im Augenblick der Ausdruckserlebnisse leben wir völlig in ihnen, gehen in ihnen auf. Wenn diese Differenz bzw. der Bruch in einem späteren Stadium bewußt und gewußt wird, schlägt sich das im reflexiven So nennt Cassirer die Ausdruckswahrnehmung «in ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit […] zugleich ein Leben ›im‹ Sinn«. – E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 231. 48 Ebd., 80 f. 49 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 71. 50 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 99. 51 Ebd., 82. 52 Ebd., 185. 53 Ebd., 114. 47

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Denken als das antinomische Auseinanderlegen beider Aspekte nieder. Auf den Vorgang der Distanzierung, der sich im Bewußtsein ereignet, wenn es die Setzung der in ihm zunächst bloß latent bestehenden Differenz vollzieht, wobei es »aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht«,54 kommt Cassirer mehrfach zu sprechen. Der Vorgang hat das elementare, emotionale Ausdruckserlebnis allerdings bereits unwiderruflich überschritten. In den physiognomischen Wahrnehmungsakten stellt sich schon Etwas in einem Anderen dar, wird, ohne sich dessen bewußt zu sein, keimhaft die mittelbare Darstellungsfunktion vollzogen. So repräsentiert der Angstschrei bereits ein Gefühl der Furcht, obwohl er zugleich das ausgedrückte Furchtgefühl selbst ist. Das »schlichte Ausdrucksphänomen« besitzt also einen »ursprünglichen ›Symbolcharakter‹«, der jedoch vom eigentlichen Symbol zu unterscheiden ist, das auf derjenigen Differenz »von ›Bild‹ und ›Sache‹, von ›Zeichen‹ und ›Bezeichnetem‹« ruht, die die »reine Ausdrucksfunktion« noch nicht kennt.55 Zunächst schien für Cassirer die Urstufe des elementaren Ausdrucks mit der symbolischen Form des Mythos, die sich der geistigen Energie des emotionalen Ausdrucksvermögens bedient, nahezu identisch zu sein. Bildet für ihn das mythische Bewußtsein doch den »geistigen Urgrund und Mutterboden« für alle weiteren Grundformen der Kultur.56 Doch dann wird ihm klar, daß der Mythos als symbolische Form aus »der geistigen Urschicht«, also aus der Schichte der Ausdrucksphänomene, »stammt«.57 In der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) tritt uns die elementare Ausdrucksfunktion als eine der mythischen Kulturform vorhergehende Urenergie des Geistes entgegen, die gleichzeitig als das Urphänomen des Lebens zu deuten ist. Die »reine Ausdrucksfunktion als solche« liege »dem Auseinandertreten« von Mythos und anderen Formen des Geistes ganz klar »voraus[…]«.58 Ihre ›Wahrheit‹ ist »eine noch vor-mythische, vorlogische«. In der emotionalen Ausdruckswahrnehmung finden wir »den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgend einer Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben«.59 Diese Deutung fügt sich in die präzisere Fassung ein, die die allgemeine Ausdruckstheorie des Geistes im Jahr 1927 erfährt. Die dem Dritten Teil zugrundegelegte Stufenfolge von Ausdrucks-, DarstelEbd., 105. Ebd., 104 f. 56 E. Cassirer, PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 1. 57 Ebd., 85. 58 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 91. 59 Ebd., 91. 54 55

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lungs- und Bedeutungsfunktion als den »qualitativ-verschiedenen Arten der Sinngebung«60 hat in den unmittelbaren Ausdrucksphänomenen ihr letztes Fundament erhalten. Indem sie den Übergang von der ausschließlichen Lebenszweckmäßigkeit zum Lebenssinn vollzieht, bildet die Ausdruckswahrnehmung die eigentliche Grenzscheide zwischen tierischem und menschlichem Dasein. Dabei teilen wir die primitive, natürliche Form des Ausdrucksbewußtseins, in welchem das mythische Bewußtsein wurzelt, mit dem hochentwickelten tierischen Dasein. Am Anfang ist das ›Erleben‹ nämlich noch mehr ein rezeptives ›Erleiden‹ von Eindrücken der Umwelt bzw. des eigenen Körpers. 61 Da das tierische Bewußtsein von solchen rezeptiven, erleidenden »Ausdruckserlebnissen« erfüllt ist, habe Klages durchaus Recht mit seiner Annahme, daß das Tier noch keine bildhaften Darstellungsmomente in den Ausdruckserlebnissen kennt. 62 Trotzdem müsse eine Forschung, die diese letzte Schicht des Ausdrucksbewußtseins der menschlichen Lebensform aufsuchen will, die »Reihe der organischen Lebensformen« bis zum Tier zurückschreiten, da bereits hier die Funktion einer Allbelebung der Wahrnehmungswirklichkeit durch rezeptiv-erleidende Ausdruckserlebnisse walte. 63 Die »Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse«64 findet im Mythos, der gleichzeitig objektive Form des Geistes und eine seiner subjektiven Quellen ist, die Ausdrucksphänomene erstmals auf kulturellsymbolische Weise realisiert. Sie tragen dabei noch »den Charakter echter Präsenz« und umfassen eine Fülle »ursprünglich ›physiognomischer‹ Charaktere«. 65 Für das mythische Wahrnehmungsbewußtsein, das weder Personenwelt noch Dingwelt als »verschiedene Kreise des Lebens« kennt, gilt das metamorphosische Grundmotiv. 66 Als Ausdrucksbewußtsein erlebt es die allbelebte Wirklichkeit unmittelbar, ohne vermittelnden Umweg mit Sinn besetzt, d. h. mit »reinen Ausdruckscharakteren« erfüllt, die die Wirklichkeit unmittelbar an sich tragen. 67 In der mythischen Überformung der reinen Ausdruckserlebnisse wird lediglich ein erster Schritt hin zum Übergang aus der Unmittelbarkeit des Lebens zum mittelbaren geistigen Leben getan, denn die ihnen immanente, aber unbewußte Doppelaktrichtung hin zum ›Du‹ und hin zum ›Es‹, die 60 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., 63. Ebd., 83. Ebd., 124. Ebd., 83 f. Ebd., 74. Ebd., 74 f. Ebd., 79. Ebd., 94.

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allein die theoretisch-philosophische Reflexion über das Ausdrucksphänomen auszuweisen vermag, wird noch nicht wirklich gesetzt. 68 Dennoch wird das einzelne »Ausdrucksphänomen« in individuellen Lebenszentren, die sich aus »dem Kontinuum des Lebensstromes« und damit auch aus einer »undifferenzierten Gesamtheit« alles Lebendigen herausgelöst haben, »nicht nur erlebt, sondern […] gleichsam charakterologisch gewertet«. 69 Dies vollbringt bereits das mythische Ausdrucksbewußtsein dank der ihm eigenen Intentionalität.70 Die Umprägung des Allbelebten in speziell Menschliches läßt die individuellen Lebenszentren zur Bewußtheit erwachen. Gemeinsam mit der sich davon abhebenden, sprachlich geordneten Dinganschauung beginnen symbolische Leistungen immer kräftiger Raum zu greifen. Erst auf der Stufe der Darstellungsfunktion überschreitet z. B. die Sprache den unmittelbaren Augenblick, in dem das »reine Ausdruckserlebnis […] lebt«.71 Nun kristallisieren sich zwei unterschiedliche Wahrnehmungsformen – das ›Verstehen von Ausdrücken‹ und das ›Wissen von Dingen‹ – heraus, wobei der »Wahrnehmung des Lebens« und ihrem »reinen Ausdruckscharakter« die Priorität der Ursprünglichkeit eignet.72 Die der elementaren Ausdrucksfunktion immanente Richtungsdifferenz wird vollzogen und offenbart, indem der dem Erlebnis der »Ausdrucks-Einheiten und Ausdrucks-Ganzheiten« korrelierende »einheitliche Lebensstrom«, je nach Richtung bzw. »Form des [ideellen – C.M.] Schauens«, entweder zu einem objektiven Gegenstand oder zu einem »lebendigen Subjekt« zerlegt wird.73 Auch die für ein Ichbewußtsein notwendige Subjektivierung des Geistes setzt eine Objektivierungsleistung voraus, wie sie erst in der »geistigen Region« der Darstellung bzw. der räumlich-zeitlichen-dinghaften Anschauung durch die Sprache und die Sprachzeichen erbracht wird.74 Die »geistige Schicht« der alles verlebendigenden, personifi zierenden »Ausdruckswahrnehmung« (Du) und die der strukturell und historisch späteren, weil der Darstellungsfunktion bedürfenden »Dingwahrnehmung« Ebd., 105 f. Ebd., 102. 70 Ebd., 101. Der Husserls Phänomenologie entlehnte Gedanke der Intentionalität meint bei Cassirer etwas Ähnliches wie sein eigener Begriff der Repräsentation (ebd., 223 ff.). Jedes »aktuelle Erlebnis« fasse die beiden Momente der Präsenz (Gegenwärtiges) und der Repräsentation (Vergegenwärtigung) »in unlöslicher Einheit in sich« (ebd., 228), wobei ihre Wechselbeziehung das Sinngebende ist. 71 Ebd., 128. 72 Ebd., 69. 73 Ebd., 97. 74 Ebd., 86. 68 69

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(Es) dienen Cassirer ebenso wie die aus der Ausdruckswahrnehmung heraustretende Ichwahrnehmung (Ich) als metaphysischer Unterbau einer Grundlegung der begriffl ichen Erkenntnisweisen in den Wissenschaften. Diesen Ansatz vertieft er Ende der 30er Jahre in dem Manuskript »Über Basisphänomene«75 und in dem Text »Über Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis«76 . In der Konsequenz sieht Cassirer auch die sinnlich-sachhaltige Wahrnehmungswelt des empirischen Weltbildes in einer »starken und triebkräften Unterschicht« des Lebens wurzeln, d. h. in den »ursprünglichen und unmittelbaren Ausdruckscharakteren« der Ausdruckswahrnehmung.77 Es sei deshalb dem Lebensphilosophen Klages anzurechnen, daß er die moderne wissenschaft liche Psychologie »zu dieser Tiefenschicht der reinen Ausdruckserlebnisse« habe wieder zurückfi nden lassen.78 Damit behält die Lebensphilosophie teilweise Recht gegenüber der reinen Begriffsphilosophie und dem Sensualismus. Denn die im Ausdrucksphänomen präsente und erreichte »Grund- und Urschicht der Wahrnehmung« ist durch keine Abstraktion des Denkens jemals restlos »zu beseitigen und auszulöschen«. Auch das Absehen von ihr im theoretischen Denken »kann die Welt der Ausdrucksphänomene als solche nicht zum Verschwinden bringen«.79 Damit ist auch der in ihr gegenwärtige Lebensbezug durch das reflektierende und abstrahierende Denken nicht völlig zu beseitigen. Da letztlich alle symbolischen Formen des Geistes einerseits diese elementare Stufe des Ausdrucks durchlaufen, und sie andererseits niemals völlig hinter sich bringen, sind und bleiben sie dem »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« verhaftet. Gleichzeitig gibt es für das theoretische Bewußtsein »keinen Rückweg mehr in die Welt der mythischen Schattenbilder« oder in die Welt der unmittelbaren Ausdruckserlebnisse, es sei denn als »bloßer Rückfall« in eine »überwundene Stufe des Geistes«. 80 Dennoch müsse es sich um die mittelbare Rekonstruktion des mythischen und des Ausdrucksbewußtseins bemühen. Auch wenn sich weder das Urphänomen des Lebens noch das E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 113–198. 76 E. Cassirer, Wege und Ziele der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1998. 77 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 74. 78 Ebd., 74. 79 Ebd., 81. 80 Ebd., 87. 75

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des Ausdrucks durch die Denkmittel der ihnen einmal entsprungenen, sie gleichsam negierenden geistigen Formen (Logik, Erkenntnis) adäquat fassen und bestimmen lassen, bleibt doch die Rekonstruktion ein indirektes Erklären und ein Sichannähern. 81 Vom »Kontinuum des Lebensstromes«, vom »Ganzen des Lebens«, von »undifferenzierter Gesamtheit« etc. als von wissenschaft lich gesicherten Annahmen spricht Cassirer deshalb nur im Sinne einer theoretisch mittelbar rekonstruierten und rekonstruierbaren, annähernd beschreibbaren unmittelbaren Welt des Ausdruckserlebens. Die Versprechungen der Lebensphilosophen, durch Intuition des Lebens diese Grenzen der begrifflichen Erkenntnis zu überfliegen und in den vorbegrifflichen, vorlogischen Zustand wissentlich zurückkehren zu können, weist er als illusorisch ab. Die Ausdruckswahrnehmung gehört als »dauernder Bestand« folglich auch in die Welt des objektiven Geistes. 82 Auf die Präsenz des Lebens, als Ausdruck physiognomischer Charaktere, in der sprachlich ausgedrückten Dingwahrnehmung habe u. a. Klages aufmerksam gemacht. 83 Dieser »seelisch-geistige Grundbestand« lebt nicht zuletzt deshalb in den Darstellungs- und Bedeutungsfunktionen fort, weil der Quell nicht plötzlich zu fließen aufhört, wenn er »in ein anderes […] Strombett fortgeleitet« wird. 84 Bricht aber das theoretische und logische Denken selbstherrlich »alle Brücken zur reinen Ausdruckswelt ab«, dann wird aus dem einst unmittelbar gegebenen »Phänomen« plötzlich ein unlösbares »Problem«. Auch diese Einsicht bedeutet eine gewisse Anerkennung der Lebensphilosophie. Allerdings stifte die bei ihren Vertretern vorherrschende metaphysische Manier, die der Ausdruckswahrnehmung latent innewohnende Differenz der Richtungen zu absoluten Unterschieden zu verklären, erst ein unlösbares theoretisches Problem. 85 Das Dilemma bestehe für den Philosophen vielmehr genau darin, daß er, um der metaphysischen Verabsolutierung dieser Gegensätze (außen-innen, objektiv-subjektiv, unmittelbar-mittelbar, Sache-Bild etc.) zu entgehen, immer »wieder zu ihrer eigentlichen Quelle« – den Ausdrucksphänomenen – hinabsteigen muß. In den philosophischen Blick läßt sich diese Quelle aber nur dann nehmen, »wenn man über sie hinausgeht«, wenn man die Ausdrucksfunktion »als Glied innerhalb eines

Ebd., 90 f. Ebd., 87. 83 Ebd., 90; das gelte auch für die ästhetische Formwelt, in der die Ausdruckswahrnehmung «sehr erheblich modifi ziert und umgestaltet«, dabei aber «schlechthin nicht abgetragen« wird (ebd., 99). 84 Ebd., 90. 85 Ebd., 116 f. 81

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übergreifenden geistigen Ganzen betrachtet«. 86 Doch damit ist sie zerstört, überwunden, zerlegt und nur noch mittelbar zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund sieht Cassirer das Ergebnis von Max Schelers Untersuchungen, wonach »die ›Ausdrucksfunktion‹ ein echtes Urphänomen ist, das auch im Aufbau des theoretischen Bewußtseins […] sich in seiner Ursprünglichkeit und in seiner unvertauschbaren Eigenheit behauptet«, 87

als eine Bestätigung seiner Auffassung. Wenn er nämlich erklärt, daß die reine Ausdrucksfunktion, die niemals in einer anderen geistigen Grundfunktion »untergehen« kann, für »das Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« steht, das ebenfalls nicht »erlöschen« könne, 88 dann beruft er sich auf Scheler. Mit der in allen geistigen Funktionen und Formen sich immer behauptenden Ausdrucksfunktion manifestiert sich auch das Urphänomen des Lebens. 89 Nach Cassirer bildet die »Ausdruckswahrnehmung« außerdem die Grundlage für »jene Form des Wissens, in der sich uns die Wirklichkeit […] von anderen ›Subjekten‹ erschließt«, und die deshalb selbst in der wissenschaft lichen Welt ein »eigenes Gebiet« behauptet.90 Neben der uns unmittelbar gewiß gegebenen natürlichen Wahrnehmungswelt sei auch das Wissen von fremden Subjekten ein »ursprüngliches«, unmittelbares Gewißsein, das in uns »keine Form der Reflexion, der mittelbaren Schlußfolgerung« hervorrufen kann. Die »Erlebnisschicht«, in der dieses evidente Wissen um den Anderen »wurzelt«, entschlüsseln Scheler und Cassirer als »die Wirklichkeit des Lebens«, der eine »selbständige Lebenskraft innewohnt«,91 d. h. als das Urphänomen des unmittelbaren geistig-emotionalen Ausdruckslebens, das nicht weiter zu hintergehen, sondern nur ideell vermittelnd zu schauen und mittelbar rekonstruierend aufzuweisen ist. Mit der Annahme eines unmittelbaren Wissens vom Anderen in Analogie zum unmittelbaren Ausdruckserlebnis ›rehabilitiert‹ Cassirer erneut einen bestimmten Begriff des Lebens bzw. eine gewissen Tendenz der Lebensphilosophie. Gleichzeitig erweitert er sein altes Konzept der Erzeugung, der Konstruktion unanschaulicher Allgemeinbegriffe in den mathematischen Wissenschaften um die Erkenntnis, daß auch in diesem Prozeß das unerreichbare Grundphänomen des Lebens als Ausdrucksphänomen 86 87 88 89 90 91

Ebd., 117. Ebd., 98. Ebd., 99. Ebd., 82. Ebd., 88. Ebd., 91.

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I. Leben und Form

am Wirken ist und einen Platz besetzt, den keinerlei mathematische Konstruktion ersetzen kann.92 Mit der speziellen Theorie der Ausdruckswahrnehmung bzw. der physiognomischen Ausdrucksphänomene scheint eine Position gefunden, die Cassirer mit Lebensphilosophen wie Klages, Scheler und auch Spengler weitgehend teilt. Das Leben als ursprünglich emotionale, später bildhafte Ausdrucksbewegung, die der sprachlich-begrifflichen Zeichensysteme zunächst nicht bedarf, und die Betonung der vorbegrifflichen, nichtdiskursiven Ausdrucksweise sind bekannte lebensphilosophische Motive. Allerdings weist Cassirer nicht nur den Glauben ab, ein Wissen um diese tiefste Schicht sei durch unmittelbare Intuition zu haben, sondern spricht sich auch gegen jegliches Verabsolutieren oder Romantisieren des Ausdruckslebens aus. Die menschliche Kultur als ein Ganzes von objektivierten Symbolisierungen ist nämlich ohne die Schichten des repräsentativ-darstellenden und des rein bedeutenden Ausdrucks nicht denkbar. Deshalb ist für ihn auch das »Darstellungsphänomen« ein unableitbares »echtes Urphänomen«,93 und die »Formen und Ordnungen der ›Repräsentation‹« besitzen »Ursprünglichkeit« und gehören keineswegs zu »einer Schicht der bloßen Mittelbarkeit«.94

In dem Zusammenhang würdigt Cassirer in PSF, III. Teil, daß auch Scheler in Wesen und Formen der Sympathie (1923) darauf aufmerksam gemacht hat, daß der «unmittelbare, der schlichte Ausdrucks-Sinn«, der auf das Fremdpsychische weist, anders gefaßt und erklärt werden müsse als durch theoretisches und logisches Denken, also durch mittelbares Schließen, da dieses uns nie wirklich zu diesem Erlebnisphänomen zurückbringe. Für ihn ist die auf dem unmittelbaren Ausdrucks-Sinn ruhende ›Du-Evidenz‹ ein Urphänomen, das sich nicht mathematisch mittelbar konstruieren oder erzeugen, sondern nur ideell erschauen läßt (ebd., 96). 93 Ebd., 136 f. 94 Ebd., 141. 92

Geist und Leben in der Philosophie Cassirers

I

n der internationalen Cassirerforschung wird seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf Ernst Cassirers zeitweise sehr intensive Rezeption der zeitgenössischen Lebensphilosophie hingewiesen.1 Cassirer (1874–1945) vollzieht zudem insbesondere gegen Ende der 20er Jahre eine erstaunliche Annäherung an den Begriff des Lebens und weist ihm im eigenen philosophischen Spätwerk einen zentralen konzeptionellen Platz zu. Für die Forschung stellen sich vor diesem Hintergrund die Fragen, warum Cassirer diese Annäherung vollzogen hat, was sie für das Konzept der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bedeutet, und ob diese Annäherung nicht eine lange Vorgeschichte im umfangreichen, mit Leibniz’ System (1902) beginnenden Frühwerk hat, 2 die bislang in der Rezeption zu wenig Beachtung gefunden hat? Um die ganze Brisanz dieser Fragerichtung zu ermessen, soll zunächst in fünf knappen Bemerkungen auf den geistesgeschichtlichen Kontext dieses Themas hingewiesen werden. 1. Nahezu alle bedeutenden philosophischen Systeme in Geschichte und Gegenwart setzen Leben und Vernunft irgendwie in wechselseitige Beziehung und Abhängigkeit. Das fi nden wir ganz selbstverständlich bei Platon, Leibniz, Kant oder Hegel.3 2. Trotzdem wird im modernen philosophischen Bewußtsein der Begriff des Lebens immer mehr als ein Gegenbegriff oder ein Gegensatz zur Vernunft, zum Denken aufgefaßt und behandelt. Dabei spielte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Philosophie der Romantik als Gegnerin der Aufk lärungsphilosophie eine entscheidende Rolle. 3. Ende des 19. Jahrhunderts macht bekanntlich eine ganze philosophische Richtung den Lebensbegriff als Gegenbegriff zur abstrakten logischen Vernunft zu ihrem Zentralbegriff und ihrem NamensVgl. z. B. J.M Werle, »Ernst Cassirers nachgelassene Aufzeichnungen über ›Leben‹ und ›Geist‹ – zur Kritik der Philosophie der Gegenwart«, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/ E.W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. Main 1988, 274–289; E.W. Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: Ernst Cassirer, Geist und Leben. Schriften zur Lebensordnung von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Hrsg. von E.W. Orth, Leipzig 1993, 9–25; Th . Knoppe, »Das Leben: ein Traum. Ernst Cassirer und die Lebensphilosophie«, in: E.W. Orth/H. Holzhey (Hrsg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994, 457– 473. 2 E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998. 3 Siehe z. B. V. Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 1992. 1

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I. Leben und Form

geber. 4 4. Nunmehr scheinen die Marburger Schule des Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Natorp), der sich Cassirer lange zugehörig fühlt,5 und die Lebensphilosophie (Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und Oswald Spengler) diesen radikalen philosophischen Gegensatz geradezu zu verkörpern. 5. Hinzu kommt, daß die Vernunft kritik der politisch oft sehr konservativen, manchmal reaktionären Vertreter der Lebensphilosophie in der liberalen bürgerlichen Kultur als ›Zerstörung der Vernunft‹ wahrgenommen wurde. Deshalb tat man vielfach – in Ost und West – die ganze philosophische Richtung insbesondere seit den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr pauschal als geist- und vernunftfeindlich, irrationalistisch und »präfaschistisch« ab (Georg Lukács). 6 Darauf läßt sie sich aber keineswegs reduzieren (Ferdinand Fellmann).7 Vor diesem Hintergrund mag der Versuch, eine enge Verbindung zwischen der mittelbare Repräsentation und Symbolisierung betonenden Philosophie Cassirers u n d der auf einen Begriff des unmittelbaren, distanzlosen Lebens oder Erlebens setzenden Lebensphilosophie herauszuarbeiten, zunächst geradezu abenteuerlich erscheinen. Gilt doch die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ noch heute [d. h. 2004 – C.M.] vielen als eine exemplarische philosophische Richtung in der Tradition rationalistischer und transzendentaler Vernunftphilosophie. Doch seit 1995 die Cassirerschen Nachlaßmanuskripte aus dem Jahre 1928 durch John M. Krois publiziert wurden, 8 die im Zusammenhang mit dem III. Teil des Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen entstanden waren,9 sind die Antworten auf diese Fragen sowohl noch dringlicher als auch gleichzeitig praktikabler H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit (1920), 2. Aufl . Tübingen 1922; K. Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg/ München 1995. 5 M. Ferrari, Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, Aus dem Italienischen übersetzt von M. Lauschke, Hamburg 2003. 6 G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft (2. Aufl. 1955), 3. Aufl., Berlin und Weimar 1984. 7 F. Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek bei Hamburg 1993. 8 E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 3–109, 199–271. 9 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001; PSF, II. Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002; PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002. 4

Geist und Leben

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geworden. Die Manuskripte – zwei Kapitel zur Philosophie der Gegenwart und umfangreiche vorbereitende Materialien – enthalten in der Tat eine erstaunlich zustimmende, würdigende Kritik wichtiger Vertreter der Lebensphilosophie wie Georg Simmel, Max Scheler, Ludwig Klages, Oswald Spengler und Henri Bergson. Sie enthalten aber zudem den systematischen Versuch, den Begriff des Lebens als Grundbegriff des symbolischen Aufbaus von kulturellen Sinneinheiten zu deuten. Das ist besonders wichtig, weil Cassirer diese beiden Kapitel als systematischen Abschluß, als Resümee seines Hauptwerkes konzipiert hat. Später entstandene Texte wie die Manuskripte »Über Basisphänomene« (1935/40)10 und »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« (1937/40)11 enthalten ebenfalls aussagekräftiges Material, das Cassirers Zuwendung zum Thema des Lebens bzw. des »lebendigen Geistes« belegt und nachvollziehbar macht. Von einem Übergang auf lebensphilosophische Positionen kann allerdings selbst in den späten Texten Cassirers keine Rede sein. So bekräftigen die Manuskripte von 1928 zum Einen die bereits in den drei Teilen der Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29) mehrfach begründete Ablehnung des lebensphilosophischen Anspruches, die Unmittelbarkeit seelisch-geistigen »Erlebens« real erfassen und aus dem reflexiven Begriffsdenken in sie zurücksteigen zu können. Dies würde nämlich den alten philosophischen Subjekt-Objekt-Gegensatz auflösen. Zum Andern anerkennt und deutet Cassirer aber das subjektive, unmittelbare Leben bzw. Erleben als »Quell« und »Urgrund« aller symbolisch-darstellender Distanzierung oder Vermittlung, wie sie der Mensch zu seiner kulturell bedeutsamen Wirklichkeit aufbaut.12 Dabei schreibt er dem »Leben« – wie übrigens auch dem »Geist« – eine sogenannte »Doppelrichtung« zu: die Richtung der Formung, Formgebung u n d die Richtung des beständigen Werdens und Wandels (Fließens).13 Beide Richtungen oder Bewegungen bilden ›Urtatsachen‹ des Lebens. Eine Philosophie der geistigen – symbolischen – Formen will und kann nicht auf das Moment des Lebens als einem ›Urphänomen‹ verzichten. Dieser Philosophie komme die Aufgabe zu, so heißt es im Manuskript von 1928, »dieses Urphänomen [des Lebens – C.M.] in E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 113–198. 11 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 3–175. 12 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag: »›Leben‹ als Quell symbolische Formen. Eine Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel und Scheler«, 23–53. 13 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 200 f. 10

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seinem Bestand und in seiner vollständigen Entfaltung« zu erfassen und darzustellen.14 Für die drei Teile des Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen springt Cassirers beständige Arbeit an und mit der Begrifflichkeit des Lebens geradezu ins Auge. Spezielle Recherchen können belegen, daß es sich darüber hinaus unbedingt lohnt, die Frage nach der Vorgeschichte dieses Zugehens auf den Lebensbegriff selbst auf das »rationalistische« bzw. »logizistische« Frühwerk aus der Marburger Periode auszudehnen.15 Dieses umfaßt neben Leibniz’ System (1902) die zwei ersten Bände des Erkenntnisproblems (1906/07)16 und die systematische Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910)17. Oft entwickelt oder verdeutlicht Cassirer seine eigene philosophische Theorie und Terminologie an Hand eines »rekonstruierenden Nachvollzugs« (Oswald Schwemmer)18 fremder philosophischer Konzepte. Auch diese Tatsache rückt die frühen Werke, die historische Systeme der Philosophie und der Naturwissenschaft behandeln, in das Blickfeld einer Erforschung des Lebensbegriffs in Gesamtwerk Cassirers. Für bemerkenswert darf weiterhin die Tatsache gelten, daß er nicht selten zentrale Begriffe seiner Philosophie (Basisphänomene, Urphänomen, Symbol) an Texten oder Aussagen Goethes entwickelt und erläutert.19 Gleichzeitig nimmt Cassirer ›fremde‹, nicht dem Kantischen Denksystem entstammende philosophische Positionen oder Begrifflichkeiten vielfach und nachweislich zur Kenntnis, verarbeitet sie oder läßt sich von ihnen anregen. Das gilt z. B. für die Philosophie der Renaissance.20 Aber nicht immer thematisiert oder benennt er diese Anregungen explizit. Das gilt insbeE. Cassirer, »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 263 [Das zitierte Blatt ist nicht datiert]. 15 Siehe dazu vom Verfasser, »Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer«, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 253. Jg., H. 3/4, 2001, 277–296. 16 E. Cassirer, EP, Bd. I (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999; EP, Bd. II (1907), in: ECW 3, Text und Anm. bearbeitet von D. Vogel, Hamburg 1999. 17 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff . Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), in: ECW 6, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2000. 18 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 199. 19 Siehe dazu vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung. Beiträge aus Lebensphilosophie, Phänomenologie und symbolischem Idealismus zu einer Goetheschen Fragestellung, Berlin 2003, 155–190. 20 E. Rudolph, »Ernst Cassirers Rezeption des Renaissancehumanismus«, in: D. Frede / R. Schmücker (Hrsg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, 105–121. 14

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sondere für die in seinen Werken von Anfang an präsenten lebens- und kulturphilosophischen Konzepte Diltheys und Simmels. Simmel war in Berlin zunächst sein Lehrer, später sein Kollege an der Berliner Friedrich-WilhelmUniversität.21 Diese Affinität zum Lebensbegriff, zum Problem des Historischen und zur Biographie großer Persönlichkeiten in Cassirers Frühwerk deutet darauf hin, daß der junge Cassirer mit großer Wahrscheinlichkeit insbesondere auch aus der lebensphilosophisch-historisierenden Tradition Diltheys schöpft, sich der in ihr ausgebildeten Methoden und Begrifflichkeit bedient bzw. sich der in ihr aufgeworfenen Fragen stellt. Explizite Hinweise darauf sind in seinen – frühen – Schriften allerdings eher rar. Im Folgenden sollen resümierend, geordnet zu zwölf Aspekten, Ergebnisse einer mehrjährigen systematischen Recherche vorgestellt werden, ohne sie hier im Einzelnen und detailliert durch die Cassirerschen Texte zu belegen respektive zu begründen. Diesen Nachweis führt der 2005 bei Felix Meiner in den Cassirer-Forschungen erschienene Band.22 1. Die Recherche, die aufk lären wollte, welche Rolle der von Cassirer häufig gebrauchte Begriff des Lebens in seinem philosophischen Werk spielt, hat in ihren Resultaten zu einer Reihe von Einsichten geführt, die einen neuen Blick auf die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ erlauben und erfordern. Ihr ›Erfinder‹ bezieht sein ganzes Philosophieren seit Leibniz’ System (1902) nämlich konsequent auf das Leben. Allerdings fällt es in den frühen historisch-systematischen Darstellungen der Erkenntnislehren aus Renaissance und Neuzeit mitunter schwer, bei der extensiv eingesetzten Begrifflichkeit des Lebens darstellungsbedingte Wiedergabe und vorsichtige Identifizierung mit dem Begriff zu unterscheiden und auseinanderzuhalten. Eine aufmerksame Lektüre bringt es jedoch schnell an den Tag, daß für Cassirer eine geistige Tätigkeit, z. B. das Erkennen, ohne Lebensbezug ebenso ausgeschlossen ist wie ein Erleben ohne Formung, ohne Geistbezug. Bereits in den frühen Schriften spricht er ganz selbstverständlich vom ›Urphänomen des Lebens‹ bzw. vom ›Grundphänomen des Lebens‹. 23 Das macht schon terminologisch deutlich, daß für ihn Leben philosophisch nicht weiter ableitbar, nicht konstruktiv ›erzeugbar‹ und nicht transzendent erklärbar ist. Die sich in den ersten Schaffensjahren erst in schwachen Konturen abzeichnende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ reagiert auf die TatSieh dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Simmels Begrifflichkeit der Formung als Anstoß für eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 3–22. 22 Siehe vom Verfasser, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, (CF, Bd. 15), Hamburg 2005, 408 S. 23 E. Cassirer, Leibniz’ System (1902), in: ECW 1, a. a. O., 353, 367, 374. 21

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sache, daß die ›moderne Philosophie‹ im 20. Jahrhundert nach ihrer subjektiven Wendung die Gesamtheit ihrer Probleme im Begriff des Lebens zentriert.24 Cassirers Philosophie versteht sich dabei als ein Gegenentwurf zur Lebensphilosophie, die den ungelösten Gegensatz von verlorener Einheit (Leben) und Vielfalt bzw. Zersplitterung der vielen kulturellen Formen (Geist), wie ihn das moderne Lebens- und Kulturgefühl zum Ausdruck bringt, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt. Die sich zu Beginn der 20er Jahre endgültig herausbildende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ beansprucht die Vermittlung und Erklärung dieses Gegensatzes, ohne selbst zu nihilistischen Folgerungen zu gelangen. Sie strebt dabei gleichzeitig danach, dem Problem des Lebens gerecht zu werden, indem sie es mit seinem Gegenstück, dem Geist, in einer umgreifenden Einheit faßt. Derjenige Lebensbegriff, den Cassirer auf diese Weise für die philosophische Theorie ›rehabilitiert‹ bzw. für unverzichtbar hält, ist allerdings ein Lebensbegriff, der die reine Unmittelbarkeit und Undifferenziertheit hinter sich gelassen hat. Letztlich erschließt sich durch ihn ein Stück weit der in der Philosophie der Symbolisierungsweisen gelegentlich vermißte Grund und Träger der Prozesse und Zeichensysteme. 2. Der von vielen Philosophen behauptete Gegensatz von Leben und Form, bzw. der von Leben und Geist, 25 stellt für Cassirer letztlich nur zwei verabsolutierte Abstraktionen aus einem ursprünglichen Einheitlichen – der symbolischen Form als ›Zwischenreich‹ zwischen subjektivem Leben und zeitloser Idee – dar. Die scheinbare Antinomie erweist sich für ihn in Wirklichkeit als funktionale Doppelrichtung bzw. als ein ursprüngliches funktionales Grundverhältnis, das sich im geistig-lebendigen Tun, im geistig-lebendigen Prozeß je in einem Akt realisiert. Diese Doppelrichtung des geistigen Lebens bzw. lebendigen Geistes wird erst durch die Reflexion zerlegt und isoliert. Sie fi ndet sich bereits im Leben selbst – d. h. in den Lebensvollzügen – wieder. Leben gilt Cassirer deshalb als das ›Quellgebiet‹ oder das ›Urbild‹ des Geistes.26 Allerdings wird bei diesem Übergang die Wirkorientierung des Lebens zur Ideenorientierung des lebendigen Geistes erweitert. Diese Deutung erschließt sich nach seiner Meinung aus dem Rückblick auf das Leben, den wir durch die symbolischen Medien, durch das ›Zwischenreich‹ hindurch richten. In diesem Sinne geht die symbolische Mitte – E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 46. G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918; M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), 13. Aufl., Bonn 1995. 26 E. Cassirer, Erstes Kapitel: »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 9. 24 25

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das Zwischenreich – dem Leben (Zweck) und dem Geist (Idee) logisch vorher. Beide lassen sich erst aus ihr abstrahieren und als korrelative Richtungen an ihr verstehen. Das rein vitale Leben kennt diesen Gegensatz ebensowenig wie das rein geistige Ideendenken. In den symbolischen Formen ist sich folglich das Leben selbst durchsichtig und gegenständlich geworden. Der lebendige Geist, der mit den ideellen Sinnformen bzw. -gehalten nicht identisch ist, lebt aber als symbolischer in ihnen, auf sie blickend. Dem Leben, d. h. dem ›Quellgebiet‹ des Geistes, ist die Intention (Gerichtetheit) auf die Ideen als eine seiner beiden ursprünglichen Richtungen wesenseigen. Der Geist wiederum wendet die ideellen Sachverhalte grundsätzlich auf Lebensinhalte an, er bedarf unbedingt des Lebens. Von einer Lebensfeindschaft des Geistes kann deshalb aus Cassirers Sicht überhaupt keine Rede sein. Dem Leben seinerseits ist das Auseinandergehen in eine Mannigfaltigkeit und das Behaupten seiner ursprünglichen Einheit ebenfalls wesenseigen. Als Monas (Leibniz) ist es ein unhinterschreitbares Gestalten und somit ein Urphänomen im wahrsten Sinn des Wortes. Der Geist darf auch nicht einfach als Wille zur Beherrschung des Lebens gedeutet werden. Vielmehr muß er als Wille zur Gestaltung bzw. Formung des Lebens verstanden werden, was ihn mit diesem versöhnt. Eine – von den Lebensphilosophen erstrebte – Überordnung des Lebens über den Geist würde sich letztlich als Werk eben dieses lebendigen Geistes, nicht aber als Werk eines geistlosen Lebens vollziehen.27 Auch kann nur der Geist nach dem Wert des Lebens fragen. Sich vom Leben entfernend muß der schauend tätige Geist beständig auf das Leben zurückblicken, wodurch er dieses aber keineswegs zerstört. Allerdings bestärkt das Behaupten eines antinomischen Gegensatzes zwischen Geist und Leben die latenten Selbstzerstörungstendenzen, die dem Geist innewohnen. 3. Die Zwei- oder Doppeltheit des geformten Lebens und der lebendigen Form muß sich auch ganz grundsätzlich in der Erkenntnis aufweisen lassen. Deshalb polemisiert Cassirer von Anbeginn seiner philosophischen Tätigkeit gegen die Vorstellung oder gegen das Versprechen, ein Gegebenes der Wahrnehmung unmittelbar, ohne strukturierende und symbolischdistanzierende Leistung intuitiv erfassen zu können. 28 Dies würde nämlich bedeuten, das Leben jenseits, außerhalb aller geistigen Formen der Wirklichkeitserfahrung unmittelbar zu erschauen und den Umweg über E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 190, 191 ff. 28 Siehe dazu vom Verfasser, »Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer«, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, a. a. O., 281 ff. 27

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die Symbolisierung und Diskursivität des Denkens vermeiden zu können. Dieser Verlockung der intuitionistischen Lebensphilosophie setzt Cassirer konsequent die Methode der mittelbaren Reflexion und Rekonstruktion des Lebens entgegen. Nur auf dem mittelbaren Weg des Aufbaus von Symbolsystemen bzw. Kulturmedien kommt der Mensch wirklich an die Lebensunmittelbarkeit, an die ihn tragende und auf ihn wirkende lebendige Natur heran. Doch dieser Weg führt uns zunächst erst einmal von der gewohnten Lebensfülle und Lebenswärme weg und hin zu den lebensfernen, leblosen begrifflichen Abstraktionen. Dieser Konsequenz weicht Cassirer nicht aus. Er ist sich dessen vielmehr bewußt, daß insbesondere die mathematischnaturwissenschaft lichen Begriffe dem Menschen einen Verlust zumuten. Deshalb weist er entsprechende ›Anklagen‹, die in der Geschichte der Philosophie ebenso erhoben wurden wie sie die zeitgenössische Lebensphilosophie erhebt, keineswegs als grundlos ab. Dennoch hält er alles romantische Streben zurück aus der Sphäre des Begriffs in die Unmittelbarkeit des Lebens für vergeblich und für außerordentlich bedenklich. Das ›Paradies‹ der Unmittelbarkeit des Lebens ist und bleibt dem Menschen der Kultur, der ein der Symbole und der Formen bedürfendes Wesen ist, auf immer verschlossen. Dabei bestreitet Cassirer allerdings nicht, daß wir die Unmittelbarkeit psychologisch als solche durchaus erfahren, erleben, wenn wir diese Erlebnisse auch kaum adäquat mitzuteilen vermögen. Doch fehlt dem sich dabei einstellenden vorreflexiven und vortheoretischen ›natürlichen Weltbild‹, das seinen noch unzerlegten Gehalt unmittelbar hat, das Wissen um sich selbst; es ist ein nahezu tierisches Bewußtsein. Obwohl Cassirer die psychisch erlebte Unmittelbarkeit des Lebens als alternative Quelle wahrer Erkenntnis ausschließt, sieht er in ihr dennoch ein echtes Grundproblem der Philosophie. Dieses Grundproblem kann und muß jedoch reflexiv-begriffl ich und symbolisch, nicht aber rein intuitiv aufgeklärt werden. Die Strukturanalyse dieser Erlebnisse deckt dann die dabei unbewußt ablaufenden ideellen, geistigen, formenden, sinngebenden Leistungen auf. Der Widerstreit, das Dilemma von unmittelbarer Gegebenheit und Reflexion ist als ein dialektischer Prozeß dennoch unaufhebbar. Daß dieser Widerstreit in einem umfassenden philosophischen Ansatz aber wenigstens zum Ausgleich gebracht werden kann, zeigt Cassirer mit seiner Lehre von den drei korrelativen ›metaphysischen‹ Ur- oder Basisphänomenen der Wirklichkeitserfahrung.29 Diese Ur- oder Basisphänomene fördert eine phänomenoE. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 113 ff. 29

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logische Analyse der Wahrnehmung zutage, kann sie aber niemals alle drei gleichzeitig bzw. als ein Ganzes unmittelbar erschauen und beschreiben. Die rekonstruierend-reflexive Erkenntnis schreitet von den unterschiedlichen Gegenstandsformen aus rückwärts zu ihren Quellen, bzw. ›Basen‹. Dabei muß sie sich mit Einzelbeschreibungen begnügen, die aber ein Ganzes erahnen lassen. Die drei ›Basisphänomene‹ lehnen sich an Goethes Urphänomene des schöpferischen Lebens an.30 Sie umfassen außer den Phänomenen der emotional-personalen (Du) und der sachlichen Wahrnehmungsrichtung (Es) noch das Ich-Phänomen als ihren Träger. Auf diese drei Basisphänomene sucht Cassirer die Wege und Ziele der geistigen Objektivierung, die die Grundrichtungen der Wissenschaften ausmachen, systematisch zu gründen.31 4. Seit Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts registriert Cassirer zunehmend eine aus seiner Sicht äußerst unheilvolle weltanschaulich-philosophische und politische Entwicklung in Deutschland. Nun verortet er sein Philosophieren immer nachdrücklicher in der für ihn entscheidenden Frage, ob der moderne Kulturmensch fähig und willens sein wird, ein Leben in Freiheit und Selbstverantwortung für sein Tun zu führen. Die bedrohliche, durchaus reale Alternative dazu sieht er darin, daß sich der Mensch – einem Naturorganismus gleich – einem übermächtigen Schicksal ausgeliefert erfährt bzw. sich ihm selbst ausliefert, unterwirft. In der Philosophie der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wird zudem die von den Lebensphilosophen und auch von Martin Heidegger behauptete Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz oft mit dem unaufhaltsamen Verfall und Niedergang der Kultur verknüpft. Dafür steht u. a. Spenglers Werk vom Untergang des Abendlandes (1918/21), mit dem sich Cassirer mehrfach auseinandersetzt.32 In dieser ›Schicksalsfrage‹ des modernen Menschentums erfährt er sich in einem grundsätzlichen Konflikt oder Dissens mit der zeitgenössischen Philosophie des Lebens respektive der Existenz. Mit anderen Worten, Cassirer legt Wert auf folgenden Unterschied: die Loslösung oder Befreiung aus dem ›Lebensgrund‹ als einem naturhaften, J.W. Goethe, Maximen und Reflexion. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs. Hrsg. von M. Hecker, (Schriften der Goethe-Gesellschaft , Bd. 21), Weimar1907, Maximen 391–393; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Basisphänomene‹. Eine Synthese von Goethes ›Urphänomenen‹ und Carnaps ›Basis‹ der Konstitutionssysteme«, 345–366. 31 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O. 32 O Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde (1918/1923), 10. Aufl. München 1991; siehe z. B. E. Cassirer, Zweites Kapitel: »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 103 ff. 30

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biologischen Grund, der bloß der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit verpflichtet ist, ist etwas ganz anderes als eine fortwährende Verbindung, ein bleibendes Band, ein andauernder Bezug der geistigen Formen mit bzw. zum Leben, da sie selbst lebendige Formen sind. Nur in dem Sinne des Losreißens kann von dem geläufigen Dualismus des Lebens und der Kultur gesprochen werden. Die geistige Formgebung, die unsere auf Sinn und Symbol gründende Kultur hervorbringt, bleibt dagegen immer auf eine bestimmte Weise mit dem Lebensgrund verbunden, auf ihn bezogen. Sie entfaltet sich in unterschiedlichen eigentümlichen Richtungen als ein geistiges Leben, nicht als ein lebloser Geist. 5. Geistiges Leben offenbart sich für Cassirer als ein unauflöslicher, ursprünglicher Zusammenhang von Lebensfluß oder Lebendigkeit und bestimmender, grenzsetzender Form. Jede geistige Formgebung bleibt als ein lebendiger Vorgang dem Leben verbunden, besitzt noch ein letztes Band zum emotionalen inneren Leben und Erleben. Geistiges Leben kann niemals als formlos gelten, keine geistige Form darf als leblos oder bar jeglichen Lebensbezuges gefaßt werden. Wir haben grundsätzlich von geformtem Leben und lebendigen Formen auszugehen – und genau dafür stehen die symbolischen Formen, die ›Zwischenreiche‹. Hier tritt das Lebendige zur Form (z. B. der Sprache) nicht hinzu, sondern wohnt ihm ursprünglich bereits ein. Erst die Abstraktion des Denkens vermag vom Lebensbezug abzusehen. Dieser fundamentale Zusammenhang von Leben und Form findet bereits 1921/22 in dem Vortrag über das Symbolproblem seine prinzipielle Aufk lärung, an der Cassirer bis zum Lebensende festhalten wird.33 Die überzeugendste Erklärung der ursprünglichen Einheit von Leben und Form gelingt ihm aber erst mit der um 1927 entworfenen – speziellen – Theorie der Ausdruckswahrnehmung, so wie sie im Werk Phänomenologie der Erkenntnis (1929) ihren Niederschlag fi ndet.34 Diese Theorie bekräftigt interessanterweise auch bestimmte Einsichten der Lebensphilosophen. Mit der emotionalen, physiognomischen Ausdruckswahrnehmung ist die tiefste Quellschicht gefunden, aus der das Urphänomen des Lebens schöpft bzw. in der es sich als solches manifestiert. Gleichzeitig wurzeln in dieser Quellschicht die symbolischen Formen des Geistes.35 Die reinen AusdruckE. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 75 ff., 104. 34 E. Cassirer, PSF, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Erster Teil: Ausdrucksfunktion und Ausdruckswelt, in: ECW 13, a. a. O., 49–118; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt«, 91–104. 35 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, a. a. O., 70 ff. 33

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sphänomene, hinter die es keinen Rückgang gibt, deutet Cassirer als eine Sphäre, in der das unmittelbare Leben bereits den Keim einer symbolischen Funktion in sich trägt. Obwohl sie selbst noch der Unmittelbarkeit des Lebens verhaftet sind, da an ihnen der Ausdruckssinn unmittelbar erfahren wird, tritt in den Ausdrucksphänomenen bereits eine erste ideelle Prägung (Formung) zutage. Mit anderen Worten, in ihnen überschreitet ein repräsentierender, darstellender Zug bereits die bloße sinnliche Präsenz. Davon fehlt der elementaren Ausdrucksbewegung aber noch jegliches Bewußtsein, jegliches Wissen. Über die Ausdrucksphänomene, die selbst noch keine Symbole sind, aber bereits einen gewissen Symbolcharakter besitzen, vollzieht sich der erwähnte Übergang aus der reinen Lebenszweckmäßigkeit zum kulturellen Lebenssinn. Sie bilden somit das Scharnier für die Wandlung bzw. Wandelbarkeit der bloß zweckmäßigen Lebensfunktionen zu den allein einem Sinnganzen verpflichteten symbolischen Formen. Eine prägnantere Darstellungsleistung im anschaulichen Weltaufbau läßt dann die in der Ausdrucksfunktion noch ungeschiedenen Richtungen von sinnlich-sachlicher und emotional-personaler Wahrnehmung als zwei Grundrichtungen auseinander treten. Mit Hilfe der Theorie der Ausdrucksphänomene erschließt Cassirer der Erkenntnistheorie die scheinbar unmittelbare Wahrnehmung als einen bereits geistige Funktionen vollziehenden komplexen Vorgang. Gleichzeitig legt er mit dem ›metaphysischen‹ Du-Basisphänomen den in der Kulturwissenschaft vorgefundenen Wirklichkeitszugang frei.36 Diese Funktion gibt dem unmittelbaren Wissen um die Wirklichkeit anderer Subjekte neben uns eine Gewißheit garantierende Grundlage. Daneben findet die Theorie des Mythos, der für ihn als die Quellform aller anderen symbolischen Formen gilt, in der emotionalen Ausdruckswahrnehmung und in ihrem Lebensgefühl die tiefste Schicht und Wurzel des mythischen Weltaufbaus. Und schließlich bildet sie den Schlußstein der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als einer allgemeinen Ausdruckslehre des Geistes, die die Stufenfolge einer Welt kultureller Vermittlungen entwirft. Da alle symbolischen Formen des Geistes diese Stufe des unmittelbaren Ausdrucks einmal durchlaufen, bleiben sie auch dem sich in ihm manifestierenden Urphänomen des Lebendigen ein Stück weit verbunden. Am augenscheinlichsten gilt das für den Mythos und die emotionale subjektive Sprache. Obwohl die Welt des unmittelbaren Ausdruckserlebens für das reflexive Denken eine überwundene Stufe des Geistes ist, droht zu jeder E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 355–486. 36

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Zeit ein fataler ›Rückfall‹ in sie und damit in die in ihr wurzelnde Welt des Mythos. Bildet die Welt des unmittelbaren Ausdruckserlebens doch die unverrückbare Elementarstufe unseres geistigen Lebens und folglich auch ein ›Konsistentum‹ der von uns erfahrenen Welt. 6. Das sich der Symbolisierungen bedienende geistige bzw. kulturelle Leben des Menschen löst sich als formgebende Tätigkeit zwar aus der Macht des Lebensgrundes los, bleibt dem Urphänomen des Lebens aber, wie bereits betont, verhaftet. Es vollzieht die epochale Emanzipation vom tierisch-biologischen Leben, d. h. die Befreiung aus den ›Gefängnismauern‹ des biologischen Strukturgesetzes und es führt in der Konsequenz ebenfalls aus dem rein praktisch, zweckmäßig orientierten ›lebensnahen‹, ›alltäglichen‹ Dasein der ›Primitiven‹ heraus. Dennoch besitzt das geistig-kulturelle Leben bei Cassirer selbstverständlich auch weiterhin eine biologisch-materiale Grundlage. Aber spezifisch menschliches Leben wird als geistig und praktisch-technisch vermittelte Existenz (Dasein) begriffen. Eine Philosophie, die sich ernst nimmt, hat die Schritte und Etappen dieser ›Distanzierung‹ von der Lebensunmittelbarkeit, die eine Medialisierung des Lebens bedeuten, freizulegen.37 Diese Konstellation regt Cassirer an, intensiv das Verhältnis von organischem und geistigem Leben aufzuklären. Dies bedeutet, die Wurzeln der symbolbildenden und ausdrückenden Tätigkeit im tierischen Dasein aufzudecken und der Gebundenheit des geistig-kulturellen Lebens an das biologische, praktisch-zweckgerichtete Fundament nachzugehen.38 Dabei gelangt er zu dem Schluß, daß die Anfänge des Symbolreiches, die sich bereits im tierischen Leben als natürlicher Ausdruck des Gefühlslebens finden, auf dem Wege zum menschlich-symbolischen Ausdruck einen Bedeutungswandel durchmachen. Erst dieser Bedeutungswandel läßt sie zu einer objektivierenden Funktion werden. Im Zusammenhang mit diesen Fragestellungen interessiert sich Cassirer massiv für die Probleme einer methodischen Grundlegung der Biologie als der Wissenschaft von den organischen Lebensformen, die mit einer eigenen Erkenntnisform Teil des Kreises der Lebensforschung ist.39 Auch in dem von der Biologie aufzudeckenden Zu-

E. Cassirer, »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 261–271. 38 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Eine Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990 (= ECW 23). 39 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932) (1957), Zweites Buch: Das Erkenntnisideal der Biologie und seine Wandlungen, in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 137–252; siehe dazu 37

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sammenhang von Strukturverhältnissen und Lebensfunktionen gewahrt er metamorphosisches Verhalten und symbolische Repräsentanz. 40 Gleichzeitig beschäftigen ihn die Methodenprobleme der Wissenschaften von denjenigen »geistigen Kulturmächten«, die zu theoretischem Selbstbewußtsein gelangt sind. Deren Untersuchungsgegenstände und Erkenntnismethoden lassen die Kulturwissenschaften gegenüber der Biologie an Eigenständigkeit gewinnen. Die Kulturwissenschaften deuten die aus objektivierend-formgebenden Tätigkeiten hervorgegangenen Werke als kulturelle Symbole vergangenen Lebens. Sie lassen die Kulturwerke als Quelle dieser Symbole wiedererstehen, wobei sie auf die Ausdrucksfunktion bzw. das Ausdruckserleben zurückgreifen. Die soziale Rezeption der Kulturwerke wiederum befördert ihre Verlebendigung u. a. durch das Einströmen eines neuen »Lebensgefühls« und löst so ihre relative Verfestigung und Lebensferne wieder auf. 41 In diesem Untersuchungsfeld von Biologie, Kulturwissenschaft und Philosophie entwickelt Cassirer eine eigene Lesart der philosophischen Anthropologie, die der weiteren Fundierung seiner symbolischen Kulturphilosophie dient und die gleichzeitig selbst symbol- und kulturphilosophisch unterbaut wird. 42 Kultur bedeutet für ihn, daß der Mensch ein Leben in selbst geschaffenen, aufgebauten Symbolsystemen führt, die ihm immer neue Sinn-Wirklichkeiten eröffnen. Die Fähigkeit der Symbolisierung erweist sich so als anthropologisches Grundmerkmal menschlichen Lebens, finden sich doch z. B. Intelligenz und bestimmte Gemeinschaftsformen auch schon im Tierreich. Die Symbolsysteme erlauben zudem das Hervortreten und Werden der Individualität vor dem Hintergrund des Gemeinschaftslebens und die Weitergabe (Bewahrung) individueller und kollektiver Erfahrungen. 7. Cassirer verwahrt sich gegen den Anspruch, das Eigentümliche und Charakteristische des biologischen Lebens durch die Begrifflichkeit des spezifisch menschlichen Lebens zu erklären oder umgekehrt die biologischen im vorliegenden Band den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 40 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–398. 41 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O. 42 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), Teil I: Was ist der Mensch, a. a. O., 15–102 (= ECW 23, 5–69); siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324.

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Begriffe reduktionistisch auf das spezifisch menschliche Dasein anzuwenden. 43 Auch von einer grundsätzlichen Kontinuität zwischen vitalem und geistigem Leben, d. h. zwischen Lebenszweckmäßigkeit und kulturellem Lebenssinn, will er wenig wissen. Ebenso gilt ihm die Annahme einer Identität der biologischen Lebensformen und der kulturellen Sinnformen als nicht sinnvoll. Trotzdem fließen in seinen Lebensbegriff eine Reihe von Wesensmerkmalen ein, die sich sowohl im Leben des biologischen Organismus als auch im geistigen Leben des formgebenden Menschen aufweisen lassen. So hat der Organismus grundsätzlich etwas Vernünftiges, die Vernunft wiederum kann als Analogon eines lebenden Organismus’ gedacht, verständlich gemacht werden. Wobei die lebendige Vernunft zusätzlich um sich, um ihre Formen und ihre organische Struktur ›weiß‹. Zum Begriff des Lebens gehören weiter das Ganze und seine Teile, wobei das Ganze mehr ist als seine Bestandteile und den Primat genießt. Die Teile (Vielheit) sind als Ausdrücke (Äußerungen) des einen Ganzen (Einheit) zu verstehen. Außerdem ist das Leben – als ein organisches – durch die Zweckidee als eigentümlicher Gesetzesform charakterisiert. Sie ergänzt die Gesetzesform der – mechanischen – Kausalität. Beim Leben stoßen wir auf ein identisches ›Subjekt‹, eine Substanz, aus dem sich ein Bewußtsein und ein Selbst im Wandel der materialen Aspekte herausschälen. Leben bildet weiterhin die paradoxe Einheit von Fluß und Fixierung, wobei dieser Widerspruch in der Praxis, in der schöpferischen Tat beständig aufgelöst wird. Leben besitzt die Fähigkeit, aus seinem Strömen bestimmte wiederkehrende Gestaltungen herauszulösen und zu separieren, weshalb es auf Umweltreize zu reagieren vermag. Im menschlichen Leben verbindet sich zudem unmittelbares psychologisches Erleben mit dem Zwang, sprachlich-reflexiv zu erfassen und zu benennen. Dem Leben ist ein Drang zur mitteilenden Äußerung eigen, psychisches Leben äußert Gefühle, geistiges Leben drückt sich sprachlich mit Hilfe von Symbolen aus. 8. Biologisches wie menschliches Leben, das ist Cassirer sehr früh klar geworden, vollzieht sich grundsätzlich in individueller Form. 44 Leben besitzt grundsätzlich individuellen Charakter und baut seine individuelle Existenz bis zum Selbstbewußtsein und zum ethischen Bewußtsein der Individuen auf. Gleichzeitig steht diese Individualität in einem permanenten Spannungsverhältnis zum Prinzip der Universalität und Allgemeinheit, die ja seine objektivierenden Leistungen beanspruchen. Dieses Individualitätsmerkmal des Lebens sieht er insbesondere in Leibniz’ Monadenbegriff E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932) (1957), in: ECW 5, a. a. O., Zweites Buch, 137 ff.. 44 E. Cassirer, Leibniz’System (1902), in: ECW 1, a. a. O., 342–356. 43

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sicher erfaßt und thematisiert. Ohne die Individualisierung ist kein ethisch orientiertes, sich selbst Verantwortung auferlegendes Leben möglich. Dennoch ist sich Cassirer bewußt, daß das Wissen um die eigene Individualität ein Auflösungsprodukt des ursprünglich mythischen Gefühls von einer allumfassenden ›Gemeinschaft des Lebens‹ darstellt. Die mit diesem Wissen unabdinglich einhergehende Vereinzelung des Ich ist selbst ein Ergebnis der Subjektivierungsleistung der geistigen Ausdrucksfunktion. Sie provoziert nun ihrerseits den ›Grundkonflikt des Lebens‹, nämlich den Konfl ikt der sich in die Zersplitterung verlierenden Einheit. Das sich dabei einstellende Gefühl der Verzweiflung nährt beim Menschen gelegentlich die Sehnsucht, in die unmittelbare Einheit des Lebens zurückzufi nden, und diese ›Rückkehr‹ im metaphysischen Denken oder in einem mystischen Gefühl zu realisieren. Auch die Tatsache, daß in manchen Zeiten die Menschen von ihrer gesteigerten Emotionalität regelrecht in den Bann geschlagen werden, bringt diese latente Sehnsucht der Individuen zum Ausdruck, in den ›Strom des universalen Lebens‹ zurücktauchen und individuelle Verantwortung abstreifen zu wollen. 9. Eine weitere Gelegenheit, bei der Cassirer nicht nur Leben überhaupt charakterisiert, sondern auch das Moment des Lebendigen unlösbar im Begriff der symbolischen Form verankert, bietet ihm das Auffinden einer ›beweglichen Ordnung‹ in Natur und Kultur. 45 Eine jede Ordnung der Dinge, Werte etc. ist durch das Moment der Festigkeit und des Gesetzes ebenso wie durch das Moment der Variabilität, Freiheit, Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet. Diese beiden Momente sichern einer Ordnung den beweglichen, lebendigen und entwicklungsfähigen Charakter. Mit Blick auf Goethe spricht er wiederholt von einer Ordnung (Regel), die »zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig« ist. 46 Bei diesem Ordnungsbegriff, dem auch der Gedanke der Metamorphose korrespondiert, handelt es sich immer um eine individuelle Form bzw. um ein individuelles Gesetz. Sie findet sich in den biologischen Lebensformen ebenso wie in der menschlichen Lebensform als solcher. Sie strukturiert die einzelnen symbolischen Formen bzw. die einzelnen ›Lebensordnungen‹, in die das menschliche Individuum gestellt ist. Ebenso strukturiert sie das Ganze der symbolischen Formen bzw. der Lebensordnung einer ganzen historischen Epoche. 47

E. Cassirer, »Goethes Idee der Bildung und Erziehung« (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), Text und Anm. bearbeitet von R. Becker, Hamburg 2004, 127–147. 46 Ebd., 132. 47 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 55–74. 45

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I. Leben und Form

Als ein Ausdruck dieser übergreifenden Lebensordnung gilt Cassirer die Tatsache, daß bei bedeutenden Persönlichkeiten wie z. B. Montaigne, Kant oder Goethe Lehrform ihres Werkes und Lebensform, verschiedene Tätigkeitsformen und Lebensform eine ideelle Einheit bilden. 48 Deshalb ist für ihn der Gedanke einer sich aus der ›inneren Form‹ (Humboldt)49 erklärenden ideellen Einheit (Ganzheit) des biographischen Lebensganges eines Individuums, einschließlich seines eigentümlichen Lebensgefühls, seiner besonderen Lebensführung und seiner geistig-kulturellen Werke (Objektivationen) ein wichtiges philosophisches Thema. Nicht zuletzt deshalb, weil die einzelnen Lebensphasen und Lebenstätigkeiten eines Individuums das ›Ganze des eigenen Lebens‹ symbolisieren, repräsentieren. Die innere Form, das innere Gesetz des produktiven Lebens wird hier als die Lebensform begriffen und als lebendige Regel (Ordnung) behandelt. Sie geht schließlich in einem ganzen Formprozeß auf. Das Individuelle in Form des biographischen Lebens einzelner Persönlichkeiten oder in Form sozialer und kultureller ›Individuen‹ (Kulturkreise, Kulturepochen, Nationalkulturen) gestaltet die Geschichtsschreibung, die sich dabei das Physiognomische bzw. das Ausdrucksverstehen zu Nutze macht. Die Historie muß in das subjektive Lebensgefühl der Individuen als der tiefsten Schicht ihres rationalen Verhaltens eindringen, wenn sie das vergangene Leben verstehen will. Gleichzeitig muß sie das un- oder überzeitliche Ideelle, Sinnhafte im individuellen historischen Lebensgang freilegen, weshalb auch der Historiker mit Symbolen und ihren Ausdrucksweisen arbeitet.50 10. Schon früh stellt Cassirer die Begriffe Leben, Kultur und Geschichte in einen engen Zusammenhang. Für eine jede kulturelle Epoche wie für jegliches kulturschaffende Individuum nimmt er eine systematische Schichtung an, die auf dem Lebensgefühl ruht, die darauf aufbauend eine Welt– und Lebensauffassung einschließt und die schließlich von einem – damit in Übereinstimmung stehenden – theoretischen System beschlossen wird. Diese Gesamtheit des kulturellen Lebens der Epoche – wie des Individuums – wird ausgehend von den einzelnen Lebenssphären umgestaltet. Dies geschieht, wenn sich in ihnen eine neue autonome Lebensform entfaltet und E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, Viertes Kapitel: Goethe, 181 ff. 49 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 205. 50 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932) (1957), Drittes Buch: Grundformen und Grundrichtungen der historischen Erkenntnis, in: ECW 5, a. a. O., 253–380. 48

Geist und Leben

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auf das der ganzen historischen Lebensordnung zugrundeliegende Lebensgefühl verändernd einwirkt.51 Die vielfältigen geistigen ›Lebensmächte‹, die Cassirer später symbolische Formen bzw. Kulturformen nennt, durchlaufen allesamt selbst eine Stufenfolge von der auf dem subjektiven Lebensgefühl ruhenden Lebensform über die empirische Anschauungsform zur theoretischen Denkform. Dabei ist erst auf der letzten, auf der theoretischen Stufe die Loslösung vom rein zweckmäßig fungierenden ›Lebensgrund‹ scheinbar wirklich vollzogen.52 Die Sinnordnung wird hier durch keine praktischen Wirkinteressen mehr getrübt, was sie aber dennoch nicht zu einem Ganzen von lebensfremden oder lebensleeren Formen degradiert. Diese Formen machen gemeinsam das Ganze der geistigen Kultur aus, d. h. sie bilden das konkretgeschichtliche Leben. Die jeweiligen Kulturformen des gesellschaft lichen Lebens führen zwar ein ›Eigenleben‹ gemäß eigenem Strukturgesetz, unterliegen aber auch der sie modifizierenden symbolischen Tätigkeit des Kulturmenschen. Im Gegensatz zu Hegel beharrt Cassirer immer auf der Autonomie und Eigentümlichkeit einer jeden einzelnen Form bzw. Stufe des geistigen Lebens. Die einzelnen symbolischen Kulturformen wirken nicht alle gleich stabilisierend bzw. verändernd auf die jeweilige Lebensordnung, deren Lebendigkeit Konstanz und Innovation in einem bestimmten Maßverhältnis erfordert. Deshalb bilden sie nach Cassirer unterschiedliche Phasen im kulturellen Prozeß der fortschreitenden ›Selbstbefreiung des Menschen‹, die einander ergänzen und immer neue Aspekte der Humanität eröffnen. Dabei werden die Dissonanzen zwischen den Kulturformen samt ihrer Zersplitterung und Entfremdung im kulturellen Leben durchaus als bedrohlich erfahren. Dennoch dienen sie letztlich seiner ständigen Erneuerung als einer Emanzipationsbewegung, die dem Menschen das Reich der Freiheit und der Selbstbestimmung eröffnet. Allerdings steht der moderne Mensch vor der Aufgabe, sich über die funktionale Einheit bzw. über die einheitliche Richtung des geistigen Lebens nachdrücklich Klarheit zu verschaffen und in diesem Sinne zu wirken. 11. Neben der allgemeinen kulturellen Lebensform erweist sich für Cassirer die politische Lebensform als eine spezifisch menschliche ›Gemeinschaftsform‹, die in gewissem Sinne die historisch frühere mythische Lebensordnung ablöst.53 Das kulturelle Leben entfaltet sich nun innerhalb E. Cassirer, EP, Bd. I (1906), in: ECW 2, a. a. O., 60. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Die Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310. 53 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 103 f. (= ECW 23, 51

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I. Leben und Form

einer politischen Ordnung, ist aber mit ihr nicht identisch. Die politische Lebensform des gemeinschaft lichen Lebens ist im Gegensatz zur mythischen Lebensform eine ›rationale‹ Form des Denkens und Handels. Mythische ›Logik‹ und rationale Logik erscheinen am Ende von Cassirers Lebenswerk als die beiden großen alternativen historischen politisch-gesellschaft lichen Ordnungen des praktischen Handelns, die beide zu ihrer Zeit die gemeinschaftliche Grundaufgabe der Stabilisierung des kulturellen Lebens erfüllen. Die alte mythische Ordnung setzt dabei auf die Kraft der Tradition, die sie ablösende rationale auf die argumentative Rechtfertigung und individuelle ethische Verantwortung.54 Wir modernen Menschen leben in einer politischen Ordnung und diese gibt den Rahmen dafür ab, wie wir formgebend und symbolbildend an unserer Kultur schaffen und sie dabei umschaffen. Deshalb ist es nicht unerheblich, auf welche Weise wir Politik gestalten und unser politisches Leben orientieren. In dieser entscheidenden Frage verleiht Cassirer spätestens seit seinen politischen Vorträgen an der Hamburger Universität Ende der 20er Jahre und seit seinem Buch über Die Philosophie der Aufklärung (1930) der festen Überzeugung Ausdruck, daß die Politik – wie auch jegliche Form der Kultur – einer ethischen ›Ordnung des Lebens‹ zu dienen hat.55 Dagegen hat sich eine bloße ›Technik der Politik‹ von den ethisch-sittlichen Lebenszielen politischen Handelns völlig freigemacht. An eine solche Technik der Politik knüpfen – so Cassirers Fazit im Mythus des Staates – im 20. Jahrhundert die verantwortungslosen Politiker ohne wahre ethische Lebensziele an, wenn sie eine raffi nierte Technik des politischen Mythos entwickeln. Die künstlichen politischen Mythen (Blut, Rasse, Volk, Feind, Führer, Schicksal) dienen ihnen dazu, die Menschen vom schwierigen und schwankenden Boden der Freiheit bzw. der Selbstverantwortung wegzuführen und ihnen ein Leben in fatalistischer Ergebenheit ins Schicksalhafte anzuempfehlen.56 Nicht nur dann, wenn eine Philosophie irrationale und fatalistische Haltungen begünstigt, sondern auch immer dann, wenn sie auf theoretische und ethische Ideale verzichtet, schwächt sie ganz objektiv die geistigen Widerstandskräfte gegen mögliche neue politische Mythen. In dieser Situation 71 f.); ders., Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (engl. 1946) 4.–5. Tausend, Frankfurt a. Main 1988, 80 ff. (= ECW 25, 61 ff.) 54 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie der Politik. Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 129–159. 55 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2003, 286. 56 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 360 ff . (= ECW 25, 273 ff.).

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leistet sie objektiv, unabhängig von der subjektiven Absicht ihrer Vertreter, einer bloßen Technik der Politik Vorschub, die sich keiner ethischen Ordnung des Lebens verpflichtet sieht. Die lebensnotwendigen Hoffnungen darauf, daß uns ein aktiver Anteil am Aufbau und am Wiederaufbau des Kulturlebens des Menschen grundsätzlich offen steht, vermag eine Philosophie nur dann aufrechtzuerhalten, wenn sie ihre eigentliche philosophische Aufgabe meistert. Und diese Aufgabe sieht Cassirer eben darin, aufk lärerisch zu wirken und eine ethische Lebensführung zu befördern. Ohne ethische Prämissen und Normative ist für Cassirer ein politisches Leben im Sinne der Humanität undenkbar.57 Ohne sie ist sogar der ganze kulturelle Emanzipationsprozeß des Menschen langfristig zum Scheitern verurteilt. 12. Diese Gefahr sieht Cassirer in den 30er und 40er Jahren als de facto eingetreten, als real geworden an.58 Die reale Bedrohung der Kultur und damit der Freiheit des modernen Menschen gehe unter diesen konkreten Umständen nicht – wie von der modernen Kulturkritik erwartet – vom Grundkonflikt der Einheit und der Vielfalt aus. Sie gehe auch nicht von den unaufhebbaren Dissonanzen der einzelnen Kulturformen aus. Diese Bedrohung wurzelt vielmehr im Wiederaufleben der mythischen Lebensform und in dem damit einhergehenden irrationalen Glauben an soziale Magie.59 Den Auslöser für diese Phänomene findet Cassirer in der tiefen Krisis des sozialen und politischen Lebens, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg in einigen Staaten ausgebrochen war. Gleichzeitig hat die Disposition für die Ausdrucksphänomene die auf der Ausdrucksfunktion basierende Macht der Emotionalität über den Menschen bereitgehalten. Sie wurde von Politikern, die nicht die Selbstbefreiung des Menschen, sondern seine Unmündigkeit und beliebige Lenkbarkeit bezwecken, instrumentalisiert. Sobald der Mythos bzw. die ihn tragende emotionale Ausdrucksweise wieder das Fühlen, Anschauen und Denken des modernen Menschen beherrschten, machte sich Irrationalität im alltäglichen und im gesellschaftlichen Leben breit. Das bedeutete, daß sich das praktische politische Handeln nunmehr erneut nach mythisch-magischen Regeln vollzog. Außerdem herrschte im öffentlichen Leben wieder der magische Sprachgebrauch vor, das öffentliche Leben selbst erstarb in politischen Ritualen, das private Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag: »Cassirer und Heidegger über Humanismus. Individuelles Vermögen zur Form oder Freiwerden für Menschlichkeit und Würde«, 493–519. 58 E. Cassirer, »Der Begriff der Philosophie als Problem der Philosophie, Göteborg Antritts-Vorlesung, Oktober 1935«, in: Zu Philosophie und Politik, in: ECN 9, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 141–165. 59 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 52–69, 360 ff. (= ECW 25, 39–51, 273 ff.). 57

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I. Leben und Form

Leben verlor seine Privatheit und es grassierten magischer Führerkult und Schicksalsglaube. Da aus Cassirers Erfahrung die rationale Philosophie und Wissenschaft nur sehr bedingt die mythisch-magische Lebensform in ihrer Wurzel zu erschüttern vermögen, muß zur Verhinderung solcher Situationen die emotionale Disposition dieser Lebensform entkräftet werden. Das vermag vor allem die symbolische Kulturform der Kunst. Sie entzieht durch die Symbolisierung und Verbildlichung der Emotionen diesen ihren bedrückenden Wirklichkeitscharakter, den sie für das gefühlsmäßig erregte Bewußtsein besitzen. Als künstlerisch geformtes Gefühlsleben wird es sogar zu einem Mittel der Selbstbefreiung, vollzieht sich diese symbolische Formung doch auf dialogische, d. h. soziale Weise. Wirkliche Freiheit des Menschen setzt nicht nur ein Wissen um die Tatsache der sinnhaften Formgebung, sondern immer auch die Distanz zur Unmittelbarkeit der lebensnahen Emotionen voraus. 60 Nur dann kann sich die Fähigkeit oder die reale Möglichkeit realisieren, sich der überwältigenden Macht der eigenen Emotionalität, der Gewalt der affektiven Lebendigkeit über das eigene Leben zu entziehen. Deshalb warnt Cassirer vor einer jeden Philosophie oder Wissenschaft, die den Mythos und die unmittelbare emotionale Ausdruckswahrnehmung, in der er fußt, der diskursiven Begrifflichkeit, der mittelbaren Rekonstruktion und Reflexion oder der mittelbaren Symbolisierung vorzieht, überordnet. Denn sie unterminiert – gewollt oder ungewollt – das Fundament menschlicher Freiheit, die Grundlage individueller ethischer Verantwortung und damit die Humanität selbst. 61 Den gleichen Effekt erzielt die romantizierende Auffassung, die den Staat und damit das politische Leben als ein organisches Gewächs deutet. Durch sie wird ebenfalls die Option für die Freiheit und die selbstverantwortete Gestaltbarkeit dem Glauben an die naturhafte Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit untergeordnet. Diesen Glauben an die naturhafte Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit hat Cassirer Zeit seines Lebens als das ›Dunkel des Irrationalen‹ bekämpft. Seiner Überzeugung nach stehen wir in naturhaften Lebensformen grundsätzlich nicht auf dem ›Boden der Freiheit‹. Nur indem der Mensch sich auch als Gestalter seiner kulturellen symbolischen Sinnwelt begreift und annimmt, und nur indem er in ihr als ein um sich wissendes ethisches Wesen aktiv lebt, entkommt er der Zufälligkeit und Endlichkeit seines vegetaSiehe dazu vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung, a. a. O., 186 ff. 61 B. Recki, »Das Ethos der Freiheit. Ernst Cassirers ungeschriebene Ethik und ihre Postulatenlehre«, in: Ch. Bermes u. a. (Hrsg.), Die Stellung des Menschen in der Kultur. Festschrift für Ernst Wolfgang Orth zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, 271–293. 60

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tiven Daseins, dem ihn auch Heideggers Philosophie erneut überantwortet. Eine jede Rehabilitierung der Unmittelbarkeit des Lebens (Erlebens) begünstigt – das ist ein diskussionswürdiges Fazit der Cassirerschen Untersuchungen – diese irrationalen Stimmungen und verdunkelt den Wert der rationalen symbolischen Kulturformen als dem entscheidenden Werkzeug der Selbstbefreiung des Menschen aus dem schicksalhaften Naturdasein. Dies gilt um so mehr, als wir gemäß Cassirer zur Kenntnis zu nehmen haben, daß die Freiheit und die Eigenverantwortung keineswegs ein durchweg bequemer und unproblematischer Zustand ist, sondern bei den Menschen immer wieder einmal die Sehnsucht nach dem ungebrochenen, unmittelbaren Leben nährt.

ii. politisches als lebensund kulturform

Philosophie der Politik Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität I. Ernst Cassirer (1874–1945), der neben Edmund Husserl, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein zu den bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts gehört, hat in den Auseinandersetzungen, die in den 20er und 30er Jahren auf den Gebieten der Philosophie und der Politik um die Alternative Vernunft oder Mythos, Rechtsstaat oder korporativer Staat geführt wurden, eine hervorragende, couragierte und weitsichtige Rolle gespielt. Er zählt zu den ganz wenigen akademischen Philosophen seiner Zeit, die sich politisch engagiert auf den Boden der liberalen Demokratie und ihrer Realisierung im Staatswesen der Weimarer Republik stellten. Das theoretische Ringen um ihr Verstehen – und Propagieren – als die dem modernen Menschen angemessene politische Form, die gemeinsam mit ihren Voraussetzungen Vernunft und Humanität geschichtlich auch scheitern kann,1 hat ihn zudem wichtige Einsichten in die Philosophie des Politischen gewinnen und formulieren lassen, die es angesichts der heutigen theoretischen und praktisch-politischen Herausforderungen weiterhin lohnen, thematisiert und in Betracht gezogen zu werden. Nach nahezu zwei Jahrzehnten sich immer intensiver entfaltender Cassirer-Forschung [d. h. 2005 – C.M.] ist dies aber immer noch keine Selbstverständlichkeit. Zunächst schien sogar das gesamte philosophische Werk des jüdisch-deutschen Emigranten lange Zeit vergessen. Noch 1974, auf einer Tagung anläßlich seines 100. Geburtstags, mußte der Festredner Hermann Lübbe feststellen, daß »die Neuerungen und Erneuerungen in der deutschen Philosophie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges […] das Werk Cassirers in seiner Heimat nicht wieder in den Vordergrund [haben] rücken lassen«.2

E. Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 165 f. 2 H. Lübbe, Cassirer und die Mythen des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1975, 3. 1

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

Doch auch Lübbe wußte mit dem philosophischen Werk Cassirers nicht mehr viel anzufangen, es schien überholt. Das weitgehende Vergessen bzw. die Geringschätzung des scheinbar im »neukantianischen Schulzusammenhang« Wirkenden galt übrigens – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – bis in die 80er Jahre für die Nachkriegsphilosophie in Westund Ostdeutschland. Die Mitte der 80er Jahre dann plötzlich einsetzende internationalen Cassirer-Renaissance, die sich in Form stetig anwachsender Cassirer-Forschung, Cassirer-Edition und Cassirer-Übersetzung entfaltet, 3 erstreckt sich aber bislang nur sehr zögerlich auch auf seine Philosophie des Politischen bzw. des Staates. 4 Die von Volker Gerhardt anläßlich des Züricher Symposions 1986 beklagte diesbezügliche »Lücke« in der Cassirerinterpretation ist selbst heute noch nicht wirklich ausgefüllt.5 Für diese Zurückhaltung lassen sich mindestens drei Gründe nennen: Zum Einen hat Cassirer bis auf sein letztes, 1946 in den USA auf Englisch veröffentlichtes Buch Der Mythus des Staates keine größere Schrift ausschließlich zur Theorie des Politischen verfaßt. Ausführungen zu Fragen der politischen Philosophie finden wir außer in zwei Universitätsreden aus den Jahren 1928 und 1930 vor allem in den Werken Freiheit und Form (1916), So erschien 1995 der 1. Band einer auf 18 bzw. 19 Bände angelegten Ausgabe Nachgelassener Manuskripte und Texte (Felix Meiner Verlag Hamburg), die an der Universität Leipzig (bis 2013) und an der HU zu Berlin bearbeitet und herausgegeben wird. An der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität hatte Cassirer studiert, sich habilitiert und ab 1906 als Privatdozent und von 1913 bis 1919 erfolgreich als a.o. Professor gewirkt. 1998 kam der 1. Band der auf 25 bzw. 26 Bände angelegten Gesammelten Werke. Hamburger Ausgabe (Felix Meiner Verlag) heraus, die an der Universität Hamburg bearbeitet und [bis 2007 bzw. 2009 – C.M.] herausgegeben wurde, wo Cassirer von 1919 bis 1933 als Professor für Philosophie wirkte. Viele seiner Werke sind inzwischen ins Französische, Italienische, Spanische, Portugiesische, Rumänische, Englische, Russische und Japanische übertragen worden. 4 Siehe z. B. D.R. Lipton, Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany 1914–1933, Toronto/Buffalo/London 1978; V. Gerhardt, »Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik«, in: H.J. Braun/H. Holzhey/E.W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. Main 1988, 220–248; B. Vogel, »Philosoph und liberaler Demokrat. Ernst Cassirer und die Hamburger Universität von 1929 bis 1933«, in: D. Frede/R. Schmücker (Hrsg), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, 185–214; E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Philosophie der Politik (CF, Bd. 5), Hamburg 1999; Biographische Darstellungen berühren das Thema der politischen Philosophie ebenfalls, siehe z. B. J.M. Krois, »Ernst Cassirer«, in: J.M. Krois/ G. Lohse/R. Nicolaysen, Die Wissenschaft ler. Ernst Cassirer, Bruno Snell, Siegfried Landshut, Hamburg 1994, 9–40; D. Paetzold., Ernst Cassirer – von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, 7. Kapitel, 106–126. 5 V. Gerhardt, Vernunft aus Geschichte (1988), in: H.-J. Braun et al. (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 227. 3

Philosophie der Politik

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Philosophie der Aufklärung (1932) und eben Mythus des Staates (1945). 6 Wichtige Texte und Vorträge aus dem unpublizierten Nachlaß wie z. B. die Ausarbeitung »Zum Begriff der Nation« (1916/17), mehrere Hamburger Reden und Vorlesungen aus den 20er und 30er Jahren und die Antrittsrede 1935 an der Universität Göteborg, die sich mit der Verantwortung der Philosophen für die gesellschaft liche Wirklichkeit befaßt, wurden von John Michael Krois und dem Verfasser 2008 als Band 9 der Nachgelassenen Manuskripte und Texte veröffentlicht. Zum Anderen finden wir in all diesen Texten zudem keine geschlossene Theorie des Politischen, sondern vereinzelte Zugänge, die aber zusammengenommen ein durchaus stimmiges Bild sowohl seiner Auffassung der politischen Lebens- und Kulturform menschlicher Existenz als auch der politischen Fragen der Zeit ergeben. Den Versuch, Cassirers Philosophie der Politik trotzdem als ein systematisches Konzept zu lesen, hat bislang nur Gerhardt gefordert und versucht.7 Und schließlich hat Cassirer aus seinem Philosophie- und Kulturverständnis heraus die systematischen Erörterungen in der Regel als philosophie- bzw. theoriegeschichtliche Auslegungen verfaßt. Hinter den auf den ersten Blick rein theoriegeschichtlichen Darstellungen muß seine eigene theoretische Position erst aufgefunden und rekonstruiert werden. Daß ein solcher Rückgang auf geschichtliche Ideen kein Selbstzweck ist, sondern der zeitgenössischen Philosophie bei der nötigen Selbstbestimmung und Selbstkritik helfen soll, macht Cassirer 1932 in seinem Buch über Die Philosophie der Aufklärung deutlich. Trotz eines E. Cassirer: Freiheit und Form (1916), 6. Kapitel: Freiheitsidee und Staatsidee, in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 319–387; Ders., »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 291– 307; Ders., »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 85–112; Ders., »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), Text und Anm. bearbeitet von R. Becker, Hamburg 2004, 203–227; Ders., Die Philosophie der Aufk lärung (1932), 6. Kapitel: Recht, Staat und Gesellschaft, in: ECW 15, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2003, 245–287; Ders., Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, [III.] Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt a. Main 1988, 246–392 (= ECW 25, 187–220). 7 Gerhardt arbeitet zehn Einsichten Cassirers für den »Begriff der Politik« heraus: Naturbedingtheit, Geschichtlichkeit, soziale Natur, symbolischer Kulturcharakter des Politischen, seine mythische Gefährdung, seine Rationalität, Humanität und Personalität, Normativität, Situativität und Reflexivität. – V. Gerhardt, Vernunft aus Geschichte (1988), in: H.-J. Braun et al. (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 228 ff. 6

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

geschichtlichen Blicks auf die Vernunftphilosophie der Aufk lärung 8 hält er die damals weit verbreitete rein negative Kritik, die ihr jegliche Gültigkeit abspricht, ihre Errungenschaften verzerrt und entwertet, für fatal und gefährlich.9 Im Kampf gegen ein philosophisches Denken, wie es z. B. Heidegger repräsentiert, das diejenigen ideellen Kräfte, die im 18. Jahrhundert die Philosophie der Vernunft und der Wissenschaft »hervorgebracht und gebildet« hatten, völlig zu verschütten und vergessen zu machen droht, hält er es für geboten, diese »ursprünglichen Kräfte wieder frei zu machen«,10 natürlich eingedenk ihrer historischen Grenzen.11 Vielleicht hat auch die Tatsache, daß Cassirer in den politischen Lebensformen, und damit im Staat, nicht primär das Herrschafts- und Machtinstrument einer Klasse, eines Standes etc. gesehen hat, einer Rezeption lange Zeit im Wege gestanden. Wiewohl Cassirers politische Philosophie bzw. Theorie in den jüngsten Thematisierungen in der Regel Zustimmung und Würdigung erfährt, vermögen Autoren, die den liberalen philosophischen und politischen Auffassungen mit Mißtrauen begegnen, in seinen Ansätzen und Haltungen nichts Hervorragendes zu erkennen.12 Die Frage, inwieweit Cassirers philosophischer Idealismus einer empirischen Analyse der politischen Wirklichkeit im Wege stand, bedarf allerdings einer konkreten und differenzierten Antwort. Ungeachtet aller Schwierigkeiten mit der Quellenlage und der wissenschaftlichen Rezeption seiner Philosophie des Politischen rufen sowohl die praktisch-politische Haltung des Staatsbürgers Cassirer in dramatischen Zeiten als auch die im Gewande philosophiegeschichtlicher Abhandlungen formulierten Ansätze zu einer politischen Philosophie heute eine wachsende Aufmerksamkeit hervor. Einige Aspekte, die ein dankbares Feld für zukünfDie Aufk lärung deutet die Vernunft »als unwandelbar und als unerschütterlich«, weil sie »so alt wie die Menschheit selbst« sei, und will ihre Sätze wieder herstellen, in ihr altes Recht wieder einsetzen. – E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., 345; Siehe dazu auch U. Renz, »Cassirers Idee der Aufk lärung«, in: Th. Leinkauf (Hrsg.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistesund Kulturgeschichte, Hamburg 2003, 109–125. 9 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), Vorrede, in: ECW 15, a. a. O., XIV f. 10 Ebd., XVI. 11 Ebd., 4 f., 12 f. 12 Christian Tilitzki z. B. gelangt zu der Einschätzung, Cassirer trat »sehr im Gegensatz zu den Einschätzungen seiner Biographen und Bewunderer aus neuer Zeit […] kaum als Verteidiger des Weimarer Staates hervor. Hinderte ihn doch sein Kulturidealismus an der zureichenden Analyse der politischen Lage«. – Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im dritten Reich, 2 Bde, Berlin 2002, Bd. 1, 131; Tilitzki vermag in Cassirers politischen Reden von 1928 und 1930 nur einen »zeitenthobenen abstrakt-universalistischen Rationalismus« und »leere Beschwörungen der Vernunft« erkennen. – Ebd., 370. 8

Philosophie der Politik

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tige Dissertationen und Forschungsvorhaben eröffnen, sollen nachfolgend zur Sprache kommen. II. Die Größe und Weitsicht der politischen Haltung als deutscher Intellektueller, Philosoph und verbeamteter Professor läßt sich sehr anschaulich vor dem Hintergrund des repräsentativen Verhaltens seiner Universitätskollegen aufweisen. Haben doch aus dem historischen Rückblick die akademischen Philosophen als soziale Gruppe vor den politischen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts weitgehend versagt: entweder gebärdeten sie sich staatsverbunden in Situationen, in denen nicht zuletzt aus philosophischen Erwägungen Distanz zum Staatswesen angebracht gewesen wäre, oder sie versagten der politischen Ordnung ihre Treue und Verbundenheit, als dies geboten und nicht ungefährlich erschien. Eine erste große Bewährungsprobe für die Hochschullehrer bot ihnen der Weltkrieg 1914/18 und die Rolle, die der deutsche Staat in ihm spielte; sie wurde vertan. Viele Universitätsphilosophen unterstützen nicht nur laut und öffentlich die deutschen Kriegsziele und die entsprechende Kriegspropaganda, sondern definierten auch die deutsche Kultur als eine allen anderen nationalen Kulturen Europas und der Welt überlegene. Oft ist diese Selbstüberhebung mit Nationalismus und Rassismus gepaart.13 Die 1916 veröffentlichte große Schrift Freiheit und Form, die Cassirer auch »Studien zur deutschen Geistesgeschichte« nennt, macht klar, daß er sich an der Verächtlichmachung alles Französischen und Englischen nicht beteiligt. In den Weltkriegsjahren wird er zudem mit dem akademisch auftretenden Antisemitismus konfrontiert, u. a. durch Bruno Bauch, den Mitherausgeber der Kant-Studien. Bauch hält 1916 in einem Leserbrief an die Zeitschrift Der Panther Hermann Cohens Kantauslegung überspitzten So wird im »Aufruf an die Kulturwelt« (4.10.1914) nicht nur die deutsche Schuld am Krieg kategorisch verneint und alle Vorwürfe barbarischer deutscher Kriegsführung empört zurückgewiesen, sondern auch den Ententemächten vorgeworfen, sich mit den »russischen Horden« und Serben (!) verbündet zu haben »und der Welt das schmachvolle Schauspiel [zu] bieten, Mongolen und Neger (!) auf die weiße Rasse zu hetzen«. (In: Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Hrsg. von K. Böhme, Stuttgart 1975, 48) Die »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« (16.10.1914) verwahrt sich gegen einen Unterschied zwischen deutscher Wissenschaft bzw. Kultur und deutschem Militär bzw. Kriegsführung: sie bekennt sich uneingeschränkt zum deutschen Kriegsheer und seiner Gesinnung. – In: Ebd., 49 f.; Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Staatsbegriff des Deutschen Idealismus? Zu Cassirers Position in einer historischen Debatte (1914–1918)«, 189–204, und »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 13

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

jüdischen Rationalismus vor, der mit der »deutschen Weltanschauung« unvereinbar sei, und schließt die jüdischen Bürger als »Fremdvölkische« aus der deutschen Sprach-, Vaterlands-, Kultur- und Staatsgemeinschaft aus.14 In seinem Erwiderungsbeitrag »Zum Begriff der Nation«, den er allerdings nicht veröffentlichen läßt, weil Bauch von seinem Redaktionsamt zurücktritt, weist Cassirer die beleidigenden Angriffe auf seinen philosophischen Lehrer zurück und befaßt sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Deutschtum und Judentum in der deutschen Kultur.15 Für die Transzendentalphilosophie jegliche nationale, völkische oder rassische Besonderheit grundsätzlich ausschließend16 polemisiert er gegen eine naturalistische Anthropologie und Nationentheorie, wie Bauch sie vertritt.17 Außerdem betont Cassirer auch während der Kriegsjahre seine Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Nationalkulturen über ihre jeweiligen Eigenheiten hinaus.18 Im Zusammenhang mit der internationalen Kriegspropaganda, aber auch mit Blick auf die Neuordnung des deutschen Staates nach dem verlorenen Krieg werden von den deutschen Universitätsprofessoren die Ideen politischer Demokratie und einer parlamentarisch-republikanischen Staatsordnung vielfach als undeutsche, ausländische, fremde, feindliche Ideen gebrandmarkt und als Ideen abgelehnt, die mit dem deutschen Geist unvereinbar seien. Als ein markantes Beispiel dürfen Max Wundts 1918 verfaßten Überlegungen über »Deutsche Staatsauffassung« gelten.19 Diese abB. Bauch, Leserbrief, in: Der Panther. Deutsche Monatsschrift für Politik und Volkstum, 4. Jg., Heft 6, Juni 1916, 742–746, und 5. Jg., Heft 1, Januar 1917, 148–154 (= ECN 9, 279–284, 285–291); siehe dazu auch: U. Sieg, »Deutsche Kulturgeschichte und jüdischer Geist. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit der Völkischen Philosophie Bruno Bauchs. Ein unbeachtetes Manuskript«, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 34, 1991, 59–71; Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie, a. a. O., Bd. 1, 433 ff. 15 Cassirer kann es nicht »ohne ein Gefühl der Beschämung« mit ansehen, »zu welchen Zwecken« in dieser Debatte »die Gedankenwelt Kants und Fichtes« mißbraucht wird. – E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 31; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 16 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 44 f. 17 Der »echte Begriff des Volkes« ist demgegenüber nach Cassirer in »seiner ideellen Aufgabe und Leistung« zu suchen, nicht »schon in der Bluts- und Rassengemeinschaft«. – Ebd., 45. 18 Ebd., 54. 19 Das philosophische Bekenntnis zu Demokratie, Parlamentarismus, und den allgemeinen Rechten der Individuen im Staat nennt Wundt die »oberflächliche Staatsauffassung des Auslandes«, das Werk des »fremden Geistes«, der leider nun auch die Köpfe der Deutschen beherrsche, während die deutsche Philosophie den »Gedanken der Treue« des Einzelnen gegenüber dem Staat und des Vorrechtes des Allgemeinen, der Gemeinschaft zu 14

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weisende und feindselige Haltung gegenüber den liberalen politischen und rechtsphilosophischen Ideen setzt sich in den 20er Jahren fort und führt mit zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Cassirer dagegen betont in seinen Schriften als einer der Wenigen während des Krieges das vielfache Wechselspiel von Beeinflussung und Anregung innerhalb der europäischen Kultur. 20 Insbesondere nach Ausrufung der ersten deutschen Republik legt er zudem großen Wert auf den Nachweis, daß die von namhaften Kollegen als undeutsch abgelehnten Vernunftideen des Rechtsstaates, der unveräußerlichen Rechte und Freiheiten des Individuums gerade in der deutschen philosophischen Tradition (Grotius, Leibniz, Wolff ) eine wichtige Wurzel haben und folglich der deutschen Kultur und Staatswirklichkeit nicht fremd sind bzw. fremd sein müssen.21 Als zunächst rein philosophische Ideen hätten sie im 17./18. Jahrhundert von Deutschland aus auf England, Frankreich und Nordamerika übergegriffen und seien dort durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1776 im Freistaat Virginia, 1789 in Paris) in die politische Praxis überführt worden. Kant und andere Vertreter des Deutschen Idealismus haben sie dann – mangels realer politischer Praxis in Deutschland – wiederum als politische Philosophie weiter entwickelt.22 In der deutschen politischen Wirklichkeit finden nach Cassirers Meinung diese philosophisch-politischen Ideen – erweitert um die Idee der repräsentativen Demokratie – erst 1919 im Verfassungsstaat von Weimar ihre Realisierung, dem Wilhelminischen Staat wollte er dies nicht recht zugestehen. 23 Er stellt sich selbst ganz bewußt in diese Tradition des politischen und rechtsphilosophischen Denkens und bestärken habe. (M. Wundt, »Deutsche Staatsauffassung« [1918], in: Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, a. a. O., 153) »Zwischen dem deutschen und dem demokratischen Gedanken gibt es keine wahre Vermittlung« (ebd., 155). Hinsichtlich der Staatsauffassung befinden sich das »Fremde« und das »bewährte Deutsche« in einem Verdrängungskampf (ebd., 156 f.). 20 So heißt es in Freiheit und Form (1916) sich gegen »geistigen Chauvinismus« verwahrend, das »konkret-geschichtliche Leben« und die Autonomie seiner einzelnen Sphären oder Sondergebiete wie des Religiösen setze sich zunächst in einer Sphäre durch, dann in allen Sphären der nationalen deutschen Kultur und letztlich überschreite sie »jede spezifisch-nationale Bedingtheit und Schranke«. – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 393. 21 E. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1927), a. a. O., 295 f. 22 So stellt Kant die Idee des republikanisch verfaßten Staates (Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, repräsentatives System) der Idee des despotischen Staates gegenüber, in welchem allein der Wille des Herrschers gilt. Dies sind für Kant die beiden grundsätzlichen Regierungsformen, während ihn die drei klassischen Regierungsarten weniger interessieren, wobei er allerdings die repräsentationslose antike Demokratie ablehnt. 23 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 386 f.

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bezieht die Vernunftidee der republikanischen Verfassung auf ein »Prinzip der Gesetzgebung«, das – als die »innere Form des staatlichen Ganzen« prägend – den vereinten Willen des ganzen Volkes als möglichen Gesetzgeber fordert.24 Folglich muß nach Cassirer jeder Untertan des Staates und seiner Gesetze gleichzeitig auch Staatsbürger sein, der an der Gesetzgebung Anteil hat. Demnach bindet »eine bloße Idee der Vernunft« den praktischen Gesetzgeber. Als eine zweite vertane Bewährungsprobe für die deutschen Hochschullehrer erwies sich zweifellos ihre Haltung zur Weimarer Demokratie, die nicht zuletzt wegen ihrer sozialen Schieflage auch im Volk keine übermäßige Zustimmung erfuhr und die gleichzeitig durch die Kommunisten als Hindernis auf dem Wege zum angestrebten Rätestaat heftig bekämpft wurde. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen fi ndet Cassirer sehr früh ein vorbehaltlos bejahendes Verhältnis zum neuen parlamentarisch-demokratischen Staat und seiner republikanischen Verfassung vom 11. August 1919, die ihm als die angemessene politische Form des Lebens gilt. Er engagiert sich als Hochschullehrer und als Staatsbürger für diese Republik u. a. in der liberal und republikanisch gesinnten Deutschen Demokratischen Partei, in Verbänden der Hochschullehrer, unterschreibt Aufrufe usw.25 Er ist in politischen Fragen ein großer Realist und sieht die existierende Demokratie vielfach bedroht, auch durch eine Philosophie, die auf den Mythos anstatt auf die Vernunft, auf das Volksganze anstatt auf das Individuum, auf den korporativen anstatt auf den republikanischen Staat setzt. Als an der Hamburger Universität Ende der 20er Jahre die politische Kämpfe – wie überall im Deutschen Reich – eskalieren und die Ablehnung der demokratisch-parlamentarischen Zustände durch große Teile der Dozenten- und Studentenschaft in Obstruktionspolitik umschlägt, setzt sich der Professor und Universitätsrektor Cassirer 1928 und 1930 in öffentlichen Reden mehrfach engagiert für die demokratische Verfassung ein und damit auch den Angriffen ihrer Feinde aus.26 Ein solches politisches Engagement ist z. B. von Husserl nicht bekannt, und Heidegger hat als Philosoph und als Rektor der Freiburger Universität die Weimarer Demokratie sogar freudig mit zu Grabe getragen.

E. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1927), a. a. O., 302 f. 25 Den Aufruf deutscher Hochschullehrer, die Weimarer Verfassung »ohne Vorbehalte und Umschweife« anzuerkennen, unterzeichnen im Juni 1920 neben Cassirer u. a. Max Weber, Max Dessoir, Kurt Goldstein, Paul Linke, Siegfried Marck und Moritz Schlick. – Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie, a. a. O., Bd. 1, 56. 26 Siehe dazu im vorliegenden Beitrag Anm. 6. 24

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Vor dem Hintergrund der steten und engagierten Beschäftigung mit Fragen der politischen Philosophie im Kontext seiner Philosophie des Menschen als eines a n i m a l s y m b o l i c u m ist es nicht verwunderlich, daß Cassirer, wie nur sehr wenige Intellektuelle 1932/33 sehr schnell und weitblickend das politische und kulturelle Wesens des Nationalsozialismus als eines Inhumanismus erfaßt, dessen Weg in den totalitären Staat die Freiheitsrechte des Individuums zerstört. Konsequent verläßt er sofort sein Land, nicht zuletzt auch wegen des nun zur Staatsdoktrin werdenden Antisemitismus. Den von ihm sehr geschätzten Philosophen Husserl, der aus einer Reihe von Gründen in Deutschland bleibt, hat nur der Tod 1938 vor dem Schlimmsten bewahrt. Das öffentliche politische Engagement Cassirers in diesen Schicksalsjahren für den demokratischen und republikanischen Staat speist sich natürlich auch aus philosophischen Überzeugungen. Man kann ihn mit gutem Recht als Philosophen der Freiheitsrechte des Individuums bezeichnen. Die Idee der Freiheit als das Zentrum der Philosophie bildend, von dem aus die Welt des Handelns und die Welt des Erkennens aufzubauen ist, sieht er u. a. bei Kant vorbildlich erfaßt und realisiert.27 Sein eigenes Denken kreist aber auch immer um die angemessene politische Form (Ordnung), die diese Werte repräsentiert und befördert.

III. Obwohl das Politische in Cassirers Philosophie der symbolischen Kulturformen nicht eine so prägnant systematische Stellung inne hat wie der Mythos, die Sprache oder die Wissenschaft , legen seine Schriften doch eine Deutung nahe, die auch den Staat, das Politische als eine symbolische Form der geistigen Sinnwelt des Menschen bzw. als eine »Form der Kultur« verstehen läßt.28 Vor allem Gerhardt hat den Gedanken betont, daß »sich Ernst Cassirer auch als politischer Denker nach wie vor im Gedankenkreis seiner Philosophie der symbolischen Formen bewegt«.29 Dafür gibt es auch einige

E. Cassirer, »Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte« (1931) in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1927), a. a. O., 218. 28 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 407. 29 V. Gerhardt, Vernunft aus Geschichte (1988), in: H.-J. Braun et al. (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 228. Für Cassirer sei Politik »sowohl Ausdruck wie auch Ursprung der Symbole schaffenden Kraft des Menschen«. – Ebd., 232. 27

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Fingerzeige bei Cassirer selbst;30 eine explizite und eindeutige Bezeichnung des Politischen als einer symbolischen Form fehlt allerdings von ihm. Zudem bleiben noch einige klärungsbedürftige Fragen zurück. So scheint er die politische Lebensordnung gelegentlich von der sozialen und kulturellen absichtsvoll zu unterscheiden.31 Außerdem ist noch nicht geklärt, was das eigentümliche Strukturgesetz einer symbolischen Form Politik ausmacht und inwieweit das Politische die systematischen Stufen einer symbolischen Form des Geistes (Gefühl-Anschauung-Denken; Ausdruck-Darstellung-Bedeutung) durchläuft.32 Eine Besonderheit der politischen Form symbolischer Objektivierung wäre zudem, daß sie gleichzeitig immer auch die »Welt der Tat«, die Welt der »staatlichen und sozialen Wirklichkeit« ist.33 Die historisch auftretenden Theorien und Lehren über Politik, Staat und Recht sieht der Philosoph Cassirer in einer engen Wechselwirkung mit der realen, praktischen politischen und Rechtsentwicklung auf nationaler Ebene. Politische Theorie und Praxis (Staat, Institutionen, Verfassung, Parteien, politische Handlungen) wirken ganz offensichtlich aufeinander und bringen sich letztlich gegenseitig zum Ausdruck.34 Folglich korrelieren einer jeweiligen politischen Praxis eigentümliche staatliche Realitäten, politische Gesinnungen und politische Theorien. Dennoch schließt diese Wechselwirkung keineswegs aus, daß die politische Philosophie bzw. die Staatslehre die realen politischen Zustände ideell überschreiten kann, im Gegenteil. Denn obwohl es seit der Reformation bzw. endgültig seit 1806 bis zum Jahr 1871 keinen deutschen Gesamt- oder Nationalstaat und damit Wie ein Vorgriff liest sich z. B. die Feststellung über das politische Spätwerk von Humboldts, habe dieser doch »die Nationen und mit ihnen die Staaten, als ihr sichtbarer Ausdruck […], selbst in den Kreis der geistigen Energien und der ursprünglichen Lebensmächte aufgenommen, deren Totalität es […] zu überschauen gilt«. (E. Cassirer, Freiheit und Form [1916] in: ECW 7, a. a. O., 353) Ein anderes Mal spricht Cassirer von zwei gegensätzlichen »Form[en] der symbolischen Betrachtung« und geistigen Deutung welthistorischer Ereignisse, für die Kant und Goethe exemplarisch stehen. – E. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1927), a. a. O., 303. 31 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, (engl. 1946), Aus dem Englischen von R. Kaiser, Frankfurt a. Main 1990, 80 (= ECW 23, 53 f.). 32 Die Philosophie des Politischen hat nach Cassirer u. a. das Verhältnis des staatlichen Gesamtwillens zum Willen des Einzelnen aufzuklären. – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 354. 33 E. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1927), a. a. O., 291. 34 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 321 f.; Ders., »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1927), a. a. O., 391. 30

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keine nationalstaatliche Praxis gegeben hat, wurde diese durch die politische Theorie und Philosophie z. B. des Deutschen Idealismus kompensiert oder vorweggenommen. Es ist nicht die Absicht des vorliegenden Beitrages, eine Darstellung der Entwicklung des politischen Denkens im philosophischen Werk Cassirers, das Ende der 20er Jahre seine eigentliche Dynamik erfährt und 1944/45 kulminiert, zu geben.35 Die wichtigsten Ideen und Themen seiner politischen Philosophie lassen aber in Umrissen eine konsistente Theorie des Politischen erkennen. Deren Gerüst bilden meines Erachtens drei Grundideen, die als die Idee der rationalen – vernünftigen – Begründung des Politischen, die Idee der unveräußerlichen Rechte des Individuums im bzw. gegenüber dem Staat und die Idee des Primates der Ethik bzw. des Normativen gegenüber dem Politischen umschrieben werden können.36 Diese drei Grundideen spiegeln annähernd auch die von Cassirer herausgearbeiteten drei wichtigen Zäsuren in der Entwicklung der politischen Theorie wieder, denen jeweils eine bestimmte politische Praxis (Realität) korreliert. Als e r s t e Zäsur gilt ihm die rationale und dabei ethische Begründung des Idealstaates durch Platon, die das bis dahin vorherrschende mythische Selbstverständnis des Menschen bzw. des Gemeinwesens außer Kraft setzt. Die z w e i t e Zäsur sieht er im 17./18. Jahrhundert mit den neuzeitlichen Naturrechts- und Vertragstheorien eintreten, die mit Hilfe der Vernunft, rationalen Argumenten und Gründen die Menschen- und Bürgerrechte des Individuums im Staat und gegenüber dem Staat formulieren und begründen. Dies schließt die Verständigung über die wahre Aufgabe des Staates ein. Eine d r i t t e Zäsur bildet für ihn der im 20. Jahrhundert in Theorie und Praxis aufkommende totale oder totalitäre Staat, der diese beiden Errungenschaften wieder zunichte macht. Die dritte Zäsur hat ihre Vorgeschichte in der Romantik und der Staatslehre Hegels, d. h. in einer Entwicklung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts.37 Im Weiteren sollen die Überlegungen Cassirers diesen drei Zäsuren zugeordnet werden. Siehe dazu im vorliegenden Beitrag Anm. 6. Reinhard Mehring geht davon aus, daß die von Cassirer geforderte Einbindung der Theorie der Politik in eine Theorie der Gerechtigkeit die frühe Orientierung am Problem der Autonomie (Freiheit und Form) als Ausgangspunkt der freiheitlichen Staatstheorie ersetzt. (R. Mehring, »Pathos der ›Zusammenschau‹: Annäherungen an Cassirers Philosophiebegriff«, in: E. Rudolph [Hrsg.], Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, a. a. O., 71 f.) Demgegenüber betont Massimo Ferrari, daß sich bereits die frühe Darlegung der Staats- und Rechtstheorie in Freiheit und Form an ethischen Gehalten und der Idee der Gerechtigkeit orientiert, so daß sie auch in späteren Schriften »keine wesentliche Abweichung« mehr erfährt. – M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: Ebd., 47 f. 37 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 350 f. (= ECW 25, 266 f.); 35

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Er thematisiert außerdem das historische Auftauchen der politischen Organisations- und Ordnungsform ›Staat‹ in der Frühgeschichte des Menschen, nachdem das gemeinschaft liche Leben lange Zeit ohne Staat allein in den kulturellen Lebensformen Mythos, Religion, Sprache, Kunst vonstatten gegangen war.38 Auch in dem Zusammenhang stellt sich die auf das Gesamtkonzept der Cassirerschen Symbolphilosophie zielende Frage, ob das Politische selbst eine kulturelle Lebensform, d. h. eine ›symbolische Form‹, oder eher eine eigenständige Lebensordnung des Menschen bildet.39 Außerdem begründet diese Einsicht vom historischen Charakter des Staates die Auffassung Cassirers, wonach der Staat bei aller Wichtigkeit »nicht alles« ist und »nicht allen menschlichen Betätigungen Ausdruck geben« kann, nur den politischen und rechtlichen. 40 Weil er sich – wie übrigens auch Kant – ein Leben des modernen Menschen außerhalb der politisch-rechtlichen Staatsordnung aber nicht vorzustellen vermag, 41 muß eine »zufriedenstellende Theorie« des modernen oder zivilisierten Menschen grundsätzlich auch eine Theorie des Politischen einschließen. 42 Damit stoßen wir beiläufig auf sein Grundverständnis des sozialen Lebens: Für Cassirer bedarf das Zusammenleben der Vielen einer inneren und äußeren Ordnung, um nicht in Chaos und eine unerträgliche Anarchie auszuarten. Seiner Auffassung nach existieren zwei grundsätzliche, sich einander ausschließende Ordnungsprinzipien: die my t h i s c h e Ordnungsform und die postmythische ›r a t i o n a l e‹ Ordnungsform des sozialen Lebens. Im Staat erfährt letztere ihre entscheidende Ausprägung, wirkt sich aber auch in anderen kulturellen Formen des Lebens aus. Bei dieser Unterscheidung bleibt der Grundgedanke der Cassirerschen ›Phänomenologie des Mythos‹ allerdings erhalten, wonach die mythische Welt die unterste Stufe der Kultur bildet, die den Menschen vom tierischen Dasein trennt. Gleichzeitig wird aber das mythisch-magisch geordnete Leben im Sozialverband als ein unfreies, unwürdiges, unethisches Leben gedeutet, weil das Individuum völlig dem sozialen Ganzen untergeordnet und der nicht in Frage zu stellenden Tradition ausgeliefert sei. Das Leben in der kulturellen Ordnung bedeutet siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Hegel-Bilder im Wandel. Zu Cassirers Verständnis der politischen Philosophie Hegels«, 205–227. 38 »In der Menschheitsgeschichte ist der Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt ein spätes Produkt der Zivilisation.« – E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1946), a. a. O., 104 (= ECW 23, 71). 39 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 55–74. 40 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1946), a. a. O., 104 (= ECW 23, 71). 41 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 328. 42 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1946), a. a. O., 103 (= ECW 23, 71).

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für Cassirer jedoch die zunehmende Emanzipation von natürlichen, d. h. tierhaften Lebenszuständen, weil es ein Anwachsen von Vorausschau, von Ausblick auf Zukünftiges impliziert, was es nach und nach die mythischmagische Prägung des Lebens abstreifen läßt. Beigleitet wird dies zudem durch eine Bewegung hin zu Individualität, persönlicher Verantwortung, freier Willensentscheidung, dem Rechtfertigen (Begründen) von Handlungen, dem Hinterfragen des Überkommenen. Außerdem erkennt der Mensch der nachmythischen Kultur objektive Gesetze in der natürlichen und in der sozialen Welt und richtet sich nach ihnen. Er gibt sich selbst das ethische Gesetz seines Handelns. Dafür bedarf es eines rationalen öffentlichen Raumes – der Politik bzw. des Staates. Fungiert der Staat jedoch erneut als mythisch-magische Ordnung, dann vernichtet er diese kulturellen Errungenschaften und ihre ethische Normativität. Genau dies hat Cassirer in den 30er und 40er Jahren im deutschen NS-Staat beobachtet.

IV. Die historisch erste relevante Theorie einer rationalen Ordnung in Gestalt des Staates findet Cassirer in Platons Theorie vom Idealstaat vor. Hier führt dieser die Rationalität über die ethische Idee der Gerechtigkeit ein, der das Staatswesen zu dienen habe. Der Idealstaat ist damit weder die durch die Tradition legitimierte faktische Macht, was für das mythische Denken die stichhaltigste Rechtfertigung bedeutet, noch eine bloß technische Ordnungsmacht: Er ist und bleibt an die Idee der Gerechtigkeit gebunden, er muß sich über sie rechtfertigen. 43 Mit dieser ethisch-politischen Auffassung ist er in Cassirers Augen »der Begründer und der erste Verteidiger des Rechtsstaates«. 44 Dabei deutet er die normative Gerechtigkeit in Anlehnung an die »Ethik des Sollens neukantianischer Prägung« als eine Aufgabe des Staates, an deren Lösung beständig und aktiv gearbeitet werden muß. 45 Durch diese Arbeit werde der mythische Fatalismus zugunsten der eigenverantwortlichen Gestaltung des Schicksals ersetzt, das damit genaugenommen kein Schicksal mehr ist. 46 Daneben habe Platon auch die Dabei gilt Platon Gerechtigkeit als »ein allgemeines Prinzip der Ordnung, der Regelmäßigkeit, der Einheit und der Gesetzmäßigkeit«, das sich auch »innerhalb des individuellen Lebens« manifestiert. – E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 91 (= ECW 25, 68). 44 Ebd., 91 (= ECW 25, 68). 45 M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, a. a. O., 52. 46 Ebd., 53 ff. 43

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»Grundfrage nach dem Verhältnis von Recht und Macht« einer rationalen Lösung zugeführt, an die das Naturrecht im 17. Jahrhundert wieder anknüpft. 47 Die »Idee der Gerechtigkeit«, der »Grundgehalt des Rechts« gilt nunmehr als unabhängig von der »bloßen Macht«, von »aller Begründung auf die Macht«. Damit ist die Theorie des Machtstaates, die Theorie einer von allem Vernunftrecht unabhängigen Machtsphäre abgewiesen. 48 Daraus folgt gemäß diesem neuen Verständnis u. a., daß die positiven Gesetze, die in einem Staat erlassen werden, sich am Vernunftrecht messen lassen müssen, eine Folgerung, die sich Cassirer zu Eigen gemacht hat. In diesem Sinne bringt er 1932 in der Juristischen Gesellschaft Hamburg zum Ausdruck, daß sich auch die Notverordnungen jener Tage vor den Vernunftgrundsätzen des Naturrechtes rechtfertigen müssen. 49 Die Idee eines Primates des Ethischen oder der praktischen Vernunft sieht Cassirer übrigens ebenfalls in der politischen Philosophie Rousseaus exemplarisch realisiert, von wo aus sie schließlich Eingang in die Philosophie Kants finde. Nur wenn die kulturellen Gesellschaftsformen – Wirtschaft, Wissenschaft und Staat – ethischen Lebenszielen der Gemeinschaft dienen, d. h., wenn sie »sich nicht schlechthin über das Leben erheben und sich von ihm losreißen«, sondern wenn sie »der Ordnung des [sittlichen] Lebens selbst dienen«, dann geht von ihnen keine Gefahr für die Gemeinschaftlichkeit, für die Humanität mehr aus.50 Bekanntlich setzte für Rousseau eine solche richtige »ethische Ordnung der Dinge« zunächst »eine radikale Umwandlung« des bestehenden despotischen Staates zum vernünftigen Rechts- und Gesetzesstaat voraus, eine Umwandlung, die Cassirer mit der Ausrufung des Weimarer Verfassungsstaates in Deutschland offenbar grundsätzlich verwirklicht sieht. Gewiß hat er dabei insbesondere die in der Reichsverfassung niedergelegten Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen (Artikel 109 und folgende) im Auge.51

E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., , 246. Ebd., 249 f. 49 E. Cassirer, »Vom Wesen und Werden des Naturrechtes« (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), a. a. O., 222 f. 50 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, 286. 51 Die Verfassung des Deutschen Reichs, Vom 11. August 1919, Die Änderungen bis zum 1. August 1930 sind berücksichtigt, Verlag der Reichsdruckerei, Berlin o.J., Zweiter Hauptteil: Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, Erster Abschnitt: Die Einzelperson, 35 ff. 47

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V. Auf der Grundlage der neuzeitlichen Naturrechts- und Vertragstheorie und ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Staat formiert sich laut Cassirer Ende des 18. Jahrhunderts der »moderne Staat«, den er zunächst vor allem in den Freistaaten Nordamerikas und in der Französischen Republik verkörpert sieht. In dem Zusammenhang würdigt er auch das philosophische Verfahren der Naturrechtler im 17. Jahrhundert (Grotius, Pufendorf), das »Gebiet des Rechts«, das Rechtssystem aus sich selbst heraus ohne rechtsfremde Annahmen aufzubauen, einzelne Rechtsentscheidungen allein von diesem System her zu sanktionieren und zu beglaubigen.52 Dem Recht, der »reinen Rechtssphäre« des Naturrechts eignet so Ursprünglichkeit, »geistige Selbständigkeit«, »Eigenart« und «Eigenwert«, »Autarkie«,53 was Cassirer grundsätzlich jeder einzelnen symbolischen Form des geistig-kulturellen Daseins zuschreibt. Das alte Recht und der »alte Staat« des christlichen Mittelalters waren demgegenüber teilweise irrational begründet worden und kannten weder die Gleichheit der Rechte noch die Rechte eines jeden Individuums gegenüber dem Staat. Die »politische Philosophie des 17. Jahrhunderts«, an die das folgende Aufk lärungsjahrhundert anknüpft, ist für Cassirer dagegen auch deshalb durch einen »rationalen Charakter« geprägt, weil »die Lehre vom Staats-Vertrag« die gesetzliche und soziale Ordnung auf freie, individuelle vertragschließende Akte zurückführt. Gebe es doch »nichts weniger Mysteriöses als einen Vertrag«, der mit vollem Bewußtsein abgeschlossen wird.54 Wenn mit der Theorie des Staatsvertrages das eigentliche »›Prinzip‹ des Staates« entdeckt wurde, dann meint dies ganz offensichtlich das Prinzip der ursprünglichen Selbstgesetzgebung der gemeinschaft lich vereinten Individuen. Cassirer würdigt folgerichtig an den Naturrechtslehren, daß für sie das natürliche vernünftige Recht »aller menschlichen und göttlichen Gewalt voran[geht]« und von ihr unabhängig ist.55 Die damit zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, wonach das Recht »nicht in der bloßen Macht- und Willenssphäre, sondern in der Sphäre der reinen Vernunft [gründet]«,56 hat auch Cassirer sich zu Eigen gemacht. Für ihn ist es entscheidend, daß sich schließlich aus dem deutschen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts die universale »Lehre von den Menschen- und Bürgerrechten« aufgebaut hat.57 52 53 54 55 56 57

E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., 248 f. Ebd., 253. E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 227 (= ECW 25, 172). E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., 251. Ebd. Ebd., 260.

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Bilden doch die politisch-ethische Lehre von den Menschen- und Bürgerrechten und damit der Begriff des Individuums (bzw. der Person) und dessen unveräußerlicher Rechte das Zentrum seiner symbolischen Kulturphilosophie und philosophischen Anthropologie.58 Das sich selbst bewußte Individuum versteht Cassirer dabei als ein kulturelles Resultat, keineswegs als den schlichten Anfang aller Kulturentwicklung, die zudem erst auf einer relativ späten Stufe die politische Lebensform einschließt. Die mythische Form sozialen und kulturellen Lebens besitzt noch kein ausgeprägtes Individualitätsbewußtsein. Die Idee von den unveräußerlichen Grundrechten des Individuums, die Eingang in die politischen Ideen der Revolutionen des 18. Jahrhunderts, insbesondere der Französischen, findet, stamme jedoch explizit nicht aus der französischen Philosophie. Bei ihrem Ideengeber Rousseau, so betont Cassirer, »opfert das Individuum, indem es durch den Gesellschaftsvertrag mit anderen in Gemeinschaft tritt, sich selbst, ohne Einschränkung, dem Willen der Gemeinschaft auf. Es entäußert sich aller ursprünglichen Rechte – und eben diese Entäußerung ist es, die das oberste Prinzip der Rousseauschen Staatstheorie bildet«.59

Das Verhältnis zwischen Individuum und Staat finde bei Grotius und Leibniz eine grundsätzlich andere Lösung. Leibniz ist für Cassirer »der erste unter den großen europäischen Denkern gewesen, der in der Grundlegung seiner Ethik und seiner Staats- und Rechtsphilosophie mit

Siehe dazu im vorliegenden Band auch den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324. 59 E. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 294; Siehe dazu auch ders., »Vom Wesen und Werden des Naturrechtes« (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), a. a. O., 218. I m Buch über Die Philosophie der Aufklärung (1932) wird dies ausführlich dargestellt: Im neuen Staat Rousseaus, der auf dem Gesellschaftsvertrag beruht, entfaltet sich der ethische Imperativ der freiwilligen Unterwerfung eines jeden Individuums unter das selbsterrichtete Gesetz. Weil Rousseau in diesem Fall zwischen Staat und Individuum keine Interessens- und Willensdifferenzen mehr sieht, bedarf es seiner Auffassung nach auch keiner Schranken und Sicherungen, die das Individuum vor dem Staat als der legitimen Zwangsgewalt im Interesse aller schützen. Rousseau sieht in diesem Staatswesen die »unveräußerlichen Rechte« des Individuums keineswegs aufgegeben, sondern vielmehr restlos verwirklicht. – E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), 349, 352 f. 58

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vollem Nachdruck und mit aller Entschiedenheit das Prinzip der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums vertreten hat«. 60

Christian Wolff habe dann in seiner »Rechts- und Staatsphilosophie« den »Gedanken der angeborenen und unveräußerlichen Rechte« des Individuums – im Unterschied von den erworbenen Vorrechten – systematisch umgesetzt. 61 Inhaltlich waren diese Ideen allerdings lange vorher, nämlich bereits von der griechisch-römischen Stoa formuliert und propagiert worden. 62 Locke wiederum trägt zu ihnen die Einsicht bei, daß die »rechtlichen Beziehungen« des Gesellschaftsvertrages durch natürliche »ursprüngliche Bindungen« ergänzt werden, die kein Vertrag schaffen oder etwa aufheben kann. 63 Die »eigentliche Funktion und der wesentliche Zweck des Staates« sind darin zu sehen, daß er diese natürlichen, angeborenen Rechte »in seine Ordnung hinübernimmt und vermittels derselben schützt«. 64 Ein solcher Staat, der diesem seinem Zweck gerecht wird, verdient auch die Zustimmung und den Beistand aller seiner Staatsbürger. Dank der französischen Philosophie und ihrer praktischen Wirkung wurde die ihr zunächst nicht einwohnende Idee der »unveräußerlichen Rechte« des Einzelnen »in das wirkliche politische Leben eingeführt«. 65 Dabei versteht Cassirer unter den unveräußerlichen Rechten u. a. das geschützte Recht eines jeden Bürgers auf Eigentum und auf Sicherheit, aber auch auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf Denkfreiheit. Ohne diese unveräußerlichen und von einem Staat, der seiner Funktion gerecht wird, zu garantierenden und zu schützenden Grundrechte ist nämliche keine wahre Freiheit möglich. Erst die Idee einer den Staat bindenden Erklärung unveräußerlicher Grundrechte des MenE. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 295 f.; Siehe dazu auch die aufschlußreiche Studie Ch.S. Widdau, Cassirers Leibniz und die Begründung der Menschenrechte, Wiesbaden 2016. 61 E. Cassirer, »Die Idee der republikanischen Verfassung« (1928), in: ECW 17 Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), 297. 62 Mit der ethischen »Konzeption von der fundamentalen Gleichheit der Menschen« führten die Stoiker laut Cassirer »ein Prinzip ein, das sich als Wendepunkt in der Geschichte des ethischen, politischen und religiösen Denkens erwies.« – E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 134 (= ECW 25, 100). Für die Stoiker ist nämlich »die menschliche Vernunft […] autonom und selbständig. Sie bedarf keinerlei äußerer Hilfe […]. Dieses Prinzip wurde der Eckpfeiler aller Systeme des Naturrechts.« – Ebd., 226 (= ECW 25, 171). 63 »Es gibt natürliche Rechte des Menschen, die v o r aller Bildung von Gesellschaftsund Staatsverbänden bestanden haben«. – E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., 261. 64 Ebd., 262. 65 Ebd., 262. 60

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schen vollzieht für Cassirer »die eigentliche gedankliche Konstituierung der neuen staatlichen Ordnung«, d. h. die philosophische Konstitution des Begriffs vom modernen Staat. 66 Die Grundrechte widersprechen dem Prinzip der unumschränkten Staatsgewalt, sie schränken die legitime Macht des Staates auf seine eigentlichen Aufgaben ein. Die philosophische Idee unveräußerlicher Rechte des Individuums wird von Cassirer nicht nur seit Freiheit und Form (1916) geteilt, sondern bis zu seinem Tode als höchst aktuell für die eigene politische Gegenwart behandelt. Denn nur auf der Grundlage dieser Idee ist für ihn das Verhältnis von Individuum und Staat, Individuum und Gemeinschaft als freiheitliches zu bestimmen. Das Verhältnis hatte ihn bereits 1916 beschäftigt, als er der Beziehung von »Freiheitsidee« und »Staatsidee« (Idee des befugten Zwangs) nachgeht, wie sie im Deutschen Idealismus begründet wird. 67 Diesen treibe nämlich die Frage um, ob eine Versöhnung des »Konflikt[es] der Staatsform mit der Forderung der Freiheit« der Individuen möglich ist. 68 Die Beziehung des staatlichen Gesamtwillens zum Willen der Einzelnen glaubt Cassirer in den für diese Periode prägenden Theorien des Naturrechtes und des ursprünglichen Vertrages grundsätzlich geklärt, soweit sie Leibniz’ Fassung des Problems der Individualität beachten. 69 In ihr begrenzt das Freiheitsprinzip erstmals philosophisch begründet die staatliche Machtbefugnis und schließt dabei die ideelle Rechtfertigung des Staates ein.70 Cassirer stimmt also weder in den Chor derer ein, die im Staat ausschließlich den Zwang, die Beschränkung und die Fessel für die Freiheit der Individuen sehen, noch gilt ihm der Staat als sakrosankt, dem sich das Individuum in ›Nibelungentreue‹ zu unterwerfen hat. Vielmehr deutet er bereits in den Jahren des Ersten Weltkrieges, als viele Universitätskollegen unter Hinweis auf die Staatsphilosophie des nämlichen Deutschen Idealismus das uneingeschränkte Opfer des Individuums für das Ganze, das Allgemeine fordern, den Staat als einen notwendigen Ordnungsrahmen für das selbstbestimmte Leben der Individuen. Der Zwiespalt von Freiheitsidee und Staatsidee löse sich nämlich – und nur dann – auf, wenn »das Recht und die Macht des Staates« auf die Bedingungen der Erziehung aller Bürger zur selbstverantEbd., 264. E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 319; siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 68 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 364. 69 Ebd., 328 f. 70 Ebd., 334. Obwohl sich der »Freiheitsgedanke« nur in der »Form des Staates« erfüllen kann, geht er niemals völlig in ihr auf, er bewahrt seine Eigenständigkeit und entfaltet die Kritik an der »bestehenden Staatsform«. – Ebd., 385. 66 67

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worteten Freiheit gegründet und eingeschränkt ist. Damit müsse sich der moderne Staat daran messen lassen, inwieweit er der sittlichen Aufgabe gerecht wird, die Menschen zur Selbstbestimmung anzuhalten. Die Heteronomie (staatlicher Zwang) darf allein als Mittel der Verwirklichung der Autonomie der Einzelnen dienen.71 Cassirer resümiert diese Einsicht mit der Feststellung, zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeichne sich als »Aufgabe des modernen Staates« immer klarer ab, daß er eine Zwangsgewalt im Allgemeininteresse sein muß, die den Individuen die bürgerlichen Freiheiten gewährt. Damit ist der Staat kein bloßer Selbstzweck der Geschichte, und die Staatsräson steht keineswegs über dieser seiner Aufgabe. Deshalb polemisiert Cassirer auch Zeit seines Lebens gegen die »organische Staatstheorie« der Romantik, die den Staat als lebendige Einheit, als Ganzes vor den Teilen (Individuen), als selbständige Macht da sein läßt.72 Eine solche Staatstheorie hebt nach seiner Auffassung die Autonomie der Individuen gänzlich auf, weil sich ihr das »geschichtliche und staatliche Leben« in ein Naturleben auflöst, in welchem die Freiheit an die Naturnotwendigkeit verloren geht. Als Organismus entzieht sich der Staat dem Willen der Einzelnen, ist er zur »Naturmacht« geworden, ist er nicht mehr das Ergebnis menschlicher Vereinbarung.73 In den romantisch-organischen Theorien wird das Fundament des Staates nicht im Willen der Einzelnen, sondern in der Geschichte des Volkes als einer naturhaften »Schicksalsgemeinschaft« bestimmt. Weil die romantische Staatstheorie zudem die rationale Staats- und Rechtsauffassung bekämpft und verdrängt, arbeite sie objektiv der inhumanen Theorie des totalen Staates zu, allerdings ohne einen solchen herbeiführen zu wollen, denn sie kennt keinerlei »Idee des ›totalitären Staates‹«.74 In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts sieht sich Cassirer immer wieder hineinversetzt in den Kampf romantisch inspirierter Staatstheorien gegen die Vernunft lehren der Aufk lärung.75 Dabei verteidigt er nicht nur die universalistische Auffassung von den Menschenrechten, sonEbd., 343. Ebd., 368 f.; siehe dazu vom Verfasser, »Lebendige ›Idee‹ kontra toten ›Begriff‹ des Staates. Adam Müller und seine organologische Staatsauffassung«, in: IV. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2008/2009, Lebensphilosophische Vordenker des 18. und 19. Jahrhunderts, Hrsg. von R.J. KozljaniČ, München 2008, 69–81. 73 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 369. 74 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 241 (= ECW 25, 183). 75 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 94 f. Die von ihm sehr geschätzte Grundposition der Aufk lärung, zu der er auch Fichtes »Staatstheorie« zählt, komme darin zum Ausdruck, daß alles Faktische, d. h. die positiven Gesetze in einer Staatsordnung, auf ein rein-Ideelles (Vernunftnorm) zurückbezogen wird. Damit komme nicht den positiven 71

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dern auch die Idee des freien Individuums als Bezugspunkt für die moderne Staatslehre. Der moderne Staat hat in Cassirers Augen die schwere Aufgabe zu erfüllen, Hüter der Menschenrechte zu sein. Deshalb müssen ihm auch seine Grenzen gegenüber den Menschen- und Bürgerrechten gezogen sein. Die demokratisch-republikanische Staatsform sieht er als einen Garanten für die Einhaltung dieser Grenzen an. Die Kritik an der romantischen Staatslehre und ihren Implikationen führt gleichsam auf die dritte Zäsur in der Geschichte des Politischen. Zuvor ist noch kurz auf Cassirers Ringen um die Praktikabilität seiner Auffassung vom »modernen Staat« hinzuweisen. VI. Der politische Philosoph, engagierte Staatsbürger, Beamte im Staatsdienst und Funktionsträger in der akademischen Selbstverwaltung der Hamburger Universität mußte nahezu täglich zur Kenntnis nehmen, daß die republikanische Verfassung der Weimarer Demokratie von großen Teilen des Volkes, speziell der politischen und akademischen Kreise, nicht als Chance erkannt und akzeptiert, sondern vehement bekämpft wurde. Es bleibt Cassirer keineswegs verborgen, daß in diesen politischen Kämpfen um die Macht und für die Demontage des demokratischen Staatswesens die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Masse des Volkes weitgehend untergingen. Angesichts der vielfältigen und konträren politischen Handlungsziele ist er Ende der 20er Jahre ganz offensichtlich um die theoretische Begründung eines Minimalkonsensus bemüht, der es den sich bekämpfenden politischen Lagern faktisch erlauben würde, ihre Auseinandersetzungen zumindest auf dem Boden des Rechtsstaates auszutragen. Deshalb wirbt Cassirer in seinen Reden und Aufsätzen jener Jahre um einen Verfassungspatriotismus der deutschen Akademiker. Ein wichtiger Aspekt dieses Werbens, der Nachweis, daß diese politischen Ideen deutschen Geistesquellen entstammen, wurde bereits angesprochen. Cassirer entwickelt nun aber auch den Gedanken, daß der vernünftig gerechtfertigte Staat als Ganzes ein Raum ist, in dem man Gegensätze austragen oder zumindest ertragen kann. Dafür müssen die Bürger sich aber mit ihrer rechtlichen und politischen Ordnung grundsätzlich identifizieren, und dies auch auf emotionaler Ebene. Schon Platon habe festgestellt, daß »die Selbsterhaltung des Staates« nur dann funktioniert, wenn seine Verfassungsgesetze »in den Seelen der Bürger geschrieben« sind, was ihnen Rechtssatzungen, sondern den Vernunftnormen als gleichverbindlichen für alle menschlichen Wesen die Priorität zu.

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ihren »moralischen Halt« gibt.76 Im republikanischen Verfassungsstaat sieht Cassirer 1930 die den Staat tragende, stützende »sichere Staatsgesinnung«, das »einheitliche und kraft volle staatliche Bewußtsein«, aus den beiden Wurzeln theoretisches »Wissen und [praktisches – C.M.] Vollbringen« erwachsen.77 Die Staatsgesinnung setzt also neben dem theoretischen Wissen, das an Universitäten und Schulen wach gehalten wird, die reale Möglichkeit voraus, am Leben des Staates politisch mitzuwirken. Allein eine sich ständig erneuernde, bewußt und aktiv gelebte Staatsgesinnung sichere den »Bestand der Staaten«.78 Über die tiefe Wahrheit dieser These sind wir u. a. im deutschen Umbruchjahr 1989 belehrt worden. Die »Staatsgesinnung« wird dabei bei weitem nicht als eine bloß theoretische Haltung verstanden, die sich in Teilhabe, in Inanspruchnahme und in Wirken mit Blick auf den Staat niederschlägt. Sie gründet vielmehr in einem bestimmten kollektiven Lebens- und Gemeinschaft sgefühl des Volkes.79 Dieses Gemeinschaftsgefühl und die in ihm ruhende Staatsgesinnung der Bürger können aber nicht aus dem Nichts heraus erzeugt werden, sie müssen vielmehr »aus einem tiefen und unmittelbaren Lebensgrunde erwachsen und sich aus ihm ständig erneuern«. 80 Nur ein solches Gemeinschaft sgefühl, das die politischen Gegensätze und Kämpfe der Parteien, Klassen, Konfessionen durch eine gemeinsame Überzeugung (Gesinnung) umgreift, ermöglicht es allen Bürgern und Politikern, »fest im Mittelpunkt [des] staatlichen Seins« zu stehen, wenn sie selbst nach verschiedenen Richtungen arbeiten und ›vollbringen‹. 81 Ein solcher Mittelpunkt hat mit dem »gemeinsamen Endzweck« des Staates in Beziehung zu stehen, was die Staatsgesinnung bewußt macht: Bei allem Kampf, bei aller Not und allem Wirrsal des Streites dürfe der Endzweck des rational begründeten Staates E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 102 (= ECW 25, 75). E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und Staatstheorie« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 106. 78 Ebd., 106. 79 So waren die in Amerika und Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts erklärten prinzipiellen Menschen- und Bürgerrechte für Cassirer nicht zuletzt »ein Ausdruck eines allgemeinen Volksgefühls«, d. h., sie beruhten keineswegs allein auf Prinzipien der natürlichen Vernunft . (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 233 [= ECW 25, 176]). Und auch der Durchbruch der aufk lärungsfeindlichen romantischen Staatstheorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte sich auf ein entsprechendes »neues Staatsgefühl« und eine entsprechende »neue Staatsgesinnung« stützen. (E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie« [1930], in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, 94). Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie Cassirers. Am Beispiel des ›Gemeinschaftsgefühls‹«, 173–188. 80 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, 106. 81 Ebd., 108. 76

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niemals vergessen werden. Cassirer ist 1930 davon überzeugt, daß sich in der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 eine republikanische Staatsgesinnung und ein korrelierendes Gemeinschaftsgefühl niedergeschlagen haben. Das schließe allerdings »sehr verschiedene, ja gegensätzliche Wege« des Ringens um die Staatstheorie und die praktische Staatsgesinnung nicht aus. 82 Die »Einheit« jenes Ringens ist für Cassirer unter dieser Konstellation gerade deshalb möglich, weil sie eine praktische Seite hat: Sie wurzelt im »Willen zum Staat als solchem«, 83 als einem Willen zum Ganzen. Man könnte hier von einem Willen zu einem politischen Grundkonsensus sprechen, der sich an der Verfassung orientiert. Das heißt, der Wille zum Rechtsstaat schließt für den politischen Menschen Cassirer die Bereitschaft aller Handelnden ein, den gemeinsamen rechtlichen Rahmen anzuerkennen, der es erlaubt, die politischen Kontrahenten als Rechts- und Staatsgenossen und nicht als Feinde anzusehen. Politiker und Bürger, die sich während der 20er und 30er Jahre in Theorie und Praxis der Idee des totalen Staates verschrieben, hatten damit aber diese geforderte Staatsgesinnung und den Grundkonsensus bereits verlassen, was im Grunde auch für die politische Bewegung hin zu einem Rätestaat gilt. Angesichts der faktischen Aufkündigung des Grundkonsensus durch einen Teil der Bürger gibt es in Cassirers politischer Theorie eigentlich keine Lösung, keine Verfahrensregeln, wie der Staat und die ihn tragenden Bürger dagegen vorgehen können und sollen. Ein Rechts- und Verfassungsstaat, in dem die führenden Politiker sich vom neuzeitlichen Staats- und Menschenverständnis verabschiedet haben – das gilt für die rechtskonservative Bewegung hin zum korporativen Staat ebenso wie für die linksradikale Bewegung hin zum Rätestaat –, wird als solcher allerdings früher oder später zugrunde gehen. Cassirer will dies aber nicht als letztes Wort der Geschichte verstanden wissen. VII. Nachdem die Geschichte der politischen Theorie bis zum Ende des 18. Aufklärungsjahrhunderts in Abgrenzung vom Mythischen, Mystischen und Göttlichen stetig auf eine rationale Begründung zugelaufen war, setzt aus Cassirers Sicht mit der Romantik an der Wende zum 19. Jahrhundert eine Rückbesinnung auf den Mythos ein. Von nun an finde sich insbesondere in Deutschland die rationale Begründung des Rechts- und Verfassungsstaates zunehmend den Angriffen neuromantischer Staatsauffassungen ausgesetzt, 82 83

Ebd., 112. Ebd., 112.

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Angriffe, die mit dem Weltkrieg 1914/18 immer bedrohlicher werden. Der gegen den Weimarer Verfassungsstaat geführte theoretische Kampf wird zu Beginn der 30er Jahre schließlich vom faktischen Sieg der Idee des totalitären Staates in der vorherrschenden zeitgenössischen Staatslehre gekrönt. Cassirer kommt auf Grund seiner Recherchen zu der Überzeugung, daß die konservativen Gegner des demokratischen Staates, die antidemokratischen Parteien, Politiker und Ideologen, den Sieg dieser Idee nicht zuletzt dadurch ermöglicht haben, daß sie sich viele Jahre lang einer mythisierenden Sprache bedienten, in der ›Feinde‹, ›Verschwörungen‹, ›Vorsehung‹ und ›Schicksal‹ wichtigste Themen waren. Diese in die mythisch-magische Kulturform des Lebens zurückgreifende Sprache habe entscheidend dazu beigetragen, in den Menschen den Glauben an die Wirksamkeit der Vernunft, der Rationalität, d. h. rationaler Ordnungen, rationaler Regeln des Handelns etc., stetig zu unterhöhlen. Die in Umlauf gebrachten, künstlich technisch-rational erzeugten politischen Mythen (Rasse, Führer, Volk, Schicksal), deren in den Dienst des totalen Staates gestellte Produktion Cassirer unter dem Stichwort einer ›Technik der modernen politischen Mythen‹ erfaßt, 84 zerstörten in der Konsequenz die Ideen vom freien und gleichen Individuum, von der Autonomie des Individuums in der staatlichen Ordnung. 85 Für die theoretische Aktualität dieser Erklärung spricht u. a., daß sich mit ihrem begrifflichen Apparat auch das Versinken des jugoslawischen Vielvölkerstaates im Chaos von Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen und vielfachen Phobien, geschehen in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, ebenso wie die Gemengelage des internationalen ›Krieges gegen den Terror‹ nach 2001 auf eine erstaunlich schlüssige Weise erfassen und – zumindest teilweise – aufk lären lassen. Hinsichtlich der Theorie und der politischen Realität des totalitären Staates in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts gelangte Cassirer zu der Feststellung, daß hier alle »individuelle Verantwortung« an das Kollektiv abgetreten wird. Das Kollektiv ist zum einzigen moralischen Subjekt geworden und unterwirft sich dem mythisch-magisch agierenden

Die bloße Technik der Politik bzw. die rein technische Rationalität enthält sich allen »Regeln des ethischen Verhaltens« und ist allein auf die Sicherung des »politischen Körpers« ausgerichtet. Deshalb kann sie beliebigen politischen Zielen dienlich gemacht werden. Cassirer fordert die von Machiavelli der Autonomie der Politik von der Religion wegen praktizierte Trennung von Politik und Moral zu überwinden und jegliche Technik (Kunst) der Politik einer ethischen Norm unterzuordnen. Sonst werde der Staat zum Selbstzweck, der sich an rein technischer Rationalität orientiert. – E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 189 ff. (= ECW 25, 144 ff.). 85 Ebd., 375 (= ECW 25, 282). 84

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

politischen Führer. 86 Mit dieser Entwicklung falle der moderne Mensch in den »Stand des unzivilisierten Lebens« zurück, weil die Einzelnen aufgehört haben, »frei und persönlich handelnde Menschen zu sein«. Vielmehr führen sie nun »ein Scheinleben« wie Marionetten, und die »politischen Führer« ziehen an den Fäden. 87 Im ethischen Sinne frei Handeln bedeutet und erfordert nämlich, daß die Handlungsmotive vom eigenen Urteil, von der eigenen Überzeugung und nicht von einem Führer oder einem Kollektivsubjekt abhängen. Die alltägliche Wirklichkeit in seinem Vaterland scheint die bittere Erkenntnis zu bestätigen, wonach die Freiheit bzw. das Bedürfnis, das Streben nach Freiheit kein natürliches Erbteil des Menschen ist: »Um sie zu besitzen, müssen wir sie [beständig – C.M.] schaffen«. 88 Freiheit erweise sich vielmehr als ein historisches Gut; sie bleibt immer im Range einer unendlichen Aufgabe, d. h., sie ist uns nicht g e g e b e n , sondern beständig a u f g e g e b e n . Es ist nicht ganz eindeutig zu entscheiden, ob es Goethische Altersweisheit oder ein resignativer Zug am späten Cassirer ist, wenn er die Einsicht formuliert, daß der Mensch unter krisishaften Lebensbedingungen immer in Versuchung stehe, seinem natürlichen Instinkt zu folgen, der ihn nicht die Freiheit, sondern die für ihn bequemere Abhängigkeit wählen läßt. Freiheit wird, so Cassirers trauriges Resümee, »im privaten als auch im politischen Leben mehr als Last denn als Vorrecht betrachtet«. 89 Insbesondere in Zeiten einer tiefgreifenden sozialen Krisis, wenn der Zusammenbruch des öffentlichen Lebens droht, versuche der Mensch, diese Last von sich abzuschütteln und Institutionen zu fi nden, die sie ihm abnehmen: Und »hier hakt der totalitäre Staat und der [moderne – C.M.] politische Mythus ein«.90 Die ihn vertretenden Politiker versprechen ein Entkommen aus dem Dilemma und unterdrücken bzw. zerstören damit den Sinn für die Ebd., 371 (= ECW 25, 280). Ebd., 373 (= ECW 25, 281). 88 Ebd., 376 (= ECW 25, 283). 89 Ebd., 376. 90 Ebd., 376; Für die Empfänglichkeit und Anfälligkeit des modernen Menschen für den Mythos hat der Philosoph Cassirer zwei Gründe formuliert: Einen findet er in der Unausrottbarkeit der unmittelbaren emotionalen Ausdrucksphänomene, in denen das mythische Bewußtsein wurzelt. Sie gehören zur elementarsten Ausdrucksfunktion des menschlichen Geistes und liefern uns immer wieder der Macht unserer Gefühle aus. Als einen weiteren hebt er die Zwangsläufigkeit hervor, mit der sich der Mensch im Unterschied zu seinem Verhalten gegenüber der Natur im sozialen Leben in Situationen der Krisis und des Zusammenbruches der bestehenden rationalen Ordnungen »trotz aller unvermeidlichen Mißerfolge und Enttäuschungen« »immer noch hartnäckig, gewaltsam und verzweifelt« an den Glauben klammert, seine Wünsche »durch geschickten Gebrauch magischer Formeln und Riten« realisieren zu können. – Ebd., 386 f. (= ECW 25, 289 f.). 86

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Freiheit selbst. Gleichzeitig ›befreien‹ sie den Menschen von jeder persönlichen Verantwortung. Aus dieser Analyse bzw. Erklärung stellt sich die Frage, ob Cassirer annimmt, daß eine nach ethisch-normativen Zwecken konstituierte soziale, kulturelle und politische Lebensordnung ausprägbar sei, die nicht von zerstörerischen Krisen des rationalen Ordnungsgefüges mit den ihnen geradezu zwangsläufig nachfolgenden Enttäuschungen bei den Bürgern heimgesucht wird. Dann hätte auch der Typus des Politikers, der damit Politik zu machen gedenkt, keine wirkliche Chance, und die entlastende Funktion der Kunst, die den Menschen vor der einnehmenden Gewalt seiner Emotionen zu schützen vermag, könnte diesen Zustand ergänzen und befestigen. Diesen Gesellschaftszustand hätte eine erfolgreiche, rational geführte, auf ethischen Werten fußende und ihnen dienende Politik zu bewerkstelligen, und genau diese für Cassirer so notwendige Einheit von praktischem Erfolg, Rationalität und Ethik stellt das eigentliche Problem in unseren Gesellschaften dar. Die Zweifel, ob eine solche komplexe Politik sich verwirklichen läßt, entzünden sich gleich an allen drei Forderungen. Vielleicht ist es aber auch in Cassirers Sinne erfolgversprechender nach Mechanismen bzw. Wegen zu suchen, die es dem modernen Menschen ermöglichen, die Krisen gesellschaftlicher Rationalität und Erwartungen zu durchleben, ohne den Glauben an die immer wieder durch eigenes Handeln und Dazutun mühsam partiell wiederzugewinnende Rationalität der vielfältigen Ordnungen zu verlieren. In dem Falle gehörte der Wechsel von Rationalität und Irrationalität zur Normalität, die wir zu ertragen haben, ohne an ihr zu resignieren. Cassirer thematisiert jedenfalls auf anschauliche und drastische Weise die Folgen, die eintreten, wenn die Individuen ihre Freiheit, ihre Menschenund Bürgerrechte an den »›totalitären‹ Staat« verlieren bzw. abtreten. Dann gibt es irgendwann einmal keine »Sphäre individuellen Lebens und individueller Freiheit« mehr, »die dem Staat unzugänglich« bleibt.91 Einen solchermaßen beklagenswerten Zustand totaler Unfreiheit und Rechtlosigkeit habe bislang in der Geschichte keine noch so despotische Herrschaft erreicht. Für die im 20. Jahrhundert in einigen Staates Europas zeitweise zur Vorherrschaft gelangte Theorie – und Praxis – des totalitären Staates, den Cassirer mit dem Führerstaat identifi ziert, und für das sie begünstigende »Stimmungsklima« haben seiner Meinung nach Thomas Carlyles Theorie der Heldenverehrung, die Rassenlehre Arthur Graf Gobineaus und die Staatslehre Georg Friedrich Wilhelm Hegels wichtige Voraussetzungen geschaffen, ohne selbst die Idee des totalitären Staat zu enthalten oder zu

91

Ebd., 185 (= ECW 25, 142).

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propagieren.92 Das Verhängnisvolle der politischen Philosophie Hegels sieht er 1945 darin, daß sie mit der Sitte (Gewohnheit, Tradition) als dem zugrundeliegenden Element im politischen Leben die individuelle Verantwortung (Sokrates, Platon) zurücknimmt, entkräftet. Individuelle ›Moralität‹ werde als rein subjektive Maxime gedeutet, ohne Anspruch auf Objektivität. Somit gebe es bei Hegel »keine moralische Verpflichtung für den Staat« in Bezug auf seine Bürger mehr.93 Cassirer hält dieser politischen Philosophie vor, die moralische Natur des Staates zugunsten seiner faktischen Macht geopfert zu haben.94 Dennoch behalten in der Hegelschen Staatslehre im Gegensatz zu den »modernen Theorien vom totalitären Staat« die übrigen Formen der Kultur (Kunst, Religion, Philosophie), die nur im bzw. durch den Staat existieren, ihren unabhängigen Wert, ihr eigenes Strukturgesetz, und werden nicht »unter eine äußere Rechtsprechung des Staates gestellt«.95 Damit sei dieser Staatslehre die »fundamentale Lebensbedingung des totalitären Staates« – »das Prinzip der »Gleichschaltung«« – gänzlich fremd. Außerdem erkläre Hegel den Geist des Staates niemals »zu einem Diener des Willens einer politischen Partei oder eines individuellen Führers«,96 auch sei ihm »jene Art von Vergötzung, die das Charakteristikum unserer modernen totalitären Systeme ist«, völlig fremd.97 Dennoch bestreitet Cassirer speziell gegen Hegel gewandt, daß die »absolute Form des Staates« Ziel und Ende der Geschichte sein kann, die er mit Kant als unendliche Aufgabe begreift.98 Obwohl sich das Politische als eine besondere – kulturelle – Gemeinschafts- und Ordnungsform erweist, die einen bestimmten Rahmen auch für die anderen kulturellen Tätigkeits- und Existenzweisen vorgibt, betont Cassirer die strukturelle Eigenständigkeit der Kulturformen Religion, Kunst, Wissenschaft etc. innerhalb des politischen oder öffentlichen Dennoch habe neben Carlyles Theorie der Heldenverehrung »vielleicht keine andere philosophische Theorie […] so viel getan in der Vorbereitung des Weges für die modernen Ideale politischer Führerschaft.« (Ebd., 281 [= ECW 25, 213]). »Wenn auch im Gegensatz zu den nationalistischen Ideen stehend, gehört Gobineau [ebenfalls] zu denjenigen Schriftstellern, die auf indirekte Weise das meiste getan haben, die Ideologie des totalitären Staates vorzubereiten. Es war der Totalitarismus der Rasse, der den Weg absteckte zu den späteren Auffassungen vom totalitären Staat.« – Ebd., 301 (= ECW 25, 228). 93 Ebd., 344 (= ECW 25, 261). 94 Darin sieht er »das klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus, das jemals durch irgendeinen politischen […] Schriftsteller vorgetragen wurde«. – Ebd., 347 (= ECW 25, 264). 95 Ebd., 358 (= ECW 25, 271). 96 Ebd., 359 (= ECW 25, 272). 97 Ebd., 360 (= ECW 25, 272). 98 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 104 (= ECW 23, 71). 92

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Raumes. Jede Kulturform realisiere einen eigenen Typ der Rationalität, der sich grundsätzlich von der ›Logik‹ des Mythos unterscheidet, aber auch niemals mit der Rationalität (›Logik‹) des Politischen zusammenfällt.

VIII. Im Mythus des Staates (1946) stellt Cassirer eine exakte Wissenschaft der Politik in Aussicht. Bis dahin hatte er zur exakten Wissenschaft eigentlich immer nur die Mathematik und die mathematischen Naturwissenschaften (Physik) gerechnet, selbst die Biologie wird in dem Ende der 30er Jahre verfaßten Manuskript Erkenntnisproblem IV (II. Buch) schon gesondert behandelt. Hier wird die Politik bzw. das »staatliche Leben« noch als Gegenstand der wissenschaft lichen Geschichtsschreibung (Burckhardt) begriffen, die ein bestimmtes Verständnis des Staates voraussetzt und anwendet.99 Auch in dem zur selben Zeit verfaßten und den historischen Abriß ergänzenden wissenschaftsphilosophischen Manuskript Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis werden mathematische Synthesis, empirische und exakte Naturwissenschaft (Physik, Psychologie) und Kulturwissenschaft nebst historischer Erkenntnis unterschieden.100 Die Wissenschaft der Politik kommt dabei nicht vor. In den 1942 veröffentlichten Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften, die auf beiden Manuskripten aufbauen, wird das Politische ebenfalls nicht speziell als Gegenstand einer empirischen oder exakten Einzelwissenschaft thematisiert. Allerdings zählt Cassirer hier den Staat bzw. das »staatliche Leben« zur Kultur und ihren Formen, was durch soziologische Begriffe nicht aufzuklären sei,101 erlangen die Kulturformen doch in den jeweiligen Kulturwissenschaften ihr theoretisches Selbstbewußtsein.102 Im 1944 niedergeschriebenen Versuch über den Menschen, in dem er der Politik kein eigenes Kapitel als symbolischer Form kulturellen Lebens widmet, in welchem die Politiklehre bzw. die Theorie des Staates aber mehrfach

E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1935), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 300 ff. 100 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 141 f., 150 f. 101 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 407, 440 f. 102 Diese Deutungsmöglichkeit wird durch Gerhardt betont und unterstrichen. – V. Gerhardt, Vernunft aus Geschichte (1988), in: H.-J. Braun et al. (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 232. 99

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Erwähnung findet,103 wird das Politische bzw. der Staat zwar als eine wichtige »Gemeinschaftsform« des Menschen neben den anderen Kulturformen bestimmt,104 nähere Ausführung zur Wissenschaft der Politik fehlen aber auch hier. Indirekt läßt sich entnehmen, daß die politische Form des Lebens historisch erschlossen, nach ihrem »allgemeinen Strukturprinzip« begriffen und als »empirische Wissenschaft« betrieben wird.105 Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ knüpfe an die Erkenntnisse bezüglich aller »Formen des ›Menschseins‹« an.106 In der staatsphilosophischen Schrift Der Mythus des Staates (1946) scheint Cassirer zunächst einmal zwischen politischer Philosophie und Wissenschaft der Politik zu unterscheiden, auch wenn für beide der Umschlag der mythisch-magischen Einstellung (Argumentation) in die rationale als Bezugspunkt gilt. Eine »rationale Theorie der Politik« wird zudem als Problem (Ziel) sowohl der Philosophie als auch der Erfahrungswissenschaft benannt.107 Bei der philosophischen Fragestellung bezüglich der rationalen Politiklehre geht es wohl vor allem um die allgemeinen vernünftigen (rationalen) Begründungen, Ableitungen etc. Die politische Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft dagegen hat mit den realen politischen Institutionen, den realen politischen Handlungen, aber auch den politischen Stimmungen und den historischen Theorien des Staates einen eigenen Gegenstand, den sie mit speziellen Methoden erforscht. Bei Cassirer selbst überwiegt allerdings ganz klar die Aufarbeitung der historisch auftretenden Theorien des Staates. Zu einer Kenntnisnahme realer politischer Vorgänge und Konstellationen kommt es in der Regel nur über die Analyse entsprechender Theorien oder wissenschaftlicher Abhandlungen, die diese zu beschreiben beanspruchen. Ob daraus auf eine gewisse Realitätsferne oder ›Wirklichkeitsabstinenz‹ (Tilitzki) geschlossen werden darf,108 bleibt klärungsbedürftig. Als eine wichtige historische Ausprägung der politischen Wissenschaft gilt Cassirer Machiavellis empirische Theorie der Politik, die eine erfolgversprechende Kunst (Technik) der Politik konzipiert. Zumal an ihr besonders deutlich werde, daß auch die politische Theorie – wie die praktische Politik – der ethischen Normen bedarf. Im Mythus des Staates (1946) will er die politische Wissenschaft, die sich im Unterschied zur politischen Philosophie mit den konkreten sozialen und 103

E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 98 f., 103 (= ECW 23,

71). 104 105 106 107 108

Ebd., 104 (= ECW 23, 71). Ebd., 111 f. (= ECW 23, 75 f.). Ebd., 114 f., siehe auch 127 (= ECW 23, 78, 87 f.). E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 385 f. (= ECW 25, 288 f.). Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie, a. a. O., Bd. 1, 369.

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politischen Handlungen, Überzeugungen und Stimmungen der Menschen befaßt, ganz offensichtlich als eine soziologische Disziplin bzw. als eine auf der Soziologie fußende Wissenschaft verstanden wissen,109 die viel mit einer Naturwissenschaft gemein hat. Das hatte noch im Versuch über den Menschen (1944) ganz anders geklungen; auch Gerhardt ist überzeugt, daß Cassirer die Politik nicht als soziologische Wissenschaft entwirft.110 Die Soziologie selbst erscheint nun – d. h. 1946 – quasi als exakte Naturwissenschaft bzw. wird ebenso wie die politische Wissenschaft an den Standards der Naturwissenschaften gemessen. Allerdings betont Cassirer entscheidende Unterschiede zwischen rationaler Natur- und Sozialwissenschaft hinsichtlich ihrer Emanzipation bzw. Durchsetzungskraft gegenüber dem mythischen Denken, der mythischen Kultur- und Gemeinschaftsform. So stellt er fest, daß die stolze Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, die im 17. Jahrhundert selbst noch gegen die »okkulten Wissenschaften, Magie, Alchemie, Astrologie« etc. zu kämpfen hatte,111 den »magischen Zauber«112 genau in dem Moment endgültig brechen konnte, als der Mensch begonnen hat, »sich selbst zu befreien«, d. h. als er begonnen hat, hinsichtlich seines Bildes von der Natur »seine Täuschungen und Illusionen, seine menschlichen Idiosynkrasien und Einbildungen los [zu] werden« (Bacon).113 Gewiß wirkt sich in dieser Erklärung ein an Kant geschultes Philosophieverständnis aus, das die von uns vorgefundene und wissenschaft lich aufgeklärte Wirklichkeit sehr stark von unseren Denkprinzipien, Anschauungen und Lebensstimmungen konstituiert sieht. Ein solcher befreiender Bruch mit dem magischen Zauber sei in der Politik bzw. politischen Wissenschaft bis 1945 noch nicht von statten gegangen, trotz aller seit Platon aufgestellter rationaler politischer Theorien. Im sozialen und politischen Leben habe sich der Mensch immer noch nicht endgültig von seinen Täuschungen und Illusionen befreien können, die ihn – während der Krisen und Zusammenbrüche – weiterhin in die Hände der politischen Mythen und der sozialen Magie treiben.114 Deshalb glaubt er feststellen zu müssen: »Von allen menschlichen Götzen sind die politischen […] die gefährlichsten und dauerhaftesten.« Allein eine Befreiung von den politischen »Täuschungen und Illusionen«, »Idiosynkrasien und Bereits 1916 hatte er von »modernen politisch-sozialen Problemen« gesprochen. – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 385. 110 V. Gerhardt, Vernunft aus Geschichte (1988), in: H.-J. Braun et al. (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 232. 111 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 384 (= ECW 25, 288). 112 Ebd., 385 (= ECW 25, 288). 113 Ebd., 385 (= ECW 25, 289). 114 Ebd., 385 (= ECW 25, 289). 109

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

Einbildungen« eröffne die Perspektive einer rationalen, ja exakten Wissenschaft der Politik.115 Unter ihr versteht Cassirer hier eine täuschungs- und illusionsfreie Aufk lärung des sozialen Lebens, seiner objektiven Gesetze und Regeln. Für ihn gibt es »schließlich eine Logik der sozialen Welt, wie es eine Logik der physischen Welt gibt. Es gibt gewisse Gesetze, die nicht ungestraft verletzt werden können. […] Wir müssen lernen, den Gesetzen der sozialen Welt zu gehorchen, ehe wir es unternehmen, diese Welt zu beherrschen.«116

Solange die mythisch-magischen Täuschungen und Illusionen, die »politischen Götzen«, nicht zugunsten rationaler Erkenntnis und Einsicht überwunden sind, erhebt sich das ganze soziale Leben, das durch die Politik bzw. den Staat organisiert und befriedet wird, über einem »vulkanischen Boden«, der in Krisenzeiten abrupt alle bisherigen rationalen Ordnungsformen zusammenbrechen läßt und den Menschen wieder in den ›vorzivilisatorischen‹ – d. h. mythischen – Zustand zurückwirft.117 Er macht auf seine Beobachtung aufmerksam, daß in den Krisenzeiten die Würde der rationalen Naturwissenschaft und ihrer Gesetze unangetastet bleibt. »Das plötzliche Aufkommen der politischen Mythen im 20. Jahrhundert« habe uns aber gezeigt, daß die Hoffnungen, eine feste und sichere rationale Ordnung des sozialen und politischen Lebens wissenschaftlich erfaßt und praktisch beherrscht zu haben, verfrüht waren: Die Politik ist vielmehr »noch weit davon entfernt, eine positive Wissenschaft zu sein, geschweige denn eine exakte Wissenschaft«.118 Merkwürdig erscheint an Cassirers Entwurf einer Politik als Wissenschaft nicht nur, daß er der »physischen Welt« allein die »soziale Welt« gegenüberstellt, von der kulturellen ist zumindest in diesem Zusammenhang keine Rede mehr. Bedenklich ist auch, daß zwar von »sozialen Gesetzen«, Ebd., 385 f. (= ECW 25, 289). Ebd., 387 (= ECW 25, 290). Merkwürdig und gewiß nicht zufällig ist, daß Cassirer immer in der Wirform spricht, d. h., daß er ganz offensichtlich die realen Philosophen und Politikwissenschaft ler in diese von politischen Götzen beherrschte Stimmungslage mit einbezieht, die sich damit nicht allein auf das Massenbewußtsein erstreckt. Er bringt in der Wirform zum Ausdruck, daß auch die übergroße Mehrheit der Theorieproduktion und praktische Politik Betreibenden den mythisch-magischen Täuschungen und Einbildungen unterliegt und so den Gesetzescharakter des sozialen Lebens mißachtet. 117 Obwohl Cassirer hier Mythus und Irrationalität identifiziert, gesteht gerade er der mythischen Auffassungs- und Ausdrucksweise eine eigene, spezifische Form der Rationalität zu, die allerdings den einzelnen Menschen an das Schicksal und die Gemeinschaft des Lebens bindet. 118 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 386 (= ECW 25, 289). 115

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nicht aber von politischen Institutionen, Verfahren, Staatsformen und -typen, unterschiedlichen Subjekten (Parteien, Verbände etc.) und den sich in der Politik artikulierenden Gruppen- und Klasseninteressen gehandelt wird. Auch erscheint der Zusammenhang von – rationaler – Theorie, irrationalen Lebensstimmungen und irrationalen Handlungen im Hauptwerk der politischen Theorie weiterhin klärungsbedürftig. Die politische Wissenschaft war 1945/46 und ist heute gewiß auf dem Wege, eine positive Erfahrungswissenschaft zu werden. Ob sie aber jemals eine exakte Wissenschaft sein kann, wie Cassirer mit wenigen Formulierungen suggeriert, ist jedoch mit einem Fragezeichen zu versehen. Demgegenüber hat sich seine Diagnose der Brüchigkeit rationaler sozialer, politischer und kultureller Ordnungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts nachdrücklich und augenscheinlich bestätigt.

Das Politische als philosophischer Gegenstand im Werk Cassirers § 1. Das Politische ist für den zumeist als Wissenschafts- und Kulturphilosophen wahrgenommenen Ernst Cassirer (1873–1945) in den mehr als vier Jahrzehnten seines philosophischen Schaffens ein sich durchziehendes Thema, das mal mehr, mal weniger in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Er wendet sich nicht erst in den letzten Jahren der Weimarer Republik oder während der Emigration nach 1933 Recht und Politik als philosophischen Gegenständen zu. So enthält bereits das Leibniz-Buch (1902) einige Prinzipien seiner späteren politischen Philosophie, deren Konzipierung er in den Jahren 1915/16 vollzieht.1 Da versteht er sich noch als »Studierender« und verfaßt zum Thema Staatsbegriff eine Reihe von Exzerpten aus Fachund Quellenliteratur, an die sich konzeptionelle Gedanken anschließen. Ein Auszug dieser Sammlung wurde 2008 im Nachlaßband ECN 9 erstmals veröffentlicht. 2 So gerüstet werden der im März 1916 in Berlin gehaltene Vortrag »Der Deutsche Idealismus und das Staatsproblem«3 und das entsprechende 6. Kapitel »Freiheitsidee und Staatsidee« in Freiheit und Form (1916) entworfen. 4 Über der Arbeit am philosophisch-politischen Hauptwerk The Myth of the State (1946) verstirbt Cassirer im Frühjahr 1945 in New York.5 Die während der Jahre 1915/16 zur Kenntnis genommene maßgebliche Fachliteratur übt durchaus Einfluß auf die Einsichten und Überzeugungen aus, unter denen er seine Philosophie des Politischen formuliert. Abgesehen vom Neukantianismus (Hermann Cohen) können in den Berliner Jahren Siehe dazu u. a. P. Favuzzi, Cultura e Stato. Fonti e contesto del pensiero politico di Ernst Cassirer / Kultur und Staat. Quellen und Kontext des politischen Denkens Ernst Cassirers, http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/favuzzi-pellegrino-2013-04-04/PDF/ favuzzi.pdf, Cap. 2: Le radici marburghesi. Motivi leibniziani nella riflessione politica cassireriana, 55–144. 2 E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 231–243. 3 E. Cassirer, »Der Deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ebd., 3–28. 4 E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 6. Kap., 319–387. 5 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), in: ECW 25, Text und Anm. bearbeitet von M. Lukay, Hamburg 2007; siehe dazu auch ders., The Myth of the State. Its Origin and its Meaning. Th ird Part: The Myth of the Twentieth Century (1944/45), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 167–224. 1

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insbesondere Autoren wie Otto v. Gierke, Georg Jellinek, Friedrich Meinecke und Leopold v. Ranke als verwendete zeitgenössische geistige Quellen gelten, aber auch Hermann Rehm, Albrecht Ritschl, Johann Caspar Bluntschli, Heinrich v. Treitschke, Ernst Troeltsch u. v. a. Vor allem aber bildet das Staatsideal des Deutschen Idealismus, so Cassirer, die Grundlage für »das Staatsideal unserer eigenen Gegenwart«. 6 § 2. Im Zentrum des Politischen steht bei Cassirer eindeutig der Staat bzw. die Philosophie des Staates, genau genommen des modernen bürgerlichen Staates, letztlich des deutschen Staates. Weil er sich – wie auch sein ›Gewährsmann‹ Kant – ein Leben des modernen Menschen außerhalb der politisch-rechtlichen Staatsordnung nicht vorzustellen vermag,7 muß eine ›zufriedenstellende Theorie‹ des modernen oder zivilisierten Menschen grundsätzlich auch eine Theorie des Politischen einschließen. 8 Das Politische erfährt – ähnlich wie andere Gegenstände auch – eine Thematisierung, die sich ein gutes Stück weit aus den philosophischen Grundüberzeugungen erklärt, also aus dem methodischen Idealismus neukantianischer Prägung. Das läßt ihn den philosophischen Staatsbegriff als Idee der reinen Vernunft mit regulativer Funktion deuten. Das Politische ist jedoch in unterschiedlicher Gestalt Thema seines Philosophierens: als reales politisches und staatliches Leben, als Staatsordnung und als politische Handlungen, aber a u c h und vor allem als diese politische Realitäten aussprechende oder ihnen enteilende Philosophie des Politischen, insbesondere als philosophische Staatstheorie und Rechtsphilosophie. Cassirer indiziert eine historisch je eigentümliche Einheit von politischer Praxis und Staatstheorie. Praxis und Theorie lassen sich insbesondere geschichtlich, also in der Welt- und Nationalgeschichte sowie in der Theoriegeschichte, als wissenschaftliche Gegenstände erfassen. § 3. Obwohl er Zeit seines Lebens als politischer Mensch agiert und sich engagiert, in Vereinen und Initiativgruppen, in akademischen Funktionen (z. B. 1929/30 als Rektor der Hamburger Universität) etc.,9 ist die Frage, inwieweit er sich auch in seiner politischen Philosophie den akuten realen politischen Herausforderungen zuwendet, ihnen gegenüber Stellung beE. Cassirer, »Der Deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 27. 7 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 339. 8 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990, 103 (= ECW 23, 71). 9 M. Hänel, »Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitan Philosophy. The Case of Ernst Cassirer«, in: L.E. Jones (Hrsg.), Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the Unided States, New York/Oxford 2001, 121 ff. 6

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zieht, in der Forschung sehr umstritten. Am ehesten läßt sich das für die Jahre 1928 bis 1932 begründet bejahen. Aber in den Berliner Jahren bis 1919, während der Hohenzollern-Monarchie mit ihren nur eingeschränkt demokratischen Institutionen, wird seine Haltung zu den praktischen Fragen in den Schriften nur mehr angedeutet denn offen ausgesprochen. In der unter deutschen Gelehrten zwischen 1914 und 1918 heftig und kontrovers geführten Debatte um die für die Zeit nach dem – siegreich beendeten – Weltkrieg angemessene und entsprechend zu reformierende deutsche Staatlichkeit, die unter Bezugnahme auf die sogenannten deutschen ›Ideen von 1914‹ geführt wird, bewegt er sich mit seinen Auffassungen im Rahmen der gemäßigten ›Volksstaatsgruppe‹ (Gerhard Anschütz, Hugo Preuß, Hans Delbrück, Max Weber), die auf eine Reform in Richtung einer demokratisch-konstitutionellen Monarchie hinwirkt und 1919 an der Weimarer Verfassung mitarbeiten wird.10 Dennoch sind von ihm im Unterschied zu anderen Teilnehmern an der Debatte zu den praktischen Herausforderungen der Reform (Wahlrechtsreform in Preußen, Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament etc.) keine expliziten Stellungnahmen bekannt. Hier muß hilfsweise auf Aussagen von Gelehrten wie Anschütz, Preuß, Weber, Meinecke etc. zurückgegriffen werden, denen er in Theorie und Praxis nahesteht.11 Auch verwundert etwas der umfangreiche Gebrauch, den Cassirer zeitlebens von den Schriften Otto von Gierkes macht. So schätzt und zitiert er dessen bekannten Werke zur Geschichte der – deutschen – Naturrechtslehren und des Genossenschaft srechtes,12 obwohl Gierke schon früh als Vertreter korporativistischer Ideen gilt, der demokratisch-parlamentarische Ordnungskonzepte als außerhalb der deutschen (›germanischen‹) genossenschaftlichen Tradition stehend ablehnt. 1915/16 positioniert sich Gierke innerhalb der extrem konservativen, antiwestlichen und demokratiefeindlichen Richtung (Georg v. Below, Reinhold Seeberg, Bruno Bauch, Max Wundt), die die Idee eines exkluierenden korporativen ›VolksgemeinSt. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ›Ideen von 1914‹ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, 240 ff. 11 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254, und »Staatsbegriff des Deutschen Idealismus. Zu Cassirers Position in einer historischen Debatte (1914–1918)«, 189– 204. 12 O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaft srecht, 4 Bde., Berlin 1868–1913; ders., Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik (1880), 2., durch Zusätze verm. Ausg., Breslau 1902; ders., Naturrecht und deutsches Recht. Rede zum Antritt des Rektorats der Universität Breslau am 15. Oktober 1882, Frankfurt a. Main 1883. 10

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schaftsstaates‹ vertritt, der ethnisch-religiös-politische Minderheiten (Juden, Katholiken, Sozialdemokraten) ausschließt.13 Cohen, dessen Deutschtümelei Cassirer nicht teilt, vertritt nach der Klassifizierung Bruendels in jenen Jahren die Position eines incluierenden korporativen ›Volksgemeinschaftsstaates‹ (Rudolf Eucken, Max Scheler, Georg Simmel), mit der es bei Cassirer einige Berührungspunkte gibt. § 4. Die politische Philosophie als eine Lehre vom Staat und seinen Bürgern, die einen allgemeingültigem Anspruch erhebt und mit allgemeinen Begriffen operiert, hat für Cassirer ihren Ort – wie andere philosophische Gegenstände auch – vor allem in der Geschichte des philosophischen Denkens, in den historischen Staatstheorien und Rechtsphilosophien. Die Tatsache, daß er die Philosophie des Politischen grundsätzlich in Werken, Systemen, Theorien der Philosophie- bzw. Politikgeschichte (von Platon bis Hegel) sucht und diskutiert, hat lange den Verdacht oder gar den Vorwurf genährt, Cassirer habe das Politische gar nicht als eigenständigen Gegenstand der Philosophie angesehen. Hieraus erwächst eine echte Herausforderung für das noch anstehende Unternehmen, seine Philosophie der Politik gründlicher zu erkunden und systematisch darzustellen. Als Hinweis muß hier genügen, daß Cassirer selbst in den beiden frühen Schriften zur Geschichte des Erkenntnisproblems in der Philosophie und Wissenschaft I/II (1906/07) Politik, Staat und Recht als eigenständige Kulturgebiete neben Philosophie, Wissenschaft, Religion und Kunst herausstellt. Auch die letzten Schriften (An Essay on Man [1944],14 The Myth of the State [1946]) sehen das Politische als eigenständige Kultur- oder Lebensform. § 5. Wegen ihrer engen Beziehung zur politischen Praxis figuriert die Philosophie der Politik als eine Nationalgeschichte des politischen Denkens, die in Wechselbeziehung mit den übrigen europäischen Nationalgeschichten des Politischen steht. Gleichzeitig bildet sie aber auch Besonderheiten der jeweiligen nationalen Theoriegeschichte (z. B. das, was man – einschließlich Cassirer – 1914 den »deutschen Geist« oder das »deutsche Wesen« nennt) und der geschichtlichen Praxis (so den fehlenden deutschen Nationalstaat bis 1871) ab. Es existieren also unterschiedliche »Form[en] der staatlichen Entwicklung« und damit verschiedene »Züge des politischen Denkens« in den nationalen Theoriegeschichten.15 Eine diesem Kontext enthobene, rein systematische politische Philosophie macht für ihn ganz offensichtO. v. Gierke, »Krieg und Kultur« (1915), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, 65–80. 14 E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, Text und Anm. bearbeitet von M. Lukay, Hamburg 2006. 15 E. Cassirer, »Der Deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 7. 13

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lich keinen Sinn. Politische Theorie will entweder »mit zum Bewusstsein erheben, was im konkreten geschichtlichen Dasein vorhanden ist«,16 oder sie gelangt durch Verneinung und Aufhebung der politischen Wirklichkeit zu sich selbst. Deshalb hat jegliche philosophische Staatslehre ihr spezielles Verhältnis zur nationalen staatsphilosophischen Tradition und Realität zu klären. Ohne alle Deutschtümelei versteht sich Cassirer in dieser Konstellation als ein philosophisch-politischer Denker für die konkrete, historisch und theoretisch einmalige deutsche staatsrechtliche Wirklichkeit. Die Einheit, den Zusammenhang von Staatstheorie und realer Staatlichkeit bzw. politischem Leben wird keineswegs als Kausalverhältnis oder gar im Sinne des Marxschen Überbau-Basis-Schemas gedeutet, sondern als nach ›individuellen Gesetzen‹ gestaltet und von nationalen bzw. epochalen Besonderheiten gezeichnet. Während im Italien der Renaissance oder im Frankreich des 16./17. Jahrhunderts das politische Denken die realen Verhältnisse abbildet, geht in Deutschland als Besonderheit das staatsphilosophische Denken im 18./19. Jahrhundert der politischen Wirklichkeit als Idee und als Imperativ vorher, da kein wirklicher Gesamt- oder Nationalstaat existiert. Hier werde zuerst der »Gedanke des deutschen Staates« gewonnen, der dann als »wesentlicher Faktor«, als »treibende Kraft im Aufbau und in der Gestaltung des realen Staatswesens« fungiert.17 Der wechselseitige Bezug, die Einheit von Staat (Politik, Recht) und Nation gilt ihm als ein markantes Kennzeichen der Neuzeit, das sich im 18. und 19. Jahrhundert endgültig als bestimmend durchsetzt. Für den Gedanken, daß der moderne Staat von dieser Einheit gekennzeichnet ist, dient Cassirer u. a. Rankes Darstellung der staatspolitischen Leistungen Richelieus als Beleg.18 § 6. Politische Theorie (Staatsverständnis) und konkrete Staatsform bzw. politische Ordnung sind zudem als historische, relative Phänomene begriffen, die, da an einen bestimmten historisch-gesellschaftlichen und geistigen Kontext gebunden, mit ihm auch ihre Gültigkeit bzw. ›Wirklichkeit‹ (Realisierbarkeit) verlieren. Nicht zuletzt mit diesem Hegelschen Blick auf den Verfall und den Niedergang des alten Reiches, aber auch der preußischen Staatlichkeit an der Wende zum 19. Jahrhundert, wird Cassirer nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches im November 1918 alle politisch-restaurativen und nostalgischen Bestrebungen als Illusionen abweisen. Er ist sich auch darüber im Klaren, daß die Herausbildung des modernen Staates bzw. seiner Theorie nicht im Selbstlauf vonstatten gegangen ist, son16 17 18

Ebd., 5. Ebd., 26. Ebd., 8.

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dern sich durch praktische und durch Ideenkämpfe aus dem »mittelalterlichen Lehns- und Feudalsystem« und seinen politischen Formen hervorarbeiten mußte.19 § 7. Im Geiste des Marburger Neukantianismus (Cohen) nimmt Cassirer die Verknüpfung von Ethik, Recht und Politik bzw. die Ableitung des Rechtes aus der Ethik, und der Politik aus dem Recht vor.20 Dies zeigt sich bereits im Leibniz-Buch in den Passagen zu »Recht und Gesellschaft«. 21 Deshalb kann er Kants Begriff der Autonomie zu einem zentralen Begriff seiner politischen Philosophie erheben. Das Politische hat grundsätzlich unter ethischen Zwecken, Normen zu stehen. Die in der Rezeption geäußerte Vermutung, daß die von Cassirer im Spätwerk geforderte Einbindung der Theorie der Politik in eine Theorie der Gerechtigkeit die frühe Orientierung am Problem der Autonomie als Ausgangspunkt der freiheitlichen Staatstheorie ersetzt, 22 halte ich nicht für stichhaltig. Bereits der frühe Cassirer sieht die Idee der ethischen Normierung des Politischen durch Platon in die politische Philosophie eingeführt, durch Rousseau und Kant aufgegriffen, wonach sie für den deutschen Staatsbegriff auch im 20. Jahrhundert (Cohen) gültig bleibe. § 8. Wenn Cassirer, insbesondere in den Berliner Jahren (1902–1918), aber auch noch gegen Ende seiner Hamburger Zeit (1919–1933), den für die deutsche Wirklichkeit maßgeblichen Staatsbegriff im Deutschen Idealismus von Leibniz bis Hegel, insbesondere aber bei Fichte, ausformuliert vorfindet, dann ist damit noch nicht gesagt, inwieweit Cassirer die deutsche politische Wirklichkeit vor und nach 1918/19 bereits an diese Vernunftidee angenähert sieht, und in welchen Aspekten er Staatsbegriff und Staatsrealität als ergänzungs- bzw. entwicklungsbedürftig ansieht. Auf die Schwierigkeit, hierauf eine Antwort zu geben, habe ich bereits verwiesen. Sicher belegt werden kann sowohl, daß sich Cassirer nicht einfach mit der Staatsphilosophie der Aufk lärung und des Deutschen Idealismus, einschließlich der Romantik, für die Gegenwart zufrieden gibt. Wohl aber sieht er in der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 die Staatslehre des Deutschen Idealismus verwirklicht. Deshalb bildet die philosophische Rechtfertigung Ebd., 7. M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Politik, (CF, Bd. 5), Hamburg 1999, 46 ff. 21 E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998, 403–411. 22 R. Mehring, »Pathos der ›Zusammenschau‹: Annäherungen an Cassirers Philosophiebegriff«, in: E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Politik, a. a. O., 71 f., siehe dazu auch M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: ebd., 47 f. 19

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der vielfach angefeindeten politisch-rechtlichen Verfassungsgrundsätze der Weimarer Republik, die sich weiterhin Deutsches Reich nennt, gelegentlich das beschwörende Werben für sie, in den Hamburger Jahren eine Hauptrichtung seines philosophischen Wirkens und staatsbürgerlichen Tuns. So akzeptiert er keine Deutung der geschichtlichen Staatslehren (Platon, Machiavelli, Hegel) im Geiste des Machtstaatsgedankens, wie es 1914/18 die ›Korporativisten‹ und später die Anhänger des ›Totalen Staates‹ tun. Trotz aller Thematisierung der Eigentümlichkeiten des staatlichen Lebens in Deutschland lehnt Cassirer – anfänglich durchaus diskret – die Proklamierung eines deutschen ›Sonderweges‹ in der Staatsfrage ab, dient diese Idee doch der Abgrenzung gegenüber den politischen Formen und Lehren Westeuropas einschließlich Nordamerikas und dem Festhalten an obrigkeitsstaatlichen und korporativen Zügen im ›eigentümlichen‹ deutschen Staatswesen.23 Ihm gilt vielmehr das Individuum als Ausgangspunkt einer modernen Staatsphilosophie. § 9. Cassirer nimmt neben dem Verhältnis des Politischen zu Recht und Ethik auch die Beziehung des Politischen zu den Begriffen Rationalität/ Irrationalität in den Blick. So spricht er bereits in Freiheit und Form (1916) aufmerksam die irrationalistischen Deutungen des Politischen durch die Romantik an. Insbesondere während der Emigrationsjahre ab 1933 gilt ihm das mythisch-magisch gerechtfertigte bzw. vollzogene politische Leben als irrational, und damit als die moderne Kultur samt dem modernen Menschentum bedrohend und zersetzend. Gleichzeitig deutet er die mythische Weltsicht grundsätzlich als früheste Kulturleistung des Menschen, der eine eigene Logik bzw. Rationalitätsform einwohnt, die auf der Ausdrucksfunktion der Wahrnehmung beruht. Das Politische bewegt sich demnach zwischen Mythos (Magie), Rationalisierung (›Entzauberung der Welt‹ [M. Weber]) und rationaler Philosophie (Wissenschaft), wobei auch diese Bewegung einen konkreten welt- und nationalgeschichtlichen Verlauf nimmt, der Rückschläge (Romantik) und Rückwärtsbewegungen (totalitärer Staat) kennt. 24 Für den Emigranten Cassirer gelten das moderne soziale und politische Leben bzw. seine Theorien strukturbedingt als anfällig gegenüber dem Wiedereinbruch des Irrationalen, des Mythisch-Magischen, die modernen Menschen vermögen sich aber auch erfolgreich dagegen zu wehren. Bilden doch die Menschen im Staat letztlich eine freie »Willensgemeinschaft« und keine von totalitären Lehren verkündete fatalistische »Schicksalsgemeinschaft«.25 St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, a. a. O., 206, 211. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie der Politik. Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 129–159. 25 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deut23

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Die freie Willensentscheidung, der individuelle Wille und seine Erhebung zum vereinten (allgemeinen) Willen des Volkes als der Grundlage (Legitimation) des Staates stehen nicht zufällig im Blickpunkt seines philosophischen Interesses. Die in der Rezeption aufgeworfene Frage, ob er die Politik anfänglich in den Kategorien Freiheit (Autonomie) und Form (Zwang) und später in denen von Rationalität und Irrationalität thematisiert,26 ist wohl eher in Richtung auf eine Kontinuität hin zu beantworten. § 10. In den Spätschriften 1944/45 thematisiert Cassirer außerdem das historische Auftauchen der politischen Organisations- und Ordnungsform Staat in der Frühgeschichte des Menschen, war das gemeinschaftliche Leben doch lange Zeit ohne Staat allein in den kulturellen Lebensformen Mythos, Religion, Sprache, Kunst und Technik vonstatten gegangen. »In der Menschheitsgeschichte ist der Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt ein spätes Produkt der Zivilisation.«27 Diese Sicht auf den historischen Ursprung des Staates als einer Lebensform, außerhalb derer kein würdevolles Leben denkbar ist, wird ergänzt durch die an Hegels Staatslehre gewonnene Auffassung, wonach die politische Form bei aller Wichtigkeit doch »nicht alles« ist und »nicht allen menschlichen Betätigungen Ausdruck geben« kann, sondern eben nur den politischen und rechtlichen Gehalten.28 Damit stoßen wir beiläufig auf sein Grundverständnis des sozialen Lebens: Für Cassirer bedarf das Zusammenleben der vernunftbegabten Vielen einer inneren (sittlichen) und einer äußeren (rechtlich-politischen) Ordnung, um nicht unerträglich als Chaos und Anarchie erlebt zu werden. 29 Das Motiv der akuten Gefahr, daß unser modernes Leben ins archaische Chaos zurücksinken könnte, taucht in der Hamburger Zeit und während der Emigration Cassirers immer wieder auf. In einer gestrichen Passage des Vortrages über die »Wandlungen der Staatsgesinnung« (Juli 1930) ist die Rede vom Gemeinschaftsgefühl als Grundlage staatlichen Lebens, das zu achten und zu bewahren ist, »denn geht es uns verloren, dann löst unser staatliches Leben sich auf, dann kehrt das Chaos wieder.«30 schen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 85– 112, hier: 94. 26 M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: E. Rudolph (Hrsg.,), Cassirers Weg zur Politik, a. a. O., 52 ff. 27 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 104 (= ECW 23, 71). 28 Ebd., 104 (= ECW 23, ebd.). 29 Die Menschen leben, heißt es schon im Leibniz-Buch, als vernünft ige Wesen in natürlichen und in ›gebildeten‹ sozialen Gemeinschaften. – E. Cassirer, Leibniz‘ System (1902), in ECW 1, a. a. O., 404. 30 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 107

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§ 11. Für Cassirer existieren nunmehr zwei grundsätzliche, sich einander ausschließende Ordnungsprinzipien: die mythische und die rationale Ordnungsform des sozialen Lebens. Im Staat erfährt letztere historisch ihre entscheidende Ausprägung, sie wirkt sich aber auch in anderen kulturellen Formen des sozialen Lebens aus. Frühe politische Ordnungen werden dagegen noch nach mythisch-magischen Regeln vorgestellt und legitimiert. Diese Entgegensetzung verträgt sich durchaus mit dem Grundgedanken, wonach die mythisch verfaßte Welt die unterste Stufe der Kultur bildet, die das Mensch-Sein vom tierischen Dasein trennt. Dennoch wird das mythisch-magisch geordnete Leben im vorzeitlichen Sozialverband wie im totalitären Staat als ein unfreies, unwürdiges, unethisches Leben gedeutet, weil das Individuum einer nicht in Frage zu stellenden Tradition ausgeliefert und dem sozialen Ganzen (Staat) völlig untergeordnet ist. Das Leben in der sich zunehmend diversifizierenden kulturellen Ordnung deutet Cassirer als wachsende Emanzipation von natürlichen, d. h. organisch-vitalen, letztlich tierhaften Lebenszuständen, weil es ein Anwachsen von Vorausschau, von Ausblick auf Zukünftiges impliziert. Damit streift es die mythische Prägung des Lebens ab. Beigleitet wird dieser Prozeß zudem durch eine Bewegung hin zu Individualität, persönlicher Verantwortung, freier Willensentscheidung, der notwendigen Rechtfertigung (Begründung) von Handlungen, dem Hinterfragen des Überkommenen. Außerdem erkennt der individualisierte Mensch der nachmythischen Kultur in der natürlichen und in der sozialen Welt objektive Gesetze und richtet sich nach ihnen. Er gibt sich schließlich selbst das ethische Gesetz seines Handelns. Dafür bedarf es eines rationalen öffentlichen Raumes – der Politik bzw. des Staates. Fungiert der Staat jedoch erneut als mythisch-magische Ordnung, dann vernichtet er diese kulturellen Errungenschaften und ihre ethische Durchdringung. Genau diese Vernichtung glaubt Cassirer in den 30er und 40er Jahren im deutschen NS-Staat zu beobachten. § 12. Der Begriff des Politischen selbst, soweit er nicht mit dem Staatsbegriff identifiziert wird, bleibt im philosophischen Werk Cassirers dennoch unscharf, nicht eindeutig festmachbar. 31 Das trifft auch für seine in dem Werk The Myth of the State (1946) skizzierte Vorstellung von einer rationalen politischen Wissenschaft in Analogie zu den Naturwissenschaften zu, in der die sozialen und politischen Handlungen der Menschen, soweit sie sich nach objektiven Gesetzen vollziehen, im Mittelpunkt stehen solAnm. E; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie Cassirers. Am Beispiel des ›Gemeinschaftsgefühls‹«, 173–188. 31 Siehe dazu u. a. vom Verfasser, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, (CF, Bd. 12) Hamburg 2005, 347 ff.

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len. Der Staatsbegriff der früheren Arbeiten tritt in diesem Verständnis des Politischen in der Tat in den Hintergrund. Während Cassirer nie einen Zweifel daran äußert, daß das Politische eine wichtige Lebens- und Kulturform bildet, läßt er die Frage, welchen konkreten Platz er dieser in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zumißt, genau genommen unbeantwortet. Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er das Politische als originäre symbolische Form, d. h. als eine eigentümliche Richtung der Objektivierung geistiger Energien wie in Mythos, Sprache, Kunst, Technik etc. verstanden wissen will.32 Diese Zurückhaltung hat ebenso wie die philosophiegeschichtlich orientierte Arbeitsweise immer wieder einen Schatten auf seine Philosophie des Politischen bzw. auf deren Originalität geworfen. Allerdings behandelt er im Ms. »Zur ›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹ Blatt X« den Staat wie auch die Sprache als Beispiele für den Typus von Formen, mit den die Kulturwissenschaften zu tun haben.33 § 13. Die wichtigsten Ideen und Themen seiner politischen Philosophie lassen aber in Umrissen durchaus eine konsistente Theorie des Politischen erkennen. Deren Gerüst bilden meines Erachtens sechs benennbare Grundideen. Die drei tragenden können als 1. die Idee der rationalen (vernünftigen) Begründung des Politischen, 2. die naturrechtliche Idee der unveräußerlichen Rechte des Individuums im bzw. gegenüber dem Staat und 3. die Idee des Primates der Ethik bzw. des Normativen gegenüber dem Politischen beschrieben werden.34 Außerdem lassen sich als weitere konstitutive Ideen seiner Staatsphilosophie folgende drei Prinzipien herausarbeiten: 1. die geistige Grundlage des Staates ist im Vernunftrecht (Naturrecht), nicht in positiver Satzung zu suchen, was eine Rechtfertigungspflicht des Staates begründet, 2. die bereits angesprochene Wirklichkeitsforderung im Hegelschen Sinne, die eine Rückkehr zu überlebten politischen Formen ausschließt, und 3. der Gedanke, daß nur ein gemeinsamer »Wille zum Staat« einen rechtlichen und politischen Raum für den politischen Tageskampf konEbd., 357. »Die ›Wechselwirkungs‹-These [der ›atomistischen‹ Betrachtung und der ›organologischen‹ Staats-Theorien] führt, wenn sie als Erklärung für die S p r a c h e , für den S t a a t dienen soll, immer zu dem Dilemma, daß die vorausgesetzte Wechselwirkung, die z u m Staat, z u r Sprache führen soll, die Sprache, den Staat immer schon voraussetzt, nur m i t t e l s des Staates, m i t t e l s der Sprache überhaupt einen Sinn hat« – E. Cassirer, »Zur ›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹«, Blatt X, in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme † unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 188. 34 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie der Politik. Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 139 f. 32 33

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stituiert, der Selbstzerstörung oder Rückfall ins archaische Chaos verhindert. Diese sechs Grundideen spiegeln annähernd auch die von Cassirer herausgearbeiteten drei wichtigen Zäsuren in der Entwicklung der politischen Theorie wieder, denen jeweils eine bestimmte politische Praxis (Realität) korreliert. Als erste Zäsur gilt ihm die rationale und dabei ethische Begründung des Idealstaates durch Platon, die das bis dahin vorherrschende mythische Selbstverständnis des Menschen bzw. des Gemeinwesens außer Kraft setzt. Die zweite Zäsur sieht er im 17./18. Jahrhundert mit den neuzeitlichen Naturrechts- und Vertragstheorien eintreten, die mit Hilfe der Vernunft, rationalen Argumenten und Gründen die Menschen- und Bürgerrechte des Individuums im Staat und gegenüber dem Staat formulieren und begründen. Damit wird die Theorie des ›modernen‹ Staates philosophisch begründet und gesichert, was die Verständigung über die wahre Aufgabe des Staates einschließt. Eine dritte Zäsur bildet der im 20. Jahrhundert in Theorie und Praxis aufkommende totale oder totalitäre Staat, der diese beiden Errungenschaften wieder zunichte macht. Diese Zäsur hat ihre Vorgeschichte in der Romantik und der Staatslehre Hegels, also am Beginn des 19. Jahrhunderts. § 14. Obwohl Cassirer diese fatale Wendung des modernen Staates und seiner Theorie vornehmlich an der deutschen Entwicklung festmacht und damit eine philosophische Kritik des Nationalsozialismus vorlegt, scheint er Parallelen im Bolschewismus bzw. in der Sowjetunion nicht übersehen zu haben. Zumindest sieht er hier keine Alternative oder Hilfe im Kampf gegen den ›totalen Staat‹ der Nationalsozialisten. Es existiert aus seiner Hand allerdings weder eine ernsthafte Äußerung zur Marx-EngelsschenStaatslehre, wie sie in der deutschen Sozialdemokratie rezipiert und unterschiedlich vertreten wurde,35 noch eine solche zur bolschewistischen Staatsdoktrin, wie sie nach dem Weltkrieg in die Wirklichkeit überführt wurde.36 Die sowohl 1918/19 als auch 1928/1932 heftig geführte Debatte um das Siehe dazu u. a. K. Kautsky, Der Weg zur Macht (1909), Hrsg. und eingeleitet von G. Fülberth, Frankfurt a. Main 1972, 5–112; H. Cunow, Die Marsche Geschichts-, Gesellschaft s- und Staatstheorie. Grundzüge der Marxschen Soziologie, 2 Bde., Berlin 1920/21; M. Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode (1922), in: Marx-Studien 4. Bd., II. Hälfte, Reprint Darmstadt 1972. 36 Siehe dazu u. a. W.I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (1917), in: Werke, hrsg. vom IML beim ZK der SED, Bd. 25: Juni-September 1917, 3. Aufl . Berlin 1972, 393–507; N. Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? (1917), Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Rußland, 2. Heft, Wien 1921. 35

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

sowjetische Staats- und Wirtschaftsmodell scheint an Cassirer spurlos vorüber gegangen zu sein.37 Alles in Allem, bleibt noch viel zu tun, seine Philosophie des Politischen aus seinem Werk herauszulesen.

K. Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918; W.I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (1918), in: Werke, a. a. O., Bd. 28: Juli 1918– März 1919, Berlin 1972, 197–223; O. Bauer, Rätediktatur oder Demokratie? Sozialistische Bücherei Heft 2, Wien 1919; M. Adler, Demokratie und Rätesystem, Sozialistische Bücherei Heft 8, Wien 1919; O. Bauer, Der »neue Kurs« in Sowjetrußland, Wien 1921; F. Adler, Das Stalinsche Experiment und der Sozialismus, Wien 1931; O. Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft , der Demokratie und des Sozialismus, Bratislava 1936; M. Adler, Unsere Stellung zu Sowjetrußland, in: Unsere Stellung zu Sowjet-Rußland. Lehren und Perspektiven der Russischen Revolution, 3. Buch der Roten Bücher der »Marxistischen Büchergemeinde«, Berlin-Tempelhof (o.J.), 157–189. 37

Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie Cassirers Am Beispiel des ›Gemeinschaftsgefühls‹

Einleitung ins Thema In Ernst Cassirers philosophischem Werk ist immer wieder die Rede vom Gefühl im Sinne von Lebensgefühl, Gemeinschaftsgefühl, aber auch im Sinne von Stimmung. Daß dieser Wortgebrauch weder zufällig ist noch ein bloßes Zugeständnis an die zeitweise einflußreiche Lebensphilosophie darstellt, wird verständlich, wenn wir den für das frühe Cassirersche Werk konzeptionell wichtigen Begriff der epochalen gesellschaft lichen Lebensordnung,1 ergänzt um die späten Überlegungen zur mythisch-irrationalen und ethisch-rationalen Ordnungsform sozialen sowie kulturellen Lebens, mit den verschieden formulierten Struktur- bzw. Stufenleiterideen zusammendenken. Dann wird nämlich klar, daß den kollektiven und individuellen Gefühlen der Menschen ein systematisch unverzichtbarer Ort in seiner Philosophie zukommen muß, weil sie die Basis des geistigen und sozialen Lebens ausmachen, über der sich andere Formen wie empirische Anschauungen bzw. Vorstellungen und theoretisches Denken erheben. Indem jegliches kulturelles Sinngefüge, jegliche symbolische Form grundsätzlich im Lebensphänomen verwurzelt bleibt, behält sie einen Lebensfaden zum Gelebt-Erlebt-Gefühlten.2 Ein Blick auf das umfangreiche Werk Cassirers zeigt, daß das Gefühl, als individuelles und kollektives Lebensgefühl, das das Eigentümliche einer jeden historischen Kultur und der an ihr schaffenden Menschen zum Ausdruck bringt, von Anfang an im Fokus der Aufmerksamkeit steht. So sieht Cassirer im Erkenntnisproblem I (1906) in den astronomischen Lehren der Renaissance »ein modernes Grundgefühl« ausgesprochen, wir hätten es hier mit dem neuen »humanistischen Lebens- und Selbstgefühl« zu tun, das sich u. a. gegen die abstrakte Schulgelehrsamkeit wende, und in der Naturphilosophie dieser Epoche werde die Welt der Objekte als »Äußerung

Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 55–74. 2 Siehe dazu Yosuke Hamada, Symbol und Gefühl. Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie, (CF, Bd. 17), Hamburg 2016. 1

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eines immanenten Lebensgefühls« gedeutet.3 Auch in der Goethe-Darstellung, die sich in den geistesgeschichtlichen Studien Freiheit und Form (1916) fi ndet, erlangt das »lebendige Gefühl« den Rang einer zentralen philosophischen Kategorie, die es erlaubt, die jeweilige Eigentümlichkeit und Einheit von Lebensform, ästhetischer Form und naturwissenschaftlicher Denkform im Schaffen Goethes, dem sich das Geistige oft im lebendigen, anschaulichen und unmittelbaren Gefühl offenbart, zu fassen. 4 Die Bedeutung, die Cassirer dem Gefühl zumißt, wird paradigmatisch deutlich an der Art und Weise, wie er 1930 in seinem auf die politische Situation Deutschlands abzielenden Vortrag über »Wandlungen der Staatsgesinnung« das echte politische Gemeinschaftsgefühl als einen Grundbestand seiner Überlegungen zur politischen Philosophie bzw. zur praktischen politischen Gesinnung aufgeklärter Staatsbürger in Anspruch nimmt.5 Diese Tatsache führt zunächst auf die Frage, in welcher Weise bei Cassirer das Politische ein Thema des Philosophierens ist; eine Frage, die vor rund dreißig Jahren von Volker Gerhardt wegweisend in die Cassirerforschung eingeführt wurde. 6 Dieser Frage sind wir in den beiden vorstehenden Beiträgen bereits nachgegangen.7 An dieser Stelle sollen lediglich einige kritische Bemerkungen zur politischen Philosophie Cassirers die einleitenden Überlegungen abschließen. So fällt auf, daß in Cassirers Philosophie des Politischen bzw. des Staates wenig – oder gar nicht – die Rede ist von politischen Institutionen, Prozeduren, Staatsformen und -typen, unterschiedlichen politischen bzw. E. Cassirer, EP, Bd. I (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999, 80, 102, 294. 4 »Die Phantasie ist hier keine Vermittlung, durch die das Gefühl hindurchgeht, sondern sie ist selbst das Element, in dem es ursprünglich lebt und webt. Kraft dieser Verschmelzung […] befaßt das Gefühl die Allheit der Lebenserscheinungen und vermag sie rein aus sich selbst zu entfalten. In drei Grundformen tritt dieses ursprüngliche Verhältnis der schöpferischen Elemente in Goethe nach außen hin hervor: in der Form seines Lebens, in der Form seiner Lyrik und in der Form seiner Naturbetrachtung und seiner objektiven Naturforschung.« – E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 185. 5 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 85–112. 6 V. Gerhardt, »Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik«, In: H.-J. Braun, H. Holzhey, E.W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. Main 1988, 220–246. 7 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Philosophie der Politik. Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 129–159, und »Das Politische als philosophischer Gegenstand im Werk Cassirers«, 161–172. 3

Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie Cassirers

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sozialen Subjekten (Parteien, Verbänden, etc.), den sich in der Politik artikulierenden Gruppen- und Klasseninteressen. Ob aus der für Cassirer charakteristischen Beachtung realer politischer Vorgänge und Konstellationen vorrangig über die Analyse entsprechender historischer Politiktheorien auf eine gewisse Realitätsferne oder Wirklichkeitsabstinenz geschlossen werden darf, bleibt ebenfalls klärungsbedürftig. Die hier angedeutete inhaltliche Theorieverengung gilt auch für die bei Cassirer überwiegende philosophische Behandlung des Politischen, die sich vor allem als Auslegung historisch auftretender philosophischer Theorien des Staates vollzieht. Nimmt er das Politische in den Blick, z. B. in den Jahren 1916 bis 1918 und 1928 bis 1932, dann interessiert ihn fast ausschließlich der philosophische Staatsbegriff, und hier speziell derjenige, der im Deutschen Idealismus ausgearbeitet und geprägt wurde. Für die Deutschen sieht er in der Staatsphilosophie dieser Epoche, d. h. bei Leibniz, Kant, Fichte und Hegel, aber auch in der deutschen Romantik, den Staatsbegriff, der nationalstaatslosen deutschen Praxis entsprechend, paradigmatisch entwickelt. Obwohl Cassirer mehrfach zu verstehen gibt, daß Hermann Cohen diesen idealistischen Staatsbegriff zu neuem Leben erweckt und an die neuen praktischen Zustände im 20. Jahrhundert angepaßt – und somit – weiterentwickelt habe, 8 spricht er jedoch – im Gegensatz zu seinem alten Lehrer – diese neuen Zustände, d. h. die Errichtung des Nationalstaates 1871 unter preußischer Vormacht, das Auftreten der Arbeiterschaft als aufstrebender Teil der Gesellschaft, der der Integration in den Staat bedarf, die Tatsache, daß die Integration der jüdischen Bürger rechtlich und politisch immer noch nicht abgeschlossen ist, etc., im Grunde nicht an. Seine philosophischen Erörterungen beziehen sich demgegenüber in der Regel auf allgemeine Themen wie Wesen und Zweck des Staates, Verhältnis von Politik und Ethik, Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Zwang, Selbstgesetzgebung und Unterwerfung. Folglich fehlt auch der philosophischen Arbeit am Staatsbegriff das Eingehen auf die philosophische Dimension staatsrechtlicher Themen, wie der Verfassungsfragen, der Frage nach der Rolle politischer Institutionen und ihrer Abgrenzung oder Fragen des Staatsaufbaus. Es ist zudem nicht ersichtlich, in welchem Maße er die zu diesen Themen in Deutschland geführte rechtsphilosophische Debatte verfolgt.9 Dieses verengte Interesse am philosophischen Staatsbegriff schlägt sich auch in der Art und Weise nieder, wie Cassirer sich 1916 mit einem öffentlichen Vortrag, der als 6. Kapitel E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 25. 9 R. Mehring, Rezension des Bandes ECN 9: Zu Philosophie und Politik, in: Philosophischen Literaturanzeiger, 61, (2008), 107 f. 8

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in Freiheit und Form eingeht, an der zwischen 1914 und 1918 heftig ausgetragenen Debatte um die grundsätzliche Ausrichtung der zukünftigen deutschen Staatsordnung beteiligt.10 Er bleibt bei mehr oder weniger originellen Ausführungen zu »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« stehen, zu den anstehenden und viel diskutierten konkreten Reformforderungen wie der überfälligen Wahlrechtsreform in Preußen, der Einführung des parlamentarischen Systems, der Minderung der preußischen Übermacht im Staatswesen etc. äußert bzw. positioniert er sich dabei nicht. Cohen, der in Fragen des Politischen keineswegs dieselben Positionen wie Cassirer vertritt, scheut ein solches öffentliches Engagement und Sich-Positionieren demgegenüber nicht.11 Die Cassirer-Forschung muß diese vordergründige Abstinenz hinsichtlich der konkreten politischen Gegenwartsfragen zur Kenntnis nehmen,12 was aber nicht bedeutet, daß Cassirer nicht durch seine philosophischen Erörterungen hintergründig und subtil Position bezieht. Zeugt doch die Art und Weise, wie er 1916 Cohen gegen antisemitische Angriffe verteidigt,13 durchaus von öffentlicher Positionierung und Engagement. Aber kehren wir zum Politischen als Kategorie der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zurück.

Politische Gesinnung und politisches Gemeinschaftsgefühl In der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ wird die kulturelle Wirklichkeit einer jeden Sozialordnung bzw. ihre Erkenntnis in Form eines Stufenbaus mit Emergenzcharakter strukturiert verstanden. Die höheren Stufen setzen die niederen voraus, erheben sich auf ihnen, behalten sie bei und fügen ihnen dabei etwas Neues hinzu. Die Wirklichkeitserfahrung Siehe dazu u. a. St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ›Ideen von 1914‹ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. 11 Siehe dazu im vorliegenden Band die nachstehenden Beiträge »Staatsbegriff des Deutschen Idealismus. Zu Cassirers Position in einer historischen Debatte (1914–1918)«, 189–204, und »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 12 Selbst im Vortrag von 1930 bringt Cassirer – aus welchen Gründen auch immer – keine kritische Haltung zu den deutschen Kriegszielen und zur deutschen Kriegführung im Ersten Weltkrieg zum Ausdruck, wenn er anläßlich des Abzuges der französischen Besatzung aus den Rheinlanden mit bewegten Worten den jahrelangen Durchhaltewillen der rheinischen Universitäten würdigt. – E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 85 ff. 13 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1917), in: ebd., 29–60. 10

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des kulturellen Lebens in sozialen Ordnungen setzt sich zusammen aus den Stufen der unmittelbaren Wahrnehmung (Ausdruck), der empirischen Anschauung (Darstellung) und des theoretisches Denken (reine Bedeutung) bzw. aus den sie exemplarisch realisierenden symbolischen Formen Mythos, Sprache und exakte Wissenschaft. Als soziale Bewußtseins- oder Bestandsformen geistig-lebendiger Wirklichkeit von Kultur, die ihren primären Ort in den Individuen haben, treten dementsprechend die Formen des Gemeinschaftsgefühls, der sprachlich-darstellenden Sozialvorstellungen und des sozialen theoretischen Denkens auf. Das Politische bzw. das Staatsleben bilden aus diesem Blickwinkel eine eigentümliche Richtung, eine konkrete inhaltliche Erfüllung dieser aufeinander aufgebauten Formen kollektiven und individuellen Bewußtseins. Dieser eigentümliche Aufbau von politischem Gemeinschaftsgefühl, Staatsvorstellung und Staatstheorie läßt sich in verschiedenen historischen Epochen, Lebensordnungen von Gesellschaft und Kultur auffinden und herausheben. In den Lebensordnungen prägt zum einen jeweils ein bestimmter Stil, ein bestimmtes ideelles Prinzip (als geistiger Mittelpunkt) die miteinander korrelierenden Formen kulturellen und sozialen Lebens. Zum anderen entspricht jeder Lebensordnung, jeder prägnanten historischen Epoche des kulturellen und sozialen Lebens ein bestimmtes Stimmungsklima in der Gesellschaft, ein bestimmtes Gemeinschaftsgefühl, das wir als ein elementares Lebensgefühl der Menschen zu verstehen haben. Das macht Cassirer u. a. dann deutlich, wenn er betont, daß die zeitgenössische Lebensphilosophie mit ihrem zentralen Thema, dem Gegensatz von Geist und Leben, das moderne »Lebens- und Kulturgefühl« zum Ausdruck bringt, wurzeln doch ihre philosophischen Motive in der »Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefühls und des spezifisch-modernen Kulturgefühls«.14 Diese keineswegs belanglose Aussage belegt die zentrale Bedeutung, die für ihn im Verständnis des Menschen, der Gesellschaft und der Kultur der Kategorie des Gefühls zukommt; alle diese drei Kreise des Seins ruhen in bestimmten Formen des Gefühls. Folglich schenkt Cassirer dem Tatbestand, daß die elementarste Ebene des Gemeinschafts- und Kulturlebens von Gemeinschaftsgefühlen in den Individuen getragen ist, große Aufmerksamkeit. Finden wir doch im Gefühl so etwas wie das letzte Band aller Vorstellungen und Ideen, die ohne den Gefühlsboden ein ganzes Stück ihrer Lebendigkeit, Bindungskraft und Orientierungskraft verlieren würden, aber auch das letzte Band sozialer und E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 8 u. 238. 14

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politischer Zusammengehörigkeit. Diese Aufmerksamkeit für kulturelle, soziale und politische Gemeinschaftsgefühle teilt Cassirer in gewissem Sinne mit vielen Lebensphilosophen, nicht aber deren Entgegensetzung von Gefühl und Verstand. Als eine Lebenssphäre, in der die einheitsstiftende Funktion des Gemeinschaftsgefühls von existentieller Bedeutung ist, erweist sich in seinen Augen die politische Sphäre, die Sphäre des Staatslebens. Dabei kommt der persönlichen Erfahrung, die der Staatsbürger und Philosoph des Politischen in den Jahren nach der Proklamation der Reichsverfassung vom 11. August 1919 persönlich gemacht hat, eine nicht unwesentliche Rolle zu. In dem Vortrag vom Juli 1930 anläßlich der universitären Feierlichkeiten zum Verfassungstag über die »Wandlungen der Staatsgesinnung« bezeichnet der Rektor der Hamburgischen Universität, Ernst Cassirer, die »heutige Zeit« als eine Zeit mit »ihren Nöten, ihrer Zerrissenheit und ihren Kämpfen«.15 An anderer Stelle des Vortrages heißt es, die Deutschen durchlebten »Zeiten der Gefahr und der Not, der inneren Konflikte und Kämpfe«.16 In diesem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang spricht er auch den Gedanken der akuten Gefahr an, die aus dem Verlustiggehen des den Einzelnen ins Ganze des staatlichen Lebens einbindenden Gemeinschaftsgefühls resultieren kann. Hier ist die Rede von einem für den Bestand des Staates notwendigen Gemeinschaftsgefühl der Bürger, das in einem Zustand des »Streites der Klassen, der Parteien, der Konfessionen« zwar schwerer »zu gewinnen und zu bewahren« ist als in ruhigen Zeiten, doch – so heißt es in einer wieder gestrichen Passage – »geht es [das Gemeinschaftsgefühl der Bürger – C.M.] uns verloren, dann löst unser staatliches Leben sich auf, dann kehrt das Chaos wieder«.17 Dies meint hier ganz offensichtlich eine Ordnungs- und Gesetzlosigkeit für das politische Handeln der Menschen, für ihr Verhältnis zum Staat und für dessen Haltung zu seinen Bürgern. Cassirer teilt, wie schon angesprochen, mit Kant die Überzeugung, daß ein modernes gesittetes und befriedigendes Leben für die Individuen ohne vernünftige, naturrechtlich eingegrenzte staatliche Ordnung nicht denkbar ist. Jede Weise der Destruktion oder Lähmung des bestehenden Rechtsstaates – wie ihn die Verfassung vom August 1919 konstituiert – kann, so seine Überzeugung, sich nur verheerend auf das individuelle und soziale Leben der Menschen bzw. Bürger auswirken. Dieser Entwicklung gelte es mit allen Mitteln Einhalt zu gebieten. Dabei ist es weitgehend unerheblich, ob diese fatale Entwicklung bzw. die E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 85. 16 Ebd., 107. 17 Ebd., 107, Anm. E. 15

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sie befördernde Zersetzung des den Verfassungsstaat tragenden politischen Gemeinschaftsgefühls gezielt herbeigeführt wird durch romantisierend-restaurative Bestrebungen, durch Agitation für den die individuellen Rechte mißachtenden Machtstaat oder durch Diskreditierung des Staates als bloßen Klassenstaats der wirtschaftlich Herrschenden. Getragen von dieser Einsicht, legt Cassirer insbesondere in den Jahren 1928 bis 1932 ein theoretisches und praktisches politisches Engagement an den Tag, wie es z. B. von den als Philosophen von ihm geschätzten Edmund Husserl oder Martin Heidegger unbekannt ist, wobei letzterer – Diskussionspartner und Konkurrent Cassirers – als Philosoph und als Rektor der Freiburger Universität bekanntlich die Weimarer Demokratie freudig mit zu Grabe getragen hat.18 In seiner Rektoratszeit 1929/30 muß Cassirer nahezu täglich zur Kenntnis nehmen, daß die demokratisch-republikanische Verfassung des Weimarer Staates von großen Teilen des Volkes, speziell von seinen politischen und akademischen Eliten, nicht als Chance erkannt und akzeptiert, sondern als aufgezwungene und der deutschen Staats- und Rechtstradition fremde Ordnungsform vehement bekämpft wird. Es bleibt ihm auch nicht verborgen, daß in den politischen Kämpfen um die Macht im Staate und für eine Demontage des demokratischen republikanischen Staatswesens die sozialen, wirtschaft lichen und kulturellen Belange der Masse des Volkes weitgehend unberücksichtigt bleiben. Allerdings spielt in Cassirers Überlegungen auch da, wo er diese bedrohliche Entwicklung aufmerksam registriert und benennt, die Suche nach den empirischen Gründen für diese abweisende und zerstörerische Haltung vieler Bürger gegenüber der neuen, ihrem Selbstverständnis nach demokratischen Staatsordnung keine nennenswerte Rolle. Soziologisch relevante konkrete Motivationen und Interessenlagen der Individuen und sozialen Gruppen scheinen bei ihm kaum Beachtung zu fi nden. So stellt sich in Cassirers Überlegungen auch nicht die Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Erwartungen bestimmte privilegierte Teile der Gesellschaft aktiv am emanzipativen Kulturleben in Freiheit partizipieren, es gestalten, während nichtprivilegierte Teile des Volkes es nur mehr oder weniger über sich ergehen lassen müssen, da sie die profane alltägliche Existenzsicherung voll in Anspruch nimmt. In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, daß Cassirer zwar ein ihn alarmierendes Verständnis für die Gefährdungen aufbringt, denen sich die Kultur, die Gesellschaft und der Staat ausgesetzt sehen, die Gefahren, insbesondere die von der schroffen V. Gerhardt, »Der Rest ist Warten. Von Heidegger führt kein Weg in die Zukunft«, in: D. Kaegi/E. Rudolph (Hrsg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, (CF, Bd. 9), Hamburg 2001, 183–206. 18

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Ablehnung und beabsichtigten Zerstörung des parlamentarisch-demokratischen Staates ausgehenden, werden von ihm jedoch nahezu ausschließlich in philosophischer Manier formuliert; von einer irgendwie gearteten Gesellschaftskritik, von einem Verständnis der sozialen Krisis der Gesellschaft in den 20er Jahren, ihrer Vorgeschichte, die ja nicht unwesentlich zu den politischen Verwerfungen beigetragen hat, und ihrer Gründe kann bei ihm keine Rede sein. Hier geht er über einzelne, gelegentlich weltfremd erscheinende Äußerungen nicht hinaus.19 Daß allerdings der Anschein trügt, wonach er glaubt, daß philosophisch vermittelte Einsichten in rationale begriffliche Zusammenhänge den Menschen und Bürger ausreichend praktisch motivieren sollten, belegen die nachstehenden Ausführungen zur Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls im politischen Leben. Angesichts der vielfältigen und konträren politischen Handlungsziele der Parteien und politisch-sozialen Gruppen ist Cassirer Ende der 20er Jahre ganz offensichtlich um die philosophische Begründung eines politisch-philosophischen Minimalkonsensus bemüht, der es den sich bekämpfenden politischen Lagern faktisch erlauben würde, ihre Auseinandersetzungen zumindest auf dem Boden des – anerkannten, gewollten – Rechtsstaates auszutragen. Dieser Konsens eröff net den eigentümlichen öffentlichen Raum für die politische Auseinandersetzung, ohne dabei die rechtlich-staatliche Rahmenordnung des Lebens in Frage zu stellen oder gar zu zerstören. Deshalb wirbt Cassirer in seinen Reden und Aufsätzen jener Jahre nicht nur um einen Verfassungspatriotismus der deutschen Akademiker hinsichtlich der Verfassung von 1919, sondern – noch weit elementarer und grundsätzlicher – für einen Staatspatriotismus, für eine affirmative Staatsgesinnung in Bezug auf den konkreten, bestehenden deutschen Staat, der diese Verfassung zu seiner Grundlage hat. Ein wichtiger Aspekt dieses Werbens für den bestehenden Staat ist der immer wieder – mit Bezügen auf Otto von Gierke und Georg Jellinek 20 – geführte Nachweis, daß die politischen Ideen seiner

So wenn er im Vortrag über »Form und Technik« (1930) erklärt, daß die »Schäden der modernen technischen Kultur« aus »ihrer Verbindung mit einer bestimmten Wirtschaftsform und Wirtschaftsordnung zu verstehen sind«, wogegen nur »der Einsatz neuer Willenskräfte wahrhaft Wandel schaffen kann«, der sich u. a. als »Ethisierung der Technik« zu vollziehen und der »Erziehung des Arbeitswillens und der echten Arbeitsgesinnung« zu dienen habe. – E. Cassirer, »Form und Technik« (1930) in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 182 f. 20 Siehe dazu insbesondere O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, 2., durch Zusätze vermehrte Ausgabe, Breslau 1902; G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, (Staats19

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Verfassung deutschen Geistesquellen entstammen, also keineswegs fremde, ausländische, insbesondere französische Ideen seien. Der in diesem Zusammenhang von Cassirer immer wieder unterstrichene Gedanke, wonach der vernünftig gerechtfertigte Staat als Ganzes ein Raum ist, in dem man weltanschauliche und politische Gegensätze austragen oder zumindest ertragen kann, ohne ihn zerstören zu müssen, zieht die Schlußfolgerung und Forderung nach sich, daß die Bürger – und Institutionen wie die »deutschen Hochschulen« – sich dafür mit der bestehenden, vorgefundenen rechtlichen und politischen Ordnung, »mit den Aufgaben des deutschen Staates«, grundsätzlich identifizieren müssen.21 Diese auch öffentlich zu bekundende Identifi kation muß sich neben einem Bekenntnis auf Grund theoretischer Einsichten (Wissen) und durch praktische Handlungen bzw. Haltungen auch auf emotionaler Ebene, auf der Gefühlsebene vollziehen. Schon Platon habe festgestellt, daß »die Selbsterhaltung des Staates« nur dann funktioniert, wenn seine Verfassungsgesetze »in den Seelen der Bürger geschrieben« sind, was ihnen erst ihren »moralischen Halt« gibt, ohne den sie kaum respektiert werden.22 Für den republikanischen Verfassungsstaat faßt Cassirer 1930 zunächst die beiden ersten Weisen der Identifi kation der Bürger mit ihrem Staat unter dem Begriff der Staatsgesinnung – und gelegentlich auch des Staatsbewußtseins – zusammen. So sieht er die den Staat tragende, stützende und am Leben erhaltende »sichere Staatsgesinnung«, das »einheitliche und kraft volle staatliche Bewußtsein« bzw. »Staatsbewußtsein« aus den beiden Wurzeln »Denken und Tun«, d. h. aus dem theoretischen »Wissen und [praktischen – C.M.] Vollbringen« erwachsen.23 Die Staatsgesinnung setzt also neben dem theoretischen Wissen, das durch Forschung und Lehre an Universitäten und Schulen wachzuhalten ist, die reale Möglichkeit voraus, als Bürger am Leben des Staates politisch mitzuwirken.24 Allein eine sich ständig erneuernde, bewußt und aktiv gelebte Staatsgesinnung sichere den und völkerrechtliche Abhandlungen, hrsg. v. G. Jellinek und G. Meyer, Bd. I/3), Leipzig 1895. 21 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 85. 22 E. Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, 102 (= ECN 25, 75). 23 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 106. 24 Ebd., 106. Im ersten handschrift lichen Entwurf des Vortragstextes heißt es: »Das echte Staatsbewußtsein ist eben dadurch ausgezeichnet, daß sich theoretisches und praktisches Bewußtsein, daß sich Wille und Denken in ihm in eigentümlicher Weise vereinen und durchdringen.« – E. Cassirer, »Wandlungen des Staatsgefühls und der Staatsgesinnung in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 250.

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»Bestand der Staaten«. Wenn Cassirer gelegentlich unterscheidend von »Staatstheorie und Staatsgesinnung«, 25 von »Staatsbegriff und Staatsgesinnung« spricht,26 dann scheint er den Unterschied von rein theoretischem Wissen über den Staat und theoretisch begründeter praktischen Haltung zum Staat zu betonen. Die »Staatsgesinnung« erschöpft sich jedoch nicht darin, eine theoretische Haltung (Wissen) zu beinhalten, die sich praktisch in politischer Teilhabe, in Inanspruchnahme der politischen Rechte und im [Mit-]Wirken mit Blick auf den Staat niederschlägt. Cassirer besteht vielmehr noch auf einem ihr entsprechenden, einem sie tragenden »Staatsgefühl« bzw. »Gemeinschaftsgefühl«, das in die Staatsgesinnung eingeht oder dieser als beständiger Quell dient. 27 Sie gründet folglich in einem bestimmten kollektiven, sich individuell realisierendem Lebens- und Gemeinschaft sgefühl des Volkes, soweit dieses eine »Schicksalsgemeinschaft« bildet.28 So seien die in Amerika und Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts erklärten prinzipiellen Menschen- und Bürgerrechte nicht zuletzt »ein Ausdruck eines allgemeinen Volksgefühls« gewesen, d. h., sie beruhten keineswegs allein auf den Prinzipien der natürlichen Vernunft . 29 Auch der Durchbruch der aufk lärungskritischen romantischen Staatstheorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Adam Müller)30 konnte sich auf ein entsprechendes »neues Staatsgefühl« und eine »neue Staatsgesinnung« unter den BürE. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 112. 26 E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ebd., 234. 27 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930, in: ebd., 94. Im Entwurf heißt es dazu klipp und klar: »Gewiss: alles echte Staatsbewußtsein kann nicht auf bloßer Reflexion ruhen, kann nicht erdacht oder ergrübelt sein. / Es muß einem lebendigen Gemeinschaftsgefühl entspringen«. – E. Cassirer, »Wandlungen des Staatsgefühls und der Staatsgesinnung in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 250. 28 Ebd., 251. Den in der romantischen Terminologie häufig anzutreffenden Terminus der »Schicksalsgemeinschaft« will Cassirer ganz offensichtlich auf das Moment, auf die Stufe des politischen Gemeinschaftsgefühls bezogen und beschränkt wissen, den Staat selbst sieht er nicht »in einer historischen Schicksalsgemeinschaft« wurzeln, wie es die romantische Staatslehre tut, sondern in der »Sphäre des Willens«, d. h. in der Sphäre des bewußten Tuns der Menschen, in der Ethik und im Naturrecht, in »rechtlichen Satzungen« und »Verträgen«. – E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 94. 29 E. Cassirer, Der Mythus der Staates (engl. 1946), a. a. O., 233 (= ECN 25, 176). 30 Siehe dazu vom Verfasser, »Lebendige ›Idee‹ kontra toten ›Begriff‹ des Staates. Adam Müller und seine organologische Staatsauffassung«, in: IV. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2008/2009, Lebensphilosophische Vordenker des 18. und 19. Jahrhunderts, Hrsg. von R.J. KozljaniČ, München 2008, 69–81. 25

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gern stützen, 31 die in diesem Gefühl nicht zuletzt Erfahrungen und Erlebnisse im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den nachfolgenden europäischen Kriegen verinnerlicht hatten. Andererseits dürfe man sich nicht täuschen und meinen, das Staats- oder Gemeinschaftsgefühl reiche bereits als Fundament für die »Wirklichkeit des Staatslebens« hin, denn als bewußtes Willensgebilde bedürfe der Staat auch immer des »Gedankens und Wissens«.32 Cassirer betont bezüglich der Konstituierung des Staates also immer beide bzw. alle drei Momente: den »Grund einer Schicksalsgemeinschaft und des daraus entspringenden Gemeinschaftswillen« und das Moment des Wissens und der Selbsterkenntnis, die dem Staat als einem »einheitlichen Willen« eignen muß, weil er sich »kraft dieses Wissens« »sein Gesetz gibt«,33 wozu noch das Moment der praktischen Teilhabe und Mitgestaltung kommt. Ein solches »echtes« politisches Gemeinschaftsgefühl, »das uns heute so selten zu Teil wird«,34 meinte Cassirer im Sommer 1930 in den von der französischen Besatzung soeben erst, d. h. zwölf Jahre nach dem verlorenen Weltkrieg, geräumten Rheinlanden »wieder einmal in seiner vollen Stärke« vorzufinden. Von diesem Gefühl, von dieser »seelisch-geistigen Atmosphäre« wird jeder, der sich zu dieser Zeit in den Rheinlanden aufhält, »ergriffen«, »beseelt«.35 Das Entscheidende für ihn ist dabei die Erwartung, daß in diesem »allumfassenden Gefühl« die »Gegensätze, die sonst unser politischen Leben erfüllen und die es oft verhärten und verbittern«, sich »lösen«,36 zumindest in der Zeitspanne, in der das Gemeinschaftsgefühl anhält. Aller Streit tritt in diesen Momenten zurück, »alles atmet wieder dieselbe Lebensluft«. Interessant und nicht unwichtig ist aber auch die feine Unterscheidung, die Cassirer hier mit dem Prädikat ›echtes‹ Gemeinschaft sgefühl vornimmt. Bietet ihm diese Differenzierung doch die Möglichkeit, ein positives Gemeinschaftsgefühl abzugrenzen von einem negativen, illusionären, E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 94. 32 »Aber, meine Damen und Herren, täuschen wir uns nicht – auf das Gefühl allein läßt sich die Wirklichkeit des Staatslebens nicht gründen.« Der Staat »ist niemals bloß Gefühl – er ist als bewußter Staat Gedanke und Wissen! / denn er ist ein Gebilde des Willens – und der Wille wird zum Willen erst durch die Kraft und Klarheit, in der er sich selbst weiß.« – E. Cassirer, »Wandlungen des Staatsgefühls und der Staatsgesinnung in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 250. 33 Ebd., 251. 34 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 106. 35 Ebd., 106. 36 Ebd., 107. 31

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erschlichen-erzwungenen oder von irrationalen Emotionen getragenen Lebensgefühl, wie es die modernen politischen Mythen, durch eine raffi nierte Technik der Mythenbildung erzeugt, hervorbringen. Nicht jedes empirisch vorhandene Gemeinschaft sgefühl vermag eine emanzipatorische symbolische Kulturwirklichkeit und eine das Individuum in seinen natürlichen Rechten anerkennende Staatsgesinnung zu tragen, zu vermitteln. Das »echte Gemeinschaftsgefühl« – und ebenso die in ihm ruhende »echte« Staatsgesinnung der Bürger – hat dabei aber keinesfalls den Charakter von etwas Sicherem, Anhaltendem, Naturgegebenem. Zudem kann es – als echtes Gefühl – nicht aus dem Nichts heraus mit Hilfe einer bestimmten Technik (z. B. des Mythus) geschaffen werden. Ebenso ist es als solches »nicht zu erdenken«, sondern muß schlicht »erfahren und erlebt sein«.37 Mit anderen Worten, es müsse vielmehr »aus einem tiefen und unmittelbaren Lebensgrunde erwachsen und sich aus ihm ständig erneuern«.38 Das echte politische Gemeinschaftsgefühl entsteht, davon gibt sich Cassirer überzeugt, an großen gesellschaftlichen Höhe- und Wendepunkten wie eben dem Abzug einer jahrelang als bedrückend empfundenen Fremdherrschaft 39 wesentlich leichter als »im politischen Alltag und im politischen Tageskampf«. 40 In diesem ist es aber umso notwendiger, ein »echtes« Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen und zu bewahren, insbesondere wenn die Zeiten so bedrohlich sind. Cassirer sieht die Deutschen 1930 aufgerufen zur Ausbildung und Aufrechterhaltung eines klaren »Bewußtseins der gemeinsamen Verpflichtung und der gemeinsamen Verantwortung« für den Staat, 41 dessen Verfassung sie sich nach dem verlorenen Weltkrieg in freiem Entschluß gegeben haben. Ist es doch dieser Staat, der den realen Nationalstaat der Deutschen ein entscheidendes Stück mit dem philosophischen Staatsbegriff des Deutschen Idealismus versöhnt und dabei die im 19. Jahrhundert neu ins praktische Staatsleben getretenen Aufgaben und Herausforderungen, wie sie u. a. von Cohen formuliert worden waren, 42 angenomE. Cassirer, »Wandlungen des Staatsgefühls und der Staatsgesinnung in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 250. 38 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 106. 39 »Solch ein Gefühl ist es, das uns heute bewegt.« – E. Cassirer, »Wandlungen des Staatsgefühls und der Staatsgesinnung in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 250. 40 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ebd., 107. 41 Ebd., 107. 42 Siehe dazu u. a. H. Cohen, Über das Eigentümliche des deutschen Geistes (1914), in: Werke, Bd. 16, Hildesheim/Zürich/New York 1997, 280, 282; ders., Deutschtum und 37

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men hat. Es geht Cassirer also bei Weitem nicht nur um die Bewahrung des realen Staates als eines notwendigen Ordnungsgefüges des Lebens, sondern immer auch um die Verteidigung der deutschen Republik in der Gestalt, die ihr die Verfassung von 1919 gegeben hat. Nur ein Gemeinschaft sgefühl, das die politischen Gegensätze und Kämpfe der Parteien, Klassen und Konfessionen durch eine gemeinsame Gesinnung umgreift, ermöglicht es allen Bürgern und Politikern, »fest im Mittelpunkt [des] staatlichen Seins« – im Allgemeinen – und des durch die Verfassung von 1919 geordneten staatlichen Seins – im Besonderen – zu stehen, um nach verschiedenen Richtungen hin zu arbeiten und zu vollbringen. Ein solcher Mittelpunkt hat mit dem »gemeinsamen Endzweck« des modernen zivilisierten Staates in Beziehung zu stehen, was die echte Staatsgesinnung jedem Einzelnen immer wieder bewußt macht: Bei allem Kampf, bei aller Not und allem Wirrsal des Streites darf der Endzweck des rational begründeten Staates niemals außer Acht gelassen werden.43 Bemerkenswert ist die Beteuerung, die Cassirer für notwendig hält: Niemand ist oder wird gezwungen, seine »individuellen Überzeugungen« diesem Endzweck bzw. dem politisch-gesellschaft lichen Konsens zu opfern. 44 Die Tatsache, daß sich in der Verfassung des deutschen Staates von 1919 eine republikanische Staatsgesinnung und das ihr korrelierende Gemeinschaft sgefühl niedergeschlagen haben, schließe nämlich »sehr verschiedene, ja gegensätzliche Wege« des Ringens um eine angemessene Staatstheorie und praktische Staatsgesinnung nicht aus, vielmehr schließt sie sehr verschiedene, ja gegensätzliche Ziele der praktischen Politik ausdrücklich ein. Cassirer betont hier folglich mit Nachdruck, daß – seinem Verständnis nach – weder die deutsche Staatsphilosophie 45 noch die Verfassung von den Bürgern eine »Übereinstimmung der politischen Anschauungen« und der »politischen Ziele« fordern, sondern allein den benannten Grundkonsens: die Anerkennung »einer für alle verbindlichen gemeinsamen Rechts-

Judentum, mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus (1915), in: ebd., 529 ff. 43 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 108. 44 Ebd., 109 Anm. A. 45 Wenn Cassirer im Vortrag darauf hinweist, daß die »deutsche Philosophie der neuren Zeit […] uns auf die Frage nach dem Wesen des Staates keine eindeutige Antwort [gibt]«, sondern in ihrem Staatsdenken von »demselben Widerstreit« gezeichnet ist, von dem »das geschichtliche Leben Deutschlands erfüllt und bewegt war«, dann ist ihm bei dieser Gelegenheit die Aussage wichtig, daß es für ein praktisches Bekenntnis zum bestehenden Staatswesen nicht Voraussetzung ist, daß alle geistig und politisch Tätigen einer einzigen, von allen geteilten Staatstheorie anhängen. – Ebd., 89.

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norm und einer gemeinsamen staatlichen und sozialen Aufgabe«. 46 Die mit diesem Grundkonsens ausgesprochene Anerkennung des »gemeinsamen Endzweckes« des Staates müsse sich im praktischen »Willen zum Staat als solchem« − als einem Willen zum Ganzen − niederschlagen. Gleichzeitig darf man hier wohl von einem Willen zu einem politischen Grundkonsensus sprechen, der sich an der faktischen Verfassung orientiert. Das heißt, der Wille zum Rechtsstaat schließt für den politischen Menschen Cassirer die Bereitschaft aller Handelnden ein, einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen als solchen und den faktisch vorgegebenen rechtlichen Rahmen als einen solchen anzuerkennen, der es erlaubt, die politischen Kontrahenten als Rechts- und Staatsgenossen, und nicht als zu vernichtende Feinde, anzusehen, zu respektieren und zu behandeln. Entscheidend ist dabei der Gedanke, daß das von der Verfassung zugestandene und geforderte »tätige Mitwirken, Mitarbeiten und Mitleben« aller Bürger an den Staatsangelegenheiten diese Orientierung am »gemeinsamen Endzweck« des Staates voraussetzt, 47 da sonst der ungebremste Streit, der unbeschränkte Kampf die verfassungsgemäße Staats- und Rechtsordnung zerstört. In diesen Grundkonsens, den Cassirer mit der Staatsgesinnung und dem sie tragenden lebendigen Gemeinschaft sgefühl verbindet, gehört für ihn auch die tätige Erkenntnis, daß die deutschen Universitäten keine »politischen Organisationen« sind und niemals sein dürfen. 48 Heidegger wird als Freiburger Rektor bekanntlich wenig später eine ganz andere Bestimmung des Selbstverständnisses der deutschen Universitäten vertreten und einfordern. 49 Um ihrer unbestreitbaren Verantwortung gegenüber der »staatlichen Gemeinschaft« gerecht zu werden, hat die Universität für Cassirer allerdings die Aufgabe, zu versuchen, die politischen Kämpfe im und um den Staat zu verstehen. Die Universität als Ort des Wissens soll auf diese Weise »von den im [politischen – C.M.] Streite Begriffenen und im Streite Verstrickten die Blindheit nehmen, die eine unmittelbare und schwere Gefahr bedeutet, sie soll sie nötigen, sich selber und den [politischen – C.M.] Gegner, gegen den sie streiten, zu sehen«50 –

Ebd., 109 Anm. A. Ebd., 108. 48 Ebd., 110. 49 M. Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933, Frankfurt a. Main 1983, 15 ff. 50 E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 111. 46 47

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als Mitmenschen, Mitbürger im gemeinsamen Staat. Nur eine »solche Klarheit des Sehens«, da ist sich Cassirer sicher, »wird verhüten, daß [der politische Streit – C.M.] in jene Gehässigkeit und Verbitterung ausartet, die zuletzt alle Bande gemeinsamen Wirkens zerschneidet«.51 Ein ungebändigter politischer Streit und Kampf kennt in Bezug auf den Gegner und Konkurrenten in der letzten Konsequenz keine Grenzen, kein Recht und kein Pardon – nur die Ausschaltung und Vernichtung. Politiker und Bürger, die sich während der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Theorie und Praxis der Idee des totalen Staates verschreiben, hatten in Cassirers Augen die 1930 geforderte »echte« Staatsgesinnung samt »echtem« Gemeinschaftsgefühl verloren und den von diesem begründeten politischen Grundkonsensus bereits verlassen. Angesichts der faktischen Aufkündigung diesen Konsenses durch einen Teil der politischen Klasse und der Staatsbürger gibt es in seiner politischen Theorie allerdings außer anhaltenden Versuchen von Überzeugung und Belehrung keine weiterführenden Lösungsvorschläge, keine konkreten Verfahrensregeln, wie der Staat und die ihn tragenden, ihn wollenden Bürger dagegen vorgehen sollen. Ein Rechts- und Verfassungsstaat, in dem die führenden Politiker sich vom neuzeitlichen Staats- und Menschenverständnis verabschiedet haben – das gilt für die rechtskonservative Bewegung hin zum korporativen Staat ebenso wie für die linksradikale Bewegung hin zum Rätestaat −, muß als solcher zunächst zugrunde gehen. Cassirer will dies aber nicht als letztes Wort der Geschichte verstanden wissen. Hinter diesen Aussagen und Argumenten Cassirers scheinen, wie bereits zum Ausdruck gebracht, ein gutes Stück die Staatsauffassung des deutschen Idealismus und ihre Weiterentwicklung bei Cohen auf, beides hält Cassirer als die für das neue 20. Jahrhundert angemessene Staatsphilosophie. Dem – 1806 endgültig verlorengegangenen, 1871 wiedererlangten – Nationalstaat wird eine Erziehungs- und eine Sozialaufgabe an den Bürgern zugewiesen, die sich autonom, selbstgesetzgebend dem positiven Staatsrecht unterstellen, das sich aber wiederum am natürlichen Vernunftrecht messen lassen muß und das die aus Letzterem abgeleiteten unveräußerlichen Rechte des Individuums zu achten, in Rechtswirklichkeit umzusetzen hat. Dabei hat der vernünftige Staat alle Formen von Diskriminierung und Rechtsprivilegien abzubauen, er hat alle Klassen, Stände und Schichten der Gesellschaft gleichsam als Staatsbürger zu behandeln und sie am politischen und kulturellen Leben partizipieren zu lassen. Dieses sich in Cassirers politischen Texten vor und nach 1919 zu findende philosophische Grundverständnis des deutschen Staates erklärt allerdings noch nicht hinreichend, inwieweit 51

Ebd., 111.

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die Faktizität der darüber weit hinausweisenden demokratischen Verfassung vom August 1919 sich inhaltlich auf sein Staatsverständnis und seine politische Philosophie ausgewirkt hat. Dies zu klären bildet eine der noch offenen Aufgaben der Cassirerforschung.

Staatsbegriff des Deutschen Idealismus Zu Cassirers Position in einer historischen Debatte (1914–1918) 1. Umriß der Aufgabe § 1. Man kann Thomas Meyer zustimmen, daß Ernst Cassirer als der bedeutendste deutsche Philosoph anzusehen ist, der sich ohne Vorbehalt und aus guten philosophischen Gründen zur Weimarer Republik als seiner politischen Heimat verhält und für sie eintritt.1 Seine Bejahung der republikanisch-parlamentarischen Verfassung vom 11. August 1919 ist mehrfach belegt. So unterschreibt er – gemeinsam mit Max Weber, Max Dessoir und Moritz Schlick – im Juni 1920 den politischen Aufruf deutscher Hochschullehrer, die Weimarer Verfassung »ohne Vorbehalte und Umschweife« anzuerkennen. Außerdem stützen seine Arbeiten der 20er und 30er Jahre offen die Ideen von Demokratie, Parlamentarismus und Republikanismus. In seiner engeren politischen Heimat, der Deutschen Demokratischen Partei, die in Hamburg gemeinsam mit der SPD viele Jahre den regierenden Senat stellt,2 findet Cassirer mit Walter Rathenau, Friedrich Naumann, Max Weber, Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch alte politische und philosophische ›Weggefährten‹ wieder, die sich fast alle zwischen 1914 und 1918 in der großen Staatsdebatte öffentlich positionieren. § 2. Diese Debatte wird, inspiriert von den sogenannten ›Ideen von 1914‹, ausgetragen von kontroversen Stellungnahmen deutscher Universitätsprofessoren zum Ersten Weltkrieg und zu den als notwendig erachteten politisch-rechtlichen Reformen nach dem siegreichen Ende des Krieges. Die anstehende staatliche Neuordnung wird entweder im Rahmen eines korporativistischen, berufsständischen Staates der exkluierenden bzw. inkluierenden deutschen ›Volksgemeinschaft‹ o d e r eines demokratisch-konstitutionellmonarchischen ›Volksstaates‹ gleichberechtigter Staatsbürger gesehen.3 Die deutschtümelnden, chauvinistischen Korporativisten verstehen den deutschen Staat dabei als Machtstaat und lehnen das parlamentarische SysTh . Meyer, Ernst Cassirer, Hamburg 2006, 81. M. Hänel, »Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitian Philosopher. The Case of Ernst Cassirer«, in: L.E. Jones (Hrsg.), Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the Unites States, New York/Oxford 2001, 119–140, hier 125. 3 Siehe St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ›Ideen von 1914‹ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. 1 2

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tem als fremde ›westliche‹ Idee ab. Die ›Volksstaat‹-Anhänger vermeiden bei allem Patriotismus den extremen Chauvinismus und bestehen auf dem Rechtsstaat, haben dabei aber auch teilweise Vorbehalte gegen die Idee des Parlamentarismus. Daß 1919, nach verlorenem Krieg und gestürzter Monarchie, eine republikanisch-parlamentarische Verfassung die radikale Neuordnung des Staates abschließt, hatte wohl keiner der Diskutanten erwartet, auch nicht die Vertreter der liberalen ›Volksstaatsgruppe‹. In dieser heftig geführten Debatte werden schon viele derjenigen Argumente artikuliert, die später in totalitäre und rassische (völkische) Theorien des Staates eingehen. § 3. Das in diesem historischen Kontext mit vorliegendem Beitrag aufgeworfene Problem darf in dem Versuch gesehen werden, die Position Cassirers in besagter Debatte über den zukünftigen Staat zu bestimmen, obwohl er sich auf den ersten Blick an ihr nicht beteiligt. In den beiden scheinbar rein geistesgeschichtlichen Arbeiten zum Thema des ›Deutschen‹ Staatsbegriffs aus jenen Jahren – dem im März 1916 an der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums gehaltenen Vortrag »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem«4 und dem 6. Kapitel »Freiheitsidee und Staatsidee« des Buches Freiheit und Form, den 1916 veröffentlichten »Studien zur deutschen Geistesgeschichte«, in die der Vortrag eingeht –, äußert sich Cassirer nicht explizit zu dieser aktuellen theoretischen Debatte. Auch zu den diskutierten praktisch-politischen Reformvorhaben (Reform des preußischen Wahlrechts, Einführung der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament etc.) sind keine öffentlichen Äußerungen Cassirers bekannt. Es ist in der Forschung zudem umstritten, ob und inwieweit sich Cassirer als politischer Philosoph überhaupt den akuten politischen Herausforderungen zuwendet, ihnen gegenüber Stellung bezieht.5 Insbesondere in den Berliner Jahren bis 1919, in der Zeit der Monarchie mit ihren nur eingeschränkt demokratischen Institutionen, wird seine Haltung zu den praktischen Fragen der staatlichen Ordnung in den Schriften nicht explizit ausgesprochen. D. h., Cassirer exponiert sich weder als Kritiker der politischen Zustände, noch scheint er das Bild einer konkreten politischen Ordnung für die Nachkriegszeit zu entwerfen. In einem unpubliziert gebliebenen Beitrag für die Kant-Studien spricht er 1916 allerdings nachfolgende Erwartung aus, was ein indirekter Hinweis auf die Kenntnisnahme der Debatte sein könnte: Ernst Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 3–28. 5 Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bde., Berlin 2002, Bd. 1, 131. 4

Staatsbegriff des Deutschen Idealismus

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»Keiner von uns zweifelt mehr, dass, wenn erst einmal das Ende dieses Kampfes herangekommen sein wird, eine unabsehbare Fülle neuer politischer und nationaler Aufgaben uns erwartet.«6

§ 4. Trotz fehlender öffentlicher Parteinahme im Streit um die künftige Form des Staates wird Cassirer in der Forschung unter Bezug auf die 1916 öffentlich gemachten philosophischen Auffassungen zum Staatsbegriff des Deutschen Idealismus der ›Volksstaatsgruppe‹ (Gerhard Anschütz, Hugo Preuß, Hans Delbrück, Max Weber) zugerechnet,7 deren Anhänger 1919 die Weimarer Verfassung ausarbeiten. Dafür spricht auch, daß Cassirer zu den Anhängern des Naturrechts (unveräußerliche Menschenrechte des Individuums als Schranke für den Staat, Vernunftrecht als Norm für Staatsrecht) und der Vertragstheorie im 20. Jahrhundert zählt. 8 Allerdings bekennt er sich nicht explizit zu den öffentlich vorgetragenen politischen Positionen bzw. Forderungen dieser Gruppe von Gelehrten. Für die thematische und politische Nähe zu ihr sollen im Folgenden Argumente vorgetragen werden.9 § 5. Zunächst aber einige Überlegungen und Vermutungen darüber, wodurch sich diese offensichtliche Zurückhaltung erklären läßt. a. Der etwa 40-jährige Cassirer versteht sich in den Jahren 1915 und 1916 zumindest in Sachen politische Philosophie / Staatsphilosophie noch als Studierender, was entsprechende Aufzeichnungen, Exzerpte aus Fach- und Quellenliteratur, an die sich konzeptionelle Gedanken anschließen, belegen.10 b. Der Cassirer-Biograph Meyer zählt es zu Cassirers Eigentümlichkeiten, daß er eine gewisse Distanz zu den aktuellen öffentlichen weltanschaulichen und politischen Debatten seiner Zeit wahrt.11 So finde man während der Kriegsjahre 1914 bis 1918 »weder in seinen Publikationen noch in seiner Korrespondenz […] präzise Ausführungen zum Krieg«.12 c. Außerdem sei es nicht Cassirers Art, wohl auch wegen seiner patriotischen Gesinnung, öffentlich Kritik zu üben, sondern eher die positiven Elemente in der deutschen Geistesgeschichte und Gegenwart zu betonen.13 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 58 7 St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, a. a. O., 240 ff. 8 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie der Politik. Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 129–159. 9 Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 10 E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 231–243. 11 Th . Meyer, Ernst Cassirer, a. a. O., 98 f. 12 Ebd., 62. 13 Ebd., 94. 6

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2. Lösung der Aufgabe A. Haltungen und Handlungen § 6. Pa t r i o t i s m u s : Cassirers Einstellung und Haltung zum Krieg, seinen Zielen, zur Kriegspropaganda unter europäischen Intellektuellen sowie zum Antisemitismus in den Kriegsjahren läßt sich als patriotisch (d. h. keineswegs als pazifistisch), national und europäisch denkend beschreiben. Es ist unbestreitbar, daß er sich zur »national eingestellten Elite« Deutschlands zählt, die ihr Vaterland in Gefahr sieht.14 Deshalb stellt sich der a. o. Professor der Berliner Friedrich-Wilhelm Universität, der ausgemustert ist und für den Kriegsdienst nicht in Frage kommt, zunächst als Lehrer an einem Berliner Gymnasium (als ›Kriegseinsatz‹) in den Dienst des Vaterlandes. Von 1916 bis 1918 leistet er diesen Dienst dann in der Abteilung ›Frankreich‹ des Kriegspresseamtes. Ihre Mitarbeiter erhalten zum Teil kein Gehalt. Auf seine national-patriotische Gesinnung weist auch die Wortwahl in den Texten von 1916 hin, die uns zugleich in den Umkreis der Debatte um die deutschen ›Ideen von 1914‹ führt. Hier ist die Rede u. a. vom »deutschen Geist« oder vom »deutschen Wesen«. So sei der Krieg »dem deutschen Volk und dem deutschen Staat« von den Gegnern »gleichsam aufgezwungen« worden. »Wir«, d. h. alle Deutschen, stehen »in schweren äußeren Kämpfen«15 bzw. in »schwersten Kämpfen um das politischmaterielle Dasein des deutschen Volkes«.16 Dieses habe sich deshalb die »Frage nach seiner geistigen Wesensart und seiner weltgeschichtlichen Bestimmung« zu stellen. Wenn Cassirer seine Schrift Freiheit und Form als Versuch sieht, »das Wesen des deutschen Geistes zu bestimmen«,17 das ja auch Gegenstand der intellektuellen Kriegslegitimation ist, dann kann dies als Hinweis auf die Debatte verstanden werden, an der Cassirer folglich doch teilnimmt. §7. C h a u v i n i s m u s : Die national-patriotische Haltung, die Cassirer im und zum Krieg bezieht, bringt jedoch keine nationalistische oder gar chauvinistische Einstellung zum Ausdruck. Er gewinnt dem Krieg keinerlei belebende oder erneuernde Wirkung ab wie z. B. sein ehemaliger Berliner

Ebd., 63. E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem (1916)«, in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 4. 16 E. Cassirer, Freiheit und Form. Zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, XI. 17 Ebd., XII. 14 15

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Kollege Georg Simmel18 oder wie sein verehrter Lehrer Hermann Cohen.19 Auch beteiligt er sich nicht an der allgegenwärtigen Verächtlichmachung alles Französischen und Englischen, vielmehr betont er auch während der Kriegsjahre seine Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Nationalkulturen über ihre jeweiligen Eigenheiten hinaus. Wenn Cassirer ausspricht, daß bestimmte Ideen in einem »nationalen Kulturzusammenhang« zwar entstehen, ihre Inanspruchnahme aber »über jede spezifisch-nationale Bedingtheit und Schranke hinausweist«, 20 dann gilt das nicht nur für Kants Idee der Autonomie, sondern auch für politische Ideen aus Frankreich. Mit anderen Worten, Cassirer hält sich vom »ideologischen Weltanschauungskrieg« jener Jahre fern.21 Solche Ausbrüche, wie sie bei den Vertretern der deutschen ›Volksgemeinschaft‹, z. B. bei dem Berliner Rechtshistoriker Otto von Gierke, zu lesen sind (Russen werden als »barbarische Asiaten«, 22 Engländer als »entartete« Brecher der »Solidarität der weißen Rasse«,23 Deutsche als Träger »edlen Blutes«24 tituliert), oder wie sie in dem von 93 Professoren unterschriebenen »Aufruf an die Kulturwelt« (4.10.1914) zu lesen sind,25 finden sich bei Cassirer selbst in den Kriegsjahren nicht. Auch Gierkes Überzeugung von der »Überlegenheit der jugendfrischen deutschen Kultur«,26 die allerdings auch von Cohen27 und von Anhängern der ›Volksstaat‹-Gruppe wie Hermann Oncken 28 oder Paul Natorp29 in ähnlicher Weise geäußert G. Simmel, »Deutschlands innere Wandlung, Straßburg November 1914«, in: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze, in: GA, Bd. 16, Frankfurt a. Main 1999, 7–58, hier: 29. 19 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum, mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus« (1915), in: Werke, Bd. 16: Kleinere Schriften V, Hildesheim/Zürich/New York 1997, 465–560, hier: 534. 20 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., XVI. 21 Th . Meyer, Ernst Cassirer, a. a. O., 94. 22 O. von Gierke, »Krieg und Kultur« (1915), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, 65–80, hier: 72. 23 Ebd., 76, 78. 24 Ebd., 72 f. 25 »Aufruf an die Kulturwelt« (4.10.1914), in: ebd., 48. 26 O. von Gierke, »Krieg und Kultur« (1915), in: ebd., 74. 27 H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: Werke, Bd. 16: Kleinere Schriften V, a. a. O., 237–298, hier: 294; ders., »Deutschtum und Judentum« (1915), in: ebd., a. a. O., 489, 508, 529, 536. 28 H. Oncken, »Die Deutschen auf dem Wege zur einigen und freien Nation«, in: F. Th imme / C. Legien (Hrsg.), Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, Leipzig 1915, 1–11, hier: 8. 29 P. Natorp, »Die Wiedergeburt unseres Volkes nach dem Kriege«, in: ebd., 194– 206, hier: 196. 18

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wird, wird von Cassirer bei all seiner Verehrung der deutschen Kultur nicht geteilt. Ihn erschüttert vielmehr die Erfahrung, die er während der Kriegsjahre macht, insbesondere im Jahr 1916, als Bruno Bauch, stellvertretender Redakteur der Kant-Studien, Cohen mit antisemitischen Tiraden überschüttet, so daß er in der Konsequenz das »Verhältnis von Deutschen und Juden« als ein äußerst fragiles erlebt. Wobei die ursprüngliche Erwartung, der Krieg könnte dabei helfen, den »Widerspruch« zwischen Deutschtum und Judentum als »trügerischen Schein« zu entlarven,30 »zutiefst von Cohens Blick […] geprägt« ist.31 Der 1914 ausgerufene ›Burgfriede‹ zwischen allen Deutschen schwindet in diesem Jahr für die deutschen Juden, ihr soldatischer Einsatz für das Vaterland wird zunehmend in Frage gestellt und entwertet (›Judenzählung‹ im Heer, Oktober 1916),32 eine Entwicklung, die Cassirer äußerst empört, wie in der damals unveröffentlicht gebliebenen Replik auf Bauchs Tiraden nachzulesen ist.33 § 8. Zu den pr a k t i s c he n H a nd lu n g e n u nd H a lt u n g e n des Staatsbürgers und Hochschullehrers Cassirer, der in privaten Unterhaltungen »jede Art von Politisieren« vermeidet,34 gehört neben dem Dienst fürs Vaterland aber auch, daß er gezielt bestimmte politische Initiativen von Intellektuellen persönlich unterstützt35 und andere, wie etwa den chauvinistischen »Aufruf an die Kulturwelt« (1914), nicht.36 Der Umgang mit den Personen, die sich an den von ihm unterstützten Initiativen ebenfalls beteiligten, deren politischen Positionen mit denen Cassirers vorsichtig identifiziert werden können – zumal wenn er ihre philosophischen Schriften selbst gelegentlich als Quelle in eigenen Vorträgen und Schriften nutzt –, liefert die Begründung bzw. Rechtfertigung des nachfolgenden Erklärungsansatzes. So war Cassirer, selbst mit dem ›ethischen Sozialisten‹ Kurt Eisner befreundet, bereits 1912 Mitglied des ›Verbandes für internationale Verständigung‹ geworden, der 1911 von moderaten Pazifisten gegründet wurde und zu französischen und amerikanischen Vereinigungen Kontakt hatte. H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: Werke, Bd. 16, a. a. O., 558. Thomas Meyer, Ernst Cassirer. a. a. O., 37. 32 Siehe dazu J. Rosenthal, Die Ehre des jüdischen Soldaten, Frankfurt a. Main/New York 2007. 33 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 56 f. Anm. 34 Th . Meyer, Ernst Cassirer, a. a. O., 62. 35 M. Hänel, »Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitian Philosopher. The Case of Ernst Cassirer«. a. a. O., 121 ff. 36 J. von Ungern-Sternberg / W. von Ungern-Sternberg, Der Aufruf ›An die Kulturwelt‹. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegpropaganda im Ersten Weltkrieg, Mit einer Dokumentation, HMRG Beiheft 18, Stuttgart 1996, 13 ff., 63 f., 145 ff. 30 31

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1913 hat der Verband 350 Mitglieder, unter ihnen Naumann, Preuß, Rudolf Breitscheid, Troeltsch und Weber.37 Während der Kriegsjahre nimmt Cassirer an den ›Sonntags-Gesprächen‹ bei Meinecke teil, auch Troeltsch, Rathenau und der Historiker Gustav Mayer verkehren hier.38 Im Mai 1919 setzt er – gemeinsam mit Albert Einstein und dem USPD-Führer Hugo Haase – seine Unterschrift unter eine Petition zugunsten des von der Todesstrafe bedrohten Führers der Münchner Räterepublik, Eugen Levine. Als Cassirer im Sommer / Herbst 1916 mit dem grassierenden Antisemitismus, in seiner akademisch verbrämten Variante bei Bauch, dem Mitglied der Kant-Gesellschaft und Mitherausgeber der Kant-Studien, konfrontiert wird, reagiert er umgehend und entschieden. Bauch hatte in zwei Veröffentlichungen (»Leserbrief« im Panther, Beitrag »Vom Begriff der Nation« in den Kant-Studien) der Kantauslegung Cohens – der spricht u. a. von einem rationalistischen Idealismus Kants in der Tradition Platons und Leibnizens, was das »Eigentümliche des deutschen Geistes« ausmache39 –, einen mit der »deutschen Weltanschauung« unvereinbaren, überspitzten jüdischen Rationalismus vorgehalten und jüdische Mitbürger als »Fremdvölkische« aus der deutschen Sprach-, Vaterlands-, Kultur- und Staatsgemeinschaft ausgeschlossen. 40 Cassirer tritt dem durch einen Gegenartikel für die KantStudien und durch den Austritt aus der Kant-Gesellschaft entgegen. 41 In dieser philosophisch-politischen Frage zeigt er sich folglich, was sonst weniger seine Art ist, öffentlich als kämpferisch und unbeugsam.

B. Staatsphilosophie § 9. S t a a t s b e g r i f f d e s D e u t s c h e n I d e a l i s m u s : Zur zeitgenössischen Staatslehre und dem Streit um ihre Ausgestaltung äußert sich Cassirer nicht direkt, vielmehr bietet er eine Darstellung und Deutung des StaatsM. Hänel, »Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitian Philosopher. The Case of Ernst Cassirer«, a. a. O., 121; Th . Meyer, Ernst Cassirer, a. a. O., 65. 38 M. Hänel, »Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitian Philosopher. The Case of Ernst Cassirer«, a. a. O., 122; Th . Meyer, Ernst Cassirer, a. a. O., 65. 39 Siehe H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: Werke, Bd. 16, a. a. O.; ders., »Deutschtum und Judentum« (1915), in: Werke, Bd. 16, a. a. O. 40 Siehe B. Bauch, »Leserbrief«, in: Der Panther. Deutsche Monatsschrift für Politik und Volkstum, 4. Jg., Heft 6, Juni 1916, 742–746; ders., »Vom Begriff der Nation, (Ein Kapitel zur Geschichtsphilosophie), Vortrag gehalten in der Staatswissenschaft lichen Gesellschaft zu Jena«, in: Kant-Studien, Bd. 21, (1916/17), 139–162. 41 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 29–60. 37

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begriffs im Deutschen Idealismus. Dies kann und muß mit Blick auf die Inanspruchnahme dieser Staatsidee in der Debatte als – indirekte – Stellungnahme in der Sache und zu den theoretischen Positionen der beiden ›Lager‹ gelesen werden. Während von Gierke z. B. 1915 Fichtes »unvergeßliche« »Reden an die deutsche Nation« (1808) als Beleg für den »Übergang von seiner ehemaligen weltbürgerlichen Gesinnung zur flammenden nationalen Begeisterung« wertet, die er, Gierke, nun auch von allen deutschen »Volksgenossen« einfordert, 42 legt Cassirer, der sich in seinen Arbeiten zur politischen Philosophie vielfach auf die Schriften Gierkes zur Geschichte der Rechtsund Staatsphilosophie bezieht, 43 1916 allerdings Wert auf die Feststellung, daß es sich dabei »um die Bestimmung einer ›intelligiblen‹ Aufgabe handelt, an der jeder Anteil gewinnt, der sie sich in freiem Entschluss zu Eigen macht.«44 In seiner Rede zum Verfassungstag 1930 kommt Cassirer auf diese Frage zurück und unterstreicht noch einmal seine eigene FichteDeutung, wonach dieser selbst »mitten in dem leidenschaftlichen Pathos der ›Reden an die deutsche Nation‹ […] jener ersten weltbürgerlichen Gesinnung, […] seinem ethischen Universalismus niemals eigentlich untreu geworden [ist].«45

§ 10. Eine repräsentative Inanspruchnahme der Staatsphilosophie des Deutschen Idealismus bei einem Vertreter des Korporativismus und Machtstaatsgedankens finden wir bei Max Wundt. Der schreibt 1918 dieser historischen Staatsphilosophie die metaphysische Idee der Volksgemeinschaft als dem Allgemeinen zu, mit dem die Einzelnen »innerlich« und ursprünglich eins sind, zu dem sie »nicht äußerlich aus einem abgesonderten Dasein« per Vertrag zusammentreten. 46 Dies wendet er gegen jeglichen Individualismus, für den Familie, Staat und Beruf als »fremde Mächte dem einzelnen gegenübertreten«. Während der Individualismus eine fremde, abzuweisende westeuropäische Idee sei, gilt die der primären Gemeinschaft als ureigene deutsche Idee. Nach dieser Idee, die den Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen unbedingt verpflichte, fordere die ihr gemäße Freiheitslehre »nicht O. von Gierke, »Krieg und Kultur« (1915), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, a. a. O., 79. 43 Siehe dazu Anm. 61 im vorliegenden Beitrag. 44 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 52 f. 45 Ebd., 93. 46 M. Wundt, »Deutsche Staatsauffassung« (1918), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, a. a. O., 152–157, hier: 152. 42

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allgemeine Menschenrechte, sondern das Recht der bestimmten sozialen oder politischen Gruppe.«47 Dieser Staat, mit dem der Einzelne »unmittelbar eins« ist und der diesem »gebietende Hoheit« ist, was »als der eigene Wille des Gehorchenden« erscheint, müsse immer bejaht werden. 48 Die »deutsche Staatsauffassung« (Hegel) sei keine demokratische, sie bezweckt zwar einen jeweiligen »Anteil aller am Staat«, nicht aber einen »Anteil aller an der Regierung« und fordert deshalb auch keine »gleiche[n] und unmittelbare[n] Wahlen«. 49 Regieren sollen nur die »Einsichtigen«, die Vernünftigen. Im deutschen Beamtenstaate realisiere sich »die innere Einheit des Einzelwillens mit der Gesamtheit […] in der Arbeit ihres Berufs.«50 Deshalb habe der deutsche Staat als korporativer Staat zu existieren, der sich auf ein »monarchisches Beamtentum« stützt und der »auf dem berufsständischen Grundsatz aufgebaut« ist. Im Beruf, der »die eigentliche politische Lebensäußerung des Mannes [ist], die ihn an den Staat bindet und durch die er am Staat selbst schaffend mitwirkt«,51 übt er seine »politischen Rechte aus«. Diese deutsche Idee müsse nach dem Krieg noch konsequenter gegen alle ausländischen Gedanken gestärkt werden. § 11. Einer solchen Deutung der Staatsidee des Deutschen Idealismus widersetzen sich die Vertreter der ›Volksstaatsgruppe‹ (Meinecke) und Cassirer. Allerdings bekämpfen sie diese Option auch als ein reales politisches ›Reformprogramm‹, wobei Cassirer dabei publizistisch nicht in Erscheinung tritt. Aber auch Cohen, dem Bruendel eine inkluierende Volksgemeinschaftsidee zuschreibt, legt mit seiner sich auf Kants Ethik berufenden Konzeption eines ›ethischen Sozialismus‹ eine dem Naturrecht – als ethischer Begründung des Rechts52 – verpflichtete Deutung des Staatsgedankens des Deutschen Idealismus (Kant, Fichte) vor, die sich der des korporativ-berufsständischen Staates widersetzt. Möglicherweise werden die ethisch motivierten Aufgaben des Staates (allgemeine Schulpflicht, offener Zugang zur Universitätsbildung, Lösung der Juden- und der Arbeiterfrage durch volle rechtliche Gleichstellung, Sozialpolitik und staatliche Fürsorge) stärker betont als die Rechte – und Pflichten – der Einzelnen (allgemeines Wahlrecht, allgemeine Wehrpflicht).53

Ebd., 152. Ebd., 153 f. 49 Ebd., 154. 50 Ebd., 155. 51 Ebd., 156. 52 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: Werke, Bd. 16, a. a. O., 521. 53 Siehe dazu im vorliegenden Band auch den Beitrag »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 47

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Für Cohen ist 1914 der eigentümliche deutsche Staat »nicht nur die Ordnung gegen Gewalt und Raub, sondern die Erziehungsanstalt des Geistes« und damit der Sittlichkeit des Volkes.54 Er hat »in sittlicher Bedeutung souverän […] gegenüber der Kirche« zu sein.55 Die Weiterentwicklung der Staatsidee des Deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert sieht er – sich auf Fichte und Lassalle berufend – in der Aufgabe der vollen rechtlichen, politischen und sozialen Integration des Arbeiterstandes und seiner politischen Partei, der Sozialdemokratie, in den Staat.56 Es ist die Gesellschaft mit ihren Veränderungen, die den Staat und seine Idee vor immer neue Herausforderungen stellt. Der moderne Staat werde von den materialistischen Interessen der kapitalistischen Wirtschaft und der in ihr »wurzelnden Stände«, die »vor keinem Rechtsfrevel« zurückschrecken,57 permanent herausgefordert.58 § 12. Für Cassirer bildet 1916 das Staatsideal des Deutschen Idealismus von Leibniz bis Hegel, speziell dasjenige Kants und Fichtes, nicht nur die Grundlage für »das Staatsideal unserer eigenen Gegenwart«, sondern es sei Cohen gewesen, der »den Staatsbegriff des deutschen Idealismus zu neuem Leben erweckt [hat]«59 und damit auch das Eigentümliche, nämlich die Idee, den Nationalstaat als Erziehungsanstalt der Bürger zur Freiheit zu bestimmen. Unausgesprochen bleibt aber, inwieweit er, Cassirer, die deutsche politische Wirklichkeit vor 1918/19 bereits an diese Vernunftidee angenähert sieht, und in welchen Aspekten er Staatsbegriff und Staatsrealität als ergänzungs- bzw. entwicklungsbedürftig versteht. 60 Implizit erkennt sein Bekenntnis zu Cohens Staatslehre die von diesem benannten »Abstände« und »letzten Schatten« an. Belegbar ist zudem, daß Cassirer die VernunftIdeen der parlamentarischen Demokratie, des Rechtsstaates und der individuellen Menschen- und Bürgerrechte als Ideen aufgefaßt sehen will, die auch aus deutschen Quellen entspringen (Grotius, Leibniz, Wolff ) und folglich der deutschen Kultur und Staatswirklichkeit nicht fremd sind. Dabei stützt er sich vor allem auf die Arbeiten von Gierke und Georg Jellinek. 61 H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: Werke, Bd. 16, a. a. O., 270. 55 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: ebd., 503. 56 H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: ebd., 280. 57 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: ebd., 544. 58 Ebd., 542. 59 E Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916) in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 25. 60 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 367. 61 Ebd., 331. Siehe dazu u. a. O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, 2., durch Zusätze vermehrte Ausgabe, Breslau 1902; G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, (Staats54

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Die übernommene Cohen’sche Verknüpfung von Ethik, Recht und Politik bzw. Ableitung des Rechtes aus der Ethik, und der Politik aus dem Recht62 erlaubt es ihm, Kants Begriff der Autonomie zu einem zentralen Begriff seiner politischen Philosophie zu erheben. Die Idee der ethischen Normierung des Politischen bleibe für den deutschen Staatsbegriff auch im 20. Jahrhundert – als regulative Idee – gültig. Ohne jegliche Deutschtümelei versteht sich Cassirer als ein philosophisch-politischer Denker für die konkrete, einmalige deutsche staatsrechtliche Wirklichkeit. Trotz aller deutschen Eigentümlichkeit im staatlichen Leben und in der Staatsidee propagiert er keinen deutschen ›Sonderweg‹ in der Staatsfrage, keine Abgrenzung gegenüber den politischen Formen und Lehren Westeuropas einschließlich Nordamerikas. 63 Cassirer akzeptiert außerdem keine Deutung der geschichtlichen Staatslehren (Platon, Machiavelli, Hegel) im Geiste des Machtstaatsgedankens, wie sie zwischen 1914 und 1918 viele ›Korporativisten‹ in Anspruch nehmen. Auch Troeltsch und Meinecke, mit denen sich Cassirer in politischen Fragen nahe oder gar einig weiß, weisen ebenso wie auch Cohen64 sowohl die »Macht- und Gewalt-Theorie als [die] alleinige politische Lehre« – gegenüber den Nachbarstaaten – sowie die »Lehre vom bloßen Kampf ums Dasein« zwischen den Staaten ab und setzen auf Vertragswillen und Vertrauen, ohne allerdings die Forderung nach einer »nötigen Machtsicherung« aufzugeben. 65 Meinecke bezieht diese Ablehnung eines politischen Systems, das »aus dem reinen […] Machtgedanken geboren« wurde, 1918 auch auf den Staat nach innen. 66 Im Gegensatz zur viel beschworenen Gemeinschaft gilt Cassirer das Individuum als Ausgangspunkt einer modernen Staatsphilosophie. Die unveräußerlichen Grundrechte der Individuen widersprechen dem Prinzip der unumschränkten Staatsgewalt, sie schränken die legitime Macht des Staates auf seine eigentlichen (Erziehungs-)Aufgaben ein. In diesem Sinne habe der Deutsche Idealismus den »Konflikt« von Freiheit und Form (Zwang),

und völkerrechtliche Abhandlungen, Hrsg. von G. Jellinek und G. Meyer, Bd. I/3), Leipzig 1895. 62 M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, (CF, Bd. 5), Hamburg 1999, 43–62, hier: 46 ff. 63 St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, a. a. O., 206, 211. 64 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: Werke, Bd. 16, a. a. O., 539 f. 65 E. Troeltsch, »Freiheit und Vaterland« (1918), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, a. a. O., 210–218, hier: 216 f. 66 F. Meinecke, »Zwei Systeme« (1918), in: ebd., 230–232, hier: 232.

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von individuellen Rechten und Staatsrecht für die Staatsfrage gelöst. 67 Der Deutsche Idealismus habe erkannt, daß, obwohl sich der »F r e i h e i t s gedanke« nur in der »F o r m des Staates« erfüllen kann, dieser Gedanke niemals völlig in ihr aufgehe, er seine Eigenständigkeit bewahrt – bzw. bewahren muß –, um Kritik an der »bestehenden Staatsform« entfalten zu können. 68 Diese Kritik selbst wird bei Cassirer allerdings nicht ausgeführt, hier ist wohl wieder auf Cohen und seine einschlägigen Schriften zu verweisen. Der Zwiespalt von Freiheitsidee und Staatsidee löse sich für den Deutschen Idealismus auf, wenn »das Recht und die Macht des Staates« auf die Bedingungen der Erziehung aller Bürger zur selbstverantworteten Freiheit gegründet und eingeschränkt ist. An Cassirers Beschäftigung mit dem philosophischen Staatsbegriff fällt allerdings auf, daß er die eigentlichen staatsrechtlichen Themen wie Verfassungsfragen, Rolle der politischen Institutionen und ihre Abgrenzung, Fragen des Staatsaufbaus etc. nicht diskutiert, ebenso wird die in Deutschland geführte staatsrechtliche Debatte zu diesen Themen von ihm nicht ersichtlich verfolgt. § 13. Z e i t g e n ö s s i s c h e Q u e l l e n : In der Regel verwertet und zitiert Cassirer in den Jahren 1915 und 1916 rechts- und staatsphilosophische Quellen von Autoren (Jellinek, Meinecke, Troeltsch), die eher dem ›Lager‹ der ›Volksstaat‹-Anhänger zuzurechnen sind. Ausnahmen bilden aber, wie bereits erwähnt, die Schriften Gierkes und – in einem gewissen Sinne – die Cohens. Der umfangreiche Gebrauch, den er nicht nur 1915/16, sondern auch in späteren Jahren von den sehr geschätzten Schriften Gierkes macht, bezieht sich auf dessen bekannten Werke zur Geschichte der – d e u ts c h e n  – Naturrechtslehren und des d e u t s c h e n Genossenschaftsrechtes, also auf Werke, die die d e u t s c h e n Wurzeln moderner politischer Ideen freilegen. 69 Dabei scheint Cassirer nicht zu stören, daß Gierke schon früh als Vertreter korporativistischer Ideen gilt, der demokratisch-parlamentarische Ordnungskonzepte als außerhalb der deutschen (›germanischen‹) genossenschaftlichen Tradition stehend ablehnt. 1915/16 positioniert sich Gierke dann auch folgerichtig innerhalb der extrem konservativen, antiwestlichen und demokratiefeindlichen Richtung (Georg v. Below, Reinhold Seeberg, Bauch, Wundt), die die Idee eines exkluierenden korporativen ›Volksgemeinschaftsstaates‹ vertritt, der ethnisch-religiös-politische Minderheiten (Juden, Katholiken, Sozialdemokraten) ausschließt. Auf diesen SachverE. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 318, 347 f. Ebd., 366. 69 Siehe O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1902; ders., Naturrecht und Deutsches Recht. Rede zum Antritt des Rektorats der Universität Breslau am 15.10. 1882, Frankfurt a. Main 1883. 67

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halt weist Cassirer bei seinen vielfältigen Bezugnahmen bis in die 30er Jahre nicht hin. Cohen, dessen Überhöhung der deutschen Kultur und des Deutschtums70 Cassirer nicht teilt, vertritt nach der Klassifizierung Bruendels in jenen Jahren die Position eines – Juden und Arbeiterstand – inkluierenden korporativen ›Volksgemeinschaftsstaates‹ (wie übrigens auch Rudolf Eucken, Max Scheler und Georg Simmel), wobei noch zu klären bleibt, ob es bei Cassirer mit dieser Position – über Cohens ethische Staatslehre, die er zur entscheidenden Auslegung der im 20. Jahrhundert immer noch aktuellen Staatsidee des Deutschen Idealismus erklärt – einige Berührungspunkte gibt.

C. Praktische politische Forderungen § 14. Die persönlichen Beziehungen – einschließlich die philosophische Zurkenntnisnahme – zu theoretischen und praktischen Akteuren der Debatte (Meinecke, Troeltsch, M. Weber) bzw. zu den späteren Autoren der Weimarer Verfassung (M. Weber, Anschütz, Preuß) erlauben einen bedingten, vorsichtigen Schluß auf ein affirmatives Verhältnis zu den von ihnen vertretenen praktischen politischen Forderungen. Merkwürdig erscheint mir in dem Zusammenhang jedoch, daß ich bislang keinen Hinweis bei Cassirer auf die theoretischen und praktischen Positionen von Hugo Preuß (1860– 1925) finden konnte, einem bedeutenden Staatsrechtler, der in Berlin lehrt bzw. politisch wirkt und der 1918/19 eine wichtige Rolle bei der Debatte um die Weimarer Verfassung spielt. Als Schüler von Gierkes, den Cassirer ja häufig zitiert, war Preuß wie dieser Anhänger der organischen Staatstheorie und der Genossenschaftstheorie, einschließlich des Gedankens der Selbstverwaltung, ein Gedanke, der sich auch bei Natorp und Cohen findet. Preuß wirkte zudem als Berliner Lokalpolitiker, war 1919 Mitbegründer der DDP, der politischen Heimat Cassirers, und wirkte als Staatssekretär und Minister in den Regierungen unter dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann. Am problematischsten erscheint dieser im vorliegenden Beitrag gezogene mittelbare Schluß hinsichtlich der politischen Positionen Cassirers wohl in Bezug auf die radikalen demokratischen Forderungen des Staatsrechtlers und späteren führenden Kommentators der Weimarer Verfassung, Gerhard Anschütz, da beide m.W. nicht miteinander verkehrten. Anschütz mahnt schon 1915 für die Zeit n a c h dem Krieg eine Wahlrechtsreform und eine Verwaltungsreform in Preußen an, da die bestehenden rechtSiehe H. Cohen, »Einleitung mit kritischem Nachtrag« zur 9. Aufl. der Geschichte des Materialismus von F.A. Lange (1896), Berlin 1914. 70

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lichen und politischen Zustände den größten Teil des arbeitenden Volkes aus den staatlichen Institutionen und Verantwortlichkeiten fernhielten.71 Die Verwaltungsreform soll den Bundesrat als regierendes Organ der Landesregierungen in ein parlamentarisches Gremium (Oberhaus) umwandeln. Die dem »Souverän des Reiches«72 unterstehende Reichsregierung müsse zukünftig sowohl dem Reichstag verantwortlich sein als auch im Reich die alleinige Regierungsgewalt ausüben, ist doch 1915 der preußische Ministerpräsident de facto das Haupt der Reichsregierung.73 Anschütz votiert für eine konstitutionelle Monarchie »auf demokratischer Grundlage mit demokratischen Einrichtungen«. Das wichtigste staatsrechtliche Anliegen ist für ihn die notwendige Wahlrechtsreform in Preußen, da hier im Unterschied zum Reich noch immer das »Dreiklassenwahlrecht mit indirekter [durch Wahlmänner – C.M.] und öffentlich-mündlicher Wahl« gilt, was »allen Forderungen politischer Ethik [widerspricht]. Es ist unrechtes Recht«.74 Das allgemeine – Frauen ausschließende – und geheime Reichstagswahlrecht müsse nach dem Krieg auf das Preußische Landtagswahlrecht ausgedehnt werden.75 Die »Verwaltungsreform« in Preußen habe nach Anschütz zudem sicherzustellen, daß der »Zugang zu dem Beamtentum und den Ehrenämtern unserer Staatsverwaltung [endlich] den weiten Volkskreisen« geöffnet wird.76 So würde »der Preußische Staat […] werden, was er bisher nicht war: ein Staat, der eins ist mit seinem Volke, ein wahrer und rechter Volksstaat.«77 »Gute Leistungen des Staates, […] eine fürsorgliche Gesetzgebung und Verwaltung«, d. h., »daß alles mögliche f ü r d a s Vo l k geschieht«, d. h. der Staat als Wohlfahrts- und Versorgungseinrichtung agiert, reiche nicht hin, das Vertrauen des Volkes in den Staat zu sichern, sondern alles das, »was für das Volk getan wird,« müsse »in weitem Maße auch d u r c h d a s Vo l k« geschehen: »allgemeine Teilnahme des Volkes am Staat, politische Gleichberechtigung, Einheit von Volk und Staat, kurz Demokratie.«78 Natorp, der im Gegensatz zu Cohen für eine staatsferne Bildungsreform im Geiste W. von Humboldts wirbt, teilt die These, daß alles »durch das Volk« selbst geschehen solle, meint dabei aber, das Volk solle sich in »genosG. Anschütz, »Gedanken über künftige Staatsreformen«, in: F. Th imme/C. Legien (Hrsg.), Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, a. a. O., 42–57, hier: 42 f. 72 Ebd., 51. 73 Ebd., 49 ff. 74 Ebd., 53. 75 Ebd., 55. 76 Ebd., 56. 77 Ebd., 56. 78 Ebd., 57. 71

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senschaftlichen Verbänden« als »Selbstverwaltungsorganen« zur »Selbsthilfe« organisieren, die die zentrale staatliche Verwaltung lokal ergänzen.79 § 15. Die Forderung nach einer Wahlrechtsreform in Preußen erheben 1918 auch Meinecke 80 und Troeltsch, 81 mit denen Cassirer ja politisch vor und während des Krieges verkehrt. Allerdings warnt Meinecke noch 1917 die Deutschen davor, sich von »unseren Feinden« deren Demokratie und politische Freiheit »aufdrängen« zu lassen. 82 Die notwendigen Verfassungsänderungen, die alle Konflikte »zwischen dem alten Polizei- und Beamtenstaate u n d dem Leben der Gesellschaft« lösen sollen, 83 müßten vielmehr aus der deutschen Freiheitstradition (Individualität) abgeleitet werden, zumal diese von den »westlichen Ideen« (Allgemeingültigkeit) »mit befruchtet« wurde. 84 Die »mächtige, unaufhaltsame Welle von Demokratisierung« gelte es in »nationalem Geiste aufzunehmen«. 85 Auch Meinecke favorisiert 1917/18 die von den deutschen »Machtpolitikern« bekämpften »freiheitlichen Reformen«, die die Macht der preußischen »Junker und Korpsstudenten« brechen, die Überreste »des alten Privilegien- und Kastengeistes« abschaffen86 und dafür sorgen, daß alle politischen Positionen vom Volk – und nicht von einem Stand allein – aus seiner Mitte heraus besetzt werden, um die »Schranken zwischen den Massen und dem Staate jetzt nieder[zu]legen«. 87 Sowohl Troeltsch als auch Meinecke äußern aber Vorbehalte und Einwände gegen eine Einführung des demokratisch-parlamentarischen Systems in Preußen, das sie eine »Massenherrschaft« nennen. 88 Für Meinecke ist das »parlamentarische System« keine »Freiheitsforderung deutscher Nation«, da ihr »sozialer Gemeingeist« keinen »bürgerlichen Klassenstaat« erstrebe, 89 der auf dem Parlamentarismus und seiner Parteienherrschaft ruhe. In der den Deutschen angemessenen »sozialen [und konstitutionellen – C.M.] Monarchie« sollen deren »Ratgeber« (Minister) zwar »mit« den Parlamenten regieren, nicht aber von deren Mehrheiten abhängen. Nur so 79

P. Natorp, »Die Wiedergeburt unseres Volkes nach dem Kriege«, in: ebd., 201–

203. F. Meinecke, »Zwei Systeme« (1918), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, a. a. O., 232. 81 E. Troeltsch, »Freiheit und Vaterland« (1918), in: ebd., 211. 82 F. Meinecke, »Die deutsche Freiheit« (1917), in: ebd., 166 f. 83 Ebd., 169. 84 Ebd., 167. 85 Ebd., 170. 86 Ebd., 168. 87 Ebd., 170. 88 E. Troeltsch, »Freiheit und Vaterland« (1918), in: ebd., 210, 212 f. 89 F. Meinecke, »Die deutsche Freiheit« (1917), in: ebd., 170 ff. 80

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ließe sich ein nach außen machtvoller Staat sichern.90 Der reformierte Staat müsse ein »Volksstaat mit dem Volkskönigtum an der Spitze« werden, dessen »soziales Königtum, befreit von den Resten des alten Stände- und Privilegienstaates, auf Fühlung […] mit der Volksvertretung angewiesen, aber zugleich frei […] genug [ist], um ausgleichend und vermittelnd zwischen Mehrheiten und Minderheiten einzugreifen.«91

§ 16. Doch es finden sich auch bei Cohen eine Reihe von politischen Forderungen für die Zeit nach dem Kriege, denen sich Cassirer durchaus anschließen kann: Cohen, der in seinen Schriften wesentlich stärker auf die gesellschaftlichen Realitäten Bezug nimmt als Cassirer, sieht in den Jahren 1914 und 1915 einen klaren »Abstand« zwischen der Idee des Staates und der deutschen bzw. preußischen Realität, so in der Wahlrechtsfrage in Preußen, tritt er doch offen für das allgemeine Wahlrecht ein.92 Solche »Abstände« und »letzte Schatten« bezüglich der Gleichberechtigung deutscher Juden93 gehören in der politischen Realität der Zeit nach dem Kriege »aufgehoben«. Deshalb fordert Cohen immer wieder laut die Aufhebung der geltenden Beschränkung der »Judenrechte«,94 was u. a. die fehlende Gleichberechtigung der Juden als Religionsgemeinschaft ,95 den Ausschluß der Wissenschaft des Judentums als Feld der Forschung und Lehre aus der Universität und die Praxis meint, jüdische Studenten nicht in Korporationen und Verbindungen eintreten zu lassen.96 Ebenso erhofft sich Cohen 1915, daß der Konflikt, »in den neuerdings« die kriegsbedingten »Widerwärtigkeiten« »wieder [!] den Staat und die Menschenrechte« gebracht haben, überwunden werden kann.97 Die Tatsache, daß sich der Hamburger Ordinarius für Philosophie unmittelbar nach der Verabschiedung der Reichsverfassung vom 11. August 1919 öffentlich vorbehaltlos zu dieser bekennt, darf als ein Argument für die Stichhaltigkeit der hier versuchten mittelbaren Zuschreibung bestimmter staatsrechtlicher bzw. politischer Positionen betrachtet werden. Ebd., 172. Ebd., 172. 92 H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: Werke, Bd. 16, a. a. O., 282. 93 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: ebd., 530. 94 Ebd., 532. 95 Ebd., 529. 96 Ebd., 530. 97 Ebd., 523. 90 91

Hegel-Bilder im Wandel Zu Cassirers Verständnis der politischen Philosophie Hegels 1. Vorbemerkung Bekanntlich hat Ernst Cassirer keine systematisierte Politische Philosophie ausgearbeitet, auch nicht in seinem politischen Werk vom Mythus des Staates.1 Daran vermögen ebenfalls die im Nachlaßband ECN 9 im Jahre 2008 erstmals veröffentlichten Texte und Entwürfe wenig zu ändern. 2 Dennoch lassen sich in den Abhandlungen, die politischen Themen gewidmet sind, einige zentrale Ideen herausheben, die zumindest die Umrisse einer Politischen Philosophie erkennen lassen.3 S e c h s in Frage kommende Grundideen (d. h. drei tragende Idee und drei Prinzipien) wurden in voranstehenden Beiträgen bereits ebenso ausgeführt wie die sie widerspiegelnden d r e i wichtigen Zäsuren in der Entwicklung der politischen Philosophie bzw. Theorie, 4 denen jeweils eine bestimmte politische Praxis (Realität) korreliert.5 Die politische und Rechtsphilosophie Hegels hat jedoch nicht nur für den späten Cassirer eine große Bedeutung bei der eigenen Positionierung innerhalb der politischen Philosophie, die Beschäftigung mit ihr zieht sich vielmehr seit 1915/16 bis ins Todesjahr 1945 durch nahezu alle seine Überlegungen und Aussagen zum Thema Politik und Staat. 6 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwieweit das Bild, das er jeweils von Hegels politischer Philosophie zeichnet, sich innerhalb dieser drei Jahrzehnte ge- und verändert hat. Bei der Beantwortung dieser Frage sollen in erster Linie die Wertungen Cassirers, nicht aber seine Darstellungen der Staatsphilosophie F. Capeillères, »Cassirer penseur politique: The Myth of the State contre Der Mythus des 20. Jahrhunderts«, in: L’École de Marburg, Cahiers de Philosophie Politique et Juridique, No 26, Centre de Philosophie de l’Université de Caen, 1994, 175–204. 2 E. Cassirer, Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, in: ECN 9, Hamburg 2008. 3 H.J. Sandkühler, Keine Lehrstelle bei Cassirer: Recht und Politik, in: H.J. Sandkühler und D. Pätzold (Hrsg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003, 297–308. 4 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Ernst Cassirers Philosophie der Politik: Rationalität. Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 129–159. 5 E. Cassirer, The Myth of the State, New Haven / London 1946, 269 ff. (= ECW 25, 265 ff.) 6 Siehe dazu im vorliegenden Band der Beitrag »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 1

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Hegels besprochen werden, würde doch deren detaillierte Untersuchung wesentlich mehr Raum beanspruchen als es ein einzelner Beitrag erlaubt.

2. Das Hegel-Bild in den Texten von 1916 Cassirers Auseinandersetzung mit Hegels Staatsphilosophie hebt mit der Aussage in seinem im März 1916 in Berlin gehalten Vortrag zum Staatsbegriff des deutschen Idealismus an, wonach die – sich seiner Meinung nach ergänzenden – Staatslehren Fichtes und Hegels eine »Fülle neuer Anregungen« und »tiefer Gedanken« zum »Problem des Staates« bieten, die »jetzt erst«, also 1916, wirklich »in die Philosophie aufgenommen und in den eigentlichen Mittelpunkt ihrer Systematik gestellt« werden.7 Hegel habe, so der dreiunddreißigjährige Cassirer, dem Staatsbegriff seinerzeit und gegenwärtig eine »großartige Perspektive« eröffnet. Dennoch dürfe »der Glanz, der von dieser Staatslehre ausgeht und die tiefe Wirkung, die sie zweifellos im politisch-geschichtlichen Leben entfaltet hat, [keinesfalls – C.M.] die nüchterne philosophische Kritik […] blenden und die Nachprüfung ihrer theoretischen Grundlagen […] einschränken.«8

Insbesondere liege, so der dem ›kritischen‹ Idealismus verpflichtete Cassirer, in dessen Metaphysik sowohl »ein wesentlicher Teil der Kraft«, zugleich aber auch »die Grenze des Hegelschen Staatsbegriffs«.9 Diese Grenze und die aus ihr resultierenden Gefahren werden wenig später in Freiheit und Form (1916) noch einmal diskutiert. Gleichzeitig nimmt Cassirer Hegel in wichtigen Punkten gegen die Kritik an ihm in Schutz und betont die Mißdeutbarkeit seiner Staatsphilosophie für »Freunde und Gegner«.10 Im Vortrag geht Cassirer sogar soweit zu behaupten, der »bei Fichte wie bei Hegel« vorliegende reiche und tiefe Gehalt, der wegen des metaphysischen Charakters ihrer Systeme »nicht zu reiner und vollständiger Entfaltung gelangt« war, sei durch Hermann Cohen in dessen Ethik des reinen Willens (1904) »zu neuem Leben erweckt« worden.11 Wenn dieser feststelle, daß »die Kraft des Staates […] nicht allein in den physischen und naturhaften Wurzeln, die er in der Volkseinheit hat,« liegt, sondern auch E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 21. 8 Ebd., 23. 9 Ebd., 23. 10 Ebd., 24 f. 11 Ebd., 25. 7

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»in seiner ethischen Bedeutung als Aufgabe des Selbstbewußtseins«, dann treffe »Cohens Ethik mit Hegel in dem Gedanken zusammen, daß nur der Staat das eigentliche, echte Selbstbewußtsein des Menschen darstelle«, auch wenn bei Cohen »die Art der Begründung […] eine andere geworden« ist.12 Dies belege, so Cassirers abschließende These, daß Hegel – und Fichte – mit ihren Staatsphilosophien die Grundlage »auch für das Staatsideal unserer eigenen Gegenwart […] geschaffen haben.«13 Diese Behauptung versucht er im 6. Kapitel von Freiheit und Form (1916) noch einmal zu begründen. An Wertungen hinsichtlich der Staatsphilosophie Hegels finden wir hier zunächst die zustimmend gemeinte Aussage, Hegels Philosophie des Staates versuche im Anschluß an Aufk lärung und Romantik »eine neue Synthese zwischen den ›rationalen‹ und den ›geschichtlichen‹ Momenten des Staatsbegriffs« zu vollziehen.14 In ihr bewähre sich zudem, daß der Weg zur »Anschauung des geschichtlichen Lebens« nicht mehr »in das Dunkel des Irrationalen zurück[führt]«, falle doch für Hegel »das Wesen der Geschichte mit dem Wesen der Vernunft zusammen[…]«.15 Das Wirken der Vernunft in der Weltgeschichte stellt sich im Staate dar, weshalb wir »in dem […] somit […] den Erweis ihrer [der Weltgeschichte – C.M.] objektiven Vernünftigkeit besitzen.«16 Den daraus folgenden Schluß Hegels, daß für die Weltgeschichte nur staatlich organisierte Völker Bedeutung haben, hält Cassirer aber für fatal. Das Grundproblem, um das Hegel in seiner Staatsphilosophie ringt, sei die in der modernen Welt notwendig gewordene – weil historisch verloren gegangene – Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit. Die Hegelsche Idee des staatlichen Ganzen als einer Versöhnung von Endlichkeit und Unendlichkeit soll genau dies leisten. Die verloren gegangene Einheit müsse nach Hegel »durch eine fortschreitende Reihe von Vermittlungen« erst wieder vollzogen und hergestellt werden,17 ein Einheitsgedanke, der dem kantisch inspirierten Denker Cassirer zumindest nicht fremd ist. Obwohl Naturrechtsanhänger, der klar zwischen der frühen politischen Philosophie Hegels von vor 1806 und ihrer methodisch reiferen Variante seit der in dieses Jahr fallenden Vorrede zur Phänomenologie des Geistes unterscheidet,18 zeigt Cassirer durchaus ein gewisses Verständnis für die Ebd., 25. Ebd., 27. 14 E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. von R. Schmücker, Hamburg 2001, 374. 15 Ebd., 374. 16 Ebd., 377. 17 Ebd., 377. 18 Ebd., 379. 12 13

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Umstände von Hegels Zurückweisung der Naturrechtslehren, zumal er sich »gegen den eigentümlichsten Vorzug des Naturrechtes«, d. h. gegen ein Motiv, wie es im von der Französischen Revolution entfachten Enthusiasmus zum Ausdruck kam, bis in die späten Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte hinein »freilich niemals verschlossen« habe.19 Der Hegelschen Kritik an der Vertragsidee des Naturrechtes vermag sich Cassirer allerdings nicht anzuschließen, da er den Staat niemals im Hegelschen Sinne über die empirischen Einzelnen und deren individuellen freien Willen stellt und zu stellen bereit ist.20 Dennoch hebt er in Freiheit und Form (1916) hervor, daß sich noch der Hegel der Rechtsphilosophie »gegen jene Theoretiker der Restaurationsepoche« wendet, die im Staate »nur die höchste Stufe natürlicher und privater Dienst- und Sozietätsverhältnisse sehen und ihn demgemäß aus dem bloßen Machtprinzip abzuleiten versuchen.«21 Trete doch auch der ›alte‹ Hegel noch dafür ein, »daß die Pflichten des Staates und die Rechte der Bürger, wie die Rechte des Staates und die Pflichten der Bürger gesetzlich bestimmt sind«.22 An diesem Punkte, so Cassirer, »scheidet sich Hegel, mit der gleichen Schärfe wie vom Naturrecht, von der historischen Rechtsschule«. Wenn sich in der Geschichte gemäß Hegel das Allgemeine dem Einzelwillen »fortschreitend als die eigene Form und als das Prinzip dieses Willens« enthüllt, 23 dann vermag Cassirer auch dieser These vorsichtig beizupflichten. Hegel, der in diesem Sachverhalt den »wahren Grundcharakter des Staates« sich offenbaren sieht, will diesen der Sphäre der Willkür (Freiheit) entrückt und der des objektiven, allgemeinen Willens zugewiesen wissen. Der Staat Hegels »steht [zwar – C.M.] in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums«, hält in dieser aber »die Gewißheit des Allgemeinen und die Gewißheit der Freiheit fest«. 24 Mit der Behauptung, wonach der Einzelne in seiner Subjektivität begreife, »daß das, was der Staat als Pflicht fordert, zugleich der wahrhafte Anspruch und das Recht der Individualität unmittelbar sei«,25 kann sich Cassirer jedoch kaum identifizieren, denn mit ihr geht nach seiner Auffassung der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte verloren. Die Konstellation in der Staatsphilosophie Hegels, wonach Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie als geistige Tätigkeitsformen, in denen 19 20 21 22 23 24 25

Ebd., 379. Ebd., 379 f. Ebd., 380. Ebd., 381. Ebd., 381 f. Ebd., 382. Ebd., 382 f.

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sich der absolute Geist der Vermittlung und Vereinigung von Allgemeinem und Einzelnem bewußt wird, »bereits ursprünglich auf dem gleichen Boden wie der Staat« stehen, »im Staat ihre Grundlage und ihren Mittelpunkt« finden, »sich erst in ihm und durch ihn [konstituieren]«, ihm nicht »als besondere Richtungen […] des Geistigen gegenüber[stehen]«,26 hält Cassirer bereits 1916 für sehr bedenklich. Zwar scheint »eine tiefere […] Begründung als sie hier dem Staate zuteil wird, […] in der Tat nicht möglich zu sein«, dennoch gelange auf diese Weise »der alte Gegensatz zwischen der ›objektiven‹ Form des Staates und der ›subjektiven‹ Forderung der Freiheit in Hegels Lehre zu keiner endgültigen Versöhnung«.27 Bleibe dabei doch die Forderung der Freiheit ganz offensichtlich auf der Strecke, nicht zuletzt wegen der grundsätzlichen Absage Hegels an das Naturrecht und den Vertragsgedanken. Deshalb konnte und mußte der Verdacht aufkommen, seine Staatslehre »wolle […] eine Philosophie der politischen Reaktion sein«, eine begriffliche Rechtfertigung einer »bestimmten Form des preußischen Staates«. Doch, so gibt sich Cassirer – nicht nur – 1916 überzeugt, eine solche Deutung »verfehlt freilich« den »eigentlichen Sinn« und die »wesentliche Grundtendenz« der Weltgeschichts- und Staatsphilosophie Hegels, seien doch in dieser Wirklichkeit und empirisch-tatsächliches Dasein als Qualitäten grundsätzlich geschieden, weshalb Hegel von diesem Verdacht »billigerweise freigesprochen werden« müsse.28 Dieser Freispruch von reaktionären Ambitionen ändere aber nichts daran, daß das Hegelsche System mit inneren Widersprüchen behaftet ist und bleibt, die solche Fehlinterpretationen letztlich provozierten. Z. B. wenn es suggeriere, die Wahrheit der Totalität müsse am Ende als ein selbständiges Glied »heraustreten«, als die »absolute Form des Staates«, die somit das »Ziel des weltgeschichtlichen Prozesses« zu sein scheint, in der der vollkommene Begriff der Freiheit »erreicht ist«. In Hegels System werde »die schlichte Einsicht verdunkelt, daß das Medium, durch das diese Verwirklichung sich vollzieht, lediglich in der sittlichen [!] Arbeit liegt, die die Individuen zu vollziehen haben«, und nicht ein allgemeiner Weltgeist. Vermehr werde sogar »die Kraft , die dieser [sittlichen – C.M.] Arbeit innewohnt, […] abgestumpft, wenn ihr ein ›absolutes‹ Ergebnis vorgehalten wird, das der ›Weltgeist‹ als solcher in der Geschichte herauff ührt.«29 26 27 28 29

Ebd., 383. Ebd., 383 f. Ebd., 384. Ebd., 384 f.

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Die auch von Cassirer geteilte Einsicht, wonach »die Form des Staates die wahrhaft inhaltreiche Erfüllung des Freiheitsgedankens bedeutet«, zumindest, daß wirkliche Freiheit außerhalb rechtlicher und staatlicher Ordnungen nicht möglich ist, müsse aber auf dem Gedanken ruhen, daß beide Tendenzen »nirgends ein stabiles Gleichgewicht, sondern ein solches, das sich aus ihrem Gegensatz immer erst herstellen muß«, bilden.30 In diesem Sinne müsse die Idee des Staates »über sich selbst hinausfragen«, um zu ihrer höchsten Ausprägung zu gelangen, und »der Freiheitsgedanke« muß den »Staatsgedanken suchen […], ohne in ihm jemals aufzugehen«, d. h., er hat vielmehr seinen »eigenen und selbständigen Gehalt, mittels dessen er die Kritik der bestehenden Staatsform fortdauernd vollzieht und wach hält«, zu bewahren. Die dialektische Entwicklung dürfe folglich auf keinerlei Stufe ihr Ende finden.31 Die allgemeine Bedeutung der Hegelschen Staatsphilosophie sieht Cassirer 1916, d. h. in Mitten des Ersten Weltkrieges,32 darin, daß in ihr »eine neue Würdigung der konkreten politisch-geschichtlichen Lebensmächte« gewonnen wurde, die »im Verein mit Fichtes Staatslehre, das neue gedankliche Fundament für die Entwicklung der modernen, politisch-sozialen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts« ausbilde.33

3. Das Hegel-Bild in der Oxforder Vorlesung von 1934 Knapp 20 Jahre später, mit Beginn der erzwungenen Emigration aus einem Deutschland, in dem sich der totalitäre Staat zu etablieren beginnt, wird Cassirer 1933 zunächst für ein Jahr als Lecturer ans All Souls College der Londoner Universität eingeladen und hält dort im Hilary-Trimester 1934 eine Vorlesung mit dem Titel »The Moral Theory of Hegel«.34 In dieser – nachgelassenen – Vorlesung geht er ausführlich dem Zusammenhang von Sitte, Moral, Recht und Staat bei Hegel nach, und dies immer wieder in Abgrenzung gegen den kritischen Idealismus Kants, dem er sich in der Frage nach dem Staatsverständnis eng verbunden weiß. Im vorliegenden Beitrag interessieren lediglich die dem Staatsproblem gewidmeten Passagen der Vorlesung, die in Vielem an die 1916 formulierten Wertungen Hegels anEbd., 385. Ebd., 385. 32 Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Staatsbegriff des Deutschen Idealismus. Zu Cassirers Position in einer historischen Debatte (1914–1918)«, 189–204. 33 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 385 f. 34 E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegels Philosophie der Moral, des Staates und der Geschichte, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2013, 3–115. 30 31

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knüpfen bzw. mit ihnen identisch sind. Andererseits ist sich Cassirer 1934 stärker bewußt, daß in Deutschland eine konservative, antiliberale, machtstaatbezogene Rezeption der Hegelschen politischen Philosophie im Gange ist, gegen die er vielfach polemisiert.35 An Hegel, davon gibt sich Cassirer überzeugt, komme eine moderne Philosophie des Staates nicht vorbei. »In the century which has elapsed since the death of Hegel his system never has ceased to have a predominant influence upon the development of political ideas. Not only the pupils and adherents of Hegel but also his professed adversaries have more or less unconsciously succumbed to this influence.«36

Damit setzt Cassirer Rolle und Bedeutung der politischen Philosophie Hegels in der Vorlesung von 1934 im Grunde noch gewichtiger an als schon in den Arbeiten des Jahres 1916. So habe sich die Debatte um Hegel »in the last ten or twenty years«, die auf die Veröffentlichungen der frühen und nachgelassenen Schriften durch Wilhelm Dilthey, Hermann Nohls und Georg Lasson folgte, »sharpened more and more« und habe inzwischen ihre »most violent and vehement form« angenommen.37 In der Auseinandersetzung um »all the differences and oppositions which become manifest in our present social and political life, [um – C.M.] all the irreconcilable contradictions and conflicts which divide and separate it«,38

bezögen sich alle Teilnehmer, so Cassirers Beobachtung, auf Hegels Philosophie, egal, wie immer sie sich voneinander unterscheiden und wie sehr sie selbst einander bekämpfen. Cassirer hat hier vor allem den russischen Bolschewismus (dialektischer Marxismus) und den italienischen Faschismus (philosophische und politische Lehren Gentiles) im Auge.39 Eine Debatte um eine solche Interpretation fi ndet sich auch bei Autoren, die Cassirer rezipiert: H. Heller, Hegel und der nationale Machstaatgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, Leipzig u. Berlin, 2. Aufl. 1931; F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München u. Berlin 1924. 36 E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 60. 37 Ebd., 17. 38 Ebd., 17 f.; »In our days it is a palpable fact how all the different political systems on which the order of our social life depends and which compete with each other for the government of the world endeavour to go back to the thought of Hegel in order to fi nd their theoretical support and their theoretical legitimation.« – Ebd., 18. 39 «For there was no really important movement of political thought and of political 35

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»But precisely by this astounding influence of the Hegelian system and by its immense political and practical fertility it has become more and more ambiguous«, 40

was es wiederum den konträren geistigen und politischen Bewegungen ermögliche, an seine Staatslehre anzuknüpfen. Mit anderen Worten, Hegels politischer Philosophie sei es durch diese ihre permanente Inanspruchnahme zwar gelungen, ihre Macht und ihren Wert ganz in dessen Sinne »to prove […] in face of reality itself«, »to interfere with the actual life of men«, »to impress its stamp on that life« und »to give it a new form and a new shape«. 41 Dennoch seien im Kampf der politischen Parteien die ursprüngliche Gestalt und die ursprünglichen Tendenzen des Hegelschen Systems verloren gegangen, so daß sie heute mühsam rekonstruiert werden müssen. 42 »Such a reconstruction and interpretation« erlange aber auch für die sozialen Konflikte und politischen Kämpfe der Gegenwart selbst praktische Effizienz und praktische Bedeutung, da sie nicht zuletzt – auch – »to be fought out in the ideal sphere, in the sphere of thought«. 43 D. h., Cassirer ist 1934 davon überzeugt, daß das Hegelsche Systems »may claim the right to be considered as one of the most characteristic and most active powers which have formed the modern mind and which have given it a definite shape.«44 Erneut hält es Cassirer für geboten zu betonen, daß selbst der späte Hegel zu einer Zeit, »when his own political ideas had found their definite form – a form very much diverging from the ideals of the French revolution«, sein Urteil aus Jugendjahren, wonach sie »a new dawn of liberty and thought« verkörpere, nicht zurückgenommen habe. 45 In dem Zusammenhang nimmt er Hegel und dessen politische Philosophie – erneut – gegen den Vorwurf life which has not, in a certain point of its development, started from Hegel and which has not attempted to increase its strength by one of his fundamental ideas. In the present time Bolshevism and Fascism have likewise taken this turn. In Russia the political system of the so called dialectic marxism, in Italy the philosophical and political doctrines of Gentile may be quoted as testimonies of this evolution of thought.« – Ebd., 18 f. 40 Ebd., 19. 41 Ebd., 18. 42 «[…] it was the tragical fate of the Hegelian system that by the authority which it has gained in different and strictly opposed political camps its own significance has become obscure and ambiguous. What, in the sense and in the conviction of Hegel, was an undivided and really coherent whole was made in these later applications of his thought a mere aggregate; it was as it were dismembered into several inorganic parts.« – Ebd., 60. 43 Ebd., 19. 44 Ebd., 23 45 Ebd., 26 f.

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bzw. gegen die Vereinnahmung in Schutz, er ziele auf einen politischen Konservatismus ab. Vielmehr sei ein historisch und philologisch unzweifelhafter Einfluß der Vordenker der Französischen Revolution (Montesquieu, Rousseau) in seinen frühen politischen Theorien zu konstatieren. Selbst als einen Vertreter eines bloßen Traditionalismus oder Konventionalismus (»a mere traditionalism or conventionalism«) will Cassirer Hegel nicht verstanden wissen, vielmehr sei er »[i]n his life and his philosophy« dem im Eliseum gegebenen Versprechen treu geblieben, »›der freien Wahrheit nur zu leben[;] Frieden mit der Satzung, die Meinung und Empfindung regelt, nie nie einzugehen‹.«46 Und auch Hegels Wendung gegen die das 17. und 18. Jahrhundert beherrschende Idee des Naturrechtes wird erneut durch den Hinweis abgeschwächt oder gerechtfertigt, daß Hegel »never absolutely repudiated the idea itself«, vielmehr sei sie »a constant motive and impulse in the development of his mind and of his philosophy« geblieben, z. B., wenn er unter Bezug auf Sophokles’ Antigone den Unterschied »between the written law, the law of the State, and the unwritten law« betont. 47 Cassirer bringt also – erneut – ein gewisses Verständnis dafür auf, daß Hegel den Naturrechtlern abspricht, beide Rechtsarten zu einer wirklichen Synthese, »to their absolute union, to their material interdependence and penetration« gebracht zu haben. 48 Gegen die Kritik des abstrakten, wirklichkeitsleeren Charakters des Naturrechtes gibt er allerdings zu bedenken, daß die von Hegel dafür bemühte Hobbessche Philosophie mit ihrer Verteidigung der Rechte des Absolutismus gar nicht repräsentativ für die naturrechtliche Staatsauffassung stehe. 49 Die Naturrechtler seien vielmehr in der Regel »the most ardent champions of liberty« gewesen und hätten »constantly combatting the absolute omnipotence of the State and they carefully marked certain limits over which the power of the State and the power of society is not to be extended«.50

Cassirer spricht im Grunde seine eigene politische Überzeugung aus, wenn er erklärt:

Ebd., 28; »Also his later years have not denied that original idea of freedom and in his lectures about the philosophy of history he declares the history of the world to be the progress in the consciousness of freedom.« – Ebd., 56. 47 Ebd., 28 f. 48 Ebd., 29. 49 Ebd., 33 f. 50 Ebd., 33 f. 46

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»In this way natural right was the first to define and to circumscribe the original and inalienable rights of men: the freedom of conscience, the religious liberty, the right of personal security and so on.«51

Auf die Frage, worin denn nun »the universal tendency of Hegel’s philosophy of Right« (1. Aufl. 1820) und »its place in the modern history of political ideas« bestehe, d. h. auf die Frage, »to what general direction of political thought the Hegelian doctrine of the State appertains and what practical political purposes it serves«,52 nimmt sich Cassirer die häufig gegebene Antwort vor, sie – diese Lehre – erweise Hegel als »a professed enemy of all the so called liberal ideas« und »as an adherent and champion of political reaction« Preußens.53 Dieser Antwort versagt Cassirer ganz energisch seine Zustimmung: Hegel sei vielmehr als Philosoph des weltgeschichtlichen »progress in the conscience of freedom«,54 einen Fortschritt, welchen der Staat als seine Hauptaufgabe zu fördern habe, aufzufassen. Zudem würde »a theoretical legitimation and a philosophical apotheosis of the Prussian State« der philosophische Methode Hegels, der Methode der Dialektik, grundsätzlich widersprechen.55 Dieser Methode gemäß enthielten die Probleme des politischen Lebens eine deutliche revolutionäre Tendenz: »for there is no definite state of political affairs, there is no historical constitution which is really self-sufficient – which does not contain the germ of its negation and of its self-destruction.«56

Dieser Gesichtspunkt einer »revolutionären Tendenz« des dialektischen Prozesses »has been maintained and defended by Hegel from his earliest writings on«.57 Weiterhin wirft Cassirer an Hand der Tatsache, daß Hegel dem Staat »the absolute worth and the absolute right« zugesteht, diese jedoch nicht einer seiner einzelnen Gestalten, sondern nur der »totality of its appearances«,58 die auch für eine Kulturphilosophie wichtige Frage auf,

51 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., 34. Ebd., 50. Ebd., 50. Ebd., 51. Ebd., 51. Ebd., 52. Ebd., 52. Ebd., 53.

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»what sort of relation we have to assume between the State on the one hand and on the other the manifestations of spirit: Morality, Religion, Philosophy and so on. Are these manifestations on the s a m e level with the State, are they of a h i g h e r ideal rank and dignity, or are they, so to speak, incorporated in it and therefore subject to its laws and its own purposes?«59

Die Antwort auf diese Frage erschließe sich nicht auf den ersten Blick: zum Einen ist zu konstatieren, »undoubtedly there are many passages in the works of Hegel in which he has proclaimed the absolute authority of the State and in which he has celebrated his omnipotence in the most emphatic manner.«60

Zum Anderen ist dies aber nicht das letzte Wort der Hegelschen Philosophie: »The welfare of a state does depend on the maintenance and preservation of its inner form, not upon the growth of its external power.«61 Deshalb verwahrt sich Cassirer auch gegen Hermann Hellers Behauptung, »all the later theories of the so called ›Machtstaat‹, of Power as the essential aim of the state, are based on the principles of Hegelian philosophy and have their deepest intellectual roots in this philosophy«. 62

In Hegels System meine ›Macht‹ zudem etwas völlig anderes als bei den gegenwärtigen Verfechtern des ›Machtstaates‹, nämlich allein »the power of reason«!63 Außerdem habe Hegel bei dem Ausdruck ›Macht des Staates‹ nicht nur sein Verhältnis zu anderen Staaten (Krieg), sondern auch die innere Beziehung zu seinen eigenen Bürgern im Auge, wobei er die Macht versteht »as a means which is subordinated to the end of freedom«. 64 Das Individuum wiederum hat »in obeying the laws of the State« zu verstehen und anzuerkennen, »that these laws are not imposed by an alien power but that they Ebd., 53. Ebd., 54. 61 Ebd., 55. 62 Ebd., 56. 63 Ebd., 56; »The omnipotence of the State proclaimed and vindicated in the system of Hegel is therefore bound in the condition that the State is in itself an embodiment of reason and cannot deviate from it. In its true sense it is by no means a mere accumulation of physical, of material power; it is, on the contrary, as Hegel says, a spiritual power exerted over the mind and consciousness of his subjects.« – Ebd., 57. 64 Ebd., 58. 59

60

216

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are the expression of his own rational will.«65 Hegel suche durch eine solche Interdependenz das wahre sittliche Leben des Staates zu sichern. Der Staat habe bei Hegel auch keine unbeschränkte Macht über die Stufen des dialektischen Prozesses, an die er vielmehr selbst gebunden ist und die »more implicit realizations of the Idea« darstellen. 66 Deshalb sei »the superiority which the philosophy of Hegel claims for the state« auch »not an immediate, but a mediate power«. 67 Der Staat vollziehe folglich seine Herrschaft nicht anders als »in the name and for the sake of the real sovereign, of the absolute Idea«, er ist nicht selbst »the source of the highest power but it is its administrator and executor: it is, so to speak, a terrestrial God, the substitute of God on earth.«68 In der Tatsache, daß Hegel die Regeln der Sittlichkeit nicht auf den Staat selbst anwende, erblickt Cassirer allerdings doch ein echtes Problem. Durch das Freigeben des Staates »from all moral regards and moral obligations« sei Hegel zu »one of the most resolute champions of political Macchiavellism« (d. h. der Staatsräson) geworden, den er damit rehabilitiert habe. 69 Cassirer, der die Selbständigkeit und Eigenwürde des individuellen Willens gegenüber dem Staat als der sittlichen Substanz energisch verteidigt,70 hält die Hegelschen Argumente für die Unabhängigkeit bzw. Ungebundenheit des Staates von aller Ethik und Moral (Moralität) zudem nicht für stichhaltig. Während in Hegels System die Moralität nicht in die höchste, absolute Sphäre von Kunst, Religion und Philosophie gehört, fordert Cassirer demgegenüber gleichwertige Formen der Kultur ein und sucht bei Hegel nach Anzeichen für eine Gleichstellung der Moralität mit anderen Kulturformen, gilt ihm – Cassirer – letztlich doch auch des Politische, der Staat als Form der Kultur. Der Hegelsche Staat dürfe als die alleinige ethische Substanz nicht »be understood in the sense, that by its overwhelming power free subjectivity is destroyed«.71 Der moderne Staat stelle für diesen nämlich die Einheit von ethischer Substanz und Subjektivität durch Vermittlungen überhaupt erst her, denn in ihm muß das »the universal [be] allied to the full liberty of particularity and to the well being of the individuals«.72 Wahre Freiheit ist also nicht die Negation und das Gegenteil jeglicher Verpflichtung, sondern schließt diese als wesentliches Element ein. Hegels drei 65 66 67 68 69 70 71 72

Ebd., 58. Ebd., 61. Ebd., 61. Ebd., 61. Ebd., 62. Ebd., 80. Ebd., 70. Ebd., 72.

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Formen des absoluten Geistes, Kunst, Religion und Philosophie, bedürfen zu ihrer Verwirklichung des Staates, des politischen Lebens und gehen somit in die Formen des politischen und sozialen Lebens ein, ohne allerdings, darauf besteht Cassirer, ihre Unabhängigkeit, ihren eigenen Wert und ihre eigene Aufgabe zu verlieren, aufzugeben.73 Durch diese Lesart will er die Moralität als gleichberechtigte Kulturform neben die Formen des absoluten Geistes gestellt wissen.74 Die Frage, nach welchem Kriterium zwischen ›Wirklichkeit‹ und bloßer ›Existenz‹ eines Staates in der Geschichte unterschieden werden soll, werfe nur scheinbar ein Problem in Hegels Staatsphilosophie auf, 75 keineswegs jedoch führe sie auf das von Hegel abgewiesene Unterscheiden von ›Sein‹ und moralischem ›Sollen‹. Einen moralischen Maßstab lehnt Hegel bekanntlich ab. Aber der Anschein, es bliebe nur die innere und äußere Stärke, Macht des Staates, und damit die Legitimierung des unbeschränkten Rechtes einer ›Realpolitik‹, unberührt von allen ethischen Überlegungen,76 sei falsch. Denn in Wahrheit sei für Hegel der Staat niemals von jeglicher ethischen Verantwortung entbunden, wenn auch das Urteil nicht individuell, sondern allein von der Weltgeschichte gefällt wird. Der Staat ist nämlich nur solange im Recht, solange er der wahre und adäquate Ausdruck eines gewissen »›Volksgeistes‹« als einer historischen, vergänglichen Stufe des objektiven Geistes ist.77 Die Glorifi kation und Apotheose des Staates betreffe also niemals den Staat in seiner empirischen, historischen Gestalt, sondern immer nur seine Idee.78 Dazu gehöre eben auch der metaphysisch motivierte Unterschied von ›Wirklichkeit‹ und ›Existenz‹ bzw. ›fauler‹ Existenz bei Hegel.79 Der ›kritische‹ Philosoph kommt zu dem Schluß, daß ein solches philosophisches und politisches Denken letztlich auf einem spekulativen Glaubensbekenntnis (»a speculative creed«) ruhen müsse, das einen Sinn in der Weltgeschichte bzw. in Gottes Werk voraussetzt, der sich als ›List der Vernunft‹ verwirklicht. 80 Damit würden allerdings die empirischen Akteure letztlich zu bloßen Marionetten des Weltgeistes erklärt, 81 ein Vorwurf, von

73 74 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., 75. Ebd., 81. Ebd., 87 f. Ebd., 89 f. Ebd., 91. Ebd., 93. Ebd., 85 f. Ebd., 92. Ebd., 95.

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

dem Cassirer das Hegelsche System nicht freispricht, im Gegenteil. 82 Agiere doch bei Hegel in der Geschichte letztlich allein der Weltgeist, nicht aber der subjektive Wille und die subjektive Moralität der Individuen. Doch auch hier macht Cassirer wieder eine Einschränkung in seiner Kritik: es spreche einiges dafür, daß der Hegelsche Staat eben doch das Recht des Selbstbewußtseins als substantiell zuläßt, welches der Staat verteidigen müsse, selbst wenn es sich im Gegensatz zum Willen des Staates befindet. 83 Dies mache »the dialectic opposition between the power of the state and the free subjective self-consciousness« aus, was natürlich nicht ohne Konflikte bleibe, die aber ertragen werden müssen. 84 Der erwähnte metaphysische ›Glaubensgrundsatz‹ scheint jedenfalls aus Cassirers Sicht der wundeste Punkt der Hegelschen Staatslehre zu sein, denn hier setzte Schopenhauer seine Attacken gegen Hegel an. 85 Aus diesem Glaubensgrundsatz resultiere die Diskriminierung der Subjektivität, der ethischen Überzeugung, des individuellen Willens als der Macht des Wirklichen grundsätzlich untergeordnet bzw. unterzuordnen, ohne eigenes Recht, sich dem Lauf der Welt bzw. dem Staate zu widersetzen. 86 Diese Konsequenz bedroht, unterminiert eine der zentralsten Überzeugungen und Positionen Cassirers. Mit der sich daraus ergebenden Allmacht des Staates über alle Sphären des Lebens kann und will er sich nicht abfinden. 87 Diese Omnipotenz des Staates werde allerdings bei Hegel durch das Denkelement, wonach nichts Irdisches und nichts Geistiges ewig stillsteht, sondern der dialektischen Veränderung als höchstem Gesetz des Seins unterworfen ist, doch wieder ausbilanziert. 88 Die Hegel-Vorlesung von 1934 beginnt und endet mit dem Gedanken, daß Hegels Theorie des Staates bzw. der Sittlichkeit sich grundsätzlich dem Anspruch verpflichtet weiß, Vernunft (Idee) und Wirklichkeit (geschichtliche Faktizität) als Einheit (Identität) aufzufassen und zur Versöhnung zu bringen. 89 Da damit sowohl das Ethische/Sittliche als auch das Politische kein sich selbst genügendes Ganzes bilden, könne seine politische Lehre ausschließlich vom gesamten philosophischen System und dessen dialektischen Prozesses aus begriffen werden.90 In seiner heutigen Zersplitterung habe das System allerdings seinen »true 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Ebd., 107 f. Ebd., 109. Ebd., 109. Ebd., 95 f. Ebd., 105. Ebd., 105 f. Ebd., 106. Ebd., 8 f., 115. Ebd., 12 f.; »Hegel’s philosophy of the State contains in a certain sense the essence

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philosophical sense« verloren und diene vielen, die es in Anspruch nehmen, zur bloßen Selbsttäuschung.91

4. Das Hegel-Bild in The Myth of the State (1945/46) Das letzte bedeutsame Hegel-Bild Cassirers fi nden wir in seinem großen Werk The Myth of the State, erschienen 1946, rund ein Jahr nach seinem Tode, in den USA. In dem Jahrzehnt, das seit der Oxforder Vorlesung vergangen ist, war Cassirer, Emigrant in England, Schweden und – seit 1941 – den USA, Zeuge von einschneidenden historischen Ereignissen geworden wie dem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug von totalitären Regimes in nahezu ganz Europa und Asien, dem vom nationalsozialistischen Deutschland geführten Vernichtungskrieg gegen Staaten und Völker, der ebenfalls eine Zeit lang unaufhaltsam scheint, und schließlich, schon während des Abfassens der letzten Schrift, dem sich abzeichnenden Sieg der Antihitlerkoalition gegen das totalitäre Deutschland und seine Verbündeten. In dieser Situation kommt auch Cassirer nicht umhin, nach den geistigen Quellen und Wegbereitern der totalitären Staatslehren zu fragen, die die 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts beherrschen.92 Zudem Hegels Staatsphilosophie – oder das, was man dafür hielt bzw. ausgab – nicht nur von den konservativen Gegnern der parlamentarischen Demokratie, sondern auch von den Ideologen des totalitären Staates reklamiert und teilweise mißbraucht wurde.93 Dabei hat Cassirer gewiß auch die entsprechende Debatte vor Augen, die in den USA um diese Fragen geführt wird.94 Im Endeffekt zeichnet er in The Myth of the State ein kritischer scheinendes Hegelbild als noch in der Oxforder Vorlesung von 1934, aber dennoch eines, das a u c h in Kontinuität zu den früheren steht.

and extract of the whole system and it claims to be the decisive proof for its philosophical truth.« – Ebd., 50. 91 Ebd., 115. 92 Der Marxist Georg Lukács unternimmt bereits in den 30er Jahren einen solchen Versuch der Klärung, den er 1952/53 unter dem Titel Die Zerstörung der Vernunft veröffentlicht. – G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin und Weimar 1984. 93 Vgl. dazu u. a. W. R. Beyer, Hegelbilder. Kritik der Hegel-Deutungen (1964), 3. Aufl., Berlin 1970, 133 ff., 153 ff. 94 Explizit verweist er allerdings lediglich auf den deutsch-amerikanischen Historiker Hajo Holborn, den er in Yale kennen gelernt hat: H. Holborn, »The Science of History«, in: The Interpretation of History, With an Introduction ed. by J. R. Strayer, Princeton / New York 1943, 59–83.

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Erneut bildet die große Wirkung und der unübersehbare Einfluß von Hegels Staatsphilosophie den Hauptgrund, sich eingehend mit ihr zu befassen: »No other philosophical system has exerted such a strong and enduring influence upon political life as the metaphysics of Hegel.«95 Dessen politische Theorie gehöre bei weitem nicht bloß zur Welt der ›Ideen‹, sondern auch zur ›aktuellen‹ politischen Welt, und dies, nachdem das politische Denken vor bzw. bis zu Hegel nur einen »little, if any, effeect upon the struggles of political life« ausgeübt hatte. Cassirer unterscheidet, wie schon in der Oxforder Vorlesung, zwischen Hegels originärer Staatslehre, die immer noch der Auslegung bedürfe, bzw. deren zeitgenössischen Wirkung, und dem Hegelianismus im 20. Jahrhundert als einer ›Wiedergeburt‹ des Systems auf dem Gebiete des politischen Denkens, wobei es dieser wiedergeborene Hegelianismus ist, der nahezu alle modernen politischen Systeme bzw. Ideologien beeinflußt, sich in ihnen regelrecht verankert habe.96 Dieser Neuhegelianismus habe jedoch den Sinn der Hegelschen Staatsphilosophie verloren oder gar verfälscht, so daß diese Wiedergeburt und der neue große Einfluß letztlich ein Pyrrhussieg gewesen sei, mit dem der Hegelianismus »the penalty of its triumpf« zu bezahlen hatte.97 Mit diesen und ähnlichen Feststellungen bewegt sich Cassirer noch im Rahmen der Oxforder Vorlesung. Die wiedergeborene und wiedererstarkte politische Lehre Hegels habe »its unity and inner harmony«, die die originäre Hegelsche Rechtsphilosophie auszeichne, welche »a clear, homogeneous, consistent system« des politischen Denkens bilde, nicht zuletzt deshalb verloren, weil die sich auf sie berufenden verschiedenen Schulen und Parteien einzelne fundamentale Prinzipien der Lehre herausgreifen und sie so zu verstreuten Überbleibseln machen. Für ihn haben deshalb »Bolshevism, Fascism and National Socialism […] disintegrated and cut into pieces the Hegelian system«. Dabei tragen sie ihren theoretischen Kampf miteinander um »the remnants of the booty« insbesondere in den 40er Jahren als einen realen politischen Kampf aus, der »tremendous polical effects« zeitigt. Cassirer sieht hier Rechtsund Linkshegelianer einen politischen Kampf gegeneinander ausfechten, der »has become a mortal combat«.98 Doch selbst bei Akzeptanz dieser Unterscheidung von originärem und ›erbeutetem‹ Hegel bleibt die Frage zu klären, inwieweit Hegels politische Philosophie für die zeitgenössische 95

E. Cassirer, The Myth of the State, New Haven / London 1946, 248 (= ECW 25,

245). 96 97 98

Ebd., 248 (= ECW 25, 245). Ebd. Ebd., 248 f. (= ECW 25, 246) .

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Theorie des totalitären Staates und für die totalitäre politische Praxis sachlich mitverantwortlich zu machen ist. Der Versuch einer Einschätzung der politischen Philosophie Hegels hält nach Cassirer ein unikales methodisches Problem bereit, das aus der in ihr angewandten dialektischen Methode resultiere: Da es zu jeder These auch eine Antithese gebe, könne diese Philosophie nicht einfach von ihrem hauptsächlichen theoretischen Ergebnis her beurteilt werden.99 So habe sich Hegel selbst als einen »Philosopher of freedom« gesehen, seine Gegner nahmen und nehmen ihn aber als »the most dangerous enemy of all demokratic ideals« wahr, was beides seine Berechtigung habe. Dem entsprächen auch zwei Tendenzen der geistigen wie praktischen Wirkung: die konservative, das Bestehende kanonisierende und die revolutionäre, auf den Umsturz des Bestehenden gerichtete. Cassirer wiederum hält Hegel selbst weder für die eine noch für die andere sich auf ihn berufende Auslegung bzw. Tendenz im eigentlichen Sinne für verantwortlich, vielmehr würde er »surely have rejected most of the consequences drawn from the premises of his political theory«.100 Dennoch bestehe der Konservatismus, nunmehr gebraucht Cassirer selbst diesen Terminus, der politischen Philosophie Hegels in seiner Verteidigung der Macht der Tradition bzw. der Sitte als höchster ethischer Ordnung. Hegel ersetze mit der kollektiven Sitte ganz klar die sokratischplatonische »demand for individual responsibility«,101 der sich Cassirer in seiner eigenen politischen Philosophie grundsätzlich verpflichtet weiß. Gleichzeitig bilde dieser Konservatismus zwar einen Zug, aber eben nicht die ganze politische Philosophie Hegels. Als mindestens ebenso charakteristisch an ihr sei es, daß sie dem Anspruch seiner Philosophie der Geschichte, das Ganze der historischen Welt zu umfassen und alle Kulturen einzubeziehen, nicht gewachsen war, d. h., daß sie sich letztlich nur an Preußen und Deutschland orientierte, was den philosophischen Universalismus Hegels zu einem Provinzialismus habe werden lassen.102 Wenn Cassirer daraus den Schluß zieht, daß die Form von Hegels System seinem unmittelbaren Inhalt weit überlegen gewesen sei, dann wird damit der wohl bedeutendste Charakterzug der Hegelschen Philosophie benannt.103 Die Form von Hegels System bzw., was weitgehend damit übereinEbd., 249 f. (= ECW 25, 246 f.). Ebd., 251 (= ECW 25, 248). 101 Ebd. 102 Ebd., 252 f. (= ECW 25, 249 f.). 103 Auch in der marxistischen Hegelrezeption wurde vielfach das konservative System der revolutionären dialektischen Methode gegenüber gestellt, so bei Friedrich Engels. Oft werde erklärt, so Engels, daß mit der Hegelschen Philosophie die Erkenntnis der abso99

100

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stimme, die dialektische Methode in ihrem allgemeinen Charakter (These und Antithese) habe auch nach dem Zusammenbruch seiner Philosophie quasi autonom und unverankert weiter gewirkt, und dies in einem Sinne, der Hegel nicht genehm sein konnte: denn dieses Weiterwirken »contradicted and undermined some of his firmest and dearest political convictions«.104 System und dialektische Methode, für die nichts bleibt, wie es ist, und der auf die Kanonisierung des Bestehenden gerichtete Inhalt mußten notwendigerweise miteinander in Widerspruch geraten, und sie sind es auch. In dem Zusammenhang äußert Cassirer nunmehr die Meinung, der f r ü h e politische Denker Hegel (1802) habe sich mehr an der Dynamik von System und Methode orientiert, der a l t e an der Beibehaltung des Bestehenden. Das Bedeutsame an Hegels politischer Philosophie sieht er nicht in dessen persönlichem politischen Credo, sondern darin, daß sein System eine »new orientation of political thought«, eine »new mode of questioning« eingeführt habe, die sich als außerordentlich einflußreich erwies.105 Dem liege eine Geschichtsphilosophie zugrunde, die nicht das gutwillige Streben des Individuums goutiert, das letztlich immer ins Elend führe, sondern die auf die gegebene Ordnung der Dinge und das in ihr hinzunehmende Übel setzt, da sie ein notwendiges und in diesem Sinne vernünftiges Resultat der Geschichte sei.106 Verwirkliche sich doch die Idee, verkörpert im Staat, »in the actuality of man’s social life and of his political struggles« und nicht jenseits in der Zeitlosigkeit,107 was aber nur durch die berühmte Unterscheidung von Wirklichkeit und fauler Existenz (Faktizität) Sinn mache, weshalb es außerhalb und vor dem Staate für Hegel kein wirkliches historisches Leben gibt. Mit der unerhörten, nie zuvor erhobenen Behauptung, wir hätten »to see in the state the supreme and most perfect reality«, d. h. »the very incarnation of the ›spirit of the world‹«, trete Hegels politische Philosophie historisch als erste auf.108 Folgerichtig bekämpfe Hegel die Naturrechtstheorie und deren Vertragsgedanken, deute er die Moralität als rein subjektive luten Idee erreicht sei: »Damit wird aber der ganze dogmatische Inhalt des hegelschen Systems für die absolute Wahrheit erklärt, im Widerspruch mit seiner dialektischen, alles Dogmatische auflösenden Methode; damit wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen. Und was von der philosophischen Erkenntnis, gilt auch von der geschichtlichen Praxis.« – F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888), in: MEW, Bd. 21, Berlin 1973, 259–307, hier: 268 f. 104 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 253 (= ECW 25, 250) . 105 Ebd., 254 (= ECW 25, 251) . 106 Ebd., 257 f. (= ECW 25, 254 f.). 107 Ebd., 261 (= ECW 25, 257). 108 Ebd., 263 (= ECW 25, 260).

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Maxime, ohne Anspruch auf Objektivität. Die »true ethical order, the ethical substance« (Sittlichkeit) ist allein »expressed […] in the life of the state«,109 d. h. in einem Leben, das gekennzeichnet ist von Gegensätzen, Gewalt und Krieg als Triebkräften der Geschichte. »According to this revaluation there is no longer any moral obligation for the state«, allein »the duty to preserve itself«,110 weshalb er auch den Gedanken der Humanität als unpassend verwirft. Bei allen diesen Feststellungen und Wertungen, die sich so oder so ähnlich auch in der Oxforder Vorlesung von 1934 finden, fällt allerdings auf, daß Cassirer nunmehr auf Differenzierungen, Einschränkungen und das Hinweisen auf systemimmanente Gegenpositionen weitgehend verzichtet; die politische Philosophie Hegels verliert in dieser Darstellung Einiges an der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit, die er ihr früher zugestanden hatte. Mit der postulierten Unterordnung des Rechts unter die Macht, ausgesprochen bereits vom frühen Hegel, wenn er die ›Wahrheit‹ des Staates allein in dessen ›Macht‹ sucht, sieht Cassirer in The Myth of the State Hegel als den klaren Antipoden aller modernen liberalen Rechts- und Staatstheorie: »These words written in 1801, about 150 years ago, contain the clearest and most ruthless program of fascism that has ever been propounded by any political or philosophical writer.«111

Diese Feststellung hebt sich von den in der Oxforder Vorlesung getroffenen durch ihre Schroffheit und Direktheit ganz klar ab. Inwieweit trägt nun aber Hegels politische Philosophie deshalb unmittelbar oder mittelbar eine Verantwortung und Mitschuld an den modernen totalitären Staatstheorien? Hegel, dem Cassirer zufolge Macht bzw. Machtstreben als auf den egoistischen Leidenschaften der Menschen beruhend gelten, die er keineswegs abwertet, weshalb er »abolishes the common distinction between ›altruistic‹ and ›egoistic‹ acts«,112 führe den s a c r o e g o i s m o ein, der später »has played such a decisive and disastrous role in modern political life«.113 Gelten ihm doch die Individuen letztlich als bloße »marionettes […] of universal history«, als bloße »agents« der absoluten Idee, des Weltgeistes. Damit bezeichne Hegels politische Theorie »the turning point between two ages, 109 110 111 112 113

Ebd., 264 (= ECW 25, 261). Ebd., 265 (= ECW 25, 261). Ebd., 267 (= ECW 25, 264). Ebd., 269 (= ECW 25, 265). Ebd., 269 (= ECW 25, 266).

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two cultures, two ideologies« – dem 18. und dem 19. Jahrhundert.114 Auch hier finden wir keine der noch 1934 üblichen Einschränkungen und Abschwächungen der Aussagen bzw. Wertungen Cassirers mehr vor. Hegel, so heiß es anklagend weiter, wolle nicht mehr wie Kant gegen seine Zeit denken, sondern sie vielmehr in Gedanken erfassen. Rationalismus (politische Spekulation) und Historismus (aktuelles politisches Leben) bildeten bei ihm deshalb eine Einheit, was Cassirer gleichzeitig als Verdienst und als Schranke deutet. Was sich vor allem auf den Menschen und seine Gestaltungsmöglichkeiten hemmend auswirke, sei die Aussage Hegels, daß die Philosophie niemals »can transcend its present time«, sondern lediglich ihre Zeit in Gedanken zu fassen bzw. im Nachhinein zu erfassen vermag.115 Damit verliere diese eine wichtige Orientierungsfunktion im Rahmen einer humanistisch fundierten Kulturphilosophie,116 sie ist vielmehr zu einer »passive attitude toward man’s historical life« verurteilt, sie hat dieses ausschließlich hinzunehmen. Cassirer ist nicht in der Lage und nicht bereit, sich dieser passiven Haltung anzuschließen, eine humanistische Philosophie könne und müsse demgegenüber »think beyond and against their times«.117 Dennoch deutet er Hegel auch in The Myth of the State nicht einfach als einen politischen Reaktionär, nicht zuletzt wegen dessen andauernden Respektes für die Französische Revolution.118 Allerdings wirft er ihm vor, sich in der praktischen und aktuellen Politik mit alledem abgefunden zu haben, was »had proved its right by its power«.119 Aus der Tatsache, daß die Recht legitimierende Macht wechselhaft ist, dürfe aber keineswegs ein politischer Opportunismus Hegels abgeleitet werden, zumal er, wie schon mehrfach angesprochen, Wirklichkeit und ›faule‹ Existenz unterscheidet. Dennoch bietet, so das Resümee Cassirers, Hegels politische Philosophie den Individuen kaum Orientierung, da sich erst im Nachhinein – durch die Weltgeschichte als Weltgericht – Wahrheit und Rechtmäßigkeit herausstellen, und auch das nur auf Zeit. Noch komplizierter stelle sich diese Einschätzung für die unmittelbare Gegenwart, d. h. für die Jahre 1944/45, dar, sei es unter dem großen Einfluß von Hegels politischer Philosophie auf das nachfolgende Denken doch zu einer vollständigen Umkehrung seiner fundamentalsten Ansichten geEbd., 269 (= ECW25, 266). Ebd., 269 (= ECW 25, 266). 116 Siehe dazu E. Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 151 ff. 117 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 296 (= ECW 25, 290). 118 Ebd., 271 f. (= ECW 25, 268). 119 Ebd., 272 (= ECW 25, 269). 114 115

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kommen. Dies habe den Hegelianismus zu einem paradoxen Phänomen im modernen kulturellen Leben werden lassen, d. h. die paradoxe Dialektik seines Systems setzte sich letztlich auch an ihm selbst durch. Das von Hegel verfochtene rationale Prinzip verkehrte sich auf tragische Weise in sein Gegenteil und so entfesselte er »unconsciously […] the most irrational powers that have ever appeared in man’s social and political life. No other philosophical system has done so much for the preparation of fascism and imperialism as Hegel’s doctrine of the state«.120

Letztlich sei dies der Konsequenz des unerhörten Gedankens zuzuschreiben, daß Macht Recht setze, zumal das auch auf den jeweilig mächtigsten ›Volksgeist‹ ausgedehnt wird, der damit keine rechtlichen Rücksichten auf andere ›Volksgeister‹ mehr nehmen brauche. Auf den noch 1934 gegebenen Hinweis, daß bei Hegel Macht etwas anderes bedeutet als bei den Philosophen des ›Machstaates‹ und den Anhängern von ›Machtpolitik‹, verzichtet Cassirer an dieser Stelle, wenn auch nicht gänzlich im Buch. Dennoch setzt er hier Hegels Lehre und moderne Theorien vom totalitären Staat ganz offenkundig nicht gleich, indem er einige wichtige unterscheidende Punkten benennt. 1. Der Staat Hegels gehört, frei von subjektiver Moralität, in die Sphäre des objektiven Geistes, die allerdings nur ein Element in der Selbstverwirklichung der Idee als absoluter Idee bildet. Die anderen drei Hauptformen des absoluten Geistes – Kunst, Religion und Philosophie – dienen dem Staat keineswegs lediglich als Mittel für den eigenen [Staats-]Zweck, sie binden ihn folglich sogar,121 auch wenn sie keine abgesonderte Existenz außerhalb des Staates haben, weil der Mensch nur im Staat sein soziales Leben organisieren kann. »Nevertheless these forms of cultural life have an independent meaning and value. They cannot be brought under a foreign jurisdiction.«122 An diese Bindung bzw. Schranke, an die Existenz einer höheren Sphäre als die des Staates sehe und fühle sich jedoch der totalitäre Staat keineswegs gebunden. 2. Außerdem verwechsele Hegel im Unterschied zu den Autoren totalitärer Theorien niemals »this power with sheer physical force«, der Staat hat sich zudem nicht nur am »increase of material wealth and power« zu bewähren, sondern auch durch Dauerhaftigkeit und Festigkeit, was nur dann gewährleistet ist, wenn »the indwelling spirit […] of the nation« in Staats120 121 122

Ebd., 273 (= ECW 25, 270). Ebd., 274 (= ECW 25, 270). Ebd., 274 (= ECW 25, 270).

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verfassung und Staatswirklichkeit lebendig ist.123 Und dieser Geist sei in Hegels Staatsphilosophie nicht als Diener des »will of a political party or of an individual leader« denkbar. 3. Zudem passe das Prinzip der Gleichschaltung als einer »fundamental condition of the totalitarian state« überhaupt nicht in Hegels Staatsphilosophie. Wäre doch, wenn »it has to eliminate all other forms of social and cultural life and efface all distinctions«, im Staat keine »organic unity« und keine wirkliche »freedom« mehr möglich.124 4. Und schließlich ›idealisiert‹ und ›vergöttert‹ Hegel zwar den Staat, »that sort of idolization that is the charakteristic of our modern totalitarian systems«, sei ihm aber völlig fremd.125 In Bezug auf die sich mit Hegels Staatsphilosophie stellende Frage, inwieweit gewisse philosophische Positionen – scheinbar oder in der Tat – in die Weltanschauung der totalitären politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts eingehen, ihnen als Quelle oder Legitimation dienen, läßt sich Cassirers Haltung aus weiteren Bemerkungen recht gut erschließen, die sich in The Myth of the State auf die Romantik und ihre Hinwendung zur Mythologie beziehen. Diese Hinwendung, so Cassirer, habe geistesgeschichtlich »they way […] paved that could lead later to the rehabilitation and glorification of myth that we fi nd in modern politics.«126 Er setzt aber sofort hinzu, und das gilt m.E. im übertragenden Sinne auch für die politische Philosophie Hegels, daß es jedoch ein Fehler wäre und dem romantischen Geist nicht gerecht würde, wollte man ihn für diese spätere Entwicklung verantwortlich machen.127 Ganz offensichtlich unterscheidet Cassirer zwischen den subjektiven Intentionen der Denker und den objektiven Wirkungen ihrer Theorien. Außerdem läßt er auf dem Gebiet der Ideenentwicklung keine simple Kausalität gelten. Man braucht, wie z. B. Oswald Spengler, durchaus persönlich kein »adherent of the Nazi movement« zu sein, damit das eigene Werk, hier der Untergang des Abendlandes, »one of the pioneer works of National Socialism« werden kann,128 vielmehr reicht es, wenn das Werk entsprechende Ideen enthält, an die eine weltanschauliche oder politische Bewegung anknüpfen kann. Mit anderen Worten, Cassirer differenziert methodisch zwischen dem objektiven, nicht unbedingt beabsichtigten ›Anbahnen‹ bestimmter, tragischer Denktraditionen bzw. ihrem objektiven ›Gebraucht-Werden-Können‹ einerseits und der philosophischen, moralischen und politischen Ver123 124 125 126 127 128

Ebd., 275 (= ECW 25, 271 f.). Ebd., 275 f. (= ECW 25, 272). Ebd., 276 (= ECW 25, 272). Ebd., 183 (= ECW 25, 182). Ebd., 182 f. (= ECW 25, 181 f.). Ebd., 291 (= ECW 25, 286).

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antwortung für bestimmte reale politische und kulturelle Entwicklungen andererseits. Im Falle der Romantik spricht er von einer intendierten totalitären Ansicht der Kultur, nicht jener des Staates oder der Politik.129 Ähnliches klingt auch an, wenn er zur Rassentheorie Gobineaus feststellt, daß sie auf indirekte Weise, also unbeabsichtigt, sehr viel dazu beigetragen habe, »to prepare the ideology of the totalitarian state«, »the road to the later conceptions of the totalitarian state« abzustecken.130 Dennoch war »our modern idea of the totalitarian state […] entirely unfamiliar to Gobineau« und »if he had known it he would have vehemently protested against it.«131 Ebenso sollte Carlyle wegen seiner Theorie der Heldenverehrung, die ebenfalls objektiv der totalitären Ideologie den Weg bahnte, »never to be charged with being an advocate of contemporary National Socialisic ideas and ideals.«132 Denn das, was Carlyle »meant by ›heroism‹ or ›leadership‹ was by no means the same as what we find in our modern theories of fascism.«133 Mit anderen Worten, die Tatsache, daß Carlyles Theorie der Heldenverehrung und Gobineaus Rassentheorie »could be used later for a common [totalitarian and racial – C.M.] end«, rechtfertige nicht, was aber ganz offensichtlich weniger vorsichtige Autoren jener Jahre tun, »read into it these later political tendencies«.134

129 130 131 132 133 134

Ebd., 184 (= ECW 25, 182). Ebd., 232 (= ECW 25, 228). Ebd., 232 (= ECW 25, 228). Ebd., 222 (= ECW 25, 219 f.). Ebd., 216 (= ECW 25, 214). Ebd., 224 (= ECW 25, 221).

Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie

E  

rnst Cassirers Bezugnahmen auf die politische bzw. Staatsphilosophie Hegels durchziehen nahezu sein gesamtes Lebenswerk.1 Der vorliegende Beitrag stellt jedoch ausschließlich die in den Weltkriegsjahren 1915/16 formulierten Aussagen über die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie, genauer, für den philosophischen Staatsbegriff, zur Diskussion. Den nachstehenden Überlegungen sollen sechs einleitende Bemerkungen vorangestellt werden. E r s t e n s : Cassirer hat bekanntlich keine systematische politische Philosophie hinterlassen, wohl auch nicht angestrebt, selbst nicht im einzigen durchgehend dem Staatsproblem gewidmeten Werk The Myth of the State (1946), 2 wiewohl sich die verstreuten vielfältigen Äußerungen durchaus systematisieren lassen.3 Z w e i t e n s : Auch mit der sich seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts formierenden politischen Wissenschaft als akademischer Disziplin hat sich der Philosoph Cassirer nicht eingehend befaßt. 4 Dies mag mit seiner Überzeugung zusam-

Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Hegel-Bilder im Wandel. Zu Cassirers Verständnis der politischen Philosophie Hegels«, 205–227. 2 Siehe dazu F. Capeillères, »Cassirer penseur politique: The Myth of the State contre Der Mythus des 20. Jahrhunderts«, in: L’École de Marburg, Cahiers de Philosophie Politique et Juridique, No 26, Centre de Philosophie de l’Université de Caen, 1994, 175–204. 3 Zum Versuch einer Systematisierung siehe u. a. H. J. Sandkühler, »Keine Lehrstelle bei Cassirer: Recht und Politik«, in: H. J. Sandkühler und D. Pätzold (Hrsg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003, 297–308; vgl. im vorliegenden Band den Beitrag »Ernst Cassirers Philosophie der Politik. Rationalität, Unveräußerlichkeit natürlicher Rechte, Normativität«, 129– 159. 4 Einzelne Hinweise zu einer solchen Wissenschaft lassen sich zudem schwer in seine Wissenschaftsphilosophie einordnen, wie z. B. die 1945 formulierten, wonach er die europäische Geistes- und Wissenschaft sentwicklung noch »weit […] entfernt« von einer »rationalen Theorie der Politik« wähnt, und diese rationale Theorie die Bedingungen einer »positiven Wissenschaft« und sogar »exakten Wissenschaft« erfüllen soll, wodurch sie schwerlich eine auf dem Formbegriff fußende Kulturwissenschaft , sondern vielmehr eine den Gesetzesbegriff bemühende Naturwissenschaft sein würde, was die englischen Termini »positive science« und »exact science« ja auch nahelegen. (E. Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen des politischen Verhaltens [engl. 1946], Frankfurt a. Main 1988, 385, 386; ders., The Myth of the State, New Haven/London 1946, 294–295 [= ECW 25, 288–289]) Hier rächt sich in gewissem Sinne, daß Cassirer neben exakter, gesetzesbezogener Naturwissenschaft und ausdruckverstehender, formbezogener Kulturwissenschaft bzw. Geschichtsschreibung keine wie auch immer geartete Sozialwissenschaft kennt. 1

230

II. Politisches als Lebens- und Kulturform

menhängen, daß politische Probleme und Gegensätze sich so betrachten lassen, »daß sie rein als der Ausdruck und als die Auswirkung ideeller Gegensätze erscheinen«,5 die folglich ersatzweise vom Philosophen untersucht werden können. D r i t t e n s : Die Thematisierung des Politischen erfolgt bei Cassirer grundsätzlich eingebunden in seine philosophische Deutung der Kultur, und dies sowohl vor als auch nach seiner Hinwendung zum Begriff des Symbolischen bzw. des Symbolcharakters kulturell relevanter Begriffs- und Denkformen im Jahre 1917. 6 Darin sieht insbesondere die aktuelle Cassirerforschung ein ›marburgisches‹ Erbe.7 V i e r t e n s : Im Zentrum seiner rudimentären politischen Philosophie steht der philosophische Staatsbegriff, 8 nicht das politische Handeln, das erst spät, insbesondere in The Myth of the State (1946), ein zentrales Thema wird. Auch strebt Cassirer in seinen philosophischen Abhandlungen zum Staats- und Rechtsproblem – bis auf die eine oder andere Ausnahme, die aber auch eher geistesgeschichtlich argumentiert,9 – keine konkrete, auf eine bestimmte Verfassung bezogene staatsrechtliche Klärung der Beziehungen von Staat, Recht und Bürger an, obwohl er durchaus wichtige zeitgenössische staatsrechtliche Werke zur Kenntnis nimmt.10 Verfassungsfragen, die Rolle der politischen Institutionen und ihre Abgrenzung, Fragen des Staatsaufbaus etc. werden von Cas5

E. Cassirer, »Die Wandlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Idee der Demokratie« (ca. 1926), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J. M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 61. 6 Siehe dazu A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, (CF, Bd. 16), Hamburg 2016. 7 Siehe dazu P. Favuzzi, Cultura e Stato. Fonti e contesto del pensiero politico di Ernst Cassirer / Kultur und Staat – Quellen und Kontext des politischen Denkens Ernst Cassirers, Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, publiziert am 26.08.2013, urn:nbn:de:kobv:11-100212219. 8 Dies geht bereits aus den Titeln einiger Texte hervor: »Staatsbegriff« (1915), »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), alle in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O. 9 E. Cassirer, »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932 – 1935), Text und Anm. bearbeitet von R. Becker, Hamburg 2004, 203–228. 10 Cassirer ist vertraut mit wichtigen Werken der Autoren Johann Kaspar Bluntschli, Otto von Gierke, Friedrich Meinecke, Georg Jellinek, Karl Bergbohm, Roderich von Stinzing, Rudolph von Ihrering, Hermann Rehm (E. Cassirer, »Staatsbegriff« [1915], in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 231–243) oder auch mit den Werken der Autoren Erik Wolf, Gustav Adolf Salander, Josef Kohler, Charles Grove Haines, Erich Kaufmann, James Goldschmidt, Eberhardt Schmidt, Hans Reichel (E. Cassirer, »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« [1932], in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften [1932 – 1935], a. a. O., 203–228).

Die Bedeutung Hegels

231

sirer nicht diskutiert, die in Deutschland geführte staatsrechtliche Debatte zu diesen Themen wird von ihm nicht ersichtlich verfolgt bzw. äußerst selten und sparsam kommentiert.11 F ü n f t e n s : Cassirer sucht – u. a. in Anlehnung an Hermann Cohen – den für die Gegenwart relevanten philosophischen Staatsbegriff aus der Staatsphilosophie des Deutschen Idealismus (und auch der Deutschen Klassik) zu entbergen, wobei er sich vor allem auf Fichte und Hegel, aber auch auf Leibniz und Kant beruft . In dem Zusammenhang wird zudem immer wieder die dem Deutschen Idealismus vorhergehende Geschichte der philosophischen und historiographischen Thematisierung des Staates bemüht. Auffällig ist, und dieses Faktum steht in engem Zusammenhang mit der Orientierung an der Staatsphilosophie des Deutschen Idealismus, daß es Cassirer grundsätzlich um den N a t i o n a l staat geht, nicht um ein preußisches oder hannoversches Staatsverständnis. S e c h s t e n s : Obwohl Cassirer im Deutschen Idealismus letztlich – oder tendenziell – die Kantischen Positionen am höchsten schätzt, als dem modernen Philosophieren am nächsten stehend, ihm entscheidendere Perspektiven verleihend, spielt die politische und die Rechtsphilosophie Kants in seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Staatsbegriff bzw. mit Themen der politischen Philosophie offenbar stärker die Rolle eines historischen Durchgangsstadiums, während der philosophische Staatsgedanke vielmehr in den Lehren Fichtes und vor allem Hegels kulminiere. Damit öffnet sich Cassirer in der Staatsfrage der am Beginn des 20. Jahrhunderts auch von Neukantianern geförderten Hegelrenaissance bzw. Formierung eines Neuhegelianismus.12

1. Kants Staats- und Rechtsphilosophie als ein Durchgangsstadium In den Aufzeichnungen von umfangreichen Recherchen, die er 1915/16 zum Staatsbegriff vornimmt, ist Kant als dem »Umbildner der naturrechtlichen Auffassung« lediglich ein knapper Abschnitt gewidmet.13 Der auf ihnen fußende Vortrag »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916) würdigt an dem »Denker der Autonomie« die ethische Begründung der »grosse[n] Aufgabe des Staates«, die »in der E r z i e h u n g [des Einzelnen – C.M.] z u r Pe r s ö n l i c h k e i t« bestehe und »die nur innerhalb

11 12 13

238 f.

Siehe dazu im vorliegenden Beitrag Anm. 9. Siehe dazu im vorliegenden Beitrag Anm. 33 ff. E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O.,

232

II. Politisches als Lebens- und Kulturform

seiner und durch seine Vermittlung möglich ist«.14 Zudem wird Kants Abwendung von allen Träumen »eines staatlos-glücklichen Naturzustandes« gewürdigt und ihm, weil die »sittlich-geschichtliche Aufgabe« des Staates für die »Erziehung [der Menschen – C.M.] zur Selbstbestimmung« mit »äußerem Zwang« verbindend, dem der Einzelne sich zu unterwerfen hat, eine »heroische Staatsverfassung« zugeschrieben, »die den Zwang und das Leiden, das mit allem gesellschaft lich-staatlichen Dasein verknüpft ist, rückhaltlos anerkennt, die aber in diesem Leiden selbst die Bedingung und den Anreiz des immer erneuten und erhöhten Tuns erblickt.«15

Cassirer läßt durchblicken, daß er selbst keine ›heroische Staatsverfassung‹ vertritt, die von Kant formulierten Erziehungsaufgaben des Staates aber durchaus anerkennt. Es ist offensichtlich, daß Kants Rechts- und Staatslehre, die sich »nicht ohne inneren Widerstand […] der Gesamtheit des deutschen Geisteslebens ein[fügt]«,16 nicht den Höhepunkt der Staatsphilosophie des Deutschen Idealismus bildet. Cassirer sieht sich dem ›kritischen‹ Idealismus Kants in der Staatsfrage aber insofern verpflichtet, als hier die »allgemeine A u fg a b e alles staatlichen Daseins« als eine intelligible, nicht als eine tatsächlich »vollkommen und ungeschmälert« einzuholende, aufgefaßt werde.17 Im kurz nach dem Vortrag erscheinenden Werk Freiheit und Form (1916), dem die Recherchen in erster Linie zuarbeiteten, beschränkt sich das kurze Kantkapitel auf ethische Fragestellungen seiner Philosophie, während die Würdigung von »Kants Stellung zum Staatsproblem«, die eine »im geschichtlichen Sinne« sein soll,18 erst im einschlägigen sechsten Kapitel »Freiheitsidee und Staatsidee« erfolgt. Kant habe, heißt es hier, – im Gegensatz zu Lessing und Herder – den Staat aus der Sphäre eines natürlichen Geschicks in die des menschlichen Ringens, Kämpfens und Bildens, d. h. in die der Kultur verlegt, und dabei zum »inneren Gegensatz aller Kräfte« erhoben.19 Gewürdigt wird die E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ebd., 18. Ebd., 19; siehe dazu auch E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 340. 16 E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 19. 17 Ebd., 21. 18 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 337 ff. 19 Ebd., 340. 14 15

Die Bedeutung Hegels

233

Trennung von Moralität und Legalität und die Bestimmung letzterer (das »staatlich-rechtliche Leben«) als Vorstufe für erstere. Erlaube dies doch, den Staat als »notwendigen Durchgangspunkt« hin zur Moralität nicht mehr vom alten »Standpunkt der Glückseligkeit« aus zu kritisieren, da dieser nun als »strenge und notwendige [begriffliche – C.M.] Forderung« auftrete. 20 Noch ganz im Sinne des Naturrechts arbeite Kant statt mit historischen Fakten mit Ideen der Vernunft , die den Gesetzgeber binden sollen. Wenn sich der historisch reale Staat als »empirisch-phänomenales Gebilde«, wie Kant meint, einer »intelligiblen Aufgabe« anzunähern hat,21 was Cassirer nicht in Frage stellt, dann – so scheint es – besteht eben die Gefahr, daß die gesamte Staatsfrage ein rein philosophisches Problem ist und bleibt. Kants »Freiheitslehre«, so heißt es die geistigen Schranken des Königsbergers betonend, lasse die naturrechtlichen Ideen des 18. Jahrhunderts nicht hinter sich, gebe ihnen aber eine »neue spezifische Prägung […]: Staatsidee und Freiheitsidee sind wechselseitig aufeinander bezogen: denn die Heteronomie des Machtstaates selbst ist als ein Mittel verstanden und gewürdigt, um den Gedanken der Autonomie im empirisch-geschichtlichen Leben zum Siege zu verhelfen. Der Staat ist das Endziel der Geschichte, sofern er seine höchste Aufgabe in der fortschreitenden Verwirklichung der Freiheit erkennt.«22

Eine Kantauslegung Cassirers, die ein Stück weit hegelisch anmutet. Auch im nachfolgenden Werk Kants Leben und Lehre (1918) fallen die Aussagen zu dessen politischer und Rechtsphilosophie denkbar knapp aus. 23 Zudem spricht ihr Cassirer, wenn er »Kants Rechts- und Staatslehre« bescheinigt, »durchweg an den allgemeinen Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts« festzuhalten, Originalität und zukunft weisenden Charakter weitgehend ab.24 Kant komme über die »naturrechtliche Betrachtungsweise«, wie sie für die »Rechtsphilosophie der gesamten Aufk lärungs- und Revolutionszeit« typisch war, nicht hinaus, auch wenn er ihre Methode kritisch vorangebracht habe.25 Eine ebenso offensichtlich kritisch-wertende Bemerkung dürfte die sein, wonach Kant Ebd., 341. Ebd., 342. 22 Ebd., 343. 23 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 217, 357–361, 377–382, zur eigentlichen »Kantischen Staatsauffassung« äußert sich Cassirer lediglich auf den Seiten 382–385. 24 Ebd., 359; Cassirer wiederholt diesen Gedanken noch einmal auf S. 382 f. 25 Ebd., 384. 20 21

234

II. Politisches als Lebens- und Kulturform

»über die Rolle, die der Einzelne im Ganzen eines absolutistisch regierten Staatswesens zu spielen vermag«, »freilich bescheiden genug [dachte]. Hier hielt ihn jene Skepsis zurück, die ihn von früh an auf jede unmittelbar praktische Reformtätigkeit verzichten ließ.«26

Eine deutliche Aufwertung erfährt Kant allerdings in der 1934 in Oxford gehaltenen Vorlesung The Moral Theory of Hegel, die sich mit dem Zusammenhang von Moral und Politik (Staat) befaßt und in der Kant als Korrektiv für problematische Hegelsche Positionen aufgeboten wird.27 In der Vorlesung verweist Cassirer zunächst auf die synthetische Einheit der Vernunft bei Kant, gegenüber der unbedingten bei Hegel, weshalb Kant im Unterschied zu diesem empirische Welt und Vernunft klar entgegensetze und eben nicht in einer Identität gründen sieht.28 Die bei Kant auf eigenem ›Grund und Boden‹ stehende praktische Philosophie erlaube ihm, eine Vorzugstellung der Moralität gegenüber Staat und Recht zu behaupten, die Hegel bekanntlich attackiert und aufhebt, Cassirer aber für gerechtfertigt und notwendig hält.29 Die in der Zeit des Exils in Oxford (1934–35) und Yale (1941–1944) zur Philosophie Kants gehalten Vorlesungen und Vorträge enthalten dagegen keinerlei Ausführungen zu dessen politischer und Rechtsphilosophie.30 Im letzten zu Lebzeiten verfaßten Werk The Myth of the State (1946) findet sich wiederum kein Kapitel bzw. kein Abschnitt über die naturrechtlich geprägte Staatslehre Kants. Abgesehen von der spürbaren Zurückhaltung hinsichtlich der Bedeutung der Staatslehre Kants für die Gegenwart, insbesondere durch ihre Charakterisierung als ein bloßes Durchgangsstadium zur reifen politischen Philosophie des Deutschen Idealismus, werden in Cassirers frühen Arbeiten zum Staatsproblem nur wenige Gründe explizit genannt, weshalb er in den Jahren 1915/16 die Hegelsche Staatslehre für so bedeutsam hält, daß alle Überlegungen zur politischen Philosophie so grundsätzlich auf Hegel Bezug nehmen, eine Konstellation, die bis an Cassirers Lebensende anhält. Einer der Gründe mag in der Tatsache zu suchen sein, daß es Hegels – und Fichtes – Staatsphilosophie ist, nicht aber die Kants, die die geistigen und Ebd., 381. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Die Kant- und Hegelvorlesungen in der englischen und amerikanischen Emigration (1933–1935 / 1941–1944)«, 255–290. 28 E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegels Philosophie der Moral, des Staates und der Geschichte, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2013, 5 f., 9. 29 Ebd., 65. 30 E. Cassirer, Vorlesungen und Vorträge zu Kant, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 15, Hamburg 2016. 26 27

Die Bedeutung Hegels

235

praktischen Auseinandersetzungen der Gegenwart Cassirers nicht nur begleitet, sondern sogar als Teil von ihnen fungiert. Auf »die tiefe Wirkung«, die Hegels Staatsphilosophie »im politisch-geschichtlichen Leben entfaltet hat«, vergißt Cassirer nie hinzuweisen.31 Gleichzeitig dürfte die generelle ›Wiederentdeckung‹ Hegels zu Beginn des 20. Jahrhunderts, befeuert durch Wilhelm Diltheys Jugendgeschichte Hegels (1905) und Hermann Nohls Theologische Jugendschrift en Hegels (1907), 32 beides Werke, die Cassirer immer wieder heranzieht, Wirkung beim jungen Cassirer hinterlassen haben. Für den Neukantianer Wilhelm Windelband jedenfalls ist 1910 »die Erneuerung des Hegelianismus«, hervorgerufen durch den »Hunger nach Weltanschauung« in positivistischmaterialistischer Zeit, eine nicht zu verkennende Tatsache.33 Während Cassirer ihm wohl nicht unbesehen in der Deutung folgt, daß das neue Interesse an Hegel die Abwendung vom »schrankenlosen Individualismus« zum Ausdruck bringe, dürfte die Warnung Windelbands vor der Metaphysik Hegels, auch der der dialektischen Methode, und die Aufforderung, sich im Anschluß an Kant der wissenschaftlichen Begriffsarbeit zu widmen, und dies unter Einbeziehung der Momente bei Hegel, die zur »Lösung ihrer eigenen Aufgaben« beitragen,34 durchaus Gehör gefunden haben. Auch die Würdigung des geschichtlichen Verständnisses bei Hegel im Gegensatz zu dem im Historismus darf als ein Gedanke Windelbands gelten, 35 der ab 1915/16 so oder ähnlich auch bei Cassirer zu finden ist. Als sicher hat jedenfalls zu gelten, daß Hegels Philosophie insgesamt bei Cassirer eine große Wertschätzung erfährt.36

E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 23. 32 W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, Berlin 1905; H. Nohl (Hrsg.), Theologische Jugendschriften. Nach den Handschriften der K[öni]gl[ichen] Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907. 33 W. Windelband, »Die Erneuerung des Hegelianismus (Heidelberger Akademierede)« (1910), in: Präludien, Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, 2 Bde., (5. Aufl. 1914), 6. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1919, 276 ff. 34 Ebd., 279. 35 Ebd., 283 f. 36 E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000, 4. Kapitel: »Hegel«, 274–363; siehe dazu auch M. Wunsch, »Phänomenologie des Symbolischen? Die Hegelrezeption Ernst Cassirers«, in: Th . Wyrwich (Hrsg.), Hegel in der neueren Philosophie (Hegel-Studien, Hrsg. von W. Jaeschke und L. Siep, Beiheft 55), Hamburg 2012, 113–140. 31

236

II. Politisches als Lebens- und Kulturform

2. Die ›Aktualität‹ der Staatsphilosophie Hegels Wie in unserer f ü n f t e n und s e c h s t e n Bemerkung bereits angedeutet, sind es weder die in der akademischen Staats- und Rechtsphilosophie Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts diskutierten Fragen noch die in öffentlicher Auseinandersetzung debattierten Probleme, aus denen Cassirer 1916 eine »Fülle neuer Anregungen« und »tiefer Gedanken« zum »Problem des Staates« sprießen sieht, sondern diese entspringen vielmehr einer gezielten und interpretativ orientierten Relektüre der Staatslehren des Deutschen Idealismus: «Wie Homer und Hesoid den Griechen ihre Götter gegeben haben, so haben die P h i l o s o p h e n dem deutschen Volke seine Staatsidee gegeben. Aus dem Idealismus wächst es heraus […]«37

Zu verstehen ist diese Aussage vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, daß das deutsche Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht in einem Nationalstaat vereint lebt, die Philosophen folglich gezwungen sind, diesen in der Idee vorweg zu nehmen. Die Relektüre richtet sich insbesondere auf die sich ergänzenden Staatslehren Fichtes und Hegels, denen wir diese »Fülle neuer Anregungen« und »tiefer Gedanken« verdanken, da sie die Staatslehre erst »in die Philosophie aufgenommen« und sie in den »eigentlichen Mittelpunkt ihrer Systematik« gestellt hätten. 38 Die »großartige Perspektive«, die Hegel seinerzeit dem – philosophischen – Staatsbegriff eröffnet habe, konnte, so läßt sich Cassirers Argumentation interpretieren, ihre eigentliche – oder aktuelle – Wirkung in der philosophischen und politischen Diskussion allerdings erst entfalten, nachdem »die nüchterne philosophische Kritik«, und dies meint offensichtlich nicht allein die aus dem Neukantianismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgegangene spezifische ›Kritik‹, aber natürlich auch und vielleicht in erster Linie, sich nicht mehr vom »Glanz« dieser Lehre blenden ließ, sondern erfolgreich »die Nachprüfung ihrer theoretischen Grundlagen« zu leisten und damit auch ihre philosophische »Grenze« freizulegen begann.39 Für Cassirer selbst heißt dies, und damit ist ein sich durch seine lebenslange Berufung auf Hegel durchziehendes Motiv freigelegt, die metaphysischen Grundlagen zu kritisieren und 37

E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O.,

232. 38 39

E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ebd., 21. Ebd. 23.

Die Bedeutung Hegels

237

zurückzuweisen, wohl wissend, daß aus ihnen aber auch »ein wesentlicher Teil der Kraft« der Hegelschen Staatslehre resultiert. Wen er mit der ›nüchternen philosophischen Kritik‹ im Einzelnen meint, wird zwar nicht völlig deutlich, im Zusammenhang mit Hegels Staatslehre werden in den frühen Aufzeichnungen aber u. a. Friedrich Meinecke, Rudolf Haym, Hermann Nohl, Wilhelm Dilthey, Adolf und Georg Lasson, Max Lenz und Gustav Falter erwähnt. 40

a. Die eigentümliche Staatsidee des Deutschen Idealismus Bevor wir versuchen zu erkunden, worin genau Cassirer 1916 in der Staatslehre Hegels konkrete Anknüpfungspunkte für eine moderne (National-) Staatstheorie in Deutschland sieht, sollen zunächst einige allgemeine Annahmen und Überlegungen zum Staatsbegriff Beachtung erfahren. Bereits im Erstlingswerk Leibniz‘ System (1902) hatte Cassirer hervorgehoben, daß der Deutschen Idealismus seine Staatstheorie auf die »Ethik des kategorischen Imperativs« gründe, speziell gefaßt in der Überzeugung, wonach »die Rechte des freien Vernunft wesens […] unveräußerlich [sind]« und »jede [empirische] Abhängigkeit und […] Bindung« nur dann ›Geltung‹ beanspruchen kann, wenn sie jedem »Individuum gleiches und ursprüngliches Bürgerrecht« zugesteht. 41 Die 1915/16 aufgeworfene Fragestellung hinsichtlich des (National-) Staates geht bei Cassirer, wie schon angeklungen ist, aus dem Versuch hervor, »das Freiheitsproblem mit dem Staatsproblem zusammenfassen«, »es in seiner p o l i t i s c h e n Bedeutung [zu] nehmen«, drohe doch der Freiheitsgedanke, der ihm als ethisches und politisches Grundprinzip gilt, »in

E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ebd., 237 f., 242 f.; siehe dazu auch: F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 3., durchges. Aufl., München und Berlin 1915; R. Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie, Berlin 1857; A. Lasson, System der Rechtsphilosophie, Berlin und Leipzig 1882; G. Lasson, Einleitung zu Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, in: Sämtliche Werke (Lasson), Bd. 7, Leipzig 1913; ders., Einleitung zu Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie der Rechts, Mit den von Gans redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesungen neu hrsg. von G. Lasson, Leipzig 1911; M. Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 5 Bde., Bd. 2. 1. Hälfte: Ministerium Altenstein, Halle 1910; G. Falter, Staatsideale unserer Klassiker, Leipzig 1911. 41 E. Cassirer, Leibniz‘ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998, 410 f. 40

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

den politischen Kämpfen […] jede bestimmte Bedeutung zu verlieren«. 42 Obwohl die so formulierte Fragestellung die Hinwendung zu empirischpraktischen Analysen zu eröff nen scheint, interessiert den idealistischen Philosophen Cassirer jedoch nicht, »wie im Staat, als F a k t i s c h e m , die Forderung der Freiheit sich durchsetzt«, sondern allein, »wie die Staatsi d e e sich gestaltet, wie sie als Idee selbst w i r d , zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein gelangt, indem sie den Gedanken der Freiheit in sich aufnimmt.«43

Mit Worten, die auch den Untertitel des Werkes Freiheit und Form erklären, heißt es weiter: »Beide Momente [d. h. Freiheit u n d Staat – C.M.] verfolgen wir hier nur, insofern sie in der deutschen Geistesgeschichte ihre Erscheinung finden.«44 Als Begründung für dieses Herangehen scheint die auf den Deutschen Idealismus Bezug nehmende These zu dienen, wonach die »Eigenart der Entwicklung der Staatsidee bei den Deutschen« darin zu suchen sei, daß »hier die Idee das Frühere, das a priori [ist]«, bzw. daß »die Idee selbst […] erst den Staat als G e b i l d e [schafft]«. 45 Damit erweisen sich auch scheinbar an der politischen Realität orientierte Aussagen wie die, daß sich die »Freiheit des Individuums […] gegen den Staat zu wehren [hat]«, 46 als letztlich nur auf den Prozeß des Werdens des Selbstbewußtseins der Staatsidee gerichtet. Dieser Prozeß vollzieht sich – für Cassirer – in erster Linie in der Ethik und in der Staatsphilosophie, weniger in den politischen Kämpfen »um die Freiheit«, die er durchaus als »Kämpfe um die Herrschaft« versteht. 47 Wenn Cassirer die Freiheitsidee als geistiges »Correktiv der Staatsidee«, als geistige »Cautelen gegen die Omnipotenz des Staates« verstanden wissen will, aus dem bzw. aus denen sowohl »r e c h t l i c h e Einschränkungen« für den »politischrechtlichen Kampf selbst« als ebenfalls » e t h i s c h e Einschränkungen« resultieren, gemäß denen »auch die Staatsbildung« an »Grundrechte sittlicher Art« »gebunden bleibt«, 48 dann wird nicht wirklich klar, wie er sich die Wirkung der philosophischen Staatsidee, für die diese Bindungen zu42

E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O.,

231. Ebd., 231. Ebd., 232. 45 Ebd., 232; Folgerichtig werden die Rechercheergebnisse nach »Momenten der Entwicklung des Staatsbewusstseins« gegliedert, ebd., 233. 46 Ebd., 231. 47 Ebd., 231. 48 Ebd., 232. 43

44

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nächst einmal gelten, auf das Leben und Wirken des faktischen Staates vorstellt. Dabei gibt sich Cassirer durchaus der »ganzen Kluft zwischen Idee und Realität, zwischen Forderung und Erfüllung, zwischen dem deutschen Gedanken und der deutschen Wirklichkeit« bewußt, soweit sie, die Kluft , sich insbesondere »in der Entwicklung des S t a a t s b e g r i f f s vor uns dar[stellt]«. 49 Doch meint dies nach meinem Dafürhalten weniger das Zurückbleiben der faktischen Staatsordnung hinter bestimmten ethischen und philosophisch-staatsrechtlichen Forderungen, sondern hat – mit Blick auf das beginnende 19. Jahrhundert – in erster Linie das faktische Fehlen des Nationalstaates der Deutschen im Auge.50 Genau in diesem Sinne lebten die Deutschen zu dieser Zeit nicht in einem »glücklichen politischen Gemeinwesen«, in dem sich politische Theorie und Praxis insofern decken, als hier die Staatstheorie sich an einem faktischen [National-]Staat und seiner Reformierung abarbeiten würde. Die Frage, inwieweit die diversen deutschen [Teil-]Staaten moderne bürgerliche Staatsgebilde sind, inwieweit sie den Forderungen der Aufk lärungstheorien genügen, stellt sich Cassirer offenbar nur in zweiter oder dritter Linie. Die Deutschen finden ihren Nationalstaat nicht faktisch vor, sondern haben ihn aus der Idee eines Nationalstaates heraus erst zu erschaffen, zur »physischen Verkörperung« zu bringen.51 Diese Idee wiederum werde im Deutschen Idealismus als Idee eines Erziehungsinstrumentes zur Freiheit der Einzelnen ausgebildet, hinter der, so scheint es, die Herrschaftsidee nahezu völlig zurücktritt. Die spezifisch idealistische ›deutsche Staatsauffassung‹ (Leibniz, Wolff, Kant, Fichte) sehe deshalb den Staat nicht nur als eine »eine physische Realität«, sondern auch – oder vor allem – als »einen eigentümlichen g e i s t i g e n We r t«.52 Interessant ist die Unterscheidung zweier Phasen des Zusammenspiels von Freiheits- und Staatsidee, die Cassirer zwischen der frühen Phase, in der »die Freiheitsidee als Correktiv der Staatsidee« wirkt, und der späteren Phase, in der die »Staatsidee als Moment und als E r f ü l l u n g der Freiheitsidee« fungiert,53 vornimmt, auch wenn der vorsichtige Cassirer sich nicht darauf einläßt, explizit zum Ausdruck zu bringen, in welcher der beiden Phasen er den deutschen Nationalstaat von 1915/16 sieht. Es scheint aber klar zu sein, daß die erste Phase die Naturrechtslehren meint, die zweite E Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ebd., 5. »Die Einheit von Staat und Nation war hier seit den Kämpfen der Reformation unwiederbringlich dahin«. – Ebd., 9. 51 Ebd., 6. 52 Ebd., 10. 53 E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ebd., 232. 49

50

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offensichtlich die Staatslehre Hegels und des Marburger Idealismus. Außerdem legt sich Cassirer bereits in seinen Rechercheaufzeichnungen darauf fest, daß die aus dem Deutschen Idealismus hervorgehende Staatsidee keine Idee eines ›Machtstaates‹ ist.54 All das bisher Gesagte kommt in der verdichteten Fassung seiner Überlegungen zum Staat im 6. Kapitel von Freiheit und Form (1916) noch einmal zum Ausdruck. Auch hier wird die Staatsfrage in philosophiegeschichtlicher bzw. geistesgeschichtlicher Manier als Frage nach der Entwicklung der »Freiheitsidee« und der »Staatsidee«, als der Idee einer Staatsform, die als Aufgabe in die Zukunft hinein verstanden wird, und ihrer Wechselbeziehung aufgeworfen, die auf der deutschen historischen Besonderheit – Idee des Nationalstaates statt faktischem Staat – fußt. Bei der Darstellung von Bestimmung und Begründung des Staates innerhalb der »Entwicklung des deutschen Geisteslebens« bilde die Freiheitsidee »die entscheidende Vermittlung«, nach und nach trete eine »bestimmtere Korrelation von Freiheitsidee und Staatsidee« hervor, bei der sich beide wechselseitig begrenzen und bestreiten.55 Der Deutsche Idealismus habe beide Ideen »in eine wechselseitige Beziehung« gebracht, was Cassirer diesem als bleibendes Verdienst anrechnet,56 auch wenn ihm keine abschließende, defi nitive Lösung gelungen ist.

b. Hegels Beitrag zur Staatsidee: Größe und Grenze In der historischen »Entwicklung des [deutschen – C.M.] Staatsbewußtseins«, die allein die politische Philosophie zu verfolgen hat, habe Hegel sehr früh das »n a t i o n a l e [Moment]« gemeinsam mit dem »h i s t o r i s c h e n« thematisiert,57 ebenso das »politische« mit dem »historischen«.58 Bereits in seinen Rechercheaufzeichnungen notiert Cassirer, daß Hegel die absolute Sittlichkeit (Vernünftigkeit) als das Allgemeine mit dem Volk und dem Staat bzw. Staatswillen identifiziere und ihr die Moralität als die »Sittlichkeit des Einzelnen« unterordne,59 eine Entscheidung, die Cassirer, wie bereits angedeutet, mit Blick auf die Vorzugsstellung der Moralität bei Kant nicht teilt

54 55 56 57

Ebd., 232. E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 327. Ebd., 327. E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O.,

237. 58 59

Ebd., 242. Ebd., 237 f.

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und folglich abweist. 60 Außerdem fasse Hegel die Antike als erster politisch, fasse in ihr die »Substanz des Staates«, den »Staat als Verwirklichung der Freiheit«, 61 deute den »Staat als Freiheit in ihrer konkreten Gestaltung«. 62 Die Überlegung, daß das Staatsbewußtsein zu sich selbst, d. h. zur Idee der Versöhnung von Freiheits- und Staatsidee (als Formidee), kommen müsse, scheint Cassirer in Hegels Forderung wiederzufi nden, der Staat als Substanz (»Notwendiges, Ungewolltes«) müsse zum Subjekt (»echte Verwirklichung unseres Selbst«) werden, was unsere Selbstbildung bedeutet. 63 Den Fortschritt in der Staatsfrage gegenüber Kant sieht Cassirer bei Hegel – und Fichte –, d. h. bei den Vertretern des ›metaphysischen‹ Idealismus, u. a. darin, daß hier das Staatsproblem erstmals »seinem ganzen Umfang nach in die Philosophie aufgenommen und in den eigentlichen Mittelpunkt ihrer Systematik gestellt [wird].«64 Als Philosoph der Geschichte gewinne Hegel der Staatstheorie – im Gegensatz zum Vernunft kritiker Kant – einen »fast unabsehbaren Reichtum neuen Wirklichkeitsstoffes und neuer Wirklichkeitsinteressen«, wenn auch in der Sprache der Metaphysik. 65 Im Vergleich zur Staatslehre Fichtes, bei der »alle theoretische wie praktische Vernunftbethätigung auf den Staat, als auf das Organ und die objektive Form aller Gemeinschaft der Individuen bezogen [ist]«, 66 gehe die Staatslehre Hegels »abermals um einen Schritt weiter« und eröffnet eine »grossartige Perspektive«: an Stelle der Beziehung ist nun »die Identität getreten: der Staat ist die zur Objektivität, zur Wirklichkeit gewordene Vernunft selbst.«67 Alle besonderen Richtungen des geistigen Lebens (Religion, Kunst, Philosophie) finden, als »Vereinigung des Subjektiven und Objektiven«, »erst im Staate ihren vollständigen Ausdruck«, in dem subjektiver und objektiver Wille grundsätzlich ausgesöhnt sind. 68 An dieser Lösung Hegels wird der spätere Kulturphilosoph Cassirer Kritik üben, allerdings eine vorsichtige, da bei ihr die »Art der Beziehung […] zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Manifestationen des Geistes auf der anderen« gar nicht so eindeutig zu bestimmen sei. 69 Die metaphy60 61

Siehe dazu im vorliegenden Beitrag Anm. 29. E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O.,

242. Ebd., 243. Ebd., 243. 64 E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ebd., 21. 65 Ebd., 21. 66 Ebd., 22. 67 Ebd., 22. 68 Ebd., 23. 69 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Hegel-Bilder im Wandel. Zu Cassirers Verständnis der politischen Philosophie Hegels«, 208 f.; siehe dazu außerdem: 62 63

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sischen Grundlagen dieser Staatstheorie, die Cassirer kritisch wertet, ohne ihnen – im Vortrag von 1916 – weiter nachzugehen, sieht er, ganz im Sinne Cohens,70 auch darin, daß ihnen gemäß Hegel Kants ›kritisch-idealistische‹ »Projektion auf die Zukunft, diese Begründung des Staatsbegriffs im Sollen [d. h. in der Idee], nicht im Sein,« als kraftlos von sich weist. Hegels Versuch, »den Dualismus [Kants], die Entzweiung zwischen Idee und Wirklichkeit aufzuheben«, berge nämlich die Gefahr, daß »die Form seines Staatsbegriffs […] mit der Form eines bestimmten, historisch-bedingten und zufälligen Staatsgebildes«

verschmelze, wodurch die »reine Idee […] die Kraft der K r i t i k [verliert], mit der sie allem zeitlichen Dasein, allem bloss ›Bestehenden‹ gegenübertritt, mit der sie immer von neuem die Umformung dieses Bestehenden im Hinblick auf das unendlichferne Ziel verlangt.«71

Hierzu ist Folgendes anzumerken: Es ist zum Einen genau diese ›Kraft der Kritik‹ am bestehenden deutschen Staat, die ich bei Cassirer – im Gegensatz zu Cohen, wie im IV. Abschnitt des vorliegenden Beitrages entwickelt werden wird – vermisse. Außerdem wird Cassirer diesen Verwurf in späteren Auslegungen der Hegelschen Staatslehre u. a. mit dem Verweis auf die ›faule Existenz‹ eines Staates, die keine vernünftige Wirklichkeit bedeute, abschwächen bzw. entkräften. Hegels Dialektik von Vernünftigkeit und Wirklichkeit wird aber auch 1915/16 nicht wirklich in Frage gestellt,72 handle es sich hier doch in erster Linie um mögliche ›Mißverständnisse‹ der Staatsphilosophie Hegels, nicht um ein wirkliches Identifi zieren des Staatsbegriffs mit dem konkret-historischen preußischen Staat, wie Hegel gelegentlich vorgeworfen wurde.73 E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 53. 70 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 1904, 314. 71 E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 24 f. 72 E. Cassirer, »Staatsbegriff« (1915), in: ebd., 242. 73 »Seine politische Philosophie ist in keinem Punkte Philosophie der R e a k t i o n , die den Staat auf einem bestimmten Punkt seiner Verfassung und Entwicklung festhalten will; aber man begreift aus der Eigenart der Hegelschen Begründung und Darstellung, daß sie, von Freunden und Gegnern, als solche missverstanden werden konnte.« – E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ebd., 25.

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Dennoch gelange der »reiche und tiefe Gehalt« von Hegels Staatslehre – wie auch der Fichtes – wegen »der Besonderheit der metaphysischen Begriffsmittel und der metaphysischen Systemform nicht zu reiner und vollständiger Entfaltung«, ohne aber deshalb verloren zu gehen. Ganz im Geiste des Marburger Neukantianismus erklärt Cassirer, daß dieser ›Gehalt‹ dank einer »kritischen Selbstbesinnung des Idealismus« sich doch noch vollständig entfalten lasse. Diese Selbstbesinnung müsse in Form einer ›Rückkehr‹ auf die transzendentale oder kritische Methode vollzogen werden, so wie Cohen vom »Inhalt und System der Kantischen Philosophie auf die Einheit ihres Prinzips«, auf die Grundlagen, die Kant gelegt habe, zurückfand.74 Cassirer hält noch 1916, d. h. gut 40 Jahre nach der vollzogenen ›Reichseinigung‹ und der faktischen Schaff ung des deutschen Nationalstaates, an der zeit- und situationsbedingt geborenen Überzeugung Schillers fest, daß »die Kraft des deutschen Staates [als einer geistigen Größe – C.M.] in der Kraft der deutschen Kultur« zu suchen sei, was »auch für das Staatsideal unserer eigenen Gegenwart« zu gelten habe, das folglich auf dieser Grundlage aufbauen müsse.75 Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, ist die, ob Cassirer damit nicht grundsätzlich Wesen, Funktion und Realität des deutschen Nationalstaates – im 20. Jahrhundert – verfehlt, verfehlen muß? Und dies aus zwei Gründen: zum E i n e n , weil eine solche Staatsauffassung zwar »die Wirkung [des Staatsideals – C.M.] auf die reale Welt und die volle Darstellung in dieser realen Welt« fordert, aber dabei »die tiefste und eigentlich dauernde Macht, die ein geschichtliches Dasein ausübt, in den g e i s t i g e n K r ä f t e n gegründet [sieht], aus denen es hervorgeht«.76 Und zum A n d e r e n , weil sich diese Staatsansicht überhaupt nicht für die tatsächliche Staatsverfassung, die Institutionen des Staates, den Staat als »politische Herrschaftsform«,77 die Art des Funktionierens des Verwaltungsapparates, seine Gesetze und Verordnungen, den Typus seiner Politiker und Verwaltungsbeamten etc. interessiert, mehr noch: glaubt, sich nicht interessieren zu müssen. Dies dürfte nicht zuletzt mit der – bereits angeführten – »folgenschweren Voraussetzung« zu tun haben, die Cassirer für sich in Anspruch nimmt, wie er anläßlich eines Vortrages in der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erklärt: »die Voraussetzung, daß politische Probleme und politische Gegensätze sich so betrachten und behandeln lassen, daß sie rein als der Ebd., 25. Das vollständige Zitat und seine Kommentierung fi nden sich im III. Abschnitt des vorliegenden Beitrages, vgl. Anm. 97. 75 Ebd., 27. 76 Ebd., 27. 77 E. Cassirer, »Die Wandlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Idee der Demokratie«, in: ebd., 61. 74

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Ausdruck und als die Auswirkung i d e e l l e r Gegensätze erscheinen.«78 Damit besteht im Grunde für die politische Philosophie und ihre Geschichte kein Anlaß, sich in die Niederungen einer empirischen Staatswissenschaft (politischen Wissenschaft) bzw. politischen Geschichtsschreibung zu begeben. Die detaillierteste frühe Hegel-Würdigung fi ndet sich unstreitig im 6. Kapitel von Freiheit und Form, die darauf fußt, daß Hegel, durch das Zusammenführen der Anschauung des geschichtlichen Lebens als Walten der Vernunft mit der Staatsidee, es vermag, eine Synthese zwischen den rationalen und geschichtlichen Momenten des Staatsbegriffs zu schaffen, zu der Schelling im Anschluß an Fichte nicht fähig war.79 Zunächst umreißt Cassirer aber die »früheste Fassung« von Hegels Staatslehre, die noch auf der »Gedankenwelt des ästhetischen Humanismus« (Schiller, Humboldt) gründete und die in der politischen Verfassung der griechischen Polis die unmittelbare Einheit derjenigen geistigen Grundelemente (Allgemeines [Staat] und Besonderes [Einzelner]) realisiert vorfindet, »die sich für den Menschen der neueren Zeit beständig fliehen«. 80 Diese verlorengegangen Einheit werde zum »Problem der Religion und Philosophie«, wobei für letztere die Vernunft als Substanz der Welt bzw. Weltgeschichte, die wesentlich mehr als nur ein Ideal, ein Sollen ist, sich in Form des Staatslebens in Richtung einer erneuten, diesmal aber vermittelten Einheit und Versöhnung bewege. 81 Während für die Staatslehre des frühen Hegel (1800–1802) »die bildenden Kräfte des staatlichen Lebens in das rein ›Naturhafte‹ zurückgeschoben sind«, die »Sittlichkeit in die Tradition der Sitten aufgehoben ist«, befreie sich die des reifen Hegel erst in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1817) endgültig von diesen Positionen. 82 Nunmehr weist dieser die »naturrechtliche Begründungsweise« des Staates bzw. Staatsrechts inhaltlich ab, wiewohl er sich dem »eigentümlichsten Vorzug des Naturrechts [seinem tiefsten Motiv, dem Rechtsgedanken – C.M.] […] freilich niemals verschlossen [hat].«83 Gleichzeitig lehne er jegliche Ableitung des Staates »aus dem bloßen Machtprinzip« ab, wie dies die historische Rechtsschule tut, da dieses doch lediglich »die äußerliche Erscheinung des Staates« sei. 84 Auch mit diesem Hinweis polemisiert Cassirer subtil gegen bestimmte 78 79 80 81 82 83 84

Ebd., 61. E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 373 f. Ebd., 374. Ebd., 376. Ebd., 379. Ebd., 379. Ebd., 380.

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Positionen, wie sie in der zeitgenössischen Hegelrezeption vertreten werden. 85 Gemäß der reifen Staatsphilosophie Hegels, die Cassirer als eine gelungene Synthese der frühen, naturrechtlich argumentierenden Staatslehre Fichtes und der Identitätsphilosophie des frühen Schelling deutet, realisiert der in der empirischen Welt stehende Staat den Fortschritt der Freiheit in der Geschichte, insbesondere der »moderne Staat«, wobei subjektiver Zweck der Einzelnen und Wollen des Staates eine Vermittlung erfahren müssen. 86 Damit hat der Staat bei Hegel, was Cassirer würdigend hervorhebt, »seine Stelle im Ganzen der geistigen Werte« zugewiesen bekommen, wobei alle »anderen Glieder dieses [philosophischen] Systems« – als Momente der Synthese von Allgemeinem und Besonderem, »die sich im Staat ihren objektiven Ausdruck schafft« – nunmehr innerlich auf den Staat bezogen sind, 87 was nicht ohne Folgen für die Glieder bleibt. Obwohl Hegel mit dieser Ansicht dem Staat die tiefste Würdigung und Begründung angedeihen lasse, sei hier »der alte Gegensatz zwischen der ›objektiven‹ Form des Staates und der ›subjektiven‹ Forderung der Freiheit […] zu keiner endgültigen Versöhnung gelangt«. 88 Einer endgültigen Versöhnung, die Cassirer offenbar erst im ethischen Staatsbegriff Cohens geleistet sieht, stehe bei Hegel die dem Staate zugesprochene »Absolutheit« entgegen. In dem Zusammenhang hält Cassirer dem System Hegels vor, zwar einerseits das Ganze als die Wahrheit aufzufassen, andererseits diese Wahrheit aber »in einem letzten Gliede« der Gesamtreihe »heraustreten« zu lassen: »eine absolute Form des Staates«, mit der aber keineswegs der preußische gemeint sei, in der sich die Entwicklung des Begriffs der Freiheit vollendet hat. 89 Hier drängt sich dem Cassirerforscher die Frage auf, ob Cassirer nicht selbst diesen Widerspruch in seinem ›System‹ der symbolischen Formen der Kultur, in Gestalt der Wissenschaft , reproduziert. Außerdem erweise sich Hegels Kritik am Sollenscharakter der Staatsidee (Kant) als Aufdeckung eines »Mangels des eigenen Systems«, werde doch in diesem Hermann Heller bringt wenige Jahre später eine solche Hegelauslegung auf den Punkt, mit der sich Cassirer u. a. in der Oxforder Hegelvorlesung kritisch auseinandersetzen wird. – H. Heller , Hegel und der nationale Machtstaatgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, Leipzig/Berlin 1921; siehe dazu: E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 56; ders., »Hegel (Seminar 1942/43) Zu Hegel’s Staatstheorie«, in: ebd., 160 ff. 86 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 382. 87 Ebd., 383. 88 Ebd., 383. 89 Ebd., 384. 85

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»die schlichte Einsicht verdunkelt, daß das Medium, durch das diese Verwirklichung sich vollzieht, lediglich in der sittlichen Arbeit liegt, die die Individuen zu vollziehen haben.«90

Diese Arbeit werde bei Hegel als Werk des ›Weltgeistes‹ desavouiert. Cassirer besteht auf dem daraus resultierenden Aufgaben- und Prozeßcharakter der – geistigen – Arbeit am Staat, für die das Staatsideal die Orientierung und Norm bildet, auch für die »Kritik an der b e s t e h e n d e n S t a a t s f o r m«.91 Die Mischung aus Verhaftetsein am Überholten und Eröff nen neuer, bis in die Gegenwart weisenden Perspektiven zeige sich auch an Hegels Staatsphilosophie: zum E i n e n stehe sie »noch durchaus innerhalb der Grundanschauungen des klassischen deutschen Idealismus«, u. a. bei der »Gestaltung des Staatsbegriffs« durch Anknüpfung an dessen »Idealbild des Griechentums«, zum A n d e r e n bildet sie – »im Verein mit Fichtes Staatsleben« – »das neue gedankliche Fundament für die Entwicklung der modernen politisch-sozialen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts«.92 Hegels Lehre gewinne aus der »rein philosophischen Aufgabe« einer »Analyse und Deduktion der ideellen geistigen Wirklichkeit« ein »neues Verständnis und eine neue Würdigung der konkreten politisch-geschichtlichen Lebensmächte«.93 Dieses neue – deutsche – Staatsverständnis habe aber, so Cassirer 1916, »seine eigentliche schwerste und tiefste geschichtliche Probe noch zu bestehen«, dies allerdings erneut in einem rein geistig-kulturellen Sinne, nämlich dergestalt, daß bei der Bewältigung der »völlig neuen politisch-materiellen Aufgaben«, die die Kriegs- und die kommende Nachkriegszeit stellen, diejenigen »Grundprinzipien« nicht veruntreut werden, »auf denen die Einheit und der Gehalt der deutschen Geisteskultur beruht«.94 Mit anderen Worten, es müsse sich erst noch zeigen, ob »der Gedanke des deutschen Staates«, wenn er »als ›substantielle‹ Macht in das wirkliche geschichtliche Werden« eingreift, »die ursprüngliche Reinheit und die ideelle Freiheit zu bewahren [vermag], kraft deren alle bloß zufällige und empirische Bedingtheit des Gegebenen überwunden wird.«95 Es scheint, als ob sich für Cassirer dieses ›Überwinden‹ der gegebenen Bedingtheit deutscher Staatlichkeit im beständig über sich hinauswei90 91 92 93 94 95

Ebd., 384 f. Ebd., 385. Ebd., 385. Ebd., 385. Ebd., 386. Ebd., 386.

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senden Erziehungsauftrag des Staates zur Freiheit erschöpft, wobei die lebendige Spannung von Freiheitsidee und einschränkender Staatsidee, als endlicher Form für die Freiheit der Individuen, einen unendlichen Prozeß bildet. Weder läßt sich Cassirer darauf ein, über eine künftige konkrete Staatsform nachzudenken, die diesem ›Auftrag‹ besser gerecht würde als der Wilhelminische Obrigkeitsstaat, noch ist er bereit, eine künftige Form der politischen Freiheit der Individuen im Staat zu thematisieren, und dies unter Rückgriff auf das ›kritische‹ Argument, ein solchen Ansinnen laufe Gefahr, die Idee mit der Wirklichkeit zur Identität bringen zu wollen, wie dies Hegel versucht habe. Ich vermag für mich den Eindruck nicht auszuräumen, daß sich Cassirers philosophischer, ethisch begründeter Staatsbegriff als einer Idee der Erziehung zur tätigen, selbstgesetzgebenden Freiheit mit den politischen Realitäten seiner dramatischen Gegenwart nicht wirklich in Beziehung setzen läßt. Diesem Eindruck soll in den folgenden beiden Abschnitten noch einmal nachgegangen werden.

3. Hermann Cohen als ›Entfalter‹ des Hegelschen Staatsideals Im Vortrag »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem«, den Cassirer am 28. März 1916 in der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums hält, ehrt er seinen alten Lehrer Hermann Cohen mit der Behauptung, dieser habe u. a. in seiner Ethik des reinen Willens (1904) durch Kritik und Wegräumen des metaphysischen Charakters ihrer Systeme beispielhaft die ›Bergung‹ des »bei Fichte wie bei Hegel« vorfindlichen reichen und tiefen Gehaltes der philosophischen Staatslehre geleistet, wodurch er diese nicht nur »zu neuem Leben erweckt«, sondern auch zu »vollständiger Entfaltung« geführt habe.96 Mit der Feststellung, daß »die Kraft des Staates […] nicht allein in den physischen und naturhaften Wurzeln, die er in der [empirischen – C.M.] Volkseinheit hat«, liegt, sondern »in seiner ethischen Bedeutung als Aufgabe des Selbstbewußtseins«, treffe »Cohens Ethik mit Hegel in dem Gedanken zusammen, daß nur der Staat das eigentliche, echte Selbstbewußtsein des Menschen darstelle«, auch wenn bei Cohen »die Art der Begründung […] eine andere geworden« ist.97 E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 25. 97 Ebd., 25; »Indem Hermann Cohen diese Rückkehr vollzog, indem er vom Inhalt und System der Kantischen Philosophie auf die Einheit ihres Prinzips, auf die Grundvoraussetzung der ›transscendentalen Methode‹ zurückging, – hat er damit auch den Staatsbegriff des deutschen Idealismus zu neuem Leben erweckt. Cohens ›Ethik des reinen Willens‹ beschreitet diesen doppelten Weg: sie fasst den Staatsgedanken als reinen 96

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Cassirer schreibt hier seine grundsätzliche These, wonach Hegel – und Fichte – mit ihrer Ausrichtung auf die ethische Aufgabe des modernen Staates, das Selbstbewußtsein der Menschen bzw. Staatsbürger zu entfalten, die Grundlage »auch für das Staatsideal unserer eigenen Gegenwart […] geschaffen haben«,98 Cohen zu. Dieser Verweis Cassirers auf Cohen soll kurz thematisiert werden. Zum E i n e n dürfte der Ort des öffentlichen Vortrages, die Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, dazu angetan sein, Cohen, der sich um sie verdient gemacht hat, Ehre zu erweisen. Zum A n d e r e n bringt Cassirer mit dieser Würdigung seine Solidarität mit dem berühmten Kantausleger zum Ausdruck, dessen philosophische Leistung wie auch dessen Person in diesen Tagen zum Ziel heft iger, feindseligbeleidigender antisemitischer Angriffe wird, bei denen der Mitherausgeber der Kant-Studien, Bruno Bauch, eine unrühmliche Rollen spielt. Cassirer wird in dieser Sache gegenüber dem Organ der Kant-Gesellschaft noch einmal entschieden Partei für Cohen ergreifen.99 S c h l i e ß l i c h deuten die zitierten Formulierungen Cassirers an, daß Cohen selbst sich in bestimmten Aspekten der Thematisierung des Staatsbegriffs des Deutschen Idealismus auf Hegels Staatsaufassung zubewegt. Dennoch scheint mir, daß das behauptete ›Zusammentreffen‹ von Cohens Ethik und Hegels Staatslehre über die beabsichtigte Ehrung bzw. Ehrenrettung des alten Lehrers hinaus eine recht eigensinnige Interpretation Cassirers ist, da sich Cohen sowohl in der Ethik des reinen Willens als auch in anderen, politischen Themen gewidmeten Schriften jener Jahre eher auf Kant und Fichte stützt und Hegel nahezu durchgängig kritisch bzw. distanziert als pantheistischen Metaphysiker behandelt,100 der, auch wenn er »im Staate die Substanz der Sittlichkeit erkennt«, sich des »Staatsgötzentums« schuldig mache.101 Ausdruck der ethischen Idee der ›Allheit‹ und sie zeigt andererseits, wie die Allheitsidee erst in dem realen Leben des Staates und durch die Vermittlung seiner konkreten Formen Bestimmtheit und Wirksamkeit gewinnt. In dieser zwiefachen Richtung sucht sie den Staatsbegriff als den ethischen Kulturbegriff zu erweisen. Die Kraft des Staates liegt nicht allein in den physischen und naturhaften Wurzeln, die er in der Volkseinheit hat, sondern sie liegt in seiner ethischen Bedeutung als Aufgabe des Selbstbewusstseins. So trifft Cohens Ethik mit Hegel in dem Gedanken zusammen, daß nur der Staat das eigentliche, echte Selbstbewusstsein des Menschen darstelle. Aber die Art der Begründung ist bei ihm eine andere geworden.« – Ebd., 25. 98 Ebd., 27. 99 Zu den Angriffen auf Cohen und Cassirers Reaktion, die eine philosophische Auseinandersetzung mit Bauch einschließt, siehe die entsprechenden Texte und Kommentierungen in ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 29–60, 279–293, 338–340, 358–361, 417–418. 100 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 1904, 15, 42 f., 240, 287, 314, 434. 101 Ebd., 434.

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Im Unterschied zu Cassirer hält Cohen zudem Hegels Ausspruch in der ›Rechtsphilosophie‹, »was vernünftig ist, das ist wirklich«, für einen großen Fehler, da daraus folge, die Wirklichkeit als Maßstab und Prinzip der sittlichen Vernunft gelten zu lassen: »Kant würde sagen: was vernünftig ist, das ist nicht wirklich; sondern soll wirklich werden.«102 Zwei Jahre bevor Cassirer seinen Vortrag hält, bezeichnet Cohen in seinem Pamphlet »Über die Eigentümlichkeit des deutschen Geistes« die Frage »ob Kant oder Hegel« als den »Kreuzweg des deutschen Idealismus« und erklärt unmißverständlich: »der deutsche Idealismus ist der Idealismus Kants.«103 Allerdings gesteht der ›ethische Sozialist‹ aus historischem Rückblick Hegels Dialektik zu, für die »Festigung des Staatsbegriffs« fruchtbar geworden zu sein: »echte Anhänger der Dialektik [gingen] nach links und strebten den Staat nach dem objektiven Geiste der Gesellschaft zu bewegen«.104 Aus dieser Bewegung sei 1863 durch Ferdinand Lassalles Wirken der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) hervorgegangen, auch wenn Lassalle historisch nicht korrekt »die Idee des deutschen Staates von Fichte ab[geleitet]« habe, wo sie doch auf Kant zurückgehe, zudem »ließ er Hegel gegen Fichte zurücktreten«.105 Der affirmative Hinweis auf Cohens ethischen Staatsbegriff und seine Nähe zu dem Staatsbegriff Hegels wirft zudem eine weitere wichtige Frage auf, auf die wir im folgenden letzten Abschnitt noch einmal zurückkommen werden. Die Frage nämlich nach Cassirers Haltung bzw. Verhältnis zu Cohens Idee der Gemeinschaft bzw. Volkseinheit, die unter Umständen eine gewisse Nähe zu Hegels Philosophie impliziert. Cassirer wiederum betont in seinen ethischen und politischen Überlegungen in der Regel stark Rechte und Rolle der Individuen, die kein Staat übergehen dürfe.

4. Staatsideal des Deutschen Idealismus, politisch-rechtliche Realitäten und Reformziele Angesichts des 1916 von Cassirer beschworenen ›Staatsideals‹ des Deutschen Idealismus als lebendiger, aktueller Grundlage für das deutsche Staatsverständnis der Gegenwart stellen sich zumindest zwei Fragen: E r s t e n s , ist der reale deutsche Staat, der gerade einen gewaltigen Angriffskrieg führt, Ebd., 314. H. Cohen, »Über die Eigentümlichkeit des deutschen Geistes« (1914), in: Werke, Bd. 16: Kleinere Schriften, Bd. V, Hildesheim/Zürich/New York 1997, 237–298, hier: 264. 104 Ebd., 280. 105 Ebd., 281. 102 103

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

den er einen Verteidigungskrieg nennt, wogegen Cassirer öffentlich keinen Einspruch erhebt, mit der den ›Zwiespalt‹ von Freiheitsidee und Staatsidee auflösenden Erwartung, daß »das Recht und die Macht des Staates« auf die Bedingungen der Erziehung aller Bürger zur selbstverantworteten Freiheit zu gründen und einzuschränken sind, auf realistische Weise beschrieben? Z w e i t e n s , spiegeln sich in Cassirers Ausführungen zum Staatsbegriff des Deutschen Idealismus die praktischen Probleme des deutschen Staates in den Jahren des Weltkrieges und der unmittelbaren Zeit danach irgendwie wider? An der großen Staatsdebatte, die zwischen 1914 und 1918, inspiriert von den sogenannten ›Ideen von 1914‹, erbittert geführt wird, ausgetragen von kontroversen Stellungnahmen deutscher Universitätsprofessoren zum Ersten Weltkrieg und zu den als notwendig erachteten politisch-rechtlichen Reformen nach dem ›siegreichen‹ Ende des Krieges, beteiligt sich Cassirer öffentlich nicht oder nur sehr distanziert und vorsichtig.106 Insbesondere äußert er sich nicht zu praktischen Reformforderungen (Reform des preußischen Wahlrechts, Einführung der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, Öffnung der staatlichen und kulturellen Institutionen [d. h. der Universitäten] für Bürger aller religiösen Konventionen etc.), die in dieser Debatte im Mittelpunkt innenpolitischer Themen stehen. Allerdings könnte die folgende Aussage, die sich in dem unveröffentlicht gebliebenen Beitrag gegen Bruno Bauch für die Kant-Studien findet und sich auf die »schwersten Kämpfe[…] um das politisch-materielle Dasein des deutschen Volkes« während Ersten Weltkrieg bezieht,107 ein indirekter Hinweis auf die Kenntnisnahme der Debatte praktischer Reformvorhaben sein: »Keiner von uns zweifelt mehr, dass, wenn erst einmal das Ende dieses Kampfes herangekommen sein wird, eine unabsehbare Fülle neuer politischer und nationaler Aufgaben uns erwartet.«108

Auch der Hinweis in Freiheit und Form, es sei ihm philosophisch weniger um den eigentümlichen deutschen Staat zu tun als um den Staat überhaupt,109 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Staatsbegriff des Deutschen Idealismus. Zu Cassirers Position in einer historischen Debatte (1914–1918)«, 189–204. 107 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), Vorwort zur ersten Auflage, in ECW 7, a. a. O., 388. 108 E. Cassirer, »Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 58. 109 »Nicht die Genesis des Begriff s des d e u t s c h e n S t a a t e s , sondern die ›Deduktion‹ und Rechtfertigung, die der Staat a l s s o l c h e r in der […] Entwicklung des 106

Die Bedeutung Hegels

251

läßt eine gewisse Abgrenzung von bzw. Distanz zu bestimmten Diskursen durchblicken. Die anstehende staatliche Neuordnung, die als solche nicht in Frage steht, wird von den Diskutanten entweder im Rahmen eines korporativistischen, berufsständischen Staates der exkluierenden bzw. inkluierenden deutschen ›Volksgemeinschaft‹ o d e r eines demokratisch-konstitutionell-monarchischen ›Volksstaates‹ gleichberechtigter Staatsbürger gesehen.110 Während Cassirer mit einigen guten Gründen der eher liberalen ›Volksstaats‹-Fraktion zugerechnet werden kann, wird Cohen in der Forschung der Fraktion zu geordnet, die eine Staatstheorie der inkluierenden ›Volksgemeinschaft‹ vertritt, was aber eine Reihe gemeinsamer oder ähnlicher philosophisch-politischer Positionen nicht ausschließt. Damit ist bei weitem nicht nur die Berufung auf Kants Ethik gemeint, sind sich doch z. B. Cassirer und Cohen einig in der Zurückweisung einer Theorie des Machtstaates.111 Analog gilt dies für ein Zurückweisen des bedingungslosen Vorranges der Gemeinschaft bzw. des Staates vor dem Individuum, wie sie z. B. der ›Korporativist‹ und Verfechter der ›Volksgemeinschaftsidee‹ Max Wundt vertritt.112 Mit seiner sich auf Kants Ethik berufenden Konzeption eines ›ethischen Sozialismus‹ legt Cohen ebenfalls eine dem Naturrecht – als ethischer Begründung des Rechts113 – verpflichtete Deutung des Staatsgedankens vor, die zwar die ›Volksgemeinschaftsidee‹ propagiert, sich aber der Forderung nach einem korporativ-berufsständischen, antiparlamentarischen Staate widersetzt. Für ihn ist der deutsche Staat eben »nicht nur die Ordnung gegen Gewalt und Raub, sondern die Erziehungsanstalt des Geistes« und damit der Sittlichkeit des Volkes.114 Die Weiterentwicklung der Staatsidee des Deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert sieht er – sich auf Fichte und Lassalle berufend – in der nunmehrigen Aufgabe der vollen rechtlichen, politischen und sozialen Integration des Arbeiterstandes und seiner politischen Partei, der Sozialdemokratie, in den Staat.115 Es sei die empideutschen Geisteslebens erfährt, versuchen wir darzustellen.« – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 310. 110 Siehe dazu St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ›Ideen von 1914‹ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. 111 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: Werke, Bd. 16: Kleinere Schriften, Bd. V, a. a. O., 465–560, hier: 539 f. 112 M. Wundt, »Deutsche Staatsauffassung« (1918), in: K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, 152–157. 113 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: Werke, Bd. 16: Kleinere Schriften, Bd. V, a. a. O., 521. 114 H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: ebd., 270. 115 Ebd., 280.

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rische Gesellschaft mit ihren Veränderungen, die den Staat und seine Idee vor immer neue Herausforderungen stellt. So werde der deutsche Staat im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von den materialistischen Interessen der kapitalistischen Wirtschaft und der in ihr »wurzelnden Stände«, die »vor keinem Rechtsfrevel« zurückschrecken,116 permanent herausgefordert.117 Zu den ethisch motivierten, sich historisch stellenden Aufgaben des Staates, die der damalige deutsche Staat noch nicht vollständig erfülle, zählt Cohen 1914/15 u. a. allgemeine Schulpfl icht, Gewährung des offenen Zuganges zur Universitätsbildung, Lösung der Juden- und der Arbeiterfrage durch volle rechtliche Gleichstellung, Sozialpolitik und staatliche Fürsorge. Als Rechte – und Pflichten –, die der Staat allen seinen Bürgern zu gewähren hat, gelten ihm u. a. das allgemeine Wahlrecht und die allgemeine Wehrpflicht, womit brennende politisch-rechtliche Fragen der deutschen Staatlichkeit für die damalige Zeit angesprochen sind. Solche konkreten Stellungnahmen finden sich bei Cassirer weder in seinen allgemeinen Überlegungen zum philosophischen Staatsbegriff der Deutschen noch in seinen speziellen Ausführungen zur Bedeutung der Hegelschen Staatslehre für den Deutschen Idealismus bzw. für die Gegenwart. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß Cassirers Bezugnahme auf die Staatsidee Cohens diese Konkretisierungen implizit mit meint, wie sie bestimmte Züge derselben gleichfalls nicht mit meint. Aus den bisher angestellten Überlegungen heraus erscheint mir Cassirers Berufung auf den in seiner Staats- und Gesellschaftsphilosophie aus den Ideen des deutschen Idealismus schöpfenden Cohen nicht unproblematisch, da beide in Sachen Staatslehre (Individuum und Gemeinschaft), religiöser Sozialismus, Eigentümlichkeit des geistigen Deutschtums und Haltung zum Weltkrieg bzw. den deutschen Kriegszielen doch Einiges trennt. Auch wenn das Bekenntnis zur Ideenwelt Kants, zur Verknüpfung von Ethik, Recht und Politik bzw. zur Ableitung des Rechtes aus der Ethik, und der Politik aus dem Recht,118 und zu einer parlamentarischen Staatsverfassung beide Denker durchaus eint. Cassirer wird bis in The Myth of the State (1946) davon überzeugt sein, daß die Cohensche Idee einer ethischen Normierung

H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: ebd., 544. Ebd., 542. 118 »Es ist unsere systematische Ansicht, das Naturrecht überhaupt aufzufassen als die Ethik des Rechts, als die Begründung des Rechts in der Ethik.« – ebd., 521; Siehe dazu auch: M. Ferrari, »Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers«, in: E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, (CF, Bd. 5), Hamburg 1999, 43–62, hier: 46 ff. 116 117

Die Bedeutung Hegels

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des Politischen – als regulative Idee – auch für den Staatsbegriff im 20. Jahrhundert ihre Gültigkeit behält. Im Gegensatz zu der bei Cohen viel beschworenen Gemeinschaft gilt Cassirer – mit Bezug auf Leibniz, Wolff und Kant – jedoch eindeutig das Individuum als Ausgangspunkt einer modernen Staatsphilosophie.119 Es sind die unveräußerlichen Grundrechte der Individuen, die kein Prinzip unumschränkter Staatsgewalt dulden, sondern die legitime Macht des Staates auf dessen eigentlichen (Erziehungs-)Aufgaben einschränken. In diesem Sinne hat laut Cassirer der Deutsche Idealismus den »Konflikt« von Freiheit und Form (Zwang), von individuellen Rechten und Staatsrecht für die Staatsfrage gelöst.120 Diese Geistesrichtung habe erkannt, daß, obwohl sich der »Fr e i h e i t s gedanke« nur in der »F o r m des Staates« erfüllen kann, er dennoch niemals völlig in ihr aufgehe, sondern er seine Eigenständigkeit bewahre und die Kritik an der »bestehenden Staatsform« entfalte.121 Diese somit legitimierte Kritik selbst wird von Cassirer aber n i c h t ausgeführt, von Cohen, wie wir gesehen haben, dagegen schon. Es scheint also nicht an der Orientierung an der ›Idee des Sollens‹ zu liegen, wenn die Staatsphilosophie von der empirischen Wirklichkeit des Staatslebens weg und zur jenseitigen, rein geistigen ›Idee des Sollens‹ hinführt; die konkreten politischen Realitätsbezüge in Cohens Schriften stehen diesem Fehlschluß entgegen. Dieser benennt in den Jahren 1914/1915 einen klaren »Abstand« zwischen der Idee des Staates und der deutschen bzw. preußischen Realität, so in der Wahlrechtsfrage in Preußen, tritt er doch offen für das allgemeine Wahlrecht auch im wichtigsten Bundesland des Deutschen Reiches ein.122 Auch bezüglich der Gleichberechtigung der deutschen Juden gehören diese »Abstände« und »letzte Schatten« in der politischen Realität der Zeit nach dem Kriege »aufgehoben«.123 Ebenso erhofft sich Cohen, daß der Konflikt, »in den neuerdings« die kriegsbedingten »Widerwärtigkeiten« »wieder [!] den Staat und die Menschenrechte« gebracht haben, nach dem Kriege überwunden werden könne.124 119

E. Cassirer, Leibniz‘ System (1902), in: ECW 1, a. a. O., 380 ff., und insbesondere

410 f. E. Cassirer, Freiheit und Form (1902), In. ECW 7, a. a. O., 325, 335; »Das ist die letzte und höchste Versöhnung, die Fichte für den Konfl ikt der Staatsform mit der Forderung der Freiheit fi ndet.« – Ebd., 364. 121 Ebd., S. 385. 122 H. Cohen, »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes« (1914), in: Werke, Bd. 16: Kleinere Schriften, Bd. V, a. a. O., 282. 123 H. Cohen, »Deutschtum und Judentum« (1915), in: ebd., 532, 529, 530. 124 Ebd., 523. 120

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Wenn es für ihn jedoch »keinen Widerspruch, auch keinen Gegensatz zwischen Macht und Recht« gibt,125 dann scheint dies trotz aller ›Abstände‹ und ›Schatten‹, die noch zu überwinden sind, zu bedeuten, daß Cohen den realen deutschen Staat 1914/15 grundsätzlich seinen ethischen Aufgaben gerecht werden sieht, ihn im historischen Prozeß der Annäherung an das Staatsideal des Deutschen Idealismus befindlich wahrnimmt. Die Ausführungen, die Cassirer 1916 zum Staatsproblem macht, bieten keinen begründeten Anlaß, ihn in dieser entscheidenden Frage seinem Lehrer Cohen grundsätzlich entgegen zu stellen.

125

Ebd., 539.

Die Kant- und Hegelvorlesungen in der englischen und amerikanischen Emigration 1. Vorbemerkung: Cassirer und die Geschichte der Philosophie Ernst Cassirer, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts,1 wurde durch zwei große Projekte bekannt: eine vierbändige Geschichte des ›Erkenntnisproblems in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit‹, 2 und eine dreibändige ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der Kultur, die Sprache, Mythos und [Natur-]Wissenschaft umfassen.3 Das e rs t e Projekt hat er noch mehr oder weniger im Einklang mit den methodischen Verfahren der ›Marburger Schule‹ realisiert, d. h. durch ein Ineinandergreifen philosophiegeschichtlichen und theoretisch-systematischen Herangehens, womit er die Absicht verfolgt, den Aufweis zu führen, daß in den modernen mathematischen Naturwissenschaften die Bildung von Funktionsbegriffen die von Substanzbegriffen nach und nach ablöst und ersetzt. Dabei dient Cassirer der philosophiegeschichtliche Rahmen mehr als methodisches Mittel denn als eigentlicher Zweck der Darstellung. Das z w e i t e große Projekt einer Philosophie, die sich symbol- und bedeutungstheoretisch auf drei systematisch relevante Funktionen der kulturellen Sinnbildung (Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung) gründet, wird als eine Erweiterung der Fragestellung des ersten Projektes verstanden. Nun werden neue Weisen der Begriffsbildung thematisiert, so wie sie in den Kulturwissenschaften ihren Vollzug finden: Cassirer erarbeitet hier eine Logik der spezifisch sprachlichen Begriffsbildung und eine der spezifisch mythischen, die logisch-theoretische wird durch eine Phänomenologie Siehe dazu vom Verfasser, Ernst Cassirer. Vom ›Erkenntnisproblem‹ über das ›Formproblem‹ zum ›Strukturproblem‹, in: F. O. Engler/M. Iven (Hrsg.), Große Denker, Leipzig 2013, 75–104, hier: 75 ff. 2 E. Cassirer, EP, Erster Band (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999; Zweiter Band (1907), in: ECW 3, Text und Anm. bearbeitet von D. Vogel, Hamburg 1999; Dritter Band: Die nachkantischen Systeme(1920), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000; Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932) (1957), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000. 3 E. Cassirer, PSF, Teil 1: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001; Teil 2: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002; Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002. 1

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des Ausdrucks und der Wahrnehmung unterbaut. Erneut dienen philosophiehistorische Bezüge und Rekurse vor allem als methodische Mittel, um theoretische, systematische Positionen zu begründen und zu legitimieren. Als grundsätzlich systematischer Denker hat sich Cassirer aber auch immer für philosophiegeschichtliche Bezüge interessiert. So führte er als Hochschullehrer seit dem Wintersemester 1906/07, d. h. seit seiner Habilitation an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 4 jahrzehntelang Lehrveranstaltungen zur Philosophiegeschichte durch. Die Lehrtätigkeit an der Berliner Universität war in den ersten Jahren sogar vornehmlich philosophiehistorisch orientiert, wobei, anders als in seiner philosophischen Forschung und folglich in den Publikationen, die Philosophie Kants den sich durchziehenden Schwer- oder Mittelpunkt der Lehrthemen ausmachte. So veranstaltet Cassirer im Wintersemester 1906/07 »Philosophische Übungen zu Kants Kritik der reinen Vernunft«,5 und auch in den folgenden Semestern wendet er sich Fragen der Kantischen Philosophie zu. 6 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg 2003, 100 ff.; siehe dazu auch den Kommentar des Herausgebers in: E. Cassirer, Vorlesungen und Vorträge zu Kant, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 15, Hamburg 2016, 374 ff., auf den sich nachstehende Ausführungen teilweise stützen. 5 Siehe dazu den Kommentar der Hrsg. zum Brief H. Cohens an E. Cassirer, Marburg, den 6. Dezember 1906, in: E. Cassirer, Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901–1929, in: ECN 17, Hrsg. von J. Bohr und K.Ch. Köhnke †, Hamburg 2014, 240. 6 So hält Cassirer im Sommersemester 1907 die Vorlesung »Die Philosophie Kants« und bietet erneut »Philosophische Übungen zur Kritik der reinen Vernunft« an (Verzeichnis der Vorlesungen Sommer-Semester 1907, Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1907, 43 und 45). Die Vorlesung »Die Philosophie Kants« wiederholt er im Wintersemester 1909/10 und noch einmal im Wintersemester 1911/12. Vermutlich dienten ihm dafür die im Nachlaß erhaltenen zwei undatierten Manuskripte mit Kantvorlesungen als Vorbereitung oder Vorlesungsskript (Beinecke Rare Book and Manuskript Library, Yale University, New Haven, GEN MSS 98, Box 43, Folders 852–854, 92 Seiten handschrift licher Text; Box 43, Folders 850–851, 88 Seiten handschrift licher Text, beiden Manuskripte wurden in ECN 15 nicht zum Abdruck gebracht). Im Wintersemester 1907/08 hatte Cassirer drei Stunden »Geschichte der neueren Philosophie von der Renaissance bis Kant« gelesen und eine Stunde »Übungen zur Geschichte der neueren Philosophie (Descartes und Leibniz)« abgehalten, im Sommersemester 1908 zwei Stunden »Einführung in die Erkenntniskritik« gelesen (Verzeichnis der Vorlesungen Winter-Semester 1907/08, idem, 1907, 38; Verzeichnis der Vorlesungen Sommer-Semester 1908, idem, 1908, 39). Auch in anderen Berliner Lehrveranstaltungen spielt Kant eine Rolle, so in den Lehrveranstaltungen »Neuere Philosophie (von Kant bis zur Gegenwart)« und »Neuere Philosophie (Kant und die nachkantischen Systeme)«, die er im Sommersemester 1915 bzw. im Wintersemester 1918/19 anbietet (Verzeichnis der Vorlesungen Sommer-Semester 1915, idem, 1915, 44; Verzeichnis der Vorlesungen Winter-Semester 1918/19, idem, 1918/19, 41). Im Wintersemester 1917/18 trägt er über 4

Die Kant- und Hegelvorlesungen

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Dagegen spielte Hegel in den Berliner Jahren nur eine ›Nebenrolle‹: Cassirer behandelt dessen Philosophie lediglich in der Lehrveranstaltung »Der deutsche Idealismus von Leibniz bis Hegel«, die er im Wintersemester 1913/14 anbietet.7 Der Staatsphilosophie Hegels nimmt sich Cassirer stärker erst im 6. Kapitel seines 1916 veröffentlichten Buches Freiheit und Form an. 8 Auch in den sich ab 1919 anschließenden Jahren als Ordinarius für Philosophie an der neugegründeten Hamburgischen Universität bildet die Philosophie Kants einen Schwerpunkt der philosophiehistorischen Lehrtätigkeit Cassirers,9 und das bis ins Wintersemester 1932/33, dem letzten Semester, das Cassirer an der Hamburgischen Universität lehren sollte und in dem er u. a. »Philosophische Übungen (im Anschluß an Kants »Kritik der Urteilskraft«)« durchführt.10 Aber auch in seinen Veröffentlichungen scheint Cassirer oft rein philosophiehistorische Ziele und Herangehensweisen zu verfolgen, so mit Leibniz’ System (1902), Kants Leben und Lehre (1918) oder Die Philosophie der Aufklärung (1932). Die in allen diesen Schriften enthaltenen systematischen Intentionen und Theorien erschließen sich oft nicht auf den ersten Blick, weshalb nicht zuletzt deshalb Zeitgenossen Cassirer manchmal als einen ›bloßen‹ Philosophiehistoriker wahrgenommen und sein innovatives, systematisches Philosophieren nicht wirklich erfaßt und gewürdigt haben. Insbesondere während seiner Lehrtätigkeit an der Hamburgischen Universität ist Cassirer neben den bereits erwähnten philosophiegeschichtlichen Themen damit befaßt, systematisch neue Themen bzw. Disziplinen der Philosophie wie die Sprachphilosophie und Kulturphilosophie, aber auch »Kants System (Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik)« vor und bietet erneut »Übungen zur Kritik der reinen Vernunft« an (Verzeichnis der Vorlesungen Winter-Semester 1917/18, idem, 1917/18, 41 und 42). 7 Verzeichnis der Vorlesungen Winter-Semester 1913/14, idem, 1913. 8 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Hegel-Bilder im Wandel. Zu Cassirers Verständnis der politischen Philosophie Hegels«, 205–227, und »Die Bedeutung Hegels für eine zeitgenössische politische Philosophie«, 229–254. 9 So liest er im Wintersemester 1919/20 über »Kant und das deutsche Geistesleben«, im Wintersemester 1920/21 über »Kant und die nachkantischen Systeme« und hält zudem »Philosophische Übungen für Fortgeschrittene« zu Kants Analytik des reinen Verstandes ab, im Sommersemester 1921 schließen sich »Übungen über die Grundfragen der Ethik (im Anschluß an Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten)« an (Hamburgische Universität, Verzeichnis der Vorlesungen, Wintersemester 1919/20, Hamburg 1919, 18; idem, Wintersemester 1920/21, 1920, 22; idem, Sommersemester 1921, 1921, 22). 10 Idem, Wintersemester 1932/33, 1932, 30. Das für das Sommersemester 1933 angekündigte und Kant einschließende Colleg »Grundprobleme und Grundformen des philosophischen Idealismus« (idem, Sommersemester 1933, Hamburg 1933, 30) kommt wegen des Machtantritts der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 nicht mehr zustande.

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

bereits die Philosophische Anthropologie zu erarbeiten,11 die als Lehrgegenstände an den Universitäten Hamburg, Göteborg und Yale fruchtbar gemacht werden.12 In einigen Fällen besitzen die Themen dieser Lehrveranstaltungen einen unmittelbaren Bezug zu Veröffentlichungen wie im Falle der Vorlesung über »Grundprobleme der Sprachphilosophie«.13

2. Philosophiegeschichtliche Lehrtätigkeit während der Emigration Auf Grund der vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg Ende Januar 1933 ins Amt berufenen nationalsozialistischen Reichsregierung verlassen Ernst und Toni Cassirer umgehend Deutschland und werden zu politischen Emigranten. Die wichtigsten Etappen ihrer Emigration werden Oxford, Göteborg und New Haven (Yale). Dank seines Rufes als eines der bekanntesten Philosophen Deutschlands, aber auch dank vielfältiger Unterstützung und Förderung der akademischen Welt Englands, Schwedens und der USA, gelingt es Cassirer, seine berufliche Karriere auch in der Emigration fortzusetzen und seine in Hamburg ausgearbeitete ›Philosophie der symbolischen Formen‹ um eine ganze Reihe neuer philosophischer Ansätze und Fragestellungen zu bereichern, wobei der schwedischen Periode von 1935 bis 1941 wohl die Schlüsselstellung zukommt.14 Gleichzeitig setzt Cassirer Siehe dazu vom Verfasser, Ernst Cassirer. Vom ›Erkenntnisproblem‹ über das ›Formproblem‹ zum ›Strukturproblem‹, a. a. O., 84 ff. 12 Im Sommersemester 1922 hält Cassirer an Hand des nahezu fertigen Manuskriptes des Werkes Die Sprache (PSF I) die Vorlesung »Grundprobleme der Sprachphilosophie«, deren Mitschrift durch Willi Meyne in ECN 4 abgedruckt wurde (E. Cassirer, »Grundprobleme der Sprachphilosophie«, in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2013, 219–270). Im Sommersemester 1929 liest er erstmals über »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (E. Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie«, in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme † unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 3–28). Ausarbeitungen und Vorträge zur Philosophischen Anthropologie aus den Jahren 1928/29 wurden ebenfalls im Nachlaß veröffentlicht (E. Cassirer, »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« [1928], in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 32–112; siehe auch ders., Heidegger-Vorlesung (Davos) März 1929, in: ECN 17: Davoser Vorträge, a. a. O., 3–74). 13 Siehe vorstehende Anm. 12. 14 Hier wären u. a. die Theorie der ›Basisphänomene‹ (E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 113–198) und die Wissenschaft stheorie hinsichtlich der Kulturwissenschaften (E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942], in: ECW 24: Aufsätze und kleine 11

Die Kant- und Hegelvorlesungen

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in den Emigrationsjahren auch seine Lehrtätigkeit fort, die einmal mit den Philosophien Leibniz‘15 und Kants, aber auch Hegels, an zentrale Themen seiner nach der Habilitation 1906 an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin begonnenen Lehrtätigkeit anknüpft. Gleichzeitig werden, insbesondere in der schwedischen und nordamerikanischen Periode, auch die seit dem Wintersemester 1919 an der Hamburgischen Universität neu eingeführten Themen wie Sprachphilosophie oder Kulturphilosophie bzw. die Ende der 20er Jahre entwickelten Überlegungen zur philosophischen Anthropologie aufgenommen und entscheidend vertieft oder überhaupt erst durch systematische Grundlegungsrecherchen zu philosophisch anspruchsvollen, innovativen Lehrgegenständen entwickelt.16 Im vorliegenden Beitrag interessieren uns aber allein die in den englischen und nordamerikanischen Exiljahren gehaltenen Kant- und Hegelvorlesungen, die den Schwerpunkt der der Philosophiegeschichte gewidmeten Lehrveranstaltungen dieser Zeit ausmachen und deren nachgelassene Manuskripte inzwischen in den Bänden ECN 16 (2013) und ECN 15 (2016) zum Abdruck gebracht wurden. Dabei zeigt sich bei den Kantvorlesungen eine klare Kontinuität der Thematik, ohne daß Cassirer offensichtlich oder nachweislich während der Yaler Vorlesungen (1941–1944) auf die Manuskripte aus der Oxforder Zeit (1933–1935) zurückgreift, wie er dies zumindest in den Hegel-Materialien des Jahres 1942/43 systematisch mit detaillierten Verweisen auf das Oxforder Vorlesungsskript von 1934 tut. Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 355–486) zu nennen. 15 Die erste Vorlesung, die Cassirer im Herbst 1933 am All Souls College der Universität Oxford hält, und dies in englischer Sprache, ist Leibniz‘ »Discours de métaphysique« gewidmet, die nachgelassene Vorlesung kommt in ECN 14 zum Abdruck, siehe E. Cassirer, Descartes, Leibniz, Spinoza. Vorlesungen und Vorträge, in: ECN 14, Hrsg. von P. Rubini und Ch. Möckel, Hamburg 2018, 3–58. 16 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1936), »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 29–104, 105–200; ders., »Geschichte der philosophischen Anthropologie« (1939/40), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, Hrsg. von G. Hartung und H. Kopp-Oberstebrink unter Mitwirkung von J. Faehndrich, Hamburg 2005, 3–190; im September 1939 hatte Cassirer an Åke Petzäll, den schwedischen Kollegen, geschrieben: »[…] ich weiß nicht, ob ich meine beiden Vorlesungen, die ich heute beginnen will, so wie ich sie gedacht habe, werde durchführen können – zumal sie zwei schwierige Themen (›Kulturphilosophie‹ und ›Philosophische Anthropologie‹) behandeln sollten.« – E. Cassirer an Å. Petzäll, 11. September 1939, in: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, in: ECB/ECN 18, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitarbeit von M. Lauschke, C. Rosenkranz und M. Simon-Gadhof, Hamburg 2009, 204; E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie , a. a. O., 191–346.

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

Obwohl die Philosophie Kants und teilweise auch die Hegels ebenso in den schwedischen Jahren (1935–1941) in zahlreichen Lehrveranstaltungen behandelt wurden,17 liegen uns davon keine nachgelassenen Manuskripte vor, vielleicht, weil sie routiniert auf Deutsch gehalten wurden. Seine Frau Toni führt in ihren Erinnerungen aus, daß Cassirer während seiner Lehrtätigkeit in der Muttersprache, an den deutschen Universitäten, in der Regel keine vollständigen Vorlesungsmanuskripte ausgearbeitet habe,18 auf die Kant betreffende Ausnahme haben wir bereits hingewiesen.19 Wie stellt sich nun der inzwischen vorliegende, Kant und Hegel gewidmete Oxforder und Yaler ›Vorlesungsskriptkorpus‹ dar?20 Zunächst haben wir es mit einer Merkwürdigkeit zu tun: Als Cassirer am 1. Oktober 1933 am All Souls College, Oxford, als Chichele Lecturer zu lehren beginnt, 21, bereitete ihm verständlicherweise das Sprachproblem Sorgen, er bemühte sich intensiv um Unterstützung beim Bewältigen der englischen Sprache.22 Wir wissen auch, 23 daß Cassirer im Michaelmas Term (Oktober bis Dezember 1933) mindestens eine oder zwei Lehrveranstaltungen in englischer

So veranstaltet Cassirer im Frühjahrssemester 1936 die Lehrveranstaltung »Geschichte und System des philosophischen Idealismus. Teil II: Begründung und Entwicklung des metaphysischen Idealismus« und ein Seminar zu »Kants Kritik der Urteilskraft« (Föreläsningar och Övningar vid Göteborgs Högskola, Vårterminen 1936, Göteborg 1935, 3 und 11); im Herbstsemester 1936 »Teil III. Kants System« (Idem, Höstterminen 1936, 1936, 11), im Frühjahrssemester 1937 »Teil IV: Kant und die Nachkantischen Systeme« (Idem, Vårterminen 1937, 1936, 10), im Frühjahrssemester 1939 »Die Philosophie Kants (Erfahrungslehre, Ethik, Aestetik)« und das Seminar zu »Kants Kritik der praktischen Vernunft« (Idem, Vårterminen 1939. Göteborg 1938, 11). 18 Toni Cassirer erinnert sich, daß Cassirer in den Vorlesungen, »wie er es […] gewohnt war, wenn er deutsch vortrug, frei und nur durch ganz wenige Notizen unterstützt [sprach].« – T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, a. a. O., 277. 19 Siehe Anm. 6 im vorliegenden Beitrag. 20 Im Folgenden stütze ich mich insbesondere auf Recherchen, die in ECN 16 und ECN 15 bereits abgedruckt wurden, siehe Editorische Hinweise sowohl in: E. Cassirer, Vorlesungen zu Hegels Philosophie der Moral, des Staates und der Geschichte, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 16, Hamburg 2013, 201 ff., als auch in: E. Cassirer, Vorlesungen und Vorträge zu Kant, in: ECN 15, a. a. O., 2016, 374 ff. 21 J.M. Krois, »Ernst Cassirer (1874–1945). Eine Kurzbiographie«, in: E. Cassirer, Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, in: ECB/ECN 18, a. a. O., XXXV. 22 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, a. a. O., 213; im Juli 1933 schreibt Cassirer aus Wien an Fritz Saxl: »Da aber jetzt die alte Shakespeare-Leidenschaft in mir wütet – ich habe jetzt das Sh[akespear]’sche Drama zum ersten Mal englisch gelesen und genossen – […]« – E. Cassirer an F. Saxl, 31. Juli 1933, in: ECB/ECN 18, a. a. O., 132. 23 Für eine Ankündigung der Lehrveranstaltung des Michaelmas Term 1933 in der Oxford University Gazette war es schon zu spät, als Cassirer seine Zusage gab, am All Souls College zu lehren. 17

Die Kant- und Hegelvorlesungen

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Sprache abgehalten hat, 24 die bereits erwähnte Leibnizvorlesung 25 und vermutlich wenigstens ein Seminar, auf das er in einem Brief an Moritz Geiger hinweist. 26 Dafür, daß er gemäß der Erinnerung seiner Frau seine »erste Oxforder Vorlesungsreihe […] eine Kantvorlesung […] in deutscher Sprache gehalten« hat,27 findet sich kein direkter Beleg in Form eines Skripts, einer Disposition oder einer Bemerkung in einem der Briefe, nur ein Indiz.28 In einem Brief vom 22. September 1933 an Malte Jacobsson teilt Cassirer mit: »Jetzt ist insofern die Entscheidung gefallen, als ich mich entschlossen habe, einer Einladung der Universität Oxford zu folgen, die mich aufgefordert hat, dort im nächsten Studienjahr Vorlesungen und Übungen zu halten. Da das Semester in Oxford schon Anfang Oktober beginnt, und da für meine Vorlesungen, insbesondere der sprachlichen Schwierigkeiten wegen, noch umfangreiche Vorarbeiten und Vorbereitungen nötig sein werden, so kann ich leider im gegenwärtigen Augenblick meine Absicht, nach Schweden zu kommen, nicht ausführen.« – E. Cassirer an M. Jacobsson, London, 22. September 1933, in: ECB/ECN 18, a. a. O., DVD. 25 Siehe Anm. 15. 26 Ende Oktober 1933 teilt Cassirer in einem Brief an Moritz Geiger mit, daß er Dienstags Abend am All Souls College ein »Seminar zu halten habe, das, da es in englischer Sprache gehalten wird, ziemlich intensive Vorarbeit erfordert«. – E. Cassirer an M. Geiger, Oxford, 28. Oktober 1933, in: ECB/ECN 18, a. a. O., DVD. 27 Die auf Deutsch vorgetragene Kant-Vorlesung sei nur von 42 Zuhörern besucht worden, was aber für All Souls eine Ausnahme an zahlreicher Zuhörerschaft bildete, deshalb habe ihr Mann den scheinbaren Mißerfolg mit dem Warden (Dekan) Prof. Adams besprochen, »der anscheinend gar nicht verstand, was Ernst eigentlich meinte. […] Ernst beschloß, die nächste Vorlesung in englischer Sprache zu halten, und erreichte durch die große Anspannung, die dies erforderte, eine weitgehende Beherrschung der Sprache.« – T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, a. a. O., 217. 28 In einer nicht datierten Dankesrede, die unter Bezugname auf die Einladung ans All Souls College an diesem bzw. vor Mitgliedern des College und dem Warden (Dekan) Adams, gehalten wurde oder werden sollte, geht Cassirer am Ende auf das von ihm empfundene Sprachproblem ein und bestätigt in gewisser Weise die Erinnerung Toni Cassirers, daß er eine erste Vorlesung bzw. Lehrveranstaltung möglicherweise doch auf Deutsch gehalten hat: »I therefore thought that I would venture to presume upon your patience in attempting to give these lectures in my own still very poor and perhaps very queer English. After many considerations and after having consulted the Warden of All Souls College, I think, it would be best, for the present at any rate, to deliver my lectures in German; I will try to speak slowly and distinctly so that my audience can follow me, as I hope, without any difficulty.« (E. Cassirer, »Dankesrede« [1933], in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 339–342, hier: 341 f.) Diese Dankesrede befi ndet sich ebenfalls unter den Materialien der Leibniz-Vorlesung, deren nachgelassenes englischsprachiges Vorlesungsskript mit einem »§ II.« beginnt, was die recht vage Spekulation erlaubt, Toni Cassirer könnte in ihrer Erinnerung die erste Oxforder Kant-Vorlesung mit dem ersten Vortrag der Leibniz-Vorlesung (§ I.) verwechseln, die Cassirer in deutscher Sprache gehalten hat, mit scheinbar mäßigem Zuhörererfolg, weshalb er im folgenden Vortrag (§ II) dann doch lieber ins Englische wechselte. Demnach müßte die Dankesrede einige Tage vor Vorlesungsbeginn (8. Oktober 1933) am All Souls College oder vor seiner Professorenschaft vorgetragen worden sein, was sich aber derzeit nicht belegen läßt. 24

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

Die im darauffolgenden Hilary Term (Januar bis März) 1934 angebotene, über das ganze Trimester gehende Vorlesung »Kant’s Moral Theory«29 hat Cassirer auf Englisch ausgearbeitet. Ihr folgt im Trinity Term (April bis Juni) 1934 die ebenfalls vollständige Vorlesung »The Moral Theory of Hegel«30 , die er auch in englischer Sprache zu Papier bringt und vorträgt. Für das Michaelmas Term (Oktober bis Dezember) 1934 findet sich in der Oxford University Gazette keine angekündigte Lehrveranstaltung, obwohl Cassirer in Oxford weilt.31 Im Hilary Term (Januar bis März) 1935 hält er die Vorlesung »Introduction to Kant’s Critical Philosophy«.32 Sie findet ihren Abschluß an Hand des Manuskriptes des Vortrags »The Fundamental Principles of Kantian Philosophy«, den Cassirer im Februar 1934 an der University of Reading präsentiert hatte.33 Für das Trinity Term (April bis Juni) 1935 fehlt erneut die Ankündigung einer Lehrveranstaltung, Cassirer betreibt in diesen Tagen bereits intensiv seine Übersiedelung nach Göteborg, Schweden, wo er vom Herbstsemester 1935 bis zum Frühjahrssemester 1941 lehren wird. Im Frühsommer 1941 siedeln die Cassirers aus Schweden nach den USA über. Cassirer hatte das Angebot einer Gastprofessur für zwei Jahre an der Yale University, New Haven, angenommen. Die Einladung, die aus akademischem Interesse am Sprachphilosophen Cassirer erfolgt war, der in Amerika beileibe kein Unbekannter war,34 hatte der Head of the Department of Philosophy, Professor Charles Hendel, ausgesprochen.35 Als Gastprofessor Oxford University Gazette, 8 December 1933, Faculty of Social Studies, Lecture List of Hilary Term, 1934. Philosophy, p. 273; siehe E. Cassirer, »Kant’s Moral Theory«, in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 3–158; im Ms. selbst ist die Rede von »Kant’s moral philosophy«, ebd., 3, 4. 30 Oxford University Gazette, Friday 16 March 1934, Trinity Term, 1934: Schedule of Lectures authorized by Boards of Faculties & Studies: Faculty of Literae Humaniores, Lecture List for Trinity Term, 1934, p. 496; siehe E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 3–118. 31 E. Cassirer an M. Jacobsson, Wien, 8. August 1934, in: ECB/ECN 18, a. a. O., DVD; E. Cassirer an F. Medicus, 28. September 1934, in: ebd., DVD. 32 Oxford University Gazette, Friday 13 December 1934, Lecture List for Hilary Term 1935: Philosophy, 282; siehe E. Cassirer, »Introduction to Kant’s Critical Philosophy«, in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 187–267. 33 Ein zeitgenössisches Plakat gab bekannt: »University of Reading. Th ree Public Lectures will be given at the University. On Thursday, at 5.30 p.m., at follows: – […] On February 22, 1934, The Fundamental Principles of Kantian Philosophy by Professor Ernst Cassirer (Lately Professor of Philosophy in the University of Hamburg)«; siehe E. Cassirer, »The Fundamental Principles of Kantian Philosophy«, in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 159–186. 34 Th . Meyer, Ernst Cassirer (Hamburger Köpfe), 2. Aufl., Hamburg 2007, 234 ff. 35 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, a. a. O., 278, 294 f.; Die Gastprofessur, 29

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an der Yale University nimmt Cassirer im Herbst sowohl seine Lehrtätigkeit zu Kant als auch zu Hegel wieder auf, auf die wir uns hier thematisch beschränken.36 So hält er ab Ende August 1941 – d. h. im Fall Term 1941/42 – die sich nicht über das ganze Semester erstreckende Vorlesung »The Philosophy of Kant« für die Graduate Courses.37 Für die im Fall Term 1941/42 und Spring Term 1942 gemeinsam mit den Kollegen Charles Hendel und Hajo Holborn, einem aus Deutschland stammenden Historiker, ebenfalls für fortgeschrittene Studenten der Graduate School durchgeführte Lehrveranstaltung »The Philosophy of History. The Philosophy of History and the Significance of History for Philosophy«,38 fertigt er für die Hegel gewidmeten Sitzungen sowohl Aufzeichnungen unter dem Titel »Hegel-Seminar Yale 1941/42«39 als auch den Seminarvortrag »Some Remarks on Hegel’s Theory of the State« an, den er am 4. Februar 1942 hält. 40 Ein weiterer Seminarvortrag, der vermutlich einige Sitzungen vorher gehalten wurde, ist Kant gewidmet: »Some Remarks on Kant’s Philosophy of History«. 41 Im ersten Yaler Studienjahr 1941/42 gibt Cassirer zudem noch in Form einer Vorlesung das »Seminar in the Philosophy of Language and the Principles of Symbolism«, welches Problemen der Philosophischen Anthropologie gewidmet ist und deren Skript in ECN 6 abgedruckt wurde. Im folgenden Studienjahr 1942/43 veranstaltet Cassirer im Fall Term 1942/43 das Seminar »Modern Idealism: Kant«, an das sich im Spring die Ende Juni 1943 endete, konnte nicht verlängert werden, Dank der Bemühungen Hendels wurden jedoch über die American Philosophical Association Mittel gefunden, die es dem 69-jährigen Cassirer ermöglichten, noch ein weiteres Jahr als Research Associate in Yale zu wirken. Im Januar 1944 erhielt er eine Einladung an die Columbia University New York, für ein Jahr eine Gastprofessur zu übernehmen, so daß er sein letztes Jahr als Hochschullehrer in New York verbrachte. 36 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, a. a. O., 327; siehe dazu auch E. Cassirer an S.K. Langer, 8. April 1944, in E. Cassirer, ECB/ECN 18, a. a. O., 232 f., und E. und T. Cassirer an D. Baumgardt, New Haven, 22. April 1944, ebd., DVD. 37 Yale University Graduate School, XXIX, Philosophy, Faculty, Description of Courses, Graduate Courses 1941–42, 182; siehe E. Cassirer, »The Philosophy of Kant«, in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 268–322. 38 »Ich soll gemeinsam mit ihm [Charles Hendel – C.M.] und einem Historiker [Hajo Holborn – C.M.] ein Seminar über Geschichtsphilosophie leiten …« – E. und T. Cassirer an M. Jacobsson, 13. Juni 1941, in: E. Cassirer, ECB/ECN 18, a. a. O., 218; Yale University Graduate School, XXIX, Philosophy, Faculty, Description of Courses. Graduate Courses, 1941–42, 182. 39 E. Cassirer, »Hegel-[…]Seminar Yale 1941/42«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 131–157. 40 E. Cassirer, »Some Remarks on Hegel’s Theory of the State«, in: ebd., 178–193. 41 E. Cassirer, »Some Remarks on Kant’s Philosophy of History«, in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 343–352.

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

Term 1943 das Seminar »Modern Idealism: Post-Kantian and Hegel« anschließt. 42 Während für den Kant-Teil keine Aufzeichnungen zur Verfügung stehen, fertigt Cassirer zu Hegel das Seminar vorbereitende Aufzeichnungen an, die er unter dem Titel »Seminar 1942/43 Zu Hegel’s Staatstheorie«43 gemeinsam mit den Hegels Philosophie der Geschichte gewidmeten Blättern von 1941/42 aufbewahrt.44 Auf den Blättern dieses Seminarmaterials stellt Cassirer vielfältige, sehr konkrete Bezüge zur Oxforder Hegelvorlesung von 1934 her, die gemeinsam mit ihnen aufbewahrt wird. Wie auch die Oxforder Hegel-Vorlesung dienen ihm die Aufzeichnungen aus beiden Hegel-Seminaren wenig später bei der Konzipierung des umfangreichen Hegel-Kapitels in seinem letzten Werk The Myth of the State (1946), das allerdings nach seinem plötzlichen Tode am 13. April 1945 von Brand Blanshard im Auftrage Hendels noch einmal überarbeitet wird. 45 Im Studienjahr 1943/44, seinem letzten Jahr in Yale, führt Cassirer für die Graduate Courses das »Seminar in the Theory of Knowledge« durch, für das er den Vortrag »Kant‘s Theory of Causality« ausarbeitet und hält. 46 Diese Lehrveranstaltung gestaltet der Research Associate erneut gemeinsam mit den Professoren Charles Hendel und Filmer S.C. Northrop, den Assistent Professors Frederic B. Fitch und Charles L. Stevenson und dem Instructor Monroe C. Beardsley. 47 Die beiden letzten Lehrveranstaltungen seines Lebens, die Cassirer 1944/45 an der Columbia University New York durchführt, tragen die Titel »The Origin and Nature of the Political Myth« (Lecture) und »Philosophical Anthropology: an Introduction to the Philosophy of Culture« (Seminar). 48 Die beiden Lehrveranstaltungen ›Modern Idealism‹ sind im Studienjahr 1942/43 auch für die Undergraduate Courses angezeigt (Yale University Graduate School, XXIX, Philosophy, Faculty, Description of Courses, Undergraduate Courses, 1942–43, 113), sie werden 1943/44 ein weiteres Mal für die Undergraduate Courses veranstaltet (Yale University Graduate School, XXIX, Philosophy, Faculty, Description of Courses, Undergraduate Courses, 1943, 119). 43 E. Cassirer, »Seminar 1942/43. Zu Hegel’s Staatstheorie«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 158–177. 44 Obwohl aus dem Manuskript selbst keine eindeutige Zuordnung zu dem Seminar »Modern Idealism: Post-Kantian and Hegel« hervorgeht, ist dieses 191942/43 die einzige Lehrveranstaltung Cassirers, in der Hegel einen der Gegenstände ausmacht. 45 Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte von The Myth of the State und der Bearbeitung des Hegel-Kapitels (Chap. 12) siehe E. Cassirer, Zu Philosophie und Politik. Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, in: ECN 9, Hamburg 2008, 343–347. 46 E. Cassirer, »Kant’s Theory of Causality«, in: ECN 15, a. a. O., 323–335. 47 Yale University Graduate School, XXX, Philosophy, Faculty, Description of Courses, Graduate Courses, 1943–44, 189. 48 »Cassirer, German Scholar, Appointed Visiting Professor«, in: Columbia Daily Spectator, Volume LXVII, Number 48, 4 August 1944, 4. Während sich die Vorlesung 42

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2. Die Kantvorlesungen a. Oxforder Kantvorlesungen (1933–1935) Während die Kant gewidmeten Berliner und Hamburger Lehrveranstaltungen bis auf kleine Ausnahmen49 sich vor allem mit der theoretischen Philosophie bzw. der Erkenntnistheorie befaßten, so ist die 1934 in Oxford gehaltene, 278 Manuskriptseiten umfassende, an vermutlich sieben (von möglichen acht) Unterrichtstagen vorgetragene Vorlesung »Kant‘s Moral Theory« die umfangreichste Darstellung der praktischen Philosophie Kants in einer Lehrveranstaltung.50 Wobei Cassirer sich ausführlich bemüht zu begründen, daß die praktische Philosophie Kants nicht ohne die theoretische – und umgekehrt – zu verstehen und zu würdigen ist. Er stellt sich hier die Aufgabe, die Moralphilosophie Kants mit Bezug auf das ganzheitliche kritische System zu entwickeln, da dieses nicht in separate Teile zerfalle und Kant auf die Einheit des Systems immer großen Wert gelegt habe. Ein schwieriges methodisches Darstellungsproblem der Moralphilosophie Kants sieht Cassirer darin, daß ihr Zweck nicht bloß in einer logischen Form ausgedrückt ist, sondern von dieser Form regelrecht abhängt: Logik und Ethik bildeten bei Kant eine organische Einheit des Systems.51 Um praktische und theoretische Philosophie aufeinander zu ganz offensichtlich auf die Ausarbeitungen zu seinem letzten Buch, The Myth of the State (1946), stützt, von denen der nicht veröffentlichte, nachgelassene alternative Teil »The Myth of the State. Its Origin and Its Meaning. Th ird Part: The Myth of the Twentieth Century« 2008 veröffentlicht wurde (siehe ECN 9: Zu Philosophie und Politik, a. a. O., 167–224), scheint sich das Seminar an den Ausarbeitungen zum Werk An Essay on Man (1944) zu orientieren, zu denen neben der Vorlesung »Seminar in the Philosophy of Language and the Principles of Symbolism« (siehe ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 191–346) vor allem das Manuskript »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« gehört (siehe ebd., 347–636), welches nach einer letzten Umarbeitung 1944 mit dem Untertitel »An Introduction to a Philosophy of Human Culture« erschienen war. 49 Die Lehrveranstaltung »Kants System«, die Cassirer z. B. im WS 1917/18 in Berlin abhält (siehe Anm. 6 im vorliegenden Beitrag), umfaßt Erkenntniskritik, Ethik und Ästhetik und es dürfte kein Zufall sein, daß er zu dieser Zeit gerade seinen Band Kants Leben und Lehre (1918) abgeschlossen hat. Diese Lehrveranstaltung wird im WS 1926/27 »in Verbindung mit Übungen zur Kritik der reinen Vernunft« wiederholt, und noch einmal im SS 1931. Im SS 1921 bietet Cassirer in Hamburg »Übungen über Grundfragen der Ethik (im Anschluß an Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten)« an, auch diese »Übungen« werden im SS 1927 widerholt, im Grunde noch einmal im WS 1930/31. 50 Siehe Anm. 29 im vorliegenden Beitrag. 51 E. Cassirer, »Kant’s Moral Theory« (1934), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 5.

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beziehen, führt Cassirer die Moralphilosophie auf ihre theoretische Quelle zurück und bestimmt ihren Platz in der Architektur des Systems. Wegen dieses systematischen Ansatzes stützen sich Cassirers Ausführungen nicht nur auf die englischen Ausgaben der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Abbott),52 sondern auch auf die der Kritik der reinen Vernunft (Müller)53 und der Prolegomena (Carus)54 . Cassirer tritt der landläufigen Meinung entgegen, Kants kritische Philosophie stelle eine Versöhnung von Sensualismus und Rationalismus dar, vielmehr betont er die originären, neuen Fragestellungen und Antworten Kants.55 In seine Ausführungen bezieht er allerdings die neuste Kantforschung in Deutschland und England ebensowenig ein wie seinen eigenen Ansatz einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹. Allerdings darf Cassirer 1934 unter seinen Oxforder Hörern wohl auch kaum Kenntnisse seiner Symbolphilosophie voraussetzen. Was an der Vorlesung weiter auffällt, ist, daß, im Unterschied zu der im nächsten Trimester folgenden Vorlesung »Hegel’s Moral Theory«, in der gleichlautenden Kant-Vorlesung – bis auf eine kurze Stelle56 – keine Bezüge zu Kants politischer Philosophie bzw. zur politischen Realität der beginnenden 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hergestellt werden. Mit seinen inhaltlichen Ausführungen, die hier nicht resümierend wiedergegeben werden können, beansprucht Cassirer, zunächst die theoretischen Grundlagen der Moralphilosophie Kants zu entwickeln, und dies ausgehend von der Idee der Freiheit, die auf unterschiedliche Weise in allen drei »Kritiken« vorzufinden ist und sie vereint.57 Cassirer, der sich vor allem mit der »Analytik der reinen praktischen Vernunft« befaßt, macht auf Verständnisschwierigkeiten aufmerksam, die sich aus Kants Moraltheorie ergeben, so wenn dieser die Freiheit des Willens und die Geltung eines allgemeinen moralischen Gesetzes nicht beweist, sondern nur als faktisch I. Kant, Critique of Practical Reason and Other Works on The Theory of Ethics, Translated by Th . K. Abbott, 6th Edition, London 1909 (5th Edition. London/New York/Bombay 1898). 53 I. Kant, Critique of Pure Reason, Second Part containing Kant’s Critique, Trans[lated] by F. M. Müller. London 1881; ders., Critique of Pure Reason, In Commemoration of the Centenary of its First Publication, Translated into English by F. M. Müller (1896), Second Edition, Revised, London 1907. 54 I. Kant, Prolegomena to any future Metaphysics, Edited in English by P. Carus, Chicago / London 1902. 55 E. Cassirer, »Kant’s Moral Theory« (1934), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 15 ff. 56 Siehe Anm. 64 im vorliegenden Beitrag. 57 E. Cassirer, »Kant’s Moral Theory« (1934), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 33 ff. 52

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gegeben anzunehmen fordert. Einen empirischen Beweis für die Realität der Freiheit und der moralischen Pflicht dürfe bei Kant auch gar nicht gesucht werden, da es sich bei ihnen um Fakten ausschließlich in einer Vernunftordnung handele. Diese ›formalen‹ und nicht ›materialen‹ Fakten seien allein eines transzendentalen Beweises zugänglich. Auch die Entbindung des freien Willens von allen sinnlichen Bedingungen und das dem Willen Zuschreiben der Fähigkeit, sich gemäß eines allgemeinen Gesetzes selbst zu bestimmen, könnte so ausgelegt werden, daß Kant, anstatt das Rätsel zu lösen, einfach den Gordischen Knotens durchgehauen habe, woraus sich skeptische Folgerungen ergeben, die Cassirer in seinen Erläuterungen allerdings zu zerstreuen sucht.58 Nachdem der erste Teil der Vorlesung sich vornehmlich mit dem Problem der »Form und der Methode von Kants Ethik« befaßt hat,59 wendet sich Cassirer im zweiten Teil den »Inhalten der Moralphilosophie Kants« zu.60 Diese würden Kants Gegner und Kritiker wegen des Formalismus seiner Ethik regelrecht abstreiten. In der Tat habe Kant auf dem Begriff der Form bzw. der Formel als einem zentralen Begriff seines Systems bestanden, benutze ihn aber in mehrfacher Bedeutung. Für die Ethik lehne er, wie schon angedeutet, jegliche materialen Prinzipien ab, da sie den Willen an Gegenstände binden würden. Cassirer scheint diesen Kantischen ›Formalismus‹ mit Verweis auf gewisse Unterschiede in der praktischen und theoretischen Sphäre zu verteidigen. So bilde dann auch die Formel des kategorischen Imperativs das erste Prinzip, das Zentrum von Kants Ethik. 61 Im Folgenden gibt Cassirer eine Erläuterung der spezifischen systematischen Bedeutung der Formel vom Kategorischen Imperativ, deren rein verbal genommener Ausdruck allerdings viele Schwierigkeiten auf sich ziehe. So habe Kant in ihr nie ein neuartiges moralisches Prinzip sehen wollen, sondern lediglich die analytisch aufgeklärte Maxime des gesunden Menschenverstandes. Den Kant gemachten Vorwurf des Logizismus und ethischen Rigorismus teilt Cassirer nicht. Manche der Interpretationsprobleme resultierten aus der Verwechselung des kategorischen Imperativs mit einem empirischen Prinzip. Bei Kant gehe es aber ausschließlich um die Maximen des Willens, nicht um seine wirklichen Taten und deren Resultate. Auch aus Kants Bestimmung des Guten Willens als absolut widerspruchslos mit sich selbst resultierten gewisse interpretatorische Schwierigkeiten. 62 Um E. Cassirer, »Kant’s Moral Theory« (1934), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 52. 59 Ebd., 3–60. 60 Ebd., 60–158. 61 Ebd., 78 ff. 62 Ebd., 84. 58

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sie zu entkräften erläutert Cassirer den Unterschied zwischen empirischer (vergleichender) und vernünftiger Allgemeinheit, wobei Kants Moraltheorie allein letztere im Blick habe und folglich auf Erkenntnisse seiner theoretischen Philosophie aufbaue. Diese fasse Allgemeinheit als Bestimmung der Vernunft auf, die keines Beweises bedarf. In diesem Sinne handle Kants Moralphilosophie vom allgemeinen Willen und von praktischen Gesetzen, die es in der empirischen Erfahrung ebensowenig gebe wie theoretische Gesetze der Natur. Mit seiner Theorie des reinen Willens habe Kant alle bisherigen Ethiken als ihre Zwecke unzureichend erfüllende Lehren abgewiesen und eine ›Revolution‹ der ethischen Theorie vollzogen, die nicht mehr am Einzelwillen ansetzt. 63 Jeglicher Wert der sozialen Formen des Zusammenlebens gründe nach dieser neuen Ethik allein im Wert des reinen guten Willens, der moralischen Pfl icht und des kategorischen Imperativs. So könne die Menschheit ihre moralischen Zwecke zwar nur innerhalb des Staates verwirklichen, dennoch enthalte der Staat keinerlei unbedingten Wert, der absolute ethische Superiorität beanspruchen könnte. Den Wert des Staates sieht Kant ausschließlich darin, das Mittel zur Realisierung der Freiheit zu sein, einen eigenen moralischen Endzweck bilde er keineswegs. 64 Da sich das Grundprinzip dieser Ethik in keiner empirischen Erfahrung fi ndet, müsse das wahre Subjekt des moralischen Gesetzes woanders gesucht werden: Kant lenke in weiteren Formulierungen des Kategorischen Imperativs die Geltung des allgemeinen Prinzips auf jede einzelne Person, die nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandelt werden müsse. 65 Mit dieser Formel des Kategorischen Imperativs, die die Idee der Autonomie der Person ins Spiel bringe, überschreite Kant den Bereich der formalen Logik. Cassirer hält diejenigen Seiten der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, auf denen Kant diese Bedeutung des moralischen Grundprinzips erläutert, für die »vielleicht bedeutsamsten und eindrucksvollsten im gesamten literarischen Werk Kants«, sie brächten sein Konzept des ›Weltbegriffs‹ der Philosophie zu klarstem und vollkommensten AusEbd., 93. Ebd., 97 f. 65 »So act as to treat humanity, whether in thine own person or in that of any other, in every case as an end withal, never as means only.« – I. Kant, On the fundamental principles of the Metaphysic of Morals, in: Critique of Practical Reason and Other Works (Abbott), a. a. O., 47; »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« – I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke. In Gemeinschaft mit H. Cohen, A. Buchenau, O. Buek, A. Görland, B. Kellermann hrsg. von E. Cassirer. 10 Bde. Berlin 1912–1922, Bd. 4, Berlin 1913, 287. 63

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druck. 66 Der tiefe Dualismus seines Systems, der sich zwischen der Welt der Dinge und der der Personen auft ut, erfahre hier seine genaueste und adäquateste Beschreibung, die gleichzeitig den Vorwurf des ›Formalismus‹ der Kantschen Ethik überzeugend widerlege. Dem von Kant propagierten resoluten Individualismus liege allerdings der transzendentale, nicht der psychologische Sinn des Selbst zugrunde. Die Persönlichkeit als das ursprüngliche Recht eines jeden vernünftigen Wesens dürfe, so Kants wichtige Einsicht, in keiner Weise von irgendwelchen empirischen Bedingungen des Lebens abhängen bzw. dürfe keinerlei Abstufungen erfahren. Der an Hand des Kategorischen Imperativs durchschrittene Argumentationskreis führt Cassirer dann an den Ausgangspunkt, die Verteidigung der Idee der Freiheit durch Kants Ethik, zurück. Die kritische Analyse dieser Idee zeitige aber ein Resultat, das den Voraussetzungen von Kants System scheinbar widerspricht, hatte sich doch der Kritizismus grundsätzlich gegen jeglichen Dogmatismus gewandt, der glaubte, durch bloße Begriffsanalyse die übersinnliche Welt zugänglich machen zu können. Kants Aussage, daß die Idee der Freiheit das einzige Verbindungsglied zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt ausmache, wird von Cassirer im Folgenden Schritt für Schritt erklärt und erläutert, u. a. durch den Rückblick auf das in der Kritik der reinen Vernunft behandelte Verhältnis von Phänomena und Noumena. Im Zuge dieser Erläuterungen gesteht Cassirer zu, daß die durch Kant gebrauchte Sprache und Terminologie einer präzisen Unterscheidung der Bedeutungen von sinnlicher und intelligibler Welt nicht wirklich angemessen sei. Insbesondere der Terminus ›Dinge an sich‹ wird von Cassirer moniert, da er zu Verwechselungen mit den passiven Dingen der sinnlichen Welt führe. 67 Cassirer legt den Nachdruck vielmehr auf den »auffallenden »The pages in which Kant has explained and developed this meaning of the fundamental principle are perhaps the most significant and most impressive in the whole literary work of Kant; they are those in which the true ›cosmical concept‹ of Kant’s philosophy has come to its clearest and most perfect expression.« – Ebd., 104. 67 Wenn Cassirer hier von der Gefahr von Verwechselungen spricht, hat er vielleicht an die Worte Moritz Schlicks gedacht, aus einem Brief im Jahre 1927, die sich auf dessen Werk Allgemeine Erkenntnislehre (1. Aufl. 1918, 2. Aufl. 1925) beziehen: »Daß mein Begriff des transzendenten Dinges sich nicht mit dem Kantischen deckt, ist natürlich richtig und sogar selbstverständlich. […] Erstens nämlich ist es nicht ein von Kant eingeführter terminus technicus, sondern ich glaube das Wort ungefähr in der Bedeutung zu gebrauchen, wie es vor Kant verwendet wurde. Zweitens scheint mir der Sinn, den das Wort bei Kant hat, gänzlich unmöglich zu sein aus Gründen, die ich mehrfach auseinandergesetzt und […] gegen den Begriff des unerkennbaren transzendenten Dinges geltend gemacht habe. Daß mein Begriff des Dinges an sich mit dem Kantischen des empirischen Gegenstandes zusammenfällt, trifft im großen Ganzen zu, […] – M. Schlick an E. Cassirer, 30. März 1927, in: ECB/ECN 18, a. a. O., 95. 66

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Unterschied«, der sich bei Kants Handhabung der Methode in der theoretischen und in der praktischen Philosophie offenbare. Die praktische Idee der Freiheit führe uns nämlich in eine Realität jenseits der sinnlichen Welt, die zwar unerreichbar ist für unsere Erfahrung, keineswegs aber eine transzendente, sondern eine immanente Realität ausmache. Zur Erläuterung legt Cassirer noch einmal Kants Vergleich des moralischen Gesetzes mit dem Sternenhimmel aus, wie er sich am Ende der Kritik der praktischen Vernunft findet. 68 Dafür kehrt er in die ursprüngliche Frontstellung der kritischen gegenüber der dogmatischen Philosophie zurück und endet mit der Überzeugung, daß die empirische soziale Welt ohne die Annahme eines leitenden, selbstevidenten universalen, überempirischen moralischen Prinzips bzw. Gesetzes Gefahr laufe, in Selbstzerstörung zu versinken. Die ein Jahr später an fünf oder sechs Unterrichtstagen gehaltene, auf 156 Ms.-Seiten niedergeschriebene Oxforder Vorlesung »Introduction to Kant’s Critical Philosophy«, 69 deren Abschluß rund 30 Blätter des insgesamt 62 Ms-Seiten umfassenden Readinger Vortrags »The Fundamental Principles of Kantian Philosophy« bilden,70 wiederholt im Grunde das Bemühen, den inneren, unauflösbaren Zusammenhang der theoretischen und praktischen Philosophie Kants darzulegen und zu begründen, konzentriert sich diesmal jedoch auf die theoretische Philosophie. Eine »Einführung« in das kritische System Kants, so Cassirer, könne man in einem zweifachen Sinne verstehen: entweder soll sie einen vorläufigen Überblick über die in diesem System enthaltenen philosophischen Fragen und Antworten geben, was aber ein Verfahren ist, das gewisse Gefahren impliziere, da weder Ursprung noch systematischer Zweck des Systems aufgeklärt werden könne. Oder, und dies habe Kant selbst gefordert, eine »Einführung« vermittelt die systematische Einheit des Denkens, wie dies bereits Descartes für die Einheit der Vernunft in Wissenschaft und Philosophie versucht habe, wie dies aber auch für die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft zu gelten habe. Im Weiteren legt Cassirer dar, wie sich Kant durch seine Forderung, theoretische Erkenntnis müsse zwar auf a priori Prinzipien der Vernunft beruhen, dürfe aber nicht ausschließlich reine Erkenntnis sein, vom Dogmatismus seiner rationalistischen Vorgängern abhebt. Bei Kant erwiesen sich die intellektuellen Vermögen des kritischen Denkens keineswegs als I. Kant, Critical Examination of Practical Reason, in: Critique of Practical Reason and Other Works (Abbott), a. a. O., Conclusion, 260; I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft , in: Werke, Bd. 5, Berlin 1914, Beschluß, 174 f. 69 Siehe Anm. 32 im vorliegenden Beitrag. 70 Siehe Anm. 33 im vorliegenden Beitrag. 68

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einfache Fortsetzung des gesunden Menschenverstandes. Im Gegenteil, dieser habe über philosophische Prinzipien nicht zu befinden, deshalb müßten sich »die Natur, die Prinzipien und Methoden deren Untersuchung« grundlegend wandeln zur »transzendentalen Analyse.71 Im Folgenden werden die Struktur der Kritik der reinen Vernunft und die Funktionen ihrer jeweiligen Abteilungen erläutert. Kants Kritik des gesunden Menschenverstandes, zu deren Illustrierung auch die Prolegomena herangezogen werden, habe »eine große Zahl der Kant-Kommentatoren« nicht beherzigt, auch in der »deutschen philosophischen Literatur« fänden sich dafür viele Beispiele, aus denen mißlungene »Einführungen« in Kants Philosophie resultierten.72 Mit seiner »Einführung« will Cassirer nicht den Weg einer Popularisierung beschreiten. Vielmehr will er die Hörer »ins Zentrum seiner Philosophie, zu denjenigen Wesensfragen führen, bei denen Kants Gedanken sich von all seinen Vorgängern unterscheiden und bei denen er überzeugt ist, einen neuen Weg für die Metaphysik vorbereitet zu haben«.73 Dies meint natürlich die ›Kopernikanische Wende‹. Im Folgenden stellt Cassirer Gemeinsamkeiten und Differenzen Kants mit den rationalistischen wie sensualistischen Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts (Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolff, Locke, Berkeley, Hume) heraus, u. a. in der Frage nach der Realität der Außenwelt. Er lenkt diese Erläuterungen hin zu den drei von Kant neu gestellten Fragen nach der Möglichkeit reiner Mathematik, reiner Naturwissenschaft und Metaphysik. Von ihnen geht er zunächst zur Klärung der »speziellen Frage« nach dem Charakter von Raum und Zeit und damit zur sich von den Vorgängern bzw. von Newton abhebenden Lösung in der »Transzendentalen Ästhetik« über. Viele Kantkritiker, unter ihnen der Symbolischen Logik anhängende zeitgenössische Mathematiker wie Bertrand Russel, hätten Kants transzendentale Fragestellungen hinsichtlich der Arithmetik nicht immer klar von psychologischen und logischen Fragestellungen unterschieden. Die Hauptfrage der »Transzendentalen Analytik«, die Frage nach der Möglichkeit reiner Naturwissenschaft, wird – mit Bezug auf Newtons Wissenschaftsbegriff – ebenso behandelt wie die Rolle der Erfahrung für die wissenschaft»[…] we have to change the nature, the principles and methods of this investigation. We have to add a new power and dimension: that specific power that is called by Kant the power of transscendental analysis.« – E. Cassirer, »Introduction to Kant’s Critical Philosophy« (1934), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 193. 72 Ebd., 196 f. 73 »It must go ahead to the centre of this philosophy, to that essential question by which Kant thinks to differ from all his predecessors and by which he is convinced to have prepared a new way for Metaphysics.« – Ebd., 197. 71

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liche Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetze. In dem Zusammenhang erklärt Cassirer den Unterschied von transzendentaler und formaler Logik und gibt, um das Problem der Objektivität in der kritischen Philosophie zu thematisieren, Ausblicke auf die »Transzendentale Methodenlehre«. Desweiteren macht er innerhalb der Abteilung »Transzendentale Analytik« Ausführungen zum Realitätsproblem bei Kant, bei den Sensualisten und den Rationalisten und zu Kants Haltung gegenüber deren Positionen. Am Ende streift Cassirer noch einige Fragen der »Transzendentalen Dialektik«, ehe er zur Ethik Kants und damit zu dessen praktischer Philosophie übergeht. Bereits im Hauptstück »Die Architektonik der reinen Vernunft« (d. h. in der »Transzendentalen Methodenlehre«) habe Kant vom ›logischen‹ Vernunftgebrauch den ›weltlichen‹ unterschieden, was in der Kritik der praktischen Philosophie als Unterschied zwischen logischem und praktischem Ideal (bzw. Philosophiebegriff ) ausgeführt werde. Von der ethischen Theorie Kants könne in der Vorlesung jedoch nur ein allgemeiner Überblick skizziert werden, um die allgemeine Beziehung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu erklären. Dies lasse ihn, Cassirer, wieder zum allgemeinen Ergebnis der »Transzendentalen Analytik« zurückzukehren, wonach der Verstand als Gesetzgeber der Natur zu gelten habe. Diese Selbstgesetzgebung des Verstandes bewähre sich eben auch im Reich des menschlichen Willens. Hier greift Cassirer nun auf die zweite Hälfte seines an der University of Reading gehaltenen Vortrags zurück,74 bei dem er auch die Kantübersetzung von John P. Mahaff y (und John H. Bernard) erwähnt,75 aber meist die bereits angeführten Abbott-Übersetzungen verwendet. Auf den Seiten des Vortragsmanuskriptes wird Kants mehrschichtige Freiheitslehre, weil in theoretischer wie praktischer Philosophie ihren Platz habend, erläutert. Der moralische Wille erweise sich gleichzeitig als autonomer und als selbstgesetzgebender Wille, zudem werden die unterschiedlichen Bedingungen für moralische und theoretische Urteile ebenso zur Sprache gebracht wie der Kategorische Imperativ.

Siehe Anm. 33 im vorliegenden Beitrag. Die erste Hälfte (rund 34 Blätter von 62) des Vortrages war der theoretischen Philosophie gewidmet und zieht die Kritik der reinen Vernunft (Übersetzung durch M. Müller) und die Prolegomena (Übersetzung durch Carus) heran. 75 I. Kant, Critical Philosophy for English Readers, Vols. 1/2, By J.P. Mahaff y and J.H. Bernard, New York 1889 (Vol. 1). 74

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b. Yaler Kantvorlesungen (1941–1944) Die 82 Manuskriptseiten umfassende, an vermutlich vier Unterrichtstagen im Oktober 1941 in Yale gehaltene Vorlesung »The Philosophy of Kant«76 enthält Cassirers letzte – bekenntnisartige – Zusammenfassung der Bedeutung von Kants Philosophie, allerdings beschränkt sie sich auf dessen theoretische Philosophie.77 Wie schon in den anderen Kant gewidmeten Vorlesungen stellt Cassirers auch in dieser keinen Bezug zur seiner eigenen ›Philosophie der symbolischen Formen‹ her, sondern widmet sich unmittelbar »einem der bedeutendsten und einem der interessantesten Phänomene« in der Geschichte der Philosophie.78 In der modernen Entwicklung von Philosophie, Wissenschaft und Kultur komme Kant mit seinen neuen Antworten auf die den menschlichen Geist seit jeher beschäftigenden Fragen eine analoge Rolle zu wie Platon und Aristoteles in der griechischen Antike und im Mittelalter. Daran hätten auch die unzähligen Attacken seiner Gegner nichts ändern können. Kant habe aber nicht nur neue Antworten auf alte Fragen gegeben, sondern auch der Forschung einen völlig neuen Weg, eine völlig neue Methode eröffnet, was für die Originalität seines Denkens stehe. Cassirer setzt sich mit der – von ihm nicht geteilten – Auffassung auseinander, Kants Methode und System seien von der Entwicklung überholt worden, besäßen allein noch einen historischen Wert. Allerdings habe es Kant selbst verworfen, ihm bzw. seiner Philosophie eine »dogmatische Autorität« zuzuschreiben, wie dies eine Zeit lang nach seinem Tode in der deutschen Philosophie geschehen ist, was sich aber in den letzten Dekaden, d. h. im 20. Jahrhundert, wieder geändert habe.79 In dem Zusammenhang befaßt sich Cassirer mit der englischsprachigen Rezeption Kants, speziell mit den Kantkommentaren von Norman Kemp Smith80 , Herbert James Paton81 und Alfred Cyril Ewing. 82 Er hebt Siehe Anm. 37 im vorliegenden Beitrag. Möglicherweise schlossen sich an die eigentliche Vorlesung noch einige Wochen philosophische Übungen an, oder es sind nicht alle Blätter des Skripts der Vorlesung überliefert. Cassirer selbst spricht zu Beginn der Vorlesung von einem ›Seminar‹, in dem die Philosophie Kants studiert werden solle. – E. Cassirer, »The Philosophy of Kant« (1941/42), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 268. 78 »[…] one of the most important and one of the most interesting phenomena that has ever appeared in the history of philosophy […]« – Ebd., 268. 79 Ebd., 270. 80 N. Kemp Smith, A commentary to Kant’s »Critique of pure reason«, London 1918 (2nd Edition 1929). 81 H.J. Paton, Kant’s Metaphysic of Experience, A Commentary on the First Half of the »Kritik der reinen Vernunft«, In Two Volumes, Vol 1, London 1936. 82 A.C. Ewing, A short commentary on Kant‘s Critique of pure reason, Chicago 1938. 76

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die gewachsene Beschäftigung mit Kant in der englischen bzw. englischsprachigen Literatur hervor, zu der auch der durch seinen Sohn Heinrich Cassirer publizierte Kommentar zur Kants Kritik der Urteilskraft gehöre. 83 Die sich in vielen Ländern abzeichnende »kontinuierliche Renaissance der Kantstudien«84 widerspreche ganz klar der These vom rein historischen Wert der Philosophie Kants. Cassirer weist auf die Schwierigkeit bei Kantstudien hin, daß nahezu alle nachfolgenden philosophischen Schulen (Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Fries) sich um einen eigenen Zugang zu dessen Philosophie bemüht und sich oft als ›Kantschüler‹ verstanden oder ausgegeben hätten, in Wirklichkeit als Metaphysiker aber entscheidend von ihm abgewichen seien. Im ›Postkantianismus‹ seien den Metaphysikern dann die Kommentatoren bzw. Kant-Philologen gefolgt. Cassirer setzt sich anschließend kritisch mit der – deutschen – KantPhilologie und deren Ergebnissen, die die Verständnisprobleme Kants nur noch verschärft hätten, auseinander, so mit den Werken Erich Adickes‘, der mit Aufarbeitung des handschrift lichen Nachlasses von Kant befaßt war, 85 und Hans Vaihingers86 . Die Kant-Philologie habe im Grunde nichts zum Verständnis Kants hervorgebracht bzw. beigetragen, habe sich um keine einheitliche, geschlossene Interpretation und Erklärung bemüht, sie habe vielmehr der Philosophie Kants und seinem System diesen einheitlichen Charakter regelrecht bestritten, so Vaihinger mit seiner »patch-work theory«. Dem englischen Philosophen Herbert James Paton komme das Verdienst zu, diesen Tendenzen in seinem Commentary energisch widersprochen zu haben. 87

H.W. Cassirer, A Commentary on Kant‘s Critique of Judgment, London 1938. »Th is continual renaissance of Kantian studies […]« – E. Cassirer, »The Philosophy of Kant« (1941/42), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 271. 85 E. Adickes, Kants Opus postumum dargestellt und beurteilt, Berlin 1920 (KantStudien, Ergänzungshefte; Nr. 50); ders., Kant und das Ding an sich, Berlin 1924; ders., Kant als Naturforscher, 2 Bde., Berlin 1924/1925; ders., Kant und die Als-Ob-Philosophie, Stuttgart 1927; ders., Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ichs als Schlüssel zu seiner Erkenntnistheorie, Tübingen 1929. 86 H. Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft , Zum 100jährigen Jubiläum desselben herausgegeben, Stuttgart (Bd. 1) 1881 / (Bd. 2) 1892, (2. Aufl. Bd. 1/ 2 u. Ergänzungsband, hrsg. von R. Schmidt, Stuttgart 1922); ders.: »Mitteilungen aus dem kantischen Nachlaß«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik N.F., Bd. 96 (1888), 1–26. 87 E. Cassirer, »The Philosophy of Kant« (1941/42), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 272 f.; siehe dazu auch: ders., Neuere Kantliteratur, in: Theoria 6 (1940), Heft 1, 89 f. (= ECW 22, 330 f.) 83

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Bei den sich anschließenden positiven Darlegungen der Philosophie Kants arbeitet Cassirers mit der Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft von Kemp Smith, den er sehr schätzt, auch Carus‘ Prolegomena-Übersetzung wird herangezogen. Cassirer geht – erneut – von dem Gedanken aus, daß es durchaus viele Schwierigkeiten für das Verständnis und die Auslegung Kants gebe. Einige seien in dessen Schreibstil zu fi nden, der viele technische Termini enthalte. Auch formuliere Kant Fragen, die so bei den Vorgängern gar nicht gestellt wurden, nutze dafür aber in der Regel von diesen bereits etablierte Termini, denen er eine neue, eigene Bedeutung beilege. Zu den Schwierigkeiten gehöre auch, daß Kant einen völlig neuen Denkstil (›Kopernikanische Wende‹) ausprägt und in die philosophische Methode einführt. Damit hätten viele Kritiker und Kommentatoren ihre Probleme gehabt und hätten sie noch. Anschließend bringt Cassirer den intellektuellen Kern der Kantischen Philosophie, wie er in der Kritik der reinen Vernunft verborgen sei, und der einer Kantauslegung als Ariadnefaden zu dienen habe, biographisch, ideengeschichtlich und werkgeschichtlich zur Darstellung. 88 In dem folgenden, recht dichten und anspruchsvollen Text werden viele Denker der antiken, mittelalterlichen und modernen Philosophie herangezogen, um den ›kritischen‹ Standpunkt Kants deutlich zu machen und ihn von dem der anderen Denker abzugrenzen. Am Ende spitzt Cassirer alles auf den Zielpunkt der Frage nach der Wahrheit zu, die sich sowohl für die Erscheinungswelt als auch für die intelligible Welt stelle. Der Seminarvortrag »Some Remarks on Kant’s Philosophy of History«89, der im selben Semester 1941/42 im Seminar »Philosophy of History« gehalten wird, entwickelt vor den Yaler Hörern den methodischen Unterschied zwischen Kants theoretischer Philosophie der Naturerkenntnis und seiner Geschichtsphilosophie, zwischen der Sphäre der Notwendigkeit und der der Freiheit, zwischen der sinnlichen Welt und der intelligiblen, zwischen der Welt der Kausalität und der der Zwecke. Cassirer nähert sich der Geschichtsphilosophie Kants über dessen Lehre von den teleologischen Urteilen, die dieser in Konfrontation mit vorhergehenden Interpretationen, insbesondere denen bei Leibniz und Spinoza, entwickelt habe. Das Problem der Zweckmäßigkeit und des Reiches der Zwecke habe bei Kant eine Lösung in der Ethik gefunden, im Kategorischen Imperativ, im Freiheitsproblem. Damit habe die Geschichte für Kant ihren gesetzmäßigen, vorhersehbar-

E. Cassirer, »The Philosophy of Kant« (1941/42), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 296. 89 Siehe Anm. 41 im vorliegenden Beitrag. 88

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berechenbaren Charakter verloren und sei zu einer ethischen Aufgabe geworden, den »verborgenen Plan der Natur« zu verwirklichen.90 Der 1943/44 im Seminar »Theory of Knowledge« gehaltene Vortrag »Kant‘s Theory of Causality«91 bildet Cassirers letzte Beschäftigung mit Kant. Er stellt sich hier eine doppelte Aufgabe: zum Einen soll Kants Theorie der Kausalität umrissen werden, die er mit einigen teilnehmenden Kollegen (Margenau und Northrop) bereits in dem gemeinsam abgehaltenen »Seminar in Philosophy of Science. A historical and systematic study of problems« im Studienjahr 1942/43 diskutiert habe. Zum Anderen soll die Kantische Kausalitätstheorie nicht isoliert behandelt werden, sondern eingebunden in all die Probleme, die bereits in den vorhergegangenen Sitzungen des Seminars »Theory of Knowledge« besprochen wurden. Die in ihnen geführten Diskussionen über die Erkenntnistheorie Kants, zu denen Margenau seine Ansicht »über die Bedeutung einer physikalischen Theorie« und Northrup »seine Theorie der epistemischen Korrelation« beigesteuert hätten,92 will Cassirer zusammenfassen und mit dem neuen Thema Kausalitätstheorie bei Kant verbinden. Deren schrittweise Entstehung bzw. Ausarbeitung verbindet er eng mit Kants langjähriger Rezeption entsprechender theoretischer Auffassungen insbesondere Newtons und Humes, aber auch Swedenborgs, Wolffs, Leibniz‘, Moses Mendelssohns. Folglich arbeitet er Schritt für Schritt die sich von Newton und Hume absetzenden Lösungen Kants heraus, wie sie sich in dessen frühen Schriften, aber auch in der Kritik der reinen Vernunft und in den Prolegomena abzeichnen. Kant habe dabei zwei gefährliche Klippen erfolgreich umschifft: »die Scylla der dogmatischen Metaphysik und die Charybdis des Humeschen Zweifels«.93 Cassirer hebt gegen Ende des Vortrags hervor, daß Margenau und Northrup mit ihren Erwägungen die Kantische Deutung der drei Newtonschen Gesetze bzw. Kants eigene Interpretation dessen, was Naturgesetze als Verquickung von Erfahrung und apriorische Setzung sind, klar erfaßt und zum Ausdruck gebracht hätten.

E. Cassirer, »Some Remarks on Kant’s Philosophy of History« (1941/42), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 352. 91 Siehe Anm. 46 im vorliegenden Beitrag. 92 E. Cassirer, »Kant‘s Theory of Causality« (1943/44), in: ECN 15: Vorlesungen und Vorträge zu Kant, a. a. O., 323. 93 »He had, so to speak, to navigate his ship between the Scylla of dogmatic metaphysics and the Charybdis of the Humian doubt.« – Ebd., 333. 90

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3. Die Hegelvorlesungen und Hegelpapiere a. Oxforder Hegel-Vorlesung (1934) Das 243 Seiten umfassende Manuskript der im Januar und Februar 1934 an sieben Unterrichtstagen am Oxforder All Souls College gehaltenen Vorlesung »The Moral Theory of Hegel«94 ist von zwei Besonderheiten gekennzeichnet: zum Einen doziert Cassirer ausführlich über Hegels Staatslehre und ihren Zusammenhang mit der Morallehre, zum Anderen entwickelt die Vorlesung die Hegelsche Philosophie immer wieder durch ihren Vergleich mit der Kritischen Philosophie Kants, während in den Oxforder und Yaler Kant-Vorlesungen Hegel überhaupt keine Rolle spielt. Cassirer selbst positioniert sich in einer Reihe von Fragen durch den Vergleich und das Abwägen der entsprechenden Auffassungen bei Kant und Hegel, was für die – derzeitige – Debatte um Cassirers Haltung zu Hegels Philosophie im Allgemeinen und zu dessen Staatsphilosophie im Besonderen nicht ohne Belang ist.95 Ohne weiter auf die erwähnte deutsche Hegelliteratur (Wilhelm Dilthey, Herman Nohl, Georg Lasson)96 einzugehen verweist Cassirer hinsichtlich der englischen sowohl auf das 1893 erschienene Werk von James Macbridge Sterrett97 als auch auf die – aus seiner Sicht – besser gelungenen und aktuelleren einschlägigen Bücher von Wei Shi Chang,98 für das der Oxforder Professor John Alexander Smith die Einleitung verfaßt hatte, und von Hugh A. Reyburn.99 Beide Bücher gelten ihm als gute Einführungen in die ›Rechtsphilosophie‹ Hegels. Außerdem verwendet Cassirer die Hegelübersetzungen von Samuel W. Dyde (Rechtsphilosophie),100 James Black Baillie (Phänomenologie des Geistes),101 J. Sibree (Philosophie Siehe Anm. 30 im vorliegenden Beitrag; Zu dieser Vorlesung existiert auch eine Disposition: »Hegel – All Souls College, Paralipomena + Dispositionen«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 119–130. 95 Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Hegel-Bilder im Wandel. Zu Cassirers Verständnis der politischen Philosophie Hegels«, 205–227. 96 E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 7. 97 The Ethics of Hegel, Translated Selections from his »Rechtsphilosophie«, With an Introduction by J.M. Sterrett, Boston/New York/Chicago/London 1893. 98 W. Sh. Chang, The Development, Significance and Some Limitations of Hegel’s Ethical Teaching / Hegel’s Ethical Teaching, its development, significance and limitations, Publ[ished] under the auspices of the China Society of Arts and Science, Shanghai 1925. 99 H.A. Reyburn, The Ethical Theory of Hegel: A Study of the Philosophy of Right, Oxford 1921. 100 Hegel’s Philosophy of Right. Translated by S. W. Dyde. London 1896. 101 Hegel’s Phenomenology of Mind, Translated, with an Introduction and Notes by 94

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der Weltgeschichte),102 Elizabeth S. Haldane (idem)103 und William Wallace (Enzyklopädie)104 . Kants ethische Schriften zitiert er vor allem nach der Übersetzung Abbotts.105 Die Oxforder Vorlesung des Emigranten Cassirer verfolgt also nicht nur die Absicht, den inneren, systematischen Zusammenhang von Moral- und Staatsphilosophie Hegels, ihr sich gegenseitiges Erklären innerhalb des Hegelschen Systems deutlich zu machen, weshalb auch immer wieder von Hegels Philosophie der Geschichte die Rede ist, sondern auch Platz und Rolle der in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vielfach in Anspruch genommenen und dabei kontrovers bewerteten Hegelschen Moral- und Staatslehre in der zeitgenössischen Philosophie zu bestimmen. Die Vorlesung soll also auch diskutieren, in wieweit das philosophische Bewußtsein historisch durch Hegels Theorie beeinflußt worden ist und in welchem Sinne diese Theorie als eine endgültige oder bedeutsame Stufe in der Entwicklung der modernen ethischen und politischen Theorien gelten muß. Daß sie das moderne Denken geformt hat, daß sie dem Jahrhundert nach dem Tod ihres Autors im Jahre 1831 ihren Stempel aufgedrückt, dem Leben der Menschen »eine neue Form und eine neue Gestalt« gegeben hat,106 daran läßt Cassirer keinen Zweifel, ist sie doch sogar Bestandteil praktisch-politischer, ja sogar militärischer Auseinandersetzungen und Kämpfe geworden. Cassirer zieht zudem die konträren Deutungen von Hegels politischer und Staatsphilosophie heran, wie sie Friedrich Meinecke107 und Hermann Heller108 öffentlichkeitswirksam vorgelegt haben. J.B. Baillie, (London 1910) Second Edition revised and corrected throughout, London/ New York 1931. 102 Hegel’s Lectures on the Philosophy of History, Translated from the third German Edition by J. Sibree, London 1857. 103 Hegel’s Lectures on the History of Philosophy, Translated from the German by E.S. Haldane, Vol. 1, London 1892, Vols. 2–3 translated by E.S. Haldane and F.H. Simson, London 1896. 104 Hegel’s Philosophy of Mind, Translated from The Encyclopaedia of the Philosophical Sciences with five Introductory Essays by W. Wallace, Oxford 1894; The Logic of Hegel, Translated from the Encyclopaedia of the Philosophical Sciences by W. Wallace, 2nd Edition, revised and augmented, Oxford 1892. 105 Siehe Anm. 52 im vorliegenden Beitrag. 106 »Philosophical thought has to prove its power and its validity in face of reality itself, it has to interfere with the actual life of men and to impress its stamp on that life; to give it a new form and a new shape. – E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 18. 107 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 3. durchgesehene Auflage, München/Berlin 1915; ders., Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München/Berlin 1924. 108 H. Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, Leipzig/Berlin 1921.

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Wenn er dabei die Eigentümlichkeit und Leistung der Hegelschen Philosophie durch den Vergleich mit der ethischen und politischen Lehre Kants herauszustellen sucht, dann besteht er darauf, daß das System Hegels keineswegs einfach die Kantische Philosophie weiterentwickelt und vollendet, wie es in der »jüngsten Hegelliteratur« u. a. von Richard Kroner109 behauptet werde, sondern vielmehr eine neue Philosophie mit eigenem Grundprinzip darstellt. Als Ansatzpunkt des Vergleiches hebt Cassirer das Verhältnis von Moral- und Staatslehre innerhalb beider Systeme heraus, aus dem sich die Unterschiede beider Denker in moralischen und politischen Fragen herleiten bzw. in dem diese zum Ausdruck kommen. Als Einstieg wählt er auch hier, wie schon in der Vorlesung »Kant’s Moral Theory« im vorhergegangen Hilary Trimester, das innere Verhältnis von praktischer und theoretischer Philosophie. Die Vorlesung hebt mit einer Erläuterung der Architektonik der Philosophie und ihrer Disziplinen in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten an und macht angesichts dieser auch sofort auf einen Unterschied zu Hegels System aufmerksam: bei Kant verfügten die Gebiete von theoretischer und praktischer Vernunft über je eigene Prinzipien und Methoden, weshalb bei ihm die Einheit der Vernunft nur noch eine synthetische, nicht jedoch eine unbedingte sein könne, und dies heißt letztlich eine dualistische. Hier macht Cassirer eine »radikale und entscheidende Differenz zwischen dem kritischen und dem absoluten Idealismus« aus.110 In der Konsequenz sehe Kants Moralphilosophie die empirische Freiheit als ein sich beweisen müssendes – paradoxes – Faktum an, während die Idee, von der sich moralische Verpflichtungen ableiten lassen, unerkennbar und unableitbar bleibt. Eine solche Position gelte Hegel als eklatanter Begriffswiderspruch, sein Grundprinzip des Philosophierens lasse den Gedanken einer Unterscheidung von empirischer Welt und Vernunft-Welt nicht zu. Für diesen gebe es nur eine Wahrheit, die in der grundsätzlichen Identität von Vernünftigkeit und Wirklichkeit fußt. Damit gelte Hegel die Idee der Freiheit als erkennbar, sonst würde die ethische Theorie auch ihren Sinn, ihre Wahrheit und ihre Geltung verlieren. Auf diese Weise werde von Hegel das Gebiet des Ethischen grundsätzlich ausgeweitet: die Kantische architektonische Einteilung der Philosophie fällt, das Hegelsche System kennt keine Teile oder Fragmente, auch keine Teilung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft.111 Deshalb finden wir auch in Hegels Moralphilosophie überall das Grundprinzip seines Systems – die Identität von Vernunft R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde., Tübingen 1921–1924. E. Cassirer, »The Moral Theory of Hegel« (1934), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 6. 111 Ebd., 12. 109 110

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und Wirklichkeit – wieder, während Kants Moralphilosophie ganz in sich selbst ruhe und sich selbst erkläre; ein Gedanke, der dem Tenor der KantVorlesungen zu widersprechen scheint. Im Folgenden sucht Cassirer Hegel in seiner Zeit zu verorten. Dafür befaßt er sich mit dem historischen Umfeld von dessen moral- und staatsphilosophischen Theorien, was auf Hegels Verhältnis zur Französischen Revolution und ihren Idealen führt. Hegel habe, so Cassirer mit Nachdruck, seine Wertschätzung der politisch-rechtlichen Bedeutung der Französischen Revolution aus der Jugendzeit niemals revidiert oder zurückgenommen. Dieser Tatbestand vereinbare sich nicht mit der landläufigen Verehrung Hegels als eines »Meisters des politischen Konservatismus«.112 Auch die Idee ursprünglicher, unveräußerlicher Rechte des Menschen habe er niemals absolut zurückgewiesen, ebensowenig wie die notwendige Unterscheidung von geschriebenem und ungeschriebenem Gesetz. Beide Rechtssphären werden als notwendige Momente eines dialektischen Prozesses gesehen und folglich miteinander vermittelt, woran Aufk lärer und Naturrechtler, einschließlich Kant und Fichte, nach Hegels Auffassung gescheitert seien. Allerdings gelten die ursprünglichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen Hegel aber auch als Hindernisse für die wahre Einheit des sozialen Lebens und des Staates. Damit kommt Cassirer auf die Überzeugung zu sprechen, der bereits der junge Hegel anhängt: daß die unbedingte, absolute Einheit des Lebens bei den Naturrechtlern aufgelöst und lediglich durch eine »formlose und äußerliche Harmonie«, erzwungen von äußerlichen Kräften, ersetzt wird.113 Die Kritik, die er in dem Zusammenhang an Hobbes, Kant und Fichte übt, wird von Cassirer aber nicht geteilt. Was der junge Hegel unter einer solchen ›wahren‹ Einheit des Lebens versteht, werde in seiner Deutung der griechischen Polis deutlich. Sein philosophisches Konzept ziele darauf ab, daß der in der Weltgeschichte sich entfaltende Weltgeist (die absolute Idee) diese, in der Polis zur Auflösung gekommene Einheit von Individuum und Staat wieder herstellt. Das dafür proklamierte Prinzip der Identität von Vernunft und Wirklichkeit, angewandt auf die ethische Welt, ziehe Hegels Standpunkt der ›Sittlichkeit‹ nach sich, welcher letzter von der untergeordneten ›Moralität‹ unterscheidet. In der Sittlichkeit als wahrer ethischer Ordnung ist der Dualismus von ›Sein‹ und ›Sollen‹ dialektisch versöhnt. In ihr korreliert der individuelle dem allgemeinen Willen, beide fließen sogar ineinander. Die sittliche Substanz, absolute geistige Einheit verbürgend, offenbart sich

112 113

Ebd., 27 f. Ebd., 34.

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in der traditionellen Sitte und im positiven Gesetz des Volkes, die konkrete Wirklichkeit der Individuen ordnend. Die von Hegel postulierte Identität von Wirklichkeit und Vernunft läßt Cassirer nicht als Beleg für ein reaktionäres antiliberales Denken gelten, stehe dem doch z. B. das Setzen auf die Freiheit als dem wahren Prinzip des politischen und ethischen Lebens und dem Hauptzweck der Weltgeschichte entgegen. Außerdem verbiete es die Dialektik, daß absolute Wahrheit und Vernunft sich in einem einzelnen historischen Stadium der Dinge (z. B. im Preußischen Staat) erfüllen. Die Tatsache, daß es für Hegels politische Philosophie nichts Endgültiges gibt, deutet Cassirer noch 1934 als deren »revolutionäre Tendenz«.114 Die Kant und Fichte vorgeworfene abstrakte Scheidung des formalen moralisch Guten (Anspruch) und der historischpolitischen Wirklichkeit glaubt Hegel überwunden zu haben, was in der absoluten Würde und dem absoluten Recht des Staates zum Ausdruck komme. Im Folgenden befaßt sich Cassirer in der Vorlesung mit dem Problem, ob wir bei Hegel von der Wertgleichheit oder einem Wertunterschied der verschiedenen Manifestationen des Geistes auszugehen haben. Um Hegels Position deutlich machen zu können, richtet er im Grunde drei Fragen an dessen System. Die entscheidende e r s t e Frage, die an Hegels Philosophie zu richten sei, ist die nach der Beziehung zwischen dem Staat und den übrigen Manifestationen des Geistes, d. h. Moralität, Religion, Kunst und Philosophie. Stehen diese Manifestationen »auf der s e l b e n Ebene mit dem Staat«, sind sie ihm ebenbürtig, also von ihm unabhängig, oder sind sie »in ihm verkörpert und deshalb s e i n e n Gesetzen und s e i n e n Zwecken unterworfen?«115 Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ nimmt bekanntlich für jede Kulturform ein eigenes Gesetz an, ohne allerdings eindeutig von Wertgleichheit zu sprechen. Daneben geht er z w e i t e n s der Frage nach, ob sich in der Philosophie Hegels selbst Argumente fi nden lassen, die es erlauben würden, die Moral auf eine Stufe mit den übrigen Manifestationen des Geistes zu stellen. Schließlich befaßt er sich d r i t t e n s damit, inwieweit in der Entbindung des Staates von den Forderungen der Moral der problematischste Punkt der Hegelschen Lehre von der Sittlichkeit zu sehen sei. Die Antworten, die Cassirer in der Vorlesung auf diese drei – von mir formulierten – Fragestellungen gibt, lassen sich wie folgt umreißen. Hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und übrigen Manifestationen des Geistes hält er die Quellenlage bei Hegel zumindest für zweideutig. Ein»In this view of the dialectic method there is contained with regard to the problems of political life a distinct revolutionary tendency […].« – Ebd., 51 f. 115 Ebd., 53. 114

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mal gebe es »viele Stellen in den Werken Hegels, in denen er die absolute Autorität des Staates proklamiert und in denen er seine Omnipotenz auf emphatischste Weise zelebriert hat.«116 Demgemäß finde die Freiheit allein im Staate ihre Verwirklichung. Dennoch erweise sich die Autorität des Staates nicht im bloßen Wachstum seiner äußeren physischen Macht, vielmehr hänge das Wohl eines Staates von »der Unterhaltung und Erhaltung seiner inneren Form« ab.117 Zudem gehöre der Staat Hegels dem Reich der spirituellen Wirklichkeit an, weswegen diese Staatsidee keineswegs auf einen nationalen Machtstaat ziele, sondern allein auf die ›Macht‹ der Vernunft. Die Omnipotenz des Staates als einer geistigen Macht ist folglich an die Bedingung gebunden, daß er »an sich eine Verkörperung der Vernunft ist und von ihr nicht abweichen kann.«118 In seinen Beziehungen zu den Bürgern setze der Vernunftstaat zwar Zwang gegenüber den Einzelwillen ein, um den universellen Willen durchzusetzen, dieser Wille bleibe aber dem Ziel der Freiheit verpflichtet. Für eine Gleichwertigkeit des Staates mit den übrigen Manifestationen des Geistes spreche auch, daß er als ›Sittlichkeit‹ in der Sphäre des o b j e k t i v e n Geistes nur eine Stufe des dialektischen Prozesses in der Entfaltung des s u b j e k t i ve n Geistes zum a b s o l u t e n Geist bildet. Damit bleibe er an diese Stufe gebunden und habe keine unbeschränkte Macht über die übrigen. Insofern sei die dem Staat durch Hegel beigelegte Überlegenheit nur eine mittelbare Macht: Er übt sie lediglich im Namen des wirklichen Souveräns, der absoluten Idee, aus. Folglich finde der Staat seinen höchsten Zweck nicht in sich selbst, sondern in der aus ihm selbst resultierenden Kultivierung von Wissenschaft und Kunst auf der Höhe des jeweiligen ›Volksgeistes‹. Hinsichtlich der für Hegel charakteristischen Trennung der ›Moralität‹ als mittlerer Stufe des o b j e k t i ve n Geistes von den Kulturstufen des höchsten, des a b s o l u t e n Geistes (Kunst, Religion und Philosophie), bemerkt Cassirer: »Hier stoßen wir auf die […] eindrucksvolle Differenz zwischen den Systemen von Kant und Hegel.«119 Stehe doch bei Kant die praktische Vernunft nicht an der Seite der theoretischen Vernunft (Erscheinungswelt), sondern auf eigenem Grund und Boden (Reich der Zwecke), und erhebe zudem ihr Primat über die theoretische. Die Attacken Hegels auf diese Vorzugsstellung der Moralität haben für Cassirer jedoch ihr Ziel verfehlt, Hegel sei hier parteiisch und voreingenommen gewesen, werde den Positionen Ebd., 54. Ebd., 55 f. 118 Ebd., 57. 119 »Here we meet with the fi rst striking difference between the systems of Kant and Hegel.« – Ebd., 65. 116 117

Die Kant- und Hegelvorlesungen

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Kants nicht gerecht. In dieser Frage steht Cassirer eindeutig auf den Positionen Kants, nicht auf denen Hegels. Und dennoch gelangt er zu der Feststellung, daß es hinsichtlich der Kategorie der Personalität bzw. Persönlichkeit gar »keinen wirklichen Gegensatz zwischen Kant und Hegel zu geben« scheint.120 Hegels Begriff der Vernunft fordere deren absolute Unabhängigkeit ebenso, wie Kants Begriff der moralischen Person. Folglich dürfe Hegels Staat nicht als Zerstörer aller freien Subjektivität verstanden werden. In beiden Philosophien seien die Kategorien Subjektivität (Selbst, Freiheit) u n d Objektivität (Welt, Notwendigkeit) mit einander verwobene Kategorien, nur ihr Bezug aufeinander ist gegensätzlich bestimmt: Kant gehe von der S u b j e k t i v i t ä t zur O b j e k t i v i t ä t , Hegel genau umgekehrt. Bei beiden schließe die Freiheit die Pflicht ein: Kants Weg führe von der Freiheit zur Pflicht, der Hegels von der Pflicht zur Freiheit. Hierbei, so Cassirers Fazit, trete Hegel als ein ›Schüler‹ Kants in Erscheinung. Der Unterschied beider Systeme könne auch wie folgt formuliert werden: »für Kant [gehört] die Moralität der Sphäre des a b s o l u t e n Geistes an[…] und [macht] das wahre Zentrum dieser Sphäre aus[…], während sie für Hegel eingeschlossen bleibt im Reich des objektiven Geistes.«121 Cassirer bezweifelt allerdings, daß der Hegelsche Staat seine Aufgabe, das allgemeine Element der Freiheit in der Entwicklung des Einzelnen freizusetzen, allein über die Stufen des a b s o l u t e n Geistes bewerkstelligen kann, vielmehr sei dafür auch die Stufe der ›Moralität‹ erforderlich. Gegen Hegels Lösung spreche zudem, daß dieser im Laufe seiner philosophischen Entwicklung den Ort bzw. Status der Moralität im System verändert habe. In der Phänomenologie des Geistes (1806) habe sie ihren Platz nämlich noch nach bzw. über dem Staat; sie bereitet hier den Übergang zu Religion, Kunst und absolutem Wissen vor. Mit diesem frühen Konzept werde eine andere politische Lehre antizipiert, in der es keine Superiorität des Staates gibt. Noch 1817 in der Enzyklopädie (§ 385 Anm.) gelte der Staat nur als Durchgangsstufe zur wahren Freiheit, die sich in den Stufen des absoluten Geistes verwirklicht, die mit der Moralität gleichgestellt scheinen.122 In diesem Sinne fordert denn auch Cassirer für die Moralität die gleiche Unabhängigkeit vom Staate, wie sie für die Stufen des absoluten Geistes gilt. Ebd., 69. »If we were allowed to express the Kantian thought in the philosophical language of Hegel we could designate the distinction between the systems of Kant and Hegel in saying that for Kant morality belongs to the sphere of absolute mind and is the very centre of this sphere while for Hegel it remains included in the realm of objective mind.« – Ebd., 73. 122 Siehe G.W.F. Hegel, System der Philosophie, Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, § 385 Zusatz, in: Sämtliche Werke (Glockner), Bd. 10, Stuttgart 1929, 41. 120 121

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

Seine Antwort auf die Frage nach der Bindung zwischen Sittlichkeit und Politik in Hegels System läßt sich wie folgt zusammenfassen: »Durch das […] Freigeben des Staates von allen moralischen Rücksichten und moralischen Pflichten wurde Hegel [1802] zu einem der entschiedensten Verfechter des politischen Machiavellismus.«123 Wie nicht anders zu erwarten, vermag Cassirer hierin keine »defi nitive Lösung [des] Problems des Verhältnisses von Ethik und Politik« zu sehen.124 Er ist nicht bereit, Hegel bei der Zurückweisung von Kants Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität zu folgen, die Hegelschen Argumente – die Identifizierung des ›guten Willens‹ mit einem bloßen subjektiven Wunsch – hält er für problematisch. Allerdings, so fügt Cassirer hinzu, vertrete Hegel keineswegs die Auffassung, daß der Staat (objektiver Wille) den Anspruch des einzelnen moralischen Subjektes einfach brechen darf. Dies belegt er mit Hegels differenzierter Darstellung der Verurteilung des Sokrates. Cassirer kritisiert hierbei nur die Einschränkung des dabei anerkannten inneren Gesetzes der Moralität des Individuums auf jene Fälle, »in denen die ethische Substanz [im historisch-realen Staat] an Strenge und Verdiensten verliert«,125 dieses Gesetz müsse für den Normalfall des Staatslebens gelten. In dem Zusammenhang nimmt Cassirer Hegel erneut gegen den Vorwurf in Schutz, die Identifi kation von Vernunft und Wirklichkeit offenbare eine politisch-reaktionäre Einstellung. Mit der klaren Unterscheidung von ›Wirklichkeit‹ und ›fauler Existenz‹ widerlege er die Vorwürfe, er glorifiziere das Bestehende. Allerdings gelte ihm als Kriterium, als Maßstab dafür, ob die Erscheinungswelt des Staates ›faule Existenz‹ durchlebt oder die ›Wirklichkeit‹ der Idee offenbart, allein die Wahrheit, die sich in der Macht eines Staates offenbart. Auf diese Aussage Hegels aus dem Jahre 1802 könnten sich zwar auch die Anhänger einer unethischen ›Realpolitik‹ berufen. Dennoch sehe Hegel den Staat keineswegs von aller Verantwortung und Berteilung ausgenommen, wenn auch nur durch die We lt g e s c h i c ht e als dem Weltgericht. Dieser gegenüber muß er sein Recht bewähren, muß er sich als wahrer und adäquater Ausdruck eines ›Volksgeistes‹ und damit als Stufe des Weltgeistes beweisen, was keineswegs alle seine empirischen Formen rechtfertige und was seinen Niederschlag in der Lehre von der ›List der Vernunft‹ gefunden habe. Einen radikalen Unterschied in Ethik und politischer Lehre bei Hegel und Kant sieht Cassirer aus der unterschiedlichen Ansetzung der Bezie»[…]in releasing the state from all moral regards and moral obligations, Hegel has become one of the most resolute champions of political Macchiavellism.« – Ebd., 62. 124 Ebd., 64. 125 Ebd., 82. 123

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hung des Staates zu den individuellen Willen resultieren. In Hegels System muß der individuelle s u b j e k t i v e Wille sich dem wahren Prinzip des Ganzen unterordnen, er besitzt keinerlei Eigenrecht, auch nicht das Recht, den Staat zu kritisieren. Mit dem die Macht der ›Sitte‹ einschränkenden dialektischen Gesetz des beständigen Wandels, hinter dem die Selbstbewegung der absoluten Idee steckt, handele sich Hegel im Unterschied zu Kant jedoch das ethische Problem ein, daß die Idee »den einzelnen Geist von aller wirklichen moralischen Verantwortung zu entbinden« scheint, da dieser als bloße Marionette des Weltgeistes agiert.126 Aber auch hier gesteht Cassirer Hegel zu, gar nicht die Absicht gehabt zu haben, die Subjektivität aus dem Handeln des Weltgeistes völlig auszuschließen. Allerdings macht er mit Kant gegen Hegel geltend, daß das Recht des Selbstbewußtseins, das Moment der subjektiven Freiheit, auch dann, wenn es sich in Gegensatz zum Willen des Staates befindet, von diesem erhalten und verteidigt werden müsse, um nicht gegen sein eigenes substantielles Recht zu verstoßen. Die daraus resultierenden Probleme und Konflikte habe der wahre Staat zu ertragen, erreiche er »durch diesen Schutz der freien Subjektivität [doch] die höchste Form seiner substantiellen, seiner wirklichen ethischen Macht«.127 Dies habe Kant klar erkannt, weshalb sich bei ihm ebenfalls der Staat dem kategorischen Imperativ zu unterwerfen und folglich alle Bürger ›auch‹ als Zwecke zu behandeln hat. Dem folge Hegel nicht, weil er den Staat nicht auf das schwache Fundament des individuellen Willens gründen will. Sein Grundanliegen, die Identität von Wirklichkeit und Vernunft sich realisieren zu lassen, erweise sich als metaphysisches ›eisernes Band‹, das das ganze System zusammenhält, in dem die Sittlichkeitstheorie ihren Platz hat. Als die Nachfolger Hegels dieses ›eiserne Band‹ zerrissen, mußte das System in disparate Teile zersplittern, an die die zeitgenössischen Parteiungen anschließen, die um Hegels Erbe streiten.

b. Yaler Hegelpapiere (1941–1943) Das aus 17 doppelseitig beschriebenen Blättern bestehende Konvolut »Hegel-[…]Seminar Yale 1941/42«,128 das nach mehrfachen Gesichtspunkten ohne feste Anordnung Dispositionen, Gliederungsversuche und ÜberleEbd., 106 f. »They must be endured, nay, they must in a certain sense be encouraged, not only for the sake of the individual will but even more for the sake of the universal will, which by this encouragement, by this protection of free subjectivity attains the highest form of its substantial, of its really ethical power.« – Ebd., 109. 128 Siehe Anm. 39 im vorliegenden Beitrag. 126 127

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gungen zu Hegels Philosophie der Geschichte enthält, verfaßt für das Seminar »The Philosophy of History«, verweist an Literatur u. a. auf Hegels theologische Jugendschriften (Nohl), Die Jugendgeschichte Hegels (Dilthey) und Stirlings The Secret of Hegel.129 Neben allgemeinen Bemerkungen zur Geschichte bzw. Philosophie der Geschichte und dem Hinweis auf bedeutsame Vertreter der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte beschäftigen sich die Blätter immer wieder mit der Philosophie der Geschichte und ihrem Platz in Hegels System. Dies betrifft die Quellen von Hegels Denken, die das geschichtliche Denken betreffenden Grundprobleme, auf die es neue Antworten bietet, aber auch Hegels Pantheismus und seinen Wissenschaftsbegriff. Einen wichtigen Raum im Konvolut nehmen zudem Aussagen zu Art und Rolle der Logik in Hegels System ein, all dies immer wieder mit Zitaten aus Hegels Schriften untermauert, wobei die Übersetzungen Baillies (Phänomenologie des Geistes), Sterretts (Rechtsphilosophie), Wallace‘ (Enzyklopädie) und Sibrees (Philosophie der Geschichte) herangezogen werden.130 Außerdem enthalten die Blätter ein ›Allgemeines Schema‹ über den Zusammenhang von Wahrheit und Substanz bei Hegel131 und dies teilweise aus philosophiehistorischer Sicht. Bei den mehrfachen Überlegungen zum Thema ›Religion und Geschichte‹ kommt Cassirer auf einen Beitrag Hajo Holborns zu sprechen,132 der neben Charles Hendel ebenfalls an der Seminardurchführung beteiligt ist, auch ein Beitrag Ernst Hoffmanns wird zitiert.133 Im Seminar »The Philosophy of History« hält Cassirer im Februar 1942 den auf 32 Ms.-Seiten niedergeschriebenen Vortrag »Some Remarks on Hegel’s Theory of the State‹.134 Für den Vortrag bilden die Materialien »Hegel-[…]Seminar Yale 1941/42« nur sehr bedingt die Vorbereitung, vielmehr Hegels theologische Jugendschriften, Nach den Handschriften der Königl. Bibliothek in Berlin hrsg. von H. Nohl, Tübingen 1907; W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels (1905), in: GS, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus. Hrsg. von H. Nohl, 2. Aufl ., Leipzig/Berlin 1925, 5–190; J.H. Stirling, The Secret of Hegel: being The Hegelian System in Origin, Principle, Form, an Matter, In Two Volumes, London (1st Edition 1865) 2nd Edition 1898. 130 Siehe dazu die Anm. 101, 97, 104 und 102 im vorliegenden Beitrag. 131 E. Cassirer, »Hegel-[…]Seminar Yale 1941/42«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, 145 ff. 132 Ebd., 149 ff.; H. Holborn, »The Science of History«, in: The Interpretation of History, Edited with an Introduction by J.R. Strayer, Princeton/New York 1943, 59–83. 133 E. Hoff mann, »Platonism in Augustine’s Philosophy of History« (Translated by D.R. Cousin), in: Philosophy & History, Essays presented to Ernst Cassirer. Edited by R. Klibansky and H.J. Paton, Oxford 1936, 173–190; E. Cassirer, »Hegel-[…]Seminar Yale 1941/42«, in: ECN16: Vorlesungen zu Hegel, 151. 134 Siehe Anm. 40 im vorliegenden Beitrag. 129

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dürfte sich Cassirer auf die Oxforder Hegelvorlesung gestützt haben, setzt er sich doch erneut mit Richard Kroners Hegeldeutung in Von Kant bis Hegel (1924) auseinander. Zunächst will der Vortrag gemäß dem Seminarthema Hegels Philosophie der Geschichte aus dem Charakter des Hegelschen absoluten Idealismus heraus verständlich machen, der sich von Kants kritischem Idealismus unterscheide. Danach wird Hegels frühe Kritik an den naturrechtlichen Lehren des 17. und 18. Jahrhunderts thematisiert und aus dieser Kritik heraus seine von Kant abweichende Auffassung von Wirklichkeit, von Individuellem und Allgemeinem im Staate entwickelt. Der Idealismus Hegels impliziere strikten politischen Realismus. In dem Zusammenhang verweist Cassirer auf einen von Hendel im Seminar gemachten Vergleich zwischen Hegel und Machiavelli in der Staatsfrage.135 Cassirer betont, daß Hegel in seiner Staatsphilosophie immer die Idee des Staates, niemals empirische Staaten im Auge habe. Bei der Antwort auf die Frage, wie es sich mit den Rechten der Individuen in Hegels Idee eines omnipotenten Staates verhalte, warnt Cassirer vor der vorschnellen Hingabe an den ersten Anschein, Hegel habe diese komplett aufgegeben, wie dies Rudolf Haym136 und Hermann Heller passiere. Vielmehr enthalte Hegels System aufgrund der dialektischen Methode immer thetische und antithetische Positionen, und so neben Machtstaatsgedanken auch positive Bezüge zu den Aufk lärungsideen, dies habe u. a. Hajo Holborn überzeugend herausgestellt.137 Hegels Staatslehre sei zwar von Paradoxa geprägt, leide jedoch nicht an fehlender innerer Konsistenz. Ihre nie versiegte Wirkung auf das politische Denken sei aber vielerlei Fehlinterpretationen (›Machtstaat‹) ausgesetzt gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil man Hegels metaphysische Sprache nach seinem Tode immer weniger verstand. In der Folge ging die Einsicht verloren, daß Hegel an einen ›wirklichen‹ bzw. ›wahren‹ Staat hohe Anforderungen stellt, daß bei ihm zum Aspekt des ›Machtstaates‹ immer auch der des ›Kulturstaates‹ gehört. In diesem Sinne müsse das wahre Verhältnis von Staat und Sittlichkeit bei Hegel erörtert werden, das in den dialektischen Prozeß der Weltgeschichte als dem ›Weltgericht‹ führe, der sich jedoch mit Kants Idee eines ›ewigen Friedens‹ nicht vertrage. Das zweite Hegel gewidmete Konvolut »Hegel (Seminar 1942/43) / Zu Hegels Staatstheorie«138 , bestehend aus ca. 12 doppelt in deutscher und englischer Sprache beschriebenen Blättern, die ebenfalls verschiedenen Themen E. Cassirer, »Some Remarks on Hegel’s Theory of the State« (1942), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 185. 136 R. Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857. 137 E. Cassirer, »Some Remarks on Hegel’s Theory of the State« (1942), in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 188. 138 Siehe Anm. 43 im vorliegenden Beitrag. 135

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II. Politisches als Lebens- und Kulturform

zugeordnet sind, wurde vermutlich – wie bereits erwähnt – für das Seminar »Modern Idealism: Postkantian and Hegel« verfaßt. Auch diese Blätter, die dem politischen Denker Hegel gewidmet sind, erwecken den Eindruck vorbereitender Materialien. Sie bieten eine mehr oder weniger umfassende Darstellung der politischen und Moralphilosophie Hegels in vielfältigen Facetten, dabei orientiert sich Cassirer kritisch und hinterfragend durchgängig an den Fragestellungen, wie sie Heller in seinem Buch aufwirft. Eine e r s t e Blättersammlung mit dem Titel »Hegel« stellt eine Gliederung von A) bis F) mit Notizen und kurzen Ausführungen zu Hegels politischer Theorie, ihrem Einfluß auf das politische Denken nach seinem Tode 1831 bis hin in die Doktrinen von »Fascism – Bolshevism – National Socialism« dar,139 berühren aber auch den fortwährenden Auslegungsstreit um Hegels System. Dabei sieht Cassirer eine Schwierigkeit der Auslegung darin, daß ihre Ausrichtung auf einzelne, isolierte Resultate immer in die Irre führe, vielmehr müsse der gesamte dialektische Prozeß, so wie ihn Hegel präsentiert, durchlaufen werden, um zu einem begründeten Urteil über seine Philosophie zu gelangen, das seinen scheinbaren Widersprüchen (pro Freiheit und kontra Rechte des Individuum) gerecht wird. Obwohl Hegel den Staat glorifiziere und z. B. dem Sittengesetz seine Würde allein durch den Staat zukommen lasse, und obwohl er den Staat nicht für das Glück der Individuen in der Verantwortung sieht, spricht sich Cassirer gegen die Behauptung der Kritiker aus, Hegel verherrliche den »reinen Macht-Staat«,140 auch wenn die »Vergottung« (»Vergötterung«) des Staates seine Theorie gefährlicher als die Machiavellis mache. Die Bezüge auf die Rolle des Weltgeistes bei Hegel führen Cassirer auch immer wieder auf das Feld von dessen Philosophie der Weltgeschichte. Hegel, der die Macht als »an sich gut« deute, entbinde den Staat, so heißt es hier etwas pauschal, von allen sittlichen Maßstäben und lasse »allen Wert, den der Mensch hat«, ihn »allein durch den Staat« haben.141 Eine z w e i t e Blättersammlung »Hegel« geht ähnlich vor und enthält die Gliederungspunkte 1) bis 5). Auf diesen Blättern setzt sich Cassirer zunächst noch einmal mit den gegensätzlichen Auslegungen des Hegelschen Systems bzw. seiner politischen Philosophie auseinander, betont hier aber stärker die Rolle der Vernunft bzw. des Rationalismus in der Geschichte. Dabei wird auch – mit vielfachen Verweisen auf die Oxforder Hegelvorlesung von 1934 – die unterschiedliche Zuordnung von Sittlichkeit bzw. E. Cassirer, »Hegel (Seminar 1942/43) / Zu Hegels Staatstheorie«, in: ECN 16: Vorlesungen zu Hegel, a. a. O., 158. 140 Ebd., 161. 141 Ebd., 163. 139

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Moralität und Staat bei Kant und Hegel, die Theorie der National- bzw. Volksgeister und des Weltgeistes thematisiert. In mehreren Zusammenhängen fi nden sich zudem Hinweise auf das Material zum Seminar »Philosophy of History« aus dem Studienjahr 1941/42.142 Auch wird die Frage ›Machstaat und Kulturstaat‹ noch einmal aufgenommen. Außerdem geht Cassirer sowohl auf Hegels Heroenverehrung (Napoleon) ein als auch auf die These von der Weltgeschichte als dem ›Weltgericht‹. Bei der Besprechung des Subordinationsverhältnisses von Staat und Kultur bringt Cassirer die Überzeugung zum Ausdruck, daß Hegel den ›totalitären‹ Staat, der sich selbst von allen kulturellen Forderungen und Aufgaben freigemacht hat, grundsätzlich abgelehnt haben würde.143 An beide Blättersammlungen schließen sich noch mehrere einzelne Blätter bzw. kurze Blättersammlungen »Hegel« an, die konkrete Fragen, wie die Urteil darüber, ob Hegel ein ›revolutionärer‹ oder ›reaktionärer‹ politischer Denker gewesen sei, erneut bzw. leicht variierend aufnehmen. Dazu gehört auch Hegels bejahende Haltung zur Französischen Revolution und seine ablehnende Position gegenüber der Romantik, beide Ereignisse stehen für zwei Zeitalter bzw. zwei Kulturen, zwischen denen er sich befinde. Weiter finden sich Aussagen zu Hegels besonderem objektiven, substantiellen Vernunftbegriff, zu seiner Haltung zu den großen Persönlichkeiten in der Weltgeschichte als den ›Geschäftsträgern des Weltgeistes‹, zu Hegels Auffassung des Staates als Kulturstaat, der nur als solcher ›wirklich ist‹ und sonst zu bloßer ›Existenz‹ herabsinkt. Die Blättersammlung »Hegel (Nachtrag)« zeichnet ein weiteres Mal ein umfassendes Bild von Hegel als Geschichts- und Staatsphilosophen. Hier beschäftigt sich Cassirer erneut mit dem Verhältnis von Staat und Individuum bei Hegel. Alle diese Einzelaspekte berührende Überlegungen auf den 12 Blättern »Hegel (Seminar 1942/43) / Zu Hegels Staatstheorie« verweisen immer wieder präzise auf einzelne Seiten des Oxforder Vorlesungsmanuskriptes, die im Abdruck in ECN 16 deshalb in den Kolumnen mitgeführt werden. Es ist folglich auch nicht verwunderlich, daß Cassirer auf diesen Blättern viele Quellen, Übersetzungen und Hegel-Auslegungen heranzieht, die er bereits in der Oxforder Vorlesung genutzt hat. Neben den bereits erwähnten Verweisen sowohl auf Hellers Buch als auch auf das – diesem in Vielem widersprechenden – Werk Meineckes stützt sich Cassirer bei den englischen Hegelübersetzungen und –deutungen erneut auf Sibree, Wallace, Sterrett, Reyburn und Baillie. Bei den deutschen Ausgaben von Hegels Politischen Schriften, der ›Rechtsphilosophie‹ und der ›Philosophie der (Welt-)Ge142 143

Ebd., 166, 170. Ebd., 169.

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schichte‹ nutzt er die bekannten Ausgaben von Georg Lasson und Hermann Glockner, aber auch die wenigen bekannten von Friedrich Brunstädt144 und Heller145 . Die zahlreichen Autoren (u. a. Treitschke, Burckhardt) und deren Werke, die ebenfalls Erwähnung finden, können hier nicht extra aufgeführt werden. Ein fundiertes Urteil über den wissenschaft lichen Wert der nachgelassenen Kant- und Hegelvorlesungen aus der Oxforder und Yaler Zeit des Emigranten Ernst Cassirer soll den Kant- und Hegelspezialisten überlassen werden, und da die entsprechenden Texte erst jetzt nach und nach einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden, ist es dafür auch noch zu früh. Was der Cassirerforscher zu ihnen bemerken kann, ist zum Einen, daß sie in keiner erkennbaren Beziehung zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und ihren Vertiefungen, Weiterentwicklungen und Neunansätzen stehen, die Cassirer in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts an ihr vornimmt. Und zum Anderen, daß die Kantvorlesungen offensichtlich eher an den akademischen Zweck der Einführung der Hörer in den systematischen, ganzheitlichen Charakter des Kantischen Denkens und Philosophieren gebunden zu sein scheinen. Aber auch hier wird noch zu prüfen sein, inwieweit sie zum Einen Wertungen und Erklärungen aus dem Erkenntnisproblem II (1907) und aus Kants Leben und Lehre (1918) nur wiederholen oder modifizieren, und zum Anderen, ob es in ihnen eine darstellbare Entwicklung der Auslegung gibt. Die Hegelvorlesung und die Hegelmaterialien dagegen scheinen viel stärker Anteil sowohl an der zeitgenössischen Auslegungsdebatte um Hegel bzw. Hegels Staatsphilosophie als auch an den zeitgeschichtlichen Ereignissen nehmen, die insbesondere mit dem Nationalsozialismus und den durch ihn geführten Weltkrieg in Beziehung stehen. In ihnen tritt uns der wache Zeitgenosse Cassirer entgegen, das in ihnen sich abzeichnende ›Hegelbild‹ ist allerdings ebenfalls noch gründlich mit Cassirers früheren (Freiheit und Form [1916]) und späteren Hegeldeutungen (The Myth oft he State [1946]) abzugleichen.

G.F.W. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Mit einer Einleitung hrsg. von Friedrich Brunstädt, Leipzig o. J., (1. Aufl. 1907) 2. Aufl. 1924. 145 G.F.W. Hegel, Die Verfassung Deutschlands, Eingeleitet und auf Grund des handschrift lichen Nachlasses hrsg. von Hermann Heller, Leipzig 1922. 144

iii. kulturphilosophie, kulturwissenschaft formwissenschaft

Kulturwissenschaften und ihr Lebensgrund Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften 1. Einführung und Aufgabestellung Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie der Kulturphilosoph Ernst Cassirer seine wissenschaftsphilosophischen Überlegungen zur eigentümlichen Begriffsbildung in den Kulturwissenschaften auf das ›Urphänomen des Lebens‹ gründet. Die Literaturgrundlage für diese Untersuchung bilden Texte, die allesamt während der Göteborger Zeit, Ende der 30er Jahre, entstehen. Diese innerhalb der Cassirerforschung inzwischen wohlbekannte, darüber hinaus aber noch wenig beachtete Tatsache einer Rückführung bzw. Rückbindung der wissenschaft lichen Begriffsbildung an das als ›Urphänomen‹ bezeichnete Leben,1 was im Übrigen auch die Frage nach Parallelen im Husserlschen Alterswerk (›Lebenswelt‹ und ›vorprädikative Erfahrung‹) aufwirft, 2 stellt in Cassirers wissenschaft licher Biographie durchaus eine erstaunliche Konsequenz dar und sie bedeutet für die Wissenschaftsphilosophie und ihr Bemühen, Einheit und Unterschied von natur- und kulturwissenschaft lichem Denken herauszustellen, einen originellen Ansatz. Wird hier der Grundgedanke einer eigenständigen und eigentümlichen kulturwissenschaft lichen Objektivität doch auf die elementarste Ausdrucksform menschlichen Lebens, die Wahrnehmung, gegründet, 3 ohne dabei die Idee einer übergreifenden Einheit der Wissenschaften – und damit der menschlichen Vernunft – aufzugeben. Die Theorie von einer methodisch eigenständigen Kulturwissenschaft gewinnt durch diese Verankerung im Urphänomen des Lebens nicht nur eine natürliche Basis, die einseitig idealistischen Annahmen einer G e i s t e s wissenschaft entgegenwirkt, sondern mit dem jeglichen menschlichen Leben immanenten physiognoVgl. u. a. U. Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, (CF, Bd. 8), Hamburg 2002, 259 ff., 266 ff.; B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 6), Berlin 2004, 109 ff. 2 Siehe dazu vom Verfasser, »Lebensphilosophie und Lebensbegriff in der Phänomenologie Husserls«, in: ders., Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, Berlin 2016, 2. stark erweiterte Aufl., 213–231. 3 Zur konstitutiven Rolle der Ausdrucks- bzw. Artikulationsfunktion für die Kultur bzw. eine Kulturphilosophie siehe u. a. O. Schwemmer, Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005, 37 ff., 46 ff., 60 ff. 1

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

mischen Ausdrucksphänomen eröffnet sich ihr auch das spezifische begriffliche Instrumentarium, die Kultur überzeugend als symbolisch geformtes und gestaltetes, vielfältiges Sinnuniversum zu begreifen.4 Cassirer leistet damit auch einen Beitrag zu dem die Philosophie unentwegt beschäftigenden Problem, Vernunft und Leben nicht als bloßen unvermittelten Gegensatz zu denken, sondern als z w e i voneinander nicht abzulösende Aspekte, Richtungen der e i n e n Sache, des menschlichen Ausdrucks- und Objektivierungsvermögens.5 Als erstaunlich darf dieser von Cassirer im Spätwerk verwirklichte Ansatz deshalb gelten, da er in seiner frühen Berliner Schaffensphase zunächst das von Hermann Cohen und Paul Natorp entwickelte, an der modernen Mathematik orientierte Wissenschaftsverständnis für die Geschichte des Erkenntnisproblems in Philosophie und Naturwissenschaft der Neuzeit produktiv zu machen suchte. 6 Die in den Weltkriegs- und Nachkriegsjahren mit der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vollzogene berühmte Wendung von der Kritik der Ve r nu n f t zur Kritik der K u l t u r 7 konzipiert eine Kulturphilosophie, die sich auf die Kategorien ›Form‹, ›Symbol‹ und ›Ausdruck‹ stützt. Der neu gefundene Standpunkt wahrt aber Kontinuität hinsichtlich des früheren wissenschaftstheoretischen Interesses. Mit der Einbettung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in eine symboltheoretische Kulturphilosophie entdeckt der ehemalige Adept der Marburger Schule des Kantianismus während der Hamburger Periode eine weitere Grundkategorie des modernen Philosophierens für sich – den Begriff des Lebens, der zu jener Zeit bekanntlich bereits einer ganzen Richtung den Namen gegeben hatte. 8 Es kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, daß sich Cassirer um einen eigenständigen, facetten- und bedeutungsreichen Lebensbegriff bemüht, dem die übliche Geistfremdheit und Geistfeindschaft nicht eignet.9

Die von Cassirer ab 1927 entwickelte Theorie der elementaren Ausdruckswahrnehmung, die die bereits zuvor entworfene allgemeine Ausdruckslehre des lebendigen Geistes noch einmal vertieft , bildet den notwendigen ›Schlußstein‹ in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹. – Siehe dazu vom Verfasser, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, (CF, Bd. 12), Hamburg 2005, 148 ff., 192 ff. 5 Siehe u. a. V. Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002. 6 E. Cassirer, EP, Bd. I (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999. 7 E. Cassirer, PSF, I. Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 9. 8 Siehe H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit (1920), Tübingen 1922. 9 Siehe dazu vom Verfasser, Das Urphänomen des Lebens (2005), a. a. O., 383 ff. 4

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Trotz einer langen Vorgeschichte erreicht Cassirers Hinwendung zu dem eigensinnig gedeuteten Begriff des Lebens als eines ›Urphänomens‹, das auch diejenige Philosophie zu beachten habe, die sich der Vernunft verschrieben hat, mit der theoretischen Aufwertung des Begriffs der Ausdruckswahrnehmung zu einem Schlüssel- bzw. Grundbegriff seiner Philosophie Mitte der 20er Jahre eine ganz neue Qualität.10 Die anschließend, Mitte der 30er Jahre, konzipierte, metaphysisch anmutende Theorie der sogenannten ›Basisphänomene‹ jeglicher Wahrnehmung vertieft und systematisiert diesen am Lebensbegriff orientierten Ansatz noch einmal.11 Dieser bildet einen Begründungsrahmen auch für die in den Spätwerken der Zeit in Göteborg und New Haven ausgearbeitete Theorie der Kulturwissenschaften, die ihm als »Lehre von den Formen, in denen das geistige Leben der Menschheit sich vollzieht«, gilt.12 Die zu erarbeitende »Logik der Kulturwissenschaften« müsse dem »wirklichen Leben der Wissenschaft« angemessen sein.13 Cassirers systematische Überlegungen zu den Möglichkeiten und Bedingungen einer Kulturphilosophie und, darauf aufbauend, Kulturwissenschaft gehen methodisch von einem Kantischen Einheitsbegriff aus, der ihn immer wieder die Frage nach dem methodischen und gegenstandstypischen Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaften aufwerfen läßt, eine Fragestellung, die er – in Abgrenzung zum ›Wiener Kreis‹14 – auch auf Mathematik und Geschichtsschreibung ausweitet. So betont er 1941, daß sich Philosophie und Wissenschaft in »den letzten Hundert Jahren, in der Zeit seit Goethes und Hegels Tod«, nicht zuletzt deshalb in einer inneren Krise befunden hätten, weil das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaft ungeklärt geblieben war.15 Trotz des Bestrebens, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer größer gewordene Kluft zwischen Natur-, KulSiehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt«, 91–104. 11 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 113–198. 12 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 160. 13 E. Cassirer, »Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften« (1941), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme † unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 205. 14 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 325–344. 15 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 391. 10

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tur- und Geschichtsforschung zu überwinden, lehnt er den positivistischen Methodenmonismus eines Julius Kraft grundsätzlich ab.16 Deshalb führt er auch 1939 eine prinzipielle Polemik gegen die Logik und Mathematik ausschließende ›Einheitswissenschaft‹, wie sie die sonst durchaus geschätzten Vertreter des ›Wiener Kreises‹, speziell Bertrand Russel und Rudolf Carnap, in Anlehnung an die Physik und die Sinneswahrnehmung als einzige sichere Erkenntnisquelle vertreten.17 Er widerspricht mit Verweis auf die genetisch vorhergehende Ausdruckswahrnehmung der Behauptung, es gäbe keine objektiven n i c h t- physikalischen Sachverhalte,18 und betont die methodischen Unterschiede, die Natur- und Kulturwissenschaften in ihrem einheitlichen Verfahren, Besonderes und Allgemeines in Beziehung zu setzen, mit den dabei intendierten Gesetzes- oder Gestalt- bzw. Formbegriffen machen.19 Für ihn teilen beide Wissenschaftstypen eine »allgemeine Objektivationsfunktion« der Erlebnisse, die allerdings jeweils spezifischen Charakter annimmt.20

2. Ausdruckswahrnehmung als ›Grundschicht‹ des Kultursinns Für Cassirer stellen die diversen Wissenschaftstypen (Mathematik und Logik, Natur- und Kulturwissenschaften, Geschichte) unterschiedliche Weisen der Objektivierung und folglich der Wirklichkeitserkenntnis dar. Den methodisch entscheidenden Schritt vollzieht er durch das Aufwerfen der Frage, ob sich diese unterschiedlichen ›Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis‹ nicht auf letzte, unhintergehbare Quellen oder Modi der Wirklichkeitserfahrung zurückführen lassen müssen. Unter Bezug auf Goethe21 fi ndet er in der elementarsten menschlichen Objektivationsweise, in der Wahrnehmung, tatsächlich drei derartige ›letzte‹ Modi der Vermittlung von Wirklichkeit, ihres Aufschließens vor. Modi, die uns die Wirklichkeit in Richtung auf ein emotional-personales ›Du‹, auf ein sinnlich-sachliches ›Es‹ und auf ein subjektiv-erlebendes ›Ich‹ vermittelnd aufschließen und

E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 33. 17 Ebd., 73 ff.; E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 176 f. 18 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ebd., 80. 19 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 132 f. 20 Ebd., 144. 21 J.W. von Goethe, Maximen und Reflexionen. Nach den Handschriften des Goetheund Schiller-Archivs, Hrsg. von M. Hecker, Weimar 1907, Maximen 391–393, 75 f. 16

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erkennend konstituieren.22 Wirklichkeit erweist sich demnach grundsätzlich als subjektiv e r l e b t , als personal-belebt w a h r g e n o m m e n und als sinnlich-sachlich e r f a h r e n . Diese Wahrnehmungsmodi fungieren dabei aber selbst unmittelbar, weshalb Cassirer sie Urphänomene oder Basisphänomene nennt. Gleichzeitig sind sie uns lediglich auf eine mittelbare, immer unvollständig bleibende Weise der Reflexion und Rückschau des Geistes zugänglich. In jeder einzelwissenschaft lichen Einstellung wird von diesen Urphänomenen der Wirklichkeitswahrnehmung bzw. Objektivationsrichtung jedoch aus Gründen des positiven Erkenntniszieles abgesehen, erst eine methodische Blickwendung läßt sie zum Thema für den Wissenschaft ler und den Philosophen werden.23 Ganz im Sinne Natorps24 und Husserls25 erklärt Cassirer, daß die Basisphänomene der Wirklichkeitserfahrung indirekt sichtbar werden, wenn »wir von den ›objektiven‹ Gebilden zurückfragen nach ihren ›subjektiven‹ Quellen und ›Ursprüngen‹«.26 Er betont zudem, daß diese drei Vermittlungsweisen nie isoliert, sondern immer als ein Ganzes – d. h. korrelativ aufeinander bezogen – betrachtet werden müssen. Den Entschluß, sich gerade innerhalb wissenschaftstheoretischer Überlegungen einer Analyse der die »Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene« abgebenden Wahrnehmung zuzuwenden, begründet Cassirer u. a. damit, daß in unserem Falle eine bloße Analyse der Begriff sformen nur wenig zum Verständnis der Objekte der Kulturwissenschaften, ihres Kulturcharakters beitrage. Es gelte vielmehr, die kulturwissenschaft lichen Begriffe – wie auch die naturwissenschaftlichen Gegenstandsformen – bis Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Basisphänomene‹. Eine Synthese von Goethes ›Urphänomenen‹ und Carnaps ›Basis‹ der Konstitutionssysteme«, 345– 366. 23 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 139. 24 P. Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, 189 ff. 25 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), in: Hua, Bd. III/1, Hrsg. von K. Schumann, Den Haag 1976, 179 f.; hier spricht Husserl von einer mit Natorps Lehre vergleichbaren Doppelrichtung des objektivierenden und des subjektivierenden Blicks, die am Erlebnis eine Einheit bildet, wobei den beiden Richtungen getrennte Untersuchungen nachzugehen haben: diese bewegen sich einmal »nach der reinen Subjektivität« hin und fragen ein andermal »nach dem, was zur ›Konstitution‹ der Objektivität für die Subjektivität gehört.« 26 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 145; siehe dazu auch vom Verfasser, »Cassirers Theorie der Basisphänomene. Ihre Bezugnahme auf Husserl und Natorp«, in: ders., Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen (2016), a. a. O., 261–284. 22

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zu ihrer »letzten Erkenntnisquelle zurückzuverfolgen«. 27 Bereits 1925, in seinem Werk über Das mythische Denken (PSF II), hatte er die im mythischen Bewußtsein fungierende, noch undifferenzierte emotionale Ausdruckswahrnehmung als elementarste, ursprünglichste geistig-sinnliche Leistung des menschlichen Gemüts ausgemacht, auf der andere, auch die theoretischen Leistungen aufbauen. Unter Rückgriff auf die drei Basisphänomene vermag Cassirer nun diesen Aufbau mit seinen Richtungen phänomenologisch seinem ›Bestand‹ nach zu erfassen und zu beschreiben. Diese Beschreibung des phänomenalen Bestandes der elementaren Wahrnehmung legt ihre Intentionalität in zweifacher Richtung offen, nämlich sowohl »auf das ›Du‹« als auch »auf das ›Es‹« hin. 28 Je nach Richtung der Intentionalität gewinne die Wahrnehmung eine besondere Färbung und Tönung, gewinnt das Erleben von Wirklichkeit die Bedeutung von personaler Ausdruckswahrnehmung oder von Ding- bzw. Sachwahrnehmung.29 Beiden Richtungen des Wahrnehmens wohne zudem – als dritte Richtung – die Möglichkeit der Beziehung auf das Ich als ihren Träger und Ausgangspunkt ein.30 Die ursprüngliche, elementare Ausdruckswahrnehmung, in der die beiden intentionalen Richtungen noch ungeschieden sind und die vor allem für das mythische Bewußtsein charakteristisch sei, offenbart sich für Cassirer so als »Urphänomen des Lebendigen«, als letzte »Grund- und Urschicht« aller geistigen Energien und somit auch als »letzte Erkenntnisquelle«, zu der wir noch zurückfinden können. An ihr – und damit an ihren drei Modi – thematisiert er die Verwurzelung der verschiedenen wissenschaftlichen Begriffstypen im ›Urphänomen des Lebens‹. Gleichzeitig weiß Cassirer wohl darum, daß, wegen der grundsätzlichen ›Feindschaft‹ aller theoretischen Erkenntnis gegenüber dem Mythos, sowohl die Philosophie – in Gestalt des logischen Positivismus – als auch die Wissenschaft gemäß ihrer eigenen Logik die »Quelle zu verstopfen suchen, aus der der Mythos sich ständig nährt, indem sie der Ausdruckswahrnehmung jegliches Eigenrecht bestreiten.«31 In der Folge und Konsequenz, so Cassirers These, werden Ausdrucksqualitäten durch Sinnesqualitäten ersetzt, und diese schließlich durch rein-quantitative Bestimmungen. Auf diesem Wege habe die theoretische E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 414. 28 Ebd., 396. 29 Ebd., 397. 30 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 122. 31 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 397. 27

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Naturauffassung, die selbst ein Resultat, aber kein Anfang der Wirklichkeitserkenntnis ist, bereits alles ›Personale‹ aus sich verdrängt und ausgeschaltet.32 Die in deren Logik selbst liegende Tendenz des Sich-Abwendens vom ›Lebensgrund‹ will Cassirer nun nicht etwa rückgängig gemacht sehen, aber ein Grund für Besorgnis ist das daraus resultierende verkürzte Verständnis der Wirklichkeit für ihn schon. Erweist sich doch das rein sachliche Erkenntnisziel der Naturwissenschaft gerade dann als problematisch und wirklichkeitsverengend, wenn wir es mit der gestalteten Welt des Menschen zu tun haben, die sowohl als natürliche als auch als kulturelle ›Es‹-Objektivität verstanden werden muß. Die eigentlichen Kulturwerke vereinen beide Arten von Objektivität in sich: an der sachlichen Objektivität ist jeweils ihr kultureller Sinn beschreibend zu erfassen und zu erklären. Kulturleben, also u. a. Sprache, Kunst, Religion, Staat bzw. das »staatliche Leben«,33 schlägt sich in Kulturwerken nieder, bei denen sich stofflichphysische Dimension, psychische Dimension der sie schaffenden Individuen und soziale (historische) Dimension des Lebens dieser Individuen unterscheiden lassen. Obwohl physikalische, psychologische und soziologische Begriffe diese drei Seiten oder Dimensionen jeweils zu erfassen vermögen, gehe ihnen darüber der eigentliche kulturelle Sinn dieser Werke, d. h. ihr religiöser, künstlerischer oder wissenschaftlicher etc. Sinn jedoch verloren. Diesen erfassen wir, so Cassirer, ausschließlich mit Hilfe eigenständiger und eigentümlicher kulturwissenschaft licher Begriffe als eine quasi vierte Dimension.34 Und diese Begriffe erschließen sich uns genau dann und nur dann, wenn wir die subjektive, lebendige, persönliche Tönung beachten, die die emotionale Ausdruckswahrnehmung allen Inhalten aufprägt, weshalb sie entscheidenden Anteil an der Gestaltung kultureller Objekte hat. Im kulturellen Gebilde erstarrt zwar gewissermaßen der in ihm objektivierte Ausdruck, dennoch tragen die »›erstarrten‹ Gebilde […] noch eigentümliches ›Leben‹, d. h. eine Permanenz und Wandlungsfähigkeit in sich«.35 Das führt uns, so Cassirer, zu der Einsicht, daß die Werke der Kultur ihre ideellen Momente, die ihren jeweiligen eigentümlichen Sinn, ihre jeweilige verstehbare Form als religiöses, ästhetisches oder wissenschaftliches Werk – und somit ihre Funktion, Gegenstand einer bestimmten Kulturwissenschaft zu sein – ausmachen, in einer persönlichen Prägung erhalten. Die Kulturform ist somit eine »›geprägte Form‹ […], die lebend sich Ebd., 405 f. Ebd., 407. 34 Ebd., 407. 35 E. Cassirer, »Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 127. 32 33

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entwickelt«.36 Diese Sinnprägung, die sich als ein immer neuer »Gebrauch der Form«, als eine ständige »neue ›Beseelung‹ der Form«, als ein »Einströmen neuen seelischen ›Lebens‹ in sie« vollzieht,37 realisiert sich an der sinnlich-stofflichen Verkörperung eines dargestellten Inhaltes (›Was‹). Für ein eigentümliches Kulturwerk, in seinem Unterschied vom Naturding, sind demnach drei Dimensionen bestimmend: die »des physischen Daseins, [die] des Gegenständlich-Dargestellten, [und die – C.M.] des Persönlich-Ausgedrückten«.38 Es sind die Individuen, die sich in ihrer Arbeit »in diesen Formen ausdrücken« und dabei diese Ausdrucksinstrumente verwandeln und »sich lebendig entwickeln« lassen.39 Da die persönliche Sinnprägung an dem sich im physischen Dasein verkörpernden ›Was‹ unterschiedliche kulturelle Sinnformen zum Ergebnis hat, können wir die Feststellung treffen, daß das ›Urphänomen des Lebens‹ in Gestalt der Ausdruckswahrnehmung, daß die verborgenste belebende Quelle am Kulturwerk keineswegs ein amorphes Erscheinen ist, sondern eines, das Richtung, Form und Struktur besitzt bzw. stiftet. Den alles belebenden Ausdruckscharakter macht sich auch große Geschichtsschreibung – für Cassirer eine der Voraussetzungen von Kulturwissenschaft – zu eigen und zu nutze. Es sei eben die Ausdrucks-Sprache (Physiognomik), mit deren Hilfe sich die Eigenart des kulturellen Lebens einer Epoche erschließt. 40 Mit der notwendigen theoretischen Reflexion geht allerdings alle unmittelbare, intuitive Sicherheit und Gewißheit des Physiognomischen verloren. 41 Der Symbolphilosoph beharrt dennoch auf der Maßgabe, die »ganze Fülle der reinen Ausdruckserlebnisse« – das ›Urphänomen des Lebens‹ also – methodisch weder aus der Geschichtsschreibung noch aus der Kulturwissenschaft zu verbannen. 42 Als eine Art Zwischenresümee läßt sich somit sagen, daß das »reine Ausdruckserlebnis« für Cassirer unabdingbar zu den »Konstituentien eben dieser ›Welt‹« gehört, 43 es hat sich als unausrottbares Urphänomen auf »unerschütterlichem Grund« herausgestellt. Alle Formen der Kultur, Ebd., 128. Ebd., 131. 38 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 400 f.; an dieser Stelle verweist Cassirer nicht auf die soziale Dimension, in der die den Kultursinn prägenden Individuen leben. 39 E. Cassirer, »Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 134 f. 40 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 440. 41 Ebd., 402. 42 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 16 f. 43 Ebd., 138 f. 36 37

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des kulturellen Sinns, wie z. B. die Sprache, erweisen sich aus diesem Blickwinkel als lebendige Formen, die ihren letzten Grund in einem Lebensphänomen haben. Dabei wiederhole sich »im Gebiet der Ausdruckswahrnehmung derselbe Prozeß, den wir im Aufbau der objektivierenden Erkenntnis verfolgen können«: der scheinbar unmittelbar, gewiß gegebene Gegenstand rückt bei reflexiver Vergegenwärtigung nach und nach in immer weitere, mittelbare Ferne. 44 Doch auf dem »Wege zur spezifisch–menschlichen Welt, auf dem Wege zur Sprache, zur Kunst, zur theoretischen Erkenntnis«, d. h. beim Aufbau der vielfältigen kulturellen Sinnwelten offenbare die Ausdruckswahrnehmung nun erst »ihren eigentlichen Rechtsgrund«. Sie fungiert hier als eine »eigentümliche und selbständige Lichtquelle«, die wir nicht entbehren können, wenn wir uns die »Strukturen der ›Kulturwelt‹ durchsichtig machen« wollen. Damit beweist sie, daß sie zu den »Grundmitteln der Objektivierung selbst« gehört und somit bereits »eine echte ›Objektivität‹« besitzt, 45 die derjenigen Weise der Objektivität, wie sie – konstituiert in der sachlichen Sinneswahrnehmung – den Naturwissenschaften zu Grunde liegt, ebenbürtig gegenübertritt. Deshalb ist die Ausdruckswahrnehmung als der »natürliche Ausgangspunkt aller kulturwissenschaft lichen Forschung« zu begreifen und zu behandeln. Sie ist es letztlich, die die Grundlage dafür bietet, daß der kulturwissenschaft liche Begriff ein Charakteristisches ausdrückt, was ihn an eine »›physiognomische‹ Erkenntnis« bindet. 46 Alle Kulturwissenschaft ist für Cassirer deshalb »Ausdrucks-Wissenschaft«. 47

3. Eigentümliche kulturwissenschaftliche Begriffsbildung Um noch detaillierter auf die Besonderheiten der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung und ihre Verankerung im personalen ›Du‹-Basisphänomen, also der ursprünglich-intuitiven Erfahrung des Anderen, eingehen zu können, ist auch ein Blick auf die konstituierenden Funktionen der anderen beiden Ur- oder Basisphänomene der Wirklichkeitswahrnehmung zu werfen. In Cassirers Theorie haben grundsätzlich alle drei Urphänomene an der Konstituierung der einzelnen Typen von Wissenschaft bzw. Richtungen der Objektivation ihren – je unterschiedlichen – Anteil. Den Anspruch, »einen Ebd., 149 f. Ebd., 151. 46 Ebd., 165, 168. 47 E. Cassirer, »Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 153. 44 45

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allgemeinen, systematischen Überblick über die verschiedenen Methoden« zu geben, die in den Einzelwissenschaften Anwendung finden und »die deren ›Wirklichkeitsbegriff‹ bestimmen«, versucht Cassirer in der bereits erwähnten systematisch angelegten wissenschaftsphilosophischen Studie einzulösen, 48 die parallel zu dem wissenschaft sgeschichtlich aufgebauten Erkenntnisproblem IV entsteht und ebenfalls zu Lebzeiten nicht mehr erscheinen sollte. Die »Grundrichtungen der Wirklichkeitserkenntnis«, die sich auf die drei Basisphänomene ›Ich‹, ›Es‹ und ›Du‹ zurückführen lassen und die drei Grundtypen von Wissenschaft konstituieren, kommen exemplarisch in der reinen Mathematik, im exakten Naturerkennen (d. h. in der theoretischen Physik und der beschreibenden Biologie) und in der Kulturwissenschaft samt Geschichtsschreibung zum Tragen. Gleichzeitig betont Cassirer immer das eigenständige ideographische Erkenntnismotiv der Geschichtsschreibung. Bei allen drei Erkenntnisrichtungen baue der theoretische Objektivierungsprozeß, d. h. die »Welt des Begriffs und der wissenschaft lichen Erkenntnis«, nicht erst auf der empirischen Anschauung, sondern bereits auf der Ungeschiedenheit von Ausdrucks- und Sinneswahrnehmung auf. 49 In ihrem Befund weisen alle Formen oder Richtungen von Wirklichkeitserkenntnis einen bestimmten Typ von intendierter Gegenständlichkeit aus. Diese typischen Intentionen erfüllen sich in jeder der drei Grundrichtungen von Objektivierung auf andere Weise, nur »die Form des Objektbezuges [als solche – C.M.], als allgemeine Form«, bleibe jedesmal bestehen.50 So erhebe sich, wie Cassirer feststellt, das Urphänomen des unmittelbaren, fl ießenden subjektiven Lebens (›Ich‹) bis zum reinen Erzeugen und Konstruieren des mathematischen Denkens. Die Erkenntnisweise der mathematischen Synthesis, das mathematische Konstruieren von Gegenstandsbereichen, entfaltet und erfüllt dabei reine Denkmöglichkeiten. Sie beansprucht kein Pendant in der seelischen oder sinnlich-empirischen Wirklichkeit. Die moderne Mathematik bilde einen »in sich geschlossenen intellektuelle[n] Kosmos« eigentümlicher Objektivität aus, in welchem die natürlichen Zahlen keine Vorzugsrolle spielen.51 Sein spezifisches erkenntnistheoretisches Motiv läßt das mathematische Denken Allgemeinbegriffe durch konstruktive Deduktion, nicht jedoch Gattungsbegriffe per Induktion bilden.

48 49 50 51

E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 186. Ebd., 31. Ebd., 29. Ebd., 67.

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Den beiden anderen Formen der Wirklichkeitserkenntnis sei zunächst einmal das Ziel gemeinsam, aus dem »Strom des Geschehens«, der von einem ›Ich‹ erlebt wird, »bestimmte Gestaltungen herauszulösen, die in gleichartiger Weise wiederkehren«. Wie schon mehrfach angedeutet unterscheidet Cassirer bei diesem Herauslösen von wiederkehrenden Gestaltungen grundsätzlich zwei Richtungen. Die ›Es‹-Richtung der sich vollziehenden Synthesis, die über die objektivierende Sinneswahrnehmung führt, baut die empirische und endlich die theoretische Ordnung von Welt als die eines Menschen ›Werk‹ auf. Sie geht auf objektive Gesetze,52 weil ihr Erkenntnismotiv auf wissenschaftlich intendierte Konstanten und Invarianten im Strom des Geschehens abzielt. Auf dem von dieser Richtung geprägten empirischen Begriff fußt nach Cassirer auch der exakte Begriff der mathematischen Naturwissenschaft. Die Besonderheit der Konstantenbildung im Erfassen des vegetativen Lebens, wie sie Gegenstand der modernen Biologie ist, führt er auf ein jeweiliges Ineinander von kausaler Gesetzeserkenntnis (auf anschauender Sinneswahrnehmung beruhend) u n d Form- bzw. Gestalterkenntnis (auf emotionaler Ausdruckswahrnehmung und Ausdruckswerten ruhend) in unterschiedlichen Funktionskreisen zurück, was auf Parallelen zur Kulturwissenschaft verweise.53 Die »Kultur›formen‹« dürften aber immer nur als »›Organismen‹ [...] im Als-Ob Sinne« aufgefaßt werden.54 Als mathematische Erkenntnis verläßt die moderne Naturwissenschaft (Physik) die empirisch-anschauliche Welt;55 ihre spezifischen Invarianten konstituieren dabei einen neuen Wirklichkeitsbegriff, der sich aber schließlich wiederum an die Wahrnehmungswelt wendet.56 Dieser Typ von objektiver Wirklichkeitserkenntnis sei geschichtlich vom Dingbegriff der Wahrnehmung zum Substanzbegriff der klassischen Physik und von da zum Invariantenbegriff der allgemeinen Relativitätstheorie vorangeschritten.57 Die andere Richtung beim Herauslösen von wiederkehrenden Gestaltungen, die ›Du‹-Richtung der Synthesis, die auf die allbeseelende Ausdruckswahrnehmung mit ihren personalen Gestaltungen zurückweist, geht dagegen auf physiognomische Gestalten.58 In dieser dritten Grundrichtung der Wirklichkeitserkenntnis dürfen wir laut Cassirer keineswegs einen zu Ebd., 92. E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 50, 94, 102. 54 Ebd., 127; siehe dazu im vorliegenden Band auch den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 55 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 109. 56 Ebd., 113. 57 Ebd., 118. 58 Ebd., 83 f. 52 53

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überwindenden bloßen Rest des frühen mythischen Denkens sehen. Sie bilde vielmehr diejenige eigenständige Objektivationsweise menschlicher Leistung, die allein die kulturellen Sinnformen prägt. Deshalb habe sie der kulturwissenschaftlichen Forschung als Ausgangspunkt zu dienen und ihr die angemessene Weise der Begriffsbildung zu verschaffen. Die kulturwissenschaftliche Sichtweise ist auf einen Inbegriff von geistigen Formen59 – als individuell geprägter, lebendig sich entwickelnder – und auf deren Verstehen gerichtet. 60 Die Begriffe werden hier nicht als Kausal- oder Gesetzesbegriffe, sondern als »Form- und Stilbegriffe« bestimmt, die »Strukturprobleme« erfassen. 61 Deshalb können sie auch weder ›nomothetische‹ (Naturwissenschaft) noch ›ideographische‹ (Historie) Begriffe sein, 62 wie Wilhelm Windelband seinerzeit die beiden alternativen Begriffstypen genannte hatte. 63 Die kulturwissenschaft lichen Strukturbegriffe gehören dabei alle »zur selben logischen ›Familie‹«, was sie von den naturwissenschaft lichen Gesetzesbegriffen unterscheidet. Jeder einzelne Stil-, Struktur- oder Formbegriff drückt aber eine »eigene ›Weltsicht‹«, eine eigene »Grundrichtung des Denkens und Vorstellens«, des »Anschauens und Sehens« aus. 64 Diese Begriffe bilden dank spezifischer Synthese ein spezifisches Ganzes mit einer spezifischen Bedeutung, 65 wobei Cassirer eine reine Struktur- bzw. Formenlehre idealer Bedeutungseinheiten im Auge hat. 66 Ein zweites Feld, auf dem er immer wieder für die Anerkennung einer eigenständigen und eigentümlichen kulturwissenschaftlichen Erkenntnisrichtung streitet, und dies ebenfalls oft gegen die skeptischen Positionen, wie sie im ›Wiener Kreis‹ vertreten werden, ist die Frage der begründeten unmittelbaren Gewißheit von Fremdpsychischem bzw. fremdem Seelenleben als einem ›Urfaktum‹ für die Kulturphilosophie bzw. -wissenschaft. 67 Mit Zum Formbegriff siehe die anregende systematische Studie von O. Schwemmer, Kulturphilosophie (2005), Kap. 4 (89 ff.) und 5 (135 ff.), aber auch 35 ff., 46 ff., 192 ff. 60 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 174. 61 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »System und Struktur. Eine Begriffsbeziehung bei Cassirer«, 655–702. 62 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 158. 63 W. Windelband, »Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede)« (1894), in: Präludien. Reden und Aufsätze zur Philosophie und ihrer Geschichte, 6. Aufl., Zweiter Band, Tübingen 1919, 136 ff., hier: 145. 64 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 62. 65 Ebd., 57. 66 Ebd., 66. 67 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 74; »Carnap und der Wiener Kreis« verwandeln, so Cassirer, »die ganze Frage der ›Gewißheit vom Fremdpsychischen‹ […] in eine Frage des objektiv-wissenschaft lichen Urteils«, und verwandeln sie so in ein Laborexperiment. Als eine solche komme sie aber »im wirklichen Verkehr von 59

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den Begriffen ›Seelisches‹ und ›Fremdpsychisches‹ tue sich nämlich noch ein weiterer Begriff von Wirklichkeit auf, dem die Objektivierung auf der Grundlage des ›Du‹-Basisphänomens entspricht. 68 Hierbei handle es sich nicht um das mittelbare Deuten, sondern um das unmittelbare Erschließen seelischer Zustände, was sich über das reine Ausdruckserlebnis vollzieht, welches so die unmittelbar gewisse Wirklichkeit von Fremdpsychischen bezeugt. Die reflexive Wissenschaft vom Fremdpsychischen vertreibt allerdings diese unmittelbare Anschauung fremden Lebens und fordert den mittelbaren theoretischen Beweis. Cassirer ist überzeugt davon, daß die Anerkennung einer eigenständigen und eigentümlichen Erkenntnisart vom Fremdpsychischen und die von Kulturobjekten unlösbar miteinander zusammen hängen. Tragen diese Objekte als materielle Gehalte doch Ausdruck und Bedeutung, also seelisches oder geistiges Leben. Fremdes Seelenleben erfassen wir demnach an seinen Objektivationen mittelbar, die aber als seine Ausdrücke zu erschließen sind. 69 Das Objektive »fremder ›Subjekte‹«, das wir »in der Sphaere der Kultur« mittelbar »aus ihren ›Werken‹« erkennen, wirkt nämlich »immer zugleich [auch – C.M.] als Ausdruck«, als Bekenntnis. Damit vollendet sich, so Cassirer, mit dieser objektiven Erkenntnis etwas, »was im bloßen Ausdruckserlebnis begonnen war«.70 In den Kulturphänomenen, die von uns rezipiert und verstanden werden, sei »das ›Seelische‹ in unbezweifelbarer Form gegeben«, allerdings immer nur über die ihnen einwohnende Darstellungsfunktion.71 ›Darstellung‹ enthalte immer ein doppeltes Moment: das ›objektive‹ des gemeinten, intendierten Sachverhaltes u n d das ›subjektive‹ der individuellen Form, des individuellen Stils. »Wirkliches ›Verstehen‹ […] fremden Seelenlebens‹« sei aber letztlich nur in der objektiven Ebene möglich, durch die Teilhabe an der objektiven Geistigkeit (Kultur), durch produktive Darstellungsaktivitäten.72 Deshalb enthalten für Cassirer die Kulturwissenschaften, als die Wissenschaften von den Grundformen dieser geistigen Aktivitäten, »durch die erst das wahre Verständnis des ›See-

Mensch zu Mensch niemals vor[…]«. – E. Cassirer, »Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 178. 68 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 135. 69 E. Cassirer, »Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 153. 70 Ebd., 170. 71 Ebd., 121; »Das ›sich-Verständigen‹ durch darstellende Sprache ist der feste Urgrund alles Wissens vom Fremdpsychischen und alles Verstehens vom Fremdpsychischen.« - Ebd. 72 Ebd., 122.

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

lischen‹ sich vermittelt«, den »einzig gültigen Beweis des Seelischen – […] in der Form des Er-Weisens, Aufweisens«.73 Dem Problem der Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung innerhalb der drei urphänomenalen Konstitutionsmodi von Wahrnehmung sucht sich Cassirer außerdem über den Begriff der »Kreise des Seins«, die gegeneinander abzugrenzen sind, zu nähern. Auch dieses Herangehen führt ihn immer wieder auf das ›Urphänomen des Lebens‹. Den ursprünglichen Kreis bilde der Ich-Modus in seiner »Lebensfülle« und rastlosen Bewegung. Das ›Ich‹ erlebt dann in der Außenwelt des Anderen (›Du‹) – als einem zweiten Kreis – die Schranke seines eigenen Tuns.74 Einen dritten begrenzenden Kreis des Seins erfährt das ›Ich‹ in den tätig geschaffenen Werken (›Es‹), in denen sich sein Wirken und Tun eine erkenn- und verstehbare Form gibt. Dieses objektivierte Sein, das auf der sachlich-gegenständlichen Urintention der Wirklichkeitswahrnehmung und deren Art der Objektivität gründet, stammt, so Cassirer zutreffend, »ganz aus uns selbst […], ohne doch uns selbst anzugehören«. Als »spezifisch-menschliche Wirklichkeit«, als »Wirklichkeit der Kultur«,75 umfaßt es – als Menschenwerk – auch die Naturwissenschaften samt deren Erkenntnisgegenständen. Anderseits scheidet sich in diesem dritten Kreis des Seins die eigentliche sinnhafte Gestaltenwelt der Kultur von der Gesetzeswelt der Natur. Die Kulturwissenschaften verfolgen nun in diesem dritten Kreis ein »eigentümliches Erkenntnisziel«, das – neben Naturerkenntnis und historischer Erkenntnis – eine »dritte selbständige Koordinaten-Achse darstellt und damit eine neue ›Dimension‹ des Wissens begründet«.76 Da die eigentümlichen Gegenstände der Kulturwissenschaften vor allem historisch beschrieben und gedeutet werden, befaßt sich Cassirer bei seinen Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung auch intensiv mit der Methode bzw. dem methodischen Selbstbewußtsein in der Kulturgeschichtsschreibung, was ihn erneut zur Begrifflichkeit des Lebens führt. Obwohl auch die organischen Naturformen ein entwicklungsgeschichtlich zu behandelnder Gegenstand sind, steht für ihn das System der Kultur, das System der symbolischen Kulturformen im Zentrum der Historie als Wissenschaft. Der Historiker, der dem Kulturwissenschaft ler und dem Kulturphilosophen das Material der Analyse bereitstellt, eröffnet ihnen auf diese Weise einen »Einblick in die Lebensformen der Vergangenheit«.77 Worauf Ebd., 124 f. E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 9 f. 75 Ebd., 10 f. 76 Ebd., 153. 77 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 361. 73 74

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die Kulturwissenschaft ihrem Erkenntnisziel, nämlich die »Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht«, geordnet zu erfassen, zuarbeiten kann.78 Die Geschichtswissenschaft sucht dabei »vergangenes Leben« zu verstehen, indem sie es deutet, wodurch sie seine Form bewahrt, weil sein Inhalt nicht zu erneuern und wiederzubeleben ist.79 Damit fungiert die historische Betrachtung der kulturellen Formen des menschlichen Lebens als materia le Grundlage für die diese Formen erforschenden und entfaltenden Kulturwissenschaften. Diesen Formen schreibt Cassirer die gleiche subjektivobjektive, sinnlich-sinnhafte Doppelnatur zu, die auch den symbolischen Formen eignet. Über diese Doppelnatur und ihre Verwurzelung in der emotionalen Ausdruckswahrnehmung ist und bleibt die kulturelle Gestalt dem ›Urphänomen des Lebens‹, »diesem Erdreich«, immer verbunden. 80 Zudem enthält jede kulturelle Gestalt den Grundkonflikt des empirisch Historischen (Präsenz) und des ideell Unzeitlichen (Bedeutung). Indem nun die Kulturwissenschaften mit Hilfe einer »Fülle der Formund Stilbegriffe« eine Wiederbelebung der Kultur der Vergangenheit vollbringen, werden die historischen Monumente, die von der Geschichtsschreibung erforscht werden, von ihnen als Symbole aufgefaßt, die uns »bestimmte Lebensformen« erfassen, verstehen und somit wiederherstellen lassen. »Die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln«. Damit macht sie »das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar«. 81

Der produktive Prozeß des Erschaffens von kulturellen Symbolen und der reflexive Prozeß ihres Begreifens bilden für Cassirer allerdings notwendig entgegengesetzte Richtungen geistiger Aktivität, die nicht zugleich vollzogen werden können. Jede von der Kulturwissenschaft erforschte Form spricht den konkreten Charakter eines kulturellen Sinnphänomens aus und fällt deshalb mit der entsprechenden symbolischen Form zusammen. Die einzelnen Kulturwissenschaften sind somit Theorien einer jeweiligen symbolischen bzw. kulturellen Form. Durch die sogenannte »universale Überschau« löse die eigenE. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 434. 79 Ebd., 435. 80 E. Cassirer, EP Bd.IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 343. 81 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 445. 78

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

tümliche Methode einer jeden kulturwissenschaft lichen Disziplin aus der »Fülle der Einzelphänomene ein ›Urbildliches‹ und Typisches« heraus. Diese ›idealtypische‹ Betrachtung (Max Weber) stelle ebenfalls eine »eigene und legitime Art der kulturwissenschaft lichen Begriffsbildung« dar. 82 Das mögliche Erfassen, Erschauen der urbildlichen und typenhaften »Grundformen der Kultur« setze einen bestimmten Blickpunkt, eine bestimmte Art und Weise der Betrachtung voraus. Dabei drückt der kulturwissenschaft liche Begriff des Ganzen, einer Epoche etc. etwas Charakteristisches aus, das uns auf eine »›physiognomische‹ Erkenntnis«, auf ein lebendiges Ausdruckserlebnis zurückführt. 83 Für die Erforschung der kulturellen Werke sind demnach Erkenntnismethoden gefordert, die das materiale und das Formmoment des Werkes erschließen. Bei den Begriffen, die die Kulturobjekte bzw. ihren ideellen Bestand aufk lären sollen, eröffnet sich Cassirer deren Spezifi k auch aus der eigentümlichen Weise, wie sie die »Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine vollziehen«. Dies erfordere nämlich eine andere »Art der ›Zusammenschau‹« als die in der Naturwissenschaft praktizierte. 84 Auch wenn beiden Wissenschaftstypen die Zusammenschau als solche gemeinsam ist, wird hier eine andere Beziehung zwischen Individuellem und Allgemeinem als in den auf Kausalität und Gesetze abzielenden Wissenschaften freigelegt. Diese zum Wesen des kulturwissenschaft lichen Begriffs gehörende »andere« Beziehung oder »Fügung« bezeichnet Cassirer auch als den »Lebensfaden des [kulturwissenschaft lichen – C.M.] Begriffs«, der vom Wissenschaftler oder Philosophen niemals zerschnitten werden dürfe. 85 Zudem stehe diese spezifische Weise der Subsumtion immer in Bezug zu einem entsprechenden »Lebensgefühl« der Menschen. Gemäß ihrer Eigenart zielt die kulturwissenschaft liche Betrachtung deshalb vor allem – aber nicht nur – auf das Subjektive, hat sie doch den ästhetischen, religiösen, rechtlichen etc. Tätigkeits-Pol zu unterscheiden. Cassirer zeigt nun für jede Kulturform, die ihre kulturwissenschaft liche Bewußtwerdung erlebt, auf, daß sie in einem subjektiven Lebensgefühl der Individuen wurzelt, in ihm ihre letzte ›Quelle‹ hat. Damit hält er am Grundbegriff des subjektiven Lebensgefühls als der tiefsten Schicht rationalen Verhaltens fest. 86 Inspiriert hat ihn dabei wiederum Goethe, den das eigentümliche Lebensgefühl

E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 161 f. Ebd., 168. 84 Ebd., 72 f. 85 Ebd., 69 f. 86 Siehe dazu auch Y. Hamada, Symbol und Gefühl. Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie, (CF, Bd. 17), Hamburg 2016. 82 83

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immer wieder zu theoretischen Erkenntnisfortschritten geleitet habe. 87 Der Bezug zum Lebensgefühl liegt auch der Wertschätzung des Momentes der Lebendigkeit in der Geschichtsschreibung zugrunde. Cassirer, der vom Historiker die »lebendige Anschauung früherer geistiger und menschlicher Zustände« fordert, 88 sieht Ziel und Aufgabe wissenschaft licher Historie in der »lebendigen geschichtlichen Forschung oder geschichtlichen Darstellung«, 89 selbst die historische Objektivität solle und könne sich aus der »Quelle der lebendigen Anschauung« nähren.90 Das Lebensgefühl darf folglich gleichzeitig als Gegenstand und als Methode der Geschichtsschreibung fungieren. Ein letzter Gedanke, ein Argument Cassirers sozusagen gegen kulturellen Nihilismus. Da die »Welt der Formen« nur im »funktionellen Vollzug« als Aufbaubewegung des Ich, des Subjektes erfaßt werden kann,91 darf sich bei dieser Betrachtungsweise das Subjekt nicht selbst verlieren. Es würde nämlich mit sich als dem Organisator aller Formen auch alle Objekte bzw. Formen aufgeben. Deshalb steht für die Kulturwissenschaft auch nicht so sehr das fertige Werk, sondern mehr die jeweilige formbildende Tätigkeit des Subjektes im Mittelpunkt des Interesses. Damit wird die Aufmerksamkeit auf das beständige Fließen, Werden der entsprechenden kulturellen Sinnform gerichtet, an dem die jeweilige Tätigkeit ihren Anteil hat. Auf den beständigen ›Fluß‹ einer Kulturform, der ihr geistiges Sein nicht nur nicht zerstört, sondern vielmehr als seine Bedingung fungiert, wendet Cassirer – wie auch Oswald Spengler – den Goetheschen Begriff der Metamorphose als passenden Terminus an.92 Die Problematik des über das ›Es‹-Basisphänomen aufzuschließenden Werkes, in welchem der Mensch sich objektiviert und durch das er andern mittelbar kenntlich wird, sieht Cassirer grundsätzlich sowohl in Georg Simmels Theorie von der ›Tragödie der Kultur‹93 als auch in Goethes Dichtwerk Prometheus aufgeworfen.94

E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 163, 166. 88 Ebd., 259. 89 Ebd., 270. 90 Ebd., 276. 91 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 170. 92 Ebd., 172 f.; zu dem von Cassirer und Spengler benutzten Goetheschen Begriff der Metamorphose siehe u. a. vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstift ung, Berlin 2003, 105 ff., 159 ff. 93 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 462 ff. 94 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 125. 87

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die exemplarisch die kulturwissenschaft liche Formenanalyse vornimmt bzw. auswertet, fragt hier »nach der ›Struktur‹ der Werke«, nach ihren Bedingungen und stellt sie in ihrer allgemeinen Form dar. Vom geschichtlichen Material aus, das ihr die Historie bereitstellt,95 vollzieht sie ihre »Wendung ins Allgemeine«, hin zu den Formen. Das ist »echte Konstitution« der Welt der Formen, mit der sich erst der »wahrhafte Zugang« zu der Sphäre der Kulturwerke erschließt, von der aus sich jede eigentümliche Form der Kultur-Werke als spezifische und als universelle »Form der Sinngebung« verstehen läßt.96

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Ebd., 163 f. Ebd., 164 f.

Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers

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as Krisenbewußtsein, das Naturalismus und Säkularisierung im kulturellen Selbstverständnis der Zeit ausgelöst haben, läßt Philosophen wie Max Scheler, Helmut Plessner und Bernhard Groethuysen Ende der 20er Jahre beginnen, an einer philosophischen Anthropologie zu arbeiten, um die verlorengegangene Sinnorientierung durch anthropologische Selbstbestimmung wieder zu gewinnen. Dieses Programm ist und bleibt nicht nur nicht unumstritten, sondern auch noch genauer zu bestimmen und auszufüllen.

1. Cassirer und das Selbstverständnis der philosophischen Anthropologie Die moderne philosophische Anthropologie geht nicht einfach aus der uralten Frage nach dem Wesen oder der Natur des Menschen hervor. Vielmehr bringt sie das radikale Ringen um die Sinndeutung menschlicher Existenz unter der naturwissenschaftlich-philosophischen Konstellation der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts (Primatenforschung etc.) zum Ausdruck. Die Aufgabe, in dieser Konstellation die »Sonderstellung« des Menschen im Kosmos alles Lebendigen neu zu bestimmen, schließt auch ein, die »Teilhabe« des Menschen am biologischen Kosmos im Auge zu behalten. Deshalb muß die neue Disziplin unbedingt naturwissenschaftlich informiert sein. Außerdem ist zu klären, ob sie ontologische oder etwa biologische Erwägungen als Fundament haben soll, oder ob die herausgehobene kulturelle Existenz des Menschen lediglich funktional zu begreifen ist. Schließlich ist zu entscheiden, ob die philosophische Anthropologie ein »kulturrelativistisches Menschenbild« zu verfolgen oder an einer »universalistischen Dimension« des Menschen festzuhalten hat, ohne dabei einer »essentialistischen« Auffassung das Wort zu reden.1 In diesem Kontext erscheinen Stellungnahmen wenig überzeugend, die, wie die Edmund Husserls 1931, der philosophischen Anthropologie das Selbstverständnis bzw. die – zurückgewiesene – Aufgabe zuschreiben, »das wahre Fundament der Philosophie« bilden, als »methodologische GrundN. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, 12. 1

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

legung« für den Aufbau der Philosophie fungieren zu wollen. 2 Cassirer, der die Diagnose einer modernen Krisis des menschlichen Selbstverständnisses teilt, und der in der philosophischen Anthropologie eine Möglichkeit sieht, dieser Krise zu begegnen, favorisiert eine funktionale Bestimmung des Menschen als eines sich durch Symbolisierungsleistungen auszeichnenden Wesens (animal symbolicum), das sich mit der Kultur als Ensemble symbolischer Formen eine zweite, künstliche Natur schafft . Damit stellt er seine in den 20er Jahren in Umrissen formulierte Kulturphilosophie in einen Begründungszusammenhang mit der auszuarbeitenden philosophischen Anthropologie. Dies wird bereits 1928 in dem nachgelassenen Text »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« deutlich ausgesprochen.3 Die Frage, inwieweit Cassirer diesen Begründungszusammenhang überzeugend aufzuweisen vermag und mit seiner funktionalen und kulturphilosophischen Perspektive eine Transformation der philosophischen Anthropologie seiner Zeit vollbringt, ist Gegenstand gegenwärtiger philosophischer Diskussion. 4 Als sicher darf jedoch gelten, daß Cassirer sich die Ende der 20er Jahre mit Blick auf seine symboltheoretisch-kulturphilosophische Erklärung menschlicher Existenz herausgefordert sieht, sein Verhältnis zu der neu aufkommenden Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ zu bestimmen. In diesem Problemumfeld denkt er aber auch bereits selbst über eine solche Disziplin nach, die, um ihrem Anspruch gerecht zu werden, mit seiE. Husserl, »Phänomenologie und Anthropologie« (Vortrag in den Kantgesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle, Juni 1931), in: Hua Bd. XXVII: Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Hrsg. von Th . Nenon und H.R. Sepp, Dordrecht, Boston, London 1989, 164–181, hier: 164. 3 Hier geht es Cassirer darum, den »Dienst [zu] bezeichnen, den [s]eine […] ›Philosophie der symbolischen Formen‹ für die Grundlegung einer ›philosophischen Anthropologie‹ zu leisten vermöchte.« (E. Cassirer, »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« [1928], in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 53). In Anlehnung an Kant bestimmt er seine Philosophie als »ihr den Grund und Boden« bereitende ›Propädeutik‹ und als sie methodisch auf diesem Boden haltende ›Disziplin‹. (Ebd., 53) 4 Gerald Hartung z. B. vertritt die These, daß Cassirers Symbolphilosophie ihr »den Ausweg aus der aporetischen Lage« zeigt, in die sie sich als metaphysisch-substantialistische oder biologistische gebracht hatte (G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003, 362). Allerdings werde die Leistungsfähigkeit seiner »Philosophie der menschlichen Kultur« durch die »Unbestimmtheit ihrer Fundamente eingeschränkt«, was darauf abzielt, daß Cassirer mit der »Fremdartigkeit des Lebens«, mit den »biologischen Grundlagen menschlicher Existenz« nicht wirklich fertig werde. (Ebd., 363) 2

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ner Symbolphilosophie in Bezug zu setzen sei.5 Das kommt nicht zuletzt im 1927/28 verfaßten dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen zum Ausdruck. 6 Hier finden sich zwar keine expliziten Anschlüsse an die sich formierende Disziplin, wohl aber vielfach Überlegungen, die auf eine philosophische Anthropologie hinführen. Eine solche Überlegung klingt z. B. an, wenn Cassirer mit Hilfe der Ausdrucksfunktion und der Ausdruckswelt die »Brücke« vom lebendigen Geist zum organischen Leben zu schlagen sucht.7 Mit der Theorie der Ausdruckswahrnehmung als elementarster Funktion, an der sich menschliches und tierisches Leben, kultureller Lebenssinn und tierische Lebenszweckmäßigkeit zu scheiden beginnen, 8 hat Cassirer einen Erklärungsansatz zur Hand, um auf die naturhafte ›Vorgeschichte‹ der geistigen Funktionen zu verweisen. Als anthropologisch relevant erweist sich auch die Überlegung, wonach die Darstellungsfunktion, auf der die Sprache basiert und hinsichtlich des Ausdrucksvermögens etwas völlig Neues bedeutet, dem Tier noch fehlt.9 Zudem grenzt er »die Eigenart der menschlichen Sprache gegen jene Formen und Arten der ›Semantik‹«, wie sie sich im Tierreich ausgebildet finden, ab.10 Die anthropologische Relevanz gilt auch von den Überlegungen zur Kultur als wachsende Distanzierung von der Lebensunmittelbarkeit und als Mittelbarkeit einer symbolischen Formenwelt.11 Diese Emanzipation von der organischen Lebensunmittelbarkeit bildet als Freiheitsgewinn den eigentlichen Zielpunkt der Philosophie Cassirers. Auf den für die philosophische Anthropologie konstitutiven Mensch-Tier-Vergleich führen schließlich ebenfalls die Überlegungen zu den Konsequenzen des krankheitsbedingten Verlustes ideell-symbolischer Fähigkeiten (»Zur Pathologie des Symbolbewußtseins«).12 E. Cassirer, »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 53. 6 E. Cassirer, PSF, Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002. 7 Um die Ausdrucksphänomene als erste Sinngebungsleistung aufzuklären, müsse von der Analyse des menschlichen Wahrnehmens »in der Reihe der organischen Lebensformen« noch »ein Schritt weiter zurück« geschritten werden, zurück bis in die Welt des Tieres. – Ebd., 84. 8 E. Cassirer, PSF, Teil 1: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 124. 9 E. Cassirer, PSF, Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 134. 10 Ebd., 381. 11 Ebd., 319, 322. 12 Cassirer hat beobachtet, daß das sprachpathologische Verhalten des Kranken sich in größerer »Lebensnähe« als beim Gesunden vollzieht, daß es näher an der »Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen« verläuft. Für diesen Verlust symbolischer Grund5

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Im nachstehenden Beitrag soll zum Einen anhand von vier Anmerkungen dem von Cassirer selbst betonten Begründungszusammenhang von symbolischer Kulturphilosophie und philosophischer Anthropologie nachgegangen werden. Dabei dienen insbesondere die in ECN 6 (2005) zugänglich gemachten Texte als Anlaß für die Reflexionen. In dem Zusammenhang ist die Frage in den Blick zu nehmen, wie es Kulturphilosophie und Anthropologie bei Cassirer mit der »Naturseite des Menschen« halten.13 Hat doch eine philosophische Anthropologie nicht nur die herausgehobene Stellung des Kultur-Menschen g e g e n ü b e r dem kulturlosen Tier zu begründen, sondern auch das I n e i n a n d e r von tierischer (organischer) und kultureller Existenz des Menschen. Norbert Meuter z. B. gelangt mit kritischem Blick auf Cassirer zu der Erkenntnis, daß sich beide Existenzformen des Menschen nicht als quasi eigenständige, schichtenförmige auffassen lassen, da die »biologische Herausbildung der menschlichen Gattung« sich »bereits unter kulturellen Bedingungen vollzogen« hat, was die Kultur unlöslich mit ihrer natürlichen Grundlage verschmelzen ließ.14 Überlegungen zu Ansätzen einer Theorie anthropologischer »Konstanten« im kulturellen Leben des Menschen sollen die Ausführungen beschließen. Diese mehr oder weniger bewußt plazierten Aussagen, die sich verstreut im Cassirerschen Werk finden und die bislang in der Diskussion eher wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, bilden aus meiner Sicht notwendige Elemente einer anthropologischen Theorie Cassirers, da sie diese tendenziell über eine rein funktionale Deutung des Menschen als eines Symbole schaffenden und benützenden Wesens hinausführen.

2. Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie. Kritische Anmerkungen Auf die Frage, ob Cassirers Überlegungen zur philosophischen Anthropologie immer der Stoßrichtung ihrer Profi lierung als eigenständiger Disziplin gerecht werden, fällt die sich aus der Lektüre der entsprechenden Texte aufdrängende Antwort nicht eindeutig aus. Scheint er doch trotz aller Verweisungen auf die modernen empirischen Wissenschaften und auf die mit ihnen aufgeworfene neue Fragestellung nach dem Menschen die neue leistungen liefern »die ›Handlungsbilder‹ des Tieres […] oft schlagende Analogien«, die als »Beispiel[e] jener starren, stereotypen Handlungsfolgen […], wie sie sich bei den Kranken beobachten lassen«, gelten müssen. – Ebd., 320. 13 G. Hartung, Das Maß des Menschen, a. a. O., 363. 14 N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, a. a. O., 21.

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Disziplin letztlich aus den Hauptetappen der Geschichte der Philosophie herauszufi ltern. So enthalten alle drei in ECN 6 abgedruckten Texte diese historische Betrachtungsweise, die auch in die 1944 veröffentlichte Version des Essay on Man (Kap. VI) eingeht. Das Verfahren hat gewiß den Vorzug, aufweisen zu können, daß der modernen philosophischen Anthropologie ein jahrtausendealtes Nachdenken über menschliche Existenz vorhergeht. Vermutlich schlägt sich in ihm aber auch der methodisch-konzeptionelle Ansatz des Marburger Neukantianismus nieder, einen philosophischen Gegenstand aus seiner Denk- bzw. Rezeptionsgeschichte hervorgehen zu lassen. Dennoch scheint über eine solche historische Argumentation das Eigentümliche der Anthropologie speziell in der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts – der Kontext einer rein lebenswissenschaft lichen, die Unterschiede zum Tier nahezu verwischenden Theorie des Menschen – zu kurz zu kommen. An diese Lage fühlt man sich heute gelegentlich erinnert, wenn Philosophen fragen, ob Denken ohne Sprache möglich ist und ob Tiere denken können. Obwohl der im Manuskript »A Philosophical Anthropology« (1942/43) plazierte Hinweis auf eine »gefährliche Krisis« der wissenschaftlichen und philosophischen Theorien vom Menschen im 20. Jahrhundert in die angemahnte Richtung zielt,15 bleibt hier doch der Eindruck eines methodischen Hilfsgriffs zurück, der es ermöglichen soll, die symboltheoretische Erklärung als einzig überzeugende Lösung dieser Krisis wirkungsvoll zu plazieren. Außerdem wird der »modernen Wissenschaft« vor allem eine n e g a t i v e Rolle zugeschrieben, nämlich die besagte Krisis ausgelöst zu haben, indem sie die traditionelle anthropologische Theorie argumentativ zerstörte, ohne sie ersetzen zu können.16 Es ist eine Tatsache, daß Cassirer immer wieder Bezug auf den für die philosophische Anthropologie zentralen Stufengang des Organischen von der Pflanze über das Tier zum Menschen nimmt. Dennoch hat er, im Unterschied etwa zu Helmut Plessner, keinen einzelwissenschaftlich belastbaren philosophischen Begriff des organischen Lebens entwickelt, woran auch die vielen Verweise insbesondere auf die Lehre Jakob v. Uexkülls wenig ändern. Plessner dagegen realisiert in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) die von ihm selbst geforderte Ausarbeitung einer »Philosophie des Lebens im nüchternen und konkreten Sinne des Wortes«, vollziehbar durch eine »Wesensanalyse des Lebendigen«.17 Dies erlaubt es festzustellen, daß E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1942/43), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, Hrsg. von G. Hartung und H. Kopp-Oberstebrink unter Mitwirkung von J. Faehnrich, Hamburg 2005, 392. 16 Ebd., 388 ff. 17 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin/New York, 37. 15

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

der Gedanke, wonach die universale Dimension der menschlichen Existenz »mit Hilfe der empirischen Wissenschaft , insbesondere der Biologie, anthropologisch entwickelt werden« soll, »von Plessner systematisch entfaltet« wird.18 Cassirer dagegen, der eher die Geschiedenheit von pflanzlichem Leben, tierischem Instinkt und »Leben der Vernunft« als eigentümlichen »Lebenskreisen« betont,19 scheint die Theorien des organischen Lebens weitestgehend der positiven Wissenschaft überlassen zu wollen, da u. a. die Frage nach der Entstehung von Leben philosophisch irrelevant, unbeantwortbar, metaphysisch gestellt sei. Demgegenüber erscheinen die Argumente, mit denen er die besondere, also kulturelle Eigentümlichkeit des Menschen auf seine nichtvitalen Ausdrucks- und Objektivationsenergien und deren Objektivationen gründet, in der Tat als innovativ für eine moderne philosophische Anthropologie. Das »Wesen des Menschen«, so erläutert Cassirer seine Auffassung, läßt sich allein aus seinen fundamentalen geistig-symbolischen Tätigkeiten verstehen, nicht aber aus irgendwelchen Eigenschaften.20 Da die menschliche Natur sich somit aus der Natur der Sprache, 21 der Kunst, der Moralität etc. erschließt, muß eine objektive Strukturanalyse der Grundformen der Kultur – also Kulturphilosophie – betrieben werden. Diese wird ein allen Tätigkeiten zugrundeliegendes einheitliches Prinzip aufweisen – ihre rein funktionale Einheit. Eine darauf gegründete »Theorie des Menschen« versteht diesen als ein komplexes und widersprüchliches Seiendes, als Gegensatz und Beziehung von Tätigkeitsformen, die aus einer gemeinsamen funktionalen Wurzel – der »symbolischen Form« – hervorgehen und neben der natürlichen eine vielgestaltige »künstliche Welt« aufbauen.22 Aus dem durch die symbolischen Tätigkeiten geschaffenen magischen Kreis der Mittelbarkeit, in den das gesamte Leben des Menschen nunmehr eingeschlossen zu sein scheint, gibt es für diesen kein Ausbrechen und keine Rückkehr mehr in das unmittelbare, ›wahrhafte‹ Leben. Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen lautet folglich, daß dieser der h o m o s y m b o l i c u s , daß er dasjenige Seiende ist, »das

N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, a. a. O., 40. E. Cassirer, »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 46. 20 E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 244 f. 21 Auch wenn er gelegentlich die Sprache in den Mittelpunkt stellt, hält Cassirer den Blick auf alle symbolischen Funktionen am Menschen für unabdingbar, also auch auf diejenigen unterhalb oder neben der logischen Vernunft . – Ebd., 209, 211. 22 Ebd., 246. 18 19

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immerzu Symbole schafft und das in einer Welt der Symbole lebt«.23 Aus dieser Argumentation geht recht klar hervor, daß Cassirer eine moderne philosophische Anthropologie, die z. B. eine Philosophie der Sprache erst ermöglicht, da sie die Natur des Sprechenden aufk lärt, auf die Erkenntnisse seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der Kultur gründet. Dies wird auch deutlich, wenn er im Manuskript »A Philosophical Anthropology« (1942/43) die Erwartung zum Ausdruck bringt, über die Analyse der menschlichen Kultur nicht nur einen Weg zur Anthropologie zu eröffnen, sondern auch eine positive Antwort auf die »gefährliche Krisis« der Theorie des Menschen zu geben, wie sie in positiver Wissenschaft und Philosophie vorliegt.24 Diese Erwartung begründet er auch mit der These, man gelange von der Biologie aus immer nur zu einer genetischen Theorie des organischen Lebens, nie jedoch zu einer das Wesen des Menschen erklärenden Theorie der Kultur. Die Biologie besitze deshalb – entgegen der zeitgenössischen Auffassung – nur eine sekundäre Bedeutung für die Anthropologie, auch wenn »das biologische Denken […] die Oberhand über das mathematische [gewonnen hat]«.25 Mit dieser Auffassung begünstigt er aber den fatalen Eindruck, daß mit der Erklärung des Menschen als h o m o s y m b o l i c u s bzw. a n i m a l s y m b o l i c u m die philosophische Anthropologie in der Kulturphilosophie regelrecht aufgelöst wird. Es ist zu fragen, ob Cassirer immer dann, wenn er von [s]einer systematischen Theorie des Menschen spricht, nicht die vitalen oder vegetativen Ausdrucksenergien des Kulturmenschen mit den explizierten nichtvitalen symbolischen Energien viel nachdrücklicher in einen Zusammenhang setzen sollte, um die bei Max Scheler gewürdigte systematische Theorie der »Struktur des Menschen«26 selbst inhaltlich auszuführen? Indem ihn jedoch vor allem die geistig-symbolischen Leistungen interessieren, wird kaum thematisiert, daß diese mit den vitalen Funktionen in der körperbezogenen Expressivität eine gemeinsame Wurzel haben. Plessner dagegen, so scheint es, sucht genau dieses »innere Konditionssystem [aufzudecken], »If we accept the defi nition of man as ›homo symbolicus‹ – as a being that always creates symbols and that lives in a world of symbols – what inferences may we draw from this conception?« – Ebd., 261. 24 E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1942/43), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 392 f. 25 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (engl. 1944), Aus dem Englischen von R. Kaiser, Frankfurt a. Main 1990, 39 (= ECW 23, 22). 26 »All these sciences [Biology, Medicine, Psychology, and Sociology] are working for a common scope: they endeavour to give us a new picture of the structure of man.« – E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 235 f. 23

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welches zwischen den symbolischen Formen und der physischen Organisation herrscht.«27 Dafür müssen die »Daseinsweisen der Lebendigkeit, die den Menschen mit Tier und Pflanze verbinden und seine besondere Daseinsweise tragen«, erforscht werden.28 Da in Cassirers Philosophie die symbolische Artikulation die Grenze zur organischen Welt bildet, was im Ausdrucksleben der Tiere oder im pathologischen Verhalten Kranker sichtbar wird, greift seine Argumentation nicht notwendig auf die organische Welt über. Deshalb muß er auch nicht unbedingt klären, ob und wie bestimmte organisch-vitale Funktionen den Unterboden (Träger) für die kulturellen bilden. So bleibt die Rolle unscharf, die die Instinkte des Menschen in seinem Kulturleben spielen. Mit seiner Konzeption einer auf die vorsprachliche, körperbedingte Expressivität gründenden Theorie der natürlich-kulturellen Existenz des Menschen ist es Meuter gelungen, den symboltheoretischen Ansatz Cassirers, der immer auch ein ausdruckstheoretischer ist, für eine zeitgemäße »universalistische« philosophische Anthropologie aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Ausgehend von einer »Anthropologie des leiblichen Ausdrucks« hat er z. B. die organisch-biologisch relevante Funktion untersucht, soweit sie sich als Träger von Symbolisierungsleistungen erweist. Insofern erscheint es zwingend, die Cassirersche Theorie der Expressivität unbedingt in die Debatte mit einzubeziehen. Gleichzeitig finden sich Belegstellen dafür, wonach sich Cassirer durchaus bewußt ist, daß der Symbolisierungsprozeß nicht einfach Freiheit und Autonomie freisetzt, sondern daß die alte Naturgebundenheit, die »das Leben aller Organismen beherrscht«,29 auch für den Menschen weiter bestehenden bleibt. Dieser vermag es eben nicht, »aus der Natur heraus[zu]treten und sich ihrem Sein und Wirken [zu] entziehen«.30 Dennoch geht Cassirer der Frage nicht weiter nach, ob und inwieweit die vitalen Funktionen in der Konsequenz der Entfaltung von symbolisch-kulturellen Funktionen (Formen) selbst modifiziert werden. Plessner kritisiert Cassirer letztlich dafür, H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), a. a. O., 33. Ebd., 36. 29 »Offensichtlich stellt diese [menschliche – C.M.] Welt keine Ausnahme von den biologischen Grundprinzipien dar, die das Leben aller Organismen beherrschen.« – E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 49 (»Obviously this world forms no exception to those biological rules which govern the life of all the other organisms.« = ECW 23, 29) 30 »Die ›Freiheit‹, die der Mensch sich zu erringen vermag, bedeutet nicht, daß er aus der Natur heraustreten und sich ihrem Sein oder Wirken entziehen kann.« – E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 381. 27

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daß er den Menschen auf »kulturelle Leistungen« begrenzt und nicht ihre »Verklammerung […] mit dem menschlichen Organismus« erkennt.31 Wir finden bei Cassirer eben keine systematische »Wesensanalyse des Lebendigen«, keine »Theorie der organischen Wesensmerkmale« (Plessner), auf der die Theorie symbolischer Ausdruckstätigkeiten aufbauen muß, da das geistfähige Lebewesen Mensch – und nicht irgend eine mystische »geistige Energie« – der Träger aller symbolischen Tätigkeit ist. In diesem Sinne gilt für Plessner: »Ohne Philosophie der [belebten – C.M.] Natur keine Philosophie des Menschen«.32 Cassirer dagegen, dem es primär um die Kultur als Emanzipation von den engen Grenzen der organischen Natur geht, scheinen, ist erst einmal die Dimension des symbolischen Gestaltens im Lebewesen Mensch erreicht, dessen vitale Funktionen nicht mehr zu interessieren, erweist sich doch die menschlich-symbolische Existenz unentrinnbar in den »magischen Kreis« der Symbole eingeschlossen.33 Für den Menschen ist nun das mittelbare, symbolische Verhältnis zur Welt das allein entscheidende. Cassirers eigentümliche philosophische Anthropologie ist ganz offensichtlich von der Frage danach geleitet, was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich selbst macht, bzw. machen kann oder soll. Und nur aus dieser Perspektive – der Abgrenzung und Loslösung – kommt ihm die organische Welt in den Blick, nicht aber als Moment an der symbolischen Funktion selbst. Er hat, wie es scheint, die philosophische Anthropologie von der Seite der symbolischen Formen der Kultur her entworfen, Plessner dagegen entwickelt sie von Seiten der »Differenzierungsformen des organischen Lebens« her.34 Die Frage nach der Möglichkeit einer methodischen Ergänzung beider Herangehensweisen zueinander überschreitet allerdings den Rahmen der vorliegenden Überlegungen.

3. Anthropologische ›Konstanten‹ menschlicher Existenz Ohne gegen das mehrfach formulierte und begründete Substantialisierungsverbot zu verstoßen, benennt Cassirer in seinen Texten gewisse anthropologische ›Konstanten‹ der kulturellen, naturhafte Momente einschließenden N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, a. a. O., 129, 131. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), a. a. O., 26. 33 «Man can never understand reality, he can not even think of it, without wrapping it in certain signs and symbols – in the words of language, in mythical tales, in artistic or religious images. That is the magic circle in which the whole life of man seems to be included.« – E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 260 f. 34 N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, a. a. O., 131. 31

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Existenz des Menschen, die sich s e c h s Aspekten zuordnen lassen. Das Menschenbild, das diese Konstanten zeichnen, ließe sich wie folgt auf einen Satz bringen: der Mensch ist das zur tätigen Freiheit bestimmte Wesen, das die Sicherheit und Lebenswärme seiner Existenz gefährdet und teilweise verliert, das aber über einige Fähigkeiten verfügt, diesen Gefährdungen die Stirn zu bieten und das damit verbundene Verlusterleben zu kompensieren. 1. A n i m a l s y m b o l i c u m . Als Mittelpunkt seiner Anthropologie versteht und benennt Cassirer die bereits besprochene Erklärung des Menschen als eines Symbole schaffenden, Symbole mitteilenden und Symbole verstehenden tätigen Wesens, eines h o m o s y m b o l i c u s bzw. a n i m a l s y m b o l i c u m .35 Seine symbolische Kulturwelt schafft sich der Mensch dabei als soziales Wesen, in Beziehungen (Rollen), Kommunikation, Interaktion und Arbeitsteilung.36 Ein Leben in den Grenzen der bloß »biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen« vollzieht sich dagegen ohne kulturelle Symbolsysteme, es bleibt im Grunde ein tierisches Leben.37 Dieser theoretische Grundansatz, so scheint mir, läßt sich auch mit Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie verbinden bzw. ergänzen, die den Menschen als biologisches ›Mängelwesen‹ dazu verdammt sieht, sich durch kulturelle, Symbole schaffende Tätigkeit das biologische Überleben zu sichern.38 2. D i s t a n z ie r u n g a l s Ve r lu s t- u nd E nt f re mdu n g s e r le b e n . Als ein Symbole schaffenden Lebewesen führt der Mensch sein Dasein n o c h in der Unmittelbarkeit des vegetativen, biologischen Lebens und s c h o n in der der geistig-symbolischen Mittelbarkeit, die er der Lebensunmittelbarkeit abgerungen hat. Diese Doppelexistenz prädestiniert ihn zwar für die Eine solche Erklärung gibt er explizit 1932 in dem nachgelassenen Züricher Vortrag »Vortrag: Symbolproblem«: »[D]ie Symbolfunktion ist eben dasjenige Phaenomen, durch welches sich das menschliche Dasein ursprünglich konstituiert […]. Die Fähigkeit, Symbole zu bilden, Symbole zu verstehen, in Symbolen zu leben: dies alles ist die spezifische Gabe des Menschen. […] Der Mensch wird zum Menschen durch das Symbol, durch die Sprache, durch die Kunst, durch die Religion […]«. – E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 87 f. 36 E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1942/43), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 393 f., 415 f., 474 f. 37 »Ohne Symbolik gliche das Leben des Menschen dem der Gefangenen in der Höhle aus Platons berühmtem Gleichnis. Er wäre auf die Grenzen seiner biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen beschränkt; […].« – E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 71 (»Without symbolism the life of man would be like that of the prisoners in the cave of Plato’s famous simile. Man’s life would be confi ned within the limits of his biological needs and his practical interests; […].« = ECW 23, 47) 38 A. Gehlen, Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 1997. 35

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Freiheit, stellt ihn aber auch vor Verluste, Herausforderungen, Gefahren und Konflikte, die sein Leben als problematisches, gefährdetes und ›gefallenes‹ prägen. Die Tatsache des Hinübergelangens aus der unreflektierten Lebensunmittelbarkeit in die geistig-symbolische Mittelbarkeit ist mit einer Ambivalenz verknüpft, die das a n i m a l s y m b o l i c u m zu tragen hat. Symbolisierung als Heraustreten aus dem »Paradies der Unmittelbarkeit«, aus dem zweckgerichteten tierhaften Dasein erlebt der Mensch psychischfaktisch als Abkehr vom »natürlichen Leben«, als schmerzlichen Verlust an »Lebensnähe«, »Lebenswärme« und »Lebensbuntheit«. 39 In der Konsequenz macht dieses Verlusterleben eine anthropologische Konstante des Menschseins aus. Cassirer benennt zudem eine dem Geist eigene Tendenz zur Selbstzerstörung und »Selbstzersetzung«, die sich aus einer bedrohlichen Kraft der Selbstnegation, aus der ihm eigenen Kraft , »wider sich selbst« zu streiten, erklärt. Aus dem distanzierend-emanzipierenden Symbolisierungsprozeß resultiert weiter der »tragische Einschlag aller Kulturentwicklung«, der sich in der psychisch-faktisch erlebten Situation manifestiert, in der die Bewegung des Ich sich scheinbar »an seinen eigenen Schöpfungen« bricht, in der sein »ursprünglicher Lebensstrom verebbt, je größer der Umfang und je stärker die Macht dieser Schöpfungen wird«. 40 Die Gefährdung und Infragestellung von Geist und Vernunft erwachsen auch aus der zunehmenden Verselbständigung der einzelnen geistig-kulturellen Objektivationen. 41 Diese ebenfalls psychisch-faktisch erlebte Gefährdung der Kultur erfährt ihre Ergänzung durch die erfahrene »Fremdbestimmung« der einen objektivierten Symbolisierungsleistung durch die andere. 42 Diese unausweichlichen Konflikte und Erlebnisse sind aber auszuhalten und zu meistern, sie lassen sich nicht aufheben. 3. S e l b s t b e f r a g u n g u n d E n t-T ä u s c h u n g . Als die anthropologische Bestimmtheit, die es dem Menschen ermöglicht, sich seiner »Verantwortlichkeit für die Kultur« (Recki) zu stellen und trotz permanentem Verlusterleben in der Folge kultureller Symbolisierungs- und Sozialisierungsleistungen nicht einfach verzagen zu müssen, erweist sich die »Grund- und Urfunktion des Menschen« genannte intellektuelle Fähigkeit zur SelbstE. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 185–206, hier: 185 f. 40 E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ebd., 139–184, hier: 172. 41 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 5 f. 42 E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 173. 39

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befragung und zum permanenten Aufwerfen der Sinnfrage menschlicher Existenz. 43 Außerdem schreibt Cassirer dem Menschen die – anthropologisch bedeutsame – Fähigkeit zu, sich von allem selbst hervorgebrachten »magischen Zauber«, von »seinen Täuschungen und Illusionen, seinen Idiosynkrasien und Einbildungen« hinsichtlich seines Bildes von der Natur und des sozialen Lebens befreien zu können, auch wenn dies in bezug auf das soziale Leben noch ausstehe. 44 4. E x p r e s s i v i t ä t u n d E m o t i o n a l i t ä t . Seine Bestimmung als Symbole schaffendes und verstehendes Lebewesen vermag der Mensch nur deshalb zu erfüllen, weil ihm das entwicklungsfähige Vermögen der Expressivität eigen ist. Obwohl es als Voraussetzung bereits in die behandelte Fähigkeit der Symbolisierung eingeht, kann man dieses Vermögen als eine eigene anthropologische Konstante menschlicher Existenz bezeichnen. Zumal die Expressivität beim Menschen eine unausrottbare Grundschicht von anschaulichen Ausdrucksphänomenen bereithält, die es zu jeder Zeit möglich machen, daß sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft von der unmittelbaren Gewalt der Emotionalität übermannt, in den Bann geschlagen wird. Die unverwüstliche Ausdruckswahrnehmung steht, als »Quellgebiet des Mythischen« und Magischen, 45 für die beständig wiederkehrende Macht und Gewalt, die Emotionen, Gefühle über uns erlangen, vermag doch der Mensch niemals aufzuhören, in »Bildern und Anschauung zu denken oder emotional zu erleben«. 46 Die Folge ist eine grundsätzliche Anfälligkeit für mythisch-magisches Sinngebungen und entsprechende Praktiken sozialen Verhaltens. 47 Cassirer ist gleichzeitig davon überzeugt, daß ein erfülltes Leben des Einzelnen und eine funktionierende soziale Ordnung auch unbedingt einer emotionalen, gefühlsmäßigen Grundschicht bedürfen. Bei aller Bedeutung, die die geistigen Symbolwelten für die menschliche Existenz haben, sieht er es für unbezweifelbar an, daß unser Dasein ein bestimmtes »Lebens- und Kulturgefühl« zu seiner »Grund- und Urschicht« hat.48

E. Cassirer, »Geschichte der philosophischen Anthropologie« (1939/40), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, a. a. O., 11. 44 E. Cassirer, Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, 385 (»Man must begin by freeing himself; he must get rid of his fallacies and illusions, his human idiosyncrasies and fancies.« = ECW 25, 289) 45 Ebd., 388, 390 (= ECW 25, 290 f., 294) 46 J.M. Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, in: E. Rudolph/B.-O. Küppers (Hrsg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, (CF, Bd. 1), Hamburg 1995, 314. 47 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 123 (= ECW 23, 85) 48 E. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 8, ders., »Symbolische Formen. Zu Band IV«, in: ebd., 238; 43

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5. Ve re i n z e lu n g s e r l e b e n u nd I d e nt i f i k a t i o n s s e h n s u c ht . Bei Cassirer findet sich zudem die Anerkennung eines »Grundkonflikt[es] des Lebens«, der als »die Vereinzelung des Ich«, als seine Entfremdung und Verzweiflung erfahren und in frühen Stadien als »Trennung vom substantiellen Urgrund aller Dinge« bzw. von der sozialen Lebensgemeinschaft erlebt wird. 49 Er tut diese existentielle Erfahrung des Ich nicht als ›falsches‹ Bewußtsein ab, sondern nimmt sie als psychologisches Faktum hin. Mit Blick darauf macht er die »Sehnsucht«, das Identifi kationsbedürfnis des menschlichen Individuums mit dem Leben der Gemeinschaft als eine anthropologische Konstante aus. Insbesondere in der mythisch-magischen Kulturform kommt dies exemplarisch als »tiefe und brennende [Identifi kations-] Sehnsucht der Individuen« zum Ausdruck.50 Diese anthropologische »Sehnsucht« wirkt sich mitunter als Gegenkraft aus im Ringen des Individuums um ein eigenverantwortliches und freies Leben, unterliegt doch der Kulturmensch unter krisishaften Umständen instinktiv der Disposition, seine »individuelle Verantwortung« an das Kollektiv abzutreten. Das Bedürfnis des Individuums, als Kulturwesen in Freiheit und Selbstverantwortung zu leben, dürfe nicht als ein anthropologisch-konstantes Erbteil des Menschen betrachtet werden, sondern vielmehr als historisches Gut, das im jeweiligen kulturellen Kontext immer neu erworben werden muß.51 Obwohl es gegen die an Dynamik zulegende Individualisierung des Menschen, seine Abgrenzung gegenüber der Gemeinschaft alles Lebendigen einschließlich der sozialen Gemeinschaft lichkeit keine wirkliche Barriere gibt,52 was der Mensch durch verschiedene Kulte und Techniken versucht, zumindest zeitweise rückgängig zu machen,53 scheint das menschliche »Gemeinschaftsgefühl« dem Kulturmenschen eine gewisse Kompensation des gefühlten Verlustes, der erlebten Vereinzelung zu bieten.54 siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie Cassirers. Am Beispiel des ›Gemeinschaftsgefühls‹«, 173–188. 49 E. Cassirer, EP, Bd. II (1907), in: ECW 3, Text und Anm. bearbeitet von D. Vogel, Hamburg 1999, 543 f. 50 E. Cassirer, PSF, Teil 2: Das mythische Denken (1925), in ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 221. 51 »Die Freiheit ist kein natürliches Erbe des Menschen. […] Wenn der Mensch bloß seinen natürlichen Instinkten folgen würde, würde er nicht für die Freiheit kämpfen; er würde eher die Abhängigkeit wählen.« – E. Cassirer, Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 376 (»Freedom is not a natural inheritance of man. […] If man were simply to follow his natural instincts he would not strive for freedom; he would rather choose dependence.« = ECW 25, 282 f.). 52 E. Cassirer, PSF, Teil 2: Das mythische Denken (1925), in ECW 12, a. a. O., 232. 53 Ebd., 221. 54 Für den Bestand des Gemeinwesens unterscheidet Cassirer allerdings zwischen

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6. K o n s t a n z - u n d O r d nu n g s b e d ü r f n i s . Das von Cassirer – wie übrigens auch von Gehlen55 – festgestellte Bedürfnis oder Streben des Kulturmenschen nach der Gewißheit, »in einer konstanten Welt«, in einem »geordneten Universum zu leben«,56 muß ebenso als eine anthropologische Konstante menschlicher Existenz verstanden werden. Als ein soziales, kulturelle Symbole schaffendes Wesen ist der Mensch grundsätzlich auf eine innere (sittliche) und äußere (rechtlich-politische) »Ordnung« des Lebens angewiesen. Die im Handeln empirisch erfahrbare Ordnungs- und Gesetzlosigkeit erschüttert ihn in seinem Inneren. Diese Erschütterung bezieht sich auch auf das theoretische Phänomen, daß sich das individuelle und das soziale Handeln exakter wissenschaft licher Erkenntnis entzieht. Ist es doch für Cassirer die exakte Wissenschaft, verstanden als die »höchste und charakteristischste Errungenschaft menschlicher Kultur«, die durch das Aufdecken exakter, objektiver Gesetze im Leben der Natur und der sozialen Welt diesen »Wunsch der menschlichen Natur« nach Gewißheit von Konstanz und Ordnung im modernen Leben ihrerseits zu befriedigen vermag: Am erkannten Gesetz »gewinnt und an ihm erprobt [der Mensch – C.M.] eine neue Freiheit.«57 Versagt das bestehende »rationale« Ordnungssystem, greifen die Menschen nicht ohne Konsequenzen für ihr Leben in ihrer Not nach einem anderen.

dem ›echten‹ und dem ›falschen‹ Gemeinschaft sgefühl. – E. Cassirer, »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« (1930), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg, 85–112, hier: 107 Anm. E. 55 A. Gehlen, »Sozialpsychologie«, in: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Frankfurt a. Main 1986, 155. 56 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 315 (= ECW 23, 223); ders., Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 364 (= ECW 25, 275). 57 E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1932), a. a. O., 163.

›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹ Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹

E

s ist bis heute relativ wenig bekannt bzw. wird kaum beachtet, daß der bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vielfach noch als Vertreter der Marburger Schule des Neukantianismus wahrgenommene Ernst Cassirer sehr enge persönliche und wissenschaftliche Kontakte sowohl zu den Mitgliedern des ›Wiener Kreises‹ (Hans Reichenbach, Moritz Schlick) als auch zu Philosophen pflegt, die sich im Umfeld dieser philosophischen Richtung bewegen (Karl Popper, Åke Pätzell). In den 30er Jahren bereitet er sogar eine philosophische Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus bzw. Physikalismus des ›Wiener Kreises‹ vor, die in der – von Rudolf Carnap und Hans Reichenbach herausgegebenen – Zeitschrift Erkenntnis erscheinen soll. Der von John M. Krois 2009 veröffentlichte Ausgewählte Wissenschaftliche Briefwechsel Cassirers (ECB/ECN 18) erlaubt nunmehr einen aufschlußreichen Einblick in diese Kontakte und Bemühungen. Die von Cassirer ins Auge gefaßte Auseinandersetzung wird jedoch nie fertig gestellt; sie geht aber als Teilausarbeitung in die nachgelassene Göteborger Vorlesung »Probleme der Kulturphilosophie« (1939) bzw. das ihr zugeordnete Manuskript »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion«1 und in den nachgelassenen Text »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« ein.2 Dieses 1935/36 in Göteborg entstandene Manuskript muß als Vorarbeit sowohl für die erwähnte Vorlesung als auch für die in Angriff genommene, jedoch nicht zum Abschluß gebrachte Auseinandersetzung mit dem ›Wiener Kreis‹ angesehen werden, weshalb es sich lohnt, das Manuskript und die Umstände des ganzen Vorhabens einmal genauer zu betrachten. Das erste Mal trägt sich Cassirer im Sommer 1933, kurz nach seiner Emigration aus dem nationalsozialistisch gewordenen Deutschland nach England, ernsthaft mit dem Gedanken, in einem Beitrag seine Stellung zur Philosophie des ›Wiener Kreises‹ zu klären und zur Diskussion zu stellen. Diese Absicht kommt im August des Jahres in einem Brief an den schwedischen Philosophen und Kenner des logischen Positivismus, Åke Petzäll, E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), und »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 29–104, 105–200, hier: 72 ff., 82 ff., 146, 178. 2 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 151–216. 1

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

zur Sprache. In ihm erwähnt Cassirer, daß er »selbst gerade mit einer Auseinandersetzung mit den Schriften des W i e n e r K r e i s e s beschäftigt ist«. Im Juli 1933, bei seinem »letzten Aufenthalt in Wien«, habe er schon einmal mit Karl Popper beiderseits interessierende Fragen diskutiert.3 Diese Aussage läßt darauf schließen, daß Cassirer bereits im Sommer 1933 spezielle Studien zum »Objektivitätscharakter der Ausdrucksfunktion«4 betreibt, die in seine beiden genannten Projekte, die Vorlesung »Probleme der Kulturphilosophie« (1939) und die Auseinandersetzung mit dem ›Wiener Kreis‹ (1935/36) in der Zeitschrift Erkenntnis, einfließen.

1. Vorgeschichte I der Auseinandersetzung: Reichenbach Die zunächst überraschende Beschäftigung mit dem logischen Positivismus des ›Wiener Kreises‹ geht zum Einen auf die Einladung zurück, einen Beitrag für die Zeitschrift Erkenntnis zu verfassen. Diese Einladung spricht Reichenbach, der Cassirer aus Studientagen kennt,5 wohl bereits 1930 aus, als er Cassirer die erste Nummer der Zeitschrift übersendet. 6 Zum Anderen sieht sich Cassirer offenbar durch den 1927 mit Moritz Schlick geführten Gedankenaustausch animiert, gezielt der Philosophie des ›Wiener Kreises‹ Aufmerksamkeit zu schenken und Unterschiede samt Gemeinsamkeiten mit seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die 1927/28 ihre endgültige Ausformung erfährt, herauszuarbeiten. Und schließlich bemüht sich im Frühjahr 1936 Otto Neurath,7 Cassirer als Vortragenden zum »Zweiten Internationalen Kongreß für die Einheit der Wissenschaft , der das Problem E. Cassirer an Å. Petzäll, 5. August 1933, in: E. Cassirer, Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel, Als Beilage: DVD-ROM mit sämtlichen bislang aufgefundenen Briefen von und an E. Cassirer, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitarbeit von M. Lauschke, C. Rosenkranz und M. Simon-Gadhof, in: ECB/ECN 18, Hamburg 2009, 133. 4 E. Cassirer, »β Onbjektivitätscharakter der Ausdrucksfunktion«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke, O. Schwemmer, in:, Hamburg 1995, 119. Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt«, 91–104. 5 M. Ferrari, »Cassirer, Schlick und die Relativitätstheorie. Ein Beitrag zur Analyse des Verhältnisses von Neukantianismus und Neopositivismus«, in: E.W. Orth/ H. Holzhey (Hrsg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, (Studien und Materialien zum Neukantianismus, Bd. 1) Würzburg 1994, 418–441, hier: 431. 6 H. Reichenbach an E. Cassirer, 30. September 1930, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., DVD, Brief 638. 7 »Schlick, mit dem Cassirer seit dem Anfang der 20er Jahre in regem Austausch stand, vermittelte den Kontakt mit dem ›Wiener Kreis‹ um Otto Neurath […]. Der wird mehrfach versuchen, Cassirer in die Arbeit des ›Kreises‹ einzubinden, doch die Zeitum3

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der Kausalität in Physik und Biologie behandeln wird«, nach Kopenhagen einzuladen. 8 Obwohl Cassirer an dem Kongreß wegen einer Londonreise nicht teilnehmen kann, auch wenn ihn das Thema »jetzt ganz besonders [interessiert]«,9 dürfte die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit den Mitgliedern des ›Wiener Kreises‹ seinen Wunsch, sich zu positionieren, noch einmal gestärkt haben. Die Absicht, in einem Beitrag »auch auf den Wiener Positivismus eingehen zu wollen«, hatte zur Jahreswende 1935/36, d. h. zu Beginn seiner Göteborger Zeit, erneut Gestalt angenommen. Dabei gedachte er sich insbesondere mit den Positionen Schlicks auseinanderzusetzen. Diese Absicht kam Reichenbach offenbar sehr gelegen, legt der doch inzwischen Wert darauf, daß in einer entsprechenden Stellungnahme Cassirers »seine eigenen Arbeiten von denen des Wiener Kreises deutlich« getrennt werden.10 »Selbstverständlich«, so gibt er Cassirer erneut zu verstehen, stehe ihm dafür die Zeitschrift Erkenntnis »gern zur Verfügung«. Ende August 1936 fragt er, der selbst gerade »eine ziemlich ablehnende Kritik des Positivismus in der Wittgenstein-Schlickschen Form« verfasse,11 nochmals bei Cassirer an wegen der »Kritik der Wiener Schule, die Sie mir für die Erkenntnis in Aussicht gestellt hatten.«12 Cassirer erwidert nun aber, Anfang September 1936, daß seine »Absicht einer Auseinandersetzung mit dem W i e n e r K r e i s in der Erkenntnis« durch »Schlicks jähen Tod [am 22. Juni 1936 – C.M.] einigermaßen ins Wanken geraten« ist, da es ihm vor allem auf »eine theoretische Diskussion mit seinen [d. h. Schlicks – C.M.] Grundgedanken« angekommen sei. Für die fehle ihm nunmehr der »innere Antrieb«, nicht zuletzt deshalb, weil ihm Schlick »persönlich sehr nahe« gestanden habe.13 Er fügt aber hinzu, daß, wenn Reichenbach trotzdem an dem Aufsatz gelegen ist, er sich »dann vielleicht doch zur Niederschrift« entschließe, »da das Ganze im Kopf so ziemlich fertig ist.« Vermutlich sind damit die entsprechenden Seiten im nachgelassenen Manuskript »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« stände lassen gemeinsame Pläne immer wieder scheitern.« – Th. Meyer, Ernst Cassirer, (Hamburger Köpfe), Hamburg 2006, 2. Aufl. 2007, 222. 8 O. Neurath an E. Cassirer, 20. April 1936, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 144. 9 E. Cassirer an O. Neurath, 12. Mai 1936, in: ebd., 147. 10 H. Reichenbach an E. Cassirer, 19. Januar 1936, in: ebd., DVD, Brief 1060. 11 H. Reichenbach, Experience and Predication. An Analysis of the Foundations and the Structure of Knowledge, Chicago 1938. 12 H. Reichenbach an E. Cassirer, 27. August 1936, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 150. 13 E. Cassirer an H. Reichenbach, 1. September 1936, in: ebd., 151.

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gemeint, auch wenn er sich auf ihnen fast ausschließlich mit den Positionen Carnaps auseinandersetzt und erst auf dem zweiten Blick ersichtlich wird, daß Schlick durchaus eine hervorgehobene Rolle beigemessen wird. Reichenbach erkundigt sich dann auch am 10. März 1937 noch einmal nach der versprochenen »Kritik der Auffassungen des Wiener Kreises«, die er weiterhin in der Zeitschrift Erkenntnis zu bringen gedenke. Wohl ahnend, daß aus dem Beitrag nichts mehr wird, fügt er hinzu: »Freilich werden Sie kaum jemand finden, der Ihnen im Sinne einer Verteidigung der Schlickschen Auffassungen antworten wird; denn mit Schlick ist wohl der letzte aktive Vertreter des Wiener Kreises dahingegangen.«14

In seiner Antwort an Reichenbach geht Cassirer dann auch schon nicht mehr auf diese Angelegenheit ein.15

2. Vorgeschichte II der Auseinandersetzung: Schlick Die im Brief an Reichenbach erwähnte »persönliche Nähe« zu Schlick kommt u. a. im Kondolenzschreiben an dessen Witwe Blanche zum Ausdruck. Cassirer, den der Tod Schlicks »tief […] erschüttert hat«, würdigt diesen als einen der wenigen, bei dem »Lehre und Leben aus einem Guss war und der aus dem reinsten und echtesten Wahrheitstreben, aus der inneren Notwendigkeit seiner Gesinnung und seiner Persönlichkeit heraus philosophierte.«16

Diese Art Einheit von Leben und Lehre, die Cassirer sonst vor allem bei Kant und Goethe würdigt, habe ihn jedes Mal, wenn er mit Schlick »irgend ein wissenschaftliches oder philosophisches Problem zu erörtern« die Gelegenheit hatte, immer wieder »aufs stärkste berührt«. In dem Zusammenhang erwähnt er im Kondolenzschreiben eine weitere Goethesche Einstellung Schlicks, die ihm mitteilenswert erscheint: »Ihm [d. h. Schlick – C.M.] war Philosophieren, wie er es selbst geschildert hat, wirklich ein Tun – das nicht zu lösen war von ihm selbst, von seinem Wesen und seiner Persönlichkeit.«17 14 15 16 17

H. Reichenbach an E. Cassirer, 10. März 1937, in: ebd., 157. E. Cassirer an H. Reichenbach, 20. März 1937, in: ebd., 163. E. Cassirer an B. Schlick, 10. August 1936, in: ebd., DVD, Brief 1099. Ebd., DVD, Brief 1099.

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Es erscheint mir als sehr wahrscheinlich, daß für Cassirers Haltung gegenüber Schlick neben der »persönlichen Nähe« und den eigentlichen philosophischen Berührungspunkten, die natürlich auch eine Reihe von philosophischen Differenzen einschließen, letztlich der Umstand entscheidend war, daß sich mit – zumindest dem frühen – Schlick ein Physiker dem Philosophieren zuwendet,18 sucht doch der Philosoph Cassirer immer die philosophische d. h. methodologischen Durchdringung von Physik und Mathematik zu leisten. Schlick ist für ihn noch 1927 »einer der besten philosophischen Kenner der modernen Physik und ihrer Entwicklung«.19 Der Tatbestand, daß Moritz Schlick und seine Philosophie eine so zentrale Rolle in Cassirers erstaunlichem Interesse am ›Wiener Kreis‹ spielen, hatte natürlich auch eine Vorgeschichte. Was ich rekonstruieren konnte, läßt sich wie folgt zusammenfassen: Schlick besucht, während er sich 1910/11 an der Universität Rostock habilitiert, Vorlesungen des Privatdozenten Cassirer in Berlin, an der Friedrich-Wilhelm-Universität. Hier wird er auf dessen 1910 veröffentlichtes systematisches Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff aufmerksam, das erkenntnistheoretische und methodologische Probleme der ersten beiden Bände des historisch angelegten Erkenntnisproblems (1906/07) verallgemeinert. Diese systematische Schrift wird Schlick in seinem Werk Allgemeinen Erkenntnislehre (1918), das zwischen 1913 und 1915 entsteht, 20 mehrfach erwähnen und erörtern. So würdigt er u. a., daß der »logische Idealist« Cassirer hier »irrige Theorien der Begriffsbildung und Abstraktion zurückgewiesen« und dabei seine neue Begriffstheorie auf den »mathematischen Funktionsbegriff« gegründet habe.21 Seine eigene Auffassung, wonach Begriffe das Gleichartige der Einzelgegenstände lediglich »bezeichnen« und »zuordnen«, 22 sei davon Zum Übergang von Schlicks Interesse, der nach eigenem Bekunden bereits Physik aus philosophischen Bedürfnissen heraus studiert hat, »von der Physik zur Philosophie«, was in die Jahre 1909/10 fällt, siehe H.J. Wendel/O.F. Engler, »Editorischer Bericht«, in: M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, Wien 2009, 53–119, hier: 57 ff.; zur Aufnahme der Allgemeinen Erkenntnislehre durch Naturwissenschaftler, vgl. ebd., 84 ff. 19 E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 13–82, hier: 62. 20 H.J. Wendel/O.F. Engler, »Editorischer Bericht«, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, a. a. O., 73. 21 M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, (Naturwissenschaft liche Monographien und Lehrbücher, Hrsg. von der Schrift leitung der ›Naturwissenschaften‹, Bd. 1), Berlin 1918, (2. Aufl. 1925), 23. 22 Ebd., 20. 18

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aber, so Schlick, nicht betroffen. Zumal er selbst von »begrifflicher Funktion« spricht und – wie Cassirer auch – vor der »Verdinglichung der Begriffe« warnt. 23 Trotzdem vermag Schlick, der hier noch vehement die alte formale Logik verteidigt, dem von Cassirer herausgestellten methodischen Gegensatz von Substanz- und mathematischem Funktionsbegriff  – und der daraus folgenden Abwertung der sogenannten Substanzbegriffe – nicht zu folgen. 24 Gewisse Unklarheiten bei Cassirer resultierten letztlich daraus, daß er den formal-logischen mit dem idealistisch-erkenntnistheoretischen Standpunkt verwechsle. Cassirer wiederum, so eine spätere Auskunft Schlick gegenüber, studiert die 1918er Ausgabe der Allgemeinen Erkenntnislehre sofort und »sehr eingehend«, 25 d. h. höchstwahrscheinlich zu Beginn des Jahres 1919. Dabei dürfte die kleine Auseinandersetzug, die Schlick mit seinen Positionen in der Frage der Begriffsbildung führt, durchaus eine Rolle gespielt haben. Außerdem nimmt er in diesen Jahren Schlicks Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie (1917) aufmerksam zur Kenntnis.26 Interessiert ihn doch die Frage, inwieweit diese Theorie Auswirkungen auf die philosophische Erkenntnistheorie und Logik hat, selbst so brennend, daß er sich 1920 entschließt, ebenfalls eine Interpretation zu wagen, die die Relativitätstheorie als Triumph des kritischen Funktionsbegriffes deutet.27 Vor der Veröffentlichung seiner Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie hatte Cassirer das Manuskript an Albert Einstein selbst geschickt, dessen Einwände gegen seine Darstellung des Verhältnisses »Kant – Newton bezüglich des Raumes und der Zeit« jedoch bei der Veröffentlichung nicht berücksichtigt.28 Der uns zugängliche Briefwechsel mit Schlick setzt im Oktober 1920 ein, als sich Cassirer für den »freundlichen Empfang« seiner Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (1921) seitens Schlick bedankt; deren eigentliche – kritische, teilweise Cassirer mißverstehende – Besprechung

Ebd., 19, 23. Ebd., 24. 25 E. Cassirer an M. Schlick, 4. April 1927, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 98. 26 Zur »Cassirer-Schlick-Debatte über die Relativitätstheorie« siehe M. Ferrari, »Cassirer, Schlick und die Relativitätstheorie. Ein Beitrag zur Analyse des Verhältnisses von Neukantianismus und Neopositivismus«, in: E.W. Orth/H. Holzhey (Hrsg.), Neukantianismus, a. a. O., 418–441. 27 Ebd., 425. 28 E. Cassirer an A. Einstein, 10. Mai 1920, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 44 f.; A. Einstein an E. Cassirer, 5. Juni 1920, in: ebd., 45 f. 23

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durch Schlick erscheint noch 1921 in den Kant-Studien.29 Cassirer verweist in seinem der Relativitätstheorie gewidmeten Werk u. a. im Zusammenhang mit der von Schlick vorgenommenen Abgrenzung zwischen psychologischem Anschauungsraum und begrifflich-konstruktivem Raum der Physik 30 auf dessen Buch zur Relativitätstheorie31 und auf dessen Allgemeine Erkenntnislehre. 32 Er bejaht die Unterscheidung als solche, kritisiert aber Schlicks Ablehnung von Kants Begrifflichkeit der »reiner Anschauung« als schlichtweg psychologischer Anschauung. Sie beide stimmten, so Cassirer in seinem Dankesbrief an Schlick, nicht nur in der Bewertung der philosophischen Bedeutung der Relativitätstheorie weitgehend überein, sondern es bestünden auch zwischen Schlicks »Fassung des Empirismus und seiner [d. h. Cassirers – C .M.] Ansicht von der kritischen Methode starke Zusammenhänge«, weshalb sie »eine gute Strecke weit mit einander gehen könnten«.33 Außerdem teile er Schlicks »Kritik des Mach’schen Empirismus«, fasse aber das Apriori »nicht [wie Schlick – C.M.] als einen konstanten, ein für alle Mal festliegenden Bestand an materialen A n s c h a u u n g e n oder Begriffen [auf,] sondern als eine Funktion, die gesetzlich bestimmt ist und die daher in ihrer Richtung und Form mit sich identisch bleibt, die aber […] inhaltlich die verschiedensten Ausprägungen erfahren kann.«34

Hier artikuliert sich bereits der künftige Philosoph der symbolischen Formen.

M. Schlick, »Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Bemerkungen zu Ernst Cassirers Buch ›Zur Einsteinschen Relativitätstheorie‹«, in: Kant-Studien 26 (1921), 96–111; Eine kritische Bewertung von Schlicks Deutung der Positionen Cassirers in dieser Besprechung fi ndet sich in: M. Ferrari, »Cassirer, Schlick und die Relativitätstheorie. Ein Beitrag zur Analyse des Verhältnisses von Neukantianismus und Neopositivismus«, in: E.W. Orth/H. Holzhey (Hrsg.), Neukantianismus, a. a. O., 434 ff. 30 E. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1920), in: ECW 10, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 118. 31 M. Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie, Berlin 1917, 54. 32 M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre (1918), a. a. O., 297 ff. 33 E. Cassirer an M. Schlick, 23. Oktober 1920, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 50. 34 Ebd., 50. Zur Diskussion zwischen Schlick und Reichenbach um Kants Apriorismus siehe H.J. Wendel/O.F. Engler, »Editorischer Bericht«, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, a. a. O., 104–110. 29

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Schlick und Cassirer, die sich anläßlich von Cassirers familiären Besuchen in Wien gelegentlich treffen und miteinander Gespräche führen,35 treten brieflich ein weiteres Mal in Kontakt, als Cassirer 1927 die Allgemeine Erkenntnislehre anläßlich ihrer 2. Aufl. (1925) in einer Sammelbesprechung behandelt.36 Die Kritik, die er an der Aussage Schlicks »Das Psychische besitzt Realität, das Physische ist bloßes Zeichen« hier übt,37 war peinlicherweise in der 2. Aufl. von diesem gestrichen worden, Cassirer hatte sich auf seine Kenntnis lediglich der 1. Aufl. gestützt.38 Damit ist Cassirer die »Modifi kation hin zum Positivismus, die sich in der zweiten Auflage findet«, zunächst entgangen.39 Interessant ist allerdings, daß ihm in dieser Zeit sehr daran gelegen ist, wie es in dem nachgelassenen Text »Praesentation und Repraesentation« heißt, »diesen Gegensatz des ›Physischen‹ und ›Psychischen‹ […] an der modernen Diskussion der Frage« zu entwickeln.40 Und hierfür biete »Russells Analysis of Mind« (1921) »eine gute Grundlage«. 41 Es folgt dann in dem vermutlich ebenfalls 1927 verfaßten Text in der Tat eine ausführliche, streckenweise zustimmende Auseinandersetzung mit dem Werk Russels. In der etwa zur selben Zeit verfaßten Sammelbebesprechung betont Cassirer aber auch, daß er sich in Schlicks »Ersetzung des Substanzbegriffs durch den Gesetzesbegriff« auf das Tiefste und Wertvollste bestätigt sehe. 42 Dabei hat er den § 32 (»Quantitative und qualitative Erkenntnis«) in Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre im Auge, wo es heißt, daß »die Objekte der Außerwelt […] als gesetzmäßige Zusammenhänge von

J.M. Krois, »Ernst Cassirer und der Wiener Kreis«, in: F. Stadler (Hrsg.), Elemente moderner Wissenschaftstheorie. Zur Interaktion von Philosophie, Geschichte und Theorie der Wissenschaften, (Bd. 8 der Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis), Wien/ New York 2000, 105–121, hier: 106; Krois zitiert aus einem Brief, den Schlick am 6. Oktober 1924 an Carnap schreibt: »Gestern war ich eine Stunde mit Cassirer zusammen […]. Man kann sich gut mit ihm verständigen.« – Ebd., 106. 36 E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931), a. a. O., 13–82. 37 Ebd., 56. 38 M. Schlick an E. Cassirer, 30. März 1927, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 94; E. Cassirer an M. Schlick, 4. April 1927, in: ebd., 98. 39 H.J. Wendel/O.F. Engler, »Editorischer Bericht«, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, a. a. O., 104. 40 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 3–50, hier: 24. 41 Ebd., 24. 42 E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931), a. a. O., 62. 35

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Qualitäten« und »nicht als ein substantielles Ding« bestimmt werden. 43 Trotz dieser Würdigung der Positionen Schlicks kritisiert Cassirer aber bereits 1927 dessen methodologischen Reduktionismus: werde doch bei ihm jegliche erfahrbare Wirklichkeit auf den Typus »der E r f a h r u n g der mathematischen Naturwissenschaft« beschränkt, eingeengt. 44 Auch versuche Schlick unzulässigerweise, mit der Ungültigkeit des metaphysischen Objektivitätsbegriffs auch die Ungültigkeit des kritischen Objektivitätsbegriffs zu beweisen. 45 Auf die an seinen eigenen Positionen von 1910 durch Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre (1918) geübte Kritik geht er allerdings nicht ein, auch nicht auf die Kritik, die Schlick in der Besprechung seines Werkes über die Relativitätstheorie (1920) vorgebracht hatte. In seiner briefl ichen Reaktion auf Cassirers Sammelbesprechung von 1927 verweist Schlick u. a. darauf, daß er seit der 1. Aufl. seiner Allgemeinen Erkenntnislehre (1918) »durch die Schule der Logik Russels und Wittgensteins hindurchgegangen« sei und »seitdem an das philosophische Denken […] verschärfte Anforderungen stelle«. 46 In diesem Zusammenhang berichtet er von »seinem philosophischen Zirkel«, dem sogenannten Wiener Kreis, wobei er insbesondere für Wittgensteins Tractatus LogicoPhilosophicus (1921) und das noch ungedruckte Manuskript von Carnaps Logischer Aufbau der Welt (1928) eine Lanze bricht. Der Leibniz-Verehrer Cassirer liest gewiß nicht ohne Regung, wenn Schlick zudem feststellt, daß »die Philosophie durch die von der neuen [positivistischen – C.M.] Logik ausgehenden Impulse an einen Scheideweg gelangt ist und daß wir uns [nun] dem Leibnizschen Ideal des Philosophierens nähern.«47

3. Cassirer und die Philosophie des Wiener Kreises I: Carnap Seit dem Briefwechsel im Jahre 1927 nimmt Cassirer Moritz Schlick als d e n Philosophen des ›Wiener Kreises‹ wahr, mit dem er eine Reihe von Positionen teilt, dessen methodologischer Reduktionismus ihm, dem PhiM. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre (1918), a. a. O., 244. Ebd., 13; siehe E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927– 1931), a. a. O., 59 Anm. 45 E. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931), a. a. O., 66. 46 M. Schlick an E. Cassirer, 30. März 1927, in: ECB/ECN 18: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, a. a. O., 96. 47 Ebd., 96 f. 43

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losophen der verschiedensten Logiken, Sinnordnungen, Formen von Objektivierung und Wege der Objektivitätserkenntnis, aber suspekt ist und bleiben muß. Es sind die von Schlick in seinem Brief genannten Autoren Russell und Carnap, die er nunmehr intensiv studiert, auswertet und seine philosophische Stellung zu ihnen bestimmt, was sich vor allem in nachgelassenen Texten der 20er und 30er Jahre niederschlägt. So setzt sich das Manuskript »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), wie schon erwähnt, stellvertretend mit Rudolf Carnaps Aufbau der logischen Welt (1928) und Scheinprobleme[n] in der Philosophie (1928) auseinander. Dabei geht es an Hand des Verhältnisses von Physischem und Psychischem um das methodische Grundproblem, ob wir das eine auf das andere reduzieren dürfen oder ob wir es mit eigenständigen Weisen der Konstituierung bzw. Objektivierung samt ihrer Erkenntnis zu tun haben. Obwohl Cassirer die letztere Auffassung vertritt und Carnap bzw. dem ›Wiener Kreis‹ die erstere zuschreibt, betont er nicht einfach diesen methodologischen Gegensatz: Vielmehr benennt er auch unterschiedliche Grade der Übereinstimmung und Annäherung, aber eben auch der Ferne. Das wird u. a. deutlich, wenn er feststellt, daß in dem methodischen Verfahren, das Physische nicht dogmatisch als etwas Gegebenes hinzunehmen, sondern nach seinen Konstruktionsmomenten zu fragen, »die ›kritische‹ Philosophie, die Phaenomenologie und schliesslich die Konstitutions-Analyse Carnaps übereinstimmen«. 48 Der so konstituierte »Begriff der ›physischen Welt‹« impliziere bereits den »Begriff der ›anderen‹ Subjekte«, 49 welcher jedoch durch Carnap entwertet werde, wenn er die ihn konstituierende »›Intention‹ des Du« als »etwas bloss-Zufälliges, Accesorisches; ›bloss‹ Psychologisches« bezeichnet.50 Cassirer wiederum gilt »die Intention des Du« (d. h. des Fremdpsychischen) als »die ›Bedingung der Möglichkeit‹ der Setzung des ›Es‹« (d. h. des Physischen).51 Nur über diese ›Du‹-Intention erschließe sich uns die Theorie des »›Fremdpsychischen‹«,

E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 153; »›kritische‹ Philosophie« ist hier als eine Selbstbezeichnung zu verstehen, die bei Cassirer üblicherweise ›Philosophie der symbolischen Formen‹ lautet. 49 Ebd., 154. 50 Ebd., 155; R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee 1928, § 58, S. 79: »Die eigenpsychischen Gegenstände sind erkenntnismäßig primär in bezug auf die physischen Gegenstände, die fremdpsychischen dagegen sekundär. Wir werden deshalb die physischen Gegenstände aus den eigenpsychischen und die fremdpsychischen aus den physischen konstituieren.« 51 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 156. 48

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die sich »allen p hy s i k a l i s t i s c h e n Theorien«, einschließlich der Konstitutionstheorie Carnaps,52 verschließt.53 Bei Carnap wirke »das positivistische Vorurteil insofern nach, als er die ›Intention‹, in der das Physische konstituiert wird, als die ›intentio prima‹, als die eigentlich-fundamentale ansieht, die allen andern gegenständlichen Setzungen v o r a u s g e h t und auf die jene sich gründen müssen. – So glaubt er den Objektsa n s p r u c h überhaupt nur aufrecht erhalten zu können, wenn er ihn im Sinne der wissenschaft lichen ›Objektivierung‹ (Physik als Universalsprache der Wissenschaft)54 versteht. – Hier aber liegt eben eine ›petitio principii‹ des Physikalismus [vor – C.M.] – der letzten Endes auf positivistische Anschauungen (Mach …) zurückgeht.«55

Damit sind zwei zentrale Themenfelder – der physikalistische Methodenmonismus und die Deutung des Fremdpsychischen als Scheinproblem – umrissen, auf denen Cassirer im Manuskript »Ausdrucksphänomen und Cassirer scheint Carnaps Konstitutionstheorie jedoch nicht völlig mit dem neupositivistischen Physikalismus gleichzusetzen, da Carnap u. a., wie John M. Krois ausführt, in der Frage, wie die Wahrnehmung die »Elementarerlebnisse« konstituiert, »explizit an die Gestalttheorie [Max] Wertheimers und [Wolfgang] Köhlers« anknüpft , wenn er z. B. »›Erlebnisse selbst in ihrer Totalität und geschlossenen Einheit‹« (R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., 92) betrachtet wissen will, was Cassirers gestalttheoretisch geprägter Auffassung in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) nahekommt (J.M. Krois, »Ernst Cassirer und der Wiener Kreis«, in: F. Stadler [Hrsg.], Elemente moderner Wissenschaft stheorie, a. a. O., 113). Auch Schlick steht gewissermaßen im Banne der Gestaltpsychologie, siehe dazu H.J. Wendel/F.O. Engler, »Einleitung«, in: M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, Wien 2009, 9–49, hier: 18 ff. 53 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 156. 54 R. Carnap, »Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft«, in: Erkenntnis, Im Auftrage der Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie Berlin und des Vereins Ernst Mach in Wien, Bd. 2, (Zugleich Annalen der Philosophie. Bd. 10), Leipzig 1931, 432–465. 55 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 157; Nachdem Carnap unter Bezug auf die »psychophysische Beziehung« als »Parallelvorgang« zunächst erklärt: »Also sind alle physischen Gegenstände auf psychische zurückführbar«, behauptet er sofort danach »die logische Existenz« einer Regel, aus der »die grundsätzliche Rückführbarkeit aller psychischen Gegenstände auf physische […] zu folgern« ist (R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., § 57, 78) »Eine andere Art der Zurückführbarkeit psychischer auf physische Gegenstände stützt sich […] auf die Ausdrucksbeziehung« (ebd.). »[D]as Fremdpsychische tritt nur als (erkenntnistheoretischer) Nebenteil von Physischem auf« (R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Berlin-Schlachtensee 1928, 17). 52

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›Wiener Kreis‹« seine Kritik an der Philosophie des ›Wiener Kreises‹ formuliert und bekräftigt. Diese kann und soll hier nicht im Detail vorgetragen, sondern noch einmal auf den Punkt gebracht werden. Beide Themenfelder führen auf das philosophische Problem des Für und Wider einer in der Konstitutionsproblematik das Primat beanspruchenden Ausdruckswahrnehmung. Wenn eine Philosophie ihr »j e g l i c h e ›Wahrheit‹« abspricht, wie Carnap dies tue, indem er von einem metaphysischem »Scheinproblem«, von einem »›sinnlosen‹ Problem« spricht,56 wobei er reduktionistisch mit theoretischen Aussagen an das Fremdpsychische herangeht, die allein für Physisches Geltung besitzen,57 dann bestehe die Konsequenz darin, daß sie »die Objektivität des Fremdpsychischen – und damit die Objektivität aller Kulturwissenschaft – v e r n i c h t e t .«58 Als Kulturphänomen bedarf aber auch die Physik einer kulturwissenschaft lichen und kulturphilosophischen Erklärung bzw. Behandlung, was die Anhänger des Physikalismus, d. h. die Philosophen des ›Wiener Kreises‹ nicht beachteten. Die Physik erkläre zwar ihre objektive Welt t h e o r e t i s c h , wissenschaft lich-exakt, vermag sich selbst aber nicht auf diese Weise zu verstehen, sondern nur als Kulturphänomen, als Weise des geistigen Tuns. Sie ist also gleichzeitig »NaturFaktum« und »Kultur-Faktum«: für die »Kultur-Fakten ist das Forum nicht die Physik, sondern die ›Philosophie der symbolischen Formen‹«.59 Dabei nimmt Cassirers Kritik sehr wohl zur Kenntnis, daß Carnap keineswegs behauptet, »daß es so etwas wie Ausdruckse r l e b n i s s e nicht giebt«, sondern nur, daß sie sich nicht »nach den Axiomen der ›Konstitutionstheorie‹« wie Physisches primär konstituieren lassen und »daher sozusagen nicht bestehen d ü r f t e n !«60 Damit suche Carnap – entgegen eines wahren »›positivistischen‹ Standpunktes« – »die Phaenomene den Axiomen der Theorie an[zu]passen«, anstatt »die (Konstitutions-) Theorie den Phaenomenen«. 61 Die Aufgabe, »diejenige ›Konstitution‹ [zu] f i n d e n , E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 201; R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., § 169, 234–236. 57 Gemeint ist wohl die These Carnaps, wonach »Ausdrucksbewegungen« mit Physischem gleichzusetzen bzw. allein in »Aussagen der physischen Sprache« zu formulieren seien. (R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, a. a. O., 37, 40 f.) »Daraus folgt, daß alle psychischen Gegenstände auf Ausdrucksbewegungen (im weiteren Sinne), also auf physische Gegenstände zurückführbar sind« (R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., § 57, 79) 58 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 201. 59 Ebd., 212. 60 Ebd., 201 f. 61 Ebd., 202. 56

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die den Ausdrucksphaenomenen gemäss, adäquat ist«, 62 sieht Cassirer dagegen in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eingelöst, bzw. um diese Einlösung ringt er in jenen Jahren. Mit anderen Worten, der physikalistische Methodenmonismus verführe Carnap dazu, »die e c h t e n Konstitutionsformen des Ausdruckserlebnisses als unerheblich, ›sekundär‹ bei Seite« zu schieben. 63 Aber sekundär sind sie, so eine der Grundthesen des Philosophen der symbolischen Kulturformen, nur für das konkrete Bezugs- und Konstitutionssystem der Physik. Cassirer nennt das Carnapsche Verfahren »ein Vo r b e i g e h e n an dem Problem, eine typische ›Aus-Flucht‹, die Flucht in den theoretischen Logos, um das (atheoretische) Ausdrucks-Erlebnis zu beseitigen, um seiner Herr zu werden«. 64

Diese Scheinlösung Carnaps – und des ›Wiener Kreises‹ (Wittgenstein) – bestehe »sozusagen in einem diktatorischen Ve r b o t des Problems«, da es, weil im Rahmen der Physik nicht ›entscheidbar‹, ihm als ›sinnlos‹ gelte. 65 Doch falle der Begriff der Entscheidbarkeit, analytisch, rein begrifflich betrachtet, »n i c ht mit dem des Sinnvollen zusammen«. 66 Zudem müsse »in der Wissenschaft […] auf j e d e Frage eine Antwort m ö g l i c h sein«. 67 Gegen diese zu enge Fassung des Sinnvollen/Sinnlosen als allein im naturwissenschaftlichen Bezugssystem zu Entscheidendem polemisiert Cassirer auch unter Berufung auf Karl Popper. 68 Zumal Carnap sich mit der Einführung des ›Toleranzprinzips‹, »wonach es Sache der F e s t s e t z u n g ist, was man als sinnvoll ansehen will«, 69 de facto der Auffassung Poppers angeschlossen habe. Konsequent ›positivistisch‹ wäre es deshalb aus Cassirers Sicht, die »›Realität‹, [die] objektive Gültigkeit der Ausdrucksfunktion« festzustellen, »fest[zu]stellen, worauf diese These sich stützt und wie weit sie sich, durch Rückführung auf ein Gegebenes (Konstitutionierung), rechtfertigen lässt«.70 Ebd., 202. Ebd., 202. 64 Ebd., 203. 65 Ebd., 176. 66 Ebd., 176. 67 Ebd., 177. 68 K. Popper, Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft , Wien 1935, 21. 69 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 177; K. Popper, Logik der Forschung, a. a. O., 227 Anm. 6; R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, Wien 1934, 44 f. 70 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 203. 62 63

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Die Überlegungen zu ›Sinnvollem‹ und ›Sinnlosen‹ führen Cassirer zur ihrer Verknüpfung mit der Aufgabe der Philosophie und der Feststellung verschiedener »Vo r s t e l l u n g [e n] von der objektiven Aufgabe, die man der Philosophie stellt«.71 Während für den ›Wiener Kreis‹, so Cassirer, »die Philosophie die Methoden der empirischen Wissenschaft ›nachahmen‹ soll, also nur Sätze enthalten soll, die sich durch ›Erfahrung‹«, im Sinne der sinnlichen Wahrnehmung, »bestätigen oder widerlegen lassen«, stelle sich die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eine ganz andere Aufgabe: »die Analyse a l l e r Formen des Weltverständnisses«.72 Darunter begreife sie »n i c ht nu r empirische und exakte W i s s e n s c h a f t , sondern die Totalität der Funktionen, durch die Welt ›begriffen‹ und Welt aufgebaut wird«.73 Seine durchaus differenzierte Sichtweise auf den Physikalismus kommt u. a. dann zum Ausdruck, wenn er »das Sinnkriterium des Wiener Kreises« nicht schlechthin als f a l s c h , wohl aber als »zu e n g« qualifiziert, weil es nicht alle Probleme, »vor allem [nicht – C.M.] das Ausdrucksproblem und das Problem des ›Fremdpsychischen‹«,74 aufschließt, sondern einige der Probleme sogar verdecke. Der »Unterschied zwischen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und der Philosophie des ›Wiener Kreises‹« lasse sich eben genau dann »am deutlichsten bezeichnen«,75 wenn klar gemacht wird, daß zum Einen »die Physik […] k e i n e Universalsprache [ist], sondern nur eine besondere Sprache«, und daß zum Anderen die Philosophie »auf a l l e Sprachen achten und hören, sie zu deuten und zu verstehen suchen [muss]«.76 Dadurch wird sie zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die »alle Arten des ›Weltverständnisses‹« umgreift.77 Philosophie ist für Cassirer eben »nicht nur Kritik der E r k e n nt n i s – im Sinne der logischen, mathematischen, physikalischen Erkenntnis«, sie umfaßt vielmehr »die Aktivität, das geistige ›Tun‹ und ›Bilden‹ ganz verschiedener Dimensionen« und legt »allen Nachdruck« auf diese Verschiedenheit der Dimensionen (Richtungen) der Weltkonstitution.78 Cassirer votiert so vehement gegen die Privilegierung der theoretischen, d. h. objektiv-physikalischen Weltkonstitution, weil

71 72 73 74 75 76 77 78

Ebd., 178. Ebd., 178. Ebd., 178. Ebd., 178. Ebd., 206. Ebd., 205. Ebd., 206. Ebd., 206.

›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹

339

»aus bloss-t h e o r e t i s c h e n Funktionen […] sich die menschliche ›Welt‹ nicht aufbauen [lässt], es […] auch atheoretische Funktionen [gibt] – z. B. die ethische, die aesthetische Funktion«.79

Und jede dieser Funktionen ist einer bestimmten eigentümlichen Objektivität fähig, von der man zu fragen habe, »welcher Anteil [ihr] im Aufbau des ›objektiven Weltbildes‹ zukommt«, welchen »Bedingungen und Gesetzen« ihr jeweiliger Objektivationsprozeß gehorcht. 80 Wenn man, wie es die Vertreter des ›Wiener Kreises‹ tun, »die Gesamtheit der Fragen, die hier entstehen, auf einen Nenner (den Nenner des ›Logismus‹ oder des ›Physikalismus‹) zu bringen sucht«, dann bedeute dies objektiv eine unannehmbare »Verarmung der Philosophie«, eine unangemessene »ProblemVerarmung, A u f g a b e n -Verkürzung«. 81 Neben der objektiven Aufgabe, die die einzelnen Philosophen bzw. Philosophenschulen jeweils der Philosophie zuschreiben, prägt laut Cassirer aber auch ein jeweiliger subjektiver Ethos – eine ›Weltanschauung‹ – das Philosophieren. Und in dem Zusammenhang formuliert er die vor einigen Jahren schon einmal von John M. Krois zitierten erstaunlichen Worte, 82 wonach er, Cassirer, »in dem, was [er] als den E t h o s der Philosophie« ansieht, »keiner ›Schule‹ näher zu stehen glaubt, als den Denkern des Wiener Kreises«; das meint ihr »Streben nach Bestimmtheit, nach Exaktheit, nach Ausschaltung des bloss-Subjektiven, der ›Gefühlsphilosophie‹, die Anwendung der a n a l y t i s c h e n Methode, [die] strenge Begriffsanalyse«. 83

Mit anderen Worten, Cassirer hat die Überzeugung und das Bestreben der logischen Positivisten im Auge, die Philosophie als eine – exakte – Wissenschaft, und nicht als einen subjektiven Standpunkt, eine Weltanschauung oder gar ein Erfahrungsmittel des Irrationalen, Begriffslosen zu betrachten und zu handhaben. »Das alles sind Forderungen, die ich [d. h. Cassirer – C.M.] durchaus anerkenne – Was Kant an Wolff rühmte: strenge Definition der Begriffe etc. Ebd., 206. Ebd., 207. 81 Ebd., 207. 82 J.M. Krois, »Ernst Cassirer und der Wiener Kreis«, in: F. Stadler (Hrsg.), Elemente moderner Wissenschaftstheorie, a. a. O., 105. 83 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 206. 79

80

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

[,] Urheber des noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit [zu sein – C.M.] – Die ›Wiener Schule‹ darf dieses Lob für sich beanspruchen.«84

Wissenschaft und Objektivität will Cassirer allerdings nicht auf exakte Wissenschaft und physikalische Objektivität beschränkt wissen, in den Kulturwissenschaften und in der Historie haben wir es vielmehr mit eigenständigen Formen von Wissenschaft und Objektivität zu tun. 85

4. Cassirer und die Philosophie des Wiener Kreises II: Schlick. Es ist im Beitrag schon angeklungen, daß Cassirer, der die Kulturphänomene aus vielfältig formbestimmten Objektivations- und Symbolisierungsleistungen des Menschen hervorgegangen sieht, großen Wert auf die Feststellung legt, daß auch »die Philosophie […] eben ein Tu n« ist. 86 Dies bringe nicht zuletzt »Schlicks Definition der Philosophie als ein ›Tun‹« ins Spiel. 87 Dabei hat Cassirer u.a dessen Aussage im Auge, wonach die Philosophie »nämlich diejenige Tätigkeit [ist], durch welche der Sinn der Aussagen festgestellt oder aufgedeckt wird. […] Die philosophische Tätigkeit der Sinngebung ist daher das Alpha und Omega aller wissenschaftlichen Erkenntnis.«88

»Ein solches spezifisches Tun« glaubt Cassirer in allen Dimensionen der Kultur und den diese Formen untersuchenden Wissenschaften vorzufinden, ausmachen zu können, weshalb es ihm als »Urquell a l l e s Wissens« gilt. 89 Ebd., 206. Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310, und »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 86 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 212. 87 Ebd., 212. 88 M. Schlick, »Die Wende der Philosophie«, in: Erkenntnis, Im Auftrage der Gesellschaft für empirische Philosophie Berlin und des Vereins Ernst Mach in Wien hrsg. von R. Carnap und H. Reichenbach, Bd. 1: 1930–1931, (Zugleich Annalen der Philosophie, Bd. 9), Leipzig, 4–11, hier: 8; Auch für Carnap gibt es ein ›Tun‹, das der ›Einfühlung‹: »Einfühlung ist […] ein Tun, nicht ein Erkennen, und zwar ein Tun, das eine Fühlung mit dem Anderen herstellt und dadurch zu einer anderen praktischen Einstellung führen kann […].« – R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, a. a. O., 40. 89 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 212. 84 85

›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹

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Die unterschiedlichen Dimensionen oder Typen des – theoretischen, ästhetischen, ethischen etc. – Tuns erschließen sich, so Cassirer unter Rückgriff auf Paul Natorps Entgegensetzung eines geistigen Weges der Konstruktion des Objektiven (in den Wissenschaften) und eines philosophischen Weges der Rekonstruktion der subjektiven Leistungen, die es geformt haben, 90 durch das ›Zurückfragen‹ von den Objektivationen als den ›Werken‹ unterschiedlich gerichteter geistiger Funktionen. Der Dimensions- oder Typenunterschied der kulturellen Phänomene liege somit nie in den bloßen Erlebnissen, sondern in der jeweiligen Richtung des Tuns. Die sich dabei stellenden ›Funktionsprobleme‹ seien damit nicht auf die ›Basisprobleme‹ zurückführbar, sondern »stellen immer eine e i g e n e Aufgabe, deren Schwierigkeit man sich nicht durch einen falschen Methoden-Monismus (Physikalismus) v e r b a u e n darf«,91 wie es die Wiener Schule tue. Im Beharren darauf, daß das jeweilige Tun »natürlich immer auf diese Erlebnisse bezogen bleibt«, sei »dem ›Empirismus‹ der Wiener Schule durchaus zu[zustimmen]«.92 Als eine weitere »gesunde M a x i m e des ›Wiener Kreises‹, in der wir [d. h. Cassirer – C.M.] völlig mit ihm übereinstimmen«, gilt ihm die Überzeugung, daß »nicht nur die Antworten der Wissenschaft, sondern schon ihre F r a g e n […] der ›Legitimation‹ [bedürfen]«.93 Allerdings ziehe die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ »den Kreis der LegitimationsMerkmale und der Legitimations-Möglichkeiten weiter« als die ›Wiener Schule‹, »weil uns nicht alles als ›metaphysisch‹ gilt, was im Grunde nur ›metaphysikalisch‹ ist!«.94 Cassirer, der auch Schlicks Begriff des Naturgesetzes positiv beurteilt, wonach Naturgesetze zwar »allgemeine Sätze über die Wirklichkeit sein sollen«, es für sie jedoch »keine logische Rechtfertigung« gibt, »weil sie k e i n e e c h t e n S ä t z e sind«,95 ist besonders angetan von dessen ErkläP. Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, 7. Kap. »Die Einheit der objektivierenden Erkenntnis«, 154–189; 8. Kap. »Die Methode der Rekonstruktion«, 189–213. 91 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 215. 92 Ebd., 214. 93 Ebd., 214. 94 Ebd., 214. 95 Ebd., 180; M. Schlick, »Die Kausalität in der gegenwärtigen Physik«, in: Die Naturwissenschaft , Wochenschrift für die Fortschritte der reinen und der angewandten Naturwissenschaften unter besonderer Mitwirkung von H. Spemann hrsg. von A. Berliner, (Organ der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und der Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften), 19. Jg., Heft 7, (13. Februar 1931) Berlin, 145–162, hier: 156: »Das Induktionsproblem besteht ja in der Frage nach der logischen 90

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

rung, wonach ein Naturgesetz »nicht den logischen Charakter einer ›Aussage‹ trägt, sondern vielmehr eine A n w e i s u n g z u r B i l d u n g v o n A u s s a g e n d a r s t e l l t«,96 d. h. eine Anweisung zu einer möglichen ›Tat‹. Als Handlungsanweisungen bedürfen sie einer Richtungsweisung. So deute Schlick das theoretische Interesse an der »Heraushebung des Wiederkehrenden, Konstanten« als eine bestimmte Richtung oder »Form des S u c h e n s (nach dem ›Allgemeinen‹, Objektiven, Über-Individuellen)«, die »so etwas wie Kausalität oder Naturgesetzlichkeit« erst finden läßt.97 Kausalität erweise sich also als »›Anweisung‹ zu einer bestimmten Richtung der ›Beobachtung‹« und folglich als ein »S i n n b e g r i f f , der unserem Verhalten eine bestimmte R i c ht u n g vorschreibt«.98 Außerhalb dieser Richtung »verschwindet für uns das Phänomen der Kausalität (Naturgesetz)«. Damit sei letztlich auch von Schlick zugestanden, daß Naturgesetze grundsätzlich nicht aus Erfahrung bzw. Empfindung ableitbar sind. Schlick sei zudem zustimmen, wonach »die N o t w e n d i g k e i t einer solchen Richtungs-Einstellung, die Notwendigkeit dieser F u n k t i o n d e s S u c h e n s« sich »niemals logisch-formal ›beweisen‹« lasse.99 Eine vergleichbare »formal-logisch unbeweisbar[e] und unwiderlegbar[e]« Richtungs-Einstellung ist für den Philosophen der symbolischen Formen als »›anticipatio‹ in j e d e r Weltansicht (der mythischen, religiösen, aesthetischen) lebendig«.100 Um diese verschiedenen Aufbauprinzipien des Sinns zu erschließen, habe die Philosophie »jede Form m ö g l i c h e r F r a g e n und m ö g l i c h e r A n t w o r t e n als solche zu analysieren und zu verstehen, […] die [jeweilige – C.M.] Antwort kann nie logisch-formal e r z w u n g e n w e r d e n – sie hängt von der Frage ab, und die Frage ist kein ›Sein‹ […] sie ist ein Tu n , «.101 Rechtfertigung […] allgemeiner Sätze über die Wirklichkeit, welche immer Extrapolationen aus Einzelbeobachtungen sind. Wir erkennen […], daß es für sie keine logische Rechtfertigung gibt; es kann sie nicht geben, weil es gar keine echten Sätze sind.« 96 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 180; M. Schlick, »Die Kausalität in der gegenwärtigen Physik«, in: Die Naturwissenschaft , a. a. O., 151; für Schlick sind Naturgesetze Handlungsanweisungen, wie auch »Beobachtung und Experiment Handlungen sind, durch die wir in direkten Verkehr mit der Natur treten«. – Ebd., 156. 97 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 181. 98 Ebd., 181. 99 Ebd., 181. 100 Ebd., 181. 101 Ebd., 181 f.

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Mit dieser »Einsicht in den f u n k t i o n a l e n Charakter«, da ist sich Cassirer sicher, lösen sich die Schwierigkeiten, vor denen der Physikalismus bzw. Methodenmonismus steht, Schwierigkeiten, die z. B. daraus entstehen, »daß viele Probleme als meta-p hy s i s c h bezeichnet und als solche denunziert werden, die nur meta-p hy s i k a l i s c h sind«.102 Obwohl Cassirer Schlicks Hinwendung zu Handlung und ›Tat‹ auch als eine gewisse Verlegenheit deutet, die »immer d o r t auftritt, wo das empirisch-dogmatische Schema des Neupositivismus sich als zu eng erweist, den Phaenomenen gerecht zu werden«,103 scheint er ihn nicht ohne Weiteres dem positivistischen Physikalismus bzw. Methodenmonismus zuzurechnen. Falle doch »a u c h n a c h« Schlick die Philosophie »keineswegs mit der Natur-Wissenschaft z u s a m m e n , was vom Standpunkt des reinen Physikalismus eigentlich zu erwarten und zu fordern wäre«.104 Auch wenn die Philosophie für ihn keinen andern Gegenstand als die Naturwissenschaft hat, gilt sie ihm doch als »eine andere Form, eine andere Richtung der Fr a g e« und damit des Tu n s , »indem sie eben nicht nach der Beschaffenheit des physikalischen Gegenstands, sondern nach der B e s c h a f f e n h e i t d e r p h y s i k a l i s c h e n E r k e n n t n i s und deren ›Bedingungen‹ fragt«.105

Ebd., 210. Ebd., 180. 104 Ebd., 210; siehe dazu auch M. Schlick, »Die Grenzen der naturwissenschaft lichen und philosophischen Begriffsbildung«, in: Vierteljahresschrift für wissenschaft liche Philosophie und Soziologie, Bd. 34–35 (1910/11), 121–142, zitiert nach ders., Philosophische Logik, Hrsg. und eingeleitet von B. Philippi, (stw 598), Frankfurt a. Main 1986, 11–30. 105 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 210. 102 103

›Basisphänomene‹ Eine Synthese von Goethes ›Urphänomenen‹ und Carnaps ›Basis‹ der Konstitutionssysteme 1. Vorbemerkung Ernst Cassirers Theorie der Basisphänomene, niedergelegt in dem 1995 erstmals veröffentlichten Manuskript »Über Basisphänomene«,1 ist Mitte/ Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit anderen wichtigen Texten, insbesondere zur Ausdrucksfunktion und zur Kulturphilosophie, entstanden.2 Im vorliegenden Beitrag soll es weniger um eine Interpretation dieser Cassirerschen Theorie als solcher gehen,3 als vielmehr um die Frage, welche vorgefundenen Begrifflichkeiten Cassirer angeregt haben mögen, den Terminus ›Basisphänomene‹ für diese Theorie zu wählen. Für die Vermutung, daß dafür Goethes ›Urphänomene‹ und Carnaps ›Basis‹ des Konstitutionssystems eine Rolle gespielt haben, gibt es mehr als einige Indizien. Den Bezug zu Goethe und dessen Urphänomenen stellt Cassirer im Manuskript selbst her;4 er zieht sich bekanntlich auch durch sein gesamtes philosophisches Werk. Auf den wahrscheinlichen Zusammenhang des Terminus ›Basisphänomen‹ mit dem neopositivistischen ›Basisproblem‹ kommt John M. Krois, der Herausgeber von ECN 1, bereits in den Editorischen Hinweisen zu sprechen, belegen doch nachgelassene Texte insbesondere der 20er und 30er Jahre eine erstaunliche Verbundenheit Cassirers mit dem ›Wiener Kreis‹,5 insbeE. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J. M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke und O. Schwemmer, Hamburg 1995, 113–195. 2 Editorische Hinweise, in: ebd., 292 f., 303 ff. 3 Siehe dazu u. a. vom Verfasser, »La teoria dei fenomeni di base di Cassirer e il suo rapporto con Husserl e Natorp«, in: St. Besoli/M. Ferrari/L. Guidetti (a cura di), Neokantianismo e fenomenologia. Logica, psicologica, cultura e teoria della conoscenza, in: Quaderni di Discipline Filosofiche (2002), 149–172; ders., Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, (CF, Bd. 12), Hamburg 2005, Fünftes Kapitel: »Kulturelle Lebensformen und Basisphänomene (1935–1941)«, 293–336. 4 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 123 ff. 5 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1936), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 151–218; ders., »Probleme der Kulturphilosophie« (1939) und »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vor1

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

sondere mit Moritz Schlick, Karl Reichenbach und Rudolf Carnap. 6 Sowohl diese beiden nachgelassenen Texte als auch der Briefwechsel mit Reichenbach und Schlick7 geben zudem Auskunft über die Kenntnis Cassirers von Carnaps Manuskript Der logischem Aufbau der Welt (veröffentlicht 1928). Deshalb konnte Krois 1995 mit gutem Grund vermuten: »Cassirer scheint durch seine Auseinandersetzung mit Carnaps Der Logische Aufbau der Welt, 1928, zu Reflexionen über seine eigene Auffassung des Problems der Basis angeregt worden zu sein, die in Cassirers häufigem Gebrauch von Goethes Begriff des Urphänomens zum Ausdruck kommt.«8 Davon unterscheidet Krois den »sachliche[n] Grund für Cassirers Beschäftigung mit den Basisphänomenen«, den er »in seiner eigenen, augenfälligen Verwendung dieses Goetheschen Terminus’, für die er aber keine philosophische Begründung gibt«, sieht.9 Diesen Zusammenhang hatte Ernst Wolfgang Orth zum Anlaß seiner Bemerkung genommen, der Terminus Basisphänomene sei »ein typisch Cassirersches Aperçu«, das »sozusagen Wien mit Weimar, d. h. das neopositivistische Basisproblem […] mit Goethes Urphänomen« verbindet.10 Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Krois’ nunmehr rund zwei Jahrzehnte zurückliegende Vermutungen und Überlegungen auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen.

2. Urphänomene vor den Basisphänomenen Der Terminus ›Urphänomen‹ findet sich in Cassirers Schriften bereits sehr früh, allerdings noch nicht explizite auf Goethe bezogen, so z. B. 1902 im Leibniz-Buch oder 1907 im Erkenntnisproblem II.11 In den meisten Fällen lesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme unter Mitarbeit von Jörg Fingerhut, Hamburg 2004, 29–104, 105–200. 6 J. M. Krois, »Ernst Cassirer und der Wiener Kreis«, in: F. Stadler (Hrsg.), Elemente moderner Wissenschaftstheorie. Zur Interaktion von Philosophie, Geschichte und Theorie der Wissenschaften, (Bd. 8 der Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis), Wien/New York 2000, 105–121; siehe im vorliegenden Band auch den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 325–343. 7 E. Cassirer, Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, Hrsg. von J. M. Krois unter Mitarbeit von M. Lauschke, C. Rosenkranz und M. Simon-Gadhoff, in: ECB/ECN 18, Hamburg 2009. 8 Editorische Hinweise, in: E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 306. 9 Ebd. 10 Vgl. E. W. Orth, Das Verhältnis von Ernst Cassirer und Wilhelm Dilthey mit Blick auf Georg Misch, in: Dilthey-Jahrbuch 12/1999–2000, 127. 11 »Hier [bei Hobbes – C.M.] wird zunächst die Tatsache, daß überhaupt Erschei-

›Basisphänomene‹

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wird der Terminus im Grunde so wiedergegeben, wie ihn besprochene Autoren selbst für sich reklamieren. Das Urphänomen Goethes wird spätestens 1916 in Freiheit und Form auf eine Weise ins Gespräch gebracht, die zumindest eine gewisse Zustimmung erkennen läßt, hier aber zunächst die Goethesche Auffassung selbst wiedergibt.12 Diese besteht in der Grundüberzeugung, wonach die Natur eine Welt der Erscheinungen, der Phänomene ist, denen keine eigene transzendente Welt korreliert, die nicht durch ein unmittelbar zugängliches Wahres fundiert sind. Ein solches Wahres lasse sich »nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, im einzelnen und verwandten Erscheinungen« erschauen und könne lediglich auf gewisse Urphänomene zurückverfolgt werden, die selbst wieder nur erscheinen und unableitbar, unerklärbar bleiben.13 Hinter den Urphänomenen Goethes verbergen sich also keine transzendenten metaphysischen Wesen oder Substanzen. So habe er, Goethe, immer versucht, »die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt.«14 Die Urphänomene sind bei ihm so etwas wie intellektuelle Bilder, Bildungsregeln enthaltende Urbilder, Urtypen als Komplexe von Bildungsgesetzen. Ein solcher urphänomenaler Urtypus – der Gattung z. B. – geht

nungen stattfinden, daß also bestimmte Subjekte mit Empfi ndung und bewußter Vorstellung begabt sind, als das Urphänomen bezeichnet, dem die philosophische Untersuchung sich vor allen anderen Fragen zuwenden muß.« – E. Cassirer, EP, Bd. II (1907), in: ECW 3, Text und Anm. bearbeitet von D. Vogel, Hamburg 1999, 53; »Berkeley sucht diesen Einwand zu entkräften, indem er die Frage vom theoretischen Bewußtsein in das praktische verlegt. Der Wille ist ihm das eigentliche Urphänomen, das uns vom Dasein des individuellen Geistes zwingend überzeugt.« (Ebd., 260). 12 In Goethes naturwissenschaft lichen Betrachtungen werde nicht den abstrakten, schematischen Gattungsbegriffen Linnés »der Hauch des Lebens mitgeteilt, sondern am Lebendig-Einzelnen soll eine neue Weise der Betrachtung entdeckt werden, die das Urphänomen, das hier überall hervortritt, begriffl ich ausspricht, ohne es, eben durch diese Aussprache, zu vernichten.« – E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 229. »Eine gänzlich andere, eine fundamental neue Form der Beziehung des Besonderen aufs Allgemeine waltet in Goethes Naturbetrachtung, die von dem Urphänomen des Lebens ihren Ausgang nimmt.« – E. Cassirer, Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften(1902–1921), Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, 281. 13 J. W. von Goethe, Versuch einer Witterungslehre. 1825, »Einleitendes und Allgemeines«, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, Texkritisch durchgesehen und kommentiert von D. Kuhn und R. Wankmüller, Mit einem Eassay von C.F. von Weizäcker, München 1998, 305. 14 J. W. von Goethe, »Einleitung« Zur Farbenlehre, in: ebd., 327.

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

»durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, läßt sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren Stufen gar wohl beobachten und muß auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht.«15

Auch in Goethes Maximen und Reflexionen, die Cassirer gern zitiert, finden sich mehrere Aussagen und Erklärungsversuche des Urphänomens. So lautet eine zentrale Maxime Goethes: »Urphänomene: ideal, real, symbolisch, identisch. […] Urphänomen: ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch, weil es alle Fälle begreift , identisch mit allen Fällen.«16 Eine andere Maxime teilt folgende Erkenntnis mit: »Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphänomene versetzt uns in eine Art von Angst: wir fühlen unsere Unzulänglichkeit; nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt, erfreuen sie uns.«17 Diese Erkenntnis wird noch einmal variiert und gleichzeitig wird der Verstand als Gegenspieler der Schau von Urphänomenen ins Spiel gebracht, worauf sich Cassirer dann in seinem Versuch über die Basisphänomene beziehen wird: »Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich ins Erstaunen; geschwind aber kommt der tätige Kuppler Verstand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinen vermitteln.«18

Der Verstand mit seinen abstrakten Begriffen vermag nach Goethe ein Urphänomen weder zu begründen noch zu erklären oder gar zu erfassen, ein Urphänomen darf »man nur aussprechen […], um es erklärt zu haben«.19 Doch der Versuch, ein Urphänomen zu erklären, ist nur sehr bedingt möglich: »Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch

J. W. von Goethe, Tag- und Jahreshefte, in: HA 10: Autobiographische Schriften II, Textkritisch durchgesehen von L. Blumenthal und W. Loos, Kommentiert von W. Loos und E. Trunz, München 1998, S. 436. Goethe ist bekanntlich darum bemüht, aus der Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten einen Urtypus, die Urpflanze als ein nicht weiter ableitbares und erklärbares Urphänomen zu erschauen. Aus dieser Urgestalt wollte er in einem zweiten Schritt die spätere Vielfalt sich entwickeln lassen. 16 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: HA 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, Textkritisch durchgesehen und kommentiert von H.J. Schrimpf, München 1998, Maxime 15, 366. 17 Ebd., Maxime 16, 367. 18 Ebd., Maxime 17, 367. 19 Ebd., Maxime 19, 367. 15

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auch nur Resignation«, allerdings nicht ein Resignieren an den Grenzen der eigenen Person, sondern an »den Grenzen der Menschheit«.20 Wenn Goethe, der »gewöhnliches Anschauen« als »richtige Ansicht der irdischen Dinge« vom »reinen Anschauen des Äußeren und Inneren«, 21 d. h. das Sehen mit »den Augen des Leibes« vom Sehen mit »Geistesaugen« unterscheidet,22 von der »sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze« spricht, dann bezieht sich das auch auf die Urphänomene und die Weise, wie sie sich uns geben.23 Dagegen ist »das Wahre, mit dem Göttlichen identisch«, das »sich niemals von uns direkt erkennen« läßt, das wir »nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen« schauen, offensichtlich kein Urphänomen, sondern das Absolute, das immer nur durch seine Phänomene faßlich ist.24 Wenn ich aber »die Phänomene bis zu ihren Urquellen« verfolgt habe, d. h., »bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt«, 25 da bin ich zu den Urphänomenen gelangt. »Grund- und Urphänomene« sind folglich nicht die Phänomene, die »wir in der Erfahrung gewahr werden«. Doch müssen, so Goethe Hinweis, Erfahrungsphänomene unter allgemeine empirische Rubriken gebracht werden, die sich wiederum unter wissenschaft liche Rubriken subsumieren lassen müssen, »welche weiter hinausdeuten, wobei uns gewisse unerläßliche Bedingungen des Erscheinens näher bekannt werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, daß man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zum gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann.«26

Das Urphänomen ist also für den Naturwissenschaftler das Letzte, was er erkennen kann, bildet die Grenze seiner Wissenschaft, für den Philosophen dagegen ist es das Erste, der Ausgangspunkt, denn dieser »bekümmert sich Ebd., Maxime 20, 367. Ebd., Maxime 243, 398. 22 Ebd., Maxime 696, 464. 23 J. W. von Goethe, Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 164. 24 J. W. von Goethe, Versuch einer Witterungslehre. 1825, in: ebd., 305. 25 J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, in: ebd., 327. 26 J. W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ebd., 68. 20 21

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nun mit Recht nicht mehr um die Erscheinung«, die sich aus dem Urphänomen ableitet, aber von der empirischen Wissenschaft als Fall beschrieben worden ist.27 In gewissem Sinne wird Cassirer dies für sich und seine Theorie von den Basisphänomenen in Anspruch nehmen. Es fi nden sich bei ihm vor – und nach – dem Entwerfen der Theorie der Basisphänomene aber auch vielfältige Passagen, in denen er den ursprünglichen, Goetheschen Terminus Urphänomen in eigene philosophische Überlegungen einbezieht, und dies insbesondere in dem Band Phänomenologie der Erkenntnis (1929). 28 Für ihn ist, ganz in Goethes Sinne, ein Urphänomen dasjenige, das »nicht mehr aus etwas anderem abgeleitet oder bewiesen werden [kann]«, sondern sich als ein »Phänomen […] nur sich selbst beglaubigen und sich selbst erklären kann«.29 In diesem Sinne spricht Cassirer selbst immer wieder affi rmativ von Urphänomenen. So gelten ihm z. B. nicht nur die Repräsentationsbeziehung sondern auch der Ausdruck und das ausdrucksmäßige Verstehen als ein unableitbares, sich selbst beglaubigendes und erklärendes Urphänomen.30 Auch das »symbolische Grundverhältnis« von »objektiv bedeutsamem Ganzen […] erfüllt mit gegenständlichem ›Sinn‹« müsse »gleich dem des reinen Ausdrucks, als echtes Urphänomen« anerkannt werden.31 Dies ließe sich beliebig fortsetzen, auch für die Ausarbeitungen nachdem der Begriff Basisphänomene geprägt wurde.32 Mit anderen Worten, der Ende der 30er Jahre geprägte Terminus Basisphänomen stellt keinen grundsätzlichen Ersatz des bis dahin gebräuchlichen Begriffs der Urphänomene dar.

J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, in: ebd., 482 f. »Nicht der Fortgang in die Welt der Metaphysik – in eine Welt, die im wesentlichen mittels des Begriffs der Substantialität und der Kausalität aufgebaut und von ihnen beherrscht wird –, sondern der Rückgang in das ›Urphänomen‹ des Ausdrucks kann uns daher hier allein der Lösung entgegenführen.« – E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 112. 29 Ebd., 189. 30 Ebd., 82. 31 Ebd., 138. 32 »An diesem Punkt setzt die symbolische Deutung ein, die Goethe dem Urphänomen gibt.« – E. Cassirer, »Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über ›Lotte in Weimar‹« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 274. Die jeweiligen Funktionen der Kulturformen bleiben für Cassirer »ein ›Urphänomen‹ im goetheschen Sinne«: sie sind, ohne daß sie zu erklären wären. – E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ebd., 458. 27

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3. Von den Urphänomenen zu den Basisphänomenen Den Terminus ›Basisphänomene‹ verwendet Cassirer – nach meinem Kenntnisstand – in seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften nicht. Das verwundert zwar in Hinsicht auf die 1941/42 veröffentlichten Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften, da die Theorie der Basisphänomene, die er Mitte/Ende der 30er Jahre mit Blick auf den Objektivitätscharakter bzw. Wahrheitswert sowohl der Wahrnehmung als auch der Ausdrucksfunktion entwirft , 33 zur Begründung der Kulturwissenschaften als eigenständiger Weise der Objektivation dient. D. h., sie ordnet sich in die Arbeiten zur Begründung der Eigenart der Kulturphilosophie bzw. Kulturwissenschaft, die in der Vorlesung »Probleme der Kulturphilosophie« (1939) samt Vorstudien (Manuskript »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹«), aber auch in den Fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften kulminieren, ein.34 Doch zumindest im nachgelassenen Buchmanuskript Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, das 1942 im Grunde druckfertig ist und nur der Umstände halber – der Übersiedelung des Emigranten von Göteborg nach New Haven – nicht erscheinen kann, kommt der Terminus wenigsten einmal vor.35 Dagegen findet er in den etwa 1936 entstandenen nachgelassenen Text »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« mehrfach Eingang.36 Dies belegt dann auch, daß die Theorie der Basisphänomene gleichzeitig sowohl aus den Bemühungen Cassirers um eine Phänomenologie der Wahrnehmung, deren Charakteristikum der »Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung« ist,37 als auch aus seinen intensiven Studien zur Ausdrucksfunktion, den Ausdrucksphänomenen bzw. der Ausdruckswahrnehmung, die ebenfalls in die Jahre 1926/27 bis 1936/37 fallen, hervorgeht. Es scheint nämlich so, als ob Cassirer im Manuskript »Über Basisphänomene« die Defizite wichtiger Theorien sowohl der sinnlichen bzw. dinglichen Wahrnehmung als auch der Ausdrucksfunktion, speziell der BegrünE. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 113. 34 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–417. 35 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, Hrsg. von K. Ch. Köhnke und J. M. Krois, in: ECN 2, Hamburg 1999, 168. 36 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1936), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 159, 164 f., 167; zur Bedeutung dieses Textes siehe auch im vorliegenden Band den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 325–343. 37 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 3, 7, 11, 24. 33

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dung ihres jeweiligen Wahrheitsanspruches, mit seinem Ansatz der drei Basisphänomene glaubt ausgleichen zu können. Beide Problemfelder bilden wiederum Fundamente für die Grundlegung der Natur- und der Kulturwissenschaft, die Cassirer in jenen Jahren bewegen. Außerdem scheint Cassirer in den 30er Jahren auch an einem ›tiefergelegten‹ Fundament seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu arbeiten. Mit anderen Worten, wir dürfen und müssen die Theorie der Basisphänomene auch als integralen Bestandteil von Cassirers Bemühungen um eine eigene ›Metaphysik der symbolischen Formen‹ verstehen,38 die er nunmehr für notwendig und möglich hält. Unter einer »Metaphysik – in unserer Auffassung –« will Cassirer eine Philosophie verstanden wissen, die »alle vorhergehenden Symbolstufen (Sprache, Mythos, Kunst, Wissenschaft) zugleich begreift und begründet und auf der andren Seite doch auch wieder relativiert«.39

Das methodische Zugleich-Begreifen und Wieder-Relativeren wird Cassirer denn auch für die Behandlung der Basisphänomene empfehlen. Wenden wir uns nunmehr dem eigentlichen Manuskript »Über Basisphänomene« zu, um in ihm Aufschlüsse über die Namensgebung der Basisphänomene zu finden. Cassirer verbindet hier das Thema des Aufschlusses der Wirklichkeit in Wahrnehmung und Ausdruck ohne weitere Erklärung kurzerhand mit Goethes »Versuch eines Aufbaus des Lebens nach der Art seines Seins und der Art, wie es uns selbst und anderen erkennbar ist«, 40 wobei die wiedergegebene »dreifache Gradabstufung« Goethes in den Maximen 391–39341 sich auf den Künstler, d. h. auf die Tätigkeit des Künstlers 42 – und nicht auf die der Erkenntnis – bezieht. Bemerkenswert Editorische Hinweise, in: E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, a. a. O., 299 f., 303 ff.; siehe dazu auch: M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer. De la morphologie au structuralisme, Préface de Christian Möckel, Rennes 2013, 73. 39 E. Cassirer, »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 269. 40 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ebd., 123. 41 Cassirer bezieht sich auf die Anordnung und Ausgabe durch Max Hecker. – J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. von M. Hecker, (Schriften der Goethe-Gesellschaft , Bd. 21) Weimar 1907, 76–77, (Aus den Heften zur Morphologie. Ersten Bandes viertes Heft . 1822). In der Hamburger Ausgabe (HA) handelt es sich um die Maximen 227–229, in: HA 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, 396 f. 42 Goethe wolle mit den Maximen »die ›natürliche‹ Geisteshaltung wahren, der er 38

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ist zunächst, daß Goethe in den drei Maximen selbst niemals von Urphänomenen spricht, sondern von drei Weisen des »Höchsten, was wir von Gott und der Natur erhalten haben« bzw. von drei Weisen der »Gunst der von oben wirkender Wesen«, und gemeint ist das Leben, d. h. drei grundsätzliche, letzte Dimensionen menschlichen Lebens, der kulturellen Lebenstätigkeit. 43 Allerdings werden den drei Dimensionen des schöpferischen Lebens Eigenschaften zugeschrieben, die an Urphänomene erinnern, so wenn es bei Goethe heißt, daß der Lebenstrieb zwar »einem jeden unverwüstlich eingeboren [ist], die Eigentümlichkeit desselben […] uns und anderen [jedoch] ein Geheimnis [bleibt].«44 Diese drei Weisen des Höchsten, der kulturellen (künstlerischen) Lebenstätigkeit bzw. – in Cassirers Deutung – die drei Grade, Stufen des Lebens als eines Ganzen sind e r s t e n s die subjektive ichhafte Monas, z w e i t e n s die aufs andere Ich zielende »Wirkung und Gegenwirkung« im Tun der Monas und d r i t t e n s das objektivierte Werk, das uns anderen kenntlich macht. Wobei das Werk bereits nicht mehr uns angehört, sondern in einer »eigenen Ordnung [steht], die objektiven Maßstäben gehört« (Simmel). 45 Die Rede von den Urphänomenen ist bereits Teil von Cassirers Interpretation der Worte Goethes, die sich zunächst allerdings mit dessen Auffassung von den Urphänomen zu vertragen scheint. Gegen die Auffassung der Urphänomene bei Goethe, und dies meint in Wahrheit nicht den Wortlaut der drei Maximen, sondern andere, im vorliegenden Beitrag bereits zitierte oder erläuterte Aussagen zu den Urphänomenen, wendet Cassirer allerdings ein Bedenken ein: dessen Absage an den Verstand, der sich mit dem Tatbestand unmittelbar gegebener, nicht hintergehbarer und nicht erklärbarer, in ihrem bloßen Erscheinen gegebener Phänomene nicht zufrieden gebe und stets ans Werk gehe, »dies Unvermittelte zu vermitteln«, womit er das Urphänomen um seinen ursprünglichen Sinn bringe, 46 kann und will Cassirer, der nunmehr eine Metaphysik »in unserer Auffassung« anstrebt, offenbar nicht so einfach stehen lassen: »Aber ist eine solche Haltung, wie sie Goethe hier als Künstler fordert und übt, im Ganzen des geistigen Lebens möglich? […] Nein – vielmehr zeigt als Künstler sich unmittelbar nahe fühlt«. – E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 126. 43 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: HA 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, a. a. O., Maximen 227–229, 396 f. 44 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Hrsg. von M. Hecker, a. a. O., Maxime 391, 76. 45 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 125. 46 Ebd., 126.

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sich die Brechung selbst als eine immanente […] Notwendigkeit – Denn auch die ›Verstandes‹-Funktion des Fragens gehört zu den ursprünglichen und wesenhaften Funktionen des Geistes – […]. Diese Funktion steht am Anfang aller Philosophie […]«. 47

Wenn sich der Künstler mit der von Goethe geforderten Geisteshaltung gegenüber den Urphänomenen des Lebens noch begnügen könne, dürfe es der Philosoph nicht, Goethe sei eben »kein philosophischer Systematiker«. Allerdings müsse dem reflektierenden, vermittelnden Verstand hinsichtlich der Urphänomene schon eine gewisse Grenze gesetzt werden, damit diese nicht ihres Sinns beraubt werden. »Es entsteht nun unsere Frage: Wie kann beides mit einander verbunden und versöhnt werden – Wie können wir der Goethischen Forderung der ›Urphänomene‹ und der Cartesisch-Kantischen Forderung der ›Reflexion‹ im Aufbau der Erkenntnis und im Aufbau der Philosophie Genüge leisten – wie läßt sich jene Form der Gewißheit, der ›Unmittelbarkeit‹, die Goethe den Urphänomenen zuerkennt, aufrecht erhalten – und nichtsdestoweniger das unantastbare Recht des ›Denkens‹ wahren […]? Ist hier noch irgend eine Synthese möglich? Oder muß es bei einem unversöhnlichen Widerstreit bleiben?«48

Im Grunde fragt Cassirer nach der möglichen Synthese von intuitiver Gewißheit, auch wenn diese einen Symbolwert einschließt, also eine noetische Leistung, u n d begrifflicher, reflektierender Vermittlung, die ebenso eine Symbolleistung vollzieht und bei der die Begriffe ihren ›Lebensfaden‹ nicht durchtrennen müssen. 49 Die Antwort kann für den Cassirer der 30er Jahre offenbar nur eine im Rahmen einer Metaphysik »in unserer Auffassung« sein, die alle drei Basisphänomene – wie auch alle Symbolstufen – »zugleich begreift und begründet und auf der andren Seite doch auch wieder relativiert«. Vor dem Hintergrund der damals aktuellen Auseinandersetzung zwischen Lebens- und Begriffsphilosophie, in der dieser Gegensatz häufig als antinomischer behandelt wird, glaubt Cassirer, mit seiner Theorie der Basisphänomene genau diese antinomische Sichtweise überwunden und dabei beiden Herangehensweisen ihr Eigenrecht belassen zu haben.

Ebd., 127. Ebd., 130. 49 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310. 47

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Im Manuskript »Über Basisphänomene« gebraucht er nach der Anknüpfung an Goethes Maximen 391–393 – ohne jegliche Erklärung und übergangslos – den Begriff der Basisphänomene, von denen eine Übersicht gewonnen werden soll. Jetzt wird auch – im Unterschied zu Goethes Künstlerproblematik – der Bezug zum allgemeinen Thema des Aufschließens von Wirklichkeit wieder hergestellt: von den Basisphänomenen müssen wir nämlich ausgehen, »um irgend einen Zugang zur ›Wirklichkeit‹ zu gewinnen«, da sich in ihnen »all das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, ursprünglich aufschließt und erschließt«.50 In einem anderen Manuskript jener Jahre deutet Cassirer die drei Basisphänomene als drei überempirische Grundrichtungen der Wirklichkeitserkenntnis, die eine kausale Frage nach ihrem Warum nicht gestatten würden, was schon Goethe mehrfach erklärt habe.51 Hier spricht Cassirer auch von »Grundtypen geistiger Verhaltensweisen” bzw. von »Kreisen des Seins«.52 Sie, die Basisphänomene, fungierten als »›originär-gebende‹ Intentionen« (Husserl), als »die eigentlichen Quellen der Wirklichkeitserkenntnis«, wobei der Begriff Wirklichkeit sich »aus diesen Quellen […]speist«, sich »kraft ihrer anschaulich erfüllt«.53 Cassirer hält sich in der Tat an »Goethes Darstellung« der drei Weisen des Höchsten, der Lebenstätigkeit nämlich, wenn er e r s t e n s »das Phänomen des Ich, der Monas, des ›Lebens‹ schlechthin«,54 z w e i t e n s das ursprünglich in der Willenserfahrung gegebene Du-Bewußtsein des Wirkens, des Gegen-Standes bzw. Wider-Stehenden55 und d r i t t e n s das vom Ich entfremdete Werk, das allerdings zum »eigentlichen Wirklichkeitsbewußtsein hinführt«, da aus dem Werk-Bewußtsein das Sach-Bewußtsein (Es) erwachse,56 expliziert. Daß Cassirer dabei Goethe und seine drei Maximen künstlerischer Tätigkeit durchaus ›großzügig‹ wiedergibt und auslegt, zeigt sich u. a. auch dann, wenn er »Fühlen, Wollen, Denken«, die von Theodor Lipps als psychische Grundphänomene behandelten Vermögen, seinen, Goethe angeblich entlehnten Ur- bzw. Basisphänomenen gleichsetzt.57 Dies wiederholt E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 131. 51 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 8. 52 Ebd., 9 f. 53 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 132. 54 Ebd., 133. 55 Ebd., 134 f. 56 Ebd., 136. So ist »jedes ›echte‹ Wahrnehmen überhaupt« im Basisphänomen ›Es‹ »beschlossen«, »sofern es nicht bloß subjektives Empfi nden ist, sondern einen Gegenstandsbezug in sich schliesst«. – Ebd., 149. 57 Ebd., 143. 50

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sich noch einmal, wenn er auf Karl Bühler zu sprechen kommt. Dieser habe die psychischen Grundphänomene des Gebildes Sprache »Ausdruck, Steuerung, Darstellung« gefunden, was »auf jene drei Klassen von Basisphänomenen zurückweist, die wir unterschieden hatten und die z. B. in der Goetheschen Betrachtung hervortraten.«58 Inwieweit ist – eingedenk der formulierten Kritik an der fehlenden philosophischen Durchdringung und eingedenk der recht freien Interpretation der Goetheschen Maximen – die Cassirersche Theorie der drei Basisphänomene wirklich eine originelle Explikation der Auffassung Goethes sowohl der Urphänomene als auch der drei Weisen des schöpferischen Lebens, des Höchsten der Natur? Der unmittelbar anschauliche Charakter, die unmittelbar anschauliche Gegebenheit der Basisphänomene scheint mit Goethes Duktus hinsichtlich der Urphänomene durchaus vereinbar zu sein. Auch die Überlegung, daß die Basisphänomene nicht in einfacher, alltäglicher Anschauung zu erfassen sind, sondern daß »man […] sozusagen den Blick wenden, den ›Sehstrahl‹ umkehren [muß], um die bezeichneten ›Urphänomene‹ wieder zu sehen zu bekommen«,59 dürfte mit Goethes Lehre von den Urphänomenen (Urpflanze, Urtier etc.) verträglich sein. Ist dieser doch ebenso wie Cassirer davon überzeugt, daß dem objektivierenden Blick der positiven Wissenschaften diese Ur- bzw. Basisphänomene verschwinden, unsichtbar bleiben. 60 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, ob dieser von der alltäglichen Anschauung abgewandte Blick oder Sehstrahl ein unmittelbar erfassender und verstehender, oder ein vermittelndes Schauen ist. Oder ob, das scheint die Auffassung Cassirers zu sein, der gewendete Blick zwar die Urphänomene unmittelbar erfassen und verstehen läßt, ihre Erklärung und Erkenntnis aber der Vermittlung durch den Verstand bzw. die Vernunft bedarf, was Goethe ja abweist. Es ist zu vermuten, allerdings nicht definitiv zu behaupten, daß Cassirers oben erwähnte Kritik an Goethe eben auch suggeriert, dieser sitze dem Irrtum der intuitionistischen Lebensphilosophie auf, die meint, daß das Unmittelbare des Lebens »auch unmittelbar erkannt werden kann«. Cassirer ist wohl mit Natorp der Auffassung, dies könne immer nur mittelbar erklärend sichtbar gemacht werden, auch wenn es im Erleben unmittelbar verstanden wird. 61 Die Philosophie kann und muß, davon ist Ebd., 148. Ebd., 139. 60 Ebd., 139. 61 Ebd., 145. In diesem Sinne schließt sich Cassirer offenbar der »sehr eigenartigen ›rekonstruktiven‹ Methode der Natorpschen Psychologie« an, die »das ›unmittelbare Schauen‹ der Urphänomene [verwehrt – C.M.] – denn aus Schauen kann keine Wissenschaft entstehen, die immer des Beweises und der Begründung bedarf«. – Ebd. 58 59

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Cassirer überzeugt, das unmittelbar Erlebte ebenso wie das unmittelbar geschaute Urphänomenale durch philosophische Verfahren ›überlisten‹ und vernünftig erklären, notfalls durch eine Metaphysik »in unserer Auffassung«, die unmittelbares und mittelbares, ganzheitliches und relativierendes Erfassen miteinander verbindet. Eine Konsequenz dieser ›metaphysischen‹ Herangehensweise scheint es zu sein, daß nach Cassirer die Basisphänomene für uns »die Fenster der Wirklichkeitserkenntnis«, »der Blick, den wir auf die Welt werfen«, sind, nicht aber die unmittelbar erlebbare, mittelbar erkennbare Wirklichkeit selbst. Die Wahrnehmung als Weltwahrnehmung ist zwar die elementarste Art und Weise, wie wir von der Welt Kenntnis nehmen, wie sie sich uns aufdrängt, aber es gibt eben keinerlei ungeformte, symbolfreie Wahrnehmung. Die drei Basisphänomene bilden folglich so etwas wie die letzten, nicht hinterfragbaren, nicht weiter ableitbaren Formen, in denen sich uns im Erleben, im Erfahren Welt oder Wirklichkeit gibt, noch bevor sich dieses Erleben bzw. Erfahren in die großen Sinnordnungen der Kultur einordnet, in die symbolischen Formen der Kultur. Dies scheint die Basisphänomene mit dem Problemkreis der symbolischen Prägnanz zu verbinden. 62 Auf diese Weise haben die drei Basisphänomene (Ich/Du/Es) auch Anteil an allen symbolisch geformten kulturellen Leistungen des Lebens. Weil jedes urphänomenale oder basisphänomenale Erleben, Wahrnehmen von Welt, zu der ich selbst als Wahrnehmender auch gehöre, bereits ein irgendwie gerichtetes und somit geformtes oder vorgeformtes Wahrnehmen ist, spricht Cassirer berechtigter Weise von den Basisphänomenen als von den »Weisen, d[en] Modi der Vermittlung selbst«. 63 Eine ganz andere Frage ist es aber, ob Cassirers Intention mit der Goetheschen völlig vereinbar ist. Die Schwierigkeiten resultieren zum Einen daraus, daß Cassirer die Wirklichkeit als solche, also auch die Wirklichkeit der sinnlich oder dinghaft wahrgenommenen Welt, im Auge hat, während Goethe den Künstler, seinen Widerstände überwindenden Schaffensprozeß und sein Wahrgenommenwerden durch Andere meint. Zum Anderen ist zumindest die Frage aufzuwerfen, ob Goethe seine Urphänomene grundsätzlich als Modi der Vermittlung verstanden wissen will, was zu bezweifeln ist, oder ob genau hier Cassirers kritisches Weiterführen glaubt einsetzen

Sie dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 63 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 132. 62

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zu können und zu müssen, um einer Metaphysik der Basisphänomene den Weg zu ebnen, die seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ dient. Die Frage nach den Basisphänomenen führt uns, so Cassirer, konsequent auf die »Frage nach den Funktionen, die uns ›Wirklichkeit‹ überhaupt vermitteln und erschließen«, und auf die metaphysische »Frage nach ihrer systematischen Gesamtheit und ihrer systematischen Gliederung«. 64 Dieses – metaphysische – Interesse an der Systematik der Basis- oder Urphänomene und ihrer Funktion hatte Cassirer dem verehrten Goethe, der kein systematischer Philosoph sei, bekanntlich abgesprochen. Die »›Schichtung‹ der Basisphänomene«, die ihre systematische Gliederung einleitet, erfordere ihre Herauslösung aus dem Ganzen, ihre einzelne Betrachtung. Dabei kommt Cassirer die Eigenheit jeglicher Metaphysik, nicht nur die Erfahrung transzendieren zu wollen, sondern auch die Erfahrungswirklichkeit zu vereinseitigen, indem ein Moment, ein Zug dieser Wirklichkeit absolut gesetzt wird, entgegen, da ihr dies erlaube, jeweils ein [Ur-]Phänomen herauszuheben und zu erklären, zu deuten, während die anderen Momente, Züge ausgeblendet bleiben. 65 Da die Metaphysik ihr jeweiliges »Recht durch irgend eine ursprüngliche Anschauung beglaubigen können – […] die Q u e l l e aufweisen können [muß – C.M.], aus der sie fließt«, deshalb »[ergeben – C.M.] die Formen, die Typen der Metaphysik, wie sie tatsächlich in der Geschichte hervorgetreten sind, eine mittelbare Darstellung dieser Strukturverhältnisse [der Wirklichkeitserkenntnis – C.M.]«. 66

Mindestens ebenso wichtig scheint die methodische Vereinseitigung, das methodische Absehen von den übrigen Ur- bzw. Basisphänomenen zu sein, um sie je einzelnen erklären zu können, was Goethe wohl nicht für möglich und nicht für nötig erachtet hatte. Bemerkenswert ist bei der Betrachtung der historischen Typen der Metaphysik, daß Cassirer beim dritten Typ, der die kulturelle Werk-Sphäre (Es-Basisphänomen) verabsolutiere, zu dem Schluß gelangt, daß dessen drei wichtigste Vertreter die Struktur des Werkes in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen würden, um das Schaffen selbst zu verstehen: nämlich Dilthey, Kant und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹!67 Ebd., 150. Ebd., 151 f. 66 Ebd., 152; eine durchaus an Wilhelm Diltheys Überlegungen anschließende These, siehe W. Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1910), in: GS VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Hrsg. von B. Groethuysen, Leipzig und Berlin 1931, 73–118. 67 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbo64 65

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Bemerkenswert für unsere Frage nach den Motiven, statt von ›Ur‹phänomenen der Wirklichkeitsgegebenheit von ihren ›Basis‹phänomenen zu sprechen, ist außerdem der Tatbestand, daß Cassirer, als er die historischen Typen der Erkenntnistheorie, die ebenfalls die drei Basisphänomene jeweils einseitig expliziert hätten, systematisch zu gliedern unternimmt, dies mit der »Frage nach der B a s i s der Erkenntnis« verbindet, die ihrerseits auf die drei Basisphänomene führe. 68 Die Basis der Erkenntnis könne nämlich die »Ich-Basis, die Du-Basis, die Es-Basis« sein. 69 Jeder der drei Basen sei »je eine bestimmte, charakteristische Form der Erkenntnis zugeordnet: die Form der ›Intuition‹, der ›Aktion‹, der ›Kontemplation‹«, wobei auch diese Zuordnung nicht unbedingt als evident und sachlich zwingend gelten muß.70 Hier deutet sich nicht nur eine gewisse Erklärung für die Wahl des Terminus ›Basisphänomen‹ an, sondern es drängt sich auch der Eindruck auf, daß der Terminus ›Basis der Erkenntnis‹ durchaus von der Sprachregelung des ›Wiener Kreises‹ angeregt wurde, befaßt sich Cassirer doch in diesen Jahren, wie schon erwähnt, gerade intensiv mit den philosophischen Positionen Schlicks, Carnaps, Russells. Er würdigt sogar in dem Manuskript, das wir hier auswerten, ausdrücklich die Grundthese des ›Wiener Kreises‹, wonach es allein die Wahrnehmung sei, die »uns Wirklichkeit erschließt«, die »uns den einzigen (unmittelbaren) Aufschluß über Wirklichkeit« bietet, auch wenn er im gleichen Atemzug – wie ebenfalls in anderen nachgelassenen Texten – den physikalischen Reduktionismus des ›Wiener Kreises‹ zurückweist, der verhindere, daß »der Ausdruck als zweite Dimension« des Erschließens, des Aufschließens von Wirklichkeit anerkannt werde.71 Cassirer grenzt sich einerseits gegen die historischen Typen der Erkenntnistheorie ab,72 wie schon gegen die der Metaphysik, nutzt aber auch hier lischen Formen, a. a. O., 160, 163. Dabei werden Form- und Strukturbegriff durch Cassirer ohne weitere Erklärung in diesem Manuskript weitegehend identisch gesetzt. 68 Ebd., 166. 69 Ebd., 167. 70 Ebd., 166. 71 Ebd., 118. 72 Wie schon bei der Besprechung der Typen der Metaphysik wird auch der dritte Typus von Erkenntnistheorien bevorzugt, der nach dem dauernden Sein oder Eigengehalt des Werkes wie des Sprach- oder Kunstwerkes, des Werkes der Wissenschaft oder des Werkes der reinen Erkenntnis frage. (Ebd., 187.) Die passende Erkenntnismethode sei hier die der interesselosen Kontemplation (ebd., 188.) als eine eigene, weder praktische noch theoretische reine ›Schau‹ der Strukturen und Formen des Werkes, bei der »wir uns vom Geschaffenen, vom Werk her auf dasselbe [d. h. das Wirken und Schaffen – C.M.] ›zurückwenden‹« und ›Reflexion‹ (Natorp, Husserl) vollziehen. (Ebd., 190.) Das kontemplativ gewonnene Wissen müsse das Tun leiten und lenken (ebd.), wobei sich die

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

gleichzeitig methodisch deren Vereinseitigungen, müsse sich doch eine umfassende philosophische Erkenntnistheorie, wie sie die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ anstrebt, stets klar darüber sein, in welcher der drei Welten, Kreise des Seins, Richtungen der Wirklichkeitserkenntnis sie bei der Erörterung von Erkenntniskategorien stehe, in der »Welt des ›Ich‹, des ›Du‹ und des ›Es‹«.73 Diese drei Welten bzw. Kreise des Seins dürften jedoch nicht als »Stufen innerhalb einer absoluten Wirklichkeit« verstanden werden, sondern vielmehr als Beziehungen, die innerhalb der Erkenntnis selbst obwalten. Eine Phänomenologie der Erkenntnis dürfe folglich keine der drei Welten als die eigentliche Objektivierung der Geistes verabsolutieren, sondern müsse sie vielmehr jeweils als eigenständige Welten erschauen und jede an ihrem »eigenen Maß« messen, habe also bei der Betrachtung der einen von den anderen abzusehen.74 Erst danach seien alle drei Richtungen gleichberechtigt in ein einheitliches Bild von Wirklichkeit einzufügen,75 so daß diese Synthese nicht auf der Basis »eines einzelnen Erkenntnisideals« erfolgt.76 Dies habe auch Goethe klar erkannt, weshalb er nie versuchte, die »dreifache Gradabstufung« im »Aufbau des Lebens« bzw. »die Stämme der Wirklichkeitserkenntnis, die er von einander geschieden hat«,77 gemeint sind hier wohl Anschauung und Verstand, »wieder auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen.«78 Goethe, der bestrebt sei, die drei Urphänomene des Lebens bzw. die »verschiedenen Wirklichkeitsaspekte« lediglich »phänomenal [zu] überschauen« und nicht logisch »denkend [zu] bewältigen«, d. h. die Vielfalt deduktiv abzuleiten, weil dies zu einer radikalen Reduktion der Wirklichkeit (Descartes, Husserl) führt,79 bleibt damit allerdings vor der eigentlichen philosophischen Aufgabe stehen. Der Ausweg über eine Wahrheit als Formwert erweise, d. h. ihr kommen eigene autonome Regel zu, nach denen sie rein geformt ist, was es kontemplativ zu erschauen und festzuhalten gilt (Formanalyse). (Ebd., 191 f.) Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ betreibe Kontemplation nicht einer Einzelform, sondern des Kosmos der reinen – symbolischen – Formen. (Ebd.) Zum Begriff der Formanalyse bei Cassirer siehe auch im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–398. 73 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., S. 12. 74 Konstituiert doch jede der drei Grundrichtungen – auf das ›Ich‹, das ›Du‹, und das ›Es‹ hin – »eine selbständige Dimension der Erkenntnis; jede dieser Dimensionen besitzt einen eigenen Charakter […].« – Ebd., 13. 75 Ebd., 12. 76 Ebd., 13. 77 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 123. 78 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 14. 79 Ebd., 15.

›Basisphänomene‹

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eigene Metaphysik, den Cassirer zu gehen bemüht ist, bleibt ihm versperrt. Anstelle des Versuches, die »›Pole‹ der Wirklichkeitserkenntnis« aufeinander zu reduzieren bzw. auseinander abzuleiten, müsse eine Symbolphilosophie, verstanden als Metaphysik »in unserer Auffassung«, sie vielmehr »korrelativ aufeinander […] beziehen«. 80 Eine solche wahrhafte Phänomenologie der Philosophie weist die drei basisphänomenalen »Weisen und Grundrichtungen der Intention« systematisch auf und bezieht sie dabei korrelativ aufeinander, wodurch sich »die Formen unterscheiden [lassen], in denen die Wirklichkeitserkenntnis sich ausspricht«. 81

4. ›Basisphänomene‹ als ›Basisbegriffe‹ Uns ist nun geblieben, der bereits mehrfach geäußerten Vermutung noch ein wenig nachzuspüren, daß Cassirer den Terminus ›Basis‹- statt ›Ur‹Phänomen in der Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus des ›Wiener Kreises‹, speziell mit Carnaps Philosophie verdankt. Kenntnis von dessen noch unveröffentlichtem Werk Der logische Aufbau der Welt erlangt er 1927, als ihn Carnaps Mentor Moritz Schlick brieflich darum bittet, sich für die Veröffentlichung des Manuskriptes im Verlag seines Freundes Bruno Cassirer einzusetzen, 82 die trotz seines Engagements allerdings nicht zustande kommt. Das Carnapsche Manuskript hat er dabei offensichtlich nicht eingesehen, obwohl Schlick die Übersendung in Aussicht gestellt hatte, da er Carnap bereits »auf Grund von früheren Arbeiten« sehr schätzte, was er einfach auf dieses Manuskript übertrug. Mit Schlick, der in seinem Hauptwerk Allgemeine Erkenntnislehre (1918, 2. Aufl. 1925) mehrfach auf Cassirers erkenntnistheoretische Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) Bezug nimmt, 83 führt Cassirer eine über Jahre währende Korrespondenz. Auf jeden Fall setzt er sich später im Rahmen der Vorbereitung eines von Hans Reichenbach erbetenen Beitrages für die Zeitschrift Erkenntnis über sein Verhältnis zur Philosophie des Wiener Kreises ausführlich mit Carnaps Logischem Aufbau der Welt auseinander, wovon, wie bereits erwähnt, der nachgelassene Text »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1936) zeugt.

Ebd., 22. Ebd., 25. 82 M. Schlick an E. Cassirer, 30. März 1927, in: Ausgewählter wissenschaft licher Schrift wechsel, in: ECN/ECN 18, 97; E. Cassirer an M. Schlick, 4. April 1927, in: ebd., 98 f. 83 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 328 ff. 80 81

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Das Werk Der logische Aufbau der Welt (1928), in dem Carnap ebenfalls mehrfach Bezug auf Cassirers Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) nimmt, 84 soll ein sogenanntes Konstitutionssystem der wissenschaftlichen Begriffe begründen und ausführen, in dem alle die in den empirischen Wissenschaften vorfindlichen Begriffe nach strengen Regeln ›umgeformt‹ bzw. ›zurückgeführt‹ werden auf letzte Gegenstände, auf ein letztes Grundelement bzw. auf eine letzte Grundrelation. 85 Auch wenn die Carnapschen Grundelemente und Grundrelationen keine Urphänomene im Goetheschen Sinne und auch keine Basisphänomene im Cassirerschen Sinn sind, so werden ihnen doch einige Eigenschaften genau dieser zugeschrieben. Sowohl die empirischen geistigen Begriffe bzw. Gegenstände wie auch die physischen Begriffe bzw. Gegenstände sollen dabei auf psychische zurückführbar sein, wobei letztere aber auch auf physische zurückführbar, in sie umformbar sind. In entgegengesetzter Richtung sollen dann alle wissenschaft lichen Begriffe bzw. Gegenstände aus den letzten Grundelementen bzw. Grundrelationen, wiederum nach strengen Regeln (Definitionen), aufbaubar, konstituierbar sein, 86 was Carnap grundsätzlich nicht als Deduktion verstanden wissen will. 87 Auf diese Weise werde aus subjektiven Erlebnisinhalten und ihren Verflechtungen schließlich – durch reine Strukturaussagen88 – eine »intersubjektive, objektive Welt« aufgebaut;89 eine Problematik, die Cassirer ebenfalls als die Formen der Objektivierung in den Mittelpunkt seines Interesses stellt. Zurückführbarkeit (Umformbarkeit) und Konstitution sind folglich zwar gegenläufige, aber einander voraussetzende Termini. Für Carnap bzw. seine Konstitutionstheorie existiert »nur ein Gebiet von Gegenständen und daher nur eine Wissenschaft«, jedoch in diesem einen Gebiet gibt es verschiedene Gegenstandsarten (Psychisches, Physisches, Geistiges).90 Alsbald stoßen wir auf Carnaps Begriff der »Basis des Systems«, der Cassirer während des Nachdenkens über eine Metaphysik der Basisphänomene bei der Namensfindung durchaus hätte inspiriert haben können: R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt (1928), Hamburg 1998, §§ 5, 12, 64, 75. »Ein Gegenstand (oder Begriff ) heißt auf einen oder mehrere Gegenstände ›zurückführbar‹, wenn alle Aussagen über ihn sich umformen lassen in Aussagen über diese anderen Gegenstände.« – Ebd., § 2, 1. 86 »Begriffe sollen aus gewissen Grundbegriffen stufenweise abgeleitet, ›konstituiert‹ werden, so daß sich ein Stammbaum der Begriffe ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz fi ndet.« – Ebd., § 1, 1. 87 Carnap unterscheidet Konstitution ausgehend von Grundbegriffen von Deduktion aus Axiomen. – Ebd., § 2, 2. 88 Ebd., § 16, 20 f. 89 Ebd., § 2, 3. 90 Ebd., § 4, 4. 84 85

›Basisphänomene‹

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die Konstitutionen werden nach bestimmten Regeln in einer jeweiligen Systemform vollzogen, und diese Systemform wurzelt in einer bestimmten ›Basis‹ – im Psychischen (Eigen- und Fremdpsychisches oder nur Eigenpsychisches) oder im Physischen. Diese Basis der Systemform bzw. der Konstitution umfaßt bei Carnap die Grundelemente (»meine Erlebnisse« als »Elementarerlebnisse«) und die Grundrelationen (Ähnlichkeitsbeziehungen als Grundbegriffe), die wiederum gegenüber den Grundelementen primär sind.91 Zumindest Grundrelationen scheinen gewisse Eigenschaften (Zuschreibungen) mit Goethes Ur- oder Cassirers Basisphänomenen zu teilen: es sind letzte, nicht weiter ableitbare oder erklärbare Relationen. Das von Carnap im Logischen Aufbau als Beispiel gewählte und vorstellte Konstitutionssystem geht von einer eigenpsychischen Basis aus, von der aus physische Gegenstände konstituiert werden, und aus diesen schließlich fremdpsychische und geistige. D. h., im Konstitutionssystem werden »die Gegenstände der verschiedenen Arten in ein System gebracht«.92 Auch den Systemgedanken scheinen Cassirer und Carnap zu teilen. Obwohl zwischen den Begriffen bzw. Gegenständen grundsätzliche unterschiedliche Umformungen bzw. Konstitutionsrichtungen möglich sind,93 erklärt Carnap allein die Rückführung der physischen auf die psychischen Gegenstände für »erkenntnismäßig primär«, für gemäß der »erkenntnismäßigen Ordnung der Gegenstände«, was seine Basis-Wahl verständlich machen soll. Die Bevorzugung der Basis im Eigenpsychischen gegenüber der Basis im Gesamtgebiet des Psychischen (Eigenpsychisches und Fremdpsychisches) beruhe dagegen nicht auf wissenschaft lichen Präferenzen, sondern lediglich auf formallogischen.94 Wenn er die »eigenpsychische Basis […] auch als ›solipsistische‹ Basis« bezeichnet, dann erinnert das zumindest entfernt an Cassirers ›Ich‹Basisphänomen, während die »physische Basis« das ›Es‹-Basisphänomen assoziieren läßt, und die »gesamtpsychische Basis« – mit einigem guten Willen – das ›Du‹-Basisphänomen,95 obwohl es im Grunde keine sachEbd., § 7, 8; § 61, 83. Ebd., § 46, 64. 93 Ebd., § 55, 74ff; § 56, 76 f.; § 57, 77 ff.; § 59, 80 f. Die Reihenform der Konstitution ist deshalb für Carnap die folgende: Eigenpsychisches, Physisches, Fremdpsychisches, Geistiges (= Systemform). 94 Ebd., § 64, 85. 95 Ebd., § 65, 88. Sogar Cassirers Prioritätssetzung des ›Du‹ gegenüber dem ›Ich‹ klingt an, wenn Carnap erklärt: »Die Ich-Bezogenheit ist keine ursprüngliche Eigenschaft der Grundelemente, des Gegebenen. Daß ein Erlebnis ich-bezogen ist, hat erst einen Sinn, wenn von der Erlebnissen Anderer, die aus ›meinen‹ Erlebnissen konstituiert werden, die Rede ist.« – Ebd., § 65, 88 f. 91

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liche Entsprechung gibt,96 weil Carnap im Unterschied zu Cassirer keine ›metaphysische‹, sondern ein rein empirische Basis im Auge hat; dazu im Anschluß noch einige Überlegungen. Wenn Carnap in seinem Werk 1928 Cassirers Philosophie zu den »anti-solipsistischen Auffassungen« zählt und betont, auch Natorp wähle eine »nicht-eigenpsychische Basis«, wobei beide die Skepsis eine, von dieser Basis aus lasse sich die Konstitution der physischen und geistigen Gegenstände nicht bewerkstelligen,97 dann ahnt er in Bezug auf Cassirer zumindest so viel, daß dieser sich nicht mit einer Basis, einem Basisphänomen zufrieden geben kann, sondern drei gleichberechtigte, gleichzeitig seiende Basisphänomene als unabdinglich ansehen wird. Daß Cassirer einige grundsätzliche Bedenken gegen den Basisbegriff, so wie er ihn definiert, haben könnte, scheint Carnap dagegen 1928 nicht aufzugehen. Im Zusammenhang mit dem Basisbegriff spricht Carnap auch vom »Basisproblem«, das in der Frage nach den Grundelementen (unzerlegbare Erlebnisse) und Grundrelationen bestehe,98 ein Ausdruck, den Cassirer im Manuskript »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« ebenfalls verwendet, wenn auch letztlich kritisch gegen bestimmte, ihm einseitig erscheinende Positionen des logischen Positivismus gewandt: »die ›Funktionsprobleme‹ sind nie auf die ›Basisprobleme‹ zurückführbar – sie stellen immer eine eigene Aufgabe, deren Schwierigkeit man sich nicht durch einen falschen Methoden-Monismus (Physikalismus) verbauen darf –«.99

Cassirer erweitert hier mit dieser Formulierung die Behauptung der Carnapschen Konstitutionstheorie, die Konstituierung der physischen Objektwelt So werden die logischen und mathematischen Gegenstände, die für Carnap wie für Cassirer keine Realgegenstände der empirischen Wissenschaften sind, noch vor den Grundrelationen der eigenpsychischen Basis eingeführt (ebd., § 107, 148 ff.), während Cassirer diese Gegenstände dem Wissenschaft stypus zuweist, der auf dem ›Ich‹Basisphänomen ruht. 97 Ebd., § 64, 87. 98 Ebd., § 61, 83. 99 An anderer Stelle bezeichnet Cassirer die Ausdruckserlebnisse als das »Basisproblem«, wobei diese seiner Theorie gemäß auf das zweite Basisphänomen in ›Du‹Richtung weisen, und wirft dem logischen Positivismus (Schlick, Carnap) vor, diese aufzugeben: »Wie steht es in dieser ›wissenschaft lichen‹, auf Naturgesetze reduzierbaren Welt mit dem Basisproblem – mit den Ausdruckserlebnissen. Die Antwort scheint sich unmittelbar darzubieten: sie verschwinden, sie sind schlechthin Irrtum, Täuschung, Illusion und je schneller wir uns von diesem Irrtum befreien, um so besser.« – E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1936), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 195. 96

›Basisphänomene‹

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gehe allein auf »›Elemente‹ der Erfahrung« zurück, dahingehend, »daß zu dieser Konstituierung stets ein bestimmtes [symbolisch-formendes – C.M.] ›Tun‹ unerläßlich ist«, was das Konstituierte erst in einer spezifischen Sinnordnung verortet. Mit anderen Worten, Cassirer kritisiert den Tatbestand, daß die Philosophen des ›Wiener Kreises‹ ausschließlich eine physikalische Objektivationsform anerkennen, und besteht auf mehreren Sinnrichtungen dieses symbolisch-formenden ›Tuns‹. Er erkennt allerdings ausdrücklich neben dem Funktionsproblem auch ein Basisproblem an, das jedoch durch jenes der Ergänzung bedürfe: »Wir legen also den Nachdruck auf die Funktions-Seite, nicht auf die Basis-Seite – aber wir leugnen darum natürlich nicht die Notwendigkeit der ›Basis‹, sind in dieser Hinsicht durchaus ›Empiristen‹ – Unser ganzes ›Tun‹ führt uns nie über die Basis schlechthin hinaus – es führt uns nur zur Ordnung, Gliederung, ›Strukturierung‹, Systematisierung der Basis – Aber auf der andern Seite betonen wir, daß diese Strukturierung niemals schlechthin – in der blossen Basis als solcher – ›gegeben ist‹, sondern daß sie durch bestimmte ›Funktionen‹ hergestellt, – aufgefunden nicht nur, sondern aufgebaut – werden muss. Und von der Verschiedenheit dieser Funktionen – nicht nur der qualitativen Verschiedenheit, sondern der ›Dimensions‹-Verschiedenheit – hängt die Beschaffenheit der Gegenstandsgebiete (physische, psychische Gegenstände – Naturgegenstände, Kulturgegenstände …) ab.«100

Für Cassirer ist also die Basis nicht etwas letztes, unableitbar Gegebenes, sondern ein letztes, unableitbares Tun, sie ist konstituierende Tätigkeit, nicht gegebene Ausgangstatsache der Konstitution. Was ihn mit Carnap und dem ›Wiener Kreis‹ aber verbindet, ist die Absage an jeglichen Deduktionismus bzw. an jegliche apriorische Theorie, und die Hinwendung zum Empirischen, zum phänomenalen Sichgeben, auch wenn dieses bereits ein Leisten ist.101

Ebd., 215. »Das bestimmt auch unsere Stellung zur Philos[ophie] des ›Wiener Kreises‹ – dessen dogmatischen Empirismus wir verwerfen, nicht weil er Empirismus, sondern weil er dogmatisch ist – Der ›kritische Empirismus‹ muß die Totalität der Wahrheitsansprüche und der fundierenden ›Erfahrungen‹ prüfen und kennen – also ebensowohl die Ausdrucks-Erfahrung als die sogenannte sinnliche Erfahrung –Wahrnehmung.« – Ebd., 179. 100 101

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

5. Fazit Über die enge Beziehung des Terminus ›Basisphänomen‹ zum Goetheschen ›Urphänomen‹, d. h., über seine Entlehnung von Goethe besteht im Grund kein Zweifel, zumal sie Cassirer selbst thematisiert und sogar behauptet, auch wenn diese Thematisierung mit dem einen oder anderen Fragezeichen zu versehen ist, wie oben versucht wurde zu begründen. Etwas schwieriger sieht es jedoch mit der Beziehung zum ›Basisproblem‹ Carnaps bzw. der Philosophen des ›Wiener Kreises‹ aus. Hier fehlt Cassirers eigenes Bekenntnis, allerdings weisen einige Indizien durchaus in diese Richtung, auch wenn Cassirer gegen den Begriff der Basis bzw. des Basisproblems bei Carnap größere Bedenken anmeldet als gegen den der Urphänomene Goethes. Dennoch sollte ungeachtet aller gegen den ›Physikalismus‹ formulierten Kritik das Bekenntnis Cassirers zum philosophischen Ethos des ›Wiener Kreises‹ nicht unterschätzt werden, was es sehr wohl denkbar erscheinen läßt, daß er in politischer schwerer Zeit diese Verbundenheit in seinem Begriff der ›Basisphänomene‹ zum Ausdruck bringen wollte. In seinem bereits erwähnten Beitrag für die Zeitschrift Erkenntnis wollte Cassirer darauf hinweisen, daß »der Unt e r s c h i e d zwischen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und der Philosophie des ›Wiener Kreises‹« keineswegs einer der »sogenannten philosophischen ›Weltanschauung‹« sei, im Gegenteil: »In der ›We l t a n s c h a u u n g‹ , in dem, was ich als den E t h o s der Philosophie ansehe, glaube ich keiner ›Schule‹ näher zu stehen, als den Denkern des Wiener Kreises – Streben nach Bestimmtheit, nach Exaktheit, nach Ausschaltung des bloss-Subjektiven, der ›Gefühlsphilosophie‹, Anwendung der a n a l y t i s c h e n Methode, strenge Begriffsanalyse – das alles sind Forderungen, die ich durchaus anerkenne – […] strenge Definition der Begriffe etc. Urheber des noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit – Die ›Wiener Schule‹ darf dieses Lob für sich beanspruchen.«102

Allein die Aufgabe, die er, Cassirer, der Philosophie stelle, nämlich »die Aktivität, das geistige ›Tun‹ und ›Bilden‹ ganz verschiedener D i m e n s i o n e n« zu erforschen, und nicht lediglich als »Kritik der E r k e n nt n i s  – im Sinne der logischen, mathematischen, physikalischen Erkenntnis« zu fungieren, das mache die »Verschiedenheit« der beiden Philosophien aus.

102

Ebd., 206.

Formenschau, Formenwandel und Formenlehre Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer

I

m Jahre 1930 hatten bedeutende Naturforscher Deutschlands, die in der »Leopoldina zu Halle an der Saale« versammelt waren, in einem Sammelband Goethe als Seher und Erforscher der Natur gewürdigt.1 In seinem Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften«, erschienen 1932 anläßlich des 100sten Todestages in der Neuen Rundschau (Berlin), setzt sich auch der Poet Gottfried Benn mit der herausragenden Bedeutung der naturwissenschaftlichen Arbeiten Johann Wolfgang von Goethes und mit den Gründen ihrer Geringschätzung durch führende Naturwissenschaftler wie Emil Du Bois-Reymond 2 oder Wilhelm Ostwald 3 auseinander. Benn gelangt dabei zu dem Schluß, daß z. B. Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen oder auch seine Einsichten in der Botanik ein »neues wissenschaftliches Zeitalter« – das der Biologie – entbunden hatten. Goethe habe nicht nur seiner Zeit, wie Helmholtz wohlwollend meinte, »die leitenden Ideen zuerst vorausgeschaut […], zu denen der eingeschlagene Entwicklungsgang der Naturwissenschaft hindrängte«, sondern in »der biologischen Forschung des ganzen Jahrhunderts« nach seinem Tode seien die entscheidenden Neuerungen durch Lamarck und Mendel sogar »innerhalb der Goetheschen Lehre gelegen, innerhalb seiner theoretischen Normen, seines naturwissenschaftlichen Instinkts«. 4 In dem Zusammenhang bringt Benn zum Ausdruck, daß Goethes naturwissenschaftliche Entdeckungen und Leistungen nicht einfach seinem Forscherfleiß oder -glück, sondern ganz entscheidend auch seiner Methode zu verdanken sind. Diese Methode, die Goethe aus einer Reihe allgemeiner Überzeugungen heraus gesucht, geschaffen und entdeckt habe und »die an sich noch viel bedeutungsvoller wurde wie ihre Resultate […] selbst«, nennt Benn »die genetische Methode, die Methode der anatomischen und embryologischen J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur. Untersuchungen über Goethes Stellung zu den Problemen der Natur, Hrsg. im Namen der Kaiserlich Leopoldinischen Deutschen Akademie der Naturforscher zu Halle, Halle a. d. Saale 1930. 2 E.H. Du Bois-Reymond, Goethe und keine Ende, Rede bei Antritt des Rectorats der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. October 1882, Berlin 1882. 3 W. Ostwald, Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre (1918), 2. durchgesehne Aufl., Leipzig 1931. 4 G. Benn, Goethe und die Naturwissenschaft (1932), Zürich (1949) 1961, 27. 1

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Vergleichung, heute als vergleichende Morphologie bekannt«.5 Die »vergleichende Gestaltlehre (Morphologie)«, die einen von drei Kreisen in »Goethes Gedanken als Forscher« bilde, und die »genetische Methode« stellen beide gemeinsam »das dialektische Instrumentarium der neuen biologischen Ära« bereit. 6 Deren Grundidee bilde schließlich »mit dem neuen Begriff […], dem Begriff der M e t a m o r p h o s e , die größte Konzeption des nachbaconschen Zeitalters«, die »weittragendste Resultate« ermöglicht habe. Und diese Resultate habe Goethe nicht nur der organischen, pflanzlichen wie tierischen, Natur abgeschaut, sondern – so mit seiner Farbenlehre – auch der unbelebten Welt.7 Wenn wir nun, angeregt durch diese eindrucksvollen und anrührenden Ausführungen Gottfried Benns im Folgenden einen Versuch unternehmen, die Wesenszüge und Eigenheiten von Goethes Metamorphosen- und Morphologielehre zu rekonstruieren, dann verbindet sich damit ein weiteres Anliegen. Ausgehend von dem Eindruck, daß sich Goethes morphologisches Denken gegenwärtig neuer Aufmerksamkeit erfreut, 8 wollen wir noch die Frage nach dem philosophischen und wissenschaft smethodischen Potential bzw. den entsprechenden Wirkungen von Goethes Morphologie und Metamorphosenlehre auf die Debatte um die modernen Geschichts- und Kulturwissenschaften aufwerfen. Als Beispiel sollen die entsprechenden Bemühungen des Philosophen Ernst Cassirer gelten, insbesondere in seinen nachgelassenen Manuskripten zum Thema »Geschichte. Mythos« (ECN 3) und »Kulturphilosophie« (ECN 5), die allseits anerkannte Logik der Naturwissenschaften durch eine Logik der ›Formwissenschaften‹ zu ergänzen und dabei deren ›Rechtsanspruch‹ zu begründen.9 An Hand dieser Bemühungen wird sich zeigen, wie Cassirer aus Methoden und Verfahren, Ebd., 20. Ebd., 7, 21 f. 7 In seiner Farbenlehre wollte Goethe zwar »das Weiß zu dem Urphänomen« stempeln, »in Parallele zu Urwirbel, Urpflanze, Urtyp […], aber prinzipiell sucht sein Denken auch in dieser Materie den prägnanten Punkt, von dem aus sich […] die Farben entwickeln; wir sehen auch hier jenen Grundriß: das Urphänomen (die Trübe), die menschliche Totalität (das Auge), das aus dem ersteren die Metamorphose (des Lichts zur Farbe) abwandelt.« – Ebd., 29. 8 Die Klassik Stift ung Weimar hat z. B. vom 28. bis 30. Mai 2009, in Weimar, eine interdisziplinäre Tagung zum Thema »Morphologie und Moderne. Goethes ›anschauliches Denken‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800« veranstaltet; siehe auch das aktuelle, DFG-geförderte interdisziplinäre Netzwerkprojekt »Morphologie als Paradigma«: http://morpholog.hypotheses.org 9 Siehe dazu im vorliegenden Band auch die Beiträge »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310; »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–417. 5 6

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die Goethe für die Naturwissenschaften konzipiert hatte, Anregungen für die philosophische bzw. geisteswissenschaft liche Forschung gewinnt.

1. Goethes Ideen der Metamorphose und Morphologie 1.1. Methodische Überzeugungen Seine naturwissenschaft lichen Studien beginnt Goethe sehr früh, mindestens seit seiner Bekanntschaft mit Lavaters ›Physiognomie‹ Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts, und er führt sie unermüdlich fort bis ans Ende seines Lebens. Im März 1784 entdeckt er nach systematischen Beobachtungen an Tier- und Menschenschädeln den bis dahin in der Wissenschaft geleugneten Zwischenkieferknochen beim Menschen; einen Verleger für seinen Bericht findet er damals nicht. Im Jahre 1790 veröffentlicht Goethe seinen Versuch die Metamorphose der Pflanze zu erklären, im Jahre 1817 seine sechs Hefte Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie, wobei wichtige allgemeine Klärungen bereits 1807 niedergeschrieben werden, einzelne Einsichten aber bis in die 70er und 80er Jahre zurückreichen. Worin haben wir aber nun die von Benn erwähnten ›Überzeugungen‹ Goethes zu sehen, aus denen seine genetische, metamorphosische und morphologische Forschungsmethode hervorgeht, Überzeugungen, die letztlich zu den Voraussetzungen und philosophischen Grundlagen der Methode zu zählen sind und die aufeinander aufbauen, sich gegenseitig voraussetzen. E i n e dieser Überzeugungen ist auf alle Fälle im Favorisieren der Anschauung gegenüber einem messenden und rechnenden Denken zu finden.10 Er könne, sagt Goethe, »Anteil«, also ergreifendes Wissen, »an irgend einem Gegenstand nur durch unmittelbare Anschauung [desselben] gewinnen«.11 Dabei versteht er darunter sowohl die sinnliche als auch die übersinnliche Anschauung, also auch eine theoretisierende bzw. denkende Anschauung, die einer leitenden Idee bedarf, »denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. […] und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.«12 Mit dem von Goethe selbst so bezeichneten ›anschaulichen Denken‹ rühren wir, nach Siehe dazu vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung. Beiträge zu einer Goethischen Fragestellung, Berlin 2003, 26–53. 11 J.W. von Goethe, Campagne in Frankreich 1792, in: HA 10: Autobiographische Schriften II, Textkritisch durchgesehen von L. Blumenthal und W. Loos, Kommentiert von W. Loos und E. Trunz, München 1998, 325. 12 J.W. von Goethe, »Vorwort«, in: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, Texkritisch durchgesehen und kommentiert von 10

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Benn, »an die intimste und innerste Struktur des Goetheschen Seins, betreten sein zentralstes Reich«, das »für uns heute [1932 – C.M.] von so enormer Aktualität« ist.13 Unsere Einbildungskraft , davon ist Goethe überzeugt, wird durch die ideenorientierte »höhere Weise« der Belebung der Anschauung dazu befähigt, Begriff und Figürlichkeit ineinanderfl ießen zu lassen, so z. B. »unter der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze«.14 Die »höhere Weise« der Anschauung sei schon deshalb unverzichtbar, weil die anzuerkennende »Idee in der Erscheinung […] oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht.«15 Des We i t e r e n ist Goethes Ansicht eine Grundüberzeugung zu nennen, wonach die Natur eine Welt der Erscheinungen, der Phänomene ist, denen keine eigene transzendente Welt korreliert, eine Welt der Phänomene, die nicht durch ein unmittelbar zugängliches ›Wahres‹ fundiert sind. Ein solches ›Wahres‹ läßt sich »nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen« erschauen und sich lediglich auf gewisse ›Urphänomene‹ zurückverfolgen, die selbst wieder nur erscheinen und unableitbar, unerklärbar bleiben.16 Hinter diesen Urphänomenen verbergen sich also keine transzendenten metaphysischen Wesen oder Substanzen. So habe er, Goethe, immer versucht, »die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt.«17 Die Urphänomene sind bei ihm so etwas wie intellektuelle Bilder, Bildungsregeln enthaltende Urbilder, Urtypen als »Komplex[e] von Bildungsgesetzen«. Ein solcher urphänomenaler Urtypus – z. B. der Gattung – geht »durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, läßt sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren Stufen gar wohl beobachten und muß auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht.«18 D. Kuhn und R. Wankmüller, Mit einem Eassay von C.F. von Weizäcker, München 1998, 317. 13 G. Benn, Goethe und die Naturwissenschaft (1932), a. a. O., 34. 14 J.W. von Goethe, »Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit«, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 164. 15 J.W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: HA 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, Textkritisch durchgesehen und kommentiert von H.J. Schrimpf, München 1998, 48, Maxime 536. 16 J.W. von Goethe, »Einleitendes und Allgemeines «, in: Versuch einer Witterungslehre 1825, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 305. 17 J.W. von Goethe, »Einleitung«, in: Zur Farbenlehre, in: ebd., 327. 18 J.W. von Goethe, Tag- und Jahreshefte, in: HA 10: Autobiographische Schriften II, a. a. O., 436.

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Eine d r i t t e methodische Überzeugung Goethes kommt im Abweisen der ihm befremdlichen, den Geist der meisten Zeitgenossen beherrschenden Denkweise zum Ausdruck, »die eine tote, […] auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte«. Entgegen dieser »starren Vorstellungsart« hängt er selbst überzeugt derjenigen »gotteslästerlichen« Denkweise an, die im Begriff der Materie eine »Urpolarität aller Wesen« angelegt sieht, »welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt und belebt.«19 Diese Idee einer alles bewegenden Urpolarität von untrennbar ineinander wirkender »Anziehungs- und Zurückstoßungskraft«, die ihm als dynamisches Prinzip gilt, fi ndet er in der gesamten belebten, aber auch in der unbelebten Natur wieder. So enthielten selbst geologische Formationen Andeutungen »auf das fortwebende Leben der Natur«, 20 vollziehe sich auch im »unorganischen Reich« der Natur eine folgerichtige Verwandlung (Metamorphose), »wenn beim Entstehen das Amorphe sich ins Gestaltete verwandelt«.21 Die sich auf das dynamische Prinzip stützende Vorstellung von Bewegung, von Entwicklung, die Goethe ausbildet, ist mit »Einheit u n d Freiheit des Bildungstriebes« eines jeden »organischen Wesens« zu umschreiben.22 Einheit steht dabei für das zwingende Gesetz, die Form oder die Regel der Bildung, was die Identität des Organismus ermöglicht. Freiheit steht für die Variation, Veränderung, Wandelbarkeit, was die Identität zu einer lebendigen macht. Goethe drückt diesen tiefen philosophischen Gedanken in der berühmten Formulierung aus, wonach »die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei, daß die Wesen zwar nicht aus derselben heraus, aber doch innerhalb derselben sich ins Unförmliche [d. h. Monströse – C.M.] umbilden können, jederzeit aber, wie mit Zügeln zurückgehalten, die unausweichliche Herrschaft des Gesetzes anerkennen müssen.«23

J.W. von Goethe, Campagne in Frankreich 1792, in: ebd., 314. Ebd., 327; Der von Goethe propagierten Übertragung des Lebensprinzips auf die anorganische Natur mag der Philosoph Cassirer allerdings nicht unbesehen folgen, er wendet aber den Organismusbegriff bewußt auf die Charakterisierung der Vernunft bzw. physikalischer Theorien an. 21 J.W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: HA 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, a. a. O., 370, Maxime 36. 22 J.W. von Goethe, »Bildungstrieb«, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 33 f. 23 J.W. von Goethe, »Principes de Philosophie zoologique«, in: ebd., 234. 19

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A u ß e r d e m ist Goethe zutiefst davon überzeugt, daß die Natur und ihre lebendigen Gegenstände immer als ein Ganzes, als Totalität aufgefaßt werden muß, die ihre Teile organisiert, in lebender Wechselwirkung hat. Deshalb dürften an lebendigen Naturgegenständen nicht in erster Linie analytische Trennungen vorgenommen werden, vielmehr seien »die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen.«24

Mit anderen Worten, er verbindet den ganzheitlichen Gedanken des Lebendigen mit dem physiognomischen Prinzip. Zu ergänzen wäre das »in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen[de]« Ganze noch um die – f ü n f t e – Überzeugung, die uns bereits zur Idee der Metamorphose führt, nämlich die, daß die äußere Erscheinung, die phänomenale Gestalt, einen beständigen Wandel durchmacht. Und diesen Wandel der Naturgegenstände gelte es »bei einiger Vergleichung« in »Augenschein« zu nehmen, also die konkret gestalteten Organismen und ihre Teile anzuschauen, zu betrachten und zu vergleichen. 25 Goethes naturwissenschaft liche Forschungen beruhen auf dem Vergleich, nehmen eine vergleichende Methode in Anspruch, die die Organismen der einen Art bzw. Gattung und ihre Teile bzw. Organe genau zu beschreiben und sie mit anderen Arten zu vergleichen hat, wobei sie Analogien (Homologien) herausstellt. 1.2. Idee der Metamorphose Zur »Einsicht in den Grundbegriff der Metamorphose«, der nach dem Urteil des mit Goethe befreundeten Arztes und Naturphilosophen Carl Gustav Carus »höchste lebendigste Einwirkung auf das gesamte Gebiet der Botanik« genommen hat,26 ist Goethe nach eigenen Worten in Italien gelangt. 27 Die Lehre von der Metamorphose der Organismen wurde von ihm allerdings nicht »in einem selbständigen abgeschlossenen Werk«, d. h. J.W. von Goethe, »Die Absicht eingeleitet«, in: ebd., 55. J.W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ebd., 93 f. 26 C.G. Carus, »Goethes Verhältnis zur Natur und Naturwissenschaft«, in: J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, a. a. O., 26. 27 J.W. von Goethe, Zweiter römischen Aufenthalt vom Juni 1787 bis April 1788, in: HA 11: Autobiographische Schriften III, Textkritisch durchgesehen von E. Trunz, Kommentiert von H. von Einem, München 1998, 377. 24 25

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als abgeschlossene systematische Theorie verfaßt, sondern nur als »Musterbild«, als ideeller Leitfaden für die Untersuchungen aufgestellt.28 An dieses Musterbild, an diesen »Maßstab« sind die »organischen Wesen« zu halten, an ihm ist ihr »Bilden, Umbilden und Verbilden« zu messen. Dabei gelte es, »erst mit geistigen Augen in dem vorbereitenden Organe das erwartete, das notwendig folgende, in dem abweichenden die Regel [zu] erblicken«, damit man später alles in Bildern und Schemata darstellen kann.29 Dem Begriff bzw. der Idee der Metamorphose lag außerdem das die ganze Italienische Reise prägende Bemühen zu Grunde, aus der Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten einen Urtypus, die »Urpflanze« als ein nicht weiter ableitbares und erklärbares Urphänomen zu erschauen. Aus dieser Urgestalt wollte Goethe die spätere Vielfalt sich entwickeln zu lassen, was es dem Botaniker erlauben sollte, die »Geschlechter und Arten wahrhaft zu bestimmen, welches […] bisher sehr willkürlich geschieht«.30 Die Lehre von der Metamorphose beinhaltet also das anschauende Folgen und Begleiten der »äußeren Gestalt […] in allen ihren Umwandlungen«, von ihrer Entwicklung aus dem Keime »bis zur neuen Bildung desselben« und beansprucht »ohne Anmaßung«, die »ersten Triebkräfte der Naturwirkungen entdecken zu wollen«. Dabei richtet sich die aufmerkende Anschauung »auf Äußerungen der Kräfte«, durch die der Organismus »ein und ebendasselbe Organ nach und nach umbildet«.31 Im Grunde lenkt Goethe hier die Aufmerksamkeit auf das natürliche Bedürfnis des Menschen, die »mannigfaltigen Gestalten« der Organismen nachzuvollziehen, zu erfassen und zu erklären, 32 und »die mannigfaltigen, besonderen Erscheinungen […] auf ein allgemeines, einfaches Prinzip zurückzuführen«.33 Die Fähigkeit, dieses Bedürfnis zu erfüllen, erlaube es zudem, mit Hilfe eines solchen Prinzips, d. h. mittels Modell oder Urtypus der Gestalt, auf konsequente Weise alsdann noch Gestalten »ins Unendliche [zu] erfinden«, »die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten«, weil sie »eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben«.34 Den Urtypus der Pflanze – die Urpflanze – meinte er 1786 J.W. von Goethe, »Nacharbeiten und Sammlungen«, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 39, 118. 29 Ebd., 119. 30 J.W. von Goethe, Italienische Reise, in: HA 11: Autobiographische Schriften III, a. a. O., 60. 31 Ebd., 89 f. 32 J.W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: HA 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, a. a. O., 94. 33 Ebd., 103. 34 J.W. von Goethe, Italienische Reise, in: HA 11: Autobiographische Schriften III, 28

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in Italien gefunden zu haben, den des Tieres suchte er 1817 noch immer. Den Urtypus versteht Goethe, wie schon angedeutet, als Bildungsgesetz, als figürliche Bildungsregel, als sinnlich-übersinnliches »Muster«, nach dem alle konkreten Gestalten »gebildet wären«.35 Die Kenntnis und die Handhabung dieses Musters lüfte das Geheimnis der Organismuszeugung und -organisation und erlaube es nachzuvollziehen, wie sich aus einem Ursprungsgebilde die Vielfalt (»Mannigfaltigkeit«) der Gestalten entwickelt, entfaltet.36 Diese Idee der Metamorphose läßt sich nach Goethes Erfahrung und Erwartung nicht nur auf pflanzliches Leben, sondern auch »auf alles übrige Leben anwenden«.37 Die Wirkung der »Metamorphose des Tierreichs« offenbarte sich ihm, als er in Venedig den »Ursprung des Schädels aus Wirbelknochen« erfaßt.38 Der Wirbelknochen gilt ihm gewissermaßen in Analogie zum pflanzlichen Blatt als ein Urtypus, der durch Verwandlung und Entwicklung den tierischen Schädel hervorbringt. Später wendet er die erworbene Fertigkeit, »das organische Wandeln und Umwandeln […] zu beurteilen, die Gestaltenfolge zu erkennen und abzuleiten«, auf die »Metamorphose der Insekten« an. Ihm erscheint es unbestreitbar, daß »der Lebensverlauf solcher Geschöpfe […] ein fortwährendes Umbilden [ist], mit Augen zu sehen und Händen zu greifen«.39 Goethe hat hier die verschiedenen Stufen im Auge, »welche die Natur sowohl in der Bildung der Geschlechter, der Arten, der Varietäten, als in dem Wachstum eines jeden einzelnen [Organismus – C.M.] betritt«. 40 Er zielt mit dem Begriff der Metamorphose also auf die – beobachtbare – Tatsache, wonach sich im Wachstum des Lebendigen »gewisse äußere Teile de[s]selben […] verwandeln und in die Gestalt der nächstliegenden Teile bald ganz, bald mehr oder weniger übergehen.« Dabei vermutet er gewisse »Gesetze der Umwandlung«, nach welchen der jeweilige lebende Organismus »einen Teil durch den anderen hervorbringt, und die verschiedensten Gestalten durch Modifi kation eines einzigen Organs« ausbildet. Es gilt, die »geheime Verwandtschaft der verschiedenen äußeren [T]eile«, welche »sich nacheinander und gleichsam aus einander entwickeln«, »wodurch ein und dasselbe Organ sich uns man-

a. a. O., 324. 35 Ebd., 266. 36 Ebd., 323 f. 37 Ebd., 324. 38 J.W. von Goethe, »Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ›Die Natur‹«, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 49. 39 J.W. von Goethe, »Der Inhalt bevorwortet«, in: ebd., 60. 40 J.W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ebd., 94.

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nigfaltig verändert sehen läßt«, aufzudecken. 41 Und dies dadurch, daß man »genau beobachte und miteinander vergleiche«. 42 Auf die von Goethe herausgestellten drei Modifi kationen der Metamorphose der Pflanzen können und wollen wir hier nicht weiter eingehen. Interessant erscheint aber schon, nicht zuletzt in Bezug auf Cassirers Philosophieverständnis, die dabei mitgeteilte Erkenntnis, wonach die »regelmäßige« Metamorphose als »fortschreitende« bestimmte Stufen durchläuft, sich »durch Umwandlung einer Gestalt in die andere« gleichsam »auf einer geistigen Leiter« hinauf zu einem Gipfelpunkt der Natur bewegt, während die »unregelmäßige«, »rückschreitende« Metamorphose »eine oder einige Stufen rückwärts« durchschreitet. 43 Cassirer kann sich beim Formulieren seiner Idee der stufenförmigen Entfaltung bzw. Struktur der geistig-kulturellen Sinnordnungen einer gewissen Vorarbeit durch Hegel – und folglich auch durch Goethe – vergewissern. Während die fortschreitende Metamorphose den Bauplan des Organismus bzw. der Art realisiert und die rückschreitende im Rahmen bestimmter Naturgesetze des Wachstums von ihm abweicht, rühre die zufällige Metamorphose der Gestalt des Organismus und seiner Teile, was sie zu Monstrositäten macht, aus äußeren Einwirkungen her. 44 Die Idee der Metamorphose und die vergleichende Beobachtung der Organismen erlauben es Goethe, eine Art Organlehre zu formulieren. Als Problematik, als Erkenntnisherausforderung dient dabei nicht zuletzt der Tatbestand, daß bestimmte »Organe des Wachstums« zunächst unter »Hüllen« verborgen bleiben45 und erst später ans Licht treten, so daß wir ihrer in »verschiedenen Gestalten« gewahr werden. 46 Oft haben die verborgenen und gerade ans Licht tretenden Organe noch keine Ähnlichkeit mit den späteren Organen, diese stellt sich erst nach und nach ein. »In der ersten Kindheit« des Organismus sehen wir nach Goethe allerdings »diejenige Kraft der Natur gleichsam angedeutet«, durch die bestimmte Entwicklungen, Wandlungen und Hervorbringungen in seinem »höheren Alter« erwirkt werden. Im Verlaufe des Wachstums bildet die Natur in immer neuen Gestalten und Funktionen des Organismus gelegentlich »kein neues Organ [aus], J.W. von Goethe, »Einleitung«, in: ebd., 64. J.W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ebd., 94. 43 J.W. von Goethe, »Einleitung«, in: ebd., 65. 44 Anmerkungen zu HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 580. 45 Alles Lebendige, alle »Lebenstätigkeit« bedarf einer immer zu ersetzenden, neu zu bildenden » Hülle«, die ihr Wesen gegen Außen abschirmt; Leben ist als bloß oberflächliches Wirken nicht möglich, sondern bedarf eines Inneren. – J.W. von Goethe, »Die Absicht eingeleitet«, in: ebd., 59. 46 J.W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ebd., 66. 41

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sondern sie verbindet und modifi ziert nur die uns schon bekannt gewordenen Organe, und bereitet sich dadurch eine Stufe näher zum Ziel«, ermöglicht so seine »künftige weitere Verfeinerung«. 47 Die »Verwandtschaft« der nach- und auseinander entstandenen Organe oder »Werkzeuge« lasse sich an gemeinsamen Merkmalen deutlich aufweisen. Gelegentlich »überspringt« die Natur in der Entfaltung einer Art der Organismen eine bestimmte Stufe, ein bestimmtes Wachstums- bzw. Fortpflanzungsorgan und geht »unmittelbar« zum nächst höheren über. Als treibendes Prinzip, oder zumindest als sein In-Erscheinung-Treten, um den Organismus an sein ihm von der Natur bestimmtes Ziel, die Fortpflanzung, gelangen zu lassen, entdeckt Goethe den bereits angeführten beständigen Wechsel von »Ausdehnung« bzw. »Ausbildung« und »Zusammenziehung«. 48 An anderer Stelle spricht er auch vom Wechsel »durch Nehmen und Geben, Gewinnen und Verlieren«. 49 Die »Verwandlungen«, die Übergänge können »langsam« von statten gehen, über »Zwischenwerkzeuge«, die selbst wieder »Verwandlungen« bzw. »Umwandlungen« durchmachen oder Resultante von Verwandlungen sind, selbst Rückverwandlungen von Organen kommen vor.50 Zwischen den Teilen eines Organismus, die uns in »mannigfaltigen Gestalten« erscheinen und die sich »nacheinander entwickeln«, besteht eine »innere Identität«, die auch »bei der größten Abweichung der äußeren Gestalt« der Teile Bestand hat.51 Andererseits können einzelne Wachstums- und Fortpflanzungsorgane »ohnerachtet ihrer mannigfaltigen Bildung, ihrer besonderen Bestimmung und Verbindung unter sich«, die Gestalt eines früheren Organs erkennen lassen. Mit anderen Worten, der Anschauung zeigt sich die »Verwandtschaft […] mit den vorhergehenden Teilen« des Organismus.52 Während sich spätere Werkzeuge aus einem früheren Organ entwickelt haben, kann sich so ein späteres Werkzeug auch in das frühere einhüllen. Der Organismus äußert seine »Lebenskraft« durch das Wachstum (»vertikale Tendenz«) und durch die Fortpflanzung (»Spiralrichtung«), wobei beide Weisen ihre Organe hervorbringen. Dabei sind es Ebd., 75. Ebd., 76, 79. In »sechs Schritten« des sich abwechselnden Ausdehnens und Zusammenziehens »vollendet die Natur unaufhaltsam das ewige Werk der Fortpflanzung der Vegetabilien durch zwei Geschlechter.« – Ebd., 86. 49 J.W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: HA 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, a. a. O., 501, Maxime 962. 50 J.W. von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: HA 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, a. a. O., 79 f., 85. 51 Ebd., 82, 84. 52 Ebd., 87 f. 47

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doch »immer dieselbigen Organe, welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten, die Vorschrift der Natur erfüllen.« Die »verschiedenscheinenden Organe« entwickeln sich, so hat es Goethe beobachtet, jedoch »alle aus einem einzigen« Organ.53 Hier handelt es sich um ein in »verschiedene Gestalten metamorphosiertes Organ«, von dem »alle Erscheinungen seiner Gestalt« verglichen, vorwärts und rückwärts gegeneinander gehalten werden müssen.

1.3. Vergleichende Morphologie Eng verbunden mit der Idee der Metamorphose, die »ganz und gar« Goethes Denken entspricht,54 ist dessen vergleichende Gestalt- bzw. Formenlehre (Morphologie), beide setzen sich sogar gegenseitig voraus. Der Botaniker Günther Schmid sieht denn auch Goethe »durch die Schrift über die Metamorphose der Pflanzen [zum] Begründer der sogenannten vergleichenden Morphologie geworden.«55 Was beides verbindet, ist u. a. der aus der Idee der Metamorphose bekannte sinnlich-unsinnliche Begriff des Urtypus, der einen Gestaltwandel und eine Stufenfolge der Entwicklung durchmacht, wobei die innerlich e i n e Natur, die Identität, der ›Bauplan‹ fortbesteht. Bereits 1795 hatte Goethe vorgeschlagen, einen »anatomischen Typus […], worin die Gestaltungen sämtlicher Tiere, der Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschriebe«, zu entwerfen, um eine Norm für die Vergleichungen der Tiergestalten zu gewinnen. Aus der »allgemeinen Idee eines solchen Typus folgt, daß kein einzelnes Tier als ein solcher Vergleichskanon aufgestellt werden könne; kein Einzelnes kann Muster des Ganzen sein.«56 Aber auch der Gedanke, daß sich die phänomenale Mannigfaltigkeit auf ein einfaches, einheitliches Gesetz oder Prinzip zurückführen lassen muß, verbindet Morphologie und Metamorphose. In der organischen Natur könne nämlich »keine so große Mannigfaltigkeit von Formen erscheinen […], ohne daß ein Grundgesetz […] sie wieder sämtlich zur Einheit zurückbrächte.«57 Ebd., 99 f. G. Schmid, »Die Metamorphose der Pflanze«, in: J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, a. a. O., 216. 55 Ebd., 205. 56 J.W. von Goethe, »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie« (1795), in: HA 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, a. a. O., 172. 57 J.W. von Goethe, »Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit«, in: ebd., 157. 53

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Der Begriff der Morphologie wird bei Goethe hinsichtlich der Gestalten und ihres Wandels – zumindest ansatzweise – natur- und kulturübergreifend ausgelegt und umfaßt neben den organischen Formen auch die lebendigen Formen der Kultur, hängt er doch »mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammen[…]«.58 Diesen Zusammenhang legt Goethe allerdings unterschiedlich aus. Einmal heißt es, er habe der Natur abgemerkt, »wie sie gesetzlich zu Werke gehe, um lebendiges Gebild, als Muster alles künstlichen [Gebildes – C.M.], hervorzubringen.« Andererseits stelle sich das Formproblem, das die Metamorphose der natürlichen Organismen aufwirft, ebenso in der Kunsttätigkeit für den Künstler, habe sich doch einst »Wissenschaft […] aus der Poesie entwickelt«, weshalb sie sich auf höherer Stelle »wieder begegnen können«.59 Alle Tätigkeiten, wie Wissenschaften und Künste, Geschäft sführung und Handwerk, dürften nicht als »vereinzelte«, »abgeschlossene Kreise« behandelt werden, vielmehr seien sie als »Wirkungskreise« in »lebendiger Wechselwirkung« zu betrachten. 60 Außerdem beruht der Goethesche Begriff der Morphologie auf einer allgemeinen Ausdruckslehre (Physiognomik), wonach bei Lebendigem Äußeres, Sichtbares korrelativ auf Inneres, Nichtsichtbares verweist, es andeutet. Und schließlich verlangt die Morphologie die methodische Vergleichung der konkreten, sich wandelnden Gestaltungen, um die von ihnen repräsentierte und realisierte Idee bzw. Form zu erkennen, diese geht als Schau, Schauung, Anschauen vonstatten. Für die Naturwissenschaften gilt Goethe als der Stifter der vergleichenden Morphologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin, die als »formale oder reine«, wie Schmid 1932 feststellt, »in unseren Tagen in Zoologie und Botanik [beginnt,] ihr logisches Recht wieder geltend zu machen«. 61 Goethe selbst verweist auf »mehrere Versuche« in »dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft«, diese Wissenschaft zu begründen und auszubilden. 62 Als solche strebe sie danach, die organischen Formen, die »organischen Gestalten« vergleichend zu beobachten und zu beschreiben. Allerdings müsse, so Goethe warnend, dem damals gebräuchlichen deutschen Wort ›Gestalt‹ eine neue Bedeutung beigelegt werden, da es derzeit »ein Bestehendes, […] ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes« zum Ausdruck bringe, wie es so in der sich »in einer steten Bewegung« befindJ.W. von Goethe, »Die Absicht eingeleitet« (1817), in: ebd., 55. J.W. von Goethe, »Schicksal der Druckschrift«, in: ebd., 102 f. 60 J.W. von Goethe, »Andere Freundlichkeiten«, in: ebd., 117. 61 G. Schmid, Die Metamorphose der Pflanze, in: J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, a. a. O., 214. 62 J.W. von Goethe, »Die Absicht eingeleitet« (1817), in: HA 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, a. a. O., 55. 58 59

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lichen organischen Natur gar nicht existiere. Das »bewegliche Leben der Natur« schlägt sich vielmehr so nieder, daß das, »was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung« gleich, ähnlich, völlig ungleich oder unähnlich »erscheinen kann«. »Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von [abgeschlossener, fi xer – C.M.] Gestalt sprechen; sondern […] uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken. Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet«. 63

Der Morphologie als vergleichender Wissenschaft ist ebenfalls die Sichtweise eigen, in der organischen Natur beobachtbare Regeln, Zusammenhänge, Relationen und Korrelationen von »Wandeln und Umwandeln«, »Gestaltenfolge« und »fortwährendem Umbilden« zu suchen. Es erweise sich als nützlich, diese Beobachtungen in ein »tabellarisches Schema« zu bringen, nach dem sich einzelne Erfahrungen »folgerecht aufreihen« lassen, damit schließlich der gesamte Gestaltwandel »deutlich [zu] überschauen« ist. Sonderung und Vergleichung der angeschauten Organismen müssen wechselweise mit ihrer Bildung und Umbildung Hand in Hand gehen. 64 Auch die Typuslehre, »die sich mit der Metamorphosenlehre deckt«, 65 steht mit der vergleichenden Morphologie in Zusammenhang: an dem aufzustellenden Typus oder Urbild seien alle Einzelexemplare, die ihm zuzurechen sind, »nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen«. 66 Das Arbeitsfeld der Morphologie ist erster Linie das »Phänomen der organischen Struktur«, sie wendet sich an die »einfachste« Struktur, die »eine bloße Aggregation der Teile zu sein scheint«, dabei geht es ihr aber um die »Steigerung« und »Vereinigung« dieser »Struktur zur tierischen Einheit«, wobei das Problem der »Form« auftritt. Der Morphologe sei nicht darauf aus, »die Dinge und ihr Wesen zu ergründen«, sondern – gemäß dem Phänomenalismus Goethes – vielmehr darauf, »von dem Phänomen nur einigermaßen Rechenschaft zu geben« und dies anderen mitzuteilen. »An einem lebendigen Gegenstand fällt uns zuerst seine Form im [G]anzen in die Augen, dann die Teile dieser Form, ihre Gestalt und

Ebd., 55 f. J.W. von Goethe, »Der Inhalt bevorwortet« (1817), in: ebd., 62. 65 G. Schmid, »Die Metamorphose der Pflanze«, in: J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, a. a. O., 223. 66 J.W. von Goethe, »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie« (1795), in: HA 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, a. a. O., 171. 63

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Verbindung.«67 Diese Art der Formbetrachtung kehrt im Grunde bei Cassirer wieder, nur auf kulturelle Phänomene im Unterschied zu natürlichen Gegenständen bezogen. In seiner bereits in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts entstandenen »Betrachtung über Morphologie« entwickelt Goethe ausgehend von diesem Formbegriff wissenschaft sklassifi zierende Überlegungen um eine »allgemeine Lehre vom Leben auf der Basis einer geistigen Lebens-Kraft« herum, 68 die er ›Physiologie‹ nennt und der er die vergleichende Morphologie als eine Methode oder Hilfswissenschaft zuordnet. So befasse sich zunächst die auf Vergleichung äußerer Kennzeichen beruhende69 ›Naturgeschichte‹ mit »der Form im allgemeinen und mit dem Verhältnis und der Verbindung der Teile, insofern sie äußerlich sichtbar sind«. Hier haben wir es mit dem Schauen der äußeren, der Gestaltformen des lebendigen Organismus zu tun. ›Zoonomie‹ und ›Psychologie‹ ergänzen dies und betrachten den lebenden Gesamtorganismus als von einer physischen oder geistigen Kraft unterbaut. Suchen wir aber nach der inneren Form des Organismus und ihren Teilformen, so legen sich die »dem Auge aber erst dar[…], wenn die Gestalt getrennt ist«, wenn die anatomische ›Zergliederungskunst‹ ihr Werk getan hat. Diese Nichtsichtbares aufdeckende Erkenntnisrichtung geht »nicht allein auf die G e s t a l t der Teile, sondern auch auf die S t r u k t u r derselben im Innern«.70 Dabei treffen wir mit der Struktur auf einen weiteren Begriff, der bei Cassirer als unerläßlich gilt für die Begründung einer eigenen Logik kulturwissenschaft licher Erkenntnis.71 Goethe weist drauf hin, daß die analytische Zergliederung den »organischen Körper« zerstört, »so daß seine Form aufgehoben ist und seine Teile aus Materie betrachtet werden können«, was die ›Chemie‹ besorgt. Das in »einzeln beobachtete Phänomene« zerlegte und damit »zerstörte Geschöpf« läßt sich nur noch geistig, durch ein »Palingenesieren«, wieder »lebendig in seinem gesunden Zustande betrachten«. Dies habe nun die erwähnte ›Physiologie‹ zu vollbringen, sie wird als eine »Operation des

J.W. von Goethe, »Betrachtung über Morphologie«, in: ebd., 120 f. Anmerkungen des Herausgebers zu HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 585. 69 J.W. von Goethe, »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie« (1795), in: ebd., 170. 70 J.W. von Goethe, »Betrachtung über Morphologie«, in: ebd., 121 ff. 71 Siehe dazu auch im vorliegenden Band die Beiträge »›Philosophie der symbolischen Strukturen‹. Zu einigen begriffl ichen Parallelen bei Cassirer und Lévi-Strauss«, 631–654; »System und Struktur. Eine Begriff sbeziehung bei Cassirer«, 655–702. 67

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Geistes« vorgestellt, die aus »Lebendigem und Totem, aus Bekanntem und Unbekanntem, durch Anschauen und Schlüsse, aus Vollständigem und Unvollständigem ein Ganzes« zusammenzusetzen bestrebt ist, »das sichtbar und unsichtbar zugleich ist, dessen Außenseite uns nur als ein [G]anzes, dessen Inneres uns nur als ein Teil und dessen Äußerungen und Wirkungen uns immer geheimnisvoll bleiben müssen«. 72

Die vergleichende ›Morphologie‹ vollziehe schließlich die »Betrachtung der [äußeren – C.M.] Gestalt sowohl in ihren Teilen als im [G]anzen, ihren Übereinstimmungen und Abweichungen ohne alle andere Rücksichten.«73 Sie ist deshalb als »eine Lehre für sich u n d als eine Hülfswissenschaft der Physiologie« anzusehen und sie ruht »im [G]anzen auf der Naturgeschichte, aus der sie die Phänomene zu ihrem Behufe herausnimmt. Ingleichen auf der Anatomie aller organischen Körper und besonders der Zootomie.«74

Die Morphologie, die sich »überall als Dienerin der Physiologie und mit den übrigen Hülfswissenschaften koordiniert an[sieht]«, will »nur darstellen und nicht erklären«. Bei Goethe ist die vergleichende Morphologie als eine »neue Wissenschaft« der »Ansicht und der Methode nach« gedacht, »welche sowohl der Lehre [von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper – C.M.] selbst eine eigene Gestalt geben muß als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat«.75

Sie macht das, »was bei andern [naturwissenschaft lichen Disziplinen – C.M.] gelegentlich und zufällig abgehandelt ist, zu ihrem Hauptgegenstande«, indem sie es sammelt und von einem neuen »Standort« aus betrachtet. Auch diese Überlegung, wonach eine neue Sichtweise eine andere Sinnordnung eröffnet, nimmt gewissermaßen eine Position Cassirers vorweg. Die

J.W. von Goethe, »Betrachtung über Morphologie«, in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 112. 73 Ebd., 122 f. 74 Ebd., 123 f. 75 Ebd., 124. 72

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

»Phänomene, mit denen sich die Morphologie beschäft igt, [sind] höchst bedeutend«, die »Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt, [sind] der menschlichen Natur angemessen und angenehm«.76

Goethe stellt aber nicht nur Überlegungen an, wie und was die Morphologie als Wissenschaft sein sollte, sondern er unternimmt selbst morphologische Untersuchungen und teilt diese mit. Um Vergleichungen bei den Säugetieren als der vollkommensten Tiergattung vornehmen zu können, erscheint es ihm zwingend, einen allgemeinen anatomischen Typus, ein allgemeines Schema, ein Muster des Säugetieres als solchem aufzustellen, um so eine »gewisse Ordnung« für Vergleichung und Beschreibung zu gewinnen. Auch wenn die sich daraus ergebende Methode, »nach welcher wir nunmehr die Ordnung der Teile betrachten, […] künftig erst durch Erfahrung und Gelingen gerechtfertigt« wird.77 Wegen seiner organischen Vollkommenheit kann ihm der Mensch dafür nicht als Maßstab dienen. Um »auf eine genetische Weise das allgemeine Bild«, den Typus oder das Muster abziehen zu können, wobei die Idee des Tieres »über dem Ganzen« waltet, läßt er sich zunächst von der Erfahrung »die Teile lehren, die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile verschieden sind.« Der Säugetiertypus muß aber auch noch mit der weiteren organischen Natur abgeglichen werden, um wirklich als ein »allgemeines Bild der Säugetiere« gelten zu können, damit »sich dieses Bild […] künftighin rückwärts dergestalt modifizieren läßt, daß auch die Bilder unvollkommenerer Geschöpfe daraus herzuleiten sind.« Nachdem der Typus einmal »aufgebaut« ist, verfährt der Forscher mit der »Vergleichung« so, daß einmal »einzelne Tierarten nach demselben [Typus – C.M.] beschrieben« und diese Beschreibungen der Tierarten aneinander gehalten werden. Schließlich wird versucht, einen »besonderen Teil« des Organismus, ein bestimmtes Organ, »durch alle Hauptgattungen [hin-]durch [zu] beschreiben«.78 Aufgrund dieser Vergleichungen und Beschreibungen erkennt Goethe u. a., daß die Teile des organischen Körpers »verschiedene Lebensfunktionen ausüben«, die eine Verbindung miteinander eingehen und Wirkungen aufeinander ausüben, was die »organische Existenz« als solche ausmacht. Als immer wiederkehrende Teile am Organismus, teilweise unter einer »Hülle« verborgen, unterscheidet er »Sinneswerkzeuge«, »Organe des

Ebd., 127. J.W. von Goethe, »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie« (1795), in ebd., 180. 78 Ebd., 172 f. 76

77

Formenschau, Formenwandel und Formenlehre

383

inneren Lebensantriebs« und »Organe der Nahrung und Fortpflanzung«. Diese Teile des Tieres, »ihre Gestalt untereinander, ihr Verhältnis, ihre besondern Eigenschaften bestimmen die Lebensbedürfnisse des Geschöpfs. Daher die entschiedene, aber eingeschränkte Lebensweise der Tiergattungen und Arten.«79

Goethe erkennt zudem, daß die »Mannigfaltigkeit der Gestalt« der einzelnen Organe bei den Säugetieren der Tatsache entspringt, daß von der Natur »diesem oder jenem Teil [d. h. Organ – C.M.] ein Übergewicht über all die anderen zugestanden ist.«80 Das dabei durch morphologische Vergleiche beobachtete Gesetz, wonach im gleichbleibenden Haushalt des Organismus das Übergewicht des einen Organs ein Untergewicht eines anderen nach sich zieht, wirke sowohl als Schranke als auch als Freiheit seines natürlichen Bildungstriebes. An dem aus diesem Gesetz resultierenden »Leitfaden«, der »an der Form [zu] prüfen« ist und der »bis zu den formlosesten organischen Naturen hinabreicht«, arbeitet sich Goethe »durch das Labyrinth der tierischen Bildung« hindurch. 81 Die verschieden Gestalten, die bei den Tiergattungen ein Organ oder ein Knochen im Skelett annehmen kann, so daß eine Kluft sichtbar wird, lassen sich durch eine dazwischen gestellte »Reihe Formen« verbinden. 82 Einmal spricht er vom »Schwanken von Form zu Unform, von Unform zu Form«. 83

1.4. Vergleichende Morphologie und Funktionsbegriff Wenn Goethe aus seinen Beobachtungen und Vergleichungen den Schluß zieht, daß wir uns das »abgeschlossene Tier als eine kleine Welt« denken müssen, »die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist«, die Zweck ihrer selbst ist, wobei das selbstgenügsame Zusammenwirken der Organe als ein physiologisch vollkommenes System immerzu »den Kreis des Lebens« des Tieres erneuert, dann erweist sich auch dies ebenfalls als ein Gedanke, der in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ fruchtbar gemacht wird. Bei der Überlegung Goethes, der Morphologe dürfe bei scheinbar Ebd., 174. Ebd., 174 f. 81 Ebd., 176. 82 J.W. von Goethe, »Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben« (1786), in: ebd., 195. 83 J.W. von Goethe, »Die Skelette der Nagetiere, abgebildet und verglichen von d’Alton« (1823/24), in: ebd., 214. 79

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funktionslosen Organen eines Organismus »nicht fragen, w o z u dienen sie? sondern, w o h e r entspringen sie?«, 84 hat er wohl die Frage nach der ursprünglichen Funktion des Organs im Sinn, das in seinem Gestaltwandel zurückzuverfolgen ist. Bei den Säugetieren haben alle Hauptorgane dieselbe Funktion, weshalb der allgemeine Typus (»Proteus«) auch durch alle Evolution hindurch unveränderlich, beharrend bleibe bzw. auf gleiche Weise wirke. Dennoch spielen sich auch unter einem Typus Veränderlichkeit, Versatilität ab, wirken doch die »verschiedenen elementaren Naturkräfte« ein, deren »allgemeinen äußeren Gesetzen« er – der Typus – sich, »bis auf einen gewissen Grad«, zu fügen hat. »Man kann auch den Typus verhältnismäßig gegen sich selbst betrachten und die Vergleichung innerhalb desselben anstellen […]«. 85 Verallgemeinern läßt sich dieser Zusammenhang von Beharrung und Versatilität auch wie folgt: »Eine innere und ursprüngliche Gemeinschaft aller Gestalten liegt zum Grunde; die Verschiedenheit der Gestalten dagegen entspringt aus den notwendigen Beziehungsverhältnissen zur Außenwelt, und man darf daher eine unaufhaltsam fortschreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die ebenso konstanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu können.«86

Hinsichtlich des Zusammenhanges von Organ und Funktion für den Organismus, eine Problematik, die auch Cassirer in seinen Überlegungen zur modernen Biologie mehrfach aufnimmt, wobei der Funktionsbegriff sogar zu einem der zentralen Begriffe seiner Philosophie überhaupt wird, gelangt Goethe auf Grund seiner vergleichenden Morphologie, des Begriffs der Metamorphose und der genetischen Sichtweise zu einer Reihe bemerkenswerter Einsichten. Bei der vergleichenden Betrachtung verschiedenster »Tiergeschlechter« sieht er sich »unmittelbar auf die Funktion der Teile hingewiesen; denn die Gestalt steht in bezug auf die ganze Organisation, wozu der Teil gehört, und somit auch auf die Außenwelt, von welcher das vollständig organisierte Wesen als Teil betrachtet werden muß.«87

J.W. von Goethe, »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie« (1795), in: ebd., 176 f. 85 Ebd., 178 f. 86 J.W. von Goethe, »Die Skelette der Nagetiere, abgebildet und verglichen von d’Alton« (1823/24), in: ebd., 218. 87 J.W. von Goethe, »Principes de philosophie zoologique« (1830), in: ebd., 238. 84

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Nach der Überzeugung Goethes, wonach die Natur das, was sie verbirgt, »dem Beobachter wie dem Denker« wenigstens andeutet, lassen sich auch zunächst verborgene Organfunktionen aufdecken, zumal der »Genius der Analogie« dem morphologischen Forschen dort zu Hilfe komme, wo sie sich »uns in der Erscheinung entziehen möchte«. 88 Manches dem sinnlichen Auge Verborgene sehen wir »in geistiger Anschauung«. Goethe ist deshalb entschlossen, die Funktion am Organismus »ohne weiteres […] in Schutz« zu nehmen. »Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht, und so beschäftigen wir uns […] mit dem Arme des Menschen, mit den Vorderfüßen des Tieres«, etc. 89

Die Beobachtung an mehreren Tiergattungen zeige, daß die Vollkommenheit des Organs, Werkzeuges »und seiner Funktionen zunimmt und abnimmt«, je nachdem eine bestimmte Bewegung mit ihm »mehr oder weniger leicht und vollständig ausgeübt werden kann.« An seinen Organen erblicken wir das Dasein eines Organismus, das sich »durch die Gestalt hervortut«, in »lebendiger, verhältnismäßiger Funktion«. »Auch da, wo alle Funktion völlig aufhört«, ist in der Regel »noch hinreichende Andeutung des Organs übrig«. Hier ist dann »das Analogon [seiner] Gestalt […] nicht zu verkennen«. Deshalb könne man bei der »höheren tierischen Osteologie« verborgene Knochen »innerhalb seiner Nachbarschaft entdecken«. Auch der bereits erwähnte Zusammenhang der Vergrößerung, Steigerung eines Organ, einer Funktion auf Kosten der anderen gehört zu den »Art[en] der Manifestation des labyrinthischen Organismus«, über die der vergleichende Morphologe durch »Anschauung des Äußeren zur Einsicht in das Innerste gelangen« kann.90 Dabei ist die morphologische Erkenntnis zu beachten, daß die »Organe […] sich nicht als vorher fertig« komponieren, sondern »sich aus- und aneinander zu einem notwendigen, ins Ganze greifenden Daseins« entwickeln. Die Morphologe, die in »Analogie zu einem organischen Wesen« denkt91 und sich der »genetischen Denkweise« bedient, »lebt« auch im 20. und 21. Jahrhundert und ist, wie Schmid es ausdrückt, »nie wieder wegzutun«.92

Ebd., 240 f. Ebd., 241. 90 Ebd., 143 f. 91 Ebd., 246 f. 92 G. Schmid, »Die Metamorphose der Pflanze«, in: J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, a. a. O., 205. 88 89

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2. Cassirers Goethe-Rezeption: Metamorphosenund Morphologielehre Der Philosoph Ernst Cassirer verarbeitet für seine originelle Kulturphilosophie der symbolischen Formen vielfache Anregungen, vor allem Anregungen Kants, aber auch Ideen von Leibniz, Hegel und Dilthey. Sein Philosophieren entfaltet sich im Grunde um den Begriff der Form, seine Philosophie versteht er als Formenlehre, als ›Morphologie‹ der Kultur und ihrer verschiedenen Sinnordnungen, die sich als ›lebendige Formen‹ entfalten.93 Die lebendige Form macht eine ideelle Wandlung, ideelle Genesis durch, die wiederum system- oder strukturimmanente Stufen durchläuft und dabei einen Formwandel (Metamorphose) vollzieht und Stufenleitern von Strukturen ausbildet. Das Strukturgesetz bzw. das Formprinzip regulieren dabei den inneren Formwandel und den äußeren Gestaltwandel der kulturellen Gebilde und Ordnungen. Die Formen ermöglichen und unterliegen Prozessen der tätigen Gestaltung an Kulturgütern und verkörpern sich in ihnen. Nicht zuletzt deshalb bildet auch das literarische, philosophische und naturwissenschaftliche Schaffen Goethes einen sich durch sein gesamtes philosophisches Werk ziehenden Quell von Inspiration und Referenzpunkt.94 Aus diesem Grunde konnte Cassirer auch bedeutsame philosophische Werke über Goethe verfassen, so das Goethe-Kapitel in Freiheit und Form (1916), das den Umfang einer eigenständigen Monographie besitzt, seine anläßlich des 100sten Todestages veröffentlichten drei Aufsätze Goethe und die geschichtliche Welt (1932) oder seine in Göteborg und Lund (Schweden) gehaltenen nachgelassenen Goethe-Vorlesungen (1940/41).95 Außerdem hat Cassirer gern die philosophisch relevanten Einsichten und Aussagen Goe-

»Wenn es überhaupt einen Begriff gibt, in dem man eine Gesamtsicht der Cassirerschen Philosophie fassen will, dann ist es der Begriff der Form – und zwar in seinem dynamischen Sinne als ›Werden zur Form‹, als Gestalten zur Form oder als das sich selbst eine Form Geben. Formwerden und Formgebung sind der Mittelpunkt des Cassirerschen Denkens.« – O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 122. 94 Siehe dazu vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung, a. a. O., 155–190. 95 E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 181–284; ders., Goethe und die geschichtliche Welt (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), Text und Anm. bearbeitet von R. Becker, Hamburg 2004, 353–434; ders., Goethe-Vorlesungen: Der junge Goethe – Göteborg 1940–1941, Goethes geistige Leistung – Lund 1941, Mit Beilagen, Hrsg. von J.M. Krois, in ECN 11, Hamburg 2003. 93

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thes zur Legitimierung und Bekräftigung eigener philosophischer Thesen und Theorien herangezogen. Mitte der 30er Jahre erklärt er z. B. unumwunden, seine Theorie der drei ›Basisphänomene‹ der Weltwahrnehmung auf drei Urphänomene gegründet zu haben, die Goethe in seinen ›Maximen und Reflexionen‹ mit der dreistufigen Tätigkeit des Poeten verbindet.96 Dem »›Urphänomen‹ im goetheschen Sinne«97 bleibt Cassirer Zeit seines Lebens verbunden.98 Der Zentralbegriff seiner gesamten Philosophie, die ›symbolische Form‹ kulturellen Sinnschaffens und kultureller Sinnordnungen, wird von Cassirer dezidiert als ›lebendige Form‹ verstanden, bei der sich Gesetz und Regel des Bildens mit der Freiheit, dem Spielraum des Wandels, der Variation verbindet. Zur Verdeutlichung und Bekräftigung dieses lebendigen Formcharakters zitiert er gern die bereits erwähnte Stelle aus Goethes spätem Schriftwerk: »so erkennen wir, daß die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei«.99 Auch die sinngebende ideelle Dimension in jeglichem elementaren Wahrnehmungsvorgang, die Cassirer immer wieder hervorhebt, sieht er schon früh bestätigt in »dem Goetheschen Wort – [wonach] alles Faktische schon Theorie ist«.100 Überhaupt findet Goethes Begrifflichkeit breiten Eingang in Cassirers Texte. In seinem Werk Die Sprache (1923) heißt es z. B. mit Blick auf diese Auffassung der Wahrnehmung, daß, wenn alles sinnliche Sehen bereits ein Sehen mit geistigen Augen sei, dann Formveränderungen der Sichtweise zur »Metamorphose« der »Anschauung […]

E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J.M. Krois, unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 123 ff.; J.W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. von M. Hecker, Weimar 1907, 76 f., Maximen 391–393. 97 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 458. 98 »Für Goethe […] bedeutet der Begriff des Urphänomens eine letzte Synthese, weil in ihm zugleich ein Inhalt des Schauens und eine Grenze des Schauens bezeichnet ist.« Für den Philosophen Goethe sei »das Urphänomen des Lebens das erste und durch dasselbe wird ihm alles Ideelle erst faßbar, erst vermittelt.« – E. Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1932), a. a. O., 417, 433. 99 J.W. von Goethe, »Principes de philosophie zoologique« (1830), in: HA 13: Naturwissenschaft liche Schriften I, a. a. O., 234; E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 234. 100 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), in: ECW 6, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2000, 262. 96

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in ihrer Totalität« führen.101 Oder, wenn es im nachgelassenen Manuskript »Geschichte« heißt: »diese Metamorphose [d. h., das Verwandeln des Vergangenen in ein Bild – C.M.] ist der Anfang und das Element alles geschichtlichen Bewußtseins.«102

2.1. Goethes Idee der Metamorphose Bevor wir unseren Beitrag mit einigen Überlegungen zum ›Wiederauferstehen‹ der Goetheschen Ideen von Metamorphose und Morphologie in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ beschließen, soll an einigen ausgewählten Hinweisen dargetan werden, wie sehr Cassirer diese Begriffe und die sie tragenden ›Überzeugungen‹ schätzte. So findet Goethes Terminus der »sinnlichen Form einer übersinnlichen [d. h. ideellen – C.M.] Urpflanze«, verstanden als echtes Urphänomen des Lebens und als Grundlage der »Idee der Metamorphose«, bereits in Freiheit und Form (1916) eine ausführliche Würdigung. Er gilt hier als ein philosophischer Gehalt, dem sich Cassirer selbst eng verbunden weiß.103 Die Idee der Metamorphose, die bei Goethe abstrakte Formeln und Schemata des Geistes mit der Anschauung der Natur versöhnt, ermögliche eine Sichtweise, für die die Vielheit der Phänomene und der Gestaltung bzw. Umgestaltung »eine Harmonie des Lebens« bildet, die »sich aus sich selbst fortschreitend entwickelt«.104 Ihr allgemeiner Gedanke inspiriert Goethe, »ein Prinzip [zu] entdecken, das, selbst allgemein, durch die Reihe der Besonderungen sicher hindurchgeleitet.« Sein Begriff der Natur gründe folglich auf der Auffassung der »Metamorphose, die ins Unbegrenzte neue Gestalten aus sich hervorgehen läßt.«105 Den »Gedanken der Metamorphose« als »eines Urbegriffs der Vernunft«, der »die Reihe des Lebendigen vor unserem Geist vorbeiführt«, E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001; Der Terminus Metamorphose wird allein in diesem Werk mindestens zwölf Mal gebraucht. 102 E. Cassirer, Geschichte. Mythos, Mit Beilagen, in: ECN 3, Hrsg. von H. KoppOberstebrink und R. Kramme, Hamburg 2002, 9. 103 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 234. Eine ebenso positive Besprechung der Urpflanze als einer die empirische Beobachtung orientierenden »ideellen Grundform«, die »zugleich Prinzip und Gebilde« ist, fi ndet sich auch in E. Cassirer, Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, 282. 104 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 243. 105 E. Cassirer, EP, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000, 225. 101

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uns ihr Werden eröffnet und dabei die Genesis zu »einer Voraussetzung und […] einer Form der Erkenntnis« macht, vergleicht Cassirer mit Platons statischem Begriff der Idee.106 Goethe verbinde die »genetische Methode« mit der »ideellen Denkweise« als Grundmaxime der Metamorphose, um Urbildliches und Typisches im Werden, im Leben zu fassen. Eine Transzendenz »gegenüber dem Phänomen des Lebens« gibt es für ihn – wie auch für Cassirer – nicht mehr.107 Als sich Cassirer Mitte der 30er Jahre erneut intensiv der Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftsgeschichte zuwendet, lassen seine Studien auch bei ihm keinen Zweifel aufkommen, daß »Goethes Metamorphosenlehre […] tief in die Entwicklung der Biologie eingegriffen« hat und daß »heute […] an der Größe seiner Leistung kein Zweifel mehr« besteht.108 Hervorgehoben wird auch, daß der Goethesche Typusbegriff kein statischer sei, sondern die »biologische Gestalt« einer Lebensform eine Entwicklung in der Zeit durchmachen läßt.109 Wenn Cassirer unterstreicht, daß Goethes Begriff der Metamorphose mit Darwins empirischer Frage nach »der historischen Abfolge der Lebenserscheinungen« nichts zu tun habe,110 dann deckt sich diese Auffassung mit dem Urteil Schmids, wonach es ein Irrtum der »Nachfolger Darwins, ja Darwins selber« war, in Goethe »ihren großen Vorgänger zu finden.«111 Sein in der »Lehre von der Metamorphose der Pflanze« zum Ausdruck kommendes »dynamisches Lebensgefühl« lasse zusammen mit dem Begriff des Urtypus begriffl iches Denken und Einbildungskraft ineinander wirken, was eine ganz neue »Begriffsform« hervorgebracht hat, die ebenso in die moderne Biologie Eingang gefunden habe.112 Seit Ranke fi nde die »ideelle Denkweise«, die Goethe als erster in die Biologie eingeführt hat, sogar Anwendung in der Geschichtswissenschaft.113

E. Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1932), a. a. O., 414. 107 Ebd., 416. 108 E. Cassirer, EP, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 159. 109 Ebd., 160 ff. 110 Ebd., 172 f. 111 G. Schmid, »Die Metamorphose der Pflanze«, in: J. Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, a. a. O., 214 f. 112 E. Cassirer, EP, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 163 ff. 113 E. Cassirer, Geschichte. Mythos, in: ECN 3, a. a. O., 160 f. 106

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2.2. Goethes vergleichende Formenlehre Die neue Wissenschaftsdisziplin der vergleichenden Morphologie wird in Cassirers Werken dagegen mit etwas weniger Aufmerksamkeit und Würdigung bedacht als die Lehre von der Metamorphose der Gestalten. Ist in früheren Schriften gelegentlich lediglich von Goethes »Studien zur Morphologie« die Rede114 , oder finden sich knappe Aussagen wie die, Goethe habe sich dem »Zwang der vorgegebenen, der in ihrem Wesen feststehenden und präformierten Gattungen […] in der Morphologie« nicht gefügt,115 so hat Cassirer die Goethesche Morphologie und den dazugehörigen »Typenbegriff«, der »Gestalten des Lebens« auffinden lasse, als einen »Schwerpunkt der biologischen Forschungen« erst in dem Mitte/Ende der 30er Jahre verfaßten Manuskript des Erkenntnisproblems IV ausführlich, inhaltlich besprochen.116 Er verbindet dies mit dem Hinweis, daß die vergleichende Morphologie in der modernen Biologie, z. B. bei Jakob von Uexküll, für den das Allgemeine der Biologie »reine Strukturverhältnisse« sind, die die einzelnen Organe (Funktionen) bestimmen, seine Fortsetzung finde.117 Im Unterschied zum späteren Entwicklungsdenken Darwins erfasse Goethes idealistische Morphologie »die Gestalt des Lebens und seinen Gestaltenwandel« intuitiv.118 In der Folge habe sich dann auch die Auffassung durchgesetzt, daß »nur auf Grund strenger morphologischer Untersuchungen die Fragen der Entwicklungsgeschichte [biologischer Arten – C.M.] überhaupt gestellt werden könnten«.119 Oswald Spenglers groß angelegten Versuch, mit Blick auf Goethe und die Physiognomik eine naturalistische ›Kultur-Morphologie‹ zu formulieren, die die Menschheitsgeschichte als mannigfaltige Naturgeschichte auffaßt,120 kommentiert Cassirer in jenen Jahren vorwiegend kritisch.121 Die Kritik richtet sich u. a. gegen die dieser ›Kultur-Morphologie‹ einwohnende Konsequenz, wonach wir nur die eigene Kultur verstehen, was aber E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 249. E. Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1932), a. a. O. , 393. 116 E. Cassirer, EP, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 148. 117 Ebd., 151. 118 Ebd., 192 f. 119 Ebd., 195. 120 Siehe dazu vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung, a. a. O., 105–130. 121 E. Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), Hrsg. von R. Kramme unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 6. 114 115

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in Widerspruch zu den Ambitionen von Spenglers Analogie-Methode stehe.122 Interessant ist auch die Feststellung Cassirers, daß die Methode der vergleichenden Morphologie im Anschluß an Goethe – und Spengler – aus der modernen Biologie in die geschichtliche Formbetrachtung übernommen worden sei.123 Dies ist ein Verfahren, das er selbst teilt und das er in der historischen und kulturwissenschaft lichen Formenanalyse angewandt wissen will.

3. Der Stellenwert von Metamorphose und Morphologie in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts arbeitet Cassirer – unter Rückgriff auf seine Theorie der ›Basisphänomene‹ – an wissenschaft stheoretischen Problemen und an der Stellung seiner Philosophie zu ihnen. Hierbei versteht er die Biologie als exemplarische Brücke zwischen den gegensätzlichen ›Logiken‹ der Natur- und der Kulturwissenschaften. Wenn er erläutert, daß die konkrete Methode einer Kulturwissenschaft durch »universale Überschau« aus der »Fülle der Einzelphänomene ein ›Urbildliches‹ und Typisches« herauslöst, was »eine eigene und legitime Art der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung« darstelle,124 dann hat er hier nicht zuletzt Goethes Typusbegriff im Blick. Allerdings bekennt sich Cassirer auch zum Typusbegriff Max Webers und würdigt, daß Weber »den Begriff ›Idealtypus‹ in die geschichtliche Betrachtung einführte«.125 Was die moderne Biologie durch methodische Analogien bzw. Ähnlichkeiten mit den Kulturwissenschaften verbindet, ist für Cassirer das Vorliegen des Formproblems in den Erkenntnismethoden,126 die nicht-kausalgesetzlich agierenden Wissenschaften gelten ihm als Formwissenschaften.127 Ebd., 25 f. E. Cassirer, Geschichte. Mythos, in: ECN 3, a. a. O., 160 f., 147. 124 E Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 162. 125 E. Cassirer, Geschichte. Mythos, in: ECN 3, a. a. O., 70 f. 126 Die Mitte/Ende der 30er Jahre verfaßten expliziten Hinweise Cassirers zu FormAnalogien zwischen Biologie und Kulturwissenschaft lassen sich sieben Aspekten zuordnen: dem Begreifen und Beschreiben; der Permanenz und Wandlungsfähigkeit; dem individuellen Charakter der Prägnanz; der Morphologie und Genesis; der Synthesis des Mannigfaltigen; der Unableitbarkeit bzw. des Kausalproblems; und der emotionalen Sprache – siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 127 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–418. 122 123

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Die Biologie, so stellt er 1942 fest, »hat den Zustand der bloßen Deskription und Klassifi kation der Naturformen überschritten und ist zu einer echten Theorie der organischen Formen geworden.«128 Alle Wissenschaften, die es im Unterschied bzw. im Gegensatz zu den kausalen Gesetzeswissenschaften mit den Begriffen Form, Gestalt, System, Stil und Ordnung zu tun haben, oder die wenigstens Formprobleme einschließen, müssen methodisch auf eine »rein statische Form-Analyse« zurückgreifen, die letztlich durch die kontemplative ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vollzogen und bereitgestellt wird. Das sind für Cassirer, wie gesagt, in erster Linie die Kulturwissenschaften, aber auch die Biologie und die Geschichtswissenschaft. Letztere betreibt zudem noch die notwendig ergänzende historische Formbetrachtung (»Geschichte der Form«), derer sich wiederum die Kulturwissenschaften bedienen (Geschichte der Sprachform etc.). Die Aufmerksamkeit für das »objektive Reich der Formen«129 in Kultur, Historie und Biologie und die Beschäftigung mit dem Formproblem in den Wissenschaften läßt Cassirer erneut über die Aktualität von Goethes vergleichender Morphologie als einer Gestalt- und Formenlehre nachdenken. Eine der klarsten und bestimmtesten Formulierungen dazu findet sich im nachgelassenen Manuskript »Geschichte«. Überall, so die These, wo mit Stilbegriffen etc. gearbeitet wird, »können wir […] den Begriff der Morphologie aufnehmen, wie es uns aus dem Kreise der Naturwissenschaften vertraut ist. / Dies ist im Anschluß an Goethe von Spengler geschehen – / In der Biologie erscheint die Morphologie als eine selbständige Grundwissenschaft ,130 die in der blossen ›Entwicklungsgeschichte‹ nicht aufgeht / – ohne die vielmehr die Entwicklungsgeschichte selbst nicht durchführbar wäre«.131

E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 391. 129 E. Cassirer, Geschichte. Mythos, in: ECN 3, a. a. O., 51. 130 Unter Morphologie der Biologie bzw. morphologischer ›Form‹ der Gattung versteht Cassirer offenbar die Lehre vom funktionalen Bau (d. h. von den Funktionen), von der Gliederung des gattungsspezifischen Organismus nach Funktionen, ›verkörpert‹ in den Organen. Die »allgemeinen [morphologischen – C.M.] Formgesetze« der Tier-Gattung determinieren den »körperlichen ›Bauplan‹« (die Organe und Funktionen) eines jeden Exemplars, binden es in seine jeweilige Merk- und Umwelt ein. Als Exemplar seiner Spezies ›drückt‹ das einzelne Tier die »morphologische Form« der Gattung »und den durch diese Form vorgeschriebenen ›Bauplan‹« ›aus‹, den es als Exemplar nicht verändern, erweitern, verlassen kann – E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 135. 131 E. Cassirer, Geschichte. Mythos, in: ECN 3, a. a. O., 232. 128

Formenschau, Formenwandel und Formenlehre

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Diese in der Biologie heimisch gewordene morphologische Methode sei nun, so Cassirer, auch auf die Kulturwissenschaften zu übertragen, denn »auch sie bedürfen durchaus des morphologischen Unterbaus«, und dies nicht zuletzt deshalb, weil das Kulturphänomen als ein ideelles »Werden zum Sinn« zu verstehen ist.132 »Morphologische Begriffe« (Wesensbegriffe, Gestaltbegriffe) erweisen sich folglich als solche, die in den Kulturwissenschaften wie in der Historie, aber auch »schon in der Biologie unentbehrlich« sind.133 Morphologische Erkenntnis, hier verstanden als vergleichende Form-Analyse, gilt Cassirer als ein begriffliches, theoretisches Erfassen der jeweiligen Form, im Gegensatz zu ihrem physiognomischen, intuitiven Erleben, das von Spengler bevorzugt wird.134 Außerdem dürfe und könne die »Eigenart der morphologischen Probleme« in den Kulturwissenschaften weder durch irgendwelche substantiellen ›Kräfte‹, ›Kulturseelen‹ noch durch Kausalgesetze erklärt werden.135 Hieran schließen sich morphologische Untersuchungen an, die Fragen aus der Biologie mit Fragen in der Kulturwissenschaft verbinden. So erfahre sich das einzelne menschliche Individuum – wie auch das tierische – hinsichtlich seiner biologischen »körperlich-morphologischen Struktur« oder seiner »körperlichen Form« als in sie eingeschlossen, erlebe es ihre Unveränderbarkeit durch den Einzelnen. Diese Strenge und Bestimmtheit der körperlich-morphologischen Struktur gilt, so vermutet Cassirer, auch für die kulturelle »Welt von [symbolischen – C.M.] Formen«, die das Individuum nicht willentlich, bewußt erfindet, sondern in die es »hineingeboren« wird.136 Aber »im Gebrauch« verändere das menschliche Individuum diese allgemeine geistige Form der Kultur, die Cassirer – wie bereits dargestellt – als eine »lebendige« Form betrachtet. Auch der Begriff der Metamorphose, der die Dynamik des Werdens, der »Bildung und Umbildung der Gestalten« genial zum Ausdruck bringe, dient Cassirer in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als »Schlüssel nicht nur für das organische Sein, sondern auch für das Sein der Kultur.«137 Allerdings hatte er schon in Freiheit und Form (1916) festgehalten, daß Goethe den Gedanken der Metamorphose vom Leben der Natur auch auf das

E. Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 12. 133 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 157. 134 E. Cassirer, Geschichte. Mythos, in: ECN 3, a. a. O., 233. 135 Ebd., 163. 136 Ebd., 135 f. 137 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 173. 132

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

»Leben des Geistes«, auf das »Urphänomen des Tuns« übertrage,138 und dagegen keine Einwände erhoben. Für die Formwissenschaften, bzw. für die Wissenschaften mit Formproblemen, reklamiert er nun zudem das von Goethe auf Grund seiner nicht- oder anti-induktionistischen Naturbetrachtung entwickelte Verfahren, »zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen […] nicht das Verhältnis der logischen Subsumption, sondern das Verhältnis der ideellen oder ›symbolischen‹ Repräsentation« zu suchen.139 Die von Cassirer geforderte und, wie er meint, in seiner Philosophie in Angriff genommene »Phänomenologie der Formen« der Kultur betreibt nicht nur systematische Form-Analyse, sondern stellt auch Formübergänge, d. h. Umbildungen, Metamorphosen von Formen fest, dabei fragt sie allerdings nicht nach deren Ursprung.140 Der Philosoph der Formbetrachtung sieht in dem Charakter der Kulturformen, eine Fülle neuer, einander ähnlicher Gestalten »aus sich hervorgehen zu lassen«, etwas »Gemeinsames mit der Welt des Organischen: die Metamorphose«.141 Wenn er sich die Beweglichkeit der Form, die Goethe für die organischen Wesen dargetan hat, auch an den geistig-kulturellen Formen entfalten sieht, dann ist damit gemeint, daß die allgemeinen, starr scheinenden Formen »immer wieder in diesen Schmelztiegel des […] Gestaltens, Umformens zurückgeworfen« werden.142 In diesem Sinne ist auch die Form in Kultur und Geschichte »›geprägte Form‹ […], die lebend sich entwickelt«, ist sie die Form, »die sich ständig um- und weiterentwickelt«.143 Die kulturellen Formen zeichnen sich bei Cassirer durch das bereits erwähnte Paradox von Permanenz und Fortwirkung aus, was ihre »SelbstEntfaltung« bzw. Umbildung ermöglicht.144 Obwohl der Lebensausdruck im objektiven Formgebilde »erstarrt«, tragen diese »›erstarrten‹ Gebilde« weiterhin ein »eigentümliches ›Leben‹« in sich, besitzen sie das metamorphosische Vermögen, eine Füller neuer, einander ähnlicher Gestalten »aus sich hervorgehen zu lassen«. In der Lebendigkeit der Form und in der Metamorphose der Formgestalten zeige sich auch

E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 256. E. Cassirer, EP, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 169. 140 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), 97 f. 141 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 127. 142 Ebd., 139. 143 Ebd., 128, 134. 144 Ebd., 126. 138 139

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»das Analogon, das immer wieder zu einem Vergleich der Kulturobjekte mit Objekten der organischen Natur geführt hat – / Diese Fähigkeit zur Permanenz der Form und zur Entwicklung der Form ist beiden gemein«.145

Allerdings legt Cassirer großen Wert auf die methodologische Einschränkung, wonach »die Kulturformen […] ›Organismen‹ nur im Als-Ob Sinne« sind, und nicht im buchstäblichen Sinne. Das unmittelbare Übertragen biologischer Termini bzw. Charakteristika auf kulturelle und geistige Sachverhalte lehnt er ab. Wandlungsfähigkeit der Form und ihre Permanenz sind die »beiden entgegengesetzten und einander in dieser Entgegensetzung zugeordneten Pole des gesamten Kulturprozesses.«146 Die einzelnen Formen lassen sich dabei auf »gewisse ›Urgestalten‹, ›Grundformen‹« zurückführen, auf die symbolischen Formen der Kultur. Von denen habe die Philosophie zu zeigen, wie sie »generell zu definieren sind«, die Kulturwissenschaft aber, »wie sie sich empirisch entfalten«.147 Das Formgesetz der Kultur, der in allen Grundformen auftretende »Rhythmus der Um- und Fortbildung«, lasse sich nämlich »nicht abstrakt formulieren«, sondern nur empirisch aufweisen. Nachdem die Kulturwissenschaft sich – mit Hilfe der Philosophie – des »objektiven Inventars der Kulturformen versichert« hat, geht sie mit Hilfe der Kulturgeschichtsschreibung daran, »uns das ganze reiche Gebiet« der jeweiligen Form »im weitesten Sinn« zu erschließen, indem sie »Vergangenes unmittelbar ›sichtbar‹« macht.148 Wenn die Form- bzw. Gestaltbegriffe der Kultur also »mitten in das historische Werden gestellt, an diesem erkannt und beglaubigt werden« müssen,149 dann führt dies Historiker und Kulturwissenschaftler, ebenso wie den Philosophen der Kultur, immer wieder auf Goethes Ideen der Metamorphose und des morphologischen Vergleichens zurück.

145 146 147 148 149

Ebd., 127. Ebd., 128. Ebd., 129. Ebd., 132. Ebd., 134, 143.

›Lebendige Formen‹ Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹ 1. Vielfalt der Sinnordnungen und Weisen von Objektivität Nachdem das philosophische Schaffen Ernst Cassirers in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dem Generalthema ›Funktionsbegriff statt Substanzbegriff‹ verpflichtet gewesen war, ist es in den 20er Jahren mit der Ausführung des innovativen Konzeptes einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ kulturellen Lebens befaßt. Neben den Untersuchungen zu jeweils einer ›Phänomenologie‹ der Sprachform, der Form des mythischen Denkens und der Form naturwissenschaftlicher Erkenntnis werden in vielen Aufsätzen und Vorträgen zentrale Begriffe wie symbolische Form oder symbolische Prägnanz entwickelt.1 Das philosophische Grundproblem jener Zeit – das Verhältnis von Leben und Form –, das Cassirer fest im Blick hat, erfährt eine Lösung, die jegliche Antinomie vermeidet: »Für die Philosophie […] kann […] niemals das Leben selbst, vor und außerhalb aller Geformtheit, das Ziel und die Sehnsucht der Betrachtung bilden: sondern für sie bilden Leben und Form eine untrennbare Einheit.«2 Und dies bedeutet umgekehrt auch, daß keine Form an sich selbst, vor und jenseits von Lebendigkeit anzunehmen ist. »Diese Einheit […] von Leben und Form macht […] den eigentlichen Begriff des Geistes, sein ›Wesen‹ aus.«3 Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die die »Urtatsache des […] ›Lebens‹« bzw. das »Urphänomen des Lebens selbst«, in »seinem Bestand und in seiner vollständigen Entfaltung« darzustellen sucht, 4 kann auch als eine Phänomenologie der lebendigen Formen bzw. des geformten Lebens entziffert werden. Ungefähr seit 1925 ringt Cassirer darum, die Ausdrucksfunktion bzw. die Ausdruckswahrnehmung sozusagen als ›Schlußstein‹ seiner Philosophie Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564, und »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565– 590. 2 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22),« in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften. (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 75–104, 104; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Geist und Leben in der Philosophie Cassirers«, 105–125. 3 E. Cassirer, »Symbolbegriff : Metaphysik des Symbolischen«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke und O. Schwemmer, Hamburg 1995, 267. 4 Ebd., 263. 1

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

einzufügen.5 Der Mensch als kulturschaffendes Lebewesen wird nunmehr als dasjenige gefaßt, »was ausdrucksmäßig als ›Person‹ […] bestimmt ist.«6 Damit scheint Cassirers Philosophie im Grunde ihre endgültige Form erlangt zu haben. Doch in den außerordentlich produktiven 30er Jahren, vor allem in ihrer zweiten Hälfte, die er in der schwedischen Emigration verbringt, arbeitet Cassirer intensiv an einer Vertiefung, Neubegründung und Fortführung seiner Philosophie. An philosophisch Neuem sind neben den Versuchen über eine wechselseitige Begründung von symboltheoretischer Kulturphilosophie und philosophischer Anthropologie 7 vor allem seine Theorie der drei ›Basisphänomene‹ der Weltwahrnehmung und die sich daran anschließenden wissenschaftsphilosophischen Entwürfe zu nennen. 8 Die Wahrnehmung als die »Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene«9 werde konstituiert durch ein monadisches, ein personifizierend-verstehendbewirkendes und ein versachlichend-kontemplatives Basisphänomen. Im Zentrum der Überlegungen zur Wissenschaft steht die Theorie einer eigenen ›Logik‹ (d. h. Weise von Objektivität) der Kulturwissenschaften, die Cassirer in den miteinander verzahnten Konzepten von ursprünglicher Ausdrucksfunktion und ›Formwissenschaft‹ fundiert glaubt. Die Begründung der Grundunterscheidung zweier Wissenschaftslogiken wird im phänomenologischen ›Bestand‹ der Wahrnehmung aufgewiesen: in ihrer personifi zierend-ausdruckverstehenden und in ihrer versachlichenden Auffassungs- bzw. Intentionalitätsrichtung. Beide Richtungen, so Cassirer, treten immer weiter auseinander und verselbständigen sich. Das ›Urphänomen‹ der Versachlichung (d r i t t e s Basisphänomen) gilt ihm als Strukturmerkmal der Kausalwissenschaft und ihrer Dingauffassung, das ›Urphänomen‹ des Ausdrucksverstehens (z w e i t e s Basisphänomen) als Strukturmerkmal der Kulturwissenschaft und ihrer Werkauffassung. Soweit sich deren Logik Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt«, 91–104. 6 E. Cassirer, »Ethik«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, Hrsg. von K.Ch. Köhnke, H. Kopp-Oberstbrink und R. Kramme, Hamburg 2002, 196. 7 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324. 8 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310, und »›Basisphänomene‹. Eine Synthese von Goethes ›Urphänomenen‹ und Carnaps ›Basis‹ der Konstitutionssysteme«, 345–366. 9 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 357–490, 395. 5

›Lebendige Formen‹

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als auf den Formbegriff orientiert erweist, greift Cassirer allerdings argumentativ hier ebenfalls auf das d r i t t e Basisphänomen als einer objektiven ›Werk‹-Konstitution zurück. Die Theorie der Basisphänomene erscheint damit ebensowenig aus einem Guß zu sein wie die auf ihr ruhende Wissenschaftsphilosophie. Der Begriff der Formwissenschaft findet außerdem methodisch Anwendung auf die Historie und auf die Biologie als deskriptiver Naturwissenschaft. Unter dem nachfolgenden Gliederungspunkt soll ein resümierender Blick auf den Begriff der Form als ›lebendiger Form‹ geworfen werden. Cassirers wissenschaftsphilosophische Position läßt sich auf den Punkt gebracht wie folgt umschreiben: er zweifelt niemals an der Bedeutung und der Richtigkeit des Kausalprinzips für den Typus der theoretischen Naturwissenschaften als Gesetzeswissenschaften, polemisiert aber gegen die Reduktion von Wissenschaft lichkeit und Objektivität auf diesen e i n e n Typus. Dies wird klar ausgesprochen, als er 1936/37 einen Beitrag über sein Verhältnis zur Philosophie des ›Wiener Kreises‹ vorbereitet. Cassirer positioniert sich in diesen Überlegungen gegen die vom Wiener Kreis favorisierte Einheitswissenschaft, die einzig und allein die physikalische Weise der Objektivität anerkennt und jegliches Wirklichkeitserleben auf diese zurückzuführen bestrebt ist. Demgegenüber besteht er darauf, daß »der ›Sinn‹ irgendwelcher Aussagen« durch eine Vielzahl von »System[en] von Kategorien bestimmt wird.«10 Fehlender physikalischer Sinn bedeute keineswegs Sinnlosigkeit der Aussagen ›an sich‹. Neben dem »mathematischphysikalischen Kausalbegriff« gebe es auch eine eigenständige biologische, historische und kulturwissenschaft liche Erkenntnis, was jeweils eigene Sinnordnungen impliziert.11 Dennoch hält Cassirer grundsätzlich an der Vorstellung der Einheit aller Wissenschaften fest, die in Gemeinsamkeiten wie dem Objektivitätsanspruch, der Zuordnung von Besonderem und Allgemeinem oder der Verschränkung von Kausal- und Formproblemen zum Ausdruck komme.12 Vor diesem Hintergrund ist es nachzuvollziebar, daß Cassirer in den 30er Jahren wissenschaftsphilosophisch sozusagen an zwei Fronten kämpft. So verteidigt er 1936 in seinem Werk Determinismus und Indeterminismus das Gelten des Kausalitätsprinzips auch in der modernen Physik (Quantenmechanik), aus deren Entwicklung man einen physikalischen Indeterminismus ableitete, der das Kausalproblem habe obsolet werden lassen. Er setzt E. Cassirer, »Ethik«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 196. E. Cassirer, »Kategorienlehre«, in: ebd., 241. 12 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 325–344. 10 11

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dem entgegen, daß die jeweilige Form der Kausalität und der jeweilige naturwissenschaft liche Objektbegriff in Wechselwirkung stünden und sich miteinander ändern können.13 So ordne die moderne funktionalistische Betrachtungsweise den »Gesetzesbegriff […] dem Gegenstandsbegriff vor[…], während er ihm früher nachgeordnet und untergeordnet war.«14 Außerdem sei durch die Quantentheorie das früher unlösbar scheinende Band zwischen »dem Kausalbegriff und dem Kontinuitätsprinzip« zwar aufgelöst worden, wodurch aber das Kausalprinzip nicht aufgehoben werde.15 Auch unter den Bedingungen der modernen Quantentheorie gelte weiter, daß physikalische Urteile bzw. Aussagen zunächst als individuelle »Maßaussagen« auftreten, aus denen sich dann allgemeine »Gesetzesaussagen« (Quantengesetz) ableiten, die schließlich zu universellen Prinzipien als einem neuen Typus physikalischer Erkenntnisse (Quantenprinzip) vereinigt werden.16 An der Spitze dieses Stufenmodells stehe weiterhin das »Prinzip der Kausalität« als einer neuen methodischen Einsicht, die inhaltlich über das bereits Gewonnene nicht hinausgeht.17 In Wirklichkeit habe Niels Bohr nicht »die Gültigkeit des Kausalbegriffs als solchem« bestritten, sondern nur die Möglichkeit, weiterhin »die Kausalbeschreibung der Phänomene direkt an die raumzeitliche Beschreibung zu binden.« Ähnliches gelte letztlich für Heisenberg.18 Interessant ist, daß Cassirer, wenn er vom System der physikalischen Erkenntnis und seiner Struktur spricht, anmahnt, diese Struktur unbedingt als »beweglich zu denken«, als auf Plastizität und Bildsamkeit beruhend. Außerdem deutet er in seinem Werk über die physikalische Kausalität die physikalische Theorie als eine »lebendige Form«.19 Die zweite philosophische Kampfl inie in den 30er Jahren bringt das Konzept ›Formwissenschaft‹ gegen die Alleinvertretungsansprüche der ›Gesetzeswissenschaft‹ (Kausalität) ebenso in Stellung, wie gegen die Fehldeutung aller Wissenschaften jenseits der Naturwissenschaft als ausschließlich individualisierend-historischer oder axiologischer Erkenntnis. Dabei wird der Begriff der Formwissenschaft bei Cassirer sowohl auf das historische Leben und die Historie als Wissenschaft als auch auf das kulturellgeistige Leben und die sich etablierenden Kulturwissenschaften angewandt. E. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem (1936), in: ECW 19, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2004, 13. 14 Ebd., 159. 15 Ebd., 193, 195. 16 Ebd., 40, 49, 55, 59. 17 Ebd., 69, 74. 18 Ebd., 139, 147 ff. 19 Ebd., 91. 13

›Lebendige Formen‹

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Die methodologischen Überlegungen beider Richtungen nehmen auch das vegetative Leben und damit die Biologie als Formwissenschaft in den Blick. Sie gilt Cassirer nicht nur als Analogon beider Betrachtungsweisen, sondern zudem als Prototyp einer Verschränkung von formwissenschaft licher und kausalwissenschaftlicher Betrachtungsweise, worauf am Ende noch einmal eingegangen wird. Die Assoziation von Zusammengehörigkeit, die sich bei den Termini ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und ›Formwissenschaft‹ einstellt, ist keineswegs zufällig oder unbeabsichtigt. Vielmehr zeigt sich gerade an diesem Typus von Wissenschaft, daß sie ohne die ideellen Formen der Philosophie orientierungslos bliebe, während die Philosophie in dem empirischen Material der Formwissenschaften wiederum ihr Material für die Formenschau fi ndet. Und diese Beschäftigung mit den ideellen Formen spielt sich in drei großen Koordinatensystemen ab, die gemeinsame Schnittmengen besitzen oder die sich als unterschiedliche Dimensionen des Formlebens erweisen: in denen der Natur, der Kultur und der Geschichte. Gelegentlich spricht Cassirer auch vom sozialen Leben als einem eigenen Formensystem.

2. Der Formbegriff im Konzept der Formwissenschaften Der Begriff der Form, der zweifellos d i e zentrale Kategorie in Cassirers gesamter Philosophie ist, 20 versteht sie sich doch als Formenlehre, als ›Morphologie‹ der Kultur, wird – trotz mancher Anläufe – nirgends systematisch aufgebaut und entwickelt. Sicher ist nur, daß der Philosoph ihn in das die ganze Philosophiegeschichte durchziehende Formproblem gestellt wissen will. Welche Rückschlüsse erlaubt sein Konzept der Formwissenschaft auf diesen Schlüsselbegriff? Als Vorgriff und Einstimmung auf die nachfolgenden Ausführungen lassen sich fünf Aspekte nennen. E r s t e n s . Der Formbegriff, der uns in Cassirers wissenschaftsphilosophischen Überlegungen entgegen tritt, besitzt eine holistische Dimension und steht für Struktur bzw. System, welche als Ganzheiten Charakter und Bedeutung ihrer Elemente prägen. Dies nennt Cassirer an anderer Stelle ebenfalls ›Prägnanz‹ der Form. Diesen eigenständigen und eigentümlichen »Wenn es überhaupt einen Begriff gibt, in dem man eine Gesamtsicht der Cassirerschen Philosophie fassen will, dann ist es der Begriff der Form – und zwar in seinem dynamischen Sinne als ›Werden zur Form‹, als Gestalten zur Form oder als das sich selbst eine Form Geben. Formwerden und Formgebung sind der Mittelpunkt des Cassirerschen Denkens.« – O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 122. 20

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Strukturen ist jeweils ein »inneres Gefüge«21 bzw. ein Strukturgesetz immanent, jeder Form eignet ein bestimmtes Formprinzip, das die Richtung ihrer Wirkung, ihrer Darstellung, Repräsentation und Symbolisierung im und durch das konkrete Werk der Kultur, in und durch die konkrete biologische – oder historische – »Lebensform« vorgibt. Da Richtung eine bestimmte Sinngebung meint, in der und von der alle ihr zugeordneten Einzelphänomene ihren Sinn erfahren, und dabei gleichzeitig das Sinnganze repräsentieren, wäre Sinnordnung ein weiteres Synonym für Form. In diesem Zusammenhang qualifiziert Cassirer die Formen der Kultur auch als Weisen der »Motivierung« im symbolischen Tun des Menschen und als eigentümliche »Organe«, eine Welt zu »sehen« und zu »bilden«. 22 Das jeweilige Strukturgesetz der Form »färbt« außerdem auf Kategorien »ab«, die – wie die des Raumes – in mehreren Sinnordnungen ihre Funktion entfalten und dabei unterschiedliche Bedeutungen (Synthesefunktionen) erlangen. 23 Den Grundformen der Kultur korrelieren nach Cassirer zudem Funktionen des menschlichen Geistes, seine »Energien«, die sich in den Formen verwirklichen, entfalten, Sinnwelten, Sinnstrukturen »aufbauen«. Der Philosoph wird sich in einem Vortrag 1945 über die moderne Linguistik quasi zum Strukturalismus als »the expression of a general tendency of thought« bekennen.24 Z w e i t e n s . In ontologischem Sinne sind Formen ideelle Gebilde und führen keine eigene, gesonderte Existenz. Als Formen der Kultur oder Geschichte müssen sie vom Menschen, damit sie ihm während seiner bildenden Tätigkeit zur Verfügungen stehen können, »entdeckt« oder »erfunden« werden, müssen sich in seinen Werken und Lebensverhältnissen »verkörpern«, »objektivieren«, um danach als bleibende nicht mehr aus der Welt zu verschwinden.25 Dieses ›Erfinden‹ der Formen meint kein bewußt-willentliches Hervorbringen, »wie es bei Taten oder auch bei Normen und Institutionen der Fall ist«. 26 Sie sind für den Philosophen und Kulturwissenschaftler auch nur in diesen Verkörperungen aufzufinden und zu beschreiben, um anschließend einer reinen Formen-Analyse unterzogen E. Cassirer, »›Form‹«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 221. E. Cassirer, »Mythos«, in: ebd., 188, E. Cassirer, »›Form‹«, in: ebd., 221. 23 E. Cassirer, »Ethik«, in: ebd., 200. 24 E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anmerkungen bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 299–320, hier 320; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Mythisch-magisches Denken als Kulturform und Symbolisierungsleistung. Eine vergleichbare Fragestellung bei Cassirer und Lévi-Strauss«, 607–630. 25 E. Cassirer, »›Form‹«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 206. 26 Ebd., 220. 21

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werden zu können. In Geschichte und Kultur finden wir Zusammenhänge von reiner Form und Form in historischer, nationaler etc. Konkretion, Besonderung vor. Gleichzeitig haben wir es mit einer Stufung oder Vielzahl von Formen zu tun. Auch bilden die Formen selbst ein Ensemble, eine Totalität, eine Ordnung, die sowohl als reine wie auch als in historischer etc. Besonderung zu erfassen ist. In Natur, Gesellschaft und Kultur umfaßt eine konkrete ›Lebensordnung‹ eine Vielzahl einander korrelierender ›Lebensformen‹. Formen sind nicht einzeln, isoliert voneinander zu erkennen: Formen »reflektieren sich ineinander« und werden »durch einander erkannt«.27 D r i t t e n s . Die Form eines kulturellen, historischen oder natürlichen Sinngefüges ist bei Cassirer grundsätzlich eine ›lebendige Form‹. Was bedeutet diese immer wieder verwendete Auszeichnung der Form durch ihre Lebendigkeit, ist sie doch kein Lebewesen? Um das Überwinden der organischen Schranken des Menschen durch und in den Formen, in die er sein »Wirken […] verwandelt«, zu betonen, nennt Cassirer sie sogar ›anorganische‹ Formen.28 Offenbar bedeutet ›lebendig‹ ein Mehrfaches, mindestens vier Sinne drängen sich aus den ausgewerteten Texten auf. Eine Bedeutung meint die Spontaneität der Form, ihr aktives Gestalten und Organisieren des jeweiliges Stoffes, Gehaltes.29 Ein weiteres, zweites Moment von lebendiger Form sieht Cassirer in ihrem unauflösbaren Bezug zur Ausdrucksfunktion: alles Lebendige drückt sich in Geformtem aus und das, was wir verstehen, verstehen wir als das geformt Ausgedrückte eines anderen Lebens. Eine dritte, sehr wichtige Bedeutung, steht für das paradoxe Verhältnis von Bestand, Beharrendem, »Starrheit«, »Ewigkeit« (Identität) der Form und ihrer »Beweglichkeit«, Veränderlichkeit, Wandlungsfähigkeit. Die »gewissen, relativ-gleichbleibenden Formen« gebären sich ununterbrochen in immerzu »neuer Gestalt«.30 Bei der Wandlungsfähigkeit unterscheidet Cassirer organisches Werden, d. h. bloßen »organischen Wandel« des »bloß-organischen Seins« vom geschichtlichen Werden, d. h. vom »Bedeutungs-Wandel« in der Kultur31. Damit plädiert er für einen »›dynamischen‹ Formbegriff«, wonach die Formen »in keinem Moment sich selbst gleich[en]«, sondern ›flüssig‹ werden, »ohne in dieser Flüssigkeit zu E. Cassirer, »Geschichte«, in: ebd., 67. E. Cassirer, »›Form‹«, in: ebd., 206 f. 29 E. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ECW 19, a. a. O., 91. 30 E. Cassirer, »Geschichte«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 74; E. Cassirer, »›Form‹«, in: ebd., 207 ff. 31 Ebd., 208. 27

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›verschwimmen‹«.32 Diese Eigenschaft charakterisiert sie als »bleibende ›Gestalten‹« mit »›lebendigen‹« Zügen, »als werdend und wachsend, sich bildend und umbildend«, als ihr Sein in der Geschichte habend. Das in jeder Form Beharrende nennt Cassirer auch ihr Moment der »Permanenz«,33 das aber ihrer Wandelbarkeit keine endgültige Grenze setze. Die kulturellen Formen befinden sich durch das in ihnen Schaffen und Bilden der Individuen, was sie permanent wandelt und umbildet, in einem beständigen »Werden zur Form«.34 Und schließlich meint lebendige Form viertens den von Cassirer – im Anschluß an Goethe und Hegel – vorausgesetzten Tatbestand einer ideellen Wandlung, Genesis, die systemimmanente Stufen durchläuft, was gleichzeitig einen Formwandel (Metamorphose) bedeutet. Überhaupt denkt Cassirer in strukturellen Stufenmodellen,35 die er nicht zuletzt Goethe und Hegel entlehnt: so in den Strukturen Ausdruck-Darstellung-Bedeutung; Wahrnehmung-Anschauung-Denken; Mythos-Sprache-Wissenschaft, aber auch Nachahmung-Manier-Stil. etc. Das Strukturgesetz bzw. das Formprinzip regulieren dabei den inneren Formwandel und den äußeren Gestaltwandel.36 Alle Entwicklung einer Form könne nur i m Kreise ihres ideellen Seins aufgewiesen werden, nicht aber die Entstehung dieses Kreises a u s einem anderen Kreis des Seins erklären. F ü n f t e n s . Es fällt außerdem auf, daß für Cassirer jegliche analytische Erforschung der Formen durch reine Kontemplation erfolgen muß und keineswegs auf Wollen und Wirken zielen darf. Die »reine Kontemplation der ›Formenfülle‹« habe sich von allen Aspekten der »bloßen Aktion« (Wollen/Willen und Wirkung) fernzuhalten, aber eben auch von theoretischer Erklärung. In die »Welt der Formen« müssen wir uns »schauend versenken, um ihren Reichtum, ihre Fülle, ihren Sinn zu verstehen«.37 Selbst in Sprach- und Kunstgeschichte betreibe der Form-Historiker vor allem kontemplative »Sichtbarmachung vergangener Formwelten«. Anderenorts Ebd., 223 f. E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge. 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 127. 34 Ebd., 192. 35 E. Cassirer, »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 262. 36 Zum Strukturbegriff Cassirers siehe im vorliegenden Band die Beiträge »›Philosophie der symbolischen Strukturen‹. Zu einigen begriffl ichen Parallelen bei Cassirer und Lévi–Strauss«, 631–654, und »System und Struktur. Eine Begriff sbeziehung bei Cassirer«, 655–702. 37 E. Cassirer, »›Form‹«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 219, 221. 32 33

›Lebendige Formen‹

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nennt Cassirer diese reine Kontemplation die ›Wendung zur Idee‹, die »die Synthese von Theorie und Praxis« enthalte.38

3. Form, Formanalyse, Formwissenschaft a. Geschichtsbetrachtung Wenden wir uns zunächst den in ECN 3 abgedruckten nachgelassenen Entwürfen aus den 30er Jahren zu, die die eigenständige Weise der SinnBetrachtung durch die »historische Erkenntnis« aufdecken sollen. Wenn Cassirer darauf verweist, daß das Eigentümliche der historischen Erkenntnis nicht in einer besonderen »logical structure of historical thought« zu suchen sei,39 dann richtet sich dies gegen die Versuche, der Logik der naturwissenschaftlichen Begriffbildung eine eigene, nicht-reduzierbare »special logic of history« (Windelband, Rickert) gegenüberzustellen. 40 Diesen Platz dürfe allein eine Logik der kulturwissenschaft lichen Begriffsbildung besetzen. Alle übrigen Typen der Wissenschaft setzen sich aus unterschiedlich proportionierten Relationen beider Betrachtungsweisen zusammen. Die Manuskripte der 30er Jahre verfolgen einen breiten, systematischen Ansatz. Danach rekonstruiert und versteht der Geschichtsschreiber das »historische Leben«, das sich in Monumenten und Dokumenten niederschlägt, in den drei Dimensionen der Weltwahrnehmung, die die Konstitutionsrichtungen der drei Ur- oder Basisphänomene realisieren: Dabei kommen AutoBiographie, politische Geschichte und Werk- bzw. Formgeschichte heraus.41 Auf die ersten beiden Weisen, Geschichte zu schreiben, kann und soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ich beschränke mich auf die dritte Weise, die darauf fußt, daß die urphänomenale, nicht reduzierbare und nicht ableitbare Werk-Wahrnehmungsrichtung eine Welt der objektiven Formen eröffnet, wodurch ein Werk der Kultur als einer Sinnordnung bzw. einer bestimmten Stilrichtung etc. zugehörig entschlüsselt werden kann. Dem Historiker stellt sich hier die Aufgabe, Werk-Geschichte als FormGeschichte zu betreiben. Dies bedeute, sowohl die einzelnen historischen Monumente, die eine ›ewige‹ Form auf individuelle Weise ausdrücken, zu E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik des symbolischen Formen, a. a. O., 191. 39 E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), New Haven 1947, 177 (= ECW 23, 191). 40 Ebd., 186 (= ECW 23, 200). 41 E. Cassirer, »Geschichte«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 3, 14 ff. 38

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

enträtseln, als auch die Geschichte ganzer Kultur- und Sinnformen zu beschreiben und zu deuten, also Sprachgeschichte, Kunstgeschichte etc. zu schreiben. Cassirer charakterisiert die Formen, mit deren Geschichte bzw. mit deren einzelnen Verkörperungen es der Historiker – auf individuelle Weise – zu tun hat, als Ganzheiten, Gestalten und Strukturen. Damit der Historiker »bestimmte Formwelten«, also die Sphären der Kultur und ihre Strukturen »entdecken« kann, muß er sich der reinen Form-Analyse des Kulturwissenschaftlers und des Philosophen bedienen bzw. versichern. Die vergangenen »›wirklichen‹ Lebensformen« erfahren so ihren Sinn, ihre Verstehbarkeit aus der jeweiligen Formwelt, in die sie gehören. Zu den Formwelten gelangt man durch die verschiedenen »Organe des Sehens«, die jeweils ein anderes Universum der Kultur erstehen lassen. 42 Diese Vielfalt des sinnerschließenden ›Sehens‹ vollzieht der Historiker auch innerhalb einer Form oder Formwelt, so der der Kunst, was ihn eine Vielzahl von Kunststilen entdecken und verfolgen läßt. Die Werk-Geschichte als »Kulturgeschichte« hat das »Eigenleben«, die »eigene Entwicklung« jeder dieser Formen zu beachten und mit darzustellen. 43 Gleichzeitig habe sie die »Formbeziehungen« in den Blick zu nehmen. Dies kann sie auf zweierlei Weise tun: einmal mit Hilfe der der Marxschen und Weberschen Soziologie entstammenden, dabei nicht kausal aufgefaßten »Formenlehre der Geschichte« (»historische Formenlehre«), die insbesondere den »Korrelationen zwischen den Formen der Wirtschaft einerseits und den Formen des Rechts, des Staates – auch der Kunst und Wissenschaft« – nachspürt. 44 Die soziologische Formenlehre habe zudem zum Thema, wie die korrelativen Formen »jeweilig in einer bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung zusammengefaßt sind«. Eine solche Ordnung umschreibt Cassirer gelegentlich mit dem Dilthey entlehnten Terminus ›Lebensordnung‹. 45 Bei dieser Art Betrachtung des historischen Formengefüges habe die »kausale Frage, welches [in ihm – C.M.] das eigentlich ›begründende‹ Glied« sei, ganz zurückzutreten, da die »Formen […] sich in einander [reflektieren] und […] durch einander erkannt« werden. 46 Diese aus der soziologischen »Strukturlehre der Gesellschaft« hervorgehende Formlehre könne nicht zuletzt deshalb »als e i n e der ›Prinzipienwissenschaften‹ der Geschichte« angesetzt werden, weil auch die Historie Ebd., 31. Ebd., 58. 44 Ebd., 67. 45 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 55–74. 46 E. Cassirer, »Geschichte«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 67. 42 43

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im historischen Ablauf der Phänomene »gewisse, relativ-gleichbleibende Formen erkennen« wolle. 47 Aber auch die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ist nicht nur auf die statische Analyse einzelner Formen sondern zugleich »auf das Ineinandergreifen der Totalität der Formen gerichtet«,48 was dem Historiker Formbeziehungen an die Hand gibt. Darüber hinaus sieht Cassirer zwischen der historischen Erkenntnis und der analytischen Erkenntnis des Strukturgesetzes der einzelnen symbolischen Formen ein »doppelseitiges Verhältnis« bestehen. Einerseits kläre das historische Denken, indem es die symbolischen Formen »in ihrem Werden betrachtet«, den Philosophen darüber auf, was jede dieser Formen ist, erschließe es »ihre Wesensart, ihre spezifische Eigentümlichkeit«. Müsse doch die »rein statische [Form-]Analyse […] immer durch eine genetische [Betrachtung – C.M.] ergänzt werden«, die allerdings »die Wesens-Betrachtung (die Form-Analyse) nicht ersetzen und verdrängen« kann. 49 Damit verhindere die historische Betrachtung, daß die Strukturerkenntnis ausschließlich als »Betrachtung ›toter‹ (statischer) Formen« vonstatten geht. Vielmehr führe sie bis zu dem Punkt, wo wir in ihr das Leben der jeweiligen Form erfassen. Andererseits sind die »einzelnen symbolischen Formen, wenn wir sie […] in ihrer Ganzheit, die ›Bestand‹ und ›Veränderung‹ zugleich in sich schließt, erfassen, nun auch wieder die Organe, kraft deren uns historisches Leben in seinem ganzen Umfang und in seinen bewegenden Kräften, in seinen Ur-Motiven erst zugänglich wird[.] Jede dieser Formen führt uns […] zu einer Urschicht menschlichen Denkens, Fühlens, Wollens zurück[,] von wo aus wir das Ganze derjenigen menschlichen Bewegungen, Handlungen, Taten, die wir mit dem Namen ›Geschichte‹ bezeichnen, erst ganz verstehen können.«50

Damit erschließt die Philosophie die eigentliche »Motivierung menschlichen Handelns«, was wiederum den Gang der Geschichte auf »bestimmte universelle Strukturgesetze« beziehen läßt.51 Form-Analyse und Form-Geschichte greifen also ineinander. Das Verhältnis der Form-Analyse zur historischen Erkenntnis der Form sieht Cassirer folglich darin, »daß a) jede ›Form‹ ihre Geschichte hat und daß die Gesamtheit der Phänomene, in denen sie sich konkret darstellt, uns 47 48 49 50 51

Ebd., 74. E. Cassirer, »Mythos«, in: ebd., 183. Ebd., 175. Ebd., 176. Ebd., 177.

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

nicht anders denn im ›Werden‹, in geschichtlicher Entwicklung gegeben ist.«52 Und diese bedarf auch der Kausalbetrachtung. Gleichzeitig operiert b) die »rein statische [philosophische – C.M.] Form-Analyse« mit »ganz anderen Begriffen« – nämlich mit Stilbegriffen – als die historische Betrachtung, die es mit ›historischen‹ Begriffen zu tun hat. Die auch die kulturwissenschaft liche Betrachtung charakterisierenden Stilbegriffe, die »dauernde Tendenzen der Gestaltung« herausheben, machen es erforderlich, daß die Form-Analyse jeweils auf eine bestimmte »allgemeine SinnFunktion« (geistige Energie) zurückgeht,53 um die »Grundrichtung[en] symbolischer Formung, ›bildenden‹ Tuns überhaupt« zu erfassen. Bereits die Form-Geschichte erlaube es, sich partiell der »›reinen‹ Kontemplation« zu bedienen, die der »Welt der Formen« angemessen sei.54 Im Manuskript »Geschichte« finden sich auch schon einige Hinweise auf Parallelen bezüglich des Formbegriffs – und seines Kampfes mit dem Kausalbegriff, dem Zweckbegriff und dem substantiellen Formbegriff – in Geschichte und Biologie.55 So sei »die Unsicherheit über das Verhältnis / Ursache – Form – Zweck / […] für die Erkenntnistheorie der Biologie wie für die der Geschichte das eigentliche […] [Erkenntnis-]Hindernis.«56 Beide Erkenntnisweisen seien gehalten, »die Eigentümlichkeit ihres Formbegriffs (= Sinnbegriffs) [zu] erfassen [und] kraft desselben den einseitigen ›Kausalismus‹ (den Begriff der ›mechanischen‹ Kausalität) [zu] überwinden.«57

Die Kategorie Form sei in beiden Wissenschaften »als sui generis« zu erkennen bzw. anzuerkennen und »in ihrer Bedeutung (Funktion) der Kausalkategorie« gegenüberzustellen.58 Ohne »der Eigenart und dem Eigenrecht der Kategorie der Form« gerecht zu werden, sei »der Aufbau der biologischen wie der geschichtlichen Welt nicht vollziehbar.«59 Aber obwohl die Geschichte seit Ranke die »ideelle Denkweise«, die Goethe als erster in die Biologie eingeführt habe, anwende, und obwohl die Methode der Morphologie – im Anschluß an Goethe und Spengler – aus der Biologie in die

52 53 54 55 56 57 58 59

E. Cassirer, »›Form‹«, in: ebd., 232. E. Cassirer, »Mythos«, in: ebd., 177. E. Cassirer, »›Form‹«, in: ebd., 217. E. Cassirer, »Geschichte«, in: ebd., 68 f. Ebd., 126. Ebd., 126. Ebd., 126. E. Cassirer, »Kategorienlehre«, in: ebd., 242.

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geschichtliche Formbetrachtung übernommen worden sei, 60 differiere das Erkenntnisideal der »Welt der Geschichte« nicht nur erheblich von dem »der Mathematik und [dem] der mathematischen Naturwissenschaften«, sondern »auch von dem der biologischen Wissenschaften«. 61

b. Kulturwissenschaft als Formwissenschaft Die Kultur des Menschen ist, so Cassirer im Manuskript »Geschichte«, an die »Wirksamkeit der ›Form‹ gebunden«, weil sich in ihr kulturelles Wirken vollzieht und sich an ihr beständiges Umschaffen bewährt. 62 Der Mensch lebt sein Leben grundsätzlich »in dem allgemeinen Medium der Kulturformen«, ein Heraustreten aus ihnen ist ihm verwehrt. 63 Diese Formen sind Gegenstand – und Erkenntnismittel – sowohl der Kulturwissenschaft als auch der Kulturphilosophie. Das »Eigentümliche d[ies]er Formbegriffe«, die oft als Stilbegriffe auftreten, dürfe weder mit historischen Begriffen und Wertbegriffen (Windelband, Rickert) noch mit Gesetzesbegriffen konfundiert werden. 64 Die Kulturwissenschaft, so Cassirer 1942, zielt nicht auf »die Universalität der Gesetze« ab, aber ebensowenig auf »die Individualität der Tatsachen und Phänomene«. Was sie erkennen will, ist »die Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht«. 65 Die Göteborger Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), die der Einsicht folgt, daß der Zugang zur Welt der Kultur sich allein über den ihr »eigentümlichen Formbegriff« eröffne, 66 hebt mit der Feststellung an, daß sich der »allgemeine Formbegriff« für jeden Gegenstandsbereich der Welterfahrung besondert, also auch für den der Kultur. Den »Problem- und Gegenstandstypus« der Kultur charakterisiere ein eigener konstitutiver Auffassungsmodus, der, wie wir schon wissen, in der Ausdruckswahrnehmung im Unterschied zur Dingwahrnehmung seine Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–398. 61 E. Cassirer, »Geschichte«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 147. 62 E. Cassirer, »›Form‹«, in: ebd., 204, 209. 63 E. Cassirer, »Ethik«, in: ebd., 196 f. 64 Ebd., 231, 236. 65 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 434. 66 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 58. 60

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Basis hat. Aber auch die »Kulturform besondert sich in die Formen einzelner kultureller Bereiche wie Sprache oder Mythos. In jeder dieser Besonderungen enthält die Form ein qualitativ anderes Aufbauprinzip, Prinzip der Über- und Unterordnung. 67 Allerdings sind Kulturobjekte auch in die Welt der Naturobjekte »eingebettet«, »verkörpern« sie sich doch in Dokumenten, Monumenten, Denkmälern, weshalb sie gleichzeitig noch der kausalgesetzlichen Naturerkenntnis und der historischen Betrachtung unterliegen. Diese Erkenntnisweisen vermögen sie aber nicht zu erschöpfen bzw. ihren spezifischen Kultursinn zu erklären, was nur die kulturwissenschaft liche Formbetrachtung vermag. Für kulturellen Sinn sei charakteristisch, daß er symbolisch vermittelt ist und kein unmittelbares Dasein führt. 68 Kulturgegenstände »stellen etwas dar«, »bedeuten etwas«, »drücken etwas aus«, dies aber in individueller Prägung durch die psychische Konstitution des sie schaffenden – und rezipierenden – Menschen. In die Definition eines Kultur-›Werkes‹ nimmt Cassirer diese drei Aspekte auf: das ›Werk‹ ist charakterisiert durch die Dimensionen des »physischen Daseins«, das Darstellungsfunktion hat, die des »Gegenständlich-Dargestellten«, d. h. des dargestellten Sinns, und die des »Persönlich-Ausgedrückten«, der psychischen Eigenart des tätigen Darstellers. 69 Wenig später weist er noch zusätzlich auf das soziale Eigenleben des die Werke schaffenden Individuums als ebenfalls Kultursinn prägend hin. Wenn das Spezifische, das die Kulturwirklichkeit ausmacht, im Kulturobjekt angelegter ›Ausdruck von Bedeutung‹ ist, dann ist die Ausdruckswahrnehmung bzw. das Ausdrucksverstehen diejenige Funktion, die ihn »ursprünglich originär« erfaßt.70 Deshalb lautet eine der zentralen wissenschaftsphilosophischen Aussagen Cassirers: »Die Ausdruckswahrnehmung [ist der] natürliche Ausgangspunkt aller kulturwissenschaft lichen Forschung.«71 Sie bilde ihr Basisphänomen, während die Sinneswahrnehmung als Basisphänomen der Naturwissenschaft fungiert. Es sind die Form- und Stilbegriffe, die die Objektivation der Ausdruckswahrnehmung ermöglichen, vollziehen. Im Ausdruckserlebnis erfahren wir das einzelne Kulturobjekt als »›Repräsentant‹, Ausdruck eines Ganzen, das wir unmitEbd., 59, 63, 66. Ebd., 69. 69 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 400. 70 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 69. 71 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 168. 67

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telbar in ihm v e r g e g e nw ä r t i g e n .«72 Die Form, Stil- und Gestaltbegriffe geben jeweils an, wie Einzelphänomene bestimmten Formen bzw. Gestalten zugeordnet werden. Die »gesamte Kulturwissenschaft besteht zuletzt in der Gewinnung solcher […] Begriffe, durch deren […] Anwendung wir ein individuelles Gebilde bestimmen«, indem wir es einer Epoche, einer Kultur, einem Künstler zuordnen.73 Ein weiteres Spezifisches der Kulturwissenschaft wird an ihrer Lösung eines Grundproblems sichtbar, das sie mit der Naturwissenschaft teilt: am Problem, das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem zu bestimmen.74 Cassirer erklärt die Beziehung von Individuellem und Allgemeinem sogar zum »Lebensfaden des Begriffs«, der niemals zerschnitten werden dürfe.75 Wenn für die naturwissenschaftliche Betrachtung »das Allgemeine in der Form eines ›Gesetzesbegriffs‹« sich das Besondere subsumiert, so ordne die kulturwissenschaft liche »das Besondere dem Allgemeinen in [einer anderen – C.M.] Weise ein[…].«76 Die bestimmt Cassirer als Zusammenschau, die vom Einzelnen, Besonderen ausgeht, an dem sie das Ideelle (Form) schauend erfaßt, als ein »das Allgemeine i m Besonderen, das Besondere i m Allgemeinen anschauen«.77 Das Besondere repräsentiert, symbolisiert das Allgemeine (Goethe), das hier in »seiner konkreten Gestaltung« genommen wird, als ein »Inbegriff von ›Formen‹«, nicht als ein System von Gattungsbegriffen.78 Die »logische Arbeit sui generis« der kulturwissenschaftlichen Begriffe besteht im Charakterisieren, nicht aber im Determinieren.79 Die Kulturgegenstände sollten deskriptiv als ein Ganzes von Formen erfaßt werden, ohne daß metaphysisch nach dem Ursprung der Formen (wie es Hegel und Spengler tun) gefragt werden kann, hinter das »Sein der Form überhaupt« könne überhaupt und grundsätzlich nicht zurückgeganE. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 104. 73 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 168 f. 74 Ebd., 133. 75 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 427; siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310. 76 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 428 f. 77 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 190. 78 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 174. 79 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 431. 72

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gen, nicht zurückgefragt werden. 80 Philosophen und Kulturwissenschaftler habe lediglich zu interessieren, ›was‹ die jeweiligen Formen bedeuten, ausdrücken. Durch universale Überschau, so Cassirer, löse die konkrete Methode einer Kulturwissenschaft »aus der Fülle der Einzelphänomene ein ›Urbildliches‹ und Typisches« heraus, was »eine eigene und legitime Art der kulturwissenschaft lichen Begriffsbildung« darstelle. 81 Die kontemplativ-deskriptive ›Phänomenologie der Formen‹ solle aber ebenso auch, wie schon die historische Betrachtung, die Formübergänge (Umbildungen, Metamorphosen), und damit ihre ideelle Entwicklung, wie ebenfalls die Korrelationen zwischen den Formen in den Blick nehmen. Die Formen der Kultur zeichnen sich durch das bereits erwähnte Paradox von Permanenz und Fortwirkung aus, was ihre »Selbst-Entfaltung« bzw. Umbildung ermöglicht. 82 Obwohl der Lebensausdruck im objektiven kulturellen Formgebilde gewissermaßen erstarrt, tragen diese »›erstarrten‹ Gebilde« weiterhin ein »eigentümliches ›Leben‹« in sich. Sie besitzen das metamorphosische Vermögen, eine Füller neuer, einander ähnlicher Gestalten »aus sich hervorgehen zu lassen«. Hierin, in der ›Lebendigkeit‹ der Form und in der Metamorphose der Formgestalten, zeige sich »auch das Analogon, das immer wieder zu einem Vergleich der Kulturobjekte mit Objekten der organischen Natur geführt hat – / Diese Fähigkeit zur Permanenz der Form und zur Entwicklung der Form ist beiden gemein.«83

Allerdings legt Cassirer großen Wert auf die methodologische Einschränkung, wonach »die Kulturformen […] ›Organismen‹ nur im A l s - O b Sinne« seien, und nicht im buchstäblichen Sinne. Das Übertragen biologischer Termini bzw. Charakteristika auf kulturelle und geistige Sachverhalte lehnt er kategorisch ab. Das paradoxe Vermögen der Kulturformen nennt er auch ihre Prägnanz, weshalb er von »›geprägten Form[en]‹« spricht, »die lebend sich entwickel[n]«, die »sich ständig um- und weiterentwickeln«. 84 Wandlungsfähigkeit der Form und Permanenz seien »die beiden entgegengesetzten und einander in dieser Entgegensetzung zugeordneten Pole des gesamten E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 97. 81 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 162. 82 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 126. 83 Ebd., 127. 84 Ebd., 128, 134. 80

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Kulturprozesses.«85 Vollzogen wird diese ›lebende Entwicklung‹ nicht durch irgendeine geheimnisvolle Kraft, sondern »durch die Arbeit der Individuen […], die sich i n diesen Formen ausdrücken«. 86 »Jeder neue Gebrauch der Form« bedeute »zugleich eine neue ›Beseelung‹ der Form«, bedeute »ein Einströmen neuen seelischen ›Lebens‹ in sie«. 87 Das, was »individuelle Aneignung und individuelle Formung« leisten, nennt Cassirer eine Regeneration der Formen. Auch sie habe ihr Analogon in der organischen Natur, in der der individuelle Gebrauch von Funktionen die »morphologische Form« der Gattung verändere, während im geistig-kulturellen Leben »die Funktion stetig und unmerklich das Organ« verwandelt, das so zu neuen Funktionen befähigt wird. 88 »Die allgemeinen, ›starren‹ Formen werden immer wieder in diesen Schmelztiegel des individuellen Gestaltens, Umformens zurückgeworfen« und entstehen aus ihm «in neuer vollkommener Gestalt.«89 Die Kulturwissenschaft habe sowohl die Art zu erforschen, wie »das individuelle ›Wirken‹ sich zu [bestimmten – C.M.] Form-Gebilden verdichtet«, als auch »die Korrelation zwischen diesem ›Wirken‹ und diesen ›Gebilden‹.«90 Indem sie aufweist, wie individuelles Wirken sich in einer universellen »Form ein-bildet«, in ihr und durch sie erfolgt, stoße sie auf die »Ur-Relation« allen geistigen und kulturellen Lebens. Weil »alles individuelle ›Wirken‹« sich in eine »›vorgegebene‹ Form« einbildet, lasse sich in der Kulturwissenschaft das Kausalproblem nicht losgelöst vom Formproblem stellen. Die Form, die dem individuellen Wirken nicht begriffsrea listisch vorgegeben ist, kann sich selbst »nicht anders manifestieren […] als in einer sich fortzeugenden Gesamtheit von [individuellen – C.M.] Taten.«91 Jegliches »Kulturphänomen […] als individuelles Phänomen« besitzt seine Bedeutsamkeit allein als ein Schritt »im Werden ›zur‹ Form«, und damit als Schritt der Objektivierung der Form.92 Die einzelnen kulturellen Formen lassen sich nun auf »gewisse ›Urgestalten‹, ›Grundformen‹« zurückführen, auf die symbolischen Formen der Kultur. Von denen habe die Philosophie zu zeigen, wie sie »generell zu definieren sind«, die Kulturwissenschaft aber, »wie sie sich empirisch

85 86 87 88 89 90 91 92

Ebd., 128. Ebd., 134 f. Ebd., 131. Ebd., 136 f. Ebd., 139. Ebd., 187. Ebd., 190 f. Ebd., 192.

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

entfalten«,93 denn das ›Formgesetz der Kultur‹, der in allen Grundformen auftretende »Rhythmus der Um- und Fortbildung«, lasse »sich nicht abstrakt formulieren«, sondern nur empirisch aufweisen. Nachdem die Kulturwissenschaft sich – mit Hilfe der Philosophie – des »objektiven Inventars der Kulturformen versichert« hat, gehe sie mit Hilfe der Kulturgeschichtsschreibung daran, »uns das ganze reiche Gebiet« der jeweiligen Form im weitesten Sinn zu erschließen, indem sie »Vergangenes unmittelbar ›sichtbar‹« macht.94 Die Form- bzw. Gestaltbegriffe der Kultur »müssen [also – C.M.] mitten in das historische Werden gestellt, an diesem erkannt und beglaubigt werden«. Deshalb kann Cassirer feststellen: »Kultur-Wissenschaft und Kultur-Geschichte« bedingen einander wechselseitig.95

c. Biologie als Formwissenschaft Nach Cassirers Verständnis hat sich im 20. Jahrhundert ebenfalls in der Biologie die »primäre Bedeutung des Faktors ›Form‹« endgültig durchgesetzt.96 Auch in dieser Wissenschaft stehen Formprobleme, die sich nicht in ein Verhältnis von Ursache und Wirkung auflösen lassen, als unableitbare an. Diese Tatsache lasse einige Analogien zur Kulturwissenschaft zu Tage treten.97 Mit Blick auf letztere formuliert er die Einsicht, wonach »schon in der Biologie […] sich Form [bzw. Gestalt – C.M.] keineswegs restlos auf ›Gesetze‹ (ursächliche ›Kräfte‹) zurückführen« läßt, »schon hier ist sie ein Begriff sui generis«. Das gelte auch umgekehrt, so daß beide Typen von Begriffen »ständig aufeinander bezogen werden müssen«.98 Die Gesetze für das organische Geschehen hätten die Form »heuristischer Maximen«. Die Biologie werde allerdings in höherem Maße als die Kulturwissenschaft von kausalen Gesichtspunkten bestimmt, könne jedoch nicht ausschließlich durch sie aufgebaut werden.99 Nicht erst in den Kulturwissenschaften, sondern bereits in der modernen Biologie stehen die Formprobleme für »reine Strukturverhältnisse«, für Ordnung und System, und damit für eine spezifische Weise des AllgemeiEbd., 129. Ebd., 132. 95 Ebd., 134, 143. 96 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ebd., 94. 97 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 98 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 165. 99 Ebd., 189. 93

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nen.100 In der Biologie seien bereits »morphologische Begriffe« unentbehrlich geworden,101 wobei die Morphologie hier »als eine selbständige Grundwissenschaft [erscheint], die in der bloßen ›Entwicklungsgeschichte‹ nicht aufgeht / – ohne die vielmehr die Entwicklungsgeschichte selbst nicht durchführbar wäre«.102

Diese morphologische Methode sei nun auch auf die Kulturwissenschaften zu übertragen, denn »auch sie bedürfen durchaus des morphologischen Unterbaus«. Morphologische Erkenntnis, also Form-Analyse, gilt Cassirer als ein begriffliches, theoretisches Erfassen der jeweiligen Form im Gegensatz zu ihrem physiognomischen, intuitiven Erleben (Spengler).103 In der modernen Biologie habe in Bezug auf die »biologische Gestalt« bzw. das »Strukturgesetz« einer Lebensform zudem der – Goethesche – Gesichtspunkt des Formwandels, der Metamorphose endgültig Platz gefaßt.104 Dabei faßt er Metamophose als »ideelle Genese«, nicht als »historische Abstammung« auf.105 Die Biologie, so Cassirer 1942, »hat den Zustand der bloßen Deskription und Klassifi kation der Naturformen überschritten und ist zu einer echten Theorie der organischen Formen geworden.«106

4. Resümee: Der Zusammenhang von Kausal- und Formbetrachtung In Cassirers Wissenschaftsphilosophie stehen Kausalität und Formbetrachtung, wie schon mehrfach angesprochen, in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander.107 Beide wissenschaft lichen Betrachtungsweisen weisen einen eigenen Rechtsgrund bzw. einen unableitbaren urphänomenalen

E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 151, 250. 101 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 157. 102 E. Cassirer, »Form«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 232. 103 Ebd., 233. 104 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 127, 159. 105 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 172. 106 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 391. 107 E. Cassirer, »Kategorienlehre«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 237 f., 241. 100

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Charakter auf.108 Sie bilden für eine isolierende Betrachtung zunächst bloße ›Gesichtspunkte‹, ein bloßes regulatives ›Als-Ob‹, sind dabei aber »beide nichtsdestoweniger ›objektiv‹, konstitutiv, gegenstandsbestimmend«. Diese »allgemeine Objektivierungsfunktion« realisiert sich auf verschiedene Weise: entweder werden Wahrnehmungs-Erlebnisse objektiviert (»aus-gesagt«) oder Ausdrucks-Erlebnisse, entweder werden diese »unter Gesetze gefaßt« oder Form-, Stil- und Gestaltbegriffen zugeordnet.109 Cassirer kann auch deshalb von einem »überraschend-einheitlichen Aufbau von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft« sprechen, weil beide auf das »Besondere und das Allgemeine als […] korrelative Momente« abzielen. Dieses einheitliche Ziel wird allerdings unterschiedlich erreicht, in der Physik mit Hilfe des «Instrument[es] des ›Gesetzes‹, in der Biologie und Kulturwissenschaft [mit Hilfe – C.M.] der Form (›Gestalt‹).«110 Die Objektivierungsfunktion erfordert aber, daß jede der beiden Betrachtungsweisen »sofort durch das andere Moment ergänzt« wird, wobei diese Ergänzung, die sich in jedem Typus von Wissenschaft anderes darstellt, »rein umkehrbar [ist] – jedes Moment […] das andere [verlangt,] um wirklich ›objektiv‹ (erfahrungs-bestimmend) zu werden«.111 Als fatal deutet er alle Versuche, in der Geschichtswissenschaft und in der Biologie, die Form als eine alternative Ursache einzuführen, so daß sich Form und Ursache auf ein und derselben Ebene begegnen. Dies führe in der Biologie in die methodischen Probleme des Vitalismus (Dominanten) und in der Historie in die Auffassung der Ideen als »schaffender Kräfte«.112 Diese neue Sichtweise habe inzwischen Eingang auch in die moderne Naturwissenschaft gefunden, die inzwischen zwei »autonome Fundamente sui generis« anerkennt, die »als wechselseitig sich haltende ›Potenzen‹« in einem »Ineinander, Gleichgewicht« miteinander stehen.113 So wie die »Ausschaltung des Formbegriff s« zugunsten des Kausalbegriff s aus der Wissenschaft und Philosophie seit dem 15. Jahrhundert Natur- und Kulturwissenschaften auseinanderriß,114 führe seine Wiederentdeckung in nahezu allen Wissenschaften beide Pole des Weltbegreifens erneut zusammen. E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 164. 109 Ebd., 144. 110 Ebd., 164 f. 111 E. Cassirer, »Kategorienlehre«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen, a. a. O., 239. 112 E. Cassirer, »Geschichte«, in: ebd., 126f. 113 E. Cassirer, »Kategorienlehre«, in: ebd., 240. 114 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 449. 108

›Lebendige Formen‹

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Nunmehr führe die Entwicklung in der modernen Physik, aber auch in der Biologie und in der Psychologie, Ganzheiten und Strukturen als »etwas Ursprüngliches, Unableitbares« für die Betrachtung ein.115 Weil die Anerkennung des Form-, Ganzheits- und Strukturbegriffs »den Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft [aber – C.M.] keineswegs verwischt oder eliminiert«, sondern nur »eine trennende Schranke« zwischen ihnen beseitigt,116 müsse die Kulturwissenschaft dennoch »ihre Formen, ihre Strukturen und Gestalten« erforschen. Die Gegenstandsbereiche der Wissenschaften – Physik, Biologie, Psychologie und Kultur (ideelle Sphäre) – scheinen für Cassirer eine Art Stufengang des Seins und seiner Erkenntnis zu bilden, wobei die Übergänge vom niederen Bereich zum höheren die niederen Gesetze bzw. Prinzipien in Geltung lassen und neue hinzufügen. Der Übergang vollzieht sich als qualitativer Sprung zu einem neuen »Problem- und Gegenstandstypus«. Demnach würde der Gegenstandbereich der Kulturwissenschaften Gesetze bzw. Strukturen der Biologie (»Ganzheits-Bezogenheit«) weiterhin einschließen, bereichert um ein spezifisches ›Kennzeichen‹ der Kultur. Für jeden Gegenstandsbereich bzw. jede ›Stufe‹ von Wissenschaft stehen die Gesetzes- und Formprobleme in einem anderen eigentümlichen Verhältnis.117 In der Biologie bestehe »noch das Verhältnis, daß Gestaltbegriff und Gesetzesbegriff sich zwar nicht aufeinander zurückführen lassen – […] wohl aber ständig aufeinander bezogen werden müssen«.118 In diesem Sinne ist für die Biologie ein »›Gleichgewicht‹ zwischen Formbegriffen und Gesetzesbegriffen« typisch. Die theoretische Physik wäre, wenn ich Cassirers Überlegungen fortspinne, durch den Primat der Gesetzesbegriffe gegenüber dem Formbegriff charakterisiert, während in den Kulturwissenschaften der explizit formulierte »Primat der Formbegriffe«119 gegenüber dem Gesetzesbegriff hervortritt.

E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 57. 116 E. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften« (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 455. 117 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 92. 118 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 165. 119 Ebd., 166. 115

Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie Cassirer über methodologische Analogien

1. Das Formproblem in Kulturwissenschaften und Biologie Der Sprachphilosoph Ernst Cassirer wählt für die Darlegung seiner Theorie der Sprache als einer symbolischen Form der Kultur, als einer symbolischen Leistung, des öfteren das methodische Verfahren, Fakten und Erkenntnisse der Sprachpathologie als empirische Bekräftigung seiner Thesen anzuführen. Der Grundgedanke dieses Verfahrens besteht darin, so Cassirer 1927 in dem Vortrag »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung«, daß pathologische Sprachstörungen nicht nur auf eine Störung des symbolischen Vermögens verweisen, sondern daß ihre Betrachtung die Symbolfunktion der Sprache als solcher und ihren Zusammenhang mit »einer gemeinsamen Grundfunktion des Geistes […], die wir als die Symbolfunktion schlechthin bezeichnen«, aufzuklären vermag. Für eine solche Aufk lärung, so Cassirer, scheint »heute [jedoch – C.M.] nicht nur die Sprachpathologie, sondern auch die Biologie und die Entwicklungspsychologie mancherlei Material zur Verfügung zu stellen« bzw. »manchen Hinweis und Fingerzeig« zu enthalten.1 Zu dem hier angedeuteten methodischen Verfahren des klärenden und bekräftigenden Bezugnehmens auf Sprachpathologie, Entwicklungspsychologie und Biologie greift Cassirer auch in den Fällen, wenn er Fragen der Kulturphilosophie bzw. Kulturwissenschaften nachgeht, wobei dann die Biologie bzw. biologische Entwicklungslehre im Mittelpunkt des Interesses steht. Deutlich wird dies insbesondere an dem in ECN 5 zugänglich gemachten Text der 1939 in Göteborg gehaltenen Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« samt weiterführenden Anlagen (Blätter »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« [1937/38])2 sowie an den im Umkreis dieses Vorlesungsmanuskriptes verfaßten Entwürfen, die in ECN 4 veröffentlicht wurden.3 Viele der anhand dieser Vorlesung samt Vorarbeiten E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 310. 2 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme † unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Ha mburg 2004, 29–104, 105–200. 3 E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: 1

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

gewonnen Einsichten fi nden 1941/42 Eingang in die fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften. 4 Cassirer, der die Kulturwissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften auf den Form- und Stilbegriff, den Begriff des Lebens und den der Ausdrucksphänomene zu gründen sucht,5 geht in diesen Texten soweit, angesichts der diskutierten Fragen einer spezifischen, eigentümlichen kulturwissenschaft lichen Begriffsbildung von methodischen Analogien bzw. Ähnlichkeiten in Bezug auf das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie zu sprechen. So hat er hier die Erkenntnis zu Papier gebracht, daß sich innerhalb der Kulturwissenschaft das »›Kausalproblem‹ […] niemals losgelöst vom Formproblem stellen«, sondern »immer nur durch Rückgang auf das Formproblem lösen« läßt. In Klammern setzt er noch hinzu: »wie dies ähnlich übrigens schon für die Biologie gilt, in der sich daher immer wieder die ›Entelechie‹ als die eigentliche ›wirkende Ursache‹ behauptet«. 6 Wir haben es bei diesem Hinweis nicht mit einer zufällig oder absichtslos niedergeschriebenen These Cassirers zu tun, wie die nachfolgend zusammengestellten vielfältigen Verweise auf Analogien in den Kulturwissenschaften und in der – beschreibenden – Naturwissenschaft Biologie belegen, die sich fast ausschließlich in der bereits erwähnten Göteborger Vorlesung von 1939, vereinzelt aber auch im Erkenntnisproblem IV fi nden.7 Innerhalb seines Konzeptes der ›Zwei Kulturen‹ in der Wissenschaft (Oswald Schwemmer) rückt Cassirer folglich anhand des Formproblems Kultur- u n d Naturwissenschaft (Biologie) trotz aller Unterscheidung und Abgrenzung offenbar doch enger zusammen, als auf den ersten Blick ersichtlich. Der Frage wissenschaftsmethodischer bzw. erkenntnistheoretischer Gemeinsamkeiten und auszeichnender Eigentümlichkeiten der Mathematik bzw. den mathematischen Naturwissenschaften, der Lebenswissenschaft (Biologie) und den Wissenschaften vom geistigen Leben schenkt Cassirer aber genau genommen bereits seit dem Leibniz-Buch (1902) bzw. dem Erkenntnisproblem I/II (1906/07) Aufmerksamkeit, motiviert nicht zuletzt durch den Organismusbegriff in Leibniz’ Philosophie, in Kants Kritik der Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 151–215. 4 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 357–486. 5 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310. 6 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 190 f. 7 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000.

Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie

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Urteilskraft und in Goethes naturwissenschaft lichen Schriften. An Leibniz würdigt er den – mit Hilfe des Monadenbegriffs – methodologisch gelungenen Übergang von der abstrakten Mechanik zum »Gebiet der organischen Naturbetrachtung«. Dieser monistisch, d. h. ohne Zuhilfenahme einer dem begrifflichen System fremden ›Lebenskraft‹, sondern durch Einführung des irrationalen Zufalls ins System erklärte Übergang gipfelte in einem Begriff des lebenden Organismus, der »bis heute wissenschaft lich wirksam« sei. 8 Dagegen sieht er in dem Tatbestand, daß bei Aristoteles die Logik gegenüber der Biologie die leitende Funktion der Erkenntnis verliert, einen Rückschritt in Bezug auf den logischen Idealismus Platons, zu dem sich der ›Marburger‹ Cassirer 1902 noch weitgehend bekennt. Diese Fragestellung führt ihn auch auf das Problem, inwieweit das erkenntnistheoretisch-methodische Instrumentarium der einen Wissenschaft sgruppe mit guten Rechtsgründen, ohne Simplifi kationen, auf die anderen Typen von Wissenschaft übertragen werden darf. So mag Cassirer zwar der von Goethe propagierten Übertragung des Lebensprinzips auf die anorganische Natur nicht unbesehen folgen, wendet aber den Organismusbegriff – in Kantischer Tradition – bewußt auf die Charakterisierung der Vernunft an.9 Das methodische Problem der Übertragbarkeit des organischen Lebensprinzips auf die Erkenntnis – und folglich auf die Vernunft –, die dann als eine »organische Einheit« gilt, berührt Cassirer mehrfach in seiner Darstellung des deutschen, nachkantischen Idealismus.10 Der von der Romantik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelte, auf dem allgemeinen Formbegriff ruhende Organismusbegriff, über den sich eine Parallele zwischen Leben und Geist herstellen läßt, und der im 19. Jahrhundert seine zentrale Stellung in der Systematik der Geisteswissenschaften weiter behalte, erfährt aber, so Cassirer 1923, in Sinn und Tendenz eine durchgreifende Wandlung, seitdem ihm »der biologische Entwicklungsbegriff der modernen Naturwissenschaft gegenübertritt.«11 Aus dem ursprünglich eher philosophischen Begriff des lebenden Organismus ist mit der Biologie im 19. Jahrhundert ein naturwissenschaft licher geworden. E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998, a. a. O., 9. Kap. »Das Problem des Individuums in der Biologie – Der Organismus«, 358–378, hier: 367. 9 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 346; E. Cassirer, EP, 3. Bd.: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000, 296, 303. 10 E. Cassirer, EP, 3. Bd.: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, a. a. O., 153, 230, 363. 11 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 107. 8

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Im Folgenden sollen Rechercheergebnisse vorgestellt werden, die aus einem den Ähnlichkeits- und Analogiethesen Cassirers Nachgehen hervorgegangen sind. Zuerst werden die wichtigsten, von Cassirer hervorgehobenen Form-Analogien in einer sich aus der Sache selbst erschließenden Ordnung mitgeteilt und thematisiert. Dabei geht es natürlich auch darum, inwieweit sich das Formproblem in beiden Gegenstandsgebieten unterschiedlich stellt, d. h. darum, was die Besonderheit des Formproblems in der Biologie ausmacht. Danach soll – unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen – Cassirers Bild von der Biologie als moderner Naturwissenschaft skizziert werden. Daran schließt der Versuch an, einige Aspekte samt sich einstellender Fragen der Analogien bzw. Ähnlichkeiten des Formproblems in Kulturwissenschaften und naturwissenschaft licher Biologie und des umrissenen Biologiebildes zu diskutieren und zu explizieren. Das meint u. a. die Bedeutung der ein bestimmtes methodisches Verhältnis andeutenden Aussage ›schon für die Biologie gilt‹, die auf eine Art Stufenbau der Wissenschaften schließen läßt. Außerdem ist auch auf die – zunächst etwas irritierende – These Cassirers einzugehen, wonach nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern alle modernen Naturwissenschaften wie Physik, Psychologie und Biologie ein eigenes Formproblem besitzen.12 Scheint doch damit nicht nur die grundsätzliche Unterscheidung von Kausal- bzw. Gesetzeswissenschaften u n d Gestalt-, Stil- bzw. Formwissenschaften13 unterlaufen, aufgehoben zu sein, sondern auch die Biologie ihren herausgehobenen oder Sondercharakter unter den Naturwissenschaften wieder zu verlieren, der aus ihrem Gegenstand, d. h. dem Leben, dem lebendigen Organismus, der organischen Selbstorganisation, resultiert.

2. Sieben Form-Analogien nebst gewissen Unterschieden Eine philosophische Begründung für die Möglichkeit von Form-Analogien bzw. Parallelen zwischen Biologie und Kulturwissenschaft gibt Cassirer mit der – noch anzusprechenden – Theorie vom Stufengang der wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche, wonach die höheren Stufen die Gesetze und Strukturen der niederen in Geltung lassen und neue, eigentümliche hinzufügen.14 Dieser Tatbestand scheint bis zu einem gewissen Grade die ÜberE. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 454 f. 13 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 92, 100. 14 Ebd., 63; siehe auch E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 286. 12

Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie

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tragung der Begrifflichkeit der niederen auf die höheren Stufen zu rechtfertigen. Ergänzt wird diese Möglichkeit durch die von Cassirer getroffene Unterscheidung zwischen dem ›allgemeinen‹ Formbegriff überhaupt und dem ›eigentümlichen‹ Formbegriff des jeweiligen Gegenstandsbereiches, den Aufbauprinzip, Prinzip der Über- und Unterordnung etc. von dem eines anderen speziellen Bereiches trennen.15 Diese Auffassung vom Stufengang bzw. der Emergenz schränkt allerdings in Cassirers Augen das Benennen von Analogien bzw. das Übertragen der biologischen Formbegrifflichkeit auf die der Kulturformen auf ein methodisches ›als-ob‹ ein: demnach sind »die Kultur›formen‹ […] ›Organismen‹ nur im Als-Ob Sinne«.16 Die in der Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« (1939) und dem etwa zur selben Zeit verfaßten Erkenntnisproblem IV enthaltenen expliziten Hinweise zu Form-Analogien lassen sich sieben Aspekten zuordnen: dem Begreifen und Beschreiben; der Permanenz und Wandlungsfähigkeit; dem individuellen Charakter der Prägnanz; der Morphologie und Genesis; der Synthesis des Mannigfaltigen; der Unableitbarkeit bzw. des Kausalproblems; und der emotionalen Sprache. Diese Zuordnung ergibt nachfolgendes Bild, das gleichzeitig einen Ausblick darauf gestattet, worin Cassirer die Eigenart des Formbegriffs der Biologie im Vergleich mit dem Form- und Gestaltbegriff der Kulturwissenschaft sieht: B e g r e i f e n u n d B e s c h r e i b e n : Es ist zunächst das kulturphilosophische Begreifen, das sich als Beschreibung von Strukturen, Ganzheiten – anstelle von Erklären durch Rückführung auf quantitative Gesetze – vollzieht, und das somit den Formbegriff voraussetzt, impliziert. Wenn die für die Spezifi k der Kulturobjekte entscheidende Ausdruckswahrnehmung als logisches Fundament des Begreifens den Formbegriff fordert, dann ist »in dieser logischen Hinsicht […] die Welt der Kulturobjekte der der biologischen Begriffe parallel.«17 Auch das Begreifen in der Biologie vollzieht sich als ein Beschreiben von Formen bzw. Strukturen. Dabei müsse die Beschreibung des einzelnen Organismus (bzw. Organs) das Allgemeine, das Ganze, die Gesamtstruktur der entsprechenden Tierform voraussetzen.18 »Das Wissen von einer Einzelform [des Lebens – C.M.] setzt […] das Wissen von der Formwelt als Ganzes voraus«.19 Mit anderen Worten, die Gattungsform – d. h. der ›Bauplan‹, die ›Lebensform‹ – steht für die allgeE. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 58 f. 16 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 127. 17 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ebd., 101 f. 18 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 151. 19 Ebd., 152. 15

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

meinen Formgesetze, die im Tierreich die Form des einzelnen Organismus streng festlegen.20 P e r m a n e n z u n d Wa n d l u n g s f ä h i g k e i t : Cassirer sieht »das Analogon, das immer wieder zu einem Vergleich der Kulturobjekte mit Objekten der organischen Natur geführt hat«, insbesondere in der Eigenschaft des ›Bestandes‹ von Kulturphänomenen, sich in beständiger Veränderung zu befinden und dennoch ein und dieselben zu bleiben, was sich in ihren Fortwirkungen und beständigen Umbildungen bekunde. »Diese Fähigkeit zur Permanenz der Form und zur Entwicklung der Form« ist – so Cassirer – »beiden [Objektklassen – C.M.] gemein«.21 Bei der betonten Gemeinsamkeit hat er u. a. den Tatbestand vor Augen, daß die Fähigkeit der Form zur Permanenz und Wandlungsfähigkeit, die er als ihr »eigentümliches ›Leben‹« bezeichnet, in den kulturellen wie in den biologischen Gebilden trotz aller Tendenzen zur Erstarrung erhalten bleibt. Deshalb ist, mit anderen Worten, »die Metamorphose«, d. h. der Gestaltwandel und die Entwicklung eines Urtypus, »das Gemeinsame [der Kulturgestalten – C.M.] mit der Welt des Organischen«.22 Gemeint ist damit die Fähigkeit, eine Fülle neuer, einander ähnlicher Gestalten »aus sich hervorgehen zu lassen«. Die organischen ›Lebensformen‹ oder ›organischen Naturen‹ bilden demnach keine »konstanten Grundverhältnisse«, sondern lassen sich je einem Typus oder ›Urbild‹ zuordnen, 23 sie erscheinen – der »empirischer Intuition« – als »nach einem Urbilde geformt«, das, obwohl nur in den Teilen variierend und abweichend, sich aber dennoch im Ganzen um- und fortbildet.24 In diesem Sinne verhalten sich die Kulturgestalten wie organische Gestalten, ohne aber solche zu sein, genauer: Sie verhalten sich, ›als ob‹ sie welche wären. Die Annahme, daß für Cassirer die Form-Begrifflichkeit der biologischen Metamorphosenlehre auf den höheren Gegenstandsstufen der Wissenschaft , zumindest auf dem der Kulturwissenschaft – und der Historie –, ihre methodische Geltung behält, belegt auch eine Bemerkung zu Jakob Burckhardt. Der erfasse an den plastischen Bildwelten der Kunst, Dichtung, Sprache etc. eine Metamorphose, ein ›Werden im Sein‹, einen Gestaltwandel, wie ihn die Kulturgeschichtsschreibung mitzuteilen habe.25 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 135. 21 Ebd., 127. 22 Ebd., 127. 23 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 160 f. 24 Ebd., 167. 25 Ebd., 323. 20

Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie

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I n d i v i d u e l l e r C h a r a k t e r d e r P r ä g n a n z : Die metamorphosische Beweglichkeit oder ›Prägnanz‹ der Form, die Cassirer an den geistig-kulturellen Formen dartut, was bedeutet, daß »die allgemeinen, ›starren‹ Formen […] immer wieder in diesen Schmelztiegel des […] Gestaltens, Umformens zurückgeworfen« werden,26 trifft seiner Überzeugung nach bereits auf die biologischen Formen zu. Auch die biologische Form ist in diesem Sinne »›geprägte Form‹[…], die lebend sich entwickelt«, 27 ist ein und dieselbe Form, »die sich ständig um- und weiterentwickelt«.28 Doch hier wird auch auf grundsätzliche Unterschiede hingewiesen, die den individuellen Charakter der Umgestaltung der Form beim kulturell tätigen Menschen zum Ausgangspunkt haben. In der organischen Natur, im Tierreich kann von einer »Arbeit der Individuen […], die sich in diesen [prägnanten – C.M.] Formen ausdrücken«, 29 sich ihrer bedienen, sie gebrauchen und damit neu ›beseelen‹, ihnen neues Leben geben, 30 keine Rede sein. »Regeneration durch individuelle Aneignung und individuelle Formung« gibt es nur für und durch den Kulturmenschen.31 Schließt dies doch die Vererbung erworbener Eigenschaften ein,32 was – zumindest zu Cassirers Zeiten – für den Formbegriff der Biologie eine unüberschreitbare Schranke bildet.33 Das Tier als Exemplar der Gattung nehme nur an den allgemeinen Formgesetzen teil, die durch die Gattung streng und bindend vorgeschrieben werden. M o r p h o l o g i e u n d G e n e s i s : Eine weitere methodische Analogie fi ndet Cassirer in der morphologischen Herangehensweise an die beiden Objektklassen vor, wobei er die Morphologie als Lehre von der ›ideellen Genesis‹ der anschaulichen Gestalt (Goethe) im Unterschied von kausaler Erklärung bzw. historischer Abfolge der Lebenserscheinungen bevorzugt.34 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 139. 27 Ebd., 128. 28 Ebd., 134. 29 Ebd., 134. 30 Ebd., 131. 31 Ebd., 135. 32 Ebd., 140. 33 Neuere biologische Forschungen scheinen dagegen durchaus die Vererbung bestimmter Lebenserfahrungen selbst bei Pflanzen zu bestätigen. So haben die beiden Biologinnen Galloway (University of Virginia) und Etterson (University of Minnesota) in Labor- und Freiluftexperimenten an amerikanischen Glockenblumen nachgewiesen, daß die Familiengeschichte, weitergegeben als Information im Samen, über die Lebensdauer der nächsten Generation von Blumen (mit-)entscheidet. – L.F. Galloway/J.R. Etterson, »Transgenerational Plasticity Is Adaptive in the Wild«, in: Science, Vol. 318, No. 5853, 1134–1136. 34 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 148, 173. 26

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Die sich in der modernen Biologie für den Betrachter ergebende ›ideelle Genesis‹ der morphologischen ›Form‹, bei der es nicht um die »Frage nach der historischen Abfolge der Lebenserscheinungen« gehe, hat ihr Gegenstück im ›genetischen Gesichtspunkt‹.35 Diesen hatte Cassirer z. B. in der Hamburger Vorlesung über »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929) für das Formproblem angesichts der Kulturphänomene geltend gemacht,36 sei das Kulturphänomen doch als ein ›Werden zum Sinn‹ zu verstehen.37 Abgesetzt wird diese Auffassung dabei gegen den aristotelischen Formbegriff, der die Formen des natürlichen Werdens als »unveränderliche Fundamente des Werdens« bestimmt, die dieses ermöglichen.38 Die morphologischen Begriffe der Gestalt, wie sie die Kulturwissenschaft kennt und anwendet, sind als solche »schon in der Biologie unentbehrlich«.39 Aber auch die Analogie der Morphologie muß die Unterschiede von Naturgeschichte und Kulturgeschichte beachten. Unter Morphologie bzw. morphologischer Form der Gattung versteht Cassirer offenbar die Lehre vom funktionalen Bau, d. h. von den Funktionen, der Gliederung des gattungsspezifischen Organismus nach Funktionen, ›verkörpert‹ in den Organen. Die »allgemeinen [morphologischen – C.M.] Formgesetze« der Tier-Gattung determinieren den »körperlichen ›Bauplan‹«, d. h. die Organe und Funktionen, eines jeden Exemplars, binden es in seine jeweilige Merk- und Umwelt ein. Als Exemplar seiner Spezies drückt das einzelne Tier die morphologische Form der Gattung »und den durch diese Form vorgeschriebenen ›Bauplan‹« aus, den es als Exemplar nicht verändern, erweitern, verlassen kann. 40 Hinsichtlich seiner »körperlich-morphologischen Struktur«, d. h. seiner »körperlichen Form«, erfährt sich das einzelne menschliche Individuum ebenfalls als in sie eingeschlossen, erfährt auch der Mensch ihre Unveränderbarkeit durch den Einzelnen. Diese Strenge und Bestimmtheit der körperlich-morphologischen Struktur gilt, so vermutet Cassirer, sogar für die kulturelle »Welt von [symbolischen – C.M.] Formen«, die das Individuum nicht erfi ndet, in die es vielmehr hineingeboren wird. 41 Aber im Gebrauch verändert der Mensch, verändert das Individuum diese allgemeine geistige Form. Das gelte insbeEbd., 172 f. E. Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929), in: ebd., 21 f. 37 Ebd., 12. 38 Ebd., 21 f. 39 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 157. 40 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 135. 41 Ebd., 135 f. 35

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sondere für die Taten der ›großen‹ Individuen: »Der große Politiker wandelt eben auch die Form des Staates«. 42 Das große Individuum ist demnach nie ein bloßer Fall der Gattung Mensch, weil es die kulturelle Gattungsform selbst – und ihre besonderen Kulturformen – neu belebt, umformt, regeneriert! Die Kulturform als solche, aber auch die Sprachform, die Kunstform etc. wird bei Cassirer nicht als Form an sich, als starre Form gedeutet, sondern als eine Form, von der wir zwar eine Art Urtyp, Urphänomen aufzeigen oder vorstellen können, die wir aber immer nur als konkrete, gewandelte, neu belebte, regenerierte, angereicherte etc. Form erfahren. Eine gewisse Veränderung der morphologischen Form muß es aber dennoch auch in der organischen Welt geben, sonst könnte Cassirer ja nicht von einer Analogie mit der Kulturwelt sprechen. Auf die Lehre Lamarcks bezugnehmend heißt es denn auch, die Formveränderung durch Gebrauch »hat sein Analogon schon in der körperlichen [d. h. organischen – C.M.] Welt, wo gleichfalls die Funktion es ist, die die morphologische Form« der Art – bzw. der Gattung – »ändert, umgestaltet, entwickelt«. 43 Da in den vorstehenden Zeilen von der Veränderung der allgemeinen geistigen Form durch ihren Gebrauch die Rede ist, hatte sich das ›gleichfalls‹ hier offenbar auf die symbolischen Funktionen kulturellen Tuns bezogen, die nun mit den Organfunktionen im biologischen Organismus in Analogie gesetzt werden. Diese Analogie ist m.E. so zu verstehen, daß das »einzelne Tier eine bestimmte Fertigkeit übt«, wodurch es »in sehr engen Grenzen durch diese Übung das Organ [der Funktion – C.M.] verändern« kann. 44 Umstritten sei jedoch in der Biologie die Vererbbarkeit dieser morphologischen Veränderungen des Organs auf die Nachkommen bzw. auf die Gattung. Die notwendige theoretische Vereinbarung der »unverrückbaren Festigkeit der biologischen Form« mit der »Beweglichkeit, Entwicklung der Form« unterscheidet sich offenbar von dem entsprechenden Wechselspiel in der Welt der Kultur bzw. im Geistigen, wo die Funktion stetig und unmerklich das Organ verwandelt, was dieses zu neuen Funktionen befähigt. 45 Darauf, daß die »Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe […], die in der organischen Natur herrscht«, sich von »dem Verhältnis, das uns in den Gebilden der Kultur begegnet«, unterscheidet, kommt Cassirer auch in seinen Studien Zur Logik der Kulturwissenschaft (1942) zu sprechen. 46 Dabei wird noch einmal betont, daß in der Naturform die durch die Individuen beEbd., 191. Ebd., 136. 44 Ebd., 136. 45 Ebd., 137. 46 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 484. 42 43

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wirkten Veränderungen nicht ins Leben der Gattung eingehen, in der Kulturform dagegen sehr wohl: »Der ›Geist‹ hat [hier – C.M.] geleistet, was dem ›Leben‹ versagt blieb.«47 Außerdem – oder gerade damit – habe sich die Menschheit im Gegensatz zur Tierheit »in allen ihren Kulturformen […] einen neuen [zweiten – C.M.] Körper geschaffen, der allen gemeinsam zugehört«. 48 S y n t h e s i s d e s M a n n i g f a l t i g e n : In der Eigentümlichkeit, wie kunstgeschichtliche Stil- und Gestaltbegriffe – im Unterschied zu den Gesetzesbegriffen – »am Besonderen […] ein Allgemeines [der Form – C.M.] sichtbar« werden lassen, 49 wie sie auf eine spezielle Weise die ›synthetische Einheit des Mannigfaltigen‹ bewirken,50 bestimmt Cassirer eine weitere, mit den bislang genannten eng verbundene Gemeinsamkeit zwischen den beiden Gebieten der Begriffsbildung und wissenschaft lichen Erkenntnis. Das Verhältnis »zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen« darf – wie Goethe gezeigt habe – »nicht [als] das Verhältnis der logischen Subsumption« gedeutet werden, sondern als »das Verhältnis der ideellen oder ›symbolischen‹ Repräsentation«,51 ein Verhältnis, das die Gestaltbegriffe vollbringen, vollziehen, vermitteln. Solche, ein eigentümliches Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen ausdrückende Gestaltbegriffe kenne, »neben den Gesetzesbegriffen, […] bereits die theoretische Biologie« bzw. der biologische Vitalismus.52 Dabei ist die ›Gestalt‹ der kulturwissenschaftlichen Forschung genau so etwas Objektives wie das ›Gesetz‹ in der Naturerkenntnis. Die Gestalt ist »eine ›Form‹ gleich den Naturformen, [sie] hat eine objektive Bestimmtheit und Struktur«.53 An einer weiteren Stelle in den ergänzenden Blättern zur Vorlesung heißt es noch einmal: »Die Art, der Modus, durch den die ›synthetische Einheit des Mannigfaltigen‹ bewirkt wird«, sei »in der Physik das Instrument des ›Gesetzes‹, in der Biologie und Kulturwissenschaft [dagegen – C.M.] das [Instrument – C.M.] der Form (›Gestalt‹)«.54 Denn »schon in der Biologie« ist neben dem Gesetz die Form – und damit die Gestalt – ein Begriff sui generis. Hinzuweisen Ebd., 485. Ebd., 486. 49 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 133. 50 Ebd., 165. 51 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 169. 52 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, a. a. O., 133. 53 Ebd., 143. 54 Ebd., 165. 47

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bleibt noch auf den kleinen, aber wichtigen Bedeutungsunterschied beider Textstellen in Bezug auf den Begriff des Gesetzes: Im ersten Fall stehen ›Gesetz‹ und ›Form‹ bzw. ›Naturform‹ offenbar nicht in einem Gegensatz, im zweiten Fall dagegen ganz explizit. Un a b l e i t b a r k e i t u n d K a u s a l p r o b l e m : Die Formprobleme bzw. Formbegriffe in Kulturwissenschaft und in Biologie sind für Cassirer rein methodische, keineswegs metaphysische Probleme bzw. Begriffe,55 dabei aber insofern unreduzierbare und unableitbare Urphänomene, als sie nicht mit formfremden, d. h. materiellen Ursachen erklärt werden können. Darwin z. B. habe bei aller Betonung des Formbegriffs für das Organische die Form für ein bloßes Zufallsprodukt gehalten, für ein Produkt rein mechanischer Kräfte, und ihr so ihre Selbständigkeit und Unableitbarkeit genommen.56 Diese Selbständigkeit sieht Cassirer dagegen in Uexkülls ›Bauplan‹Begriff, den er bekanntlich als Struktur- und Formbegriff deutet, gewahrt, insbesondere wenn der in diesem Zusammenhang von einer »›immateriellen Beziehung der materiell gegebenen Teile eines Körpers‹«57 oder von »einer nichtstofflichen Ordnung, einer Regel des Lebens […], die dem Stoff erst sein Gefüge verleiht«,58 spreche. Doch trotz des Ausschlusses von kausaler Ursprungsforschung in Bezug auf den Begriff der Ganzheit oder den der Struktur sowohl in der Kulturwissenschaft als auch in der Biologie stellt Cassirer fest, daß beide Wissenschaften nicht ohne das Kausalproblem auskommen, das sich in der Kulturwissenschaft aber, wie wir bereits gesehen haben, nur »durch Rückgang auf das Formproblem lösen [läßt] (wie dies ähnlich übrigens schon für die Biologie gilt […])«.59 Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob Cassirer immer in ein und demselben Sinne von Kausalität spricht, oder ob er einmal eine Kausalität vor Augen hat, die Naturwissenschaft ler unter Laborbedingungen erzeugen, ein anderes Mal aber eine Kausalität als Strukturproblem, was für die zitierte Aussage zuzutreffen scheint. E m o t i o n a l e S p r a c h e : Und schließlich kommt Cassirer im Essay on Man (1944) noch in einem weiteren Sinne auf Analogien zwischen Kulturund Tierreich – und damit indirekt zwischen Kulturwissenschaft und Biologie – zu sprechen, nämlich dann, wenn er die »modes of symbolic beha-

E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in ebd., 95. Ebd., 61 f. 57 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 162. 58 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 235. 59 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 190 f. 55

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vior« unterscheidet. 60 So finde man – bei allen Unterschieden – »analogies […] to emotional language« des Menschen bereits »in the animal world«. 61 Das Tier kennt ebenfalls eine subjektive emotionale Sprache, nicht jedoch die objektive aussagende, propositionale Sprache, über die allein der Mensch verfügt. 62 Es verfügt über eine Zeichensprache, nicht aber über eine Symbolsprache, die dem Menschen vorbehalten ist, 63 bzw. nur über erste Ansätze, soweit diese die emotionalen Ausdruckscharaktere betrifft . Das Tier bleibt letztlich beschränkt auf die »limits of his biological needs and his practical interests«, 64 die der Mensch in der von ihm selbst ausgeprägten Symbolik überschreitet. 65

3. Die Biologie als moderne Form-Wissenschaft Die Biologie hat, so sieht dies Cassirer in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, im 19. und 20. Jahrhundert eine beachtliche Entwicklung genommen. Eine der Voraussetzungen dieses Aufschwungs bildete die sich seit Kants Kritik der Urteilskraft (1790) immer mehr durchsetzende Auffassung von der Autonomie oder Eigentümlichkeit ihres Gegenstandes, des Organismus mit seiner Eigenschaft der Zweckmäßigkeit, des organischen Lebens überhaupt gegenüber der anorganischen Natur und ihrer Grundwissenschaft, der Physik. Damit wurde der positivistische Methoden-Monismus, wie ihn Aristoteles und Descartes – auf gegensätzliche Weise – vertraten, grundsätzlich in Frage gestellt. 66 Cassirer glaubt, daß sich zu seiner Zeit dieser Vorgang in den Kulturwissenschaften gerade wiederhole und noch nicht abgeschlossen sei. Er verfolgt und registriert aufmerksam, wie sich in der Biologie – und in den Kulturwissenschaften – eine neue eigentümliche Methodik etabliert, die in Distanz zu den vorherrschenden mathematisch-

E. Cassirer, An Essay on Man (1944), in: ECW 23, Text und Anm. bearbeitet von M. Lukay, Hamburg 2006, 32. 61 Ebd., 34. 62 Ebd., 34 f. 63 Ebd., 36 f. 64 Ebd., 47. 65 »Das Leben des Tieres besteht nicht, wie das des Menschen, in gegenständlichen Anschauungen und es zielt nicht auf gegenständliche Formungen.« – E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 86. 66 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 31, 33; siehe auch ders., EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 137 f. 60

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naturwissenschaft lichen bzw. kausalwissenschaft lichen Methoden tritt, wie sie in der Physik Anwendung finden, wie sie aber auch von monistisch, materialistisch-mechanistisch eingestellten Biologen zur Erklärung des eigenen Gegenstandes – des Organismus – herangezogen werden. Die Auswertung der im vorhergehenden Abschnitt bereits erwähnten Schriften und Texte Cassirers erlaubt es, ebenfalls mindestens sieben Aspekte dieser methodischen Erneuerung herauszustellen und in die nachfolgende Ordnung zu bringen: Morphologie und Metamorphose, Darwins Evolutionstheorie, Animismus/Vitalismus, deskriptive Methode, kausalanalytische Methode, Wissenschaft als Formproblem, Formbegriff und Gesetzesbegriff. M o r p h o l o g i e u n d M e t a m o r p h o s e : In der Entwicklung der Biologie und ihrer Methode seit Kant werde zum einen die ausschließliche Klassifi zierung des Ganzen des Lebens (Linné) bereits bei Cuvier durch eine Verlagerung des »Schwerpunktes der biologischen Forschungen in die Morphologie«, d. h. in die ›ideelle Genese‹, ersetzt. 67 Zum anderen löst ein an »Goethes Metamorphosenlehre« 68 orientiertes biologisches Denken die – nach Cassirers Auffassung – metaphysische und damit unproduktive Frage »nach dem Wesen und Ursprung des Lebens« ab. Dieses neue Denken bringt die »gegebenen [besonderen – C.M.] Lebensformen« in eine systematische Ordnung, in ein Ganzes (Allgemeines) und ›schaut‹ sie in ihm ›zusammen‹; es arbeitet dabei mit dem Typenbegriff, der es erlaubt, in der Welt des Lebendigen »Gestalten des Lebens« aufzufi nden. 69 Die moderne Biologie, die erst einmal der »primären Bedeutung des Faktors ›Form‹« gewahr geworden ist,70 wendet sich von metaphysischer – d. h. kausal-erklärender – Ursprungserkenntnis ab, führten diese letztlich metaphysischen ›Ursprungsfragen‹ doch »schon in der Biologie […] zu seltsamen ›Aporien‹«. 71 Diese methodische Alternative von deskriptiver Form- und metaphysischer Ursprungsbefragung fi ndet Cassirer nicht nur in der Biologie, sondern ebenfalls in den Kulturwissenschaften vor: Auch die Kulturgegenstände können als ein Ganzes von E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 148. 68 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–396. 69 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 149. 70 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 94. 71 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 189. 67

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Formen erfaßt oder nach ihrem Ursprung (›Warum‹, ›Woher‹) befragt werden.72 D a r w i n s E v o l u t i o n s t h e o r i e : Einen bedeutsamen Schritt bedeutet in Cassirers Augen die Darwinsche Lehre und ihre Evolutionstheorie, überwindet sie mit ihrer Annahme eines »continuous and uninterepted stream of life«73 doch alle aus der Klassifi kation herrührenden »arbitrary limits between the different forms of organic life«.74 Allerdings zieht sie zufällige Veränderungen im Leben eines jedes Organismus heran, um die Transformation »from the simplest forms of life […] to the highest forms« zu erklären.75 Außerdem erklärt sie das »phenomenon of life«, »the structure of organic nature«,76 aus zufälligen materiellen – d. h. mechanischen  – Ursachen. Mit der Lehre Darwins sieht Cassirer nunmehr den Historismus des 19. Jahrhunderts (Hegel) »auch in die Biologie eindringen«,77 und sich die geschichtliche Erforschung der Lebewesen etablieren.78 Damit war es notwendig geworden, die Anwendbarkeit der deskriptiven Methode (Historisches) und der kausal-analytischen Methode (Rationales) auf die Lebensvorgänge zu klären.79 Cassirer sympathisiert mit dem Versuch Goethes, den »Geist der bloßen Analyse« als Arbeitsmethode aus der Biologie zu vertreiben, da diese Vertreibung die Anerkennung der ›Autonomie des Organischen‹ (Vitalismus) vorbereitet und bestärkt. 80 A n i m i s m u s / V i t a l i s m u s : Bei der Umwandlung der Biologie aus einer Wissenschaft , die den Organismus als einen quasi physikalischen Mechanismus behandelt und mit der Ausdruckswahrnehmung, mit den Ausdrucksphänomenen aus ihm gerade das ›Leben‹, das ›Lebendige‹ verweist, schreibt Cassirer in seinen Texten der Strömung des Vitalismus eine entscheidende Rolle zu, als dessen modernen Fortsetzer er immer wieder Jakob von Uexküll würdigt. 81 Deshalb schenkt er dem Ringen zwischen den Vitalisten, die das Eigenständige und Spezifische des Organischen

E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ebd., 96. E. Cassirer, An Essay on Man (1944), in: ECW 23, a. a. O., 25. 74 Ebd., 25. 75 Ebd., 24. 76 Ebd., 23. 77 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 197. 78 Ebd., 200. 79 Ebd., 210 f. 80 Ebd., 214, 217. 81 Ebd., 150; siehe auch ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 404. 72 73

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(»Lebenskraft«) gegenüber dem Unorganischen betonen, 82 mit ihren Gegnern, die gemäß ihrem monistischen Prinzip »den Organismus einfach in ein System bewegender Kräfte auflösen« wollen, wie sie auch überall in der anorganischen Natur agieren, 83 große Aufmerksamkeit. Der neuere Vitalismus (Uexküll) suche die »Autonomie des Lebens« mit dem gegenüber der mechanischen Sichtweise als Alternative geltend gemachten Formbegriff zu verteidigen. 84 Der auf Ganzheit, Ganzheitlichkeit zielende aktuelle Formbegriff in der vitalistischen Biologie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts habe auch den alten teleologischen Zweckbegriff abgelöst. Es bleibt anzumerken, daß der Begriff des Ganzen bei Cassirer häufig im Leibnizschen Sinne von etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile, gebraucht wird. 85 Er fügt dem den Gedanken der Repräsentation hinzu: Jedes zeitlich-Momentane z. B. repräsentiert auf seine Weise das Ganze, stellt es dar, schließt das Ganze – den Sinn – unmittelbar in sich ein, weshalb diese Sinnprägnanz als ›Urphänomen‹ zu gelten habe. 86 Das Ganze bedeutet bei Cassirer also oft das Sinnganze, das sich im einzelnen Sinnfragment offenbart. D e s k r i p t i v e M e t h o d e : Am Ganzheitsbegriff – und nicht am psychologistischen, teleologischen und willentlichen Zweckbegriff (Ungerer) – orientiere sich auch die der Biologie am ehesten angemessene Methode der reinen Beschreibung des organischen Geschehens. 87 Als einen wichtigen Vertreter dieser rein beschreibenden Biologie zieht Cassirer u. a. Ludwig von Bertalanff y heran. 88 Auch Uexküll wende auf die organischen Phänomene die rein beschreibende Methode an, die Cassirer selbst ebenfalls zu favorisieren scheint. 89 Führt sie doch unausweichlich auf das FormproE. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 218. 83 Ebd., 220. 84 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 378; siehe auch ders., An Essay on Man (1944), in: ECW 23, a. a. O., 28 f. 85 E. Cassirer, Leibniz’ System (1902), in: ECW 1, a. a. O., 115 ff., 361. 86 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 4. 87 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 247. 88 Ebd., 250; siehe auch ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 452 f. Zur Rezeption Bertalanff y‘s durch die Philosophen, speziell durch Cassirer, siehe auch: D. Pouvreau † and M. Drack, »On the history of Ludwig von Bertalanff y’s ›General Systemology‹, and on its relationship to cybernetics«, in: International Journal of General Systems, Vol 36, No. 3, June 2007, 281–337, hier: 294 ff. 89 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 49. 82

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blem, auf den Formbegriff in seiner zentralen Bedeutung für die Biologie, während die mechanisch-materialistische Methode an Stelle der Form nur eine Summe von Teilen setze. In einer ›Formwissenschaft‹, die nicht auf Ursachen, sondern auf Strukturen (bzw. Gestalten) geht, werden Einzelphänomenen Formen (Gestalten) zugeordnet.90 Die ›Form-Analyse‹ gilt Cassirer als eine »spezifische Richtung des Wissens«, d. h. der Begriffsbildung und Erkenntnis, und dies im Unterschied zur kausalen Gesetzesanalyse.91 K a u s a l - a n a l y t i s c h e M e t h o d e : Cassirer deutet allerdings nicht nur den im Streite mit dem Vitalismus liegenden Mechanismus als eine einseitige Position, die es mit ihrer »Maschinentheorie des Lebens«92 als mechanisch-materialistischer Biologie93 nicht vermag, das »Rätsel des Lebens« zu lösen, sondern auch den biologischen Vitalismus selbst,94 soweit er (wie Hans Driesch oder Eduard v. Hartmann) auf den – kausal-ursächlich und damit für Cassirer naturalistisch bzw. metaphysisch gemeinten – Begriff der ›Lebenskräfte‹ setzt.95 Die moderne Biologie habe beide Extreme vermieden und sich immer stärker »auf den rein methodischen Sinn des [Lebens-]Problems« besonnen. Sie versuche nicht mehr, die organischen Lebensformen aus rein mechanischen Kräften abzuleiten, sondern legt vielmehr den Nachdruck darauf, daß die organischen Lebensformen »durch reine Kausalbegriffe nicht vollständig beschrieben werden können. Und für diesen Nachweis griff sie auf die Kategorie der ›Ganzheit‹ zurück«.96 Mit anderen Worten, die moderne Biologie ist sich bewußt, daß sich Formbegriffe als Begriffe sui generis »keineswegs restlos auf ›Gesetze‹ (ursächliche Kräfte) zurückführen« lassen,97 wohl aber teilweise, ein Stück weit. Das bedeutet aber wiederum auch, daß die kausal-analytische Methode der Erklärung aus ihr nicht grundsätzlich, nicht völlig ausgeschlossen ist, vielmehr werden die Grenzen ihrer Erklärungskraft abgesteckt, hinter denen

E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 160 f. E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ebd., 94. 92 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 452. 93 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 46 f. 94 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 238, 242. 95 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 452. 96 Ebd., 452. 97 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 165. 90 91

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die ›ganzheitliche Betrachtung‹ (›Holismus‹98) bzw. die Gestalt- und Stilbegriffe zu ihrem eigenen Recht kommen.99 Kausalgesetze bzw. der für die Physik typische Gesetzesbegriff spielen neben letzteren eben auch im organischen Geschehen eine entscheidende Rolle. Cassirer, der sich hier auf Moritz Schlick und dessen Deutung von Erkenntnis als ›Wiederfi nden‹, ›Wiedererkennen‹ stützt,100 sieht in den Gesetzesbegriffen eine »›exakte‹ Form des ›Wiederfindens‹«,101 bei der die dabei bestimmten physikalischen Phänomene von uns – d. h. den Physikern – selbst hervorgebracht und die Bedingungen dieses Hervorbringens untersucht werden können. Genau darin sieht er »das Wesen des physikalischen Experiments«,102 was die Interpretation des Cassirerschen Gesetzesbegriffes zu bestärken scheint, die sich auf Struktur- und Konfigurationsforschung stützt, die die ermöglichenden Randbedingungen von kausalen Verläufen einbezieht (Oswald Schwemmer). In diesem Sinne kann Cassirer im Anschluß erklären: Die »Kraft [des physikalischen, objektivierbaren – C.M.] Experiments«, das auf die Phänomene der Kulturwelt nicht anwendbar ist, erstrecke sich demgegenüber »bis weit in die Biologie hinein – / die wichtigsten Feststellungen der modernen Biologie werden ja dem Experiment verdankt«.103 Die Biologie wird demnach auch »von kausalen Gesichtspunkten bestimmt«, jedenfalls kann sie diese »nicht entbehren«, sie kann aber »auch nicht ausschließlich durch sie aufgebaut werden«.104 Biologie ist also beides: Gesetzes- u n d Gestalt- bzw. Form-Wissenschaft! Wir suchen in ihr – »als heuristische Maxime« – nach »Gesetzen für das organische Geschehen«, das sich wiederum nur vom Formbegriff her erfassen läßt.105 Kausale Entwicklung ist »im Kreise des organischen Lebens« nach- bzw. erfragbar, dies gelte aber nicht von der Entstehung dieses Kreises aus einem anderen,106

E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 453 Anm. 1. 99 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 167 f. 100 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 325–343. 101 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 167. 102 Ebd., 168. 103 Ebd., 168. 104 Ebd., 189. 105 Ebd., 166. 106 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 460 f. 98

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auch nicht von der Entstehung der Kultur aus der Natur.107 Auch die Kulturwissenschaft stützt sich in diesem Sinne – neben allen Form- und Gestaltbegriffen – weiter auf den Kausalbegriff bzw. das Kausalproblem (Werden, Geschichte).108 W i s s e n s c h a f t a l s F o r m p r o b l e m : Den in den zeitgenössischen wissenschaft lichen Theorien ausgemachten methodischen Übergang hin zur Formbetrachtung bezieht Cassirer, wie bereits erwähnt, nicht nur auf Kulturwissenschaft und Biologie, sondern auf die Entwicklungen in der Naturwissenschaft generell, also auf Physik (als Feldtheorie), Biologie (als Evolutionstheorie) und Psychologie (als Gestalt-Psychologie).109 Sie alle führen, im Abrücken vom mechanischen Materialismus und Monismus, methodisch Ganzheiten, Strukturen als »etwas Ursprüngliches, Unableitbares« ein,110 die als die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Teile gelten. Überall tritt in einem bestimmten Sinne der Strukturbegriff (Ganzheit) dem Kausalbegriff als leitendes Prinzip gegenüber.111 Für Cassirer wird damit eine »trennende Schranke« zwischen Natur- und Kulturwissenschaft beseitigt, was aber keineswegs heißt, daß der Biologie und den Kulturwissenschaften nicht ihre jeweiligen methodischen Besonderheiten erhalten bleiben. Aus dem einander ausschließenden Gegeneinander von Kausal- und Form- bzw. Struktur-Betrachtung ist damit ein Mit- und Ineinander geworden, was aber wohl auch eine Bedeutungsveränderung oder Bedeutungsspezifizierung der Begriffe einschließt. Diesen Aspekt der methodischen Verschränkung resümierend heißt es bei Cassirer: »Die Logik der Forschung kann jetzt all diesen [methodischen – C.M.] Problemen ihren Platz zuweisen. Form-Analysen und kausale Analysen erscheinen nunmehr als Richtungen, die einander nicht widerstreiten, sondern die einander ergänzen und die sich in allem Wissen miteinander verbinden müssen.«112

Was für den von Cassirer bemerkten »überraschend-einheitlichen Aufbau von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft« auf Grund des ObjektiEbd., 461. Ebd., 455 f. 109 Ebd., 454 f. 110 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 57. 111 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 455. 112 Ebd., 455. 107 108

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vierungsprozesses durch Gesetzes- u n d Form-Begriffe spricht. Damit hat er u. a. im Auge, daß beide Typen von Wissenschaft das »Besondere und das Allgemeine als […] korrelative Momente« enthalten und somit ein gemeinsames Erkenntnisziel – wenn auch mit unterschiedlichen Methoden – verfolgen.113 Je nach Modus des Bewirkens der ›synthetischen Einheit des Mannigfaltigen‹ zeichnen sich die Gegenstandsklassen physischer, biologischer, psychischer, kulturell-geistiger Gegenstand ab.114 F o r m b e g r i f f u n d G e s e t z e s b e g r i f f : Diese Gegenstandsbereiche der Wissenschaften – Physik, Biologie, Psychologie und Kultur (ideelle Sphäre) – scheinen für Cassirer eine Art Stufengang zu bilden, der an Nicolai Hartmanns ›Stufenontologie‹ erinnert. Lassen doch die Übergänge vom niederen Bereich zum höheren die niederen Gesetze in Geltung, führen zu keinem Bruch mit dem Niederen, für die Biologie mit den Gesetzen der Physik, und fügen neue – biologische – Gesetze hinzu. Es vollzieht sich jeweils ein qualitativer Sprung zu einem neuen »Problem- und Gegenstandstypus«.115 Demnach schließt der Gegenstandbereich der Kulturwissenschaften Gesetze und Strukturen der Biologie (»Ganzheits-Bezogenheit«) weiter ein, bereichert um ein spezifisches ›Kennzeichen‹ der Kultur. Für jeden Gegenstandsbereich bzw. jede ›Stufe‹ der Wissenschaft stehen die Gesetzes- und Formprobleme in einem anderen eigentümlichen Verhältnis, ist doch jede Wissenschaft Gesetzes- u n d Formwissenschaft.116 Für die Biologie gilt, daß in ihr »noch das Verhältnis [besteht], daß Gestaltbegriff und Gesetzesbegriff sich zwar nicht aufeinander zurückführen lassen – […] wohl aber ständig aufeinander bezogen werden müssen«.117 In diesem Sinne ist für die deskriptive Biologie ein »›Gleichgewicht‹ zwischen Formbegriffen und Gesetzesbegriffen« typisch.118 Die theoretische Physik wäre demnach durch den Primat der Gesetzesbegriffe gegenüber dem Formbegriff charakterisiert, während in den Kulturwissenschaften der explizit formulierte »Primat der Formbegriffe« gegenüber dem Gesetzesbegriff hervortritt. Daß die Formbegriffe als »geprägte«, lebendige Formen aufgefaßt werden müssen, verbindet wiederum Kulturwissenschaft und Biologie miteinander.

E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 164. 114 Ebd., 165. 115 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ebd., 63. 116 Ebd., 92. 117 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ebd., 165. 118 Ebd., 166. 113

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

4. Schlußüberlegungen: Gründe für das Interesse an der Biologie Rückblickend auf die soeben dargelegten Analogie- und Ähnlichkeitsthesen Cassirers bleibt zunächst zu erklären, warum gerade die Biologie so ausgezeichnet wird, aus welchen Überlegungen heraus der Kulturphilosoph Cassirer, der im Spätwerk an einer ›Logik der Kulturwissenschaften‹ arbeitet und der seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als eine ›kritische Kulturphilosophie‹ begreift , die die Kulturgegenstände deskriptiv als ein Ganzes von Formen aufzuklären hat,119 sich so ausgiebig für die naturwissenschaft liche Biologie interessiert und sie zur Kulturwissenschaft in ein so herausgehobenes Verhältnis setzt. Zumindest als eine erste Antwort auf diese Frage lassen sich m.E. drei theoretische, systematische Anhaltspunkte nennen. Diese Auszeichnung der Biologie, dieses systematische Interesse an ihr hat e r s t e n s mit der Überzeugung Cassirers zu tun, daß die höheren Lebensformen der Kultur einerseits über die elementaren – organischen – Lebensformen hinausragen, daß aber andererseits eine Art ›Verwurzelung‹ bzw. ein ›Entspringen‹ der höheren Kulturform des Lebens in bzw. aus der Naturform des organischen Lebens, »aus der Grund- und Urschicht des Lebens«, anzunehmen ist.120 Mit ›Leben‹ ist in dem Zusammenhang aber wohl nicht einfach der vegetative Organismus mit seinen biologischen Gesetzen gemeint, sondern die Ausdrucksfunktion höherer Lebensformen. Müsse doch der Mensch »seine ihm eigentümliche Gegenstands- und Formwelt« der Welt, in der der »Primat der Ausdruckswahrnehmung« vorherrscht, erst abgewinnen, einer Welt, die die Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungswelt der Tiere bestimmt und die als »eine andere, mehr elementare Schicht des Daseins und des Verhaltens« in »der Welt des Kindes und in der des ›Primitiven‹« immer noch aufscheint.121 Diese Aufweisung des Entspringens, gelegentlich von Cassirer auch ›Genesis‹ genannt, laufe auf eine »Grenzsetzung zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹, zwischen der Welt der organischen Formen und der Welt der Kulturformen« hinaus und fi nde z. B. bei Uexküll in einer »funktionellen Differenz«, in einem »eigentümlichen Funktionswandel« aller Bestimmungen seine Erklärung.122

Ebd., 96. E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 376 f., 378. 121 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 84, 86 f. 122 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 379 f., 381. 119

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Die Frage, ob zwischen dem biologisch-vegetativen Leben und dem Leben des Geistes von einer Kontinuität auszugehen ist, beschäftigt Cassirer immer wieder. Nur bei einer bejahenden Antwort wäre es gerechtfertigt, geistiges Leben in biologischen Kategorien zu deuten, wie dies z. B. Darwin, Nietzsche und auch Spengler tun. Oder sie würde dazu berechtigen, das organisch-vitale Leben mit Hilfe von Analogien und Kategorien des Geistigen als unseren Erkenntnisgegenstand zu konstituieren. Cassirer bleibt der durch Darwin vertretenen Annahme, wonach das geistige Ausdrucksphänomen, das den Boden der Kultur abgibt, quasi nur eine Verlängerung oder Sublimierung organisch-vitaler Ausdrucksvorgänge ist, skeptisch bis ablehnend gegenüber. Denn dann wäre der »Ausdrucksvorgang als reiner Lebensvorgang zu erfassen« und mit »rein biologischen Kategorien zu beschreiben«,123 was die Kontinuität zwischen dem natürlichen und dem geistigen Sein bzw. Leben setzt. Die Konsequenz wäre somit, daß die Welt der Kultur in die Welt der Natur aufgenommen und »nach dem gleichen Prinzip wie diese erklärt« wird,124 eine Konsequenz, die Cassirer zu vermeiden trachtet.125 Außerdem ist hier implizit zugleich auch die Frage gestellt, ob geistige Lebensfunktionen letztlich aus organisch-vitalen Lebensfunktionen erwachsen, bzw. ob die Vitalfunktionen in geistige umschlagen oder sie wenigstens vorbereiten, wie dies Simmel in seinem Essayband Lebensanschauung (1918) suggeriert.126 Cassirer scheint dabei die Meinung zu vertreten, daß das sinnorientierte geistige Leben, also die geistig-lebendigen symbolischen Formen, selbst nicht aus organisch-vegetativen Funktionen hervorgehen und auch keine Übertragungen dieser Funktionen auf das geistige Leben darstellen. Denn der Geist in seiner höchsten Stufe, das reine Denken der Bedeutungsfunktion, bewegt sich allein in der Welt der Geltung, in einer ideellen Welt bar jeglicher »individuellen Lebensfülle« und damit bar jeglicher Nützlichkeits- und Zweckerwägung, die nicht-geistiges Leben charakterisiert.127 Trotzdem sind seine symbolischen Formen, wie bei Simmel, zuerst in den E. Cassirer, Zweites Kapitel: »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke und O. Schwemmer, Hamburg 1995, 37. 124 Ebd., 38. 125 E. Cassirer, »Symbolische Formen, Zu Band IV«, in: ebd., 244. 126 G. Simmel, »Die Wendung zur Idee«, in: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, 28–98, hier: 38. 127 E. Cassirer, Zweites Kapitel: »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 99 f. 123

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»Kreis der bloßen ›Nützlichkeit‹«, d. h. in den Kreis des reinen Daseinskampfes, eingeschlossen und müssen den ihnen eigentlich fremden Lebenszwecken dienen, auf die sie als Ausgangsstufe offenbar angewiesen sind. Die Aufmerksamkeit für die Biologie hat z w e i t e n s mit Cassirers Beobachtung zu tun, daß die moderne Biologie als Lebenswissenschaft in wissenschaftsmethodischem Sinne zu einer Schlüsseldisziplin geworden ist: Der Lebensbegriff (Lebensform) hat seinem Verständnis nach den Funktionsbegriff der Mathematik gewissermaßen abgelöst. So ist, wie er feststellt, die Biologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur zu einer echten Wissenschaft geworden,128 sondern bereits im 19. Jahrhundert »biological thought takes precedence over mathematical thought«.129 Deshalb glaubten Wissenschaften bzw. Disziplinen wie die philosophische Anthropologie sich nun auf die Biologie (als allgemeiner Evolutionstheorie) und nicht mehr auf die Mathematik stützen zu müssen.130 Ein Ausdruck dieser »Oberhand« des biologischen Denkens dürfte – auch bei Cassirer – der vielfache Gebrauch methodisch gemeinter Termini sein wie »organische [das heißt ganzheitliche – C.M.] Betrachtung«,131 »organischer [das heißt systematischer, strukturierter] Zusammenhang«,132 »organisches Ganzes« [d. h., strukturierte, sich entwickelnde Ordnung].133 Kulturformen werden häufig als lebendige »Organismen«134 bezeichnet, oder es ist vom lebendigem »Organismus der Sprache« die Rede.135 Fragen müssen wir uns dabei immer, ob es sich für Cassirer in diesen Fällen um eine der Biologie oder der Philosophie bzw. den Geisteswissenschaften entlehnte Bedeutung der Begriffe handelt. Das Interesse für die Biologie hängt d r i t t e n s nicht zuletzt mit den von Cassirer bemerkten Form-Analogien, Form-Ähnlichkeiten zusammen, die sich vor allem aus der Gemeinsamkeit des Lebens, des Lebendigen in beiden Gegenstandsgebieten und Begrifflichkeiten ergeben. Hier ist, wenn vom Lebensprozeß die Rede ist, auch an den Unterschied von organischem E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 19. 129 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), in: ECW 23, a. a. O., 22. 130 Ebd., 22 f. 131 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 188. 132 E. Cassirer, EP, 4. Bd.: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5, a. a. O., 58. 133 Ebd., 141. 134 E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 127. 135 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 403. 128

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Leben (Wirkverhältnis) und geistigem Leben (Sinnverhältnis) zu denken. Das Aufmerken auf diese Analogien geht nach Cassirer zunächst auch von in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften bemerkten methodischen Neuerungen aus und speist sich nicht zuletzt aus der 1939 formulierten Frage, welche Bedeutung die in den Naturwissenschaften als »etwas Ursprüngliches, Unableitbares« eingeführten Form- und Strukturbegriffe denn für »die Grundlegung der Kulturphilosophie und […] die Möglichkeit der Kulturwissenschaft« haben.136 Diese Formulierung137 deutet ein – zumindest methodisches – Primat der Naturwissenschaften in dieser Frage der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung an. Eine besondere Grundlage, die der Physik allerdings zu fehlen scheint, haben die thematisierten Analogien des Formproblems speziell in Biologie (»organisches Leben«) und Kulturwissenschaft (»geistiges Leben«) für Cassirer ganz klar in der »ersten Grundschicht« des Phänomens, daß das Wirklichkeitsverhalten auf Invarianten, auf Regeln des gleichförmigen Antwortens auf Umweltreize beruht.138 Diese Grundschicht wird von Cassirer bekanntlich im Gebiet der Ausdruckswahrnehmung lokalisiert. Gleichzeitig bleibt zu bedenken, ob und inwieweit Cassirer diese Formbegriffl ichkeit letztlich nicht doch der Philosophie und den Kulturwissenschaften entlehnt und sie auf die Methoden der modernen Naturwissenschaften, so wie er sie sieht oder verstehen möchte, überträgt bzw. anwendet. Es ist offensichtlich, daß dieses Interesse an der modernen Biologie selbst wiederum einen Bezug zu dem Ende der 20er Jahre einsetzenden Bemühen Cassirers hat, seine symboltheoretische Kulturphilosophie und die philosophische Anthropologie in eine enge Beziehung und gegenseitige Begründung zu setzen. Wir haben also auch zu fragen, inwieweit sich Cassirer dabei einem Ansatz nähert, der eine Verwurzelung, Fundierung des Geistig-Kulturellen im Organisch-Natürlichen thematisiert, was nahelegt, daß die biologischen Formgesetzlichkeiten im geistig-kulturellen Leben des Menschen wenigstens weiterwirken.139 Ein Ansatz, der nicht zuletzt dann interessant E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 57. 137 Das in bzw. mit dieser Formulierung ebenfalls aufgeworfene Verhältnis von Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie, das Cassirer in einer gewissen Analogie zu dem von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie bestimmt, muß hier unthematisiert bleiben; siehe dazu im vorliegenden aber den Beitrag »Philosophie, Wissenschaft , Wissenschaftsphilosophie. Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft«, 445–463. 138 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 83. 139 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324. 136

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wird, wenn es gilt das Verhältnis von Kultur und Natur im Menschen zu bestimmen. Zumindest einmal hat es auch Cassirer klar ausgesprochen, daß die spezifisch menschliche Welt »forms no exception to those biological rules which govern the life of all the other organisms«.140 Cassirer steht zudem mit dem methodischen Bezug des Geistig-Kulturellen zur Biologie keineswegs allein da. Findet sich doch z. B. auch bei Wilhelm Dilthey, dem für Cassirers Denken immer wichtigen Anreger, den er 1929 für die damals noch junge philosophische Disziplin der Kulturphilosophie durchaus für bedeutsam hält,141 in dessen Einleitung in die Geisteswissenschaften ganz unerwartet die Annahme, daß, weil die »Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage« haben, »die Wissenschaften des Organismus ihre [d. h. der Kulturwissenschaften – C.M.] Grundlage« bilden.142 Andernorts thematisiert Dilthey, nach einer Feststellung Norbert Meuters, ebenfalls die »Bedeutung der durch die […] Biologie […] erschlossenen Natur als ›Grundlage‹ auch der Kulturwissenschaften«.143 Diese Überlegungen stehen in Zusammenhang mit dem Bemühen Diltheys um eine philosophische Anthropologie, die den Menschen als geistiges Kultur- und organisches Leibwesen zu fassen bzw. zu verschränken sucht.144 Dennoch denkt Cassirer kaum daran, biologische Formbegriffe als kulturelle Formbegriffe zu deuten. Dies wird ganz deutlich, wenn er zum Ausdruck bringt, daß man das Spiel mit Analogien und Ähnlichkeiten schwerlich so verstehen darf, als ließen sich geistig-kulturelle Formen auf ihre sozusagen biologischen Unterstufen zurückführen, in ihnen auflösen, »wenngleich [sie] genetisch mit diesen anderen in Zusammenhang stehen [mögen]«.145 Desweiteren ist zu prüfen, ob und wodurch dieses Verfahren des Benennens von Form-Analogien gerechtfertigt erscheint und wieweit es trägt, was E. Cassirer, An Essay on Man (1944), in: ECW 23, a. a. O., 29. E. Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 3. 142 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Erster Band (1888), in: GS, Bd. 1, Leipzig und Berlin 1922, 19. 143 N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, 40, 47. 144 Ebd., 80 f. 145 Cassirer bezieht diese Aussage auf die symbolische Form als etwas ›Urphänomenales‹, was es im Tierreich nicht gebe: »[…] die symbolische Form ist immer etwas Eigenartiges, Unableitbares, sui generis[,] das nicht auf andere (biologische) Vorstufen zurückgeführt, in sie nicht aufgelöst werden kann, wenngleich es genetisch mit diesen anderen in Zusammenhang stehen mag«. – E. Cassirer, »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 158. 140 141

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es kulturphilosophisch leistet. Dilthey z. B., der noch 1910 im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften meint, daß die kulturelle Welt des objektiven Geistes und die Struktur des hermeneutischen Bewußtseins gewisse »Ähnlichkeiten mit der biologischen Struktur« habe, sieht deren Aufweisung jedoch nur auf »vage Analogien« führen.146 Und nicht zuletzt bleibt zu klären, ob diese methodischen Analogien eher von der Biologie aus mit Blick auf die Kulturwissenschaft oder umgekehrt, von den Kulturwissenschaften aus auf die Biologie, erfaßt und festgestellt werden. Letzteres Verfahren würde die Emergenzthese Cassirers methodologisch schwächen. Seine soeben angeführte Bemerkung, wonach die Rückführung kausaler Fragestellungen auf das Formproblem »ähnlich […] s c h o n für die Biologie gilt«, weist zunächst einmal eher darauf hin, daß er bestimmte kulturwissenschaftliche Gegebenheiten in biologischen wiederzufinden meint, was ihnen einen zusätzlichen Geltungswert verleiht. Wenn solche Form-Analogien konstatiert werden, dann müssen selbstverständlich auch die grundlegenden methodischen Unterschiede zwischen dem Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie – als einer Naturwissenschaft – zur Sprache kommen, handelt es sich doch schließlich um ›Zwei Kulturen‹ der Wissenschaft . Unterscheidungen (Entgegensetzungen) und Vergleiche (Ineinssetzungen) beider Typen von Wissenschaft scheinen aber in Cassirers Texten begrifflich nicht konsistent vorgenommen zu werden. Möglicherweise spricht er oft in zwei ganz unterschiedlichen Sinnzusammenhängen von Wissenschaft (Ernst Wolfgang Orth): einmal gemäß dem methodischen Selbstverständnis der forschenden Wissenschaftler, nach welchem Naturwissenschaft als kausale Gesetzeswissenschaft und Kulturwissenschaft als beschreibende, individualisierende Stilwissenschaft gänzlich zu unterscheiden sind, und das andere Mal gemäß seinem eigenen methodischen Verständnis, welches in beiden Wissenschaftstypen zwar ein veränderliches Verhältnis von Form- und Kausalproblemen konstatiert, dabei aber das Formproblem als ein originäres, eigenständiges Thema in allen Typen von Wissenschaft verortet. In Cassirers Ausführungen treffen wir, wie ich das sehe, auf mehrere, unterschiedlich gemeinte begriffliche Fassungen des Problems: zum E i n e n auf den zum Ausdruck gebrachten Gegensatz von Gesetzeswissenschaft (Kausalität) der Natur (Laborbedingungen) und Form- bzw. Stilwissenschaft der Kultur (Individualität und Freiheit). Wir treffen zum A n d e r e n auf die Deutung der Wissenschaft als Verfahren der Konstantenbildung am N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, a. a. O., 48; W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), in: GS, Bd. 7, 8. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1992, 23. 146

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

mannigfaltigen Material, wobei zwei Richtungen der Konstantenbildung unterschieden werden: die eine auf Begriffe von Naturgesetzen hin, in denen das Einzelne, der Fall dem Allgemeinen, dem Gesetz subsumiert wird, aus diesem erklärt wird, und die andere auf Stil- und Gestaltbegriffe hin, für die das Einzelne das Allgemeine lediglich repräsentiert bzw. das Allgemeine im Einzelnen symbolisch zum Ausdruck kommt. Hier ist wahrscheinlich in einem anderen Sinne auch von Stil›gesetzen‹ bzw. ›Gesetzen‹ individueller Einheiten die Rede. In einem d r it t e n Sinne treffen wir auf die Auffassung, wonach Wissenschaft, also explizit auch die Naturwissenschaft, grundsätzlich von Formproblemen und von Kausalproblemen beherrscht ist. In diesem Zusammenhang ist das Kausalproblem möglicherweise als eine Strukturforschung der Randbedingungen, der Konfigurationen als Ursachenverhältnissen zu verstehen, wodurch es sich mit dem Formproblem in Beziehung setzen läßt. Es handelt sich dabei – je nach Forschungsgegenstand – um ein bewegliches, veränderliches Verhältnis, bei dem Cassirer hinsichtlich der Relevanz des Formproblems durchaus Unterschiede hervorhebt, z. B. zwischen der Mechanik und der Feldphysik, der experimentellen Psychologie und der Gestaltpsychologie. In einer weiteren, v i e r t e n Fassung des Problems gilt Cassirer die Naturwissenschaft (Biologie) selbst als ein Kulturphänomen. Das Naturuniversum wird als Kulturraum, als symbolisches Universum begriffen. Der Unterschied zu den Kulturwissenschaften ist durch die Kultur, den Kulturmenschen, der als Naturwissenschaft ler fungiert, generiert und benannt (Ernst Wolfgang Orth). Damit schließt der Kulturbegriff den der Naturwissenschaft einmal ein, ein andermal aus.

Philosophie, Wissenschaft, Wissenschaftsphilosophie Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft

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ie nachstehenden Ausführungen zielen auf das Thema der Beziehung von Philosophie und Wissenschaft im Werk Ernst Cassirers, da dieser auf den ersten Blick scheinbar völlig evidente Zusammenhang sich bei näherem Hinsehen zumindest als nicht durchgehend klar, vielleicht sogar als uneindeutig expliziert erweist. Diese Fragestellung beschäftigt mich im Grunde schon seit längerem, insbesondere seit ich mich mit den wissenschaftsphilosophischen Ansätzen Cassirers, speziell den Grundlegungsversuchen von Kulturwissenschaft, befasse, ohne daß ich ihr bislang einmal gezielt nachgegangen wäre. Um einen Bezugsrahmen für die Recherche zu gewinnen, soll zunächst die Beziehung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft , wie sie Cassirer ohne Bezug auf eine wie immer geartete Naturphilosophie bestimmt, hinterfragt werden. Danach wird der grundlegende Zusammenhang zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft umrissen, und dies eingedenk der Bemühungen Cassirers, eine eigenständige Logik dieses Wissenschaft styps zu begründen, ohne dabei die Einheit der Wissenschaft insgesamt aufzukündigen. Schließlich soll, als spezieller Fall, der Beziehung von Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft nachgegangen werden, die Cassirer seit Anfang der 20er Jahre bis in sein letztes Lebensjahr 1944/45 nahezu untererbrochen beschäftigt. Meinen Überlegungen möchte ich die These vorausschicken, daß für Cassirer Philosophie selbst keine Wissenschaft ist, wohl aber über eigene, wissenschaftstaugliche Methoden verfügt. Dazu ist zu bemerken, daß e rs t e n s noch genauer auszuführen wäre, was für ihn eigentlich Wissenschaft als Wissenschaft auszeichnet, wobei nicht allein der Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaft zu beachten ist, besitzen doch für Cassirer auch Mathematik und Geschichte eine gewisse methodische Eigenständigkeit. Z w e i t e n s wäre im Vorfeld genauer herauszufinden, was die Philosophie – als ›Philosophie der symbolischen Formen‹ – auszeichnet, mit welchen Methoden sie welche Ziele verfolgt, unter denen das Thematisieren erkenntnistheoretischer und methodologischer Fragen der Wissenschaften und das Grundlegen von Wissenschaft einen wichtigen, aber nicht den alleinigen Platz einnehmen. Als ein Ausgangspunkt kann die Feststellung dienen, daß Cassirer das eigene Fortentwickeln seiner philosophischen Theorien eng mit dem Verfolgen der neuesten Entwicklungen in Wissen-

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

schaft und Philosophie seiner Zeit verbindet, auf die er zu reagieren bestrebt ist.1 1. Allgemeine Erkenntnislehre und Naturwissenschaft In der Tradition der neukantianischen Marburger Schule versteht Cassirer Philosophie zunächst wesentlich als Allgemeine Erkenntniskritik, die naturwissenschaft liche Urteile als ihr F a k t u m vorfindet, dessen Bedingungen der Möglichkeit abzuklären sind. Diese Arbeit führt die Erkenntniskritik, die »sich immer wieder am Fortschritt der Wissenschaft neu zu orientieren hat«, 2 auf das Problem der naturwissenschaft lichen Begriffsbildung, deren Verfahren der K r i t i k im Sinne Kants – d. h. einer Suche nach ihrer Rechtfertigung – zu unterziehen sind. Im besten Falle kommen Philosophen und Einzelwissenschaftler an Hand neuer wissenschaft licher Ansätze und Erklärungen miteinander in ein produktives Gespräch auf Augenhöhe, wie es z. B. Cassirer und Einstein 1920 an Hand des Versuchs des Philosophen, »die philosophischen Probleme, die durch die Relativitätstheorie aufgeworfen wurden, zur […] Darstellung zu bringen«,3 geführt haben. In dieses Gespräch ist auch der sowohl von Einstein als auch von Cassirer sehr geschätzte Physiker und Philosoph Moritz Schlick involviert. 4 So befaßt sich Cassirer 1910 in seiner systematisch angelegten Abhandlung Substanzbegriff und Funktionsbegriff, die den bezeichnenden Untertitel Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik trägt, mit der Thematik »der mathematischen und naturwissenschaft lichen Begriffsbildung«. Diese Beschäftigung führt er Zeit seines Lebens fort, auch nachdem er zu Beginn der 20er Jahre eine umfassende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der Kultur entworfen hatte. Die Abhandlung von 1910 gilt ihm z. B. noch 1936 als der ursprüngliche Ausgang seiner philosophischen ArSiehe dazu auch vom Verfasser, »Ernst Cassirer. Vom ›Erkenntnisproblem‹ über das ›Formproblem‹ zum ›Strukturproblem‹«, in: F.O. Engler / M. Iven (Hrsg.), Große Denker, Leipzig 2013, 75–104. 2 E. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem (1936), in: ECW 19, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2004, 5. 3 E. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1920), in: ECW 10, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, VII. 4 M. Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie. Berlin 1917; zum Verhältnis Cassirer – Schlick siehe im vorliegenden Band den Beitrag »›Objektivität der Ausdrucksfunktion‹. Auseinandersetzung mit Schlick und dem ›Wiener Kreis‹«, 325–343. 1

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beit am Problem der wissenschaft lichen Begriffbildung, und diese Arbeit sei von einer Grundanschauung getragen, die sich auch angesichts der modernen Quantenphysik »in den eigentlich wesentlichen Zügen nicht geändert habe«, mehr noch, die er »auf Grund der Entwicklung in der modernen Physik schärfer formulieren und besser begründen zu können« glaubt.5 Folglich habe er, Cassirer, an der damaligen allgemeinen Behandlung des Problems naturwissenschaft licher Begriffsbildung, »an ihrer Grundtendenz«, auch im Rückblick nichts Grundsätzliches zu ändern. 6 Bekanntlich weist Cassirer an diesem Problem u. a. den Gedanken der Abkehr vom Substanz- und die Hinwendung zum Funktionsdenken in Wissenschaft bzw. Philosophie der Neuzeit nach. Aus diesem Blickwinkel werden neue naturwissenschaftliche Theorien wie die bereits erwähnte Einsteinsche Relativitätstheorie oder die Heisenbergsche Unschärfenrelation von der Allgemeinen Erkenntniskritik als Herausforderung verstanden und angenommen, der sie sich im Dialog mit den Wissenschaftlern stellt. Dies macht Cassirer u. a. 1920 im Vorwort zu seiner Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, die er Erkenntnistheoretische Betrachtungen untertitelt, deutlich: »Ich bin mir bewußt, daß die neuen Aufgaben, vor welche auch die allgemeine Erkenntniskritik durch diese Theorie gestellt worden ist, nur in allmählicher gemeinsamer Arbeit der Physiker und Philosophen bewältigt werden können; […] Daß ich auch in den rein erkenntnistheoretischen Erörterungen bemüht war, mich in nächster Berührung mit der wissenschaftlichen Physik zu halten, und daß die Schriften der führenden Physiker der Vergangenheit und Gegenwart die gedankliche Orientierung der folgenden Untersuchung überall wesentlich mitbestimmt haben, wird man der Darstellung entnehmen.«7

Eine analoge Haltung angesichts neuer physikalischer Theorien finden wir in der Schrift Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936) vor, die als Studien zum Kausalproblem gleichsam den grundsätzlichen Unterschied zu den Kulturwissenschaften benennt, die ihrerseits mit dem Formproblem ringen. 8 Die Entwicklung der Quantenmechanik zwinge als »Sprengkörper« die Philosophie bzw. die allgemeine ErkenntnistheoE. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem (1936), in: ECW 19, a. a. O., 3, 5. 6 Ebd., 6. 7 E. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1920), in: ECW 10, a. a. O., VII. 8 Siehe dazu u. a. E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien 5

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rie, den Blick über die »Verschläge und Umzäunungen der Einzelwissenschaften« zu werfen, um ihrem eigenen »Ideal der methodischen Analyse und der erkenntniskritischen Grundlegung« weiterhin gerecht werden zu können.9 Mit anderen Worten, die einzelwissenschaft liche Forschung und Theoriebildung stößt immer wieder an Fragestellungen, die der philosophischen Durchdringung und Klärung bedürfen, die Philosophie wiederum kann ihre Analysen und Antworten weder a priori noch philosophieimmanent entwickeln, sondern hat sich grundsätzlich auf einzelwissenschaftliche Beschreibungen und Verallgemeinerungen zu stützen. Damit ist der Aufgabenbereich der Philosophie in Bezug auf die Wissenschaft noch einmal abgesteckt. Erneut ist es Cassirer um eine »gemeinsame Forschungsarbeit« zwischen Philosophen und Physikern zu tun. »Denn nur in solcher gemeinsamen Arbeit und in ständiger gegenseitiger sachlicher Kritik wird schließlich die Antwort auf bestimmte Grundfragen der neuen Physik gewonnen werden können«. Dabei sieht er sich durch die Entwicklung der modernen Physik in seinen erkenntnistheoretischen Positionen bzw. »in der erkenntniskritischen Deutung der modernen naturwissenschaftlichen Grundbegriffe« vor allem bestätigt.10 Als Cassirer um 1917 damit beginnt, über eine prinzipielle Ausweitung der »herkömmlichen« Allgemeinen Erkenntniskritik, die die Logik naturwissenschaftlicher Forschung zu ihrem Gegenstand hat, auf die Erforschung einer Vielzahl von Logiken des Geistes bzw. der Kultur nachzudenken,11 versteht er die sich dabei abzeichnende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der Kultur immer auch als »erweiterte« Allgemeine Erkenntnistheorie, die »auf die Untersuchungen zurück[geht]«, die im Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff »zusammengefaßt sind«.12 Nun geraten »die verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt« in seinen Blick, weshalb die neue Allgemeine Erkenntnistheorie eine »›Formenlehre‹ des Geistes« überhaupt werden müsse. Von dieser pluralen Formenlehre aus müßten sich »auch für die einzelnen geisteswissenschaft lichen Disziplinen (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007. 9 E. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ECW 19, a. a. O., 4 f. 10 Ebd., 7. 11 Siehe dazu u. a. A. Schubbach, »Die Form der Zettel. Ernst Cassirers Vorarbeiten zur ›Philosophie des Symbolischen‹«, in: Ch. Hoffmann (Hrsg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich-Berlin 2008, 103–128; ders., Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, in: CF, Bd. 16, Hamburg 2016. 12 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, VII.

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ein klarer methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung« finden lassen,13 worauf noch zurückzukommen sein wird. Statt e i n e r Erkenntnisfunktion sind nun m a n n i g f a c h e Funktionen des Geistes zu erforschen, die Cassirer »geistige Ausdrucksformen« bzw. Formen der Objektivierung nennt und die er in einer »allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen« darzustellen sucht.14 Spätestens jetzt tritt der Formbegriff ins Zentrum seines philosophischen Interesses. Den übernommenen Begriff wird er als »lebendige« und als »symbolische« Form anreichern und fortentwickeln. Aus grundsätzlichen systematischen Erwägungen heraus plant Cassirer 1923, wie wir wissen, drei spezielle Formenlehren, die er in Anlehnung an Hegel auch »Phänomenologien« nennt: die der Sprache, des mythischen und religiösen Denkens, und – als »die eigentliche ›Erkenntnislehre‹« – die des »[natur-]wissenschaftlichen Denkens«,15 das folglich ebenfalls den Status einer »geistigen Grundfunktion« erhält bzw. behält.16 Auf diese Weise wird das naturwissenschaft liche Denken bzw. Erkennen als e i n e der symbolischen Kulturformen verstanden, ausgestattet mit eigener Logik, eigener Struktur bzw. eigenem Strukturprinzip, was wiederum eine bestimmte Weise wissenschaft licher Begriffsbildung nach sich zieht, die der der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften grundsätzlich gegenüberzustehen, sich von dieser grundsätzlich zu unterscheiden scheint. An dieser Stelle ist auf die Eigentümlichkeit hinweisen, daß Cassirer nunmehr die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als eine »erweiterte« Allgemeine Erkenntniskritik gilt, wobei die Phänomenologie des naturwissenschaft lichen Denkens, niedergelegt im Band Phänomenologie der Erkenntnis (1929), als die »eigentliche« Erkenntnislehre aufgefaßt wird. Obwohl er in letzterer »zu den Untersuchungen zurückkehrt«, mit denen er 1910 seine »systematische philosophische Arbeit begonnen« hat, werde in ihr angesichts des »Problems der Erkenntnis«, des »Aufbaus und der Gliederung des ›theoretischen Weltbildes‹«, die »Frage nach der Grundform der Erkenntnis […] in einem weiteren und allgemeineren Sinne gestellt.«17 Ebd., VII. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt«, 91–104. 15 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., VIII; zum Phänomenologiebegriff Cassirer siehe im vorliegenden Band den Beitrag »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹. Ein Vorbild für Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 467–492. 16 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., XI. 17 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, VII. 13 14

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Mit anderen Worten, diese Ausweitung bleibt nicht ohne Konsequenz auf die Philosophie der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst. Der ursprüngliche Blick auf die Mathematik und die Naturwissenschaften wird nun ergänzt durch den auf die Gestaltpsychologie, die Mythologie, die Sprachwissenschaften etc. So werde das »konstitutive Gesetz« wissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr allein in der »Begründung der mathematisch-physikalischen ›Gegenständlichkeit‹«, d. h. in der »Form der exakten Wissenschaft«, aufgesucht, sondern z. B. auch in der Strukturform des mythischen Denkens. In der erweiteten Erkenntniskritik wird »die Eigenart, die Gliederung und Architektonik […] der Wissenschaft«, was Cassirer als »Oberbau« verstanden wissen will, im »ständigen Hinblick und Rückblick« auf deren »Unterbau« in jenen »geistigen Schichten [bestimmt], die die Analyse der Sprache und des Mythos aufgedeckt hat«,18 also insbesondere in der Ausdrucks-, aber auch in der Darstellungsfunktion, wobei erstere bereits elementarste Wahrnehmungsakte strukturiert. Der A u f b a u der speziellen Form exakter Erkenntnis, der, wie andere Objektivationsformen auch, von ein und derselben geistigen Grundfunktion beherrscht und geleitet wird, ist damit durch all diese Schichten bzw. Stufen hindurch zu verfolgen. Damit wird auch die Aufgabe der Philosophie als einer Allgemeinen Erkenntnislehre für das Gebiet der Naturwissenschaften, d. h. das Gebiet der »eigentlichen« Erkenntnislehre, entscheidend ausgeweitet. Erweist sich doch nun das »Weltbild der exakten Erkenntnis« in den Problemkreis der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der Kultur einbezogen, die auch weiterhin als eine Allgemeine Erkenntniskritik betrachtet wird, wenn auch als eine prinzipiell erneuerte. Speziell als ›Phänomenologie der Erkenntnis‹ bzw. als »eigentliche ›Erkenntnislehre‹« bestimmt sie auf n e u e Weise die »Form der exakten [Natur-]Wissenschaft«.19 Dies leistet sie u. a. durch den Aufweis ihrer eigentümlichen Struktur, die sich in der Gliederung Ausdrucksfunktion – Repräsentationsfunktion – Bedeutungsfunktion niederschlägt. Offensichtlich ist aber auch, daß die ›Phänomenologie der Erkenntnis‹ weder für die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als Ganzes steht noch in Beziehung zu irgendeiner Philosophie der Natur, die in Cassirers Werk nicht eigens vorkommt, tritt.

18 19

Ebd., VII f. Ebd., VII.

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2. Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft Während bei Cassirer die Beziehung zwischen Allgemeiner Erkenntniskritik und Naturwissenschaft von Anfang an einen zentralen Gegenstand seines Philosophierens ausmacht, auch in der universitären Lehre, so ist dies im Falle der Beziehung von Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft etwas anders. Die Philosophie der Kultur wird mit der dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen – seit 1923 – zu einem allgemeinen Thema, als eigenständige Disziplin beginnt Cassirer sie jedoch erst ab seiner Hamburger Vorlesung im Sommersemester 1929 zu behandeln. Mit Grundlegungsfragen der Kulturwissenschaft beginnt er sich sogar erst Mitte/Ende der 30er Jahre in Göteborg gezielt zu befassen. Die Tatsache, daß mit der 1923 im Band Die Sprache konzipierten »›Formenlehre‹ des Geistes« und dessen »symbolischer Gestaltungen«20 eine allgemeine Philosophie der Kultur bereits in Grundzügen entworfen ist, wird an Formulierungen wie der in der Einleitung deutlich, wonach nun »die [Kantische] Kritik der Vernunft […] zur Kritik der Kultur« werden müsse.21 Cassirers Augenmerk ist dabei auf einen »allgemeinen Kulturbegriff« gerichtet, den er als »geistige Kultur« mit mannigfachen »Ausdrucksformen« wie Sprache, wissenschaftliche Erkenntnis, Mythos, Kunst, Religion bestimmt. 22 Obwohl sich die »Philosophie […] im Verlauf ihrer Geschichte der Aufgabe einer solchen Analyse und Kritik der besonderen Kulturformen immer […] bewußt gewesen« ist, habe sie diese bislang noch nicht in einer einheitlichen Philosophie der Kultur zusammengeführt.23 Dieses Zusammenführen der Analysen der Einzelformen der Kultur zu einer Gesamtanalyse harre also noch seiner Erledigung. Dabei dürfe die Philosophie weder in den einzelnen Formen der geistigen Kultur aufgehen, noch alle auf eine einzige – die logische bzw. naturwissenschaft liche – Form zu reduzieren suchen. 24 Neben den vielfältigen Sonderformen des tätigen symbolischen Gestaltens wie der mythischen, ästhetischen oder wissenschaftlichen Form habe eine Philosophie der Kultur »gewisse gemeinsame und typische Grundzüge der Gestaltung selbst heraus[zu]heben«.25 Genau E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 7. Ebd., 9. 22 Ebd., 9; Zu den »Probleme[n] mit dem Begriff der Kultur«, wie sie u. a. anläßlich der Davoser Debatte 1929 zwischen Cassirer und Heidegger zu Tage treten, siehe B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 6), Berlin 2004, 19–29. 23 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 10. 24 Ebd., 14. 25 Ebd., 49. 20 21

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

dieses ›Herausheben‹ unternehmen die drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen zwischen 1923 und 1929 anhand der in ihnen dargestellten besonderen Sprach-, Mythos- und theoretischen Erkenntnisform. In der im Sommersemester 1929 an der Universität Hamburg gehaltenen Vorlesung zu »Grundfragen der Kulturphilosophie« behandelt Cassirer diese, wie bereits erwähnt, erstmals als eigenständige akademische Disziplin, wobei sein ehemaliger Doktorand Hermann Noack und der Mitarbeiter Erwin Panofskys, Edgar Wind, in den folgenden Semestern Übungen zur Kulturphilosophie bzw. zu den philosophischen Grundlagen der Kulturwissenschaften durchführen. Cassirer hebt hier hervor, daß das Thema Kulturphilosophie noch keinen »allgemein anerkannten feststehenden Sinn« erhalten habe, und dies trotz zahlloser Werke verschiedenster philosophischer Schulen, die den Begriff im Titel führen.26 Um überhaupt von einer »einheitlichen [d. h. systematischen – C.M.] Kultur-Philosophie« sprechen zu können, müsse man sich, so Cassirer, zunächst über ihr »Subjekt wie das Objekt« verständigen, eine Verständigung, die Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts noch unmöglich scheint. 27 Zudem habe man, bevor überhaupt zu einem »systematischen Aufbau der Kulturphilosophie« übergegangen werden könne, erst einmal Erkenntniskritik bzw. »erkenntnis-kritische Selbstbesinnung« zu betreiben, um die »Vorfragen über die ›Möglichkeit‹ der Kultur und der Kulturphilosophie« zu klären.28 Die – erweiterte – allgemeine Erkenntniskritik hat nach Cassirers Verständnis also auch in Bezug auf diese neue philosophische Disziplin und ihren Gegenstand notwendige Vorarbeit zu leisten. Dabei vergleicht er Zustand und Probleme der Kulturphilosophie im 20. Jahrhundert mit den Problemen der Metaphysik zu Kants Zeiten.29 Mit anderen Worten, es müsse das F a k t u m der Kulturphilosophie – bzw. der kulturwissenschaftlichen Urteile – gesucht und gefunden werden, um dann die Bedingungen seiner Möglichkeit zu untersuchen. Cassirer meint dieses Faktum in der »Union von Realem und Idealem«, von »Sein und Sinn«, im »›Werden zum Sinn‹« als die Kulturphänomene auszeichnend zu finden.30 Wenn er in dem Zusammenhang die methodische Forderung erhebt, daß Kulturerzeugnisse, um sie verstehen zu können, in der Analyse auf die Richtung und den Akt ihres Erzeugens zurückzuführen E. Cassirer, »Grundfragen der Kulturphilosophie« (1929), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 3. 27 Ebd., 7. 28 Ebd., 8. 29 Ebd., 8 f. 30 Ebd., 12. 26

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sind,31 dann wird klar, daß er mit dieser Forderung im Grunde das Vorgehen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bei der Untersuchung der symbolisch geformten »Erzeugnisse« beschreibt.32 Obwohl sich Cassirer schon früh, so z. B. im Vortrag »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921), mit dem schwierigen »Verhältnis der Logik als allgemeiner ›Wissenschaftslehre‹ und dem System der ›Geisteswissenschaften‹« befaßt und die »Aufgabe einer allgemeinen Logik der Geisteswissenschaften, die der der Mathematik und der Naturwissenschaft ebenbürtig zur Seite treten könne«, 33 stellt, ist von der einer Kulturphilosophie korrespondierenden Kulturwissenschaft – bzw. den Kulturwissenschaften – auf grundsätzliche und einen neuen methodischen Ansatz verfolgende Weise erst in der nachgelassenen Göteborger Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« (1939) die Rede; der ebenfalls 1939 gehaltene Vortrag »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« beschränkt sich demgegenüber auf Fragen einer Philosophie der Kultur. Cassirer, dem die Kulturphilosophie noch immer als fragwürdigste philosophische Disziplin gilt,34 will in der Göteborger Vorlesung nunmehr klären, was die in moderner Physik, Biologie und Gestaltpsychologie als »etwas Ursprüngliches, Unableitbares« entdeckten Gestalten, Ganzheiten, Strukturen für die »Grundlegung der Kulturphilosophie und […] die Möglichkeit der Kulturwissenschaft« bedeuten.35 Dies macht deutlich, daß er Mitte/Ende der 30er Jahre den Eindruck gewonnen hat, wonach sich im Grunde die gesamte moderne Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, und nicht nur die der Kultur und des Geistes, in Richtung auf Strukturbetrachtung entwickelt, eine Betrachtungsweise, die nicht zuletzt von der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ihrem eigenen methodischem Ansatz gemäß vollzogen wird.36

Ebd., 22. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–417. 33 E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 6 f. 34 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 29. 35 Ebd., 57. 36 »Die Sprache und die Religion, die Kunst und der Mythos besitzen je eine selbständige, von den anderen geistigen Formen charakteristisch unterschiedene Struktur – sie stellen jede eine eigentümliche ›Modalität‹ der geistigen Auffassung und der geistigen Formung dar.« – E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 8. 31

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

Für beide Disziplinen, für die Kulturphilosophie wie für die Kulturwissenschaft, werde der Formbegriff bzw. der der Formung, den Cassirer – wie gesagt – schon früh ins Zentrum seines Philosophierens gestellt hatte und den er eng mit dem Strukturbegriff verbunden sieht,37 zum alles entscheidenden Begriff, da er allein uns Zugang zur »Welt der Kultur« verschafft .38 Der Formbegriff vermag dies zu leisten, indem er sich mit Bedeutung und Ausdruck verbunden erweist, heißt es doch bei Cassirer, daß Gegenstände allein »durch das, was sie mittelbar bedeuten und ausdrücken«, zu Kulturobjekten werden. Hintergrund dieser Überzeugung ist die Einsicht, daß wir mit der Ausdruckswahrnehmung über eine Funktion des Geistes verfügen, »die ursprünglich originär ›Ausdruck, Bedeutung‹ etc. [zu] erfassen« vermag.39 Cassirer verteidigt die »objektive Gültigkeit« dieser Funktion gegenüber den Vertretern des logischen Empirismus bzw. positivistischen Physikalismus des ›Wiener Kreises‹, die sie bestreiten. 40 »Die Ausdruckswahrnehmung«, so Cassirer wenig später im nachgelassenen Buchmanuskript Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ist der »natürliche Ausgangspunkt aller kulturwissenschaft lichen Forschung«;41 sie bildet ihr ›Basisphänomen‹, 42 während die Sinneswahrnehmung als ›Basisphänomen‹ der Naturwissenschaft fungiert. Obwohl die von Cassirer hier der Ausdruckswahrnehmung zugeschriebene Rolle wohl auch für die Kulturphilosophie gilt, scheint damit deren Beziehung zur Kulturwissenschaft wie zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ noch nicht genügend geklärt. Dieser Klärung bringt uns allerdings die Aussage in der Göteborger Vorlesung ein Stück näher, wonach die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zeige, wie die Grundformen geistiger Manifestationen »g e n e r e l l zu definieren sind«, während die jeweilige Kulturwissenschaft wie »die Sprachgeschichte, die Religionsgeschichte, die Kunstgeschichte« aufweist, »wie sie

So ist bei Cassirer immer wieder von »den Form- und Strukturbegriffen« die Rede. – E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache, in: ECW 11, a. a. O., 41; ders., »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 41, 44; ders., »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 53. 38 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 58. 39 Ebd., 69. 40 Ebd., 70. 41 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 168. 42 Zu diesem Terminus siehe im vorliegenden Band den Beitrag »›Basisphänomene‹. Eine Synthese von Goethes ›Urphänomenen‹ und Carnaps ›Basis‹ der Konstitutionssysteme«, 345–366. 37

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sich e mp i r i s c h entfalten«.43 Damit bleibt uns die Aufgabe, die Beziehung von ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und Kulturphilosophie weiter aufzuklären. Die Einlösung bzw. Einlösbarkeit der empirischen Erkenntnisaufgaben, die der einzelnen Kulturwissenschaft zugeschrieben werden, bedarf allerdings nicht nur einer philosophischen Hinterfragung, Rechtfertigung und Grundlegung, sondern auch einer philosophisch inspirierten Methode. 44 Diese hat nach Cassirers Dafürhalten die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bereitzustellen, wobei aber zu bedenken ist, ob sie dabei als Kulturphilosophie oder als erweiterte Allgemeine Erkenntniskritik fungiert. Wenn nun die Theorie einer eigenen kulturwissenschaft lichen Logik, d. h. einer eigenen Weise von Objektivität, die ihr die Autonomie im System der Wissenschaften sichert, 45 und die er in den miteinander verzahnten Konzepten von ursprünglicher Ausdrucksfunktion und Formwissenschaft fundiert glaubt, ins Zentrum der Cassirerschen Überlegungen zur Kulturwissenschaft rückt, dann leistet für ihn die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zunächst einmal die entsprechende Grundlegung und Rechtfertigung dieser spezifischen Weise wissenschaft licher Begriffsbildung. Diese Aufgabe bzw. Arbeit scheint sie wiederum mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf den Entwurf einer Kulturphilosophie zu führen. So findet sich 1938 im Beitrag »Zur Logik des Symbolbegriffs« die Feststellung, die den bereits im Band Die Sprache 1923 geäußerten Gedanken46 wieder aufnimmt, wonach »die Entwicklung, die die einzelnen Geisteswissenschaften, die Sprachwissenschaft, die Religionswissenschaft, die Kunstwissenschaft seit Kant erfahren haben«, der Philosophie gebieterisch die Aufgabe gestellt hätte, dem »›Faktum der Geisteswissenschaften‹« in seiner ganzen Breite analytisch nachzugehen. 47 Diese habe sie aber bis ins 20. Jahrhundert nur ungenügend bewältigt. »An diesem Punkte sucht [nun – C.M.] die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ einzugreifen«. Dabei wolle und könne sie das Problem weder »mit einem Schlage« lösen noch selbst »als Ganzes« bewältigen: E. Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion« (1937/38), in: ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), a. a. O., 129. 44 Ebd., 132. 45 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 153. 46 »Die Philosophie dieser Formen müßte dann schließlich in ihre Geschichte ausmünden, die sich je nach ihren Gegenständen als Sprachgeschichte, als Religions- und Mythengeschichte, als Kunstgeschichte usf. darstellen und spezifi zieren würde.« – E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 14. 47 E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 137. 43

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

»Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ kann und will dabei kein philosophisches ›System‹ in der traditionellen Bedeutung des Wortes sein. Was sie allein zu geben versuchte, waren die ›Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie‹.«48

Wie schon hinsichtlich des Faktums der Naturwissenschaften könne diese Lösung »nur von einer beständigen Zusammenarbeit zwischen der Philosophie [der symbolischen Formen – C.M.] und den besonderen Geisteswissenschaften […] erhofft werden.«49 Damit suggeriert Cassirer, daß die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ in ihrem Bemühen um die Grundlegung und Rechtfertigung kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung zwar auf eine Kulturphilosophie h i n , aber dennoch nicht einfach a l s eine solche tätig ist. Der methodische Zusammenhang, den Cassirer zwischen ›Philosophie der symbolischen Formen‹, Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft aufweist, ist aber offensichtlich. Die in den Studien zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) getroffene Feststellung, daß es noch immer keine allgemein akzeptierte Logik der einzelnen Kulturwissenschaften und ihrer jeweiligen »Form- und Stilbegriffe« gebe,50 läßt die Idee erahnen, wonach im Grunde jede kulturphilosophisch relevante symbolische Form in einer empirischen Kulturwissenschaft ihr Pendant besitzt,51 wobei die Philosophie – oder Phänomenologie  – der jeweiligen symbolischen Form zeigt, wie diese Grundform – z. B. die der Sprache – als geistige Manifestation »generell zu definieren« ist, während die jeweilige Kulturwissenschaft – in dem Fall die Sprachwissenschaft – aufweist, wie sich die Sprachform empirisch entfaltet. Mit anderen Worten, die spezifische L o g i k der jeweiligen Kulturwissenschaft und ihres Gegenstandsbereiches muß von einer speziellen P h ä n o m e n o l o g i e der entsprechenden symbolischen Form grundgelegt werden. Die auf diese Weise sich abzeichnenden reinen Formenlehren idealer Bedeutungseinheiten52 gehören offensichtlich in eine »künftige Kulturphilosophie«, nicht aber in die einzelnen Kulturwissenschaften. Dem scheint allerdings die Auffassung zu widersprechen, wonach die je eigentümliche Methode der einzelnen Kulturwissenschaft aus »der Fülle der Einzelphänomene« durch »universale Überschau« ein »›Urbildliches‹ Ebd., 137. Ebd., 137 f. 50 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 415. 51 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 162. 52 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 424. 48 49

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und Typisches« herauslöst, und daß »diese ›idealtypische‹ Betrachtung« eine »eigene und legitime Art der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung dar[stellt]«.53 Wird hier doch eine eher philosophische denn eine einzelwissenschaftliche Methode beschrieben. Gleichzeitig bleibt im Cassirerschen Werk der Zusammenhang von einzelnen Formlehren wie der Sprach- und Kunstphilosophie und der allgemeinen Kulturphilosophie eine im Detail weiterhin aufzuklärende Beziehung. Außerdem geht nach meinem Dafürhalten aus Cassirers Werk nicht eindeutig hervor, ob er neben der »künftigen Kulturphilosophie«, für die die auch als erweiterte allgemeine Erkenntniskritik fungierende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ die Prolegomena bereitstellt, und neben den einzelnen Kulturwissenschaften auch eine allgemeine Kulturwissenschaft für nötig erachtet wird, die die Kultur als solche und nicht die einzelnen Gegenstandsbereiche der Kultur wie Sprache, Mythos, Kunst etc. zu ihrem Gegenstand hätte. Wenn Cassirer von der Kulturwissenschaft im Singular spricht, geht es in der Regel um das für alle kulturwissenschaft liche Begriffsbildung Gemeinsame und Typische, was wieder in den Aufgabenbereich der Kulturphilosophie bzw. der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu fallen scheint. Dies wird an der Aussage deutlich, daß dasjenige, was d i e Kulturwissenschaft »erkennen will, […] die Totalität der Formen [ist], in denen sich menschliches Leben vollzieht«.54 Wobei die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ebenso die Naturwissenschaft bzw. deren Erkenntnislogik als e i n e Form von Kultur aufzuklären hat. Unabhängig davon ist die Beziehung zwischen d e r Kulturwissenschaft und d e n einzelnen Kulturwissenschaften wie der Sprach- oder der Kunstwissenschaft in Cassirers Wissenschaftsphilosophie weiter zu erhellen.

3. Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft Neben der natur- und der kulturwissenschaft lichen Begriffsbildung im Allgemeinen gelten Cassirer letztendlich aber alle symbolischen Formen der Kultur – zumindest auch – als besondere Weisen einer eigentümlichen Begriffs- bzw. Klassenbildung, die sich jeweils gemäß »Gesetz[en] von eigener Art und Prägung« vollziehen.55 Dabei handele es sich jeweils um »eine E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 162. E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 434. 55 E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 12. 53

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

ganz andere Art der Ordnung und Gliederung der Anschauungsinhalte.«56 Folglich unterscheidet er die my t h i s c h e Richtung der Begriffs- und Klassenbildung von der generalisierend- l o g i s c h e n (in der wissenschaft lichen Erkenntnis) und diese wiederum von der ursprünglicheren qualifizierends p r a c h l i c h e n , 57 wobei in den Einzelsprachen zudem »verschiedene Formen der Begriffs- und Klassenbildung […] wirksam« werden.58 Hier stellt sich die Frage, ob diese Vielzahl eigentümlicher Weisen der Begriffsbildung die symbolischen Formen zu eng an ihre jeweilige theoretische Durchdringung in den einzelnen Wissenschaften bindet, oder, was wahrscheinlicher ist, ob mit den diversen eigenständigen Verfahren das begriffliche Denken, und damit letztendlich das Sprachliche, in den Mittelpunkt der Cassirerschen Interpretation rückt. Merkwürdig, oder verräterisch, ist schon, daß Cassirer die symbolischen Formen generell immer wieder als »Denkformen«, »Denkgebiete und Denkmodalitäten« mit je eigenen Kategorien bezeichnet.59 Eigenheiten und allgemeine symbolische Funktionsmomente der speziell s p r a c h l i c h e n Begriffsbildung jedenfalls hat die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als Phänomenologie der Sprachform aufzuklären. Diese Aufgabe scheint mit derjenigen, die Cassirer der Sprachphilosophie stellt, zwar eng verbunden, aber nicht völlig identisch zu sein. In der Vorlesung über »Grundprobleme der Sprachphilosophie«, gehalten im Sommersemester 1922 in Hamburg, wirft Cassirer – angesichts der Fortschritte der zeitgenössischen Sprachwissenschaft – rhetorisch die Frage auf: »Was kann jetzt noch eine Sprachphilosophie?«60 Die Antwort, die er in der Vorlesung und kurz darauf im Band Die Sprache gibt, lautet, daß sich die Betrachtung der Sprache »nach ihrem rein philosophischen Ebd., 18. E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), a. a. O., 255, 257, 260 f., 267. 58 Ebd., 269. 59 »Die Kategorien des Logischen werden in ihrer Eigenart erst dann völlig durchsichtig, […] wenn wir ihnen die Kategorien anderer Denkgebiete und Denkmodalitäten, insbesondere die Kategorien des mythischen Bewußtseins, gegenüberstellen.« – E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 12. Van Heusden formuliert dann auch sehr bestimmt: Cassirer »begreift das Symbolische ausschließlich als Begriffsbildung. In der Linie seines wissenschaftsorientierten Ansatzes neigt sein Vorhaben zu wissenschaft lichen Symbolsystemen«. – B. van Heusden, »Cassirers Ariadnefaden – Anthropologie und Semiotik«, in: H.J. Sandkühler / D. Pätzold (Hrsg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003, 131. 60 E. Cassirer, »Grundprobleme der Sprachphilosophie« (1922), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 220. 56 57

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Gehalt« und die empirische »Sprachforschung« wechselseitig bedingen und vor neue Herausforderungen stellen. 61 Dabei könne die »philosophische Betrachtung« keinesfalls auf den »Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmaterials« verzichten, dürfe sich ihm aber auch nie »ganz gefangen geben«. 62 Als Sprachphilosophie habe sie die »Fragen, mit denen […] an die Sprachforschung herangetreten wurde, zwar in systematischer Allgemeinheit zu formulieren, die Antwort auf diese Fragen aber in jedem einzelnen Falle aus der empirischen Forschung selbst zu gewinnen.«63 Damit ist eine konkrete Aufgabe der Philosophie der Sprache umrissen. Folglich studiert Cassirer, um sprachphilosophische Fragen zu klären, intensiv »sprachwissenschaft liche Literatur«. 64 In dem Werk An Essay on Man (1944) wird die These einer Verschränkung von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie noch einmal bekräftigt: erstere vertiefe sich in die Vielfalt sprachlicher Phänomene, letztere dagegen strebt zu einer allgemeinen, einheitlichen Theorie. 65 Manche Aufgaben die Sprache betreffend, wie das Beschreiben und in ihren geistigen Motiven Verstehen der verschiedenen Formen der Begriffsund Klassenbildung in den Einzelsprachen, liegen allerdings »jenseits des Gebiets und der methodischen Möglichkeiten der Sprachphilosophie«; sie können, wenn überhaupt, »nur von der allgemeinen Linguistik und von den besonderen Sprachwissenschaften in Angriff genommen werden.«66 Als Cassirer dies etwa 1922/23 niederschreibt und auf Differenzierungen innerhalb einer Kulturwissenschaft aufmerksam macht, ist ihm Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916) noch nicht bekannt, zumindest findet Saussure im Band Die Sprache (1923) keine Erwähnung. Dennoch treten in beiden Sprachphilosophien eine Reihe von Gemeinsamkeiten oder Parallelen zu Tage, z. B. hinsichtlich des Begriffs des Sprachzeichens bzw. Symbols oder der Auffassung der Sprache als System. 67 Bei den linguistischen Untersuchungen, davon ist Cassirer überzeugt, sind »allgemeine Gesichtspunkte« als »leitendes Prinzip«, d. h., philosophisches Denken, nötig und nützlich. Führe doch die wissenschaft liche Beschäftigung mit der Sprache, so formuliert er später im Essay on Man, auf »allgemeine strukE. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., VIII. Ebd., X. 63 Ebd., X. 64 Ebd., X. 65 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (engl. 1944). Frankfurt a. Main 1990, 200 (= ECW 23, 140). 66 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 269 f. 67 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und die strukturalistischen Linguisten. Am Beispiel der Begriffe System und Struktur«, 703–735. 61

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

turelle Probleme«, die nicht empirisch gelöst werden können. 68 Folglich bedarf die streng empirische Methode der Sprachwissenschaft allgemeiner (sprach-)philosophischer Prinzipien, Überlegungen und Schlußfolgerungen. 69 Als Cassirer Anfang der 20er Jahre seine Phänomenologie der sprachlichen Form bzw. des sprachlichen Denkens als Prolegomena zu einer Sprachphilosophie präsentiert, ist er bestrebt, den »allgemeinen Zusammenhang« der »Mannigfaltigkeit der Spracherscheinungen«, bereitgehalten in der »sprachwissenschaftlichen Literatur«, zu erfassen und herauszustellen. Die daraus hervorgehende »Darstellung und Charakteristik der reinen Sprachform« orientiert sich wiederum an einem bestimmten »erkenntniskritischen Grundgedanken«,70 den die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als erweiterte Allgemeiner Erkenntniskritik ins Spiel bringt, indem sie die Sprache, wie jede geistige »Grundfunktion« oder symbolische Form, philosophisch »innerhalb eines Gesamtsystems des philosophischen Idealismus« aufhellt.71 Damit treten die Sprachphilosophie und die Phänomenologie der sprachlichen Form, als konstitutiver Bestandteil der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, in einen engen methodischen Zusammenhang. Cassirer setzt jedoch Phänomenologie der Sprache und Sprachphilosophie offensichtlich nicht in Eins. Obwohl sich die philosophische Betrachtung der Sprache durch die gesamte Geschichte der Philosophie ziehe,72 gilt Cassirer Wilhelm von Humboldt als der Begründer der »Sprachphilosophie im modernen Wortsinne«;73 dieser habe zugleich ein wichtiges sprachwissenschaft liches Werk, das »Kawi-Werk«, geschaffen, beides in enger Wechselbeziehung. Seine auf Kants kritische Philosophie gestützte »neue und philosophische Grundauffassung der Sprache forderte und ermöglichte eine neue Gestaltung der Sprachwissenschaft«, die die Sprache wie einen Organismus behandelt.74 In Bezug auf den Organismusbegriff erleide die SprachwisE. Cassirer, Versuch über den Menschen (1944), a. a. O., 185 (= ECW 23, 129). Ebd., 188. (= ECW 23, 131). 70 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1929), in: ECW 11, a. a. O., X. 71 Ebd., XI. 72 Ebd., 51; ders., »Grundprobleme der Sprachphilosophie« (1922), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, 287. 73 E. Cassirer, »Strukturalismus in der modernen Linguistik« (engl. 1945), in: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Hrsg. von E.W. Orth, Leipzig 1993, 339 f.; »The first attempt to create a philosophy of language, in our modern sense of this term, was made by Wilhelm von Humboldt in the introduction to his great work on the Kawi language« (= ECW 24, 315); siehe auch ders., PSF, Erster Teil: Die Sprache (1929), a. a. O., 98 f.; 74 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), a. a. O., 106. 68 69

Philosophie, Wissenschaft , Wissenschaftsphilosophie

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senschaft im 19. Jahrhundert allerdings dasselbe Schicksal wie andere Geistes- bzw. Kulturwissenschaften: sie ordnet »die Sprache […] dem Kreise des Naturgeschehens ein[…]« (August Schleicher); der mechanische Naturbegriff werde aber später durch den der »›psycho-physischen‹ Natur des Menschen« (Wilhelm Wundt) ersetzt.75 Eine parallele Entwicklung mache die Sprachphilosophie von Humboldt bis Wundt durch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint die philosophische Sprachbetrachtung (Karl Vossler, Benedetto Croce) zwar wieder »in das Ganze eines [idealistischen – C.M.] philosophischen Systems aufgenommen«, werde aber mit einem der Glieder dieses Systems – der Ästhetik – identifiziert, wodurch sie erneut ihre »Eigenart« verliert.76 Damit ist ein systematisches Grundproblem gestellt: ist die Sprache d i e Ausdrucksform oder e i n e Ausdrucksform des Geistes? Cassirers Antwort auf diese 1927 in einem Londoner Vortrag erneut aufgeworfene Alternative – Sprache als »besondere spezifische Ausprägung« einer allgemeinen Symbolfunktion o d e r »alles symbolische Verhalten [geht] auf die Sprache als Urgrund […] zurück?«77 – lautet sinngemäß: Die Phänomenologie der Sprachform bzw. die Sprachphilosophie kann und muß als ein Sonderfall der »universellen ›Philosophie der symbolischen Formen‹« verstanden werden, damit die Sprache bzw. die Sprachform als »eine wahrhaft selbständige und ursprüngliche Energie des Geistes« eine »ihr eigentümliche Stelle«, eine ihre Autonomie wahrende Stelle im Ganzen der symbolischen Formen er- bzw. behält.78 Wobei die »universelle symbolische Funktion« auch durch die »Besonderheit der sprachlichen Form […] hindurch[scheint]«.79 Im Falle der Sprache treten die Zusammenhänge von Philosophie und Wissenschaft (Sprachwissenschaft) relativ klar zu Tage, während die von Phänomenologie der Sprache – als Sonderfall der Phänomenologie der symbolischen Formen – und Sprachphilosophie sich nur annähernd klären lassen. Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft nimmt Cassirer ein letztes Mal mit seinen Überlegungen zur modernen strukturalistischen Linguistik auf. 80 An diesen Überlegungen erscheint mir sehr aufschlußreich, Ebd., 117. Ebd., 121. 77 E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 310. 78 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), a. a. O., 121. 79 Ebd., 132. 80 Siehe dazu auch: W. Wildgen, »Die Sprache – Cassirers Auseinandersetzung mit die zeitgenössischen Sprachwissenschaft und Sprachtheorie«, in: H.J. Sandkühler/D. Pätzold (Hrsg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, a. a. O., 157 f. 75 76

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III. Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft , Formwissenschaft

daß er 1945, im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Beitrag, den »Aufstieg der ›neuen Wissenschaft‹ Linguistik« das »faszinierend[ste] Kapitel in der gesamten Wissenschaftsgeschichte«, nur vergleichbar mit Galileis ›neuer Wissenschaft‹, nennt. 81 Speziell in der zeitgenössischen strukturalistischen Linguistik sieht er eine »allgemeine Tendenz des Denkens« hervortreten, 82 die sich auch auf »fast allen Gebieten der wissenschaft lichen Forschung« wie Geschichte, moderne Physik oder Gestaltpsychologie als methodische Hinwendung zur Form- bzw. Strukturbetrachtung andeute. 83 Wir erinnern uns, daß es in Cassirers Wissenschaftsphilosophie der Strukturbegriff ist, der neben dem Form- und Stilbegriff die Logik der Kulturwissenschaft[en] prägt. Diese allgemeine Tendenz scheine zudem den Gegensatz zwischen Natur- und Kulturwissenschaft[en] wieder aufzuheben; Cassirer spricht von einer »Entsprechung (correspondence) in der Struktur der Urteile«, von »formalen und logischen Analogie[n]« in beiden Typen wissenschaft licher Erkenntnis. 84 Die Sprachwissenschaft mit ihrer Sprachtheorie habe, so Cassirers Fazit 1945, empirisch vorzugehen, denn »keine Sprache kann auf einem apriorischen Weg konstruiert werden.«85 Daß die empirische Methode allein bei der Aufk lärung der Sprache als kulturellem Phänomen jedoch nicht genügt, »wurde einer der Ausgangspunkte des modernen linguistischen Strukturalismus« (Viggo Brøndal, Ferdinand de Saussure, Nikolaj Trubetzkoj, Roman Jakobson), der dabei – wie die ›Philosoph der symbolischen Formen‹ auch – keinen »Gegensatz zwischen dem ›Formalen‹ und dem bloß ›Tatsächlichen‹« anerkennt. 86 In diesem Beitrag über den linguistischen Strukturalismus kehrt die aus der Göteborger Vorlesung über Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft bekannte Analogiesetzung mit der Biologie, hier bezogen auf den Begriff der Morphologie als »Bildung und Umbildung«, wieder. 87 Im Grunde werde die strukturalistisch-linguistische Methode bereits in der biologischen Methode Georges Cuviers vorweggenommen, weshalb man in einem Gedankenexperiment »jeden biologischen Terminus Cuviers mit einem linE. Cassirer, »Strukturalismus in der modernen Linguistik« (engl. 1945), in: Geist und Leben, a. a. O., 317 (= ECW 24, 299). 82 Ebd., 346 (= ECW 24, 320). 83 Ebd., 318 ff. (= ECW 24, 300 ff.). 84 Ebd., 338 f. (= ECW 24, 314). 85 Ebd., 324 (= ECW 24, 304). 86 Ebd., 324 (= ECW 24, 304). 87 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 81

Philosophie, Wissenschaft , Wissenschaftsphilosophie

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guistischen Terminus austauschen« könne. 88 Der »morphologische Idealismus« der biologischen Organismen finde sich auch in der Sprachphilosophie Humboldts wieder, übertragen auf die »linguistischen Typen« der »kulturellen Welt«. 89 D. h., die in der modernen Linguistik aufscheinende strukturalistische Tendenz habe sich bereits um 1800 in den Wissenschaften angedeutet, werde in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings wieder verdrängt und im 20. Jahrhundert neu entdeckt (Emanuel Rádl, John Burdon Sanderson Haldane, Ludwig von Bertalanff y).90 Eingedenk des bereits Ausgeführten lassen sich diese Feststellungen auch auf die Entwicklung der Sprachphilosophie seit Humboldt übertragen. Am Ende überrascht Cassirer 1945 mit der Feststellung, daß die Sprachwissenschaft trotz aller Fortschritte der Sprachforschung – und ihrer philosophischen Betrachtung – seit Ende des 19. Jahrhunderts im zeitgenössischen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Disput »nie erwähnt« werde: »In unserer modernen Erkenntnistheorie wird die Linguistik völlig vernachlässigt; sie wird als Stiefk ind behandelt […] immer noch fehlt ein Buch über die Logik der Sprachwissenschaft .«91 Offenbar gilt ihm auch seine Phänomenologie der Sprachform, wie er das Werk Die Sprache (1923) selbst mehrfach nennt, n i c h t als eine solche Logik. Keinen Zweifel läßt Cassirer jedoch daran, daß er die strukturalistische Linguistik wegen ihres Bestehens auf der ideellen Bedeutung der Phoneme zu den Geisteswissenschaften, was hier meint zu den Kulturwissenschaften, zählt.92 Über den Geistbegriff, den er als »Name für alle jene Funktionen [nimmt], die die Welt der menschlichen Kultur konstituieren und aufbauen«, wobei es zu den »ersten und grundlegenden Aufgaben« einer »Philosophie der menschlichen Kultur« gehöre, »diese verschiedenen Funktionen zu analysieren«,93 ist wieder die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ins Spiel gebracht. Durch eine solche Analyse der Sprachfunktion werde einerseits der Linguistik eine methodologische Orientierung gegeben, anderseits finde die Philosophie – der symbolischen Formen – diese Orientierung in der strukturalistischen Linguistik verwirklicht.

E. Cassirer, »Strukturalismus in der modernen Linguistik« (engl. 1945), in: Geist und Leben, a. a. O., 328 (= ECW 24, 307). 89 Ebd., 339 f. (= ECW 24, 315). 90 Ebd., 329 f. (= ECW 24, 308). 91 Ebd., 334 (= ECW 24, 311). 92 Ebd., 338 (= ECW 24, 313 f.). 93 Ebd., 337 (= ECW 24, 313 f.). 88

iv. formung, symbolisierung und objektivation

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ Ein Vorbild für Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ »Wir müssen überzeugt sein, daß das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen ist, und daß es nur erscheint, wenn seine Zeit gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint, noch ein unreifes Publi kum findet.«1

In den Jahren des Vormärz hatte der junge Karl Marx, selbst auf dem Wege, die Selbstentfremdung des Geistes als eine Form der Entfremdung des in Gesellschaft lebenden Menschen zu erfassen, eine »Bewußtlosigkeit […] über das Verhältnis der modernen [philosophischen – C.M.] Kritik zur Hegelschen Philosophie überhaupt und zur Dialektik namentlich« beklagt. Zugleich stellte er fest, daß ein »Blick auf das Hegelsche System […] mit der Hegelschen ›Phänomenologie‹, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimnis der Hegelschen Philosophie«, beginnen müsse. 2 Wie sich Marx trotz gewichtiger Einwände die Größe »der Hegelschen ›Phänomenologie‹« und ihr Endresultat, die »Dialektik der Negativität als [das] bewegende und erzeugende Prinzip«, sehr eindrücklich erschloß,3 wird der philosophischen Öffentlichkeit erst ein Jahrhundert nach Hegels Tod, im Jahr 1932, durch die Veröffentlichung der nachgelassenen Manuskripte bekannt. 4 Die Einhundertjahrfeier von Hegels Todestag (1831) hatte Martin Heidegger zum Auslaß genommen, sich in einer Vorlesung Hegels Werk Phänomenologie des Geistes (1807) als »absolute[r] Selbstdarstellung der Vernunft« in »wirklicher Auseinandersetzung« zu nähern, um sich auf ihr »Wesentliches« – das Absolute – einzulassen und nach dem »›lebendigen Geist‹ der Hegelschen Philosophie« zu suchen.5

G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Nach dem Texte der Originalausgabe (1807), Hrsg. von J. Hoffmeister, Berlin 1971, 58. 2 K. Marx, »Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt« (1844), in: ders., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband 1, Berlin 1973, 568, 571. 3 Ebd., 574. 4 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEGA, Abteilung 1, Bd. 3. Berlin 1932, 29–172; K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: ders., Der historische Materialismus. Die Frühschriften. Hrsg. von S. Landshut und J.P. Mayer. Unter Mitwirkung von F. Salomon, 2 Bde., Leipzig 1932. 5 M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes (Wintersemester 1930/31), in: GA, Bd. 32, Hrsg. von I. Görland, Frankfurt/Main 1988, 42, 44, 45, 215. 1

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Die Tatsache, daß mit Ernst Cassirer ein – auf vereinfachende Weise – dem ›Marburger Kantianismus‹ zugerechneter Philosoph wenige Jahre zuvor ebenfalls eine hohe Wertschätzung für Hegels Phänomenologie des Geistes und dessen dialektische Methode zum Ausdruck bringt, darf dennoch etwas überraschen. Und noch mehr erstaunt der sich bei einer zielgerichteten Lektüre der drei Teile seines Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen (1923/1925/1929) festigende Eindruck, daß wir es hier nicht einfach mit einem kritischen Bekenntnis zu Hegel und seiner Philosophie zu tun haben, sondern vielmehr mit dem Versuch, eine erneuerte genetische Phänomenologie der symbolischen Geistesfunktionen bzw. geistigen Objektivationen zu entwerfen. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden erläutert und begründet werden. 6

1. Philosophiegeschichte und Systematik Cassirer hat, in einer Tradition der ›Marburger Schule‹ (Cohen, Natorp) stehend, ein umfangreiches philosophiehistorisches Werk von der Antike bis in seine Gegenwart hinterlassen. Nicht nur die systematischen Positionen, sondern auch das eigene Philosophieverständnis werden an Hand umfangreicher und tiefgründiger Studien zur Philosophiegeschichte begründet, belegt und legitimiert. Im Vorwort zum III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1929) unterstreicht er diese Arbeitsweise mit dem Hinweis, daß ihm »der jetzt wieder so vielfach beliebte Brauch, die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen, […] niemals förderlich und fruchtbar erschienen [ist]«.7 Die Kehrseite der bevorzugten philosophiegeschichtlichen Orientierung ist allerdings, daß die historischen Systeme und Denker gelegentlich eine Deutung als Vorläufer erfahren oder uns gar im Lichte der Cassirerschen Philosophie entgegentreten. Ein aus methodischen Erwägungen der Philosophiegeschichte verpflichteter Arbeitsstil kennzeichnet auch die beiden großen philosophischen ProGerd Irrlitz hatte bereits anläßlich seines Projektes zur Struktur philosophischer Theorien von »Cassirers Konzept der genetisch-phänomenologischen Theorie symbolischer Objektivierungen« gesprochen. – G. Irrlitz, »Über die Struktur philosophischer Theorien«, in: Dtsch. Z. Philos, Berlin, 44 (1996), Heft 1, 23 f. 7 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, XI; auch Heidegger appelliert in seiner Hegel-Auslegung, »die längst in [historischen] Werken wirkliche Philosophie nicht zu mißachten«, sie nicht einfach »den Historikern der Philosophiegeschichte« zu überlassen – M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes (1930/31), in: GA 32, a. a. O., 45 f.. 6

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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jekte, an deren Realisierung Cassirer Zeit seines Lebens arbeitet. Das bereits früh begonnene Projekt zum ›Erkenntnisproblem‹ in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, d. h. seit der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert, wirft die Frage nach der Herausbildung einer angemessenen, modernen Weise der Begriffsbildung in den Naturwissenschaften auf. In diesen Problemkreis gehört auch die 1910 veröffentlichte Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Aus der Beschäftigung mit der theoretischen Erkenntnis in ihrer naturwissenschaftlichen Form des exakten Wissens erwächst Cassirer Schritt für Schritt die Einsicht, daß diese geistige Form nicht isoliert betrachtet werden darf, da sie auf »niederen«, anderen Formen der Weltkonstitution aufbaut bzw. diese in sich trägt. Aus der so notwendig gewordenen neuen Richtung des Forschens geht als zweites großes Projekt die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ des menschlichen Geistes hervor, dessen Umrisse 1920 in »Eine[r] erkenntnistheoretische[n] Studie« formuliert werden. 8 Das Projekt, das ursprünglich insgesamt den Titel ›Phänomenologie der Erkenntnis‹ tragen sollte,9 bildet nunmehr eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des ursprünglichen Vorhabens. Die sich zeitlich anschießenden Untersuchungen bekräftigen bei Cassirer die Erkenntnis, daß »echte theoretische Formmomente und Formmotive« nicht erst in der exakten Naturwissenschaft, sondern bereits in »der Gestaltung des ›natürlichen Weltbildes‹, des Weltbildes der Wahrnehmung und Anschauung«, in der Welt des Mythos und in der Welt der Sprache obwalten.10 Diejenigen »geistigen Schichten«, die die Sprachwelt und die Mythoswelt formend gestalten, bilden für ihn nun den ›Unterbau‹, auf dem sich der ›Oberbau‹ der Wissenschaft erhebt, die selbst von der »Schicht der begrifflichen, der ›diskursiven‹ Erkenntnis« getragen ist.11 Eine wichtige Klammer, die beide philosophischen Großprojekte umfaßt, bildet das durchgehende Interesse Cassirers an Hegel, auch wenn sich dies bis heute in der Cassirer-Forschung noch nicht wirklich niedergeschlagen hat.12 Vielmehr wird immer noch vor allem seiner Rezeption der E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Studie«, in: ders., Idee und Gestalt. Fünf Aufsätze, Berlin 1921, 28–76 (= ECW 9, 268– 315). 9 Editorische Hinweise des Herausgebers, in: E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke und O. Schwemmer, Hamburg 1995, 299 f. 10 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., VII. 11 Ebd., VII f. 12 Siehe dazu u. a. M. Wunsch, »Phänomenologie des Symbolischen? Die Hegelrezeption Ernst Cassirers«, in: Th. Wyrwich (Hrsg.), Hegel in der neueren Philosophie (HegelStudien, Hrsg. von W. Jaeschke und L. Siep, Beiheft 55), Hamburg 2012, 113–140. 8

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Philosophie Kants, der Renaissance und Goethes große Aufmerksamkeit zuteil.13 Die uns interessierende Phänomenologie des Geistes fi ndet bereits im Ersten Band des Erkenntnisproblems (1906) in einer Bemerkung über antiken Skeptizismus und Stoizismus Erwähnung, in der Einleitung zu diesem Band hatte er Zellers Kritik am Philosophiehistoriker Hegel zurückgewiesen.14 Selbstverständlich erfolgt Cassirers Hinwendung zur Philosophie Hegels nicht außerhalb des geistigen Kontextes, für den u. a. entsprechende Schriften Diltheys und Windelbands stehen.15 Nachdem Cassirer zunächst ausführlicher dessen Rechtsphilosophie kritisch würdigt hat,16 kommt es in dem Zeitraum, in dem Idee und Konzept der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ endgültig Gestalt annehmen,17 zur systematischen, grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes, was sich in dem umfangreichen Hegel-Kapitel des 1919 fertiggestellten dritten Bandes vom Erkenntnisproblem niederschlägt.18 Die abschließende Konzi-

Die wenige Ausnahmen unterstreichen diesen Befund eher noch. Siehe z. B. P. Rossi, »Die magische Welt: Cassirer zwischen Hegel und Freud«, in: E. Rudolph (Hrsg.), Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, (CF, Bd. 5), Hamburg 1999, 133 ff.; Massimo Ferrari verweist in seiner Studie zu Cassirers Weg vom Neukantianismus zur Kulturphilosophie immer wieder auf dessen Bezüge und Annäherungen an Hegel – M. Ferrari, Ernst Cassirer. Dalla scuola di Marburgo alla fi losofia della cultura, Firenze 1996, 21 f., 27 f., 31 ff. etc. 14 E. Cassirer, EP, Erster Band (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999, 152. 15 W. Windelband, »Die Erneuerung des Hegelianismus (Heidelberger Akademierede)« (1910), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 1, 6. Aufl., Tübingen 1919, 273–289; W. Dilthey, Jugendgeschichte Hegels (1906), in: GS Bd. IV: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus, Hrsg. von Herman Nohl, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1925, 5–187. Außerdem hat Dilthey, wenn er den Terminus ›Phänomenologie‹ der Metaphysik mehrfach in seiner, Cassirer gut bekannten, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) einsetzt (GS Bd. I., 395, 400, 406), offenbar die Hegelsche Phänomenologie des Geistes und ihren schrittweisen Aufbau, ihre Abfolgen und Durchgangsstufen im Auge. 16 E. Cassirer, »Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem« (1916), in: ECN 9: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, Hamburg 2008, 3–28; ders., Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 319–387. 17 Im Zweiten Teil der PSF, Das mythische Denken (1925), erklärt Cassirer, daß 1919, also im Jahr der Fertigstellung des Erkenntnisproblems III, »die Entwürfe und Vorarbeiten für diesen Band [der Philosophie der symbolischen Formen] bereits weit fortgeschritten waren«. – E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, XV. 18 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000, 274–363. 13

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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pierung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bzw. ihrer drei Teilbände und die umfassende Hegeldeutung treffen also zeitlich zusammen. Ohne diese Selbstverständigung, die den Zusammenhang zwischen Hegels Jugendschriften, der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik herstellt und kritisch würdigt, bleibt das in allen drei Teilen des Hauptwerkes formulierte Bekenntnis zu Hegels dialektischer Methode und zu den Grundgedanken seiner Phänomenologie weitgehend unverständlich. Viele der im Erkenntnisproblem III niedergelegten, Hegel betreffenden Passagen tauchen zudem in den Überlegungen des dreiteiligen Hauptwerkes wieder auf. Das ist eine Besonderheit im Schaffen Cassirers: Einzelne Aussagen kehren in neuen Schriften teilweise wortwörtlich wieder, nicht immer wird dies klargestellt. Es empfiehlt sich deshalb, bei der Lektüre eines thematischen Werkes die anderen Schriften mit ähnlicher Problematik im Hinterkopf zu haben. Unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Erkenntnisproblems interessiert Cassirer 1918/19 an Hegels philosophischer Entwicklung von den Frühschriften bis zur Logik sowohl dessen tiefes Verständnis für das Auseinanderfallen der immer zahlreicheren Objektivationen des Geistes als auch die Vision, diese Zersplitterung (Besonderungen) im wissenschaftlichen Bewußtsein als einem absoluten Bewußtsein (Allgemeines) wieder aufgehoben zu finden, aufheben zu können. Beide bei Hegel vorgefundenen Momente, die Einsicht in die zunehmende Zersplitterung unserer Kultur und das Bestreben, all die Zerklüftung in einer übergreifenden, allerdings nicht substantiellen, sondern rein funktionalen Einheit zusammenhalten zu können, was »der Mittelpunkt seiner Logik und Methodenlehre geblieben [ist]«, nachdem dieser Gedanke bereits die Religions- und Staatsphilosophie beherrscht hatte,19 prägen auf besondere Weise auch das Philosophieverständnis Cassirers. Die Phänomenologie des Geistes (1807) mit ihrem Blick des erkennenden Bewußtseins auf seine Objektivationen ist für ihn »nichts anderes, als die vollständige Entfaltung und Darlegung des Objektivitätsproblems [sic!] in der neuen Fassung, die Hegel ihm gegeben hatte«.20

2. Kritische Würdigung der dialektischen Methode Bevor die eingangs formulierte These, wonach sich Cassirer mit seinem Projekt einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bewußt und nicht ganz unberechtigt in der Nachfolge Hegels sieht, näher begründet und be19 20

Ebd., 297. Ebd., 315.

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

legt wird, soll kurz zur Sprache kommen, an Hand welcher Gesichtspunkte Cassirer im Erkenntnisproblem III die Phänomenologie des Geistes und ihre dialektische Methode kritisch würdigt. Die dabei aus seiner Sicht aufgewiesenen Grenzen und Defizite Hegels glaubt er durch seinen eigenen Entwurf einer Phänomenologie des in zahlreichen symbolischen Formen tätigen, aufbauenden Geistes überwinden zu können. Nicht unbeeinflußt durch seine Marburger Lehrer und Vorbilder streitet Cassirer insbesondere in seiner frühen Schaffensphase gegen die psychologistischen und empiristischen Theorien bzw. Verfahren der Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaften. Die durch ihn befürwortete und propagierte ›neue‹ Denkart, ›neue‹ Logik der Begriffsbildung setzt auf mathematisches mittelbares Konstruieren und Erzeugen der Erkenntnisgegenstände und verhält sich nicht nur abschätzig zur Erkenntnisfunktion der sinnlichen Anschauung, sondern bekämpft jegliche unmittelbare intellektuelle Intuition des Absoluten oder Intuition des Lebens.21 Deshalb schätzt Cassirer an Hegels Vorwort zur Phänomenologie des Geistes bzw. zum ›System der Wissenschaft‹22 außerordentlich sowohl »die große methodische Abrechnung« mit Schellings intellektueller Intuition,23 als auch die damit verbundene sichtbare Hinwendung Hegels zum wissenschaft lichen Begriff, zum diskursiven Denken, zu vermittelnden Beziehungen in der objektiven Erkenntnis. »Die ›Phänomenologie des Geistes‹ bedeutet den endgültigen Bruch mit dieser methodischen Grundansicht [der Intuition – C.M.]. In der Wertschätzung und Wertordnung zwischen Begriff und Anschauung scheint sich jetzt eine völlige Umkehr vollzogen zu haben«.24

Siehe dazu u. a. vom Verfasser, »Die anschauliche Natur des ideierend abstrahierten Allgemeinen. Eine verdeckte Kontroverse zwischen Husserl und Cassirer« (2001), in: ders., Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, 2., stark erweiterte Auflage, Berlin 2016, 71–96. 22 Mit dem Verhältnis von Phänomenologie des Geistes und dem von Hegel angestrebten »System der Wissenschaft« beschäftigt sich auch Heidegger 1930/31 in der Einleitung seiner Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes (M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes [1930/31], in: GA 32, a. a. O., 1–46). Zu Zweck und Anliegen der Hegelschen Vorrede von 1806/07 siehe auch: F. Nicolin und O. Pöggeler, »Zur Einführung«, in: G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Neu hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Berlin 1966, XVIII, XLI. 23 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 379. 24 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 291. 21

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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Vertritt doch Cassirer grundsätzlich die Position, daß ohne »die nüchterne Arbeit des Begriffs« sich keine intellektuelle Anschauung mit wirklichem Gehalt füllen lasse.25 Diese Wende bzw. Umkehr von der Anschauung zum Begriff lasse bei Hegel den Entwicklungsgedanken des Ganzen, Absoluten zum Durchbruch kommen, bildet das Absolute doch für die Begriffsphilosophie nicht mehr »ihren unmittelbaren Anfang, sondern ihr Ende; nicht mehr ihre Voraussetzung, sondern ihr Resultat«. 26 Die Hegelsche Begriffsphilosophie verfalle jedoch einem logischen Reduktionismus bzw. einem Logizismus, dem in der späteren Wissenschaft der Logik Züge der bei Schelling bekämpften intuitiven Urbildlichkeit anhaften. Der »kritische Idealist« Cassirer wirft dem »absoluten Idealisten« Hegel »logischen Enthusiasmus« vor, weil dessen Große Logik als »die Logik des intuitiven Verstandes [fungiert]; – eines Verstandes, der nur das außer sich hat, was er selbst aus sich erzeugt«.27 Weil der absolute Idealist meine, die Wesenheiten und ihre Konkretionen inhaltlich urbildlich erzeugen, ableiten zu können, »schlägt […] die Sprache des Hegelschen Panlogismus unvermittelt in die Sprache des Mythos um«, so beim Übergang zur Naturphilosophie.28 Als Konsequenz ergebe sich jene Umbildung der Form des organischen Werdens in die Form logischen Werdens, an der Goethe in seinen Äußerungen von 1812 Anstoß genommen habe.29 Cassirer kritisiert deshalb, daß »die Phänomenologie des Geistes, indem sie diese Forderung [des logischen Reduktionismus – C.M.] zu erfüllen strebt, damit nur der L o g i k den Boden [bereitet]«.30 Das ›nur‹ bringt zum Ausdruck, daß Cassirer die Einschränkung des lebendigen, sich objektivierenden Geistes auf die logische Dimension nicht teilt. Bei Hegel sei der Begriff nicht nur das Mittel, das konkrete Leben des Geistes darzustellen, sondern gelte als das eigentliche substantielle Element des Geistes selbst. Ebd., 238; Wer, wie Schelling, »die Vermittlung des Begriffs verschmäht«, verfällt »damit nur gefährlicheren Medien«, zwischen »sein Denken und die Wirklichkeit schiebt sich immer von neuem gleichsam ein magischer Schleier« (ebd., 273). Eine ähnliche Gewichtung zwischen Begriff und Anschauung nimmt Heinrich Rickert etwa zur gleichen Zeit in seinem gegen die Lebensphilosophie gerichteten Buch vor – H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit (1920), Tübingen 1922, 34 ff. 26 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 291. 27 Ebd., 349; auf diese Weise werden »die Schöpfungsgedanken des absoluten Geistes selbst […] in der Logik nachgedacht und nachgezeichnet« (ebd., 350). 28 Ebd., 360. 29 Ebd., 361. 30 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 13. 25

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Dennoch ist die Wertschätzung für Hegels Philosophie mit deren Verständnis des lebendigen Geistes eng verbunden. Erblickt Cassirer doch ihre große Leistung im dialektischen Gedanken einer Entwicklung sowohl des Ganzen des objektiven Geistes als auch seiner Teile, Momente oder Entfaltungsstufen. Der »Begriff der Entwicklung« sei eben der »Grundgedanke der Hegelschen Lehre«.31 Als Werdendes und Gewordenes ist das Absolute hier als ein Ganzes »in der Totalität seiner Bestimmungen«, in »der Gesamtheit seiner ›Formen‹« aufgefaßt.32 Das Entwicklungsprinzip, das auch als Gedanke der logischen Selbsterzeugung der objektiven Wahrheit formuliert wird, erlaube, das ›Ende‹ des Geistes aus dem ›Anfang‹ und den dazwischen liegenden ›Mittelgliedern‹ aufzubauen, die als Mythos, Religion, Staatsleben, Wissenschaft etc. die Zersplitterung in Objektivationen und deren mögliche Einheit auf je unterschiedliche Weise thematisieren. In der Phänomenologie des Geistes folgen die Mittelglieder als unterschiedliche Betrachtungsweisen in einer bestimmten Stufenfolge aufbzw. auseinander und sollen auch als bereits durchlaufene Stufen eine untergeordnete, relative Bedeutung im Ganzen des sich entwickelnden Geistes behalten. »Die ›Phänomenologie des Geistes‹ umfaßt alle diese Betrachtungsweisen, indem sie versucht, sie in notwendiger Stufenfolge auseinander hervorgehen zu lassen und damit jeder von ihnen zugleich mit ihrer Stelle im System ihr relatives Recht zu bestimmen«.33

Dieser dialektische Gedanke kehrt in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als konstitutives Prinzip wieder, so z. B., wenn Cassirer immer wieder betont, daß die elementare emotionale Ausdrucksfunktion menschlichen Geistes auch in höherstufigen Funktionen als Rest präsent ist. Außerdem thematisiert Cassirer bei Hegel würdigend das Zusammenfallen sowohl von historischer und logischer Entwicklung, sei doch »Hegels Dialektik […] schon in ihrem Ursprung ebensowohl logisch, wie historisch, ebensowohl in der Richtung auf den reinen Begriff, wie in der Richtung auf die Wirklichkeit konzipiert«,34 als auch von individuellem und geschichtlichem Werden des Menschen. Die

E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 336. 32 Ebd., 348. 33 Ebd., 297. 34 Ebd., 296. 31

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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»tiefste Schwierigkeit für das Verständnis der ›Phänomenologie des Geistes‹ liegt darin, daß sie das psychologische [Material für den Aufbau des individuellen Selbstbewußtseins – C.M.] und das historische Material [für das empirisch-geschichtliche Werden der Menschheit – C.M.] völlig auf dieselbe Stufe stellt und beide als Glieder ein und derselben Entwicklung begreift«.35

Allerdings wendet Cassirer gegen das »natürliche und individuelle Bewußtsein« als dem Ausgangspunkt des dialektischen Aufstiegs in der ›Phänomenologie des Geistes‹ ein, daß es bei Hegel »nicht aus der Notwendigkeit des Begriffs erzeugt, sondern als ein gegebenes faktisches Dasein schlechthin hingenommen [wurde]«.36 Noch im Jahr 1919/20 ist für den kritischen Idealisten und Rationalisten alles scheinbar ›Gegebene‹ der Anschauung in einer mathematischen konstruktiven Genesis zu erzeugen.37 Außerdem sei, so Cassirer, das ›natürliche Bewußtsein‹ vom Standpunkt des Begriffs aus gar kein Einfaches, sondern ein »Konkret-Mannigfaltiges«, »also ein durch und durch Vermitteltes«, und habe deshalb nicht als ein Anfang, sondern bereits als ein Resultat der Erkenntnis zu gelten.38 In der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ wird Cassirer das in der mythischen Weltsicht aufscheinende emotionale Ausdrucksbewußtsein an den Anfang des dialektischen Aufbauens setzen und das ›natürliche Bewußtsein‹ dem empirisch darstellenden Bewußtsein als zweiter systematischer Stufe zuordnen (emotionaler Ausdruck – anschauliche Darstellung – reine Bedeutung). Auch bezweifelt er, daß es Hegel in der Phänomenologie des Geistes gelungen ist, das postulierte Eigenrecht der durchlebten und überwundenen Momente (Stufen) der Entwicklung wirklich zu gewährleisten. Vielmehr drohe in der Endstufe der dialektischen Entwicklung, die alle durchlaufenen Stadien ›aufheben‹ soll, »die Eigenart dieser Vorstufen […] zu verschwinden und zu verlöschen«.39 Der ganze aufbauende Prozeß scheint nur wegen des Endes da gewesen zu sein, haben doch mit seinem Erreichen alle Vorstufen ganz offensichtlich »ihre selbständige Bedeutung verloren«. Cassirer gelangt zu dem Schluß, daß hier durch Hegel »die rein immanenten Geltungsunterschiede innerhalb der Erkenntnis« beseitigt Ebd., 296. Ebd., 316. 37 Siehe dazu vom Verfasser, »Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer«, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 253. Jg., Heft 3/4, Göttingen 2001, 282 ff. 38 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 316. 39 Ebd., 354. 35

36

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

werden, 40 während er selbst immer schärfer erfaßt, daß z. B. der Raumbegriff der sinnlichen Anschauung und der ideelle Raumbegriff in der nichteuklidischen Mathematik genau solche Bedeutungsunterschiede setzen. Das Einebnen der Geltungsunterschiede erstrecke sich bei Hegel zudem nicht nur auf »die rein theoretischen Erkenntnisformen«, die in der Wissenschaft bzw. im wissenschaft lichen Selbstbewußtsein gipfeln, sich vollenden, sondern generell auf »die Gesamtheit der geistigen Kulturformen« (Religion, Kunst, Sittlichkeit etc.), deren aufbauende Entwicklung in seiner Philosophie ihren Abschluß findet. Damit setze diese »ihre Ergebnisse, als die höheren und abschließenden, den untergeordneten Ergebnissen der anderen Kulturformen entgegen« und entziehe »ihnen ihre autonome und selbständige Geltung«. 41 Leider begnüge sich der absolute Idealist Hegel nicht damit, auf kritizistische Weise ausschließlich »Prinzipien und Richtlinien des geistigen Lebens aufzustellen«, sondern wolle »den Gesamtgang dieses Lebens vorwegnehmen und […] zusammenfassen«. 42 Das hierbei angewandte Verfahren, den »Inhalt des einen Moments aus dem Inhalt des anderen« abzuleiten, bzw. aus dem Begriff der Einheit die Vielheit der Formen des Geistes deduktiv herzuleiten, hält Cassirer für unzulässig, müsse doch die Einheit der vielfältigen Formen nicht in ihrem Inhalt, sondern in ihrer gemeinsamen Funktion, ihrer gemeinsamen Leistung gesucht und aufgewiesen werden. Aus dem funktional aufgefaßten Einheitsbegriff lasse sich aber unter keinen Umständen »die Vielheit der Formen deduktiv her[…] leiten«. 43 Wenn er betont, daß die funktional aufzufassenden Formen des lebendigen Geistes in keinem Verhältnis einer Ableitung zueinander stehen, dann hat Cassirer offenbar schon sein System symbolischer Formen bzw. geistiger Energien im Auge, in welchem die Forderung nach strikter Autonomie der geistigen Kulturformen verwirklicht ist. Trotz der Kritik am Ausgangspunkt und den Ableitungen in Hegels Philosophie verfolgt Cassirer mit großem Interesse, wie in der Phänomenologie des Geistes auf den drei Stufen Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Vernunft (Geist) jeweils »ursprüngliche Entzweiungen« Bewegungen entfalten, die zwar zunächst in einer »absoluten Einheit« aufgehoben werden, letztlich aber doch über sie hinausdrängen und in die nächst höhere Stufe Ebd., 362. Ebd., 358. 42 Ebd., 355. 43 Ebd., 356 f.; die kritische Philosophie leite die »Mannigfaltigkeit der Kulturformen und des geistigen Kulturbesitzes« nicht aus der logischen Vernunft ab, sondern erweist »die Einheit der Vernunft in ihren verschiedenen Grundrichtungen, im Aufbau und in der Gestaltung der wissenschaft lichen, der künstlerischen, der sittlichen und religiösen Welt« (ebd., 358). 40 41

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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eintreten, ohne dazu durch äußerliche Ursachen gezwungen zu sein. Ihn beschäftigt folglich die von Hegel aufgewiesene antinomische Quelle der Selbstentwicklung des erkennenden Denkens und des »konkreten Lebens des Geistes«. 44 An Hegel gewinnt oder verifiziert Cassirer damit eine komplexe Einsicht, die eine der zentralen theoretischen Herausforderungen für die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bewältigen hilft. 45 Der ›Anfang‹ der sich in immer mehr Richtungen zerlegenden objektivierenden Bewegung des lebendigen Geistes bedarf einer immanenten antinomischen Differenz, er kann folglich nicht aus absoluter Unmittelbarkeit bloßen Erlebens anheben, erzeugt sich die Einheit des geistigen Lebens doch »erst aus der Entzweiung«. 46 Gleichzeitig darf diese aber nicht als Gegensatz absolut getrennter, eigenständiger antinomischer Pole aufgefaßt werden, da solche niemals zu wirklicher Einheit zu bringen wären. Das Neue und Originelle sieht Cassirer in dieser Frage bei Hegel in dessen »Begriff der Synthesis als des Zusammenschlusses und der absoluten Identität eines Ungleichartigen«, die als Ausgangspunkt der Betrachtung diene. 47 Damit habe Hegel das Problem der Synthesis »von dem Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten Lebens, in der Totalität seiner Äußerungen, versetzt«. 48 Dennoch kommt er zu dem Schluß, daß sich die dialektische Selbstbewegung der Begriffe, die keine äußere Quelle und Ziele kennt, bei Hegel letztlich als »bloßer Schein« erweise, da die ganze Bewegung durch ein vorwärtstreibendes Prinzip – den Begriff des Absoluten – vorweggenommen ist, obwohl es sich eigentlich erst im Resultat herstellen soll. 49 Die »schon vollendete Anschauung des Ganzen« werde vorausgesetzt, um »die Einseitigkeit der Teile« und Momente zu überwinden und im Ganzen aufzuheben.50 Ebd., 297; »Das Denken ist [für Hegel – C.M.] demnach in demselben Sinne antinomisch, wie das konkrete Leben des Geistes selbst es ist« (ebd., 297). 45 Die Problematik des Charakters der antinomischen Quelle jeglicher Bewegung durchzieht auch Cassirers spätere Kritik an Simmel und Scheler, siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Leben‹ als Quell symbolischer Formen. Eine Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel und Scheler«, 23–54. 46 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 297. 47 Ebd., 315. 48 Ebd., 280. 49 Ebd., 352. 50 »Das Absolute soll wesentlich Resultat sein, also erst am Ende des Gesamtprozesses heraustreten: aber eben dieses Resultat wirkt schon in jeder Phase des Prozesses, in jedem neuen Übergang als das eigentlich bestimmende und vorwärtstreibende Prinzip. Nur von der schon vollendeten Anschauung des Ganzen aus kann die Einseitigkeit der Teile […] überwunden werden« (ebd., 352). 44

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Als eine echte historische Leistung der Phänomenologie Hegels erkennt Cassirer das legitime Bestreben an, »den letzten Rest des ›Dualismus‹ aus der Kantischen Grundauffassung [zu] tilgen«.51 Dieses Tilgen vollbringe Hegel, indem »er jenen Überrest der dinglichen Weltansicht, der bei Kant noch im ›Ding an sich‹ erhalten schien, vernichtet.« In der Konsequenz gelange er zu einem philosophischen Standpunkt, für den sich »das echte ›An sich‹ […] nur in der Grund- und Urform des geistigen Lebens selbst erfassen [läßt]. In der Richtung […] liegt das Verdienst« der Phänomenologie des Geistes.52 Diese übt außerdem deshalb eine so große Attraktivität als Modell einer »genetisch-phänomenologischen Theorie symbolischer Objektivierungen« (Irrlitz) auf Cassirer aus, weil in ihr der zum Wissen um sich selbst führende Entwicklungsgang des Geistes und seiner Objektivationen in der Wissenschaft bzw. im wissenschaft lichen Bewußtsein kulminiert.53 Der damit bei Hegel verbundene Gedanke, daß die Wissenschaft dem individuellen Bewußtsein diese aufsteigende Entwicklung zu erklären bzw. ihm durch die Handreichung einer »Leiter« dabei behilflich zu sein hat, sie selbst zu vollziehen, fällt bei Cassirer auf fruchtbaren Boden. Das Bild der hilfreichen ›Leiter‹ kehrt in den einzelnen Teilen der Philosophie der symbolischen Formen mehrfach wieder.54 Die »Aufgabe der Phänomenologie des Geistes« bestehe darin, »das Einzelbewußtsein fortschreitend […] zum Standpunkte des Wissens und der philosophischen Spekulation hinzuleiten«.55 Es sei aber nicht ihre Aufgabe, »dieses System der Wissenschaft in objektiver Vollständigkeit darzulegen«, vielmehr habe sie es als eine Totalität von nicht ausschöpfbaren Beziehungen oder Momenten sich dialektisch aufbauen, entwickeln zu lassen. Und das erfordert, »die Stufenfolge der Erkenntnis« als »ein stetiges Ganzes darzustellen, das von den ersten Anfängen des sinnlichen Bewußtseins bis zum höchsten Standpunkte des absoluten Wissens hinaufreicht«.56 Die methodische Besonderheit, daß Hegels Phänomenologie den Geist nicht in seinem systematischen ›Bestand‹ abschreitet, sondern ihn mit Hilfe der dialektischen Methode als ein strukturiertes Ganzes »in seinen notwendigen gedanklichen Vermitt-

Ebd., 362. Ebd., 362. 53 Ebd., 292. 54 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, XII f.; ders., PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., VIII f. 55 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 292. 56 Ebd., 301. 51

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Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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lungen« entwickelt und darstellt, hebt Cassirer später noch einmal hervor.57 Diesen Gesichtspunkt nennt er gelegentlich den »phänomenologischen«, wenn er die »phänomenologische Entwicklung« im Blick hat.58

3. Modellcharakter der ›Phänomenologie des Geistes‹ Für die These, wonach Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ für die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eine Vorbild- und Modellrolle spielt, wenn Cassirer diese zwischen 1918 und 1922 als eine ›erneuerte‹ Phänomenologie entwirft, wobei er das Vorbild bzw. Modell von seinen Grenzen und Irrtümern zu befreien sucht, lassen sich in mehrfacher Hinsicht Belege im Textkörper selbst aufzeigen. Bevor zunächst einige Bezugnahmen auf die Termini ›Phänomenologie‹ und ›phänomenologisch‹ zur Sprache kommen sollen, ist auf die Schwierigkeit hinzuweisen, die dem Inbeziehungsetzen der Projekte beider Philosophen daraus erwächst, daß insbesondere im III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen, in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929), mehrfach von der Phänomenologie Edmund Husserls die Rede ist.59

3.1. Zwischen Hegelscher und Husserlscher Phänomenologie Sowohl Cassirers Rezeption der Husserlschen Phänomenologie, die bereits 1906 im Ersten Band des Erkenntnisproblems einsetzt und bis in die letzten Schriften 1945 anhält, als auch ein methodisch-systematischer Vergleich beider Philosophien bilden einen eigenen Untersuchungsgegenstand, für den es eine Reihe von Vorarbeiten gibt. 60 Genau so, wie Cassirer niemals E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., VIII. 58 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die Nachkantischen Systeme (1919/20), in: ECW 4, a. a. O., 313; »phänomenologisch« meint aber in anderen Zusammenhängen auch das zeitlose ideelle Moment gegenüber psychologischen Momenten in der wissenschaftlichen Begriffsbildung, siehe dazu vom Verfasser, »Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer« (2001), in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, a. a. O., 285. 59 Ernst Wolfgang Orth vermutet sogar, daß Cassirer gelegentlich mit dem Terminus ›phänomenologisch‹ eine hermeneutischen Auslegung umschreibt. – E.W. Orth, »Das Verhältnis von Ernst Cassirer und Wilhelm Dilthey mit Blick auf Georg Misch«, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 12/1999–2999, Göttingen, 129. 60 Siehe u. a. E.W. Orth, »Phänomenologie in Ernst Cassirers Philosophie der symbo57

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Hegelianer war, wollte er nie ein Husserlscher Phänomenologe sein. Ihn interessierten vielmehr gemeinsame Frage- und Problemstellungen, inhaltliche und methodische Berührungspunkte, Annäherungen etc. historischer und zeitgenössischer philosophischer Systeme an das eigene Philosophieren im Geiste der »neuen Denkart« bzw. an die ›Philosophie der symbolischen Formen‹. Exemplarisch gibt das spätestens 1940 entstandene Fragment »Über Basisphänomene« Aufschluß über diese Haltung. 61 Mit der Husserlschen Phänomenologie teilt Cassirer u. a. den Antipsychologismus und den Idealismus in der Bildung allgemeiner Begriffe, das Setzen auf die Vielfalt von Einstellungen der Intentionalität bzw. Weltauffassung und ihrer intentionalen Gegenstände, 62 das Auslegen des lebendigen Ichs als eines ›Basisphänomens‹. 63 Der von Cassirer betonte Grundgedanke einer Korrelation zwischen gerichteten geistigen Energien und ihren bedeutungs- oder geltungsmäßigen Objektivationen stimmt ebenso mit Husserls Phänomenologie zusammen wie die Betonung der Autonomie der vielfältigen kulturellen Bedeutungssysteme. Ganz im Sinne der Husserlschen Auffassung von Korrelativität unterscheidet auch er zwischen der »Methodik der phänomenologischen Analyse«, die die subjektiven noetischen Bewußtseinsphänomene geistigen Leistens zum Gegenstand hat, und der »Methodik einer rein objektiv gerichteten ›Philosophie des Geistes‹«, welche den noematischen »objektiver Bestand« der symbolischen Kulturformen untersucht. Wenn es dann heißt, beide Methodiken seien »eng miteinander verknüpft und […] notwendig aufeinander angewiesen«, 64 dann ist damit lischen Formen«, in: E. Rudolph/H.J. Sandkühler (Hrsg.), Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, in: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaft , 1995/1, Hamburg, 47–60; M. Plümacher, Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewußtseins, Berlin 2004; vom Verfasser, »Cassirers Theorie der Basisphänomene. Ihre Bezugnahme auf Husserl und Natorp« (2002), in: ders., Husserlsche Phänomenologie, a. a. O., 261–284; ders., »Cassirer und die Phänomenologie Husserls. Inhaltliche Bezugspunkte, Kulturverständnis und Eigenheiten« (2014), in: ebd., 285–298. 61 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 113–198. Hier heißt es u. a., daß den Leistungen der Phänomenologie wie der rekonstruierenden Psychologie (Natorp) in der Genese der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zwar eine beachtliche Rolle zukomme, nicht aber die entscheidende Anregung. Diese greife nämlich auch auf wichtige Vorleistungen Diltheys und Kants zurück (ebd., 160 ff., 190 ff.). 62 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 224 f. 63 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 143 ff., 169 ff. 64 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 82.

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

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ein korrelatives Verhältnis von Objektivieren und Objektivierung beschrieben. Kritik an Husserlschen Positionen meldet der Philosoph des mittelbaren konstruktiven Erzeugens, der symbolischen Repräsentation und der ursprünglichen sinnhaft-sinnlichen Differenz überall da an, wo es sich um die unmittelbar gebende und ergreifende Intuition, vortheoretisch-unmittelbar Gegebenes oder ›primäre Inhalte‹ geht. 65 Dennoch betont Cassirer gerade in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in deren Vorrede ausführlich aus Hegels Phänomenologie des Geistes zitiert wird, daß er den Terminus ›Phänomenologie‹ eher mit Hegel und nicht mit Husserl verbunden wissen will. Er, Cassirer, »knüpfe […] hierin nicht an den modernen Sprachgebrauch an, sondern […] gehe auf jene Grundbedeutung der ›Phänomenologie‹ zurück, wie Hegel sie festgestellt und wie er sie systematisch begründet und gerechtfertigt hat«. 66

Das stellt, wie bereits gesagt, nicht in Frage, daß er sich in den drei Teilen (Sprache, Mythos, Erkenntnis) seines Hauptwerkes dennoch ebenfalls mit Husserl auseinandersetzt. 67 Terminologische Bezugnahmen auf Hegel werden u. a. deutlich, wenn im 1922 fertiggestellten Ersten Teil (Die Sprache) außer der vorliegenden Phänomenologie der »sprachlichen Form«68 eine nachfolgende »Phänomenologie des mythischen […] Denkens«69 in Aussicht gestellt wird, wobei eben symbolische Sprachform und mythische Form dialektisch entfaltet, stufenweise aufgebaut werden sollen. Und dies nach dem Vorbild des Hegelschen Projektes einer ›Phänomenologie des Wenn Cassirer meint, bei Husserl befänden sich real im Bewußtseinserlebnis Darstellendes und ideell in ihm Dargestelltes in einer rein symbolischen, repräsentierenden Beziehung (ebd., 225), dann ist das eine Deutung, die diesem wohl nicht gerecht wird. Die Husserlsche Klärung des Verhältnisses von primären Inhalten und Noesen ist wiederum für Cassirer problematisch und inakzeptabel. Bei ihm gibt es für die »phänomenologische Betrachtung« dank ihres Korrelationsprinzips keine Präsenz ohne Repräsentation und umgekehrt (ebd., 227 f.). 66 Ebd., VIII; Auf die Notwendigkeit einer genauen Unterscheidung und Abgrenzung beider Begriffe von Phänomenologie dringt 1930/31 auch Heidegger in seiner Hegel-Vorlesung, seine Abgrenzungsabsichten dürften aber über die Cassirers weit hinausgehen. – M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes (1930/31), in: GA 32, 32, 40 f. 67 So enthält etwa der Zweite Teil, Das mythische Denken, die berühmte Würdigung der Husserlschen Phänomenologie (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., 14, Anm. [12]), während sich im Dritten Teil, Phänomenologie der Erkenntnis, das Kapitel »Symbolische Prägnanz« ausführlich mit Husserls Logischen Untersuchungen und den Ideen I befaßt (ders., PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, a. a. O., 224 ff.). 68 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., VIII. 69 Ebd., VIII. 65

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Geistes‹. Zwar verwendet Cassirer den Ausdruck ›Phänomenologie‹ in den Titelüberschriften des Zweiten Teils (Das Mythische Denken) nicht, wohl aber vielfach im Text. So bezeichnet er die Philosophie des Mythos als »eine kritische Phänomenologie des mythischen Bewußtseins«.70 Eine gezielte Lektüre des Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen läßt aber auch den Eindruck immer stärker werden, daß Cassirer mit dem Hegel entlehnten Titel einer Phänomenologie nicht nur dessen Werk von 1807, oder gar nur die neue philosophische Richtung Husserls, im Sinn hat. Der Terminus bezeichnet vielmehr eine eigene wissenschaftliche Disziplin. Deshalb ist mehrfach im Zusammenhang mit den Disziplinen Psychologie, Erkenntniskritik und Metaphysik auch von der Phänomenologie die Rede.71 Diese Disziplin Phänomenologie hat, im Gegensatz zu dem analytischen Abschreiten des systematischen Bestandes, die dialektischgenetische Rekonstruktion oder Entwicklung der ganzheitlichen Totalität objektivierender und objektivierter ›Geist‹, d. h. ›Kultur‹, zu leisten. Dazu ist die Ganzheit der Kultur aus ihren Momenten, Vermittlungen, Durchgangsstufen, Stadien aufzubauen. Deshalb spricht Cassirer von seiner Phänomenologie des symbolisch objektivierten Geistes als einer Totalität, in der sprachliche Form, mythisches Denken, und theoretische Erkenntnis sowohl Stufenfolgen als auch eine Einheit bilden.72 Innerhalb der Phänomenologie der Erkenntnisform als eines Kreises oder einer Stufe der Kultur und gleichzeitig eines eigenen dialektischen Ganzen unterscheidet er die »Phänomenologie der Wahrnehmung« bzw. der emotionalen Ausdrucksfunktion,73 die Phänomenologie der empirischen Anschauung bzw. der repräsentierenden Darstellungsfunktion und die Phänomenologie der rein signitiven Erkenntnis bzw. der reinen Bedeutungsfunktion. In diesem Sinne beginnt die Phänomenologie der Erkenntnis mit der Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung als ihrem Anfangsmoment. Wenn dagegen der Begriff »reine Phänomenologie« fällt,74 dann hat Cassirer in der Regel die Abgrenzung der Disziplin, die auf eine ideelle Bewegung bzw. Entwicklung zielt, von »empirischer Psychologie« im Auge, eine Abgrenzung, die er, wie bereits gesagt, mit Husserls transzendentaler Phänomenologie teilt. Deshalb sind die Übergänge beim Gebrauch des Terminus Phänomenologie im Sinne Hegels und Husserls wohl manchmal E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 16, 196. 71 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., X. 72 Ebd., 47. 73 Ebd., 33, 36, 66. 74 Ebd., 53. 70

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fließend. Zumal Cassirer auch in Bezug auf Natorps Kritische Psychologie von einem »universellen Programm einer Phänomenologie des Bewußtseins« spricht,75 das allerdings nicht den Hegelschen Grundgedanken der werdenden und gewordenen Totalität erfaßt. Auch die Termini »reines Phänomen«, »reines Ausdrucksphänomen« oder »Urphänomen« implizieren Bedeutungsnuancen,76 die sich bei Hegel, Husserl und auch bei Goethe finden. Wir haben es dabei mit einem »letzten« bzw. »ursprünglichen« Befund zu tun, der allein abstraktiv noch gegliedert bzw. zergliedert werden kann.77

3.2. Hegels Phänomenologie als Vorbild und Modell Dafür, daß die Hegelsche Phänomenologie Cassirer als Vorbild für sein Projekt einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ dient, gibt er selbst in den drei veröffentlichten Teilen eine ganze Reihe von Hinweisen und Fingerzeigen. So steht für ihn grundsätzlich der allgemeine Problemkreis der Objektivation des Geistes, »den Hegel als ›Phänomenologie des Geistes‹ bezeichnet hat«, im Mittelpunkt des ganzen Interesses.78 Wie Hegel faßt es auch Cassirer als das Ziel jeder Objektivationsform des subjektiven Geistes auf, »daß der Geist in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift«.79 Das ist zugleich eine Aufgabe, denn während wir alltäglich im unmittelbaren Wahrnehmen leben, ist uns nicht bewußt, daß wir bereits symbolische, theoretisch-ideelle Akte vollziehen. 80 Die Art und Weise, wie eine geistige Symbolform (Sprache, Kunst, Wissenschaft) Wissen um sich selbst erlangt, mache eine sie auszeichnende Besonderheit aus. 81 Außerdem geht es Cassirer in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ genau wie Hegel auch um das »Ganze[…] des geistigen Lebens«, um alle in und an ihm wirkenden vielfältigen »Gestaltungsweisen« bzw. »geistige[n] Grundfunktion[en]« und deren entsprechende geistige ObjekEbd., 59. Ebd., 69, 82. 77 In diesem Sinne ist bei Cassirer auch im unpubliziert gebliebenen Nachtrag zum Dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen von der »phänomenologischen Analyse« die Rede (E. Cassirer, »Geist und Leben« [1928], in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 5). 78 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., XII. 79 Ebd., 32. 80 Ebd., 17. 81 Ebd., 33. 75 76

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tivationen. 82 Wobei er unter geistigen Grundfunktionen die Wege versteht, »die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt«. 83 Nur vom Standpunkt der Ganzheit oder Totalität der Formen aus lasse sich die »immanente Dynamik des Geistes« als eines lebendigen Prozesses entschlüsseln. 84 Die unterschiedlichsten Grundfunktionen, die sich z. B. als mythisches oder logisches-theoretisches Bewußtsein artikulieren, haben bei aller ihrer Autonomie etwas Gemeinsames – die ihnen innewohnende »ursprünglich-bildende […] Kraft«. 85 Und die habe eine echte phänomenologische Philosophie, die selbst aber keine symbolische Grundfunktion ist, zu erschließen. 86 Für solch eine Philosophie nimmt sich Cassirer, um selbst das »Ganze[…] des geistigen Lebens« umgreifen und aufklären zu können, 87 Hegels Phänomenologie des Geistes zum Vorbild. Und dies weil Hegel an die philosophische Erkenntnis »die Forderung stellt, die Totalität der geistigen Formen zu umspannen, und weil diese Totalität […] nicht anders als im Übergang von der einen zur anderen Form sichtbar werden kann«. 88 Diese zentralen methodischen Überlegungen und Weichenstellungen findet er insbesondere in Hegels Vorrede von 1807 bestätigt, weshalb er aus ihr gern und viel zitiert. 89 Weiterhin macht Cassirer mehrfach deutlich, daß er den dialektischen Gedanken Hegels aufnimmt und durchführt, wonach die »Totalität« des objektivierenden bzw. objektivierten Geistes ausschließlich als Bewegung bzw. Entwicklung der Totalität zu rekonstruieren ist. Dabei verwendet er, mit und ohne ausdrücklichen Verweis, Hegels Argumentation aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes.90 Und in dem Zusammenhang bringt er seine Wertschätzung ganz eindeutig zum Ausdruck: »In diesem Grundprinzip der Betrachtung stimmt die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ mit dem Hegelschen Ansatz überein; – so sehr sie in der Begründung

E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 6 f. Ebd., 7. 84 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 17 f. 85 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 7. 86 Ebd. 8 f. 87 Ebd., 6. 88 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., VIII. 89 So stellt Cassirer aus der Vorrede zu Hegels Phänomenologie des Geistes zitierend fest: »Die Wahrheit ist das ›Ganze‹ – aber dieses Ganze kann nicht auf einmal hingegeben, sondern es muß vom Gedanken, in seiner eigenen Selbstbewegung und gemäß dem Rhythmus derselben, fortschreitend entfaltet werden« (ebd., VIII). 90 F.W.G. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, a. a. O., 25. 82 83

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wie in der Durchführung desselben andere Wege gehen muß«.91 Die Übereinstimmung bezieht sich u. a. auf die Maßgabe, daß sowohl die Form ›theoretische Erkenntnis‹ als auch die Totalität geistiger Formen aus elementaren und bereits durchlaufenen Formen aufgebaut werden muß. Zeigen sich doch bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen diesen Durchgangsformen und der ›Endform‹. So spielen z. B. auf den unteren Stufen der logischen Genese der reinen Bedeutungserkenntnis die Etappen des reinen Ausdrucksphänomens der Wahrnehmung und der darstellenden Anschauung noch eine wichtige Rolle. Und »auch die Welt unserer unmittelbaren Erfahrung […], in der wir alle […] beständig leben und sind – enthält eine Fülle von [mythischen – C.M.] Zügen«, d. h., Züge einer symbolischen Weltform, die nunmehr scheinbar völlig überwunden ist.92 Der Mythos, die mythisch-magische Weltsicht erwächst ebenso aus dem reinen Ausdrucksphänomen der unmittelbaren Wahrnehmung, wie auch das »empirische Weltbild« der Anschauung sich nicht ohne dieses Phänomen erklären läßt. Letztlich muß sich auch das »theoretische Weltbild« des signitiven Denkens aus niederen Momenten des Ausdrucksphänomens – und der empirischen darstellenden Anschauung – erst aufbauen.93 Hegels markanter methodischer Gedanke eines dialektischen Aufbaus des Ganzen bzw. des Endes aus seinem Anfang und seinen Mittelgliedern findet sich also nicht nur in der Gesamtanlage der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ wieder (Mythos-Sprache-Wissenschaft bzw. AusdruckDarstellung-Bedeutung), sondern eben auch in der Anlage der drei entsprechenden Teil- oder Stufenphänomenologien des Ganzen symbolischer Formen. Gelegentlich ist auch davon die Rede, daß einzelne geistige Formen, wie die »Bildwelt des Mythos« oder die Sprache, in ihrer Entwicklung die Goethe entlehnten drei Stadien »des mimischen, analogischen und des symbolischen Ausdrucks« durchlaufen.94 Vielleicht meint dies aber auch, daß der lebendige Geist auf jeder seiner konkreten exemplarischen »Stufen« der Objektivation (Mythos-Sprache-theoretische Wissenschaft) diese »drei Stadien« zu durchlaufen hat. Auf alle Fälle macht auch die elementarste autonome geistige symbolische Form einen dreistufig-aufsteigenden E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., IX. 92 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 17. 93 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 68 f. 94 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 279 f. 91

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

»Prozeß der […] Bildung« durch, der sich auf höherer Stufe in den anderen Bewußtseinsformen wiederholt und der eine Urspungsverwandtschaft aller symbolischen Formen zum Ausdruck bringt. Entsprechend gliedert sich der Erste Teil (Die Sprache) der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ in die Abschnitte bzw. Stufen: I. Sinnlicher Ausdruck, II. Anschaulich-darstellender Ausdruck, III. Ausdruck des begrifflichen Denkens, IV. Ausdruck der logischen Beziehungs- und Relationsbegriffe. Im Dritten Teil (Phänomenologie der Erkenntnis) verfolgen drei Abschnitte den »Aufstieg« der geistigen Form »theoretische Erkenntnis« durch die Stufengänge I. Ausdruckswahrnehmung (Mythos), II. Repräsentation, Dingwahrnehmung (Sprache, empirische Anschauung) und III. Bedeutungsfunktion (Mathematische Naturwissenschaft). Deshalb sind für Cassirer die »Gestaltenwelt[en]« der autonomen symbolischen Formen auch »dem geistigen Ursprung nach verwandt«, also in ihrer formenden, gestaltenden, symbolisierenden prägnanten Funktion.95 Oswald Schwemmer, der diese Ursprungsverwandtschaft in der mythischen Symbolform gründen sieht, spricht sich allerdings dafür aus, dem »Stufenschema« Ausdruck-Darstellung-Bedeutung keine konstitutive Rolle im kulturphilosophischen »Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen als solchem« zuzugestehen, man habe es vielmehr »als einen ›Rest-Neukantianismus‹ bei Cassirer zu lesen«.96 Allerdings weist Cassirer, wie bereits betont, eine systematische Deduzierbarkeit seiner symbolischen Formen aus irgendeinem Ausgangsbegriff grundsätzlich ab. Wenn er hinsichtlich der symbolischen Formen Mythos, Sprache oder Kunst von einem vergleichbaren »Stufengang der geistigen Ausdrucksformen« spricht,97 dann ist damit gemeint, daß sie alle sowohl eine emotionale Ausdrucksstufe als auch eine anschauliche Darstellungsstufe durchleben. Diese »Stufen« bilden in jeder konkreten symbolischen Form des geistigen Lebens eine anders akzentuierte, sich anders entwickelnde, »aufsteigende« Einheit oder Totalität. Dabei schließen die Stufen bzw. Stadien, Dimensionen oder Funktionen »qualitativ verschiedene Arten der Sinngebung in sich ein«,98 was es geradezu verbietet, die Phänomenologie der unteren Stufe (Ausdruck, Mythos) durch die Phänomenologien der höheren Stufen zu orientieren. Vielmehr biete sich allein der Mythos E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 18. O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 40, 42, 85 Anm. 97 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 32. 98 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 63. 95

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als ursprünglichste Form (Stufe) als Orientierung für die übrigen an, da er noch keine gewußte symbolische Repräsentation, sondern bloße »echte Präsenz« kennt, also noch ausschließlich auf dem rein emotionalen Ausdruck ruht.99 Unaufgeklärt bleibt zunächst, warum Cassirer seine Phänomenologie der symbolischen Formen nicht mit der elementarsten geistigen Form, dem mythischen Denken (Ausdruckswahrnehmung), sondern mit der mittleren systematischen geistigen Form, der Sprache als darstellender und repräsentierenden Anschauungsform, beginnt. In gewisser Weise entspricht diese mittlere Stufe Hegels sinnlichem, anschauendem Bewußtsein. Im System der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bildet mit der wissenschaftlichen Erkenntnisform (reine Bedeutungsfunktion) ein Gegenstand, der im Projekt der ›Geschichte des Erkenntnisproblems‹ bzw. der Herausbildung der ›neuen Denkart‹ seit 1906 im Mittelpunkt von Cassirers Aufmerksamkeit steht, die höchste Stufe der Entfaltung des sich objektivierenden lebendigen Geistes, wobei sie die anderen Stufen ›aufgehoben‹ in sich trägt und aus ihren ›Vorformen‹ phänomenologisch aufgebaut werden muß.100 Dennoch tritt bei ihm die theoretische wissenschaft liche Erkenntnis nicht als das ›Ganze‹ des Geistes auf, das letztlich alle symbolischen Formen in ihren korrelativen Beziehungen umfaßt. Diese alles umfassende und aufk lärende Funktion fällt vielmehr der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu, die Cassirer allerdings immer auch als eine umfassende philosophische »Erkenntnistheorie« bezeichnet, die als »eine Phänomenologie der Erkenntnis« kein Teilgebiet der Objektivierung der Geistes verabsolutieren oder auslassen darf.101 Wie bei Hegel hat es die symbolisch-genetische Phänomenologie aber mit dem Geist als Wissenschaft zu tun, »›der sich […] entwickelt als Geist weiß‹«.102 Mehrfach findet, wie bereits erwähnt, Hegels Bild von der Wissenschaft , die uns eine »Sprossenleiter« reicht, um die Stufen »mythische, […] sprachliche, […] künstlerische Formung« zu ihr hinauf mit notwendigen Schritten zu erklimmen, Eingang in den Textkörper.103

Ebd., 75. »Diese Entfaltung [des Ganzen – C.M.] macht erst das Sein und das Wesen der Wissenschaft aus«, denn das Spezifische der Aufk lärung von Wissenschaft ist »die Bewegung [ihres] Werdens« (ebd., VIII). 101 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 12. Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie, Wissenschaft , Wissenschaftsphilosophie. Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft«, 445–464. 102 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., XII; F.W.G. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, a. a. O., 24. 103 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., XII; ders., PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 99

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Bereits an der Hegeldarstellung im Erkenntnisproblem III (1919/20) war deutlich geworden, daß Cassirer die Hegelsche Phänomenologie abzuwandeln, zu modifizieren bestrebt ist, was sich in den drei Teilen des Hauptwerkes (1923/25/29) fortsetzt. Eine erste Neuerung ergibt sich daraus, daß er das Substanzdenken Hegels durch das Funktionsdenken der ›neuen Denkart‹ ersetzt. Folglich wird die Einheit des lebendigen Geistes bzw. seiner vielfältigen objektivierenden Formen nicht in einem »gemeinsamen ideellen Gehalt«, sondern in der gemeinsamen symbolischen Funktionalität aller Formen des Geistes gesehen. Und Cassirer findet sie in der allgemeinen Funktion, einen ideellen Gehalt (Sinn, Bedeutung) per Zeichen bzw. Symbol zur »Äußerung«, zum »Ausdruck« zu bringen, was es der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ermögliche, »eine Art Grammatik der symbolischen Formen« zu schaffen.104 Wenn er in dem Zusammenhang beschreibt, wie »ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen ›Bedeutung‹« wird,105 dann nimmt er einen weiteren Gedanken der dialektischen Methode Hegels auf. Die sinnliche Einzelheit steht in dem Falle nämlich nicht für sich allein, sondern »[fügt] sich einem Bewußtseins-Ganzen ein[…] und [erhält] von diesem erst ihren qualitativen Sinn«.106 Später bezeichnet Cassirer diesen Tatbestand als ›symbolische Prägnanz‹.107 Das einzelne Moment ist hier das, was es bedeutet, nur dadurch, daß es als Teil eines Bedeutungsganzen fungiert. Das Ganze ist damit folglich mitgesetzt und vorausgesetzt. Der Gedanke der Repräsentation, Cassirer spricht von der »Urfunktion der Repräsentation«,108 scheint einiges mit Hegels Verständnis des lebendigen Geistes als eines Organismus zu tun zu haben. Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ hat folglich die »Leistung der [geistigen] Symbolfunktion« zu erforschen, die sich nicht allein in der Form des begrifflichen, ›abstrakten‹ Denkens, sondern auch in Sprache und Mythos, soweit alle drei Formen etwas ›darstellen‹, wenn auch in je eigenen Bedeutungsdimensionen, bewährt.109 Ihr »systematisches GrundVIII; ders., »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1927/28), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 84. 104 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 16 f. 105 Ebd., 25. 106 Ebd., 25. 107 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 230 f. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 108 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 32. 109 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 51.

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problem« entpuppt sich als die Frage nach der allgemeinen Symbolfunktion, die erst in der Gesamtheit aller drei Grunddimensionen (unmittelbare Wahrnehmung – empirische Anschauung – theoretische Wissenschaft) den »geistigen Sehraum« des Menschen konstituiert.110 Diese drei Grunddimensionen treten in den großen Kulturformen Mythos, Religion, Wissenschaft oder Kunst in unterschiedlichen Konstellationen auf.111 Das für das geistige Leben ursprüngliche Verhältnis von Symbolisierung oder Repräsentation, das ein sinnliches und ein korrelatives Bedeutungsmoment als Geltungs- oder Richtungsunterschied einschließt,112 ohne daß davon ein Wissen vorliegen muß, woran es der mythischen Ausdruckswahrnehmung auch ermangelt, deutet Cassirer als den endlich gefundenen »entzweiten« Ausgangspunkt, als die ursprüngliche Differenz, hinter die es kein wirkliches Zurück in eine reine Erlebnisunmittelbarkeit gibt, wie dies jedoch von den Lebensphilosophen (Bergson) für die ›Intuition des Lebens‹ in Anspruch genommen wird. Der »entzweite« Anfang bilde in der natürlichen Anschauung bzw. Wahrnehmung allerdings ein »ursprünglichgewisses und ursprünglich-bekanntes [einheitliches – C.M.] Phänomen«, das durch die Verstandesabstraktion zu einem absoluten Gegensatz zerlegt wird.113 Wegen der »Urfunktion der Repräsentation« gibt es aber im Bewußtsein »von Anfang an kein abstraktes ›Eines‹, dem in gleich abstrakter Sonderung und Loslösung ein ›Anderes‹ gegenübersteht«, vielmehr erweise sich, daß »beide sich wechselseitig bedingen und sich wechselseitig repräsentieren«.114 Das ursprüngliche wechselseitige sich Bedingen und Repräsentieren der beiden gegensätzlichen Aspekte mache »die ›natürliche‹ Symbolik« des Bewußtseins aus, die durch eine »künstliche Symbolik« ergänzt wird, die sich das Bewußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos etc. »erschafft«.115 Mit dem Ansatz symbolischer Repräsentation glaubt Cassirer eine Reihe kriEbd., 52. Hegels Symbolbegriff, der u. a. als »symbolische Kunstform« entwickelt wird, und der ebenfalls sinnlichen Ausdruck und ideelle Bedeutung vereint (G.F.W. Hegel, Ästhetik [1835] Hrsg. von F. Bassenge, Bd. I, Berlin und Weimar 19763, 298 ff.), scheint Cassirer nicht speziell zu rezipieren, er verbindet den Symbolbegriff immer mit Leibniz, Goethe und Humboldt. 112 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 219 f. 113 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 38. 114 Ebd., 39; Hegel hatte dies sinngemäß mit dem »Begriff der Synthesis« umschrieben, die den Zusammenschluß und die »absolute Identität eines Ungleichartigen« leistet, dies aber substantial und nicht funktional gemeint (E. Cassirer, EP, 3. Bd.: Die nachkantischen Systeme, in: ECW 4, a. a. O., 315. 115 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 39. 110 111

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

tischer Einwände gegen Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ ausgeräumt, ohne die methodischen Grundgedanken dieses Konzeptes aufgeben zu müssen. Der alte dualistische Gegensatz (das Eine und das Andere, Sinnliches und Ideelles) erscheint nun in der symbolischen Funktion des Bewußtseins dargestellt und vermittelt,116 »der Schein einer ursprünglichen Trennung zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen« ist in diesem Verhältnis von Sinn (Bedeutung) und sinnlichem Bedeutungsträger verschwunden.117 Hegels Phänomenologie hält Cassirer allerdings vor, daß sie »das Reich des Sinnes, das Reich der ›Idee‹ als ein für sich bestehendes, als die eigentliche Substanz des Geistes zuvor setzt.« Und so »tritt es zwar i n der Geschichte hervor, wird aber in keiner Weise d u r c h sie […] konstituiert«.118 Mit der Aufk lärung des ›entzweiten Anfangs‹ scheint auch die letzte Quelle der selbsttranszendierenden Bewegung der einzelnen Formen oder Stufen des lebendigen Geistes endlich aufgedeckt. Die bereits im Erkenntnisproblem III (1919/20) kritisierte Art und Weise, wie Hegels Phänomenologie die einzelnen Stufen des Geistes bzw. seine Entwicklungsmomente nur mit Blick auf das Ende oder das Ganze auseinander hervorgehen läßt, glaubt Cassirer nunmehr in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ besser und endgültig gelöst. So habe er überzeugend aufgeklärt, wie an einer bestimmten Stelle »sich […] im Kreise des mythischen Bewußtseins selbst eine Entwicklung [vollzieht], die dazu bestimmt ist, über seine Grenzen hinauszuführen«.119 Ganz im Gegensatz zu Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) komme dieser Nachweis ohne Zuhilfenahme des Endpunktes der Entwicklung aus. Der wegen seiner Bildlichkeit dem Mythos einwohnende Konflikt spalte das »mythische Bewußtsein in sich selbst« und decke doch »eben in dieser Spaltung zugleich seinen letzten Grund und seine Tiefe erst wahrhaft auf […]«.120 Seine eigene symbolisch-genetische Phänomenologie des geistigen Lebens will Cassirer folglich als eine Erweiterung, Vertiefung oder Ausweitung der Hegelschen um die Objektivationsformen des Mythos und der Sprache verstanden wissen. Vollziehe doch u. a. auch der Mythos eine »Form der Objektivierung« des subjektiven Geistes, nicht nur das logische oder theoretische Bewußtsein.121 Damit ist die bereits erwähnte »tiefere Stufe« des Anfangs Ebd., 44. Ebd., 45. 118 E. Cassirer, »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1927/28), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 102. 119 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 201. 120 Ebd., 276 f. 121 Ebd., 16. 116 117

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für die dialektische Entwicklung des lebendigen Geistes gefunden, ist die helfende wissenschaftliche »Leiter noch um eine Stufe tiefer angesetzt«.122 Nunmehr hat sich das sinnliche Bewußtsein Hegels als »natürliche Anschauung« und damit als bereits entwickelte Form der Objektivation und Sinngebung erwiesen.123 Und »der eigentliche Ausgangspunkt für alles Werden der Wissenschaft, ihr Anfang im Unmittelbaren, liegt nicht sowohl in der Sphäre des Sinnlichen als in der der mythischen Anschauung«.124 Allerdings gelte Hegels Kennzeichnung des »Verhältnis[ses] der ›Wissenschaft‹ zum sinnlichen Bewußtsein« in »vollem Umfang […] für das Verhältnis der [theoretischen – C.M.] Erkenntnis zum mythischen Bewußtsein«.125 Während in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ die einzelnen Momente, Stufen des Ganzen bzw. des Endes letztlich doch ihre Eigenständigkeit wieder verlieren, so würden gemäß der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ dem symbolisch fungierenden Geist wirklich völlig autonome Richtungen (Energien) einwohnen, in denen sich jeweils ein eigenes Bildungsprinzip verwirklicht. Deshalb gilt Cassirer seine erneuerte Phänomenologie des lebendigen Geistes als eine genetische Strukturlehre der verschiedenen geistigen Energien und objektiven Gebilde. Die »verschiedenartigen repräsentativ-symbolischen Leistungen« werden hierbei eben nicht als »Äußerungen einer ›Grundkraft‹ betrachtet«.126 Es sei ein Vorzug aber auch der »Husserlschen Phänomenologie«, eine Lehre der verschiedenen Strukturformen des intentionalen Bewußtseins einzuschließen.127 Mit dem Betonen bzw. dem Nachweis der wirklichen Autonomie der unterschiedlichen symbolischen Formen des lebendigen Geistes und dem Hinzufügen weiterer Formen glaubt Cassirer den an Hegel kritisierten logischen Reduktionismus (Logizismus) endgültig überwunden zu haben. Bereits die Arbeiten an der Geschichte des Erkenntnisproblems III (1919/20) hatten ihn zu der im Ersten Teil Die Sprache (1923) klar formulierten Einsicht geführt, daß Geist mehr ist als logisches Denken, daß die durch die Logik favorisierte Identität von Geist und Denken vielmehr in Richtung einer Philosophie der ganzen Kultur zu überwinden ist.128 Ebd., XIII. Das »sinnliche Bewußtsein« als ein Wahrnehmungsbewußtsein, das eine Wahrnehmungswelt gliedert, »ist selbst bereits das Produkt einer Abstraktion, einer theoretischen Bearbeitung des ›Gegebenen‹.« (Ebd., XIII) 124 Ebd., XIII. 125 Ebd. 126 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 319. 127 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 14 Anm. 12. 128 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 13 f. 122 123

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Als Resümee bietet sich die Überlegung an, daß Hegels Entwurf einer ›Phänomenologie des Geistes‹ bei Cassirer modifiziert und durchgeführt, nicht aber verworfen wird. Das von ihm in den drei Teilen der Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29) vollzogene ideelle Aufsteigen vom Mythos über verschiedene Durchgangsstufen bis zur Wissenschaft vollbringt auf dialektische u n d symbolisch-repräsentierende Weise den Aufbau sowohl des ganzen geistigen Lebens als auch des ganzes »Systems der Geisteswissenschaften«.129 Seine »universelle ›Phänomenologie des Geistes‹« läßt auf beeindruckende Weise die »Welt des ›Geistes‹« als eine konkrete Einheit mit vermittelten Gegensätzen entstehen, in der »jegliche Gestalt, durch die das geistige Bewußtsein überhaupt hindurchgeht, in irgendeiner Weise auch zu seinem bleibenden und dauernden Bestand [gehört]«.130

129

E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O.,

XIV. E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 87. 130

Cassirer und Heidegger über Humanismus Individuelles Vermögen zur Form oder Freiwerden für Menschlichkeit und Würde 1. Prolog Ernst Cassirer (1874–1945) und Martin Heidegger (1889–1976), zwei der bedeutendsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, haben bekanntlich 1929 in Davos einen berühmt gewordenen Disput ausgetragen, bei dem es u. a. um die philosophische Bedeutung des Neukantianismus ging.1 Unabhängig von diesem Disput, den in den Augen der damaligen Teilnehmer Heidegger für sich entschied, während heute eher Cassirer die besseren Argumente zugeschrieben werden, haben sich beide als Philosophen durchaus wertgeschätzt und verkehrten vielfach miteinander. Dennoch führen die Konsequenzen beider Weisen des Philosophierens in sehr unterschiedliche Richtungen. Dies machen u. a. die Antworten beider auf die Frage nach dem zeitgenössischen Humanismus deutlich, Antworten, die nicht ohne ein Bekenntnis dessen auskommen, worin man jeweils das Wesen des Menschen sieht. Die Tatsache, daß Peter Sloterdijk Ende der 90er Jahre eine unter deutschen Intellektuellen heftig geführte Debatte über einen sogenannten PostHumanismus provozieren konnte, belegt, daß das Thema des Humanismus immer noch ein aktuelles Thema ist. Sloterdijk hatte dabei den »neuzeitlichen Humanismus« einschränkend und abwertend als ein »Schul- und Bildungsmodell« gedeutet, das bis ins 20. Jahrhundert dominiert habe und unter dem eine machtbewußte Gelehrtenkaste die »Vollmacht« besaß, auf den Gymnasien »der Jugend die Klassiker aufzuzwingen«.2 Dieser nunmehr, also am Ende des 20. Jahrhunderts, »abgelaufene« Humanismus habe sich – ohne es sich einzugestehen – die »Entwilderung« und »Zähmung« des Menschen zum Ziel gesetzt.3 Als Gewährsmann diente E. Cassirer, »Heidegger-Vorlesung (Davos) März 1929«, in: ECN 17: Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901–1929, Hrsg. von J. Bohr und K.Ch. Köhnke†, Hamburg 2014, 3–76; M. Heidegger, »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger« (1929), in: ders., Kant und das Problem der Metaphysik (1929), 5., vermehrte Aufl., Frankfurt a. Main 1991, 274–296. 2 P. Sloterdijk, »Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus«, in: Zeit document, 2/1999, 4–15, hier: 5. 3 Ebd., 6. 1

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Sloterdijk bekanntlich Martin Heidegger und dessen Brief »Über den Humanismus« von 1946.

2. Humanismus: Zuschreibung des Vermögens individueller Formbildung Ernst Cassirer, der der neukantianischen ›Marburger Schule‹ entstammende Autor einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ menschlicher Kultur faßt den Menschen als das Symbole schaffende und mit Hilfe von Symbolen bzw. Symbolisierungsleistungen die Welt der Kultur aufbauende, erkennende und verändernde Wesen auf, das er folgerichtig h o m o s y m b o l i c u s bzw. a n i m a l s y m b o l i c u m nennt. Auf dieser Grundlage reiht er sich Ende der 20er Jahre in die Bemühungen Diltheys, Schelers, Plessners und anderer ein, die Philosophische Anthropologie als eine neue moderne philosophische Disziplin zu begründen. 4 Auf den Begriff des Humanismus bzw. der Humanität stoßen wir bei Cassirer zum E i n e n in vielen seiner Werke, in denen es um historische Formen des Humanismus, z. B. den Renaissance-Humanismus, geht. Zum A n d e r e n wird dasjenige, was er selbst für zeitgenössischen Humanismus hält, in dem Göteborger Aufsatz »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939) thematisiert. Diesen Text soll im Folgenden ausgewertet werden. Und s c h l i e ß l i c h läßt sich Cassirers Philosophie symbolischer Formen, die in ihrem Grundanliegen, in ihrer Grundintention und ihrer Grundtendenz menschliche Kultur als »den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« deutet,5 in einem gewissen Sinne selbst als eine Philosophie des Humanismus bezeichnen. Die nachfolgenden Überlegungen werden nicht näher auf Cassirers Rezeption bzw. Wertschätzung des Humanismus als eines philosophiegeschichtlichen Themas oder Problems eingehen, obwohl er in dem erwähnten Beitrag von 1939 mehrfach darauf zu sprechen kommt. Wichtig ist vielleicht nur zu wissen, daß in diesem Zusammenhang in erster Linie die Rede vom italienischen, deutschen und englischen Renaissance-Humanismus (15./16. Jahrhundert), vom Humanismus des 18. Jahrhunderts (Aufk lärungsepoche) Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324. 5 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (engl. 1944), Frankfurt a. Main 1990, 345 (= ECW 23, 244: »Human culture taken as a whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation.«) 4

Cassirer und Heidegger über Humanismus

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und vom Humanismus der Deutschen Klassik bzw. des Deutschen Idealismus ist, wobei er letzteren als eine neue Periode oder Ausrichtung des Humanismus auffaßt. 6 Eine philosophisch-systematische Behandlung des Phänomens Humanismus findet sich in den Schriften vor 1939 zwar nicht, einige Grundgedanken der späteren gezielt-thematischen Auslegung werden in ihnen aber bereits formuliert. Ins Zentrum seiner Auffassung vom Wesen und Wert des Humanismus für den modernen Menschen, den Menschen des 20. Jahrhunderts, führt uns der 1939 erschienene Aufsatz »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie«. Er steht in enger Beziehung zu der im selben Jahr in Göteborg gehaltenen Vorlesung »Probleme der Kulturphilosophie«, die in ECN 5 abgedruckt ist. Im Aufsatz bezieht und beruft sich Cassirer auf den deutschen Humanismus des 18. Jahrhunderts, dem er eine eigene, originäre Auslegung gibt. Er verfolgt hier die Intention, der Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts – nach seiner Beobachtung – vorherrschenden n a t u r a l i s t i s c h e n Auffassung von Geschichte und Kultur, d. h. von den Wirkungsspielräumen des Menschen, eine h u m a n i s t i s c h e Auffassung entgegen zu stellen, die den Menschen weder Naturgesetzen noch fatalistischem Schicksalsglauben ausliefert. Dabei verschließt Cassirer aber keineswegs die Augen vor den Herausforderungen und Prüfungen, die Natur, Geschichte und Gesellschaft an den modernen Menschen stellen. Die ganze Abhandlung von 1939 führt auf die Alternative, die im Grunde die gesamte Spätphilosophie Cassirers, deutlich ausgesprochen insbesondere E. Cassirer, Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Text und Anm. bearbeitet von F. Plaga und C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 379 f., ders., Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916) in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 24, 333. Eine vergleichbare und dennoch andere, eigenwillige Historisierung des Humanismus fi ndet sich bei dem Philosophen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss, für den die »Ethnologie […] die älteste und allgemeinste Form dessen [ist], was wir mit dem Namen Humanismus bezeichnen«. Er unterscheidet den »klassischen« Renaissancehumanismus als »eine erste Form von Ethnologie«, die durch das Erlernen des Griechischen und Lateinischen einen Vergleich »zeitgenössischer Anschauungen mit denen anderer Zeiten und anderer Orte« und eine erste »Technik der Verfremdung« erlaubte, von einer »nichtklassischen« Variante des Humanismus, in die sich »im 18. und 19. Jahrhundert […] der [klassische Renaissance-]Humanismus mit dem Fortschritt der geographischen Erkundung« erweiterte (Rousseau, Diderot), von einer aktuellen, zeitgenössischen »dritten Phase« des Humanismus, die dadurch gekennzeichnet sei, daß »sich die Ethnologie heute mit den […] sogenannten primitiven Gesellschaften [befaßt]«. – C. Lévi-Strauss, »Die drei Stufen des Humanismus« (franz. 1956), in: 15. Kap. Antworten auf Umfragen (franz. 1956), in: Strukturale Anthropologie II (franz. 1973), Frankfurt a. Main 1975, 305 f. 6

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

in seinem letzten großen Werk The Mythe of the State (1946), durchzieht: soll die Kulturphilosophie den Menschen als »Schicksal erlebendes« Wesen o d e r als ein Wesen der »freien Tat« auffassen und ihm eine entsprechende Orientierung anbieten.7 Als mächtige philosophische Strömung seiner Zeit schließe der Naturalismus genau solche Bestimmungen wie »Eigengesetzlichkeit« und »Selbständigkeit« der Kultur aus, ebenso wie die einer »ursprünglichen Spontaneität des Ich«. Als Hauptvertreter eines solches Naturalismus der Kultur gelten ihm Auguste Comte, Hippolyte Taine und Hegel, aber auch Oswald Spengler und Martin Heidegger. Mit Blick auf den Text lassen sich fünf Aspekte herausarbeiten, die im Folgenden dargestellt werden sollen: Erstens: Der N a t u r a l i s m u s . Zunächst verfolgt Cassirer die Entwicklung hin zu naturalistischen Auffassungen in der Geschichts- und Kulturphilosophie. Dabei kommt er zu dem Schluß, es sei die Romantik in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen, die die Wende zum Naturalismus vorbereitete, so daß schließlich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die neue wissenschaftliche Disziplin Biologie zum Vorbild und Muster der Geschichts- und Kulturphilosophie werden konnte. 8 In der Folge prägte ihr die Biologie einen strengen Kausal- und Gesetzescharakter auf.9 Das Entscheidende sieht Cassirer aber in der Ausprägung eines »historischen Determinismus« bzw. »Fatalismus«, auf den der Naturalismus mit seinen drei repräsentativen Begründungen – der physikalistischen, der psychologischen und der metaphysischen – letztlich hinauslaufe. Gemäß der p h y s i k a l i s t i s c h e n Begründung (Comte, Taine) vermag keinerlei »Spontaneität des Ich« die allgemeinen Naturgesetze und Naturbedingungen zu durchbrechen und umzuformen. Den Individuen bleibt nur, sich an ihre Umwelt anzupassen.10 Mit seiner p s y c h o l o g i s t i s c h e n Begründung des Naturalismus vertrete Spengler einen »historischen Fatalismus«, auch wenn ihm die Kultur als »Ausdruck eines bestimmten [urphänomenalen – C.M.] Seelentums« gelte.11 Kultur als zu ahnender »mystischer Akt« fordere den Dichter, nicht den Wissenschaftler. In der Geschichte unterwerfe eine »mystische Fatalität« den Einzelnen und das »einzelne Tun« der »strengen und unerE. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, 235 (= ECW 25, 178). 8 E. Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 144. 9 Ebd., 145 f. 10 Ebd., 149 f. 11 Ebd., 150. 7

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bittlichen Notwendigkeit«, was diesen in ein »unabwendbares Schicksal« einbindet.12 Die daraus folgende Konsequenz, daß das Individuum weder Kultur noch Geschichte eine andere Richtung geben kann, als diejenige, die sich gerade vollzieht, daß folglich ihr Verlauf vom Einzelnen nicht gehemmt werden kann, daß dessen Dasein vielmehr durch Gefangenheit und Nichtigkeit charakterisiert ist,13 wird von Cassirer philosophisch vehement bekämpft. Er mahnt seit Ende der Zwanziger Jahre seine Zeitgenossen immer wieder, den Lauf der Geschichte – in den totalitären Staat und in die wiederaufbrechende mythisch-magische Lebensordnung – eben nicht als unabwendbares Schicksal hinzunehmen. Hegels m e t a p h y s i s c h e r Begründung von Geschichte und Kultur schließlich hält Cassirer vor, die Freiheit, den »Befreiungsprozeß«, von dem Hegels Philosophie sehr wohl spreche und handle, ausschließlich für das unendliche, absolute Subjekt vorzusehen, nicht aber für das »endliche Subjekt« Mensch.14 Dieses sei bei Hegel eben »nur scheinbar der Täter seiner Taten«, es erlebe lediglich eine verlockende »vorgetäuschte Selbständigkeit«; das Individuum sei und bleibe vielmehr lediglich das Mittel des Weltgeistes, d. h. eine Marionette. Wenn der Naturalismus das Individuum derart sich in ein scheinbar unausweichliches Schicksal fügen läßt, ihm jeglichen Mut zu selbstverantwortetem Handeln und Eingreifen ins historische Geschehen nimmt, welche Kulturphilosophie, so fragt Cassirer, bietet uns dann einen Ausweg aus diesem Fatalismus und »an welcher Stelle können wir den Hebel ansetzen, um dem individuellen Sein und dem individuellen Tun wieder eine selbständige Bedeutung und einen selbständigen Wert zurückzugewinnen?«15 Diese Frage stellt sich der in Schweden lebende und lehrende Emigrant Cassirer im Jahre 1939 zu einem Zeitpunkt, als die westlichen Demokratien ihren scheinbar unaufhaltsamen Rückzug gegenüber dem militanten Korporativismus und Rassismus des Nationalsozialismus und seiner zahlreichen Verbündeten in Europa und Asien angetreten haben. In diesem antinaturalistischen Zugang, der das Individuum und seine tätige Autonomie in den Mittelpunkt rückt, und dies durchaus idealistisch überhöhend, kommt ein wichtiger Charakterzug der Humanismus-Idee Cassirers zum Vorschein. Zweitens: Der h i s t o r i s c h e H u m a n i s m u s . Der Titel des Beitrages nimmt die Antwort im Grunde vorweg: eine humanistische inspirierte Philosophie der Kultur muß das Ziel der Bemühungen sein! Wie so häufig 12 13 14 15

Ebd., 150 f. Ebd., 151. Ebd., 151. Ebd., 152.

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

gibt Cassirer zunächst der »h i s t o r i s c h e n Beschreibung« einer solchen Philosophie, ehe er in einer s y s t e m a t i s c h e n Behandlung die »neue ›humanistische‹ Grundlegung der Kultur« zu umreißen versucht.16 Die ›historische Beschreibung‹ unterscheidet zunächst, wie bereits angeführt, den a l t e n , vorherigen Renaissance-Humanismus und den »n e u e n Humanismus«, der sich seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in der »Klassischen Literaturepoche« äußere (Leibniz, Herder, Lessing, Winckelmann, Schiller, Goethe, v. Humboldt). Anstelle ein »abstraktes Ideal« zu vertreten, werde hier das Ideal im »Werk unmittelbar vor uns hingestellt«. Im »n e u e n« Humanismus erweist sich »der Wille zur Gestaltung« als das »entscheidende Motiv«,17 ein Gedanke, der sich im Grunde bereits in den Werken Freiheit und Form (1916) und Individuum und Kosmos (1927) angedeutet findet. Die Besonderheit dieser n e u e n »Lehre vom Menschen«, wie sie in der Klassischen Literaturepoche formuliert wird, sei nicht »rein begrifflich zu fassen«, weil sie kaum systematisch ausgeführt wird, sondern nur in den Werken ihrer Autoren und Gestalter verkörpert, objektiviert vorliegt.18 Es sei auch keine »einzelne Idee« zu benennen, die exemplarisch für diesen n e u e n Humanismus stünde. Wir müßten uns der mittelbaren Beschreibung und mittelbaren historischen Charakteristik bedienen. Das Originäre am Thema der »Humanität« finde sich im ausgehenden 18. Jahrhundert auch »nicht [bloß] innerhalb der Grenzen der sittlichen Form«, sondern beziehe sich »auf jegliche [Form der – C.M.] Gestaltung«, d. h. auf alle »Lebenskreise« der Kultur (Kunst, Literatur, Recht, Religion etc.). Drittens: Humanismus als i n d i v i d u e l l e s Ve r m ö g e n z u r F o r m . Unter dem n e u e n Humanismus bzw. der n e u e n Idee von Humanität will der philosophische Idealist Cassirer diejenige »Formgebung« verstanden wissen, bei der die jeweilige Form aus dem »Subjekt herstammt«. Realisiere doch das Subjekt einen ihm eigenen »Willen zur Form«, ein »Vermögen zur Form«. Die »Fähigkeit zu dieser eigentümlichen Weise des Produzierens« – hier stoßen wir auf die philosophische Anthropologie Cassirers – mache nämlich den Menschen als solchen erst aus. Damit bestimmt Cassirer die ›humanitas‹ als die F o r m f ä h i g k e i t des Individuums, wobei dieses Vermögen als das »Medium [gilt], in dem allein ›Form‹ entstehen, und in dem sie sich weiterbilden und fortpflanzen kann.«19

16 17 18 19

Ebd., 152. Ebd., 152 f. Ebd., 153. Ebd., 154.

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Da Cassirer hier gegen naturalistische Positionen polemisiert, hält er es für wichtig zu betonen, daß eine Kulturphilosophie, die diesen n e u e n Humanismus verwirklicht, keineswegs beanspruchen müsse, »den Kreis des natürlichen Daseins [zu] durchbrechen und prinzipiell aus ihm heraus[zu] treten«.20 Die postulierte ›humanitas‹ meine nämlich kein spezielles S e i n , sondern eine spezifi sche L e i s t u n g , der allein das »Naturwesen […] Mensch« fähig ist.21 Diese Leistung bestimmt Cassirer als Objektivierung durch symbolische Formung, wodurch sie die Richtung auf das Unendliche mit der strengen Selbstbegrenzung verbinde. Die »freie Persönlichkeit […] ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt«. Der »umfassende Universalismus« müsse zugleich »der reinste Individualismus sein und bleiben« wollen, das Allgemeine der Kultur sei »stets zugleich individuell u n d universell.«22 Dieses Allgemeine der Kultur finde seine Aktualisierung und Verwirklichung allein in der »Tat der Individuen«, was letztlich auch das Leben im Medium der Kultur ermöglicht. Das im n e u e n Humanismus des 18./19. Jahrhunderts gefundene und realisierte »Prinzip der Individualität« werde von »keinem der [angesprochenen] Systeme des historischen Determinismus« in dieser »Reinheit und Tiefe […] gefaßt«.23 Für die klassische Literaturepoche liege dieser »spezifische Wert des Individuellen« eben in der »›geprägten‹ Form, die lebend sich entwickelt« (Goethe). 24 Hier sei erfaßt und verstanden worden, daß Gestalt und Lebensgang einer jeden einzelnen, nationalen Kultur letztlich durch die »selbständige Schöpferkraft« der vielen Einzelnen beeinflußt, geformt wird.25 Diesen Zusammenhang leugneten die Deterministen, Fatalisten und Schicksalsjünger. Mit dem individuellen Vermögen der Formung im Vollzug von Objektivationsleistungen verbindet Cassirer auch seinen Begriff der Freiheit des »Menschen als Menschen«: alle kulturellen Objektivationen seien nur durch die Freiheit der Formgebung möglich und sie dienten alle der Freiheit des Menschen.26 Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, daß beim Lesen dieses und ähnlicher Texte Cassirers gelegentlich der Eindruck entsteht, daß er dasjenige, was wir die alltäglichen Sachzwänge des Lebens nennen, die uns Ebd., 154. Ebd., 155. 22 Ebd., 156. 23 Ebd., 158. 24 Zu Cassirers Formbegriff siehe im vorliegenden Band u. a. den Beitrag »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–418. 25 E. Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 160. 26 Ebd., 160. 20 21

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in vielen unserer Entscheidungen und Handlungen radikal einschränken, recht wenig reflektiert. Ein gut besoldeter bürgerlicher Philosophieprofessor hat selbst als Emigrant offenbar andere – eher ideelle – Existenzprobleme als manche der Menschen, über die und deren ›Freiheit‹ er philosophiert. Auf das Ganze blickend, auf lange Sicht, scheint allerdings selbst ein materiell gesichertes Leben ohne abschreitbare und abgeschrittene ideelle Freiheitsräume nur schwer als ein befriedigendes vorstellbar. Viertens: Das ›S c h i c k s a l‹ d e r K u l t u r . Obwohl Cassirer betont, daß diese humanistische Freiheits-Auffassung keineswegs im Gegensatz zu Kausalität und Notwendigkeit stehe, wie sie die empirischen Wissenschaften voraussetzen,27 wenn sie uns »die Gesetze der objektiven Wirklichkeit« lehren, so legt er doch Wert auf die Feststellung, daß diese dennoch nicht in der Lage seien, uns dazu »noch eine Voraussage über […] die Zukunft der menschlichen Kultur [zu] machen«. 28 Die Aussage, daß die »zukünftige Gestalt der Kultur […] sich nicht vorwegnehmen« lasse, weil sie sich von den empirischen Wissenschaften »nicht vollständig bestimmen [läßt]«, 29 richtet sich insbesondere gegen bestimmte, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg weit verbreitete pessimistische Ideen vom unausweichlichen Verfall und Niedergang der europäischen Kultur, vom ›Untergang des Abendlandes‹ (Spengler, Klages). Sogar eine selbstreflexive, ›kritische‹ Philosophie, deren eigentliche Aufgabe darin bestehe, zu »einem Verständnis der universellen Prinzipien der ›Formung‹ überhaupt vor[zu]dringen«, könne lediglich »allgemeine Grundrichtungen der [künftigen – C.M.] Kultur erkennen«.30 Wissenschaft und Philosophie müßten folglich anerkennen, daß zukünftiges »menschliches Tun« nicht prophezeit werden kann. Die philosophische Erklärung dafür habe schon Goethe mit der Erkenntnis gegeben: »das Tun erkennt sich erst in seinem eigenen Vollzug«, es wird sich erst im Vollzug »der in ihm liegenden Möglichkeiten bewußt«. Allerdings eröff nen sich in ihm insbesondere den großen Individuen ständig neue Möglichkeiten des Tuns, denn dieses ist »nicht von vornherein an einen bestimmten, klar abgegrenzten Kreis von Möglichkeiten gebunden«.31 Folglich anerkennt Cassirer auch keine schicksalhafte Fügung, nach der sich der Mensch einem historischen Fatalismus ergeben müsse. Dennoch ist der Einzelne nicht einfach und uneingeschränkt Herr seines Geschicks, 27 28 29 30 31

Ebd., 160 f. Ebd., 164 f. Ebd., 165. Ebd., 165. Ebd., 165 f.

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vielmehr muß er mit der »immer wieder aufbrechenden Unsicherheit über das [ihn erwartende – C.M.] Schicksal und die Zukunft der menschlichen Kultur« leben. Die zeitgenössische Kultur sieht Cassirer 1939 sehr wohl bedroht, wenn auch nicht zwangsläufig verfallen und untergehen. Vielmehr gebe es gute Gründe anzunehmen, daß die Kultur »sein und fortschreiten« wird, aber nur »sofern die formbildenden Kräfte, die […] von uns selbst aufzubringen sind, n i c h t versagen oder erlahmen.«32 Gegen die auch von Edmund Husserl 1935 konstatierte »Müdigkeit« des modernen europäischen Menschen hätten wir Einzelnen uns zur Wehr zu setzen. Aus der begründeten, täglich handelnd zu erfüllenden Erwartung, daß unsere Kultur »sein und fortschreiten« wird, folge wiederum keine »unbedingte Erreichbarkeit der […] Ziele«, die sich der handelnde Mensch setzt. Das Einzige, was absolut gewiß ist, ist »unsere eigene, subjektive Verantwortung« für und gegenüber unseren Zielen.33 In diesem Sinne stünden wir alle als Individuen in der ›unendlichen Aufgabe‹, die Idee der Humanität, die Idee des Fortschrittes der Freiheit in der Welt – die für Cassirer wesentlich mehr beinhaltet als verbriefte Freiheitsrechte – trotz aller Unsicherheiten und Rückschläge zu verwirklichen, bzw. an ihrer Verwirklichung teilzuhaben, mitzuwirken. Dabei erweisen sich weder »fatalistischer Pessimismus« noch »spekulativer Optimismus« als förderlich.34 Inspiration, Orientierung und Bestätigung finden wir, davon ist Cassirer im Jahre 1939 überzeugt und diese Überzeugung würde er wohl auch heute noch vertreten, vielmehr in dem n e u e n Humanismusideal, wie es die Deutsche Klassik [vor-]lebte und das auf das jedem Individuum von der Natur mitgegebene Vermögen der Formbildung und Formvariation setzt. Wir Einzelnen haben uns »aus eigener Kraft und aus eigener Verantwortung« für ein Handeln in diesem Geiste zu entscheiden, wohl wissend, »daß von der Art dieser Entscheidung die Richtung und die Zukunft der Kultur abhängen wird.«35 Fünftes: Die A k t u a l i t ä t d e s ›n e u e n‹ H u m a n i s m u s . Die Gefährdungen und Bedrängnisse der europäischen Kultur sind heute, im Jahr 2017, gewiß andere als im Jahr 1939, in dem Cassirer am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und der drohenden Weltherrschaft korporativistischer und rassistischer Regimes seine Überlegungen zum Humanismus niederschreibt. Aber ungefährdet erleben auch wir unsere Kultur nicht. Die marktliberalistische Versuchung, alle Sphären des kulturellen Lebens 32 33 34 35

Ebd., 166. Ebd., 166. Ebd., 166. Ebd., 166.

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zu kommerzialisieren, ist noch lange nicht abgewehrt, im Gegenteil, sie ist weiter auf dem Vormarsch. Die politische Demokratie, die sich inzwischen überall in Europa etabliert hat, ist zwar eine wichtige Form, die dem Einzelnen die teilhabende Formungstätigkeit am Staats- und Gemeinwesen ermöglicht, aber ein Allheilmittel gegen alle gesellschaft lichen Übel ist sie nicht. Allseits praktizierte Wirklichkeitsverweigerung stärkt diejenigen, die sie gern aushöhlen würden. Die vom westlichen Bündnis im Geiste des unseligen ›Kalten Krieges‹ erneut gesuchte Konfrontation mit dem ›Kontinent‹ Rußland und der durch eine fatale und kurzsichtige Politik bzw. militärische Einmischung weltweit ermunterte Terrorismus bedrohen unsere liberale Kultur nicht nur anonym und irgendwie, sondern beginnen unseren Alltag und unser kulturelles Leben zu verändern, in ihm Prägungen zu hinterlassen. Der Einzelne erfährt sich wieder einmal als macht- und wehrlos. Europa als eine nach allen Seiten immer mehr gesicherte Festung der ›Glückseligen‹, die sich dem Ansturm der Glückseligkeit suchenden Migranten – mehr oder weniger erfolgreich – erfolgreich erwehrt, ist in unseren medial offenen Zeiten ebenso kein zukunftsfähiges Motiv wie eine von Philanthropen geforderte bedingungslos nach allen Seiten offene Europäische Gemeinschaft . Zumal es um die Glückseligkeit innerhalb der ›Festung‹ auch nicht so gut bestellt ist, ob dies Politik und Medien nun zur Kenntnis nehmen oder nicht. Hat sich bislang der europäische Mensch über die Teilhabe an nützlicher und existenzsichernder Arbeit definiert, so scheinen die Möglichkeiten, dies auch zukünftig tun zu können, ein ganzes Stück geschwunden: wirkliche Vollbeschäftigung jenseits kreativer Statistiken und entwürdigender Niedriglohnformen wird es wohl nie wieder geben. Noch weiß niemand so recht, was nach der klassischen Arbeitsgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts kommt, welche Form von Kultur nach ihr ein sinn- und würdevolles Leben garantieren wird. Außerdem dürfte der aus Gründen eines globalen sozialen Friedens zwingend notwendige Versuch, wenn er – seitens der von fehlender Glückseligkeit Betroffenen und seitens derer, die bereits als Glückselige leben, – irgendwann einmal unternommen werden würde, dafür zu sorgen, daß künftig alle Menschen auf der Erde den gleichen Wohlstand und gleiche Verwirklichungschancen genießen können, wie wir Europäer und Nordamerikaner, an der Begrenztheit der Ressourcen und an den schädlichen Umweltfolgen scheitern, nachdem immer wieder alle internationalen wie nationalen Versuche mißlingen, dem Ressourcenraubbau und der Umweltweltzerstörung Einhalt zu gebieten, nicht zuletzt deshalb, weil es zu keiner weltweit gerechten Aufteilung der Ressourcen kommt, solange Westeuropäer und Nordamerikaner nicht zurückstecken, wonach es nicht aussieht, da dies derzeit deren politischen Ordnungen zum Einsturz bringen würde. Und daß sich

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Profitinteresse gelegentlich mit Arroganz und Dummheit übersetzen läßt, hat inzwischen jeder gemerkt, der einen ›umweltfreundlichen Diesel‹ fährt. Mit Cassirer hätten wir wohl festzustellen, daß dieser Lage weder ein spekulativer Optimismus noch ein fatalistischer Pessimismus gerecht wird. Vielleicht auch, daß es am Ende wohl nicht allein die Regierungen, nicht allein die Politik oder die Wirtschaft sind, die Sein (Bestehen) und Fortschreiten unserer Kultur bewerkstelligen werden, sondern daß es dabei mindestens genau so viel auf das alltäglich zu erlernende und zu vollziehende Vermögen der Form u m bildung an den Phänomenen der Kultur auf Seiten der Individuen selbst ankommt.

3. Humanismus als rückkehrendes Freiwerden für würdevolle Menschlichkeit In seinem bereits erwähnten, posthum erschienenen Werk The Myth of the State (1946) legt Cassirer die Philosophie Heideggers als dem Fatalismus und der Schicksalsergebenheit zuarbeitend aus. 36 Etwa zur gleichen Zeit veröffentlicht dieser seinen Brief »Über den Humanismus« (1946), in dem auch er drei historische Formen des Humanismus unterscheidet: den römisch-spätgriechischen, den der italienischen Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert und den deutschen Humanismus des 18. Jahrhunderts (Winkelmann, Goethe, Schiller), in welchem Hölderlin eine Sonderstellung zukomme, da dieser »das Geschick des Wesens des Menschen a n f ä n g l i c h e r« als die anderen Humanisten denke.37 Den historisch vorgefundenen Humanismus (bis auf den Hölderlins), die historische Humanitas, legt Heidegger in diesem Text als eine metaphysische Auffassung des Menschen aus, der diesen als a n i m a l r a t i o n a l e nehme. Und als vernünftiges Tier sei er nicht in seinem wahren, ursprünglichen Wesen verstanden, sondern als alltäglicher, entfremdeter Mensch. In dieser Argumentation gegen eine Inbeziehungsetzung des menschlichen Wesens mit der Animalität des Lebens drückt sich auch die abweisende Haltung Heideggers gegenüber der Philosophischen Anthropologie und deren sogenannten Biologismus aus. »Versteht man aber unter Humanismus allgemein die Bemühung darum, daß der Mensch frei werde für seine Menschlichkeit und darin sein Würde finde«,38 dann erfülle der historische wie der zeitgenössische Humanismus E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 282 f. (= ECW 25, 287 f.). M. Heidegger, »Über den ›Humanismus‹. Brief an Jean Beaufret, Paris« (1946), in: ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947, 53–119, hier: 63. 38 Ebd., 63. 36 37

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diese Aufgabe nicht und werde sie auch nie erfüllen. Nicht zuletzt deshalb, weil er das Wesen des Menschen metaphysisch als etwas Fixes in der Welt des Seienden bestimme, was, wie wir gesehen haben, den Humanismusbegriff Cassirers in keiner Weise betrifft . Der metaphysische Humanismus frage eben »nicht nach dem Bezug des Seins zum Menschenwesen«.39 Heideggers kritischer Grundgedanke ist, »daß die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch n i c h t erfahren.« Insofern sei sein eigenes Denken in Sein und Zeit (1927), das diese Würde »erfährt«, ein »Denken […] gegen den Humanismus«, ohne damit aber »das Inhumane« zu befürworten. 40 Um sein Konzept eines Neu- oder Post-Humanismus ins Denken des modernen Menschen zu bringen, müsse er, Heidegger, gegen den metaphysischen Humanismus argumentieren und agieren. Das schließe dessen marxistische, christliche und existentialistische Richtungen, die die Debatte 1946 bestimmen, ein. Allein ein u r s p r ü n g l i c h e s bzw. a n f ä n g l i c h e s Denken des Seins könne einen wahren Humanismus ausdenken, ausformen. Diese Argumentation, auf die sich der eingangs erwähnte provokante Diskussionsanstoß Sloterdijks stützte, soll im Folgenden verkürzt ausgeführt werden, steht sie doch in ihren Intentionen – bis auf die gemeinsame Abweisung metaphysischer Erklärungen – in recht deutlichem Gegensatz zur Argumentation des ein Jahr zuvor in New York verstorbenen Cassirers. Dennoch enthält Heideggers Brief »Über den Humanismus« eine Reihe von Motiven, die sowohl an Cassirer Aufsatz von 1939 als auch an Husserls Vortrag über »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie« von 1935 erinnern: die Krisis der modernen Kultur und die Frage nach einem Ausweg. 41 Heidegger jedoch disqualifiziert jegliches wissenschaftliche Denken als ein technisches, das schon kein ursprüngliches, anfängliches Denken mehr sondern seine bloße Kompensation sei. 42 Allein das Denken des Seins habe als wahres, wesentliches, ursprüngliches d. h. anfängliches Denken gemäß dem Wesen des Menschen zu gelten. Und nur ein solches Denken vermag sich der »Geschichte des Seins«, die »jede condition et situation humaine [trägt und bestimmt]«, 43 zu vergewissern.

Ebd., 64. Ebd., 75. 41 Siehe dazu vom Verfasser, »Die Idee des Menschentums bei Husserl. Am Beispiel des Wiener Vortrages von 1935«, in: ders., Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen 2., stark erweiterte Auflage, Berlin 2016, 111–122. 42 M. Heidegger, »Über den ›Humanismus‹, Paris« (1946), in: Platons Lehre von der Wahrheit, a. a. O., 58. 43 Ebd., 54. 39

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Heidegger ist überzeugt, daß der neuzeitliche Mensch kein Leben gemäß seines ursprünglichen Wesens – mehr – lebt, sondern eine von seinem Wesen entfremdete, falsche, vom Sein, von der Wahrheit des Seins abgefallene und deshalb gefährdete Existenz fristet. 44 Als Beispiel oder Beleg dafür wird die Sprache des modernen Menschen angeführt, die ihr ursprüngliches Wesen, das ›Haus der Wahrheit des Seins‹ zu sein, verloren und eine rein technische Funktion angenommen habe; ebenso wie das Denken werde sie von der Metaphysik beherrscht. Der Mensch solle und könne aber zu einem Leben in der Nachbarschaft des Seins – und der Sprache des Seins – z u r ü c k k e h r e n . Die ›Rückkehr‹ erweist sich als ein zentrales Motiv bei Heidegger, ähnlich wie bei Husserl die ›Rückbesinnung‹. Denn nur hier, im ursprünglichen Denken, eröffne sich dem Menschen das »wesenhafte, nämlich freie Menschsein«. 45 Um dahin zu gelangen, um die eingetretene ›Seinsvergessenheit‹ überwinden zu können, müsse sich der Mensch von der Herrschaft der öffentlichen Meinung befreien, habe sein Denken die Subjektivität zu verlassen. Wie Husserl, und im Gegensatz zu Cassirer, behauptet Heidegger konsequent die Überlegenheit des »Ursprungs«, des »Anfangs«, des ursprünglich-anfänglichen Denkens, was bei ihm auch bedeutet, des Einfachen, des Archaischen, des bäuerlichen, ländlichen Lebens im Gegensatz zur Urbanität und ihren Vermittlungen. Hier lassen sich bei Heidegger – ähnlich wie bei Ludwig Klages – romantisierende Züge aufweisen, zieht er doch ganz offensichtlich die Lebensform der handwerklichen Herstellung von konkreten Gebrauchswerten der der industriellen Produktion von Tausch- und Mehrwert vor. Im Vergleich mit Cassirer, der von seinem ganzen Typus her den urbanen Europäer repräsentiert, erscheint Heidegger als der Typus, der das Regionale, Ländliche, Bodenständige verinnerlicht hat. Diese Haltung der ständigen Betonung einer Überlegenheit des Anfangs, des Ursprünglichen wird auf die Wertschätzung des Seins, des Seinsdenkens im Gegensatz zum Seienden, zum Denken des Seienden übertragen. Warum das Ontologische dem Ontischen in seiner Würde und Wertigkeit überlegen sein soll, bleibt m.E. ein Geheimnis Heideggers. Wenn er erklärt, daß der Mensch, um »n o c h e i n m a l« die Nähe des Seins zu finden, sich zunächst »vom Sein […] w i e d e r ansprechen lassen [muß]«, 46 was ja bedeutet, der Mensch hat irgendwann einmal beim/im Sein gelebt, dann gibt uns Heidegger zu verstehen, daß es das Sein ist, das zum Menschen kommt, und nicht der Mensch, der zum Sein findet. Das 44 45 46

Ebd., 59. Ebd., 56. Ebd., 60.

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Sein »geht den Menschen an«, 47 und dies in doppeltem Sinne: es ist wesentlich wichtig für ihn, und es kommt zu ihm heran. Deshalb kommt ihm, dem Menschen, die Fähigkeit zu, die Wahrheit des Seins bedenken zu können, in ihre Dimension gelangen zu können. 48 Die Rolle des Menschen ist also die, auf den ›Ruf des Seins‹ zu harren und zu warten, n i c h t die, aktiv zu handeln bzw. selbst das Sein anzusprechen. 49 Der Mensch muß begreifen, daß er n i c ht der »Machthaber des Seins«,50 nicht der »Herr des Seins«,51 sondern bloß der »Hirt des Seins« ist. Der Mensch ist der in die Wahrheit des Seins ›Geworfene‹,52 auf daß er »die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es i s t , erscheine«.53 Ob, wie und wann das Sein, d. h. »das Seiende als das Seiende, das es i s t«, erscheint, hängt also nicht vom Willen und Wollen des Menschen ab. Damit ist im Grunde das Projekt der Moderne für Heidegger beendet, ein Projekt menschlichen Größenwahns, während Cassirer es in weiterer Umsetzung durch den modernen Menschen wähnt, den bekanntlich die Form- und Formungsfähigkeit auszeichnet. Heideggers Philosophieren erhebt also den Anspruch, den Menschen für den [An-]Ruf durch das Sein vorzubereiten, erhebt den Anspruch, »den Menschen w i e d e r in sein Wesen z u r ü c k z u b r i n g e n«, und auf diese Weise dem ›inhuman‹ gewordenen Menschen, dem außerhalb seines Wesens seienden, behilflich zu sein, wieder ein ›humaner‹ Mensch zu werden, in die Humanitas zurückzukehren.54 Es sei Hölderlin, der geniale Dichter, der, »wenn er die ›Heimkehr‹ dichtet, darum besorgt [ist], daß seine ›Landsleute‹ in ihr Wesen finden.«55 Die »Heimat dieses geschichtlichen Wohnens« sei »die Nähe zum Sein«, was an dieser Stelle zu meinen scheint: in der geschickhaften Zugehörigkeit zu den anderen Völkern, und nicht in einer überkommenen geschichtlichen Tradition.56 Die gewiß originelle Frage Heideggers nach dem Wesen des Menschen tut sich aber recht schwer mit einer Antwort auf die sich anschließende Ebd., 74. Ebd., 74. 49 Ebd., 66. 50 Ebd., 75. 51 Ebd., 90. 52 Den von Heidegger »[ge-]prägten« Terminus »der ›Geworfenheit‹ des Menschen« kritisiert Cassirer 1945/46. – E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 282 f. (= ECW 25, 287 f.). 53 M. Heidegger, »Über den ›Humanismus‹, Paris« (1946), in: Platons Lehre von der Wahrheit, a. a. O., 75. 54 Ebd., 61. 55 Ebd., 85. 56 Ebd., 85. 47

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Frage, was sich denn für den modernen, neuzeitlichen Menschen tatsächlich ändern würde, wenn er diesem Weg zurück zum Anfang, zum Ursprungsdenken, in die Nähe des Seins, der er sich wartend aussetzen muß, folgte? Die Schwierigkeit resultiert – für mich – nicht zuletzt aus dem Verständnisproblem dessen, was das Heideggersche Sein bedeutet? Nachdem er die Frage aufgeworfen hat: »Doch das Sein – was ist das Sein?« und eine erste Antwort geben hat: »Es ist Es selbst«,57 gibt er viele Erklärungen des Seins als des ontologisch fundamentalen und wesentlichen Seins. Ich frage mich aber, in welchem Sinne helfen diese Explikationen die Natur, das Wesen des menschlichen Seins aufzuklären, das Heidegger jenseits jeglicher Animalität, d. h. jenseits jeglicher Körperlichkeit und organischen Basis, sucht? Und damit ist die durch Cassirer aufgeworfene Frage, ob wir das ›Wesen‹ des Menschen nicht vielmehr in seiner Fähigkeit zur geistigen Formung, in seiner funktionalen Leistungsfähigkeit statt in einem Sein, das Gefahr läuft, zu einem substantiellen Sein zu mutieren, suchen sollen, noch gar nicht gestellt. Das Sein wird uns durch Heidegger als etwas präsentiert, das selbst des Menschen bedarf, um sich durch ihn oder in ihm in seiner wesentlichen Wahrheit zu [be-]finden. Der Mensch jedoch »verkennt zunächst das Nächste«, das Sein.58 Die Aufgabe, die ihm – vom Schicksal? – gestellt ist, ist, das Sein zu vernehmen, zu erkennen und zu denken. Als Konsequenz seiner Philosophie behauptet Heidegger: »der Mensch ist nicht das Wesentliche, sondern das Sein« ist es.59 Was ist nun aber die immer wieder bemühte Würde des Seins? Sie scheint m e h r zu bedeuten als die Würde des Menschen, obwohl – oder zumal – diese von ersterer herrührt. Will Heidegger hier zum Ausdruck bringen, daß wir akzeptieren müssen, daß »das Sein [nicht] ein Produkt des Menschen« ist, nicht menschlichen Gesetzen gehorcht?60 Appelliert er an die einzufordernde Demut, die die Menschen gegenüber dem Sein an den Tag legen sollen? Aber was ist das »Sein« gegenüber dem uns alltäglich begegnenden und zu bewältigenden Seienden? Auch die Rede vom Sinn als der Wahrheit des Seins, aus dem heraus das Sein zu verstehen sei, 61 bringt uns nicht recht weiter, wenn wir das »Wesen des Menschen« gemäß Heidegger verstehen wollen. Was gewinnt der Mensch durch ein Leben, eine Existenz in der Nachbarschaft des Seins für sein alltägliches Leben, das er unbedingt zu meistern hat? Heidegger bestimmt diese Existenz bekanntlich als die »Wächterschaft«, als die »Sorge 57 58 59 60 61

Ebd., 76. Ebd., 77. Ebd., 79. Ebd., 83. Ebd., 84.

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für das Sein«. 62 Welche Relevanz hat ein anfängliches Denken, das keinerlei Ergebnis zeitigt, das nichts ist außer das Andenken an das Sein, das »seinem Wesen genügt, indem es ist«, für ein Meistern der alltäglichen Existenz, ohne deren Sicherung ja auch kein Denken des Anfangs stattfinden kann?63 Heidegger verspricht uns allerdings, daß, wenn der Mensch im Sein lebt, »aus dem Sein selbst die Zuweisungen derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen.«64 Das ›Seinsgesetz‹ bzw. die Seinsregel unterscheiden sich also von dem Gesetz, das »nu r [sic!] das Gemächte menschlicher Vernunft« ist. 65 Inwieweit vermag bzw. muß dieses ›Seinsgesetz‹ unser künftiges Handeln orientieren? Was besagt es eigentlich? Der Ehrlichkeit halber muß man wohl sagen, daß uns diese Form zurückbleibender Ratlosigkeit im Konkreten auch in den Humanismus-Konzepten Cassirers – und Husserls – anspringt. Alle drei Philosophen sehen den modernen Menschen in einer Lebenskrisis, in der Gefahr des Verfalls der Werte, des Verlustes an Sinnstiftung, des Untergangs der kultivierenden Kultur etc. Bei Heidegger stehen dafür Ausdrücke wie »jetzige Weltnot«66 oder »Heimatlosigkeit« des neuzeitlichen Menschen, die »zuletzt« Nietzsche erfahren habe, 67 in der außer dem Menschen aber auch das »Wesen des Menschen« »herumirre«. 68 Diese Heimatlosigkeit beruhe auf der »Seinsverlassenheit des Seienden«, weil sich der neuzeitliche Mensch – im Unterschied zum a lt z e it l i c h e n (antiken) – nur noch an Seiendes und nicht ans Sein wende. 69 Durch die so eintretende Entfremdung vom Sein, von dessen Wesen und von seinem eigenen Wesen, verliere er seine Menschlichkeit, seine Humanität.70 Der Mensch sei nämlich nur dann menschlich, wenn er in seinem Wesen ruht und nicht außerhalb seines Wesens existiert.71 Im Unterschied zu Marx und dessen Erklärung, so Heidegger, werde die Entfremdung nicht aus sozialen und ökonomischen Ursachen, sondern vielmehr »aus dem Geschick des Seins […] hervorgerufen«.72

62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Ebd., 91. Ebd., 111. Ebd., 114. Ebd., 115. Ebd., 119. Ebd., 84 f. Ebd., 86. Ebd., 86. Ebd., 87. Ebd., 61. Ebd., 87.

Cassirer und Heidegger über Humanismus

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Seine »Heimat« findet der heimatlose Mensch bzw. das heimatlos gewordene Wesen des Menschen allein in der »Nähe zum Sein«, 73 in der »Armut der Ek-sistenz des h o m o h u m a n u s«;74 eine philosophische Antwort, die kaum alltagstauglich erscheint. Zumal es die Dichtung sein soll, in der und durch die sich das Sein artikuliert, sich als Geschick, als »Weltgeschick« ankündigt.75 Aus Heideggers Worten ist zudem zu entnehmen, daß die Krisis des Menschentums ihren tiefsten Punkt offenbar noch nicht erreicht hat, und daß der Mensch geduldig auf die Erlösung aus seiner wachsenden Heimatlosigkeit warten muß, auf den ›Ruf des Seins‹.

4. Epilog Es stellen sich mir abschließend drei Fragen: 1. Wenn es »der Humanismus [ist], der die Menschheit des Menschen aus der Nähe zum Sein denkt«, 76 nimmt der in Heideggers Sinne ›humanistisch‹ d e n k e n d e Mensch diese Erlösung aus der Seinsvergessenheit, Heimatlosigkeit und Entfremdung bereits vorweg, verwirklicht er sie schon, weil er, der ›humanistisch‹ d e n k e n d e Mensch, den ›Ruf des Seins‹ bereits vernommen hat? Was zeichnet ihn gegenüber Anderen aus, daß ihn das Sein schon jetzt angesprochen hat? 2. Bedeutet für Heidegger letztlich eine Existenz in der »Nähe zum Sein«, ein die Stimme des Seins Vernehmen, ein sich an dem Seinsgesetz Orientieren eine bestimmte Form der Demut, der Verantwortung und des Verzichtes auf Konsumierung gegenüber dem endlichen Seienden? Macht diese – antikapitalistische – Haltung das wahre Wesen des Menschen aus? 3. Inwieweit wird der tatorientierte Humanismus Cassirers diesem durchaus nachvollziehbaren Demutsgedanken gerecht? Es wäre mit Sicherheit interessant und aufschlußreich, aus den argumentativen Fragen und Antworten die jeweilige Idee eines ›wahren‹ Humanismus betreffend eine fi ktive, streitbare Debatte zwischen Cassirer und Heidegger zu entwerfen und die Argumente des Einen an denen des Anderen zu erproben, zu messen.

73 74 75

76

Ebd., 85. Ebd., 103. Ebd., 86. Ebd., 90 f.

Das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen Versuch einer Annäherung Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen

E

rnst Cassirer wird gelegentlich der Vorwurf gemacht, daß er in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ auf idealistische Manier den Geist, die geistigen Funktionen verselbständige und deren materiellen Träger – die naturhaft-biologischen Strukturen – zumindest unterbelichtet lasse. Für solche kritischen Anmerkungen gibt es durchaus eine Reihe von guten Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden soll.1 Der vorliegende Beitrag geht deshalb der Frage nach, ob und welche Belege sich im Werk Cassirers dafür finden lassen, daß er das Zusammenspiel bzw. die Bezüge von Biologischem (Körper), Psychischem (Gefühl) und Geistigem (Symbolleistungen) dennoch zumindest im Blick hat. Ich muß bekennen, daß sich die Recherche schwieriger als erwartet gestaltet hat und daß ich als Ergebnis lediglich mit dem ›Versuch einer Annäherung‹ an die Beantwortung dieser Frage aufwarten kann, da der Dreiklang von Körper, Gefühl und Symbolleistungen, und damit auch die Modalitäten einer Rückbindung des Geistigen und Psychischen an das Biologische, für Cassirer offenbar kein explizites Thema seines Philosophierens bildet.2 Es lassen sich aber zweifellos Ansätze einer Thematisierung des Problems benennen, was im Folgenden geschehen soll. Diese Ansätze wiederum fi nden ihre Schranken bzw. Grenzen in bestimmten methodologischen Überzeugungen Cassirers. Zum E i n e n befaßt sich seine philosophische Analyse in der Regel nicht mit Kausalzusammenhängen, sondern vielmehr mit dem phänomenologischen Bestand bzw. Befund der Sachverhalte. Es geht ihm also von vornherein nicht um das Aufweisen möglicher kausaler Abhängigkeiten zwischen Körperlichkeit, Gefühlen und Symbolvermögen, sondern bestenfalls um das Auffi nden von Entsprechungen, Korrelationen. Zum A n d e r e n interessiert sich die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ nicht für die Einheit der kulturel-

Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324. 2 Auf die Rolle des Gefühls in der Form des Gemeinschaftsgefühls für Cassirers politische Philosophie habe ich in einem früheren Beitrag hingewiesen, siehe im vorliegenden Band den Beitrag: »Das ›Lebensgefühl‹ in der politischen Philosophie Cassirers. Am Beispiel des ›Gemeinschaftsgefühls‹«, 173–188; siehe zu dem Thema aber vor allem Y. Hamada, Symbol und Gefühl. Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie, (CF, Bd. 17), Hamburg 2016. 1

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

len Erzeugnisse, der Kulturgüter, sondern für die des ›schöpferischen Prozesses‹ bei ihrer Erschaff ung. Aus diesem Blickwinkel, der auf die Einheit verschiedenster Sinnrichtungen des Bildens bzw. bildender geistiger Energien aus ist, scheint die Körperlichkeit des Menschen, seine biologische Dimension weitgehend irrelevant zu sein. Und s c h l i e ß l i c h haben wir uns immer zu vergegenwärtigen, daß Cassirer eine einfache Übertragung biologischer Begriffe und Theorien auf psychologische, geistig-kulturelle oder soziale Sachverhalte ebenso als problematisch begreift und abweist, wie eine unreflektierte Anwendung geistes- und kulturwissenschaft licher Begriffe auf Psychisches und Biologisches.3 Er spricht zwar selbst immer wieder von Begriffs- und Formanalogien, betont dabei aber stets den a l s o b -Charakter dieser Analogien. Ansätze einer Thematisierung des genannten Zusammenspiels von Körper, Gefühl und Symbolleistungen sollen an Hand folgender Problemfelder in Cassirers Philosophieren angedeutet und aufgewiesen werden: 1. am Problem des Einflusses von pathologischen Erkrankungen auf das Symbolvermögen, 2. am Beispiel der Rolle des Körperlich-Leibhaften bei der Bildung von Kategorien und Anschauungsformen im mythischen Denken, 3. an Hand der philosophisch-phänomenologischen Überlegungen zur Auszeichnung der kulturellen Symbolleistungen gegenüber ihrer naturhaften Vorform im Tierreich.

1. Der Einfluß von pathologischen Erkrankungen auf das Symbolvermögen Hierbei stütze ich mich insbesondere auf Textstellen in Cassirers nachgelassenen Manuskripten, die im Band Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ (ECN 4) veröffentlicht sind, und auf Aussagen im Werk Phänomenologie der Erkenntnis (Philosophie der symbolischen Formen. 3. Teil: 1929). Cassirer bemüht ab 1925 Erkenntnisse der Sprachpathologie zur Aphasie, aber auch Erkenntnisse zur – optischen und taktilen – Agnosie und zur Apraxie (Pathologie des Handelns), um Form und Bedeutung von geistigen Symbolisierungsleistungen – d. h. dem Vermögen der kategorialen Formung, der Repräsentation etc. – an Hand ihres krankheitsbedingten Verlustes bzw. ihrer krankheitsbedingten Einschränkung zu verdeutlichen. 4 In diesem speziellen Kontext wird ein Zusammenhang zwischen den – verSiehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444. 4 E. Cassirer an K. Goldstein, 5. Januar 1925, in: ders.: Ausgewählter wissenschaft3

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lustig gegangenen oder stark eingeschränkten – Symbolisierungsleistungen und körperlich-leiblichen Zuständen (Gehirnschäden, Erkrankungen durch Verletzungen) hergestellt, wobei das durch die leiblichen Schädigungen in Mitleidenschaft gezogene Nervensystem sozusagen ein mittleres Glied bildet. Die verschiedenen Formen von Pathologien, die Cassirer mit Hilfe Kurt Goldsteins studieren kann, gehen nämlich häufig auf körperliche – und dadurch verursacht nervliche – Verletzungen im Weltkrieg 1914/18 zurück. Cassirer berichtet z. B. von einer partiellen Amnesie der Farbennamen, die auf eine »Kopfverletzung« beim Kranken zurückzuführen sei,5 die wiederum durch eine »Kopfschußverletzung […] bedingt war«. 6 Einem anderen Kranken machte es eine »halbseitige Lähmung« unmöglich, »die rechte Hand zu bewegen«, was über den Verlust bestimmter Fähigkeiten der Symbolisierung zu der Sprachstörung führte, keine Sätze bilden zu können, in denen die u nw i r k l i c h e rechte Hand eine Rolle spielt.7 Aussagen des Patienten über die g e s u n d e linke Hand waren dagegen von der Störung nicht betroffen. Dieser Fall verweist darauf, daß nicht unbedingt das Symbolvermögen als solches, in Gänze betroffen sein muß. So gibt Cassirer auch Hugo Liepmanns Erkenntnis wieder, daß z. B. bei apraktischen Erkrankungen die Störung nicht im geistig-symbolischen Prozeß selbst, sondern »vielmehr in der Übertragung desselben auf das Motorium der rechten Hand liegen« müsse, daß, weil de facto nur ein Gliedmaß gestört ist, folglich »der gesamte sensomotorische Apparat eines bestimmten Einzelgliedes von dem seelischen Gesamtprozeß a b g e s p a l t e n sein kann.«8 In diesen und ähnlichen Passagen sehe ich in Cassirers Beschreibungen körperliche, nervliche, wahrnehmungs- und gefühlsmäßige, symbolisierende und sprachlich-symbolische Aspekte in einen Zusammenhang, in eine Entsprechung gebracht, ohne daß daraus jedoch bereits eine eigene konsistente philosophische Theorie erwüchse.

licher Briefwechsel, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitarbeit von M. Lauschke, C. Rosenkranz und M. Simon-Gadhof, in: ECB/ECN 18, Hamburg 2009, 70. 5 E. Cassirer, »Der Begriff der Form als Problem der Philosophie« (1921), in: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 4, Hamburg 2011, 271–286, hier: 279. 6 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 274. 7 E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 287–314, hier: 307. 8 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, a. a. O., 305.

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Cassirer gibt zudem zustimmend die Ansicht Goldsteins wieder, wonach erst dann, »wenn durch sorgsame Einzelbeobachtung die spezifische Form der Erlebnisse eines Kranken festgestellt« ist, »die Frage aufgeworfen und beantwortet werden [könne – C.M.], welche materiellen Vorgänge im Zentralnervensystem einer bestimmten krankhaften Änderung entsprechen«.9 Obwohl er es hier ganz offensichtlich vermeidet, von einem kausalen Zusammenhang zu sprechen, hält es Cassirer doch zumindest für angebracht, nach den materiellen Entsprechungen psychischer und intellektueller Vollzüge zu fragen. Auf dieses Problem kommt er ein zweites Mal zurück, wenn er Adhémar Gelb und Kurt Goldstein paraphrasierend feststellt, daß »eine physiologische Erklärung eines bestimmten Krankheitsbildes« zwar möglich sei, allerdings eben erst dann, wenn »die phänomenologische Analyse bis in einzelne durchgeführt« ist, d. h., wenn man sich die Frage gestellt und beantwortet habe, »wie das pathologisch veränderte Erlebnis des Kranken tatsächlich beschaffen sei«. In diesem Zusammenhang bemerkt er ausdrücklich, daß diese Frage zunächst »unabhängig von allen Hypothesen über den S i t z der Erkrankung und ihre Ursachen« geklärt werden müsse.10 Mit anderen Worten, die kausale Frage nach der physiologischen Ursächlichkeit der Erkrankung, die die Symbolleistungen einschränkt oder aufhebt, bildet weder für den Philosophen Cassirer noch für die forschenden Ärzte Gelb und Goldstein eine primäre Fragestellung, interessieren sie sich doch vor allem für diese Leistungen – z. B. das Vermögen, ideelle Sinneinheiten zu bilden, in denen die einzelnen Sinnfragmente zusammengeschlossen werden, – in ihrer vollen und eingeschränkten Form.11 Der Verlust z. B. des symbolisierenden Sprachvermögens bedeutet in der Regel auch einen Eingriff in die sinnliche Vorstellungs- und Anschauungswelt, d. h. in die Formen der gegenständlichen Auffassung des Kranken, die auf der Wahrnehmung aufruht.12 Sprachstörungen, so notiert Cassirer E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 297. 10 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, a. a. O., 273. 11 Ebd., 275. 12 »Wo die Kraft der Nennfunktion, auf Grund pathologischer Störungen, erlahmt – da scheint alsbald auch das Band der gegenständlichen Einheit sich wieder zu lockern. An Stelle dieser Einheit tritt die Vereinzelung; an Stelle der kategorialen Ordnung und Geschlossenheit tritt die bunte, aber beziehungslose Fülle. […] In all dem stellt sich die innere Verwandtschaft dar, die zwischen einer bestimmten Form und Grundrichtung des sprachlichen Verhaltens und gewissen Formen der gegenständlichen Auffassung besteht: die Abwandlung des einen Moments schließt die des anderen in sich.« – E. Cassirer, »Vortrag Symbolproblem« (1932), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 85–106, hier: 98. 9

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in seinen nachgelassenen Papieren, »greifen auf alle mittelbaren und symbolischen Operationen über«.13 Die Wahrnehmungsvollzüge – und damit auch das Anschauungsvermögen – verlieren infolge der Sprachstörungen einen Teil ihrer sie strukturierenden Sy m b o l w e r t e . Es besteht für Cassirer nämlich nachweislich »eine ständige Wechselbeziehung zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur«.14 Mehr noch, mit den Sprachstörungen treten nicht nur Störungen der Wahrnehmungs- und Anschauungswelt (Agnosie), sondern auch solche des Handelns (Apraxie) ein.15 Als bezeichnend an dem Phänomen des pathologisch bedingten Verlustes bestimmter symbolisierender Fähigkeiten sieht Cassirer die empirisch gut belegte Tatsache an, daß der an einer der Pathologien leidende Kranke sich im gegenwärtigen D i n g r a u m , d. h. im alltagspraktischen Leben, im – wie Cassirer dies auszudrücken pflegt – »primitiven lebensnäheren Verhalten«16 (Goldstein), meist völlig normal bewegt. Der Kranke besitze lediglich keinen freien S p i e l r a u m mehr, der ins Nichtgegenwärtige greift, was auf einen Mangel an produktiver Einbildungskraft schließen läßt.17 Diesen Gedanken entwickelt Cassirer im Essay on Man (1944) noch einmal von der anderen Seite. Er führt hier aus, daß der Kranke, der in Folge »einer Gehirnverletzung« den »Verlust oder eine schwere Beeinträchtigung des Sprachvermögens« zu beklagen hat, infolgedessen eine Veränderung des »gesamten Charakters [sein]es Verhaltens« erlebt. Sein krankhaftes Verhalten erweise sich nunmehr auf »die Grenzen seiner biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen beschränkt«.18 Mit anderen Worten, er vermag nicht – mehr – in der Sphäre des bloß Möglichen zu leben, sondern nur noch in der konkreten Sphäre des Wirklichen.19 Was Cassirer hier zum Ausdruck bringen will, ist die Überzeugung, daß dem an einer der genannten Pathologien Erkrankten der kulturelle Charakter, die kulturelle Schicht des Lebens ganz oder teilweise abhanden E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1927), in: ebd., 51–84, hier: 67. E. Cassirer, »Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung«, in: ebd., 107–150, hier: 112. 15 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, a. a. O., 294. 16 E. Cassirer, »Der Begriff der Form als Problem der Philosophie« (1921), in: ebd., 280; siehe auch: ders., PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, a. a. O., 274, 280 f. 17 E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 307 f. 18 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser (engl. 1944), Frankfurt am Main 1990, 70 f. (= ECW 23, 47) 19 Ebd., 95 (= ECW 23, 64). 13 14

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gekommen ist. Die Erkenntnis, wonach der pathologisch bedingte Verlust der Symbolisierungsleistungen die »Grenzlinie« zur »biologischen Sphäre« »wieder […] verwischen« kann und ein Verhalten nahe legt, wie es im Grunde für die »biologische Schicht« normal ist, d. h. wie es den Handlungsbildern im Tierreich entspricht, hatte Cassirer bereits in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) ausgesprochen. Das pathologisch eingeschränkte oder veränderte Vorstellen und Handeln vermag seine festen, starren Bahnen nicht mehr zu verlassen, der für den »Gang der objektiven Kultur« bezeichnende »Fortgang ins I d e e l l e« (Zukünftige, Vermittelte) ist gestört oder unmöglich, der Weg vom G r e i f e n zum B e g r e i f e n ist umgekehrt worden.20 »Es scheint, als wäre der aphasische oder apraktische Kranke auf diesem Wege [der Kultur – C.M.], den die Menschheit sich langsam und stetig bahnen mußte, um eine Stufe zurückgeworfen«, 21 als sei er aus der Mittelbarkeit kultureller Existenz in die Unmittelbarkeit biologischen Lebens zurückgestoßen worden. Kurzum, sein Verhalten hat das ideelle Symbolvermögen eingebüßt und ist aus den Handlungsbildern »der Welt der menschlichen Kultur«, des »objektiven Geistes«, in die der »organischen Welt«, des vegetativen (naturhaften) »Lebens« zurückgefallen.22 In diesem Kontext will Cassirer den Begriff der Lebensnähe, des praktischen Lebens, des alltäglichen Lebens mit einem Lebensbegriff verbunden wissen, der »die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfaßt« und der diese Funktionen »den spezifisch-geistigen Funktionen gegenüberstellt.«23 Als Zwischenreich begreift er bekanntlich die symbolischen Formen als letztlich geistige Gebilde, denen allerdings Lebendigkeit eignet, da das Leben, »lange ehe es in diese Formen übergeht, in sich selbst zweckvoll gestaltet, […] auf bestimmte Ziele gerichtet [ist]«.24 Jede dieser symbolischen Formen »baut ein eigenes, ein intelligibles Reich innerer «In zwiefacher Weise macht sich, wenn wir dem Gange der objektiven Kultur folgen, diese Bestimmung, dieser Fortgang ins Ideelle geltend. Die Form des sprachlichen Denkens und die Form des Werkzeug-Denkens scheinen hier nahe miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen zu sein. […] Das pathologische Verhalten hat gewissermaßen die Kraft des geistigen Impulses eingebüßt, der den Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen und des unmittelbar Begehrten hinausdrängt.« – E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, a. a. O., 321. 21 Ebd., 321. 22 Ebd., 322. 23 «Gelb und Goldstein haben das Verhalten der Kranken, um es von dem kategorialen Verhalten der Gesunden zu unterscheiden, als das primitivere und lebensnähere bezeichnet. Und dieser Ausdruck der Lebensnähe trifft in der Tat zu, wenn man unter dem Begriff des Lebens die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfasst und diese den spezifisch geistigen Funktionen gegenüberstellt.« – Ebd., 319. 24 Ebd., 319. 20

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Bedeutsamkeit auf, das sich von allem bloß zweckhaften Verhalten innerhalb der biologischen Sphäre klar und scharf abhebt.«25 Bei den an Aphasie, Agnosie oder Apraxie Erkrankten ist für Cassirer, wie bereits erwähnt, diese Grenzlinie zwischen den beiden Welten wieder verwischt, nicht zuletzt deshalb, weil die Bewußtseinsform des Menschen, die an die Zeitform seiner Erlebnisse gebunden ist, um die Entdeckung ihrer drei zeitlichen Dimensionen als einheitliches Ganzes gebracht ist und erneut der Bindung an die sinnliche Gegenwart unterliegt. Mit dem Verlust der Kraft des Rück- und des Vorblickes sind dem Kranken geistige Fähigkeiten wie die der Reflexion, die ihn als Menschen von der gesamten übrigen belebten Natur und ihren seelischen Fähigkeiten, denen Unmittelbarkeit eignet, unterscheiden, abhanden gekommen.26 In der Folge erweist sich die emanzipative Errungenschaft , daß die auf Grund aufkommender repräsentativ-vorstellender geistiger Leistungen abgelöste »ausschließliche Herrschaft« der »Präsenz der Dinge« über den Menschen, was auch die »ausschließende Herrschaft« des Körperlichen, Leibhaften über seine Gefühle und Wahrnehmungen aufgehoben hatte, wieder rückgängig gemacht.27

2. Die Rolle des Körperlich-Leiblichen bei der Bildung der Kategorien und der Anschauungsformen des mythischen Denkens Bei der Präsentation der Rechercheergebnisse zu diesem Punkt stütze ich mich insbesondere auf den Band Das mythische Denken (Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: 1925). Cassirer sucht den Mythos, die mythische Bewußtseins- bzw. Denkform nicht ausgehend von ihren diversen Vorstellungsinhalten zu erklären, sondern ausgehend von dem, »was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist«, und das meint er in den Riten vorzufinden.28 In die rituellen Handlungen, die Teil des realen Lebens und keineswegs lediglich Schauspiele sind, gehen die Menschen samt ihrer Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit ein, aber eben auch mit ihren Emotionen und Trieben. Im mythischen Bewußtsein wird der »bloßen sinnlichen Materie«, aus der z. B. die Sprache sich bildet, eine eigentümliche Macht über die Dinge (Schreien, Rufen, Singen)

Ebd., 320. E. Cassirer, »Vortrag Symbolproblem« (1932), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 90 f. 27 Ebd., 89. 28 E. Cassirer; PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 47. 25

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zugeschrieben. 29 Auf den »untersten Stufen des mythischen Denkens«, so Cassirer, ist das Weltbild, in dem ein eigener, eigentümlicher Kausalbegriff vorherrscht, »noch ganz dem unmittelbaren Sinneseindruck hingegeben und vom elementarsten sinnlichen Triebleben beherrscht«, auch wenn es bereits eine »Art Gliederung«, d. h. Ansätze von Symbolisierungsleistungen aufweist.30 Die qualitative Grundtrennung des Mythos ist die von Alltäglichem, Gewöhnlichem, Profanem u n d Unalltäglichem, Ungewöhnlichem, Heiligem, wobei diese Scheidung keine räumliche, sondern eine der Blickrichtung ist.31 Sie macht eine zentrale Form des Mythischen aus: der »bloße tierische Schrecken [ist hier] zum Staunen« geworden.32 In den Tabu-Vorschriften, die Cassirer als das »entscheidende System sozialer Einschränkung und Verpflichtung« gelten, das – als »Eckpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung« – dem Menschen in totemistischen Gemeinschaften das Leben und Überleben ermöglicht hat,33 legen sich »der Wille und der unmittelbar sinnliche Trieb« eine erste Beschränkung auf, worin der Keim der »primären mythischen Formgebung« zu erblicken sei.34 Die Studien zum Mythos als ursprünglicher symbolischer Form der Kultur, bzw. zu den Stufen ihrer Entfaltung, bieten Cassirer vielfach Gelegenheit, über das Zusammenspiel von Emotion, Gefühl, Ausdruck und geistigen, symbolisierenden Leistungen nachzudenken. Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit aber auch auf die Tatsache zu lenken, daß in dem Zusammenhang ebenfalls Körper und Leib des Menschen ins Spiel kommen. Auf die vielleicht offensichtlichste Weise geschieht dies, wenn von der mythischen Raumanschauung die Rede ist. Diese, als »eigenartige Mittelstellung zwischen dem sinnlichen Wahrnehmungsraum [d. h. dem Seh- und Tastraum – C.M.] und dem Raum der reinen Erkenntnis, dem geometrischen Raum«, begriffen, sei dennoch vor allem dem Wahrnehmungsraum mit seinen Hauptrichtungen vorn-hinten, oben-unten und rechts-links nahe verwandt.35 Jedes H i e r und D or t besitze Ebd., 49 f. Ebd., 76. 31 Ebd., 89. 32 Ebd., 93. 33 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 164 f., 169 (= ECW 23, 117 f.). 34 E. Cassirer; PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 93 f. 35 Ebd., 98 f. Der mythische Raum erweist sich im Unterschied zum »Funktionsraum der reinen Mathematik« als »Strukturraum«. Dieser ist von einem »rein statischen Verhältnis des Inneseins und Innewohnens« der Elemente im Ganzen charakterisiert. In jedem Element fi ndet sich die Struktur (Form) des Ganzen wieder. Deshalb ist das Kleinste mit dem Größen identisch. – Ebd., 104. 29

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als ein Element dieses Raumes »eine eigene ›Tönung‹«, einen »besonderen auszeichnenden Charakter«, der »als solcher unmittelbar erlebt wird«.36 Mit jeder dieser unvertauschbaren Richtungen der mythischen Raumanschauung ist ein »spezifischer mythischer Gefühlswert verknüpft«, der auf den »eigentlichen mythischen Grundakzent, die Scheidung des Profanen und des Heiligen«, zurückgeht. Diese räumlichen Scheidungen sind, so Cassirer, »schon im primären Sinnesausdruck vollzogen«, was wiederum heißt, daß sie, die primären Scheidungen, »bereits […] durch bestimmte Akte« der »mythischen […] Apperzeption« hindurchgegangen sind.37 Mit anderen Worten, in der mythischen Anschauung begrenzt sich der Mensch als Wollender und Handelnder in seiner unmittelbaren Stellung zur Wirklichkeit, indem er die Welt räumlich – und zeitlich – gemäß der mythischen Grundscheidung und den räumlichen Grundrichtungen gliedert und damit bestimmte Schranken aufrichtet, »an die sein Gefühl und sein Wille sich binden«.38 Obwohl die mythische Raumanschauung mit ihrem Grundscheidungsakzent Profan-Heilig auf einem »individuell-gefühlsmäßigen Grund« ruht,39 trete »doch selbst in ihr eine allgemeine Tendenz und eine allgemeine Funktion«, d. h. eine symbolisierende Leistung, heraus. 40 So gebe das mythische Bewußtsein im »totemistischen Anschauungskreis« der ursprünglichen Gliederung »alles Daseins in fest bestimmte Klassen und Gruppen« einen »räumlichen Ausdruck«, d. h. gliedert es nach »den großen Haupt- und Richtlinien des Raumes«, nach Norden und Süden, Westen und Osten, oberer und unterer Welt und Weltmitte. 41 Diese – mit bestimmten Gefühlswerten belegten – räumlichen Unterscheidungen bzw. Grundrichtungen durchziehen das gesamte Leben totemistischer Gemeinschaften: alle Arten und Gattungen des Seins haben irgendwo im Raume ihre H e i m a t . 42 Ebd., 99 f. Ebd., 111. 38 Ebd., 100. 39 Im Mythos ruht »alles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen […] auf einem ursprünglichen Gefühlsgrund«. Differenzierungen des mythischen Anschauungsraumes gehen »zuletzt auf Differenzierungen zurück, die sich in eben diesem Gefühlsgrund vollziehen. Die Orte und Richtungen im Raume treten auseinander, weil und insofern mit ihnen ein verschiedener Bedeutungsakzent sich verknüpft , weil und sofern sie mythisch in verschiedenem und entgegengesetztem Sinne gewertet werden.«. – Ebd., 113. 40 Ebd., 100. 41 Ebd., 101 f. 42 Ebd., 103. Welche Rolle und Bedeutung Cassirer den totemistischen Klassifi kationssystemen im Einzelnen beimisst, so z. B. in Bezug auf den Zusammenhang von Strukturprinzip des Mythos und Strukturprinzip sozialen Lebens, ist noch zu erforschen. Auf 36 37

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Bei den räumlichen Scheidungen, so Cassirer im Band Das mythische Denken (1925), geht die »mythische Weltansicht« vom engsten Umkreis des sinnlich-räumlichen Daseins aus. »In der Betrachtung der Sprache hat sich gezeigt, daß die Ausdrücke der räumlichen Orientierung, die Worte für das Vorn und Hinten, das Oben und Unten der Anschauung des eigenen Körpers entnommen zu werden pflegen: der Leib des Menschen und seine Gliedmaßen ist das Bezugssystem, auf welches mittelbar alle übrigen räumlichen Unterscheidungen übertragen werden«. 43

Der Satz endet mit dem Hinweis auf eine Stelle im Band Die Sprache (1923). Dort heißt es u. a., daß in den »Sprachen der Naturvölker« die Unterschiede des Ortes in Beziehung zur »Unterscheidung der Gliedmaßen des eigenen Leibes [stehen – C-M.], die als Ausgangspunkt aller weiteren Ortsbestimmungen dient.«44 Das Bild des eigenen Körpers als in sich geschlossener und gegliederter Organismus dient hier also dem Menschen als Modell, »nach welchem er sich das Ganze der Welt aufbaut.«45 Dieser Gedanke bzw. diese Einsicht bezüglich der Sprachform wird im Band Das mythische Denken (1925) explizit auf die Form des Mythos bezogen: »Der Mythos geht hier denselben Weg, indem auch er, wo immer er ein organisch gegliedertes Ganze erfassen und mit seinen Denkmitteln b e g r e i f e n will, dieses Ganze im Bilde des menschlichen Körpers und seiner Organisation anzuschauen pflegt. Die objektive Welt wird ihm erst durchsichtig und teilt sich ihm in bestimmte Bezirke des Daseins ab, indem er sie in dieser Weise analogisch auf die Verhältnisse des eigenen Leibes a b b i l d e t .«46 jeden Fall sind diese Klassifi kations- und Bedeutungssysteme vielfach auch Gegenstand seiner Überlegungen, so wenn er die »Tabu-Vorschriften« und das »totemistische System« als zwei das mythische Denken und Leben charakterisierende und realisierende Systeme unterscheidet, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen, die nicht auseinander hervorgehen. – E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), Frankfurt a. Main 1988, 47 (= ECW 25, 35). 43 E. Cassirer; PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 106. 44 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 158 f. 45 »In der Tat ist es eine fast durchgehend beobachtete Tatsache, daß der Ausdruck räumlicher Beziehungen aufs engste an bestimmte Stoff worte gebunden ist, unter denen wieder die Worte zur Bezeichnung der einzelnen Teile des menschlichen Körpers den ersten Platz einnehmen.« – Ebd., 159. 46 E. Cassirer; PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 106.

Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen

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Diese »räumlich-physische Entsprechung zwischen der Welt und dem Menschen« kehre im mythischen Denken in der Anwendung auf viele Daseinskreise wieder, immer wieder erscheinen die Teile der Welt als die Organe des menschlichen Leibes, und umgekehrt. Die von der mythischen Anschauung vorgenommenen Teilungen projizieren »alles Sein auf den menschlichen Körper« und bilden ihn »in ihnen« ab. 47 Selbst noch Kant habe in seinem Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? gezeigt, daß »alle Orientierung mit einem sinnlich gefühlten Unterschied […] der rechten und linken Hand beginnt« und daß diese »anthropomorphen Bestandteile« später vom Denken ausgemerzt würden. 48 Auf die Rolle des Leibes kommt Cassirer auch anläßlich der Überlegungen zum Verhältnis von Magie und Technik zu sprechen, insbesondere im Zusammenhang mit Ernst Kapps Terminus’ der ›Organ-Projektion‹. 49 Moderne Berufstätigkeiten, Maschinen, Waffen und Instrumente ließen sich, so Kapp, auf Momente der natürlichen Gliederung des menschlichen Leibes zurückführen. Der technische Mechanismus diene dann wieder der Erklärung des menschlichen Organismus, des Leibes. Cassirer wiederum stellt eine Analogie (›als ob‹!) zwischen der Organ-Projektion auf den Gebieten der Technik und der »Gesamtheit der geistigen Ausdrucksformen« der Kultur her. Letztere bezeichnet er auch, im Unterschied zu »den unmittelbaren und mittelbaren sinnlich-leiblichen Organen«, mit denen es die Philosophie der Technik zu tun habe, als ›Organe der Sinngebung‹.50 Die Analogie hinsichtlich der Organ-Projektion behauptet also eine Entsprechung zwischen der Projektion der leiblichen Organe auf die Werkzeuge mit der Projektion der Vorformen der geistig-kulturellen Tätigkeitsformen im vorkulturellen ›praktischen Leben‹ auf die späteren symbolischen Formen: »Wie er [der Mensch – C.M.] nur dadurch, daß er werkzeugbildend und werkbildend wird, das Gefüge seines Leibes und seiner Gliedmaßen verstehen lernt, so entnimmt er seinen geistigen Bildungen, der Sprache, dem Mythos und der Kunst die objektiven Maße, an denen er sich mißt und durch

»Das mythische Denken ergreift eine ganz bestimmte, konkret-räumliche Struktur, um nach ihr das Ganze der Orientierung der Welt zu vollziehen.« – Ebd., 110. 48 Ebd., 110. 49 Ebd., 253 ff.; siehe: E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, Kap. II: »Die Organprojektion«, 29–39. 50 E. Cassirer; PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 255. 47

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

die er sich als einen selbständigen Kosmos mit eigentümlichen Strukturgesetzen begreift .«51

3. Die Auszeichnung kultureller Symbolleistungen gegenüber naturhaften Vorformen Die letzte Gruppe von Ansätzen einer philosophischen Theorie des Zusammenspiels von Körper, Gefühl und Symbolisierungsleistungen stützt sich sowohl auf die späten Schriften Versuch über den Menschen (1944) und Der Mythus des Staates (1946) als auch auf nachgelassene Texte, die in ECN 4 zum Abdruck gekommen sind. Es ist bereits angeklungen, daß Cassirer analog zur These vom ›Symbolwert‹ der elementarsten Wahrnehmung52 auch bereits Emotionen, Gefühle etc. einer bestimmten symbolischen Formung ausgesetzt sieht. Wenn es z. B. im Versuch über den Menschen heißt, »heftige Gefühlsregungen« änderten die »Physiognomie«, d. h. die emotionale Tönung, des Wahrgenommenen,53 dann werden die Gefühlsregungen als Ausdrucksleistungen verstanden, d. h. als Leistungen, die einen Symbolwert besitzen.54 Andererseits strebt das mythische Bewußtsein als ein Symbolisierungen leistendes Bewußtsein nicht nur nach einer funktionalen »Einheit des Fühlens«,55 sondern in ihm äußert, artikuliert sich auch immer ein bestimmtes »Lebensgefühl«.56 Mit anderen Worten, ein bestimmtes symbolisierendes Leisten wie dasjenige innerhalb der mythischen Sinnform erweist sich wiederum als gefühlsdurchtränkt. Die Auffassungen Théodule-Armand Ribots und William James’ wiedergebend beschreibt Cassirer im Werk Der Mythus des Staates die »Gefühlszustände«, das »Gefühlsleben« des Menschen als einen »direkten und unmittelbaren Ausdruck des vegetativen Lebens«, seiner physiologischen und Körperbewegungen. Mehr noch, es existiere kein »vom Körper unabhängiges Gefühl«.57 Das Gefühlsleben bzw. seine Strebungen und Begierden fänden zumindest beim frühen Kulturmenschen motorische Manifestationen in rituellen Handlungen, d. h. in körperlichen Bewegungen, die wiederum in geistig-kulturellen Leistungen – wie in den mythischen Ebd., 257. E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 3 ff. 53 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 123 (= ECW 23, 85). 54 Ebd., 127 (= ECW 23, 87). 55 Ebd., 129 (= ECW 23, 89). 56 Ebd., 131 (= ECW 23, 91). 57 E. Cassirer, Der Mythus des Staates (engl. 1946), a. a. O., 38 f. (= ECW 25, 29). 51

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Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen

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Erzählungen – eine Interpretation erfahren.58 Andererseits kann für Cassirer der Mythos nur in Rückbindung an das soziale Verhalten, wie es sich u. a. in den Riten äußert, eine theoretische Erklärung erfahren.59 Als kulturelle Erzählung sprieße der Mythos »aus tiefen menschlichen Gefühlen«. 60 Obwohl diese Passagen nicht klar aussprechen, inwieweit Cassirer den Feststellungen Ribots und James’ zu folgen bereit ist, lassen sie sich doch so weiterdenken, daß die gefühlsmäßigen, emotionalen Quellen des Mythos letztlich mit körperlichen Zuständen in Beziehung stehen bzw. sich in motorischen Manifestationen des Körpers niederschlagen. Dies bedeutet nach Cassirers Überzeugung aber keineswegs, daß hier die Kategorie der Kausalität notwendigerweise Anwendung finden muß. Wenn er Ausdrucksphänomene und Mythos als symbolischen Ausdruck eines Gefühls deutet, indem dieser das Gefühl »nicht einfach […] fühlt«, sondern ›intuiert‹, d. h. in ein Bild transformiert und ihm – dem Gefühl – damit »eine bestimmte Gestalt« gibt, 61 oder wenn Cassirer den symbolischen Ausdruck von der Qualität des »natürlichen Ausdrucks«, wie ihn das ganze organisch-beseelte Leben des Tieres kennt, unterscheidet, dann gerät mit dem Leben auch dessen Körper- und Leibhaftigkeit ins Blickfeld. Der symbolische Ausdruck führt, das hebt Cassirer immer wieder hervor, im Endeffekt »weit weg vom […] unbewußten und instinktiven Leben« des Menschen bzw. seines Vorfahren. 62 Das eigentliche Menschsein ist seiner Überzeugung nach nämlich an die »Funktion des symbolischen Ausdrucks gebunden«, 63 der Mensch vermag die »›Welt‹ des symbolischen Ausdrucks« nicht mehr zu verlassen, nicht zu transzendieren, 64 die alte Unmittelbarkeit des Lebens ist nun unerreichbar. Das unbewußte und instinktive Leben war geprägt von Reflexhandlungen, bei denen ein sensorischer Reiz unmittelbar – d. h. reflektorisch – eine motorische Reaktion auslöst, die sich, wie in tierischen Instinkthandlungen, ohne Ideelles, ohne Bedeutungsmäßiges vollzieht. 65 Im symbolischen Ausdruck dagegen bilden Sinn und Sinnliches als Sinnträger einen unauflösbaren Zusammenhang. Ebd., 41 (= ECW 25, 30). Um den Mythos erklären zu können, müssen wir »seine Funktion im sozialen und kulturellen Leben des Menschen« aufdecken. – Ebd., 50 (= ECW 25, 37). 60 Ebd., 60 (= ECW 25, 44 f.). 61 Ebd., 60, 66 (= ECW 25, 44 f., 49). 62 Ebd., 64 (= ECW 25, 47). 63 E. Cassirer, Vortrag Symbolproblem (1932), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, 88. 64 E. Cassirer, »Der Begriff der Form als Problem der Philosophie« (1921), in: ebd., 281. 65 E. Cassirer: »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ebd., 4. 58 59

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Das Sinnhafte ist, so Cassirer wortwörtlich, »ein dem Sinnlichen gleichsam Incorporiertes«, es »verkörpert sich« am psychisch-Sinnlichen, z. B. an der empirischen Wahrnehmung. 66 Diesen Tatbestand bezeichnet Cassirer als ein nicht weiter hintergeh- und hinterfragbares Urphänomen. 67 Im Werk Versuch über den Menschen konkretisiert er noch einmal seinen Begriff des organischen Lebens unter Berufung auf Jakob von Uexküll insoweit, als er dieses hier als diverse »Funktionskreise« von ›Merknetz‹ und ›Wirknetz‹ verstanden wissen will. 68 Dieser Lebensbegriff impliziere, daß es keine »absolute Wirklichkeit der Dinge [gibt – C.M.], die für alle Lebewesen die gleiche ist«; vielmehr lege der anatomische Körperbau Verhalten und Wahrnehmungsmodus der Innen- und Außenwelt des jeweiligen Organismus fest. 69 Bemerkenswert erscheint in dem Zusammenhang die folgende, von Cassirer in dem Zusammenhang getroffene Feststellung: »Offensichtlich stellt die[…] [menschliche – C.M.] Welt keine Ausnahme von den biologischen Grundprinzipien dar, die das Leben aller anderen Organismen beherrschen«.70

Allerdings werden diese Grundprinzipien durch das dazwischen getretene ›Symbolnetz‹ modifi ziert. Die Abhängigkeit des Wahrnehmungsmodus vom jeweiligen Funktionskreis, bzw. die Entsprechung zwischen einem bestimmten Modus und einem bestimmten Funktionskreis, verdeutlicht Cassirer auch hier am Beispiel der menschlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit.71 Deshalb interessieren ihn hier weniger die Unterschiede im anatomischen Bau zwischen Tieren und Menschen, als vielmehr die Unterschiede in der Erweiterung des menschlichen Funktionskreises des Lebens durch mehr oder weniger entfaltete Symbolnetze.72

Ebd., 6. »So bestätigt sich auch hier wieder, wie eng das geistige Moment der Bedeutung an die Art der sinnlichen Ausdrucksmomente gebunden ist – wie beide, erst in ihrer Wechselbestimmung und Durchdringung, das eigentliche Leben der Sprache ausmachen. Dieses Leben ist sowenig jemals ein bloß sinnliches, wie es ein rein geistiges sein kann; es kann stets nur als Leib und Seele zugleich, als Verkörperung des Logos, erfaßt werden. – E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 124, siehe auch 105. 67 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 7 f. 68 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 48 (= ECW 23, 29). 69 Ebd., 47 f. (= ECW 23, 28). 70 Ebd., 49 (= ECW 23, 29). 71 Ebd., 72 (= ECW 23, 48). 72 Ebd., 49 (= ECW 23, 29). 66

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Über den noch nicht durch echte symbolisierende Leistungen gestalteten organischen Raum, den »Handlungsraum«, seien die jeweiligen Gattungen der Organismen maximal an ihre Umwelt angepaßt. Dabei wird das angeborene räumliche Orientierungsvermögen noch »von spezifisch körperlichen Impulsen gelenkt«.73 Doch auch der Kulturmensch bewegt sich in einem Handlungsraum, selbst wenn er diese Orientierung im Unterschied zum Tier erst erlernen muß. Im Mittelpunkt dieser Raumorientierung stehen nach Cassirer dieselben »unmittelbar praktischen Bedürfnisse und Interessen«, die wir bereits bei den an einer Pathologie des Symbolvermögens Erkrankten kennen gelernt haben, zusätzlich befrachtet mit »persönlichen oder sozialen Empfindungen, mit emotionalen Elementen«.74 Die für den Handlungsraum charakteristische Anschauung transzendiere keineswegs das ideenblinde »konkrete praktische Leben«,75 vielmehr geht der Mensch hier »vollständig in seinem praktischen Handeln auf«.76 Der D r e i k l a n g von Körper, Gefühl und Symbolisierungsleistungen scheint auch auf, wenn Cassirer über das philosophisch korrekt erfaßte Verhältnis von Leib und Seele reflektiert. Für ein Bewußtsein, so heißt es in nachgelassenen Papieren, »›giebt‹ [es] nicht […] die Welt des ›Leibes‹ und die der ›Seele‹ […] als substantiell-geschiedene ›Teile‹ oder ›Hälften‹ des Seins«.77 Seele und Leib wären vielmehr als Einheit zu denken, und dies vermag allein ein symbolisches Denken, da der Unterschied von Leib und Seele – als Gegebenheit des Bewusstseins – auf die »Funktion des symbolischen Ausdrucks, der symbolischen Repräsentation« zurückzuführen sei.78 Resümee Als resümierende Feststellung bietet sich im Anschluß an die vorgelegten Rechercheergebnisse folgende an: Aspekte des Zusammenspieles von Körper, Gefühl und Symbolisierungsleistungen werden durch Cassirer zu unterschiedlichen Gelegenheiten sehr wohl thematisiert, ohne aber dabei eine konsistente Theorie dieses Zusammenspiels, schon gar keine explizite, zu entwerfen. Eine solche Theorie wäre nach meiner Auffassung erst noch aus

Ebd., 73 (= ECW 23, 49). Ebd., 76 (= ECW 23, 51). 75 Ebd., 78 (= ECW 23, 52). 76 Ebd., 90 (= ECW 23, 61). 77 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 16. 78 Ebd., 24. 73 74

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

dem Cassirerschen Werk herauszuarbeiten; für völlig aussichtslos halte ich dies nicht, aber auch nicht für ein Unterfangen, daß nur das Offensichtliche zu ergreifen hätte.

Kunst und Sprache als symbolische Formen in nachgelassen Schriften Cassirers 1. Einleitendes Es mag auf den ersten Blick etwas verwunderlich erscheinen, auf einer Konferenz zur russischen Ästhetik und Sprachtheorie während der 20er Jahre im 20. Jahrhundert die Sprach- und Kunstphilosophie des deutschen Symbolphilosophen Ernst Cassirer zu thematisieren. Zumal die beiden, dem russischen Leser jener Zeit bekannten, ins Russische übertragenen Werke selbst wenig, oder besser gar nichts, mit Sprache und Ästhetik bzw. ihrem zu vermutenden strukturellen Zusammenhang zu tun haben.1 Dennoch ist das philosophische Werk Cassirers nicht nur einfach in Rußland aufmerksam verfolgt und rezipiert worden, sondern war selbst mehrfach Gegenstand von Vorträgen und Diskussionen in der GACHN (Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften2). So hielt Aleksej Lossev am 15. November 1926 in deren philosophischer Abteilung den Vortrag »Философия символических форм у Кассирера«.3 Zur selben Zeit setzte sich Lossev mit Cassirers Philosophie des Mythischen, d. h. dem 1925 erschienenen Band Das mythische Denken, auseinander. 4 Später, im November 1927 und im März 1928, hielt auch Boris Focht in der GACHN zwei Vorträge über die Philosophie Cassirers.5 Die überaus große Bedeutung der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Kulturformen für die in der GACHN laufenden Debatten wird umrißartig faßbar in den Forschungen Nina Dmitrievas (Moskau)6 und Es handelt sich um zwei in Deutschland recht bekannten Bücher Cassirers: E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntnis (1910), erschienen als Е. Кассирер, Познание и действительность. Понятие субстанции и понятие функции, Перевод Б. Столпнера и П. Юшкевича, Санкт-Петербургь 1912, und ders., Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1920), erschienen als Е. Кассирер, Теория относительности Эйнстейна, Перевод Е. Барловича и И. Колубовского, Петроград 1922. 2 http://dbs.rub.de/gachn/index.php?pg=17&r0=2&l=de 3 Э. Кассирер, Избранное. Опыт о человеке, (Луки культуры), Москва 1998, Kомментарий, 758. 4 А.Ф. Лосев, »Теория мифического мышления у Э. Кассирера« (1926/27), unveröffentlichtes Manuskript, veröffentlicht in: ebd., 730–760. 5 Ebd., Kомментарий, 759. Siehe dazu auch: Б.А. Фохт, »Понятие символических форм и проблема знчения в философии языка Э. Кассирера«, in: ebd., 761–764. 6 Н. Дмитриева, Русское неокантианство: Марбург в России. Историко-философские очерки, Москва 2007, 159–207, 279–314, 348–369, 383–392; Н. Дми1

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Roman Mnichs (Siedlce);7 die deutsche Cassirerforschung hat davon im Grunde noch keine oder kaum Kenntnis genommen. Der nachstehende Beitrag stellt sich eine spezielle und bescheidene Aufgabe: er bietet keine grundsätzliche Abhandlung über das Verhältnis von Sprache und Kunst in der Philosophie Ernst Cassirers, auch die beiden kulturellen Medien Kunst und Sprache sollen nicht als solche, wie sie in seiner Symbolphilosophie konzipiert sind, zur Darstellung kommen, sondern es wird allein um diejenigen ihnen bzw. ihrem Bezug aufeinander gewidmeten Bemerkungen gehen, die sich im nachgelassenen Werk Cassirers finden. Dabei stehen die Texte im Mittelpunkt des Interesses, die ich in den vergangenen Jahren für die Veröffentlichung als ECN 4 im Felix Meiner Verlag vorbereitet habe. 8 Dieser Nachlaßband enthält die beiden Ausarbeitungen »Praesentation und Repraesentation« bzw. »Praegnanz, symbolische Ideation«, die 1926/27 im Zusammenhang mit der Arbeit am Dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen9 – sowie am nachgelassenen sogenannten Vierten Teil10 – entstanden sind. Der Nachlaßband umfaßt außerdem die Vortragsmanuskripte »Der Begriff der Form als Problem der Philosophie« (1924), »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), »Vortrag: Symbolproblem« (1932) und »Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaftliche Begriffsbildung« (1936), die Ausarbeitung »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1936), die der Vorbereitung der Göteborger Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« diente,11 und schließlich

триева  / И.Н. Грифцова (под ред.), Неокантианство немецкое и русское: между теорией познания и критикой културы, Москва 2010. 7 Р. МниХ, »Рецепция Кассирера в России в свете некоторых особенностей русской философии«, in: Revue des études slaves, T. LXXIV, Fascicule 2–3, Paris 2002–2003, 561–575; Р. МниХ, »Эрнст Кассирер в России«, in: Исследования по истории русской мыcли, Ежегодник 2008–2009 [9], Под ред. М.А. Колерова и Н.С. Плотникова, Москва 2012, 81–132; R. Mnich, »Einige Bemerkungen über Ernst Cassirers Rezeption in Rußland«, in: J. Giel (Hrsg.), Ernst Cassirer zwischen Mythos und Wissenschaft , in: Lectiones & Acroases Philosophicae, VIII, 1 (2015), Wroclaw, 163– 192. 8 E. Cassirer, Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 4, Hamburg 2010. 9 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002. 10 E Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke, O. Schwemmer, in: ECN 1, Hamburg 1995. 11 E. Cassirer, »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, Hrsg. von R. Kramme † unter Mitarbeit von J. Fingerhut, in: ECN 5, Hamburg 2004, 29–200.

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die einzig bekannte Vorlesungsmitschrift aus dem Hamburger Sommersemester 1922: »Grundprobleme der Sprachphilosophie«. In den nachgelassenen Texten Cassirers, die seit 1995 Band für Band erscheinen, seit 2014 unter meiner Gesamtverantwortung, der letzte geht voraussichtlich 2018 in Druck, ein Register dann 2019, tritt uns zwar kein völlig anderer Cassirer entgegen als der, den wir aus seinen Veröffentlichungen zu Lebzeiten kennen. Aber wir erleben in ihnen einen Cassirer, der sich weit mehr als aus den letzteren ersichtlich für neue Entwicklungen in der zeitgenössischen Philosophie interessiert, sich mit ihnen auseinandersetzt und sich in ihnen zu positionieren sucht, so in den neuen Disziplinen Philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie, oder in den Strömungen der Lebensphilosophie, des logischen Positivismus und des linguistischen Strukturalismus. Außerdem treffen wir in den Nachlaßbänden auf einen Cassirer, der insbesondere in den 30er Jahren außerordentlich produktiv nach neuen Ansätzen für eine ›Tieferlegung der Fundamente‹ (Kant) seiner Philosophie sucht und dafür eine Theorie der ›Basisphänomene‹,12 eine ›Metaphysik der symbolischen Formen‹13 und eine Theorie der Ausdrucksphänomene entwirft.14 Und schließlich sind es die nachgelassenen Texte, in denen er große Anstrengungen wissenschaftsphilosophischer Art unternimmt, die Kulturwissenschaft und die Historie als eigenständige Typen von Wissenschaft grundzulegen,15 so daß sie mit der Naturwissenschaft auf gleicher Augenhöhe stehen können, ohne aber ihrer Spezifi k verlustig zu gehen. Den Ausführungen in der Sache sollen noch zwei Bemerkungen und eine Erklärung vorangeschickt werden. Zum E i n e n hat Cassirer, wie bekannt, der Sprache als symbolischer Form nicht nur die Vorlesung im Sommersemester 192216 und das Werk Die Sprache (1923), sondern auch eine ganze Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Basisphänomene‹. Eine Synthese von Goethes ›Urphänomenen‹ und Carnaps ›Basis‹ der Konstitutionssysteme«, 345–366; siehe auch vom Verfasser, »Cassirers Theorie der Basisphänomene. Ihre Bezugnahme auf Husserl und Natorp«, in: ders., Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, 2., stark erweiterte Auflage, Berlin 2016, 261– 284. 13 Siehe dazu C. Bonaldi, Cosmo simbolico e unità funzionale. Saggi su Ernst Cassirer, Prefazione di Ch. Möckel, (Mimesis / Itessiture), Milano – Udine 2018. 14 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt«, 91–104. 15 Siehe dazu im vorliegenden Band u. a. den Beitrag »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310. 16 Die Vorlesung über Grundprobleme der Sprachphilosophie hatte Cassirer 1922 mit der systematischen Aufgabe verbunden, die »Eigentümlichkeit der Sprache im Ganzen der geistigen Formen [zu] betrachten. Die Form der Sprache [müsse] als solche bestimmt und von anderen geistigen Formen geschieden werden«. – E. Cassirer, »Grundprobleme 12

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Reihe von Aufsätzen und Vorträgen gewidmet.17 Der Kunst (bzw. der ästhetischen Theorie), die ebenfalls von Anfang an als wichtige symbolische Form galt, hat er keine solche systematische Bearbeitung angedeihen lassen. Die systematischste Behandlung erfährt sie noch 1944 im Essay on Man Kapitel IX.18 Zum A n d e r e n hält sich Cassirer nicht mit der Frage auf, ›was‹ Sprache und Kunst ihrem Wesen nach sind, sondern ihn beschäftigt grundsätzlich, welche Funktion, welche sinngestaltende und objektivierende Rolle sie im ›Aufbau‹ der Welt der Kultur, zu der auch die Naturwissenschaften gehören, spielen. Dabei fragt er sowohl nach ihrer allgemeinen, gemeinsamen Funktion als symbolische Formen, als Medien, mit deren Hilfe sich der Mensch Schritt für Schritt aus der ursprünglichen Unmittelbarkeit des Lebens herausarbeitet, als auch nach ihrer spezifischen Funktion als sprachlicher bzw. ästhetischer Mediation. Dies wird an den anschließend zu referierenden Texten deutlich. Bevor wir uns diesen und den in ihnen enthaltenen Aussagen zu Sprache und Kunst zuwenden, soll noch kurz der zentrale philosophische Begriff der symbolischen ›Form‹ erläutert werden, auf den Cassirer seit seiner Hamburger Zeit (1919–1933) seine gesamte Philosophie baut, die er auch als Formender Sprachphilosophie« (1922), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 238. 17 E. Cassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« (1925), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 227–311; »Die Bedeutung des Sprachproblems für die Entstehung der neueren Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1932), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 3–11; »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung « (1927), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 287–311, »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), Text und Anm. bearbeitet von R. Becker, Hamburg 2004, 111–126; »Vom Einfluß der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung« (1936), in: ECN 4, 107–149; »Language and Art« (1942), in: ECN 7: Mythos, Sprache und Kunst, Hrsg. von J. Bohr und G. Hartung, Hamburg 2011, 141–157; Chap. VIII: »Language«, in: ECW 23: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), Text und Anm. bearbeitet von Maureen Lukay, Hamburg 2006, 119–148. 18 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), Chap. IX: »Art«, in: ECW 23, a. a. O., 149– 184. Allerdings betrachtet Cassirer bereits in der Vorlesung zur Sprachphilosophie Sprache und Kunst als zwei entscheidende Hauptgebiete der Kultur, der geistigen Gestaltung, die auf verschiedene Weise die drei »Phasen des Ausdrucks: sinnlicher, anschaulicher, begriff smäßiger Ausdruck« durchlaufen, ebenso wie die des mimischen, analogischen und symbolischen Ausdrucks. – E. Cassirer, »Grundprobleme der Sprachphilosophie« (1922), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 239, 241 ff. Siehe auch den in Anm 17 bereits erwähnten nachgelassenen Text »Language and Art« (1942), in E. Cassirer, Zu Mythos, Sprache und Kunst, in: ECN 7, a. a. O., 141–157.

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lehre, als ›Morphologie‹ der Kultur versteht.19 Zunächst haben wir unter einer Form ein bestimmtes Sinn- und Ordnungsgefüge der Kulturwelt zu verstehen, innerhalb dessen bestimmte einzelne kulturelle Phänomene (z. B. sprachliche) ihren verstehbaren, entschlüsselbaren Sinn erfahren. Gleichzeitig repräsentieren die einzelnen Sinn-Phänomene, die immer auch eine sinnliche Dimension aufweisen, dieses jeweilige geistige und kulturelle Ordnungsgefüge (System, Struktur) und damit die Bedeutung, die sich in ihm verkörpert. Dies nennt Cassirer auch symbolische ›Prägnanz‹.20 Durch den Tatbestand, daß alle kulturellen Phänomene eine repräsentative Funktion erfüllen, erweist sich nicht zuletzt ihr symbolischer, vermittelnder Charakter.21 Jedem Gefüge, jeder Form eignet zudem ein eigentümliches Strukturoder Formgesetz, ein besonderes inneres Prinzip, das die ›Richtung‹ – d. h. den jeweiligen besonderen Sinn – ihrer Wirkung, ihrer Repräsentation und Symbolisierung im und durch das konkrete Werk der Kultur vorgibt. Gleichzeitig erfüllen alle geistigen und Kulturformen eine einheitliche, universale Funktion des sinnhaften Kulturweltaufbaus, des Aufbaus des Bewußtseins von einer Kulturwelt. In diesen Gefügen, die auf ›Funktionen‹ oder ›Energien‹ (Humboldt) des menschlichen Geistes zurückgehen, schafft und gestaltet der Mensch und wird dabei von ihnen jeweils motiviert, die Welt so oder so – als Sprachwelt, als ästhetische oder technische Welt – zu ›sehen‹ und an ihr weiter zu ›bilden‹. Die Formen der Kultur müssen vom Menschen, damit sie ihm während seiner bildenden Tätigkeit zur Verfügungen stehen können, ›entdeckt‹ oder ›erfunden‹ werden, müssen sich in seinen Werken und Lebensverhältnissen ›verkörpern‹, ›objektivieren‹, um danach als ›bleibende‹ nicht mehr aus der Welt zu verschwinden. Als – symbolische – Medien bezeichnet Cassirer die Formen der Kultur, d. h. die entsprechenden Sinngebilde, die kulturelles Tun und kulturelle Werke motivieren und mit Sinn versehen, auch deshalb, weil sie als eine Art Zwischenwelt sich zwischen das organisch-vitale Dasein (Lebensunmittelbarkeit) und die Ideenwelt (geistige Funktionen) setzen und so die eigentlich menschliche Welt der Kultur stiften.22 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–398. 20 E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1927), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 59. 21 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ebd., 38; siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564. 22 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW13, a. a. O., 319. 19

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Die Formen faßt Cassirer zudem als ›lebendige‹ Formen auf, was u. a. das paradoxe Verhältnis von Bestand, Beharrendem, ›Starrheit‹, ›Ewigkeit‹ (Identität) der Form und ihrer ›Beweglichkeit‹, Veränderlichkeit, Wandlungsfähigkeit meint. Die »gewissen, relativ-gleichbleibenden Formen« gebären sich in immerzu neuer Gestalt, durchlaufen also eine Metamorphose. Cassirer gebraucht einen dynamischen Formbegriff, wonach die Formen »in keinem Moment sich selbst gleichen«, sondern ›flüssig‹ werden, »ohne in dieser Flüssigkeit zu ›verschwimmen‹«.23 ›Lebendige‹ Form steht aber auch – im Anschluß an Goethe und Hegel – für den Tatbestand einer ideellen Genesis, die die strukturimmanenten Stufen Ausdruck / Wahrnehmung – Darstellung / Anschauung – Bedeutung / Denken durchläuft, was ebenfalls gleichzeitig einen Formwandel (Metamorphose) bedeutet. Sowohl die Stufen der Formen als auch die vielfältigen Formen unterschiedlichster Sinngefüge bilden eine Totalität von Formen, die der Philosoph kontemplativ-analytisch und kontemplativ-historisch (d. h. ideell-genetisch) zu erfassen hat. 2. Sprache, Kunst und Wahrnehmung Ein immer wiederkehrendes Thema in den uns interessierenden nachgelassenen Texten bildet das Nachdenken Cassirers über den Anteil, den die Sprache an der Sinnbestimmtheit der sinnlichen Wahrnehmung hat. Den sensualistischen und positivistischen Theorien setzt er – so in den nachgelassenen Texten von 1926/27 – seine Theorie vom ›Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung‹ entgegen,24 wobei er sich u. a. von Husserl bestätigt sieht. Nach dieser Auffassung erfüllt sich die Wahrnehmung »mehr und mehr mit bedeutungsmäßigem Gehalt« bzw. mit »Bedeutungsnuancen«, d. h. »sie besagt etwas«. In diesem Zusammenhang ist sogar von der »Sprache und […] ›Grammatik‹«, vom »Logos der Wahrnehmungswelt selbst« die Rede. In solch einem weiten oder metaphorischen Sinne spricht Cassirer gern davon, daß auch die einzelnen Wissenschaften jeweils ihre eigentümliche ›Sprache‹ hätten und lehnt deshalb die Rede von einer ›Universalsprache‹ der Wissenschaft (Leibniz, Carnap) kategorisch ab.25 Mit dem Terminus ›bedeutungsmäßiger Gehalt‹ der Wahrnehmung will er zum Ausdruck bringen,

E. Cassirer, Beilage »›Form‹«, in: ECN 3: Geschichte. Mythos, Hrsg. von K. Ch. Köhnke, H. Kopp-Oberstebrink und R. Kramme, Hamburg 2002, 223 f. 24 E. Cassirer »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 3. 25 E. Cassirer, »Ausdrucksphaenomen und ›Wiener Kreis‹« (1936), in: ebd., 154, 157, 186, 205. 23

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daß deren ›Zeichenwert‹ gegenüber dem bloßen ›Inhaltswert‹ immer mehr anwächst und diesen zuletzt hinter sich läßt. Damit entstehe für uns »erst die bewußte Wahrnehmungswelt«.26 In ihr lasse sich bereits das »Urphänomen der Repräsentation« aufweisen, d. h. schon beim Wahrnehmen lesen und erschauen wir einen »Bedeutungs- oder Sinnzusammenhang«.27 An dieser Form der »(Sinn-)Bestimmtheit der Wahrnehmung« habe »auch die Sprache […] entscheidenden Anteil – wir können sie eigentlich bei der ›Deutung‹ der Wahrnehmungen (ihrer Fixierung, Unterscheidung als ›diese‹ und ›andere‹) gar nicht wegdenken«.28 Wie in seinem Londoner Vortrag über den Zusammenhang von Sprache, Denken und Wahrnehmung (1927)29 kommt Cassirer auch in seinem Lunder Vortrag über den Einfluß der Sprache auf die naturwissenschaftliche Begriffsbildung (1936) auf seine These von den »engen Beziehungen […], die zwischen der Struktur der Sprachwelt und der der Wahrnehmungswelt« bestehen, zurück.30 Dabei betont er wiederum die »ständige Wechselbeziehung zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur«.31 Durch die »engen funktionellen Beziehungen«, die »zwischen Sprache und Wahrnehmungswelt« bestehen, erfahre letztere »Strukturveränderungen […] durch die Sprache«, insbesondere wenn das sprachliche »Symbolbewußtsein« entsteht und wirksam wird.32 Diese Abhängigkeit bestehe aber auch umgekehrt: wie »die Form der Sprache […] sich als eine wichtige und wesentliche Bedingung für den Aufbau des Wahrnehmungsbewußtseins« erweist, so ist es »die Art der Wahrnehmung […], die ihrerseits wieder auf den Sprachakt zurückwirkt und die den Gebrauch, die Ausbildung und Entwicklung der Sprache bestimmt.« 33

Als Beleg für diese engen funktionellen Beziehungen verweist Cassirer auf Erkenntnisse der Sprachpathologie, wonach

E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927) in: ebd., 3. Ebd., 5. 28 Ebd., 6. 29 E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ebd., 287 f. 30 E. Cassirer, »Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung« (1936), in: ebd., 110. 31 Ebd., 112. 32 Ebd., 122. 33 Ebd., 112. 26 27

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»pathologische Veränderungen oder der vollständige Verlust der Sprache niemals allein stehen, sondern […] die gesamte Vorstellungs- und Wahrnehmungswelt entscheidend beeinflussen und umgestalten«.34

Bereits in seinem Londoner Vortrag (1927) hatte er erklärt, daß die Sprachpathologie den klarsten »Einblick in die innere Abhängigkeit der Wahrnehmungswelt von der Form und Struktur der Sprachwelt« biete. Es scheint, so hieß es hier, »daß der innere Konnex beider Welten erst dort in voller Klarheit und mit besonderem Nachdruck zu Tage tritt, wo, durch besondere krankhafte Bedingungen, das Band zwischen beiden sich zu lockern beginnt. Erst dann wird ganz deutlich, wie viel die Welt der Perzeption selbst dem Medium der Sprache verdankt – wie sehr jede Störung oder Beeinträchtigung der geistigen Vermittlung, die die Sprache darstellt und herstellt, die ›unmittelbare‹ Gestalt unserer Wirklichkeit, der theoretischen sowohl wie der praktischen, angreift.«35

Der ›Symbolwert‹ der Wahrnehmung kommt nach Cassirer auch darin zum Ausdruck, daß sie vom Urphänomen der Prägnanz gekennzeichnet, bestimmt ist.36 Bezieht sich doch die Wahrnehmung, die durch ihr »Hinauswachsen, Hinausweisen […] über sich selbst« einen ›Ausdruckswert‹ besitzt, auf eine bestimmte Sinntotalität, die sich in ihr darstellt und die von ihr repräsentiert wird.37 Auf diese Weise gibt sich die Wahrnehmung, d. h. jeder Wahrnehmungsvollzug, als ›symbolisch geformt‹, ohne selbst schon eine symbolische Form zu sein bzw. sein zu können. Eben dieses symbolische Geformtsein der Wahrnehmung, und damit ihren ›Symbolwert‹, bezeichnet Cassirer als Urphänomen der Sinnprägnanz.38 Prägnanz steht hier für die »Einheit der Gestalt, des synthetischen Prinzips, die alles Einzelne durchdringt«, so daß das Einzelne nicht nur ›für‹ das Ganze steht, sondern bedeutungsmäßig geradezu das Ganze ›ist‹.39 Die jeweilige Prägnanz ermög34 35

Ebd., 112. Ernst Cassirer: »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ebd.,

291 f. Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 37 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1926/27), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 7. 38 E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27) in: ebd., 51 f. 39 Ebd., 78. 36

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licht und erzwingt eine je spezifische ›Hinsicht‹, unter der die konkrete Formung steht, ein je spezifisches Zusammenschauen aller Momente zu einem Ganzen. Diese symbolische Prägnanz der Wahrnehmung werde nun »am deutlichsten an den ästhetischen Phaenomena, ist aber von ihnen auf das Ganze des Sinnes [d. h. auf jegliche Sinnordnung – C.M.] zu übertragen. / Wie jeder [wahrgenommene – C.M.] Ton einer Melodie im Ganzen eben dieser Melodie ›steht‹, nur in diesem Ganzen ›ist‹, wie er nicht nur als einzelner Klang von dieser oder jener Intensität und Qualität ›da ist‹, physisch existiert, sondern eine ›Atmosphäre um sich her hat‹ (Goethe) – wie er eingebettet, eingetaucht ist in das Meer der Melodie, ihre Dynamik, ihre Rhythmik, ihr unendliches Wogen – so gilt dies von allen ›sinngebenden‹ Momenten, selbst innerhalb des rein theoretischen Sinnes«. 40

Der Prägnanz auf ästhetischem Gebiet als einer eigenen »Art der Verkettung, Verklammerung«, als einer »eigentümlichen, individuellen Stimmungs-Prägnanz«, geht Cassirer im Text »Prägnanz, symbolische Ideation« (1926/27) noch einmal gesondert nach, um sie von der Prägnanz des Mythischen und der theoretischen Naturerkenntnis abzuheben. »Wir haben den Eindruck«, so heißt es hier, »daß wir aus einem echten Kunstwerk kein Moment ›herausnehmen‹ können, ohne das Ganze zu zerstören – / Das Einzelne ist hier der Träger jener Einheit der ›Stimmung‹, die durch das Ganze geht – / jede Änderung irgend eines Einzelzugs eines Gemäldes, oder einer Symphonie, vermag diese Einheit der ›Stimmung‹, der spezifisch ästhetischen ›Sicht‹, aus der gerade dieses Kunstwerk geboren wurde, zu vernichten«. 41

Im Kunstwerk bzw. in der ästhetischen Sicht habe sich die »Welt der Töne, Farben, Gestalten […] loslöst von dieser ganzen ›wirklichen‹ und ›wirkenden‹ Welt, um nur noch in ihrer eigenen Ebene zu schwingen, in ihrer eigentümlichen ›Stimmung‹ erfaßt zu werden«. 42

Denn im echten Kunstwerk herrscht eben

40 41 42

E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1926/27), in: ebd., 8. E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27) in: ebd., 79. Ebd., 79.

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»jene ›Determination‹ alles Besonderen, Einzelnen durch die Einheit des ästhetischen ›Sinnes‹ des Ganzen – / hier soll schlechthin nichts ›zufällig‹ sein, sondern irgendwie mit dem Ganzen ›verwoben‹ sein – / insbesondere auch die ›Erlebnismomente‹, die in das Kunstwerk eingehen – […] das Verwobensein – / oder in einem lyrischen, einem musikalischen Kunstwerk – / alles ist wie ›eingetaucht‹ in die Einheit des Sinnes, der spezifischen, ganzindividuellen Stimmung, die über dem Ganzen liegt«.43

In diesem prägnanten Stimmungsganzen läßt sich eben nichts herauslösen, »ohne diese Einheit der Stimmung zu gefährden, unter Umständen ganz zu zerstören – […] / und andrerseits genügt jedes noch so flüchtige Element, jeder Worthauch, jeder Klang, jedes flüchtige Licht, um das Ganze dieser Stimmung wieder in uns hervorzuzaubern – / eben darin besteht ja die eigentümliche Magie des Kunstwerks«. 44

Auch das Urphänomen ästhetischer Prägnanz bzw. Relevanz, wie es Cassirer gelegentlich umschreibt, werde besonders faßlich, wenn es zu ihrem Verlust durch pathologische Störungen (Amusie) kommt, wenn »Töne gehört, aber keine Melodie mehr ›gehört‹, d. h. zur intuitiven Einheit zusammengeschlossen werden kann.«45 Dann ist die Prägnanz als die »symbolisch-intuitive Zusammenfassung« aufgehoben. Bei all diesen Überlegungen Cassirers gilt die Kunst, das Ästhetische vor allem als eine Form, als ein Sinngefüge unter anderen, und nicht spezifisch als Kunstform. In diesem Sinne wird in den ausgewerteten nachgelassenen Texten häufig Bezug auf die Kunst genommen. In dem Manuskript »Vortrag: Symbolproblem« (1932) beigelegten Notizen sieht Cassirer demgegenüber den eigentümlichen »Charakter der künstlerischen Form«, die «Eigentümlichkeit des Ästhetischen«, das »Eigentümliche der ästhetischen ›Reflexion‹« darin, daß sich die Kunst in der »reinen Gegenwart« bewege, z. B. indem sie »Vergangenes in ein Bild […] verwandelt«. 46 Goethe zitierend heißt es hier: »Man weicht der Welt nicht sicherer aus ›als durch die Kunst und man / verknüpft sich mit ihr nicht sicherer als durch die Kunst‹ / das ›reine Beruhen im Gegenstand‹”.47 Der Vollständigkeit der Cassirerschen Argumentation halber soll nicht unerwähnt bleiben, daß er – auch – in den ausgewerteten nachgelassenen 43 44 45 46 47

Ebd., 82. Ebd., 82 f. Ebd., 71. E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932) in: ebd., 105. Ebd., 105.

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Texten vehement dagegen polemisiert, die Prägnanz in der Wahrnehmung bzw. die Leistungen symbolischer Formung wie Intentionalität, Bedeutungsgebung, Auffassungsweise auf bloße Akte des Verstandes, des logischen Denkens zu reduzieren, wie es der Philosoph Hans Cornelius tue, 48 und so das Eigentümliche der sprachlichen oder ästhetischen Formung bzw. Prägnanz als völlig eigenständiger »noologischer Formen«, oder Formen von Prägnanz, zu übersehen und damit zu verlieren. 49 Nach Cassirers Überzeugung trägt jegliche Form den Charakter von Prägnanz, nicht nur die symbolischen Formen der Kultur; so kennt er neben der »künstlerischen« bzw. »ästhetischen« Prägnanz auch jeweils eine räumliche, zeitliche und geometrische Prägnanz,50 wie schließlich das »Erlebnis der Wahrnehmungsprägnanz«.51 Cassirer fügt seiner Analyse des Symbolcharakters der Wahrnehmung noch einen wichtigen philosophischen Gedanken hinzu, wenn er erklärt, daß die durch ihn vollzogene strukturelle »Einordnung der Wahrnehmung« in den ›Bedeutungskreis‹ des Ästhetischen, wie übrigens auch »in die Sphäre des […] mythischen, theoretischen oder religiösen ›Sinnes‹«, bereits das »Produkt einer Abstraktion« sei, da »ursprünglich all diese Kreise in ihr selbst noch ganz undifferenziert ineinanderliegen. Jede Wahrnehmung hat [ursprünglich – C.M.] zugleich theoretischen, religiösen, mythischen, ästhetischen ›Charakter‹«.52

Um uns den »eigentlichen Sinn« der Wahrnehmung, das »Urphänomen der symbolischen Bedeutung deutlich zu machen, müssen wir all diese nachträglichen Scheidungen wieder aufheben.«53 Dabei gilt Cassirer die ästhetische Wahrnehmung als »Offenbarung eines Lebenszusammenhangs und eines Lebensganzen«.54 Der Künstler handhabe Farben und Töne als Manifestation eines inneren Lebens, »er lebt in ihnen«, er lebt »in der ›Atmosphäre‹ von Lebendigkeit, die der Wahrnehmung eignet«. Wegen des ursprünglich bedeutungs- bzw. sinnmäßig ›integralen‹, ›vollen‹, noch ungeschiedenen Charakters der Wahrnehmung sind Siehe H. Cornelius, Transcendentale Systematik. Untersuchungen zur Begründung der Erkenntnistheorie, München 1916. 49 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1926/27), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 14; ders., »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27) in: ebd., 51 f. 50 E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27), in ebd., 70 f. 51 Ebd., 79. 52 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1926/27), in: ebd., 8. 53 Ebd., 8. 54 Ebd., 9. 48

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wir in jedem noch nicht der abstraktiven Scheidung unterzogenen Wahrnehmungsvollzug »zugleich Künstler«, d. h. agieren wir unmittelbar als Künstler, wie eben auch als mythische oder sprachliche Weltschöpfer. Darauf anspielend spricht Cassirer von der »Unzerstörlichkeit des Ästhetischen«, ebenso, wie er von der »Unzerstörlichkeit des Mythischen« spricht.55 Beides, das Mythische und das Ästhetische, seien »nicht nur irgendwelche willkürlichen Haltungen, von denen aus wir die Welt nachträglich ›deuten‹, – sondern es sind b l e i b e n d e [Hervorhebung – C.M.] Charaktere jeder Voll-Wahrnehmung, Integralwahrnehmung selbst«.56

Damit wird durch Cassirer, was bislang in der Cassirerforschung wenig Beachtung findet, das Ästhetische, neben dem Mythisch-Magischen-Religiösen, nicht nur zur ursprünglichen, sondern auch zur u n a u s r o t t b a r e n Sinn-Richtung menschlicher Welt- und Selbstwahrnehmung überhaupt erklärt.57 Der Verweis auf die – etwa zur selben Zeit niedergeschriebene – Rede von der ›großen geistigen Trias‹, die durch Mythos, Sprache und Kunst gebildet wird,58 führt uns nun auf ein weiteres und letztes Thema: Sprache und Kunst als symbolische Formen.

3. Sprache und Kunst als symbolische Formen In jeder sinnlichen Wahrnehmungsleistung waltet nach Cassirer also bereits die Urfunktion des Hinweisens und ›Bedeutens‹, weshalb auch sie einen Symbol-, Ausdrucks- und Funktionswert besitzt. Auf diese Urfunktion stütze sich letztlich »alle [eigentliche – C.M.] symbolische Gestaltung (in Sprache, Kunst, Mythos, Theorie)«.59 Cassirer unterscheidet folglich zwischen der »untersten Stufe der Gestaltbildung (Symbolbildung)«, die vom »wahrnehmenden Bewußtsein« gebildet wird, und den »höheren geistigen Formen des Symbols (Sprache, Mythos [etc.])«. 60 Unter den immer wieder Ebd., 9. Ebd., 9. 57 Ebd., 10. 58 E. Cassirer, Zweites Kapitel »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 87 f. 59 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1926/27), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 11. 60 Ebd., 45. 55

56

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bemühten »Formen der Sinngebung« taucht die ästhetische Form nicht nur mehrfach auf, sondern sie erfährt auch – gemeinsam mit der Sprache – eine besondere Auszeichnung, was die 1928 im nachgelassenen Ms. für den 4. Band der Philosophie der symbolischen Formen niedergelegte Rede von der ›großen geistigen Trias‹ Mythos, Kunst und Sprache ebenfalls anspricht. Damit haben wir auch schon den Eindruck angedeutet, daß in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ im Grunde einige Formen privilegiert werden: der My t h o s als erste, ursprüngliche Welt- und Kulturform und als Quellgebiet aller anderen, und dann in Bezug zum Mythos einmal K u n s t und S p r a c h e , ein andermal die Te c h n i k (Werkzeug). Auch wenn der Zusammenhang der beiden grundsätzlichen Sinn- und Formenübergänge nicht immer klar entwickelt wird, verfolgt Cassirer doch in beiden Argumentationsrichtungen das Sich-Herausarbeiten des Menschen aus mythisch-magischen, unmittelbar-praktischen oder gar aus rein organischvitalen Lebensbezügen. Deshalb hat er hier, in Anlehnung gewissermaßen an Georg Simmels »große Achsendrehung des Lebens«, die eine ›Wendung zur Idee‹ bedeutet, 61 überall die sogenannte »ideelle Sinnwendung« im Blick, 62 die den Menschen erst zum Menschen der Kultur macht. So sieht er in dem scheinbar der bloßen Nutzbarkeit verhafteten »›technische Wirken‹ […] das Grundmittel, kraft dessen sich der Mensch in der Technik mit dem Sein der Natur verbindet und kraft dessen er sich an dasselbe zu binden scheint«, was wiederum den »eigentlichen Anfang zur Selbstbefreiung des Geistes« ausmacht – »denn im Werkzeug ist an die Stelle des unmittelbaren Ergreifens der Objekte ein mittelbarer Bezug auf sie getreten.«63 Uns interessiert hier aber allein die erwähnte ›Trias‹, die suggeriert, daß in Kunst und Sprache die ersten beiden eigentlichen geistigen Formen als solche zu sehen sind, die zudem durch ein enges Band umschlungen werden. So bleibe die »bildnerische Gestaltung« auch nach ihrer Befreiung aus dem Wort- und Bildzauber der magischen Weltsicht, nachdem sie sich »in ihrer völligen Unabhängigkeit und Autarkie erkannt hat«, weiterhin »mit der Welt der Sprache noch wie durch geheime und zarte Fäden verbunden.«64 Mit der Sprachwelt sei sie

G. Simmel, »Die Wendung zur Idee«, in: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, 28–98, hier: 38. 62 E. Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 151. 63 E. Cassirer, Zweites Kapitel »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen a. a. O., 39 f. 64 Ebd., 78. 61

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»nach wie vor durch den Hinblick auf ein übergreifendes geistiges Ziel verknüpft. In der Sprache wie in der bildenden Kunst findet erst die Erhebung des Menschen von der Stufe der sinnlichen ›Wahrnehmung‹ zur Stufe des eigentlichen [ideellen – C.M.] ›Sehens‹ statt. Sie sind die beiden, in ihrem Gebrauch zusammengehörigen und zusammenwirkenden Organe für die Gewinnung eines anschaulichen Weltbildes«. 65

Das ›anschauliche‹ empirische Weltbild basiert, im Unterschied zum lediglich ›wahrnehmungsmäßigen‹ Weltbild und seiner Ausdrucksfunktion, was sehr wohl, wie wir wissen, Symbol- und Ausdruckswerte einschließt, bereits auf der geistigen Repräsentations- bzw. Darstellungsfunktion. Im Züricher Vortrag über das Symbolproblem (1932), in dem Cassirer den Symbolbegriff als einen so weiten Begriff nimmt, daß er »keinem einzelnen Gebiet des Geistigen angehört, – sondern daß er vielmehr zu einer Grundfunktion des Geistigen wird: einer Funktion, die überall wirksam ist, wo es überhaupt so etwas wie ein geistiges ›Verstehen‹ und wie den Aufbau einer geistigen ›Welt‹ gibt«, 66

zeichnet er ebenfalls die beiden symbolischen Formen Sprache und Kunst aus, hier aber aus philosophisch-anthopologischem Blickwinkel. »Der Mensch wird zum Menschen durch das Symbol, durch die Sprache, durch die Kunst, durch die Religion«. Er scheine aber auch »an die Funktion des symbolischen Ausdrucks gebunden zu sein: und er scheint sofort den sicheren Boden unter den Füssen zu verlieren, wenn er versucht, sich von ihm loszulösen und den Flug ins Absolute, ins Bildlose zu wagen.«67

Als entscheidende geistige Welten, in denen sich der Mensch als ›Schöpfer‹ bewährt, gelten erneut die Welten »der Sprache, der Kunst, des Mythos«. Ganz in diesem Sinne demonstriert Cassirer im Weiteren die Eigentümlichkeit des Schöpfens und Gestaltens von Kultur an Hand der Sprache und der Kunst als »zwei Grundrichtungen der symbolischen Formung«, als zwei Grundgebieten der geistigen Kultur. 68 Ebd., 78. E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932) in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 85. 67 Ebd., 88. 68 Ebd., 92. 65

66

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Ein in dem Zusammenhang formuliertes Fazit, das wir schon kennen, lautet: Ohne Sprache keine empirische Anschauung von der Welt, keine Gegenstandswelt, in der sich das Alltagsleben abspielt. Zum Beleg dieser seiner These, die ganz offensichtlich eine Auszeichnung der Sprache als Kulturform impliziert, greift Cassirer erneut auf die moderne Sprachpathologie zurück. Wir lesen ein weiteres Mal, daß die sprachliche Vermittlung, die »Verbundenheit und die Verschmolzenheit mit der Sprache« selbst in die »Schicht der Wahrnehmung und Anschauung, ja bis in die Tiefe des Gefühls« hineinreiche. 69 Den »wesentlichen und notwendigen Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Funktion des gegenständ lichen Vorstellens« sieht Cassirer nicht zuletzt darin, daß ›gegenständliches‹ Vorstellen »nicht der Anfang [ist], von dem der Prozeß der Sprachbildung ausgeht, sondern das Ziel, zu dem dieser Prozeß hinführt«.70 Die Sprache bzw. die Sprachform erweist sich demnach selbst als ein »Mittel der Gegenstandsbildung, ja sie ist im gewissen Sinne d a s Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen ›Gegenstandswelt‹«.71 Mit anderen Worten, die Sprache ist, wie Cassirer an Hand vielfältiger Erkenntnisse zur Kindersprache und aus der Sprachpathologie illustriert, an der Ermöglichung der »Form der Darstellung« und damit der »primären Form des Wissens« wesentlich beteiligt.72 Es seien die pathologischen Sprachstörungen, die, so seine Einsicht auf Grund der Arbeiten der beiden Ärzte Kurt Goldstein und Adhémar Gelb,73 indirekt »die innere Verwandtschaft [belegen], die zwischen einer bestimmten Form und Grundrichtung des sprachlichen Verhaltens und gewissen Formen der gegenständlichen Auffassung besteht: die Abwandlung des einen Moments schließt die des anderen in sich«.74

Anders gesagt, »Störungen der Sprache« greifen auf Gebiete über, »in denen das Wort als solches nicht beteiligt ist«, z. B. auf andere mittelbare und

Ebd., 94. Ebd., 94 f. 71 Ebd., 95. 72 Ebd., 96. 73 E. Cassirer an K. Goldstein, 5. Januar 1925, in: Ausgewählter wissenschaft licher Briefwechsel, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitarbeit von M. Lauschke, C. Rosenkranz und M. Simon-Gadhof, in: ECB/ECN 18, Hamburg 2008, 69–72. 74 E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932) in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 98 f. 69 70

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symbolische Operationen.75 Das Beteiligtsein der Sprache an der synthetischen Leistung der Bildung einer anschaulichen Gegenstandswelt kommt nach Cassirer auch darin zum Ausdruck, daß dabei »die Einheit des Namens […] zum Kristallisationspunkt für die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen [dient]: die an sich heterogenen Phänomene werden dadurch homogen und gleichartig, daß sie sich auf einen gemeinsamen Mittelpunkt beziehen. Und kraft dieser Beziehung erst werden sie nun auch als Erscheinungen ein und desselben ›Gegenstandes‹ und als seine ›Abschattungen‹ gedeutet. Wo die Kraft der ›Nennfunktion‹, auf Grund pathologischer Störungen, erlahmt – da scheint alsbald auch das Band der gegenständlichen Einheit sich wieder zu lockern. An Stelle dieser Einheit tritt die Vereinzelung; an Stelle der kategorialen Ordnung und Geschlossenheit tritt die bunte, aber beziehungslose Fülle.«76

Eine der Sprachform analoge Rolle bei der Weltbildung lasse sich auch für die »künstlerische Gestaltung«, d. h. die ästhetische Form aufweisen, fungiere doch z. B. die Dichtung – zumindest in Goethes Überlegungen – wie bzw. als eine symbolische Form, erweist sie sich als ein symbolisches Medium, dessen »symbolische ›Brechung‹« des Lichtstrahls die »einzige Weise [ist], in der dem Menschen das Sein der Dinge und sein eigenes Sein überhaupt sichtbar gemacht werden kann.«77 Damit legt Cassirer einen eigenen Erkenntnisanspruch in die ästhetische Form. Zum Beleg verweist er auf den zentralen ästhetischen Begriff der Mimesis (Aristoteles). Deren wahre Bedeutung, deren echt produktive Funktion – neben der reproduktiven – werde passender durch »den Terminus der ›Darstellung‹ als durch den der Nachahmung« bezeichnet.78 Dies fasse sich im Begriff des ›künstlerischen Stils‹ als höchster »Form der künstlerischen Auffassung und der künstlerischen Darstellung« (Goethe), bei der Objektivität und Subjektivität sich in einer »wahren geistigen Synthese« begegnen und sich »einander das reine Gleichgewicht halten« sollen, zusammen.79 Nach Cassirers Überzeugung führt die künstlerische Gestaltung deshalb nicht nur nicht »von der Wahrheit und vom Wesen« weg, sondern

75 76 77 78 79

E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932) in: ebd., 68. Ebd., 98. Ebd., 102. Ebd., 99 f. E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932) in: ebd., 100 f.

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»schließt uns diese Wahrheit erst auf und läßt sie für unseren inneren Blick verstehen. In diesem Zuge offenbart sich uns […] die tiefe Verwandtschaft , die zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Sprache besteht. Jedes große Kunstwerk begnügt sich in der Tat nicht, ein einfach-vorhandenes, ein zuvor-bekanntes Sein auszusprechen, sondern es gibt der Welt als Ganzem ein neues Gesicht.«80

Cassirer ist sich zudem bewußt, daß er mit seinen Einsichten über die enge strukturelle Abhängigkeit zwischen den symbolischen Formen der Sprache und der Kunst philosophisches Neuland betritt, sei doch der »innere systematische Zusammenhang, der sich von hier aus zwischen dem Grundproblem der Ästhetik und den Problemen der Sprachphilosophie ergibt, […] kaum jemals mit wirklicher Schärfe erfaßt worden.«81

Eine Ausnahme bilde der bekannte Ästhetiker Konrad Fiedler, 82 der sich bemüht habe, Kants ›Copernikanische Drehung‹, d. h. die für die theoretische Formwelt geltende Überlegung, daß der »Gegenstand der Erkenntnis erst konstruiert wird«, auf die »Welt der künstlerischen Gestaltung« zu übertragen, auf die künstlerische Formenwelt anzuwenden. »Und auf diesem Wege begegnete er der Sprache, die sich gleichsam als ein M i t t l e r e s [Hervorhebung – C.M.] zwischen theoretischer und ästhetischer Form darstellt.«83 Allein Fiedler erfaßt und benennt das »geistige Band […], das die Sprache mit der bildenden Kunst verknüpft und das zwischen ihnen eine Art ›Union‹ stiftet.« Allerdings werde bei ihm diese ›Union‹ nur unvollkommen erkannt, weil er lediglich von der Ausdrucksfunktion ausgeht und nicht bereits die höhere Darstellungsfunktion einbezieht. Diese Union »findet ihre eigentliche Begründung, ihr Legitimation [aber – C.M.] erst dadurch, daß man die Sprache wie die Kunst als Grundmittel der Objektivation, der Erhebung des Bewußtseins zur Stufe der gegenständlichen Anschauung versteht. Diese Erhebung ist zuletzt nur dadurch möglich, daß das Ebd., 101 f. E. Cassirer, Zweites Kapitel »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen a. a. O., 78. 82 Siehe K. Fiedler, Schriften über Kunst, Hrsg. von H. Konnerth, 2 Bde, München 1913/14. 83 E. Cassirer, Zweites Kapitel »Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen a. a. O., 79. 80 81

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

›diskursive‹ sprachliche Denken und die ›intuitive‹ Tätigkeit des künstlerischen Schauens und Gestaltens in einander greifen und daß sie vereint am Kleid der Wirklichkeit weben.«84

Es scheint also so, als ob Cassirer – wie schon der Form des Mythos und der ästhetischen Form – letztlich auch der Sprachform eine besondere, herausgehobene Stellung bzw. Funktion in der Totalität der symbolischen Formen zuweist. So hatte er bereits in seiner Vorlesung über Sprachphilosophie im Sommersemester 1922 darauf hingewiesen, daß der Mensch in der »logischen, mythischen, künstlerischen oder sprachlichen Sphäre« je an einer bzw. in einer »Form der Welt« gestalte, wobei ausschließlich die sprachliche Form »an allen […] teilnehmen« kann. 85 Das Medium der Sprache vermag »auf der Grenze zwischen [der] Welt des Mythos und des Logos« zu agieren, besitzt aber auch die Fähigkeit, »zwischen mythischer und theoretischer Weltansicht, auch zwischen ästhetischer und theoretischer« Weltsicht zu vermitteln. 86 In seinem 1927 in London gehaltenen Vortrag über das Verhältnis von Sprache, Denken und Wahrnehmung kommt Cassirer abschließend auf die Alternative zu sprechen, wonach entweder »sich eine gemeinsame Grundfunktion des Geistes auszeichnen [läßt], die wir als die Symbolfunktion schlechthin bezeichnen können und von der die Sprache selbst nur eine besondere spezifische Ausprägung ist«, oder daß »vielmehr alles symbolische Verhalten auf die Sprache als Urgrund, als ›Bedingung seiner Möglichkeit‹ zurückgeht«. 87 Mit anderen Worten, er stellt sich die Frage, »wie weit die Sprache hierbei das Erste oder das Zweite, wie weit sie Grund oder Folge« ist. Obwohl die Frage an dieser Stelle von Cassirer nicht beantwortet wird, dürfte eine Antwort wohl mehr die erste Variante, weniger die zweite favorisieren. Allerdings scheint auch die zweite mögliche Antwort nicht völlig außerhalb seines Denkansatzes zu liegen. Das Ästhetische seinerseits hatte, wie oben ausgeführt, seine Auszeichnung als besondere symbolische Form, ähnlich wie das Mythische, in den hier ausgewerteten nachgelassenen Texten darin gefunden, daß es als unzerstörbarer Charakter einer jeglichen Wahrnehmung, also der Weltkonstitution, zu gelten habe.

Ebd., 81. E. Cassirer, »Grundprobleme der Sprachphilosophie« (1922), in: ECN 4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 262. 86 Ebd., 265. 87 E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ebd., 310. 84 85

Symbol und Symbolisches im Denken Ernst Cassirers Einleitendende Bemerkungen Der aus der ›Marburger Schule‹ Hermann Cohens und Paul Natorps hervorgegangene Philosoph Ernst Cassirer (1874–1945) wird in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts durch seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ berühmt, in der vielfach von Symbolen und vom Symbolischen die Rede ist, z. B. durch die Termini s y m b o l i s c h e Form, s y m b o l i s c h e Prägnanz, S y m b o l charakter der Wahrnehmung, S y m b o l funktion, S y m b o l problem, etc.1 Dennoch trifft der Versuch, Cassirers Symbolbegriff zu definieren und auszulegen, auf unerwartete Schwierigkeiten: es läßt sich zwar eine Theorie des Sy m b o l i s c h e n erkennen und umreißen; der seiner Philosophie den Namen gebende Begriff s y m b o l i s c h bleibt dabei jedoch ebenso vage wie der der Form. Dies haben auch schon andere Cassirerforscher bemerkt und zum Ausdruck gebracht, und dies scheint von Cassirer so beabsichtigt zu sein. Zudem fällt es schwer, Sy m b o l - und Z e i c h e n begriff bei Cassirer sachlich und terminologisch klar zu unterscheiden. Die Frage nach dem Wesen, dem Neuen oder der eigentlichen Intention des Begriffs des Symbolischen in der Philosophie Cassirers geht folglich ebenso in die heute breit aufgestellte internationale Cassirerforschung ein wie auch in die Symbolforschung als solche, die kaum ohne Verweis auf Cassirers Symbolbegriff auskommt.2 Für den vorliegenden Beitrag habe ich weniCassirer versteht seine Philosophie der ›symbolischen Formen‹ als eine Philosophie, die die ›Selbstbefreiung‹ des Menschen aus seiner ursprünglichen Einbindung in die Unmittelbarkeit des – biologischen – Lebens zu freier aktiver Selbstbestimmung bzw. Selbsttätigkeit innerhalb von Sinnordnungen der Kultur, d. h. innerhalb eines vermittelten und gleichzeitig vermittelndem kulturellen Lebens thematisiert. Kultur als Vermittlung erklärt Cassirer dabei ganz wesentlich aus ihrem symbolischen Charakter. Es ist die dem Menschen eigene Fähigkeit zu Leistungen der Symbolisierung (animal symbolicum), die es ihm ermöglicht, ihn aus der ihn bindenden Unmittelbarkeit des biologischen Lebens zu ›befreien‹. Die kulturellen Objektivationen menschlichen Geistes, die die Kultur ausmachen, tragen symbolischen Charakter und fungieren als kulturelle Symbole. Sie gehen aus der wirksamen Subjektivität des Menschen hervor, die nach je einem besonderen Gesetz gestaltet bzw. Gestaltungen hervorbringt. 2 Als repräsentativ für die erste Forschungsrichtung seien hier lediglich genannt H. J. Sandkühler/D. Pätzold (Hrsg.), Kultur und Symbol. Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart und Weimar 2003; W.-S. Lee, Funktionsbegriff und Symbolbegriff. Ernst Cassirers erkenntniskritische Theorie des Begriffs, Inaugural – Dissertation, RuhrUniversität Bochum. Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft , Bochum 1

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ger diese Forschungsliteratur, sondern die Texte Cassirers selbst ausgewertet, speziell die, die den Terminus Sy m b o l oder s y m b o l i s c h im Titel führen und in den Jahren 1921 bis 1938 entstanden sind. Argumentationslinien und Erläuterungen des Beitrages waren weitgehend entworfen, als ich die Habilitationsschrift (2012) meines Baseler Kollegen Arno Schubbach in die Hand bekam,3 die durch ihre innovative Analyse und Darstellung der Genese des Symbolischen bei Cassirer an Hand des bislang unbekannten nachgelassenen Ms. »Philosophie des Symbolischen (allgemeine Disposition)« (1917) eine Reihe Antworten auf offene Fragen anbietet, die Arbeit wurde inzwischen – 2016 – in den Cassirer-Forschungen veröffentlicht.4 Im Folgenden werde ich mich mit Einverständnis des Autors auf einige Thesen dieser Studie und auf das ihr beigegebene 32-seitige unveröffentlichte Ms. Cassirers stützen. Dabei handelt es sich um eine im Juni 1917 niedergeschriebene Disposition für das neue große Projekt einer ›Philosophie des Symbolischen‹, das das erste Großprojekt ›Geschichte des Erkenntnisproblems‹ bzw. ›Theorie wissenschaft licher Begriffsbildung‹ ersetzen und auf erweiterter Grundlage weiterführen sollte. Das neue Projekt nimmt in den folgenden vier-fünf Jahren die Gestalt einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ an. An diese Disposition schließt sich noch eine rund 240-seitige, zwischen 1917 und 1919 niedergeschriebene Blättersammlung an, die Schubbach in seiner Studie zur Genese des Symbolischen zwar auswertet, nicht aber in den Anhang seiner Habilitationsschrift bzw. deren Veröffentlichung aufnimmt. Um den speziellen Sinn der Termini S y m b o l und S y m b o l i s c h e s im Denken Cassirers zu erfassen, erweist es sich als förderlich, erst einmal danach zu fragen, mit welcher Intention Cassirer diese Termini wann in seine Philosophie einführt, welche Begrifflichkeiten durch sie ersetzt bzw. erweitert werden und von welchen Begriffsbedeutungen des Symbolischen er sich in dem Zusammenhang abgrenzt. Diesen Fragen ist der erste Teil meines Beitrages gewidmet.

2009; für die zweite Forschungsrichtung: M. Tomberg, Studien zur Bedeutung des Symbolbegriffs: Platon, Aristoteles, Kant Schelling, Cassirer, Mead, Ricœur, Würzburg 2001; M. C. Bartolomei, La Dimensione simbolica. Percorsi e Saggi, (Biblioteca di Filosofia e Teologia. Saggi 15), Napoli 2009, St. Biancu/A. Grillo, Il Symbolo. Una sfida per la fi losofia e per la teologia, Prefazione di Ghislain Lafort, Milano/Torino 2013. 3 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, Habilitationsschrift , Philosophisch-Historische Fakultät der Universität Basel, November 2012. 4 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, (CF, Bd. 16), Hamburg 2016.

Symbol und Symbolisches

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1. Symboltheorie statt Begriffstheorie Die bekannten frühen Schriften Cassirers, die beiden ersten Bände vom Erkenntnisproblem (1906/07) und das sie systematisierende Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), bieten ein neues, innovatives erkenntnistheoretisches Konzept der logisch-wissenschaft lichen Begriffsfunktion bzw. -bildung.5 In Anlehnung an mathematische Verfahren werden hier z. B. Funktions- und Reihenprinzip herausgestellt, aber auch Kopernikanische Wende, Repräsentations- und Bildungsprinzip anstelle des Abbildungsgedankens in Anwendung gebracht. Relationales Denken ersetzt hier konsequent Substanz- und Dingdenken, die Erkenntnisbegriffe werden als Relationsbegriffe ausgelegt. Von all diesen Bestimmungen logisch-naturwissenschaftlicher Begriffsbildung wird sich Cassirer auch später nie distanzieren, im Gegenteil, in Kontinuität werden sie in seiner Theorie des Symbolischen erneut in Anspruch genommen werden. 6 Die »Verschiebung«, um einen Terminus Schubbachs zu verwenden,7 die in der Disposition von 1917 in Bezug auf die ›Begriffsschrift‹ von 1910 sichtbar wird, kommt vielmehr darin zum Ausdruck, daß zum Einen das Thema der Begriffsbildung auf neue Gegenstandsbereiche ausgedehnt und damit notwendigerweise diversifiziert bzw. spezifiziert wird. Mit anderen Worten: Cassirer beginnt zu erkennen, daß ein grundlegendes Verfahren der Begriffsbildung sich über die logisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis hinaus auf weiteren ›Wege[n] […] der Wirklichkeitserkenntnis‹ abwandeln, spezifizieren muß, ohne seine funktionale Einheit aufzugeben. Diese Spezifizierung betrifft auch die logische Begriffsbildung innerhalb der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis selbst. In der Disposition von 1917 sucht Cassirer Gemeinsamkeiten u n d Spezifi k der Begriffsbildung in Psychologie (Vorstellungsbewußtsein), Logik und Ästhetik zu entwerfen. Zum Anderen unternimmt er es in dieser Disposition zum ersten Mal, die insbesondere im Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff herausgearbeiteten Charakterisierungen der Begriffsbildung unter den Terminus des Sy m b o l i s c h e n zu stellen und mit ihm auf die erweiterten Verstehensund Aufbaumodi von Welt bzw. Wirklichkeit anzuwenden. Wichtig ist Siehe dazu u. a. vom Verfasser, »Ernst Cassirer. Vom ›Erkenntnisproblem‹ über das ›Formproblem‹ zum ›Strukturproblem‹«, in: F. O. Engler/M. Iven (Hrsg.), Große Denker, Leipzig 2013, 75 ff. 6 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001; VII; ders., PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, VII. 7 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 65. 5

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in dem Zusammenhang festzuhalten, daß sich damit der Blick von Natur, Mathematik und Naturwissenschaft auf Kultur und Kulturwissenschaften und deren Einheit in ihrer Diversität richtet und gerichtet bleibt. Schubbach bringt diesen Aspekt wie folgt zum Ausdruck: »›Das‹ Symbolische ist in der Disposition [von 1917 – C.M.] eng verknüpft mit der Frage nach dem Verhältnis der allgemeinsten Bedingungen der Kultur zu den konkreten Bedingungen von Sprache, Mythos, Erkenntnis oder Kunst.«8

Eine Erklärung, warum ihm für die Ausweitung seiner Philosophie der Terminus Sy m b o l i s c h e s besser geeignet erscheint als die bisherige Terminologie der logischen Begriffsbildung, gibt Cassirer in der Disposition zwar nicht, indirekt wird aber bedeutet, daß sie ihm nunmehr zu eng und zu einseitig gefaßt erscheint. In der Disposition treten uns zudem eine Reihe von Begriffen, Fragestellungen und Konzeptansätzen entgegen, auf die wir später in den drei Teilen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die dem sprachlichen, dem mythischen und dem wissenschaft lich-logischen Denken (bzw. Begriffsbilden) gewidmet sind, ebenso stoßen, wie in weiteren veröffentlichten wie nachgelassenen Texten. So finden wir unter dem ersten Schwerpunkt »Die Psychologie des Symbolischen« die These vor, wonach »das Verhältnis von Seele und Leib« als ein »symbolisches Verhältnis« verstanden werden müsse, und dieses wiederum als eine »doppelt-bezügliche Einheit«.9 Genau diese These aus dem Jahre 1917 wird zehn-zwölf Jahre später in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) genauer ausgeführt werden: »Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt.«10

Vom »symbolischen Verhältnis« im vorstellenden Bewußtsein erfahren wir zunächst also, daß es als »doppelt-bezügliche [d. h. korrelative – C.M.] Einheit« zu denken ist, wobei ›Verhältnis‹ bzw. ›Einheit‹ sich als Repräsentationsleistung erweisen. D. h., Psychisches charakterisiert sich Ebd., 19. E. Cassirer, »›Philosophie des Symbolischen‹ (allgemeine Disposition)« (1917), in: ebd., 367–433, hier: 373. 10 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 113. 8 9

Symbol und Symbolisches

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als Präsentatives, als sich selbst bedeutendes Da-sein, das gleichzeitig über sich »hinausgeht; ein anderes (zweites) und schließlich eine ganze Reihe anderer ›bedeutet‹ und ›meint‹«.11 Das »Nicht-Jetzt« stellt sich folglich im »Jetzt« dar, mehr noch, »ohne diese […] Repraesentation [ist auch] keine Praesentation möglich«. Außerdem stellt bereits im psychischen Bewußtsein »das ›Element‹ die Totalität der Reihe dar[…]«.12 Mit anderen Worten, im »symbolischen Verhältnis«, wie es sich im psychologischen, vorstellenden Bewußtsein aufweisen läßt, ist »die Reihen-Funktion […] das wahrhaft ›Reale‹«, was es verbiete, »die gesonderten Elemente« v o r »ihrer Relation [zu] denken«.13 Das psychologische Vorstellen erweist sich zudem nicht nur als repräsentativ, das Vergangene vorstellend, sondern auch als »anticipativ«, das Zukünftige in produktiver Phantasie vorstellend. Auf diese Weise ist die Gegenwart des symbolischen psychologischen Bewußtseins »nur als Ineinander dieser Beziehungen auf das Vergangene und auf das Künftige« zu denken.14 Im ersten Schwerpunkt der Disposition kommt Cassirer auch bereits innovativ auf die Ausdrucksfunktion als Symbolfunktion zu sprechen: wenn »jede Ausdrucksfunktion […] schon ein Innerlich-Äusserliches [i s t] – nicht nur ein solches [›b e d e u t e t‹ – C.M.]«, dann haben wir hier einen »›Übergang‹ vom ›Inneren‹ [d. h. Sinn – C.M.] zum ›Äusseren‹ [d. h. Sinnlichem – C.M.]« vor uns, was als »Symbolfunktion« zu verstehen ist.15 Selbst die Deutung des symbolischen Verhältnisses als eines von Zeichen und Bedeutung findet sich schon in der Disposition aus dem Jahr 1917, so auf Blatt 30 der Blättersammlung: »Beide[,] das ›Zeichen‹ und seine ›Bedeutung‹[,] verhalten sich wie Leib und Seele, die untrennbar aufeinander bezogen [sind].«16 Die eben angeführte Rede vom ›Übergang vom Inneren zum Äußeren‹, vom ›Verhältnis von Zeichen und Bedeutung‹ analog dem ›Verhältnis von Seele und Leib‹ greift bereits auf die bekannte, eingängige, aber unbefriedigende weil viele Aspekte nicht benennende Definition Cassirers des Symbolischen aus, die er mal für die ›symbolische Form‹,17 mal für die E. Cassirer, »›Philosophie des Symbolischen‹ (allgemeine Disposition)« (1917), in: A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 375. 12 Ebd., 377. 13 Ebd., 379 und 381. 14 Ebd., 383. 15 Ebd., 385. 16 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 64 Anm. 84. 17 »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen 11

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›symbolische Prägnanz‹18 und ein andermal für den ›Symbolbegriff‹19 gibt: als Symbolisches gilt ihm die unauflösliche, ursprüngliche, sich gegenseitig konstituierende und erklärende Einheit von Sinnlichem und Sinn, wobei allein die Definition der symbolischen Form explizit auf den Zusammenhang des Symbolischen mit dem Zeichenmäßigen hinweist. Da sich viele der angeführten Charakterisierungen des Symbolischen als neue Akzente an dem bereits im Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) Ausgeführtem erweisen, vermag ich dem Schluß Schubbachs zuzustimmen, daß bei Cassirer trotz der beabsichtigten Überwindung der »engen Grenzen« der bisherigen Erkenntniskritik »›das Symbolische‹ gewisse formale Aspekte des logisch-funktionalen Begriffs aus den erkenntniskritischen Schriften in sich aufnehmen wird.«20 Der Tatbestand, daß bei Cassirer der Terminus des Symbolischen in einem engen Zusammenhang mit seiner erkenntniskritischen Terminologie der wissenschaft lichen Begriffsbildung steht, findet in seinen Schriften vielfältige Belege. Dies wird z. B. 1921 im Vortrag »Die Begriffsform im mythischen Denken« deutlich, wo Cassirer erstmals öffentlich die symbolischen Formen des Geistes als eigenständige und eigentümliche Weisen der Begriffsbildung (bzw. Klassifi kation oder Klassenbildung) deutet und behandelt, die sich jeweils gemäß »Gesetz[en] von eigener Art und Prägung« vollziehen.21 Diese Deutung und Behandlung durchzieht auch den 1. Teil der Philosophie der symbolischen Formen, den Band Die Sprache (1923). Hier unterscheidet geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« – E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 79. 18 »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. […] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll den Ausdruck der ›Prägnanz‹ bezeichnen. […] Die ›Teilhabe‹ an diesem Gefüge gibt der Erscheinung erst ihre objektive Wirklichkeit und ihr objektive Bestimmtheit.« – E, Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 231, 233. 19 »Wir […] haben dem Symbolbegriff von Anfang an eine […] weitere Bedeutung gegeben. Wir versuchten mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt; in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.« – Ebd., 105. 20 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 69. 21 E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1921), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften, a. a. O., 12, 24.

Symbol und Symbolisches

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Cassirer ebenfalls die Begriffsbildung der symbolischen Form Sprache von der Weise der Begriffsbildung im mythischen Denken, aber auch von der der Logik bzw. der theoretischen Erkenntnis.22 Und selbst 1938 im Vortrag »Zur Logik des Symbolbegriffs«, in welchem sich Cassirer mit einer Kritik an seinem Symbolbegriff durch Konrad Marc-Wogau auseinandersetzt,23 betont er noch einmal, daß er »im Aufbau der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ [besondere Anwendungen – C.M.] von der [allgemeinen – C.M.] Begriffslehre«, d. h. von »universellen logischen Grundproblemen«, gemacht habe.24 Überhaupt stehe seine Begriffslehre, die es mit Relationsbegriffen zu tun hat, »›sowohl genetisch als auch systematisch im Zentrum der Philosophie der symbolischen Formen‹«, wolle doch letztere »streng genommen nichts anderes als eine Erweiterung und Vertiefung des Grundgedankens [s]einer Begriffslehre sein«.25 Während uns Cassirer eine explizite Erklärung schuldig bleibt, warum er die Terminologie der ›Begriffsbildung‹ durch die des ›Symbolischen‹ ersetzt, bietet Schubbach eine bedenkenswerte Erklärung dafür an, wenn er den »eigentümlichen Vorzug« des »Begriffs des Symbolischen« darin sieht, »unbestimmt genug zu sein, um jenseits der Erkenntnis andere Formen der Erfahrung einzuschließen und die Erkenntnis als eine seiner Spezifi kationen unter sich […] begreifen [zu können].«26

Trotz aller Momente der Kontinuität stellt die Einführung des Symbolischen im Jahre 1917 daher ebenso eine entscheidende Diskontinuität dar, da sie die Philosophie Cassirers zuallererst auf »Erfahrungen diesseits der Erkenntnis« lenkt. Mit dieser Erklärung würde Cassirer selbst wohl konform gehen, fordert er vom Symbolbegriff doch genau diese Weite, in der er gleichzeitig das Problem seiner philosophischen Durchdringung erblickt, wie im Weiteren noch anklingen wird.

E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., Kap. IV: »Die Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. – Die Form der sprachlichen Begriffs- und Klassenbildung«, § 1, 249 ff. 23 K. Marc-Wogau, »Der Symbolbegriff in der Philosophie Ernst Cassirers«, in: Theoria 2 (1936), 279–332. 24 E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 112. 25 Ebd., 132. 26 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 70. 22

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Der Vorzug dieser Unbestimmtheit des ›operativen‹ Begriffs des Symbolischen bestehe in der Fähigkeit, »die verschiedenen kulturellen Felder jenseits der Erkenntnis auf ihre allgemeinen und gemeinsamen Bedingungen zu beziehen und doch zugleich ihre jeweilige und irreduzible Spezifi k zu wahren«; eine Eignung, die dem logischen Begriff abgehe, da er klar bestimmt ist und beim Einbegreifen verschiedener Phänomene deren Spezifi k lediglich »auf gemeinsame Strukturen« zurückzuführen erlaubt. 27 Der Begriff des Symbolischen kann und muß folglich als »Infragestellung des erkenntniskritischen Primates des wissenschaftlichen Begriffs« und als Revision der bisherigen grundlegenden systematischen Konzeptionen verstanden werden. Diese Infragestellung bzw. Revision wird spätestens seit der Einbeziehung des umfangreichen ästhetischen Materials in der geistesgeschichtlichen Studie Freiheit und Form (1916) »unvermeidlich«.28 Für den Tatbestand, daß »der Begriff [dennoch – C.M.] das Vorbild für das Symbolische ab[gab] und […] sich in der Konsequenz als eine Form der Symbolisierung unter anderen wieder[findet]«, 29 bietet auch der zweite Schwerpunkt der Disposition, »Logik des Symbolischen«, eine Reihe von Belegen. Hier wird »auf der Grundlage des Symbolischen im Allgemeinen« der logische Begriff erstmals als »konkrete Spezifi kation des Symbolischen charakterisiert«.30 Durch diese Spezifi kation des logischen Begriffs geht Cassirer, so Schubbachs Resümee in der Habilitationsschrift, »über [s]eine allgemeine Theorie des Begriffs [von 1910] hinaus«, weshalb »unter dem Titel des Symbolischen [auch] ein neuer Ausgangspunkt der Theorie des Begriffs gefunden [ist]«.31 Die zu spezifizierende ›Logik des Symbolischen‹ wird in der Disposition von 1917 sofort von der ›symbolischen Logik‹ als einer mathematischen Logik abgegrenzt. Cassirer legt Wert auf die Klarstellung, »womit wir es [in einer ›Philosophie des Symbolischen‹ – C.M.] n i c h t zu tun haben«: der gehe es nämlich nicht um das Symbolische i n der Logik, sondern »darum, das ›symbolische‹ Moment als Konstituens d e s Logischen selbst, also als Moment d e r [theoretischen – C.M.] Begriffsfunktion als solcher einzusehen!«32 Diese Philosophie thematisiert folglich nicht einfach »das Symbolische, sein[en] Gebrauch und seine Fruchtbarkeit i n der 27 28 29 30 31

Ebd., 74. Ebd., 74. Ebd., 75. Ebd., 76. A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2012), Habilitationsschrift , a. a. O.,

68. E. Cassirer, »›Philosophie des Symbolischen‹ (allgemeine Disposition)« (1917), in: A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 387, 389. 32

Symbol und Symbolisches

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Logik«, sondern sieht dieses vielmehr »als fundamental f ü r Problem u[nd] Aufgabe der Logik selbst« an.33 Mit Blick auf die zuvor behandelte »Psychologie des Symbolischen« hatte Cassirer sein originelles Herangehen so erklärt, daß wir es nicht mit der »Rolle des Symbolischen i m Seelenleben« zu tun hätten, sondern es »als Bedingung des ›Seelischen‹, als ein Definitionsmoment von ihm«, verstehen müßten.34 Schubbach schließt daraus, daß es sich »bei der ›Logik des Symbolischen‹ um eine Theorie des Begriffs [handelt], die ihn ausgehend vom [allgemeinen – C.M.] Symbolischen konzipiert.«35 Cassirer findet das allgemein-spezifisch Symbolische der Logik darin, daß die »die ›Homogenität‹ der Begriffe […] durch die symbolische Darstellung aller Begriffsverhältnisse in reinen Raumverhältnissen« erreicht wird.36 Diese Art Abgrenzung und Neubestimmung nimmt Cassirer 1921 im Vortrag »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« wieder auf, wenn er bestimmte »Begriff [e] des Symbolischen« als der neuen Aufgabenstellung nicht entsprechend abweist: dieser gemäß sei das Symbolische, »d. h. de[r] Ausdruck eines ›Geistigen‹ durch sinnliche ›Zeichen‹ und ›Bilder‹, in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen«. Deshalb ist nicht danach zu fragen, »was das Symbol in irgendeiner b e s o n d e r e n Sphäre, was es in der Kunst, im Mythos, in der Sprache bedeutet und leistet, […] sondern vielmehr wie weit die Sprache als Ganzes, der Mythos als Ganzes, die Kunst als Ganzes den a l l g e m e i n e n Charakter symbolischer Gestaltung in sich tragen.«37

Cassirer nimmt also eine allgemeine Symbolfunktion des Geistes in den Blick, die in den einzelnen symbolischen Funktionen bzw. Formen aufscheint. Der geschichtlich »ursprünglich in der religiösen Sphäre« wurzelnde Symbolbegriff erfülle diese weite Bedeutung ebensowenig wie der später in die Kunst »verpflanzte«, auch wenn er dabei Anreicherungen erfahren habe.38 Obwohl für Cassirer bereits im unvermittelten reinen Ausdrucksphänomen eine »symbolische Relation« aufscheint, bei der »Seelisches auf Ebd., 389. Ebd., 389. 35 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 76. 36 E. Cassirer, »›Philosophie des Symbolischen‹ (allgemeine Disposition)« (1917), in: ebd., 399. 37 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 78. 38 Ebd., 78 f. 33

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Leibliches, Leibliches auf Seelisches bezogen erscheint«, trete »die [symbolische – C.M.] Eigenart dieser Relation« erst deutlich hervor, »wenn man die Ausdrucksfunktion […] als Glied innerhalb eines übergreifenden geistigen Ganzen betrachtet«,39 wenn wir sie in Beziehung setzen zur vermittelnden »symbolischen Funktion der ›Darstellung‹ und […] der ›Bedeutung‹«. 40 Im 1929 veröffentlichten 3. Teil weist er die Behauptung strikt ab, das »schlichte Ausdrucksphänomen« lasse sich »aus etwas ihm selbst Transzendenten begreifen«. 41 Die Zurückweisung des Transzendenten als Erklärung für das Ausdrucksphänomen gilt der Sache nach auch als Zurückweisung einer bestimmten Auffassung des Symbols. Trotz mancher Gemeinsamkeiten ist dies wohl auch auf Paul Tillichs in späteren Jahren entwickelte Theorie religiöser Symbole zu beziehen, die sich auf eine »allgemeine Defi nition von Symbolen« stützt. Tillich, der mit Cassirer das Schicksal des Emigranten in den USA teilt, nimmt dessen Philosophie des Symbolischen mit Interesse zur Kenntnis und schätzt sie, wie aus der 1954 niedergeschriebenen Aussage hervorgeht, nach der »das große Ringen um den Symbol- und Mythosbegriff […], das sich seit einem Jahrzehnt in beiden Kontinenten entwickelt«, nicht zuletzt »durch den Einfluß von Ernst Cassirer, dazu geführt hat, daß die Alleinherrschaft des Wissenschaftsmythos in der amerikanischen Philosophie gebrochen ist«. 42 Nach seiner Auffassung ist »nur die Symbolsprache […] imstande, das Unbedingte zum Ausdruck zu bringen«, weshalb »das, was den Menschen unbedingt angeht, […] Symbole [verlangt – C.M.]«. 43 Symbole haben mit ›Zeichen‹ gemeinsam, so Tillich, daß sie »über sich selbst hinaus auf etwas anderes [weisen]«, wobei aber »die Zeichen an der Realität dessen, worauf sie hinweisen, nicht partizipieren, während die Symbole es tun«, weshalb man letztere nicht wie Zeichen nach Belieben auswechseln kann. 44 Die jeweiligen Symbole eines Bereiches der Kultur (Kunst) eröffneten »Dimensionen der Wirklichkeit […], die sonst verschlossen sind« bzw. die anderen Bereichen wie der Wissenschaft verschlossen bleiben. Dabei hat Tillich vor allem Inhalte bzw. »Dimensionen in unserem Innern« (Seele) im E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 116 f. 40 Ebd., 113. 41 Ebd. 104. 42 P. Tillich, »Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes« (1954), in: ders.: Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, in: GW, Bd. IV, Stuttgart 1961, 134. 43 P. Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, (Weltperspektiven Bd. 8), West-Berlin 1961, 53. 44 Ebd., 53 f. 39

Symbol und Symbolisches

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Auge, »die wir nur mit Hilfe von Symbolen eröffnen können«, weil sie, die Inhalte, »nicht unmittelbar und direkt ausgedrückt werden« können. 45 Da das auf alle »unbedingten«, d. h. transzendenten Inhalte zutreffe, sei auch »die Sprache des [religiösen – C.M.] Glaubens […] die Sprache des Symbols«. 46

2. Das Symbolische in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ In einem zweiten Teil des Beitrages sollen einige Bestimmungen des Symbols bzw. des Symbolischen noch einmal ausgehend von den ab 1921 verfaßten Schriften resümiert werden, was die enorme Bedeutung der Disposition von 1917 erneut unterstreichen wird. Diese kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, daß bereits in ihr der Symbolbegriff mit dem Goetheschen Lebensbegriff verbunden wird. 47 Nach Cassirers Überzeugung finden wir »das Leben […] allein im Symbolischen und [es] zeigt sich im vielfältigen Wandel der Symbolisierungen«. 48 Folglich ist für ihn das Symbolische wesentlich k o n k r e t (spezifisch) und l e b e n d i g (metamorphosisch) bestimmt. 49 Auch der entscheidende methodologische Ansatz, von den vielfältigen empirischen Phänomenen der Symbolisierung auszugehen, sie in ihrer Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen und sie dennoch in ihrer Einheit zu denken, ohne dabei zu versuchen, »die ›konkrete Fülle des Verschiedenen selbst‹ aus einem Prinzip abzuleiten«, d. h. ohne zu versuchen, das Besondere begrifflich-logisch aus dem Allgemeinen hervorgehen zu lassen, findet sich bereits in der »allgemeinen Disposition« von 1917.50 Dies impliziert, daß sich Cassirer künftig intensiv an die Kulturwissenschaften wenden wird, die »in ihrer disziplinären Differenzierung Zugänge zur ›konkreten Fülle des Verschiedenen selbst‹ gewähren«.51 Im Folgenden soll Cassirers Symbolbegriff nach drei Seiten hin verdeutlicht werden:

Ebd., 55 f. Ebd., 57. 47 Zu Goethes Begriff des Lebens bzw. Lebendigen siehe u. a. vom Verfasser, Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung. Beiträge aus Lebensphilosophie, Phänomenologie und symbolischem Idealismus zu einer Goetheschen Fragestellung, Berlin 2003, 25 ff. 48 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen (2016), in: CF, Bd. 16, a. a. O., 116. 49 Ebd., 120. 50 Ebd., 121. 51 Ebd., 137. 45

46

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

a.) Z e i c h e n u n d Sy m b o l . Ein charakteristischer Aspekt der Cassirerschen Philosophie des Symbolischen ist, wie erwähnt, darin zu sehen, daß sie Symbole als Zeichen, Symbolisierung als Entfaltung eines Zeichenverhältnisses innerhalb eines speziellen Zeichensystems deutet. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, daß Cassirer, ähnlich wie Ferdinand de Saussure, Ansätze einer Zeichentheorie mit Blick auf die Sprache entwikkelt. Dabei spricht Cassirer, z. B. in der »Einleitung und Problemstellung« zum Band Die Sprache (1923), sowohl von Symbol als auch von Zeichen, ohne den inneren Zusammenhang beider Begriffe bzw. Termini aufzuklären.52 Auch der Zeichencharakter steht, wie in der Definition der symbolischen Form zum Ausdruck kommt,53 für die unauflösliche, ursprüngliche, sich gegenseitig konstituierende und erklärende Einheit von Sinnlichem und Sinn, womit er mit der Charakterisierung des Symbolischen zusammenzufallen scheint. Im Vortrag »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927) erläutert Cassirer diesen Zusammenhang so, daß das Symbol als ein Zeichen zu verstehen ist, das sich auf »ein zu Bezeichnendes, auf eine Bedeutung« bezieht, »die es erfassen und zum Ausdruck bringen will«, worin eben seine charakteristische Zeichenfunk-

So, wenn es etwa heißt, daß »alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik [fi ndet], auf die es sich stützt.« (E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 16) Dies schafft nicht zuletzt gewisse Probleme der Übersetzung, wie das folgende Zitat aus der italienischen Ausgabe des Bandes Sprache/Il linguaggio belegt: »Perché il simbolo non è un rivestimento meramente accidentale del pensiero, ma il suo organo necessario ed essenziale. […] L’atto della determinazione concettuale di un contenuto procede di pari passo con l’atto del suo fissarsi in un qualche simbolo caratteristico.” (E. Cassirer, La fi losofia delle forme simboliche, Vol. 1: Il linguaggio, tr. it. di E. Arnaud, Firenze 1961 [nuova edizione di G. Raio, Milano 2004], p. 20 [zitiert nach: M.C. Bartolomei, La Dimensione simbolica. Percorsi e Saggi, a. a. O., 110 f. Anm. 13 und 16]; die deutsche Fassung lautet demgegenüber doppeldeutig: »Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. […] Der Akt der begriffl ichen Bestimmung eines Inhaltes geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand.« (E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache [1923], in: ECW 11, a. a. O., 16). Die Autorin bemerkt zu dieser Problematik: »È da rivelare qui l’uso da parte di Cassirer del termine ›Zeichen‹ che di per sé si traduce con ›segno‹. Ma la traduzione con ›simbolo‹ è più che corretta, giacché qui Cassirer non intende affatto opporre ›segno‹ a ›simbolo‹, bensì riferirsi a quest’ultimo nel senso più generale e ampio possibile, in coerenza sia col suo peculiare concetto di forma simbolica sia con la sua scelta riguardante la precisione dei termini. [Anm. 17: La scarsa o mancante distinzione nei testi cassireriani sia tra l’uso del termine Sinn (senso) e quello di Bedeutung (significato) sia tra di termine Zeichen (segno) e quello di Symbol (simbolo) è stata oggetto di forti critiche.]” – M.C. Bartolomei, La Dimensione simbolica. Percorsi e Saggi, a. a. O., 111. 53 Siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 17. 52

Symbol und Symbolisches

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tion bestehe.54 Daraus läßt sich schlußfolgern, daß das Symbolische grundsätzlich Zeichencharakter trägt; dies gilt für die Ausdrucksphänomene allerdings nur mit gewissen Einschränkungen. Cassirer beansprucht im Jahr 1923, eine »neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation« von Sinnlichem und Sinnhaftem erkannt und präsentiert zu haben.55 Den Zeichen- und Symbolcharakter weist er selbst in der Wahrnehmung auf, wo er ihn etwa seit 1926/27 ›symbolische Prägnanz‹ nennt, wobei s y m b o l i s c h weiterhin für die Verflechtung von Sinnlichem und Sinn steht.56 Der Zeichen- und Symbolcharakter der Wahrnehmung bildet die ermöglichende Grundlage für den Zeichen- und Symbolcharakter spezifisch kultureller Aktivität, wie sie sich innerhalb der diversen, eigenständigen kulturellen Sinnordnungen der ›symbolischen Formen‹ vollzieht. Die symbolischen Zeichen bzw. die zeichengestützten Symbolfunktionen machen innerhalb der Kultur so etwas wie eine Entwicklung, Entfaltung durch. Cassirer glaubt einen »dreifachen Stufengang« – Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion, Bedeutungsfunktion – im »inneren Aufbau der einzelnen Formwerte« unterscheiden zu können. Dieser Stufengang wird jeweils repräsentiert durch die »Bildgestalten des Mythos und der Kunst«, die »Lautzeichen« der Sprache und die »intellektuellen Zeichen und Symbole der reinen Erkenntnis«.57 Er stellt sich zudem in den diversen symbolischen Formen in unterschiedlichen Proportionen dar. Das Eigentümliche der Zeichenfunktion in der Sphäre der Bedeutungsfunktion sieht Cassirer darin, daß die »reinen Bedeutungszeichen […] nichts aus[drücken] und nichts dar[stellen]«, sondern als »abstrakte Zuordnung[en]« fungieren, d. h. »nur noch als Zeichen für einen bestimmten Bedeutungsgehalt«.58 Trotz der immer wieder anklingenden Identität von Zeichen und Symbol scheint Cassirer dennoch Zeichen- und Symbolcharakter insoweit zu unterscheiden, als zwar alle Symbole Zeichencharakter tragen, aber nicht E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 269. 55 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 17. 56 Siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 18; siehe ebenfalls im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 57 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 80. 58 E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 261. 54

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alle Zeichen Symbolcharakter. Diese Unterscheidung wird in der Regel mit der bekannten Charakterisierung der ›natürlichen‹, sinnlichen Zeichen, bei denen die Betonung auf dem Sinnlichen liegt, das ein Geistiges ›umsetzt‹, und der ›symbolischen‹ Zeichen, bei denen die Betonung auf der geistigen Bedeutung liegt, die des Sinnlichen bedarf, um sich auszudrükken, verbunden.59 Offensichtlich besitzen die ›natürlichen‹ Zeichen eine Eigenbedeutung, während das für die ›symbolischen‹ Zeichen nicht mehr zutrifft , da sie ›künstlicher‹ Natur sind und ausschließlich eine sinnausdrückende Funktion erfüllen. Allerdings bleiben bei solch einer Erklärung Fragen offen, z. B. die, wann und wo wir es denn mit ›sinnlichen‹ statt mit ›symbolischen‹ Zeichen zu tun haben, erfahren wir doch beide Arten gleichsam als in Ordnungen von Bedeutung und Sinn eingefügt, in ihnen funktionierend. Evtl. hat Cassirer hier keine zwei Arten des Zeichens im Auge, sondern zwei Betrachtungsweisen des symbolischen Zeichens. b.) S y m b o l i s c h e s a l s F u n k t i o n . Symbolisches bzw. Symbolisierung faßt Cassirer grundsätzlich als Funktion des Geistes und damit als Tätigkeit auf. Nicht zuletzt deshalb tritt der Symbolbegriff in einen entschiedenen Gegensatz zum Prinzip der Abbildung einer unmittelbar gegebenen Wirklichkeit an sich. »Der letzte Schein irgendeiner mittelbaren oder unmittelbaren Identität zwischen Wirklichkeit und [Sprach-]Symbol muß getilgt – die Spannung zwischen beiden […] gesteigert werden, damit eben in dieser Spannung die eigentümliche Leistung des symbolischen Ausdrucks und der Gehalt jeder einzelnen symbolischen Form sichtbar werden kann. […] Es bewährt sich nun in diesem Einzelgebiet der Sprachbildung das allgemeine Gesetz jeder geistigen Form, wonach ihr Gehalt und ihre Leistung nicht in der einfachen Abbildung eines gegenständlich Vorhandenen, sondern in der Schaff ung einer neuen Beziehung, einer eigentümlichen Korrelation zwischen ›Ich‹ und ›Wirklichkeit‹ […] besteht.«60

»In jedem […] sinnlichen [d. h. natürlichen – C.M.] Zeichen […] erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- und Tastbaren umgesetzt. […] Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, ›sind‹ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf.« – E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 40. 60 Ebd., 135, 165 f. 59

Symbol und Symbolisches

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Die symbolischen Zeichen und mythischen bzw. ästhetischen Bilder haben vielmehr eine vermittelnde Funktion: »sie alle treten zwischen uns und die Gegenstände«, wobei sie aber nicht nur »negativ die Entfernung [bezeichnen – C.M.], in welche der Gegenstand für uns rückt, sondern [auch] die einzig mögliche, adäquate Vermittlung und das Medium [schaffen – C.M:], durch welches uns irgendwelches geistiges [wie anschauliches – C.M.] Sein erst erfaßbar und verständlich wird.«61

Die vermittelnde Funktion der symbolischen Zeichen und Bilder besteht dabei darin, 62 daß sie alle sich als Medien, als ›geistige Mitte‹ an der Lösung des Problems zu bewähren haben, innerhalb einer Form (z. B. der »Zeitform« für die sinnliche Welt) We r d e n (d. h. Besonderes) und e i d e t i s c h e G e s t a l t (d. h. Allgemeines) zu versöhnen, und dies, indem das Bewußtsein den sinnlichen Inhalt nicht einfach ›hat‹, sondern »ihn aus sich heraus erzeugt«: »Die Kraft dieser Erzeugung ist es, die den bloßen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt zum symbolischen Inhalt gestaltet.«63 Aus dem von außen empfangenen Bild (Natürliches) ist dabei ein »von innen her Gestaltetes geworden, in dem e i n Grundprinzip freien Bildens waltet« (Geistiges, Kulturelles). 64 In dieser Gestaltung sieht Cassirer die eigentliche Leistung der symbolischen Formen. Die wichtigste funktionale Eigenschaft des Geistes dürfte – neben der »Funktion der Zeichengebung«65 – die bereits angesprochene Fähigkeit der Repräsentation sein, die ebenfalls Vermittlung leistet. Die Repräsentationsfunktion der Symbole ist an ihre Zeichenfunktion gebunden, wie Cassirer im Vortrag »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927) betont. Wenn das Symbol wesentlich »Haften am Sinnlichen und […] Hinausgehen über das Sinnliche« ist, dann fungieren die »konkret-sinnlichen« bzw. »sinnlich-anschaulichen Zeichen« als »RepräE. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 80. 62 Stefano Biancu beschreibt den Vermittlungsgedanken des Symbolischen bei Cassirer wie folgt: »Al simbolo Cassirer affida dunque una funzione architettonica che finisce però per annullare la portata della sua grande scoperta: quella della reale mediazione di ogni esperienza. Una mediazione che […] né un realismo dogmatico, né un idealismo simbolico, ma soltanto un ›realismo simbolico‹ (che riconosce la concretezza del simbolo), può fi nalmente garantire.” – S. Biancu/A. Grillo, Il Symbolo. Una sfida per la fi losofia e per la teologia, a. a. O., 76 Anm. 16. 63 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 81. 64 Ebd., 81. 65 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 15. 61

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sentanten des […] Sinns«. 66 Gelegentlich setzt er die Repräsentationsfunktion sogar mit der »symbolischen Funktion des Bewußtseins« überhaupt gleich. 67 Sie erfährt sowohl innerhalb der Wahrnehmung als auch innerhalb der diversen symbolischen Formen von Kultur jeweils eigenständige Ausprägungen, indem sie die einzelnen Akte auf eine konkrete Sinnordnung und deren Strukturgesetz bezieht. 68 Mit anderen Worten, symbolische Zeichen verknüpfen durch ihre Repräsentationsfunktion »universellen« Charakter und das Aussprechen »besonderer Relation[en]«. 69 Auch diese Leistung faßt Cassirer unter den Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹.70 Die ›Aufgabe‹ der Repräsentationsfunktion besteht folglich in der aktiven Vermittlung des einzelnen Zeichens bzw. Symbols mit der Sinnordnung, was ihm seine spezielle kulturelle Prägung gibt, aber auch im Herausheben eines ›repräsentativen‹ Sachverhaltes aus der – fließenden – Masse der Sachverhalte des Bewußtseins. Dieses Herausheben bildet zum Einen Kristallisationspunkte und Konstanten heraus: »Das [Sprach-]Zeichen bildet gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und herausgehoben wird.«71

Zum Anderen läßt das Herausheben e i n e n Sachverhalt für a n d e r e , für a l l e gleichen Sachverhalte stehen, behandelt ihn eben als Repräsentanten seiner Klasse, d. h. der »Gesamtheit möglicher Fälle«.72 So wird auf unterschiedlichste Weise ein »Individuelles zu einem Allgemeingültigen« erhoben.73 Da sich dies immer in Bezug auf eine allgemeine Sinn- oder Bedeutungsordnung vollzieht, deren umfassendste die symbolischen Formen der Kultur bilden, treten alle – vermittelten – ›symbolischen Zeichen‹ in einer bestimmten mythisch-magischen, ästhetischen, sprachlichen etc. Bedeutung auf. Die symbolische Funktion des Geistes erweist sich folglich als eine »Kraft des inneren Bildens«, d. h. als eine Kraft der Formung, die RepräE. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 254 f. 67 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 20. 68 Ebd., 9 f. 69 Ebd., 16. 70 Siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 18. 71 Ebd., 19 f. 72 Ebd., 105. 73 Ebd., 6. 66

Symbol und Symbolisches

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sentations- und Vermittlungsleistungen vollbringt und die Zeichengebung als ein In-Beziehung-Setzen von Sinn und Sinnlichkeit leistet. Die philosophische Betrachtung der symbolischen Formen als vielfältiger »Kreis[e] von Symbolen und Zeichen« bzw. als vielfältiger »Energie[n] des Bildens«74 habe nun nicht nur deren »geistige Struktur« zu bestimmen, sondern auch »das wechselseitige Verhältnis dieser Formen«,75 und damit das »wechselseitige Verhältnis« der entsprechenden spezifischen Formungs- und Symbolisierungsleistungen. Außerdem ist für Cassirer die Symbolfunktion, wie er 1932 im »Vortrag: Symbolproblem« ausführt, »eben dasjenige Phänomen, durch welches sich das menschliche Dasein ursprünglich konstituiert und durch welches es sich von allem anderen bloss-vitalen Sein charakteristisch unterscheidet.«76 Aber das ist schon das neue große Thema einer philosophischen Anthropologie, wie folgende Charakterisierung andeutet: »Die Fähigkeit, Symbole zu bilden, Symbole zu verstehen, in Symbolen zu leben: dies alles ist die spezifische Gabe des Menschen; ist der Anfangs- und Ansatzpunkt der menschlichen Welt. Und dieser Anfangspunkt bildet zugleich in gewissem Sinne ihren Endpunkt: der t e r m i n u s a q u o ist zugleich der t e r m i n u s a d q u e m . Der Mensch wird zum Menschen durch das Symbol, durch die Sprache, durch die Kunst, durch die Religion – aber er scheint auch im Wesentlichen in diesem Kreise verharren zu müssen. Er scheint an die Funktion des symbolischen Ausdrucks gebunden zu sein: und er scheint sofort den sicheren Boden unter den Füssen zu verlieren, wenn er versucht, sich von ihm loszulösen und den Flug ins Absolute, ins Bildlose zu wagen.«77

c) K r i t i k u n d Z u s p r u c h . Cassirers Begriff des Symbolischen war bereits lange vor Marc-Wogaus kritischer Betrachtung 78 Gegenstand philosophischer Debatten. So entspann sich im Jahre 1927 im Anschluß an den Vortrag »Das Symbolproblem« eine Aussprache, in der hinsichtlich Cassirers Symboltheorie Kritik und Zuspruch geäußert wurde. Mit einigen Argumenten aus dieser Aussprache möchte ich meinen Beitrag beenden. Der E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 91, 104. 75 Ebd., 96. 76 E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 86. 77 Ebd., 86 f. 78 Siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 23. 74

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Philosoph Paul Hofmann z. B. steht den Auffassungen Cassirers durchaus nahe, wenn er betont, daß wir das Geistige, Sinnhafte, Bedeutende »nie unmittelbar an sich selbst, sondern eben immer nur in und an ›Symbolen‹ [haben]«,79 selbst wenn Cassirer zudem das Sinnlich-Anschauliche als symbolisch vermittelt betrachtet. Hofmann ist auch hinsichtlich der Ausdrucksund Darstellungsfunktion des Symbolischen bereit, mit Cassirer mitzugehen, nur hinsichtlich dessen Charakterisierung der Bedeutungsfunktion der symbolischen Zeichen vermag er ihm nicht zu folgen. Hofmann meint in ihr ebenfalls »eine Darstellung des Wirklichen« vorzufinden. Dabei scheint er Symbolfunktion und Darstellungsfunktion zu identifizieren: »Das Wirkliche nämlich wird als für uns grundsätzlich unanschaubar bestimmt und dementsprechend in anderer Weise als bisher ›dargestellt‹.«80 Der Philosoph und Pädagoge Willy Moog wiederum scheint die Bedeutungsfunktion mit der Zeichenfunktion und diese mit dem wissenschaftlichen Denken zu identifizieren, wenn er zwar durchaus zutreffend moniert, daß bei Cassirer der Symbolbegriff »mit dem Begriff des Zeichens überhaupt zusammenfällt«, den »abstrakten Bedeutungszeichen« im »wissenschaftlichen Denken« aber rundweg jeden – »anschaulichen« – Symbolcharakter abspricht. «Nicht jedes Zeichen ist Symbol. Das Zeichen als bloßes abstraktes Bedeutungszeichen kann seinen eigentlichen Symbolcharakter verloren haben oder braucht einen solchen auch nie besessen zu haben, weil es ganz in der rationalen Funktion der Bedeutungsbezeichnung aufgeht, weil es nur einer abstrakten Zuordnung dient.”81

Das Symbolische will Moog für das Erfassen von Irrationalem und Unbestimmtem, an dem die »rational-logische Erfassung« scheitere, reservieren. Allerdings sieht er im Symbol sich die drei Momente Ausdruck, Darstellung und Bedeutung verflechten: »Da hat das Symbol seine eigentliche Stelle. Da kann die anschauliche, intuitiv erfaßbare Form des Symbols mehr ausdrücken als der bloße Begriff und das Bedeutungszeichen. Charakteristisch für das eigentliche Symbol ist, daß es […] in eine verborgene, tiefere Sphäre hineindeutet – sei es in E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., »Mitberichte«, 271. 80 Ebd., 273. 81 Ebd., 275; siehe auch 277. 79

Symbol und Symbolisches

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die religiöse, die metaphysische, die ästhetische Sphäre oder die Sphäre des Unbewußt-Seelischen usw.«82

Während auch der Philosoph und Psychologe »[Walther] Schmied-Kowarzik betont […], daß der Cassirersche Symbolbegriff (ein Sinnliches als Träger des Sinnhaften) viel zu weit ist«, 83 sieht der Kunsthistoriker Alois Schardt die Symbolauffassung Cassirers sich »in der Kunstentwicklung der letzten 100 Jahre« bestätigen, scheine sich in ihr doch alles »von der Anschaulichkeit des gegenständlichen Erlebens zu dem reinen Formalerlebnis hinüberzuentwickeln.«84 In seinem Schlußwort läßt Cassirer indirekt noch einmal anklingen, warum sein Symbolbegriff so vage und unfestgelegt ist und sein muß, geht es ihm doch um den Aufweis, daß »alle […] verschiedenen Verwendungen des Wortes ›Symbol‹ […] doch zuletzt in eine Einheit zusammengehen – die freilich heute noch weniger als klare Einheit eines abgeschlossenen Begriffs denn als latente Einheit eines Problems erscheint«. 85

Eine wahre Symboltheorie habe »das Ganze der Anwendungen des Symbolbegriffs, wie sie sich in den verschiedenen Gebieten des Geistes und der systematischen Philosophie durchgesetzt haben, wirklich zu umspannen.«86

Diese Aufgabe, aus der eben die »Schwierigkeit« resultiert, die diversen Bedeutungen des Symbolbegriffs »[mit-]einander zu vereinbaren«, stellt Cassirer noch einmal 1932 im »Vortrag: Symbolproblem«. Er nehme »den Symbolbegriff so weit […], daß er keinem einzelnen Gebiet des Geistigen angehört, – sondern daß er vielmehr zu einer Grundfunktion des Geistigen wird: einer Funktion, die überall wirksam ist, wo es überhaupt so etwas wie ein geistiges ›Verstehen‹ und wie den Aufbau einer geistigen ›Welt‹ gibt.«87 Ebd., 275 f. Ebd., 278. 84 Ebd., 279. 85 Ebd., 280. 86 Ebd. 280 f. 87 E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1932), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 85. 82 83

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Daß sich der weite Symbolbegriff dabei nicht nur als »eine bloße philosophische Abstraktion und eine philosophische ›Erfindung‹« erweist, sei jedoch keine originäre Leistung der Philosophie der Kultur, sonder dies ist nach der Überzeugung Cassirers der »immanenten und d[er] selbstgesetzlichen, d[er] autonomen Entwicklung des Geistes« selbst geschuldet, »die den Symbolbegriff zu dieser universellen und zu dieser zentralen Stellung verholfen hat.«88 Dieser Tatbestand ist als »Grundfaktum der Kultur« anzuerkennen und »nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zu befragen.«89

88 89

Ebd., 86. Ebd., 86.

Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz

1. Einleitung: Problemaufriß Über das Verhältnis von ideellem Sinn und reellem Sinnlichen denken Philosophen mindestens seit Platon intensiv nach. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bricht sich die Einsicht Bahn, daß Sinn und Sinnlichkeit in korrelativer Beziehung stehen, d. h., Sinnliches uns immer schon sinnhaft geprägt gegeben, und Sinn an eine Verkörperung im Sinnlichen (als Träger) gebunden ist. Zudem scheint die Annahme einer Wechselwirkung, Korrelation oder gegenseitigen Durchdringung die Beziehung zwischen Sinn und Sinnlichkeit angemessen zu erklären. Ein Vorreiter dieser Auffassung ist Edmund Husserl mit seiner phänomenologischen Wahrnehmungstheorie. Ähnliche, vielleicht sogar durch die phänomenologische Philosophie beeinflußte oder begünstigte, Überlegungen stehen im Zentrum von Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹, speziell beim Begriff symbolischer Prägnanz. Die Tatsache, daß der mit Theorie aufgeladene Terminus ›symbolische Prägnanz‹ einen Grundbegriff in Cassirers Philosophie der symbolischen Kulturformen darstellt, steht in der Cassirerforschung außer Frage,1 wirklich aufgeklärt scheint mir dieser Begriff jedoch noch nicht zu sein, dazu anschließend einige Überlegungen. Aber auch Helmut Plessner diskutiert fast gleichzeitig mit Cassirer in seinen Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) ein vergleichbares theoretisches Problem, dies aber auf originelle und eigenständige Weise. Beschäftigt ihn doch die Beziehung zwischen geistigen Sinnfunktionen (d. h. Arten der Sinngebung) und bestimmten Sinnenkreisen (d. h. Arten der Anschauung bzw. der Sinnlichkeit), wobei die Beziehung grundsätzlich als »Konkordanz« bestimmt

Als Beispiel sei eine aktuelle Studie zitiert: »John Michael Krois hat zuerst das Augenmerk auf die Denkfigur der symbolischen Prägnanz gerichtet, die trotz ihrer unauffälligen Stellung im Text eine zentrale Bedeutung für das Ganze einer Philosophie der symbolischen Formen einnimmt. – V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitedead, (Phänomenologie, Texte und Kontexte, Hrsg. von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti † und Walter Schweller, Kontexte, Bd. 24) Freiburg/München 2015, 128 f. 1

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wird.2 Plessners philosophische Theorie einer Konkordanz zwischen Sinnlichkeit und Sinn berührt sich mit der Cassirerschen zumindest sachlich im Problem der Prägnanz, wenn vielleicht auch nicht terminologisch.3 Deshalb ist es gewiß kein Zufall, daß sich in einem der nachgelassenen Texte Cassirers zur symbolischen Prägnanz unter der zu konsultierenden »Litteratur« der Hinweis fi ndet: »Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Aesthesiologie des Geistes. Bonn 1923«. 4 Wenn im Folgenden versucht wird, Cassirers Begriff symbolischer Prägnanz weiter aufzuklären, sollen die Plessnerschen Positionen und Lösungen vergleichend im Blickfeld bleiben.5 Das ›Unaufgeklärte‹ am Cassirerschen Begriff symbolischer Prägnanz zeigt sich u. a. daran, daß sich die Rezipienten bei seiner Diskussion bislang nahezu ausschließlich auf das bekannte V. Kapitel »Symbolische Prägnanz«, verortet im Zweiten Abschnitt (»Der Aufbau der anschaulichen Welt«) des Dritten Teiles: Phänomenologie der Erkenntnis (1929) von Cassirers Hauptwerk beschränken. In Bezug auf die beiden nachgelassenen, dieses Kapitel vorbereitenden Texte, 2011 in ECN 4 zum Abdruck gebracht, wird der Begriff dagegen noch kaum thematisiert. Dies gilt selbst für neueste Arbeiten, die sich dem Thema symbolischer Prägnanz widmen, wie den im vorliegenden Beitrag zitierten Studien von Viola Nordsieck oder Catia Rotolo. 6 Wobei Nordsiecks Schrift Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung, gewidmet der Prozeßphilosophie in den Werken Bergsons, Cassirers und Whiteheads, für momentane und künftige Überlegungen zum philosophischen Gehalt des Begriffs symbolischer Prägnanz eine instruktive

H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, Frankfurt am Main 2003, 275 f. 3 Was terminologisch, zumindest oberflächlich, an Cassirers Argumentation erinnert, ist Plessners Inanspruchnahme des Kantschen Schematismusproblems, des Begriff s der Kategorien (»des Ausdrucks«) für die Beschreibung dieser a priori notwendigen Zusammenhänge und des Begriffs Modi des Sehens oder Hörens als Sinn- und Sinneskreise konstituierend. – Ebd., 283, 290. 4 E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 3. 5 Heike Delitz ist dieser Frage bereits 2005 tiefgründig nach- und auch auf ihre Vorgeschichte samt Anregungen eingegangen: H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen. Helmut Plessners Ästhesiologie des Geistes und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 53 (2005) 6, 917–937, hier: 918 Anm. 6. 6 C. Rotolo, Der Symbolbegriff im Denken Ernst Cassirers, Aus dem Italienischen übersetzt von L. Schröder, (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Studien und Quellen, Hrsg. von H.J. Sandkühler [Bremen] und P. Stekeler-Weithofer [Leipzig], Bd. 76) Frankfurt am Main 2013. 2

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Auslegung bietet, zumal sie das Problem in einen größeren thematischen Zusammenhang einbindet.

2. Allgemeine Überlegungen zur Bedeutung der Begriffe Prägnanz und Symbolisches Die Bezugnahmen auf die im erwähnten V. Kapitel »Symbolische Prägnanz« gegebene »zugleich berühmte und schwierige ›Definition‹«7 beschränken sich in der Regel meist nur auf den ersten Satz, der symbolische Prägnanz mittels dreier Merkmale als die Art definiert, »in der [1.] ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich [2.] einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn [3.] zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.«8

Welche der drei hier aufgeführten Momente den Begriff s y m b o l i s c h und welche den Begriff P r ä g n a n z bestimmen, geht – nach meinem Dafürhalten – aus der Formulierung nicht hervor, wird von Cassirer auch nicht eigens thematisiert. Einen Fingerzeig könnte aber die bereits 1921/22 gegebene Definition der s y m b o l i s c h e n Form geben, wonach wir unter einer solchen eine jegliche »Energie des Geistes« verstehen sollen, »durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«9 Unbesehen dessen, daß hier der Zeichenbegriff – unkommentiert – mit dem Symbolproblem verkoppelt wird, scheint demnach das für das Zeichen charakteristische Merkmal, ›ein Sinnliches faßt einen Sinn in sich‹, für s y m b o l i s c h zu stehen, da es schwerlich die Form als solche ausmacht, während die Merkmale ›Wahrnehmungserlebnis‹ und den ideellen Sinn zur ›unmittelbaranschaulichen Darstellung bringend‹ für p r ä g n a n t bzw. P r ä g n a n z stehen dürften. Gleichzeitig scheint ebenfalls der Bezug auf eine »jede [formende, gestaltende, aufbauende, bildende – C.M.] Energie des Geistes« unter s y m b o l i s c h zu fallen.

O. Schwemmer, Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, München 2011, 110. 8 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 231. 9 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 79. 7

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Festzuhalten bleibt aber auch, daß die durch Plessner betonte Differenzierung der Sinnlichkeit nach den Sinneskreisen der Körper-›Haltung‹, des Gehörs und des Gesichts bei Cassirer unterbelichtet bleibt oder keine größere Rolle spielt. Denn wenn er in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) das Phänomen der Synästhesie – als Beleg seiner Theorie – behandelt und auf die »›spezifisch optische ›Materie‹ der Farbe und die spezifisch akustische ›Materie‹ des Tones‹« zu sprechen kommt, »erscheint die Ästhesiologie [Plessners – C.M.] im Horizont Cassirers, und sie wird gleich verworfen. Das ›eigentliche fundamentum divisionis‹ liegt ›im Geiste: die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr gibt‹.«10

Mich hat die Lektüre den Eindruck gewinnen lassen, daß Plessner, wenn er die »Versinnlichung der geistigen Gehalte« thematisiert, die Frage von der entgegengesetzten Seite her stellt, obwohl er eben auch die Vergeistigung des Sinnlichen in den Blick nimmt. Dennoch interessiert ihn in erster Linie, wie »der Wesensunterschied der Sinne« (Sehen, Hören) sich »in den Sinngebungs- und Verstehensweisen« auswirkt.11 Dieses Interesse ist bei ihm von der Erkenntnis motiviert, daß »zu b e s t i m m t e n Sinngebungen b e s t i m m t e sinnliche Materialien nötig [sind]«.12 Cassirer dagegen »entwirft seine ›Sinnesphilosophie‹ als ›Philosophie des Geistes‹: Sie geht vom Problem der Bedeutung aus«,13 weshalb, laut Delitz, »[nur Plessner – C.M.] eine Ästhesiologie des Geistes als Theorie des Ineinanderragens von Sinnlichkeit und Sinn […] entworfen [hat].«14 Man könnte die Plessnersche Betonung der Spezifi k der »bestimmten« Materialien auch als sozusagen spiegelverkehrten Zugang zum Problem der H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 926. »Die ›Korrelation‹ von Sinnlichkeit und Sinn ist hier eine, in der sich die Funktion des Geistigen im Sinnlichen erfüllt.« – Ebd. 926. Das folgende Resümee mag etwas überzeichnet klingen, sich durch die eine oder andere Aussage Cassirers abschwächen lassen, bringt aber ein echtes Problem der idealistischen Philosophie Cassirers auf den Punkt: »Cassirer tendiert einseitig zum Ideellen, […] Plessner verschränkt Materialität und Immaterialität«, kennt die idealistische Philosophie doch in der Tat keine »Eigenlogik des Materiellen«. – Ebd., 935. Auch die ›zündende‹ Idee Plessners, »von der Differenz der Sinne« auszugehen (ebd.), findet in dieser keine sachlich passende Stelle. 11 Ebd., 920. 12 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 278. 13 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 925. 14 Ebd., 926. 10

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symbolischen Prägnanz deuten. Cassirers spricht allerdings nirgends oder zumindest selten so bestimmt von der »unersetzlichen« Bindung eines b e s t i m m t e n Sinnenkreises an eine »b e s t i m m t e Art der Sinngebung«,15 hier dürfte Plessner seine Analyse einfach tiefer als Cassirer ansetzen. Allerdings geht dieser zumindest gelegentlich, worauf Schwemmer aufmerksam macht, von einer »›Wechselwirkung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche‹« aus.16 Offen bleibt für mich allerdings, ob die angesprochenen »charakteristischen Differenzen im sinnlichen Material« bzw. die »Unterschiede zwischen den Sinnesfeldern des Gesichts und Gehörs«17 für Plessner in diesen selbst ruhen, oder ob sie, wie Cassirer annimmt, auf jeweilige gewisse Anschauungsweisen zurückzuführen sind, in denen sie uns erscheinen; manche Aussagen Plessners lassen Ersteres vermuten.18 Deshalb spricht Delitz wohl zu Recht von einem Konzept »der Eigenlogik der Sinne« bei Plessner.19 Auch die Rede, daß die letzten »Gründe für die[se] Ausschließlichkeit als Akkordanzen der Sinneskreise zu Typen der Sinngebung« in der jeweiligen Spezifi k des Gehörs bzw. des Gesichts zu suchen seien,20 scheint eine innere Struktur der Sinnenkreise nahezulegen, die diesen zwar ›an sich‹ zukommt, die aber gleichzeitig Eigenschaften besitzt, die mit einer inneren Struktur der Typen der Sinngebung (Sinngesetzlichkeiten) nicht nur sehr verwandt sind, sondern sich wechselseitig fordern.21 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 278. 16 O. Schwemmer, Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, a. a. O., 108; die von Schwemmer zitierte Formulierung fi ndet sich in: E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 299. 17 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 284. 18 »Die Analyse muß an den Gebilden selbst einsetzen und durch eine phänomenologisch geführte Strukturzergliederung der fraglichen Modi, des akustischen Stoffs und der optischen Funktion, die Gründe der ausschließlichen Anwendung musikalischer Sinngebung auf den Schall, der ausschließlichen Beziehung geometrischer Sinngebung zu Bildern klarmachen.« – Ebd., 284. 19 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 918, 927. 20 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 284. 21 Die Erläuterung, die Schwemmer von Cassirers Verständnis des Zusammenhanges von Sinn und Sinnlichem »ohne Rückgriff auf Cassirersche Formulierungen« gibt, erinnert mich stark an Plessners Fassung, ist hier doch u. a. die Rede davon, daß im Ausdruck als einem Wechselverhältnis von »Präsentation eines ›Inhaltes‹ und Bearbeitung eines Materials« die »Strukturen des Materials zu den Bedingungen der inhaltlichen Präsentation« werden. – O. Schwemmer, Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, a. a. O., 109. 15

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Falls dem so ist, würde Plessners Ansatz Cassirers Begriff der Prägnanz sozusagen um die Gegenrichtung des Blicks ergänzen, setzt doch auch er »wie selbstverständlich voraus, was Cassirers zündende Idee ist: das allen Symbolisierungen die Sinnkonstitution in der Anschauung gemeinsam ist.«22 Was jedoch mit Blick auf Cassirer irritierend wirkt, ist die Tatsache, daß Plessner für den dritten Sinnenkreis der Haltung die »zuständigen Sinnesqualitäten […] ohne Beziehung zum Geiste« sieht, 23 Plessner spricht sogar von der »Sinnlosigkeit« dieses Sinnenkreises.24 Kehren wir zu dem Versuch, die beiden Begriffe s y m b o l i s c h und p r ä g n a nt gegeneinander abzugrenzen, zurück. In dem Zusammenhang wäre noch tiefgründiger sowohl der Begriff des Symbolischen zu erläutern,25 als auch Cassirers Formbegriff aufzuklären, 26 was hier jedoch nicht geleistet werden kann. Auf die damit ebenfalls aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis symbolischer P r ä g n a n z zur symbolischen F o r m kommen wir später noch einmal zu sprechen, 27 ebenso wie auf einige Aspekte der Bedeutung des Begriffs Sy m b o l i s c h e s . Es ist offensichtlich, daß für Cassirer in Bezug auf seinen Begriff symbolischer Prägnanz noch ein weiteres – [4.] – Moment entscheidend ist, wie H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 927. 23 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 270. 24 Ebd., 285. 25 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564. 26 Siehe u. a. O. Schwemmer, Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, a. a. O., 113 ff. 27 Nordsieck bemerkt zum Verhältnis von Form- und Prägnanzbegriff: »Schwemmer hat [in Das Ereignis der Form – C.M.] darauf hingewiesen, daß die symbolische Prägnanz nicht für alle Verwendungen des Formbegriffs bei Cassirer als Paradigma dienen kann. Der Begriff der Form ist natürlich der allgemeinere Begriff, während die symbolische Prägnanz einen zentralen Aspekt der Formung als Prozeß betrifft . / Die Prägnanz ist ja selbst auch keine Form, auch nicht eigentlich eine Funktion, denn sie läßt sich nicht in dieser Weise schematisieren oder darstellen. Man kann sie allgemein nur als Formungsereignis fassen. Die symbolische Prägnanz nimmt eine zentrale Stellung ein ›als dynamische[r] Grund der symbolischen Formung‹ (Stoellger), aber eher für die symbolische Form als Medium, als für den Formbegriff überhaupt.« – V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitedead, a. a. O., 139 f. Die Bedeutung der symbolischen Prägnanz für den Formbegriff wird noch einmal hervorgehoben, wenn es bei Nordsieck heißt, diese stelle, indem sie »die intensive Relationalität der mathematischen Topologie mit der Entstehung von Qualitäten aus der Gestaltpsychologie« verknüpfe, »in systematischer Hinsicht die Verbindung der Kategorien von Relation und Qualität dar, die notwendig ist für Cassirers Konzept der Form.« – Ebd., 128 f. 22

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ein der Definition im V. Kapitel nachfolgender Satz zeigt: »Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches S i n n- G a n z e s , soll den Ausdruck der ›Prägnanz‹bezeichnen«,28 das Sinn-Ganze nennt er auch »Gefüge«.29 Mit der Rede vom Bezug des einzelnen, ideell angereicherten Wahrnehmungserlebnisses auf ein Sinn-Ganzes als Moment der Prägnanz bzw. den Begriff der Prägnanz bezeichnend, stellt sich erneut die Frage nach dem Verhältnis zur symbolischen Form bzw. ihrem Strukturgesetz. Aus der bekannten und viel zitierten Definition im V. Kapitel der Phänomenologie der Erkenntnis lassen sich folglich v i e r Merkmale von – symbolischer – Prägnanz herauslesen: ein Wahrnehmungserlebnis, das als solches einen nicht-sinnlichen Sinn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt und dabei ideell auf ein Sinn-Ganzes bezogen, mit ihm verwoben ist. Auch bei Plessner fi ndet sich zumindest eine Stelle im Text, an der er nicht nur in einem Sinne von Prägnanz spricht, der sowohl Cassirers Festmachen des Begriffs am Aspekt der anschaulichen, unmittelbaren Darstellung des Geistigen im Gestalteten nahe kommt als auch der Hervorhebung des ausdrückenden Bezuges auf ein Ganzes, Zusammenhängendes. Außerdem setzt Plessner hier den Sinnenkreis der Haltung nunmehr mit Sinn in Verbindung: »Erscheint […] in der Bewegung eines [menschlichen] Körpers ein verständlicher Zusammenhang, ohne daß man gerade in der Lage sein müßte, anzugeben, was […] diese Bewegung bedeutet, so ist der Körper ausdrucksvoll in einem […] nicht beschreibbaren, nicht begreiflichen, wohl aber [in einem – C.M.] prägnant erlebbaren Sinne.«30

Ob wir allerdings das Recht haben, mit Blick auf die von Plessner aufgewiesene Verschiedenheit und Eigenlogik der Sinne mit Delitz von »je spezifischen symbolischen Prägnanz[en]« zu sprechen, 31 und damit ohne Einschränkung auf den Cassirerschen Begriff zu rekurrieren, der ja ebenfalls eine Vielfalt von symbolischer Prägnanz impliziert, allerdings nicht aus der Eigenlogik der Sinne bzw. deren Materie resultierend, möchte ich E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 231. 29 »Die ›Teilhabe‹ an diesem Gefüge gibt der Erscheinung erst ihre objektive Wirklichkeit und ihre objektive Bedeutung.« – Ebd., 233. 30 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 287. 31 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 935. 28

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zumindest als fraglich kennzeichnen. Und wenn Nordsieck demgegenüber in der »Möglichkeit zur Bezugnahme durch die Einordnung in eine ›Sinnfügung‹« das »eigentliche Wesen des Symbolischen« sieht, dabei den »Symbolprozeß bei Cassirer« als »Prozeß der kontinuierlichen (Re-) Struktuierung der Wirklichkeit« deutend,32 dann scheint mir das Betonen der Leistung der Einordnung eher auf Prägnanz denn auf Symbolisches zu zielen.33 Allerdings scheint das Moment der Einordnung als Merkmal von V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitedead, a. a. O., 276. Nordsieck faßt auf originelle Weise das »Symbolische und Zeichenhafte als Mittel der Strukturierung« auf (ebd., 275), weshalb sie vom »symbolisch Gegliederten« sprechen kann, das eine »eigene Intensität, eine spezielle eigene Wirkung« entwickle (ebd., 285). »Das Symbolische [als Ausdrucksrelation – C.M.] mit seinem Bedeutungs- und Verweisungscharakter« werde bei Cassirer »von der Vorstellung einer Abbildung […] losgelöst […]. Denn die symbolische Relation des Ausdrucks […] besteht im Wesentlichen darin, die immanente Gliederung eines konkreten Ganzen mit einer anderen, übergeordneten Gliederung, die Cassirer Sinngefüge nennt, zu verbinden.« (Ebd., 286) Das »Verhältnis des Symbolischen« verleihe »dem Besonderen, der Konkretion, sowie dem Allgemeinen, ihrem Zusammenhang, erst Bedeutung« (ebd., 286), was die »mediale Logik der Übertragung« auf der Wahrnehmungsebene verständlich mache: »Sinnliche Wahrnehmung ist immer präformiert durch Sinnzusammenhänge.« (Ebd., 286 f.) Erst die »mediale Logik der Übertragung« lasse uns »die Bedeutung des Symbolischen als Basis jeder möglichen Ausdrucksform« richtig verstehen (ebd., 287). Daraus seien »zwei Charakteristika des Symbolischen« abzulesen: »Erstens ist […] das Zusammenfügen niemals nur das Zusammensetzen […], [sondern – C.M.] das Zusammenwirken einer wechselseitigen Durchdringung« von Konkretem und Sinnzusammenhang, was zu einem »neuen Ganzen« führt, »weil ihre immanente Gliederung sich ändert«. »Zweitens stehen […] die sympathische Wirkung auf die Wahrnehmung und […] die symbolische Wirkung auf die Reflexion ebenfalls miteinander in intensiver Verbindung.« (Ebd., 288) Das bedeute, »daß Erfassen, Erkennen, Verstehen, Denken ihre jeweilige immanente Gliederung aus den Qualitäten der Wahrnehmung und der Empfi ndung erfahren, und zwar durch die transformierende Tätigkeit der Artikulation. […] Das Hauptmerkmal einer intensiven Relation ist also die Neukonfiguration einer immanenten Gliederung: ein neues Verhältnis von Teil und Ganzem […]. Prägnanz [!] ist eine solche Neuverknüpfung. Sie bezeichnet als Hervortreten die Entstehung einer Konkretion, einer individuellen Gestaltung, die als einzelne zugleich auf etwas Allgemeines verweist.« (Ebd., 288) Da hierbei das Moment für das Ganze eintritt bzw. am Moment das Ganze zu erfassen ist (ebd., 288 f.), »[ist] in diesem Sinne […] die Wahrnehmung ein Ereignis der Prägnanz.« (Ebd., 289) »Aber Prägnanz ›erschließt‹ uns nicht die Wahrnehmung, und der Begriff der Prägnanz ›erschließt‹ nicht das vollständige Denken Cassirers.« (Ebd., 289) 33 So lese ich auch die Ausführungen Schwemmers über symbolische Prägnanz, die zudem noch den wichtigen Hinweis enthalten, daß die symbolisch-prägnante, »der Wahrnehmung immanente Formbildung […] weder eine intendierte noch überhaupt eigens in Gang gesetzte Tätigkeit [ist]«. (O. Schwemmer, Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, a. a. O., 111) Weiter heißt es bei Schwemmer: »Die der Wahrnehmung immanente Formbildung ist ein leibliches [!] Geschehen, das – als Gliederung, als Bildung von Formen und Formverhältnissen – zugleich Sinnzusammenhänge erzeugt 32

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Prägnanz jegliche symbolische Form bzw. symbolische Formung zu charakterisieren, und nicht nur ihre, der symbolischen Form, Verwurzelung in der Wahrnehmung. Nordsieck macht noch auf einen weiteren [5.] Aspekt von Prägnanz auf der Wahrnehmungsebene aufmerksam: »Prägnanz bedeutet zunächst das Sich-Abzeichnen einer Gestalt durch eine Neuverbindung von Qualitäten, durch welche sie vor einen Hintergrund tritt.«34 In diesem Sinn von G e s t a l t scheint das Problem der Prägnanz als eines Primates des ideellen Ganzen auch bei Plessner auf, wenn bei ihm die Rede ist von »sinngesetzlichen Abhängigkeiten zwischen einer besonderen [d. h. geistig-kulturellen – C.M.] Ausdrucksart und dem [besonderen sinnlichen – C.M.] Stoff, in dem sie Gestalt gewinnt«.35 Zuvor hatte Nordsieck den Prägnanzbegriff mit Blick auf das Problem der Konstrastbildung in Wahrnehmungsvorgänge gestellt, eine durchaus einleuchtende Erklärung. Delitz wiederum sieht in Cassirers »Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹ […] den reifen Kern d[…]er Theorie [des Symbolischen – C.M.] erreicht: die Verbindung von Formungsaktivität (Goethe) und apriorischen Ordnungsfunktionen (Kant).«36 Es bleibt aber auch festzuhalten, daß Cassirer den Terminus Prägnanz bereits vor seiner Verknüpfung mit dem Problem des Symbolischen in seinem traditionellen, alltäglichen Sinn gebraucht,37 der an das letztgenannte wie die Artikulation, wie jegliche kulturelle und also geistige Ausdrucksleistung. […] Ein Sinngefüge mit bestimmten Formen und umfassenden Formverhältnissen entwickelt sich erst in der bewußt durchlebten, der aufmerksamen Wahrnehmung.« – Ebd., 111 f. 34 V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitedead, a. a. O., 273 f. »Die bedeutendste Funktion der Prägnanzbildung ist die Neuverknüpfung von Qualitäten zu Gestalten. Resonanzen beziehen latente Wirkungen in die Wahrnehmung mit ein; Prägnanzbildung läßt daraus eine Gestalt entstehen und ist dabei selbst ein Ereignis. […] Die Prägnanz nimmt also eine zentrale Funktion für jede Art von heterogener Medialität ein. […] Für die Medialität als Logik der Übertragung wurde die Prägnanz der Gestalt dann zur Wechselwirkung zwischen [einer virtuellen Struktur der Formenentstehung – C.M.], die sich im Rückblick aus der Spur der eingeprägten Formen erschließt, und der Aktualisierung im konkreten Wahrnehmungsereignis.«(Ebd., 273 f.) 35 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 282 f. 36 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 922. 37 »Die Tendenz und das Ergebnis der physikalischen Methodenlehre ist hier in ausgezeichneter Prägnanz ausgesprochen; […]« (E. Cassirer, Leibniz‘ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen [1902], in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998, 494); »Schon seine [Berkeleys – C.M.] früheste theoretische Schrift , der »Versuch über eine neue Theorie des Sehens«, formuliert die Frage in aller Prägnanz und Klarheit.« (E. Cassirer, EP, Bd. 1 [1906], in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999, 230); »In diesen Worten ist in aller Prägnanz eines

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Merkmal der Kontrast- und Gestaltbildung erinnert. Bereits 1916, in Freiheit und Form, zitiert Cassirer »Leibniz‘ prozessuale Prägnanz als Fülle, als ›praegnans futuri‹«, sind es doch die »›petites perceptions‹, vermöge denen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger ist«.38 Dabei dürfen wir gewiß annehmen, daß ihm der »Doppelsinn des deutschen ›prägen‹ und des lateinischen ›praegnans‹« bekannt ist, er mit diesem sogar spielt, wenn er den Begriff der Prägnanz wie eben angeführt einsetzt. 39 Damit stellt sich zusätzlich die Aufgabe, die im vorliegenden Beitrag ebenfalls nicht gelöst werden kann und soll, zu prüfen, ob und inwieweit Cassirer in seinen Schriften mehr oder weniger gezielt sowohl lediglich vom Doppelsinn des Wortes prägen oder speziell von symbolischer Prägnanz spricht. Eine explizite philosophische Theorie symbolischer Prägnanz der Wahrnehmung entwirft er bekanntlich erst und ausschließlich im Zusammenhang mit dem Dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1929) und den entsprechenden nachgelassenen, in ECN 4 zum Abdruck gebrachten Vorarbeiten (1926/27). In späteren Schriften wiederum kommt er auf den Begriff symbolischer Prägnanz eher selten zurück, 40 die entsprechende Theorie des

der wesentlichen Ziele bezeichnet, das die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung von Kants Leben sich zu stellen hätte.« (E. Cassirer, Kants Leben und Lehre [1918], in: ECW 8, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 1). 38 V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitedead, a. a. O., 274 f. Während Cassirer Leibniz in der Regel zitiert als »Le présent est chargé du passé et gros de l’avenir«, heißt es u. a. im § 23 seiner La Monadologie (éd. A. Bertrand, 1886): »On peut mémo dire qu’en conséquence de ces petites perceptions, le présent est plein de l’avenir et chargé du passé«. 39 V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitedead, a. a. O., 274. Dennoch sei der Doppelsinn des Terminus ›prägen‹ bei Cassirer bereits ein eher einseitiger geworden, indem die Leibnizsche Bedeutung der »Wirksamkeit des Latenten zur Formbildung« zugunsten des »figurativen Hervortretens und Sich-Abzeichnens« zurückgetreten sei (ebd., 274). Zu diesen zwei Bedeutungen käme als dritte noch das »Einschneiden« als »Rückdeutung auf einen Vorgang mit eigener Dauer aus dem Ergebnis heraus, aus dem Kennzeichen, das sich uns eingeprägt hat […]: der Spur«, hinzu. »Das Hervortreten ist die Aktualität der Prägnanz, das Eingeprägte ist ihre Virtualität.« (Ebd., 274) Den »Doppelsinn von Prägnanz« sieht Nordsieck im »Hervortreten der Form für die Erfahrung und [in] ihrem Wirkzusammenhang mit dem, was sich diesem Erfahrungsmoment entzieht« (ebd., 297). 40 Im 1938 in der schwedischen Zeitschrift Theoria veröffentlichten Beitrag »Zur Logik des Symbolproblems« gebraucht Cassirer den »Ausdruck der ›symbolischen Praegnanz‹« noch einmal, mit Verweis auf das entsprechende Kapitel im Dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen, um seine entsprechende Theorie der Ausdruckswahrnehmung »zu bezeichnen«. – E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolischen« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften 1936–940, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 131.

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Symbolcharakters der Wahrnehmung bleibt aber in Geltung, bleibt im philosophischen Werk präsent. Um sinnvoll von s y m b o l i s c h e r Prägnanz statt lediglich von Prägnanz sprechen zu können, müßte sich nun eine Klärung dessen anschließen, was Cassirer letztlich unter dem nicht einfachen Begriff des Symbolischen verstanden wissen will, 41 nachdem er diesen Begriff, der ebenso zu seinen Grundbegriffen gehört, im Sommer 1917, in der nachgelassenen Disposition »Philosophie des Symbolischen«, 42 für sich entdeckt. Dem soll hier mit einem kurzen Literaturhinweis Genüge getan werden. 43 Außerdem wird im vorliegenden Beitrag die These vertreten, daß in Cassirers frühere Theorie des Symbolischen, die zunächst (1917) als eine ausgeweitete Theorie pluraler Weisen der Begriffsbildung auftritt, einige Bestimmungen eingehen, die Aspekte bzw. Merkmale symbolischer Prägnanz erfassen, ohne daß sie mit diesem Begriff in Zusammenhang gebracht werden. Dies meint u. a. 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff herausgestellte Grundzüge der Begriffsbildung wie das Funktions- und Reihenprinzip, die Kopernikanische Wende, das Repräsentations- und Bildungsprinzip anstelle des Abbildungsgedankens, das relationale Denken etc. Wenig später, 1923, wird diese Auffassung des Symbolischen durch die Theorie unterschiedlicher Richtungen der Sinngebung (symbolische Formen) weitgehend modifiziert. Dieser neuen Theorie korrespondiert mehr oder weniger der Gedanke Plessners von den verschiedenen »geistigen Sinnfunktionen« bzw. Arten der »Sinngebung«, zielt doch »auch Plessner […] auf die Erfassung aller menschlicher Ausdrucks- und Sinngebungsweisen«. 44 Allerdings unterscheiden sich Plessners Arten der Sinngebung auf den ersten Blick erheblich von denen Cassirers, werden doch »die thematische, syntagmatische, systematische« Sinngebung herausgestellt, wobei Delitz in ihnen »die (komplexe) Äquivalenzformel zu Cassirers Trias A u s d r u c k , D a r s t e l l u n g und B e d e u t u n g« s ieht. 45 Auf den zweiten Blick jedoch, u. a. angesichts von Plessners Ich halte die beiden nachstehenden Thesen von Delitz durchaus für zutreffend: »Cassirer hat seine Auffassung des Symbolischen nicht begründet, sondern illustriert«. (H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 [2005] 6, 923); »Beide [d. h. Cassirer wie Plessner – C.M.] legen keine Theorie der intersubjektiven Genese der Symbolsysteme vor.« (Ebd., 930). 42 Das Manuskript befindet sich an der Yale University, Beinecke Library, GEN MSS 98, Box 24, Folders 440–441. 43 A. Schubbach, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, (CF, Bd. 16), Hamburg 2016; siehe dazu auch Anm. 25 im vorliegenden Beitrag. 44 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 920. 45 Ebd., 926. 41

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Rede davon, daß diese drei Arten der Sinngebung sich »im Regreß aus den drei autonomen Wertbereichen der Kunst, der Sprache und der Wissenschaft nachweisen,«46 scheint der Unterschied gar nicht mehr so groß zu sein. Der wichtige [6.] Aspekt der Ausweitung, der bei Cassirer dem Terminus des Sy m b o l i s c h e n von Anfang an (1917) essentiell anhaftet, kommt auch in der im Dritten Teil (1929) mitgeteilten Definition des Symbols zum Tragen, und dies mit der Formulierung, der Symbolbegriff umfasse »das G a n z e jener Phänomene«, in denen die »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen« sich darstellt. 47 Mit der letzten Formulierung, unserem bereits aus der Definition der symbolischen Form – wie der symbolischen Prägnanz – bekannten Merkmal der »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen«, sind wir bei einer weiteren – [7.] – Bedeutung des Symbolischen angelangt, die sich bereits in der »Disposition« von 1917 andeutet und die in Zusammenhang mit der thematisierten Einheit von Präsentation (Präsenz) und Repräsentation (Repräsentanz) im leistenden Bewußtsein steht. Dieser Aspekt klingt ebenfalls in Plessners These an, wonach sich Konkordanzen zwischen Arten der Sinngebung und Arten der Anschauung in der Verbindung der »präsentativen« und »repräsentativen« Richtung des Bewußtseins »geltungstheoretisch« ermitteln ließen. 48 Es ist diese darstellende, in der Regel an den Gebrauch von Zeichen und Bildern gebundene Funktion, die Cassirer Sy m b o l f u n kt i o n nennt, die es unserem Bewußtsein letztlich erlaubt, Fixpunkte bzw. stabile Gehalte aus dem Fluß der sinnlichen Eindrücke herauszuheben und festzuhalten, auf diese die übrigen Gehalte zu beziehen und ihnen damit Bedeutung zuzuerkennen. Damit ist die Funktion der Vergegenwärtigung n i c ht-p r ä s e nt e r Gehalte bzw. des Transzendierens p r ä s e nt e r Gehalte H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 276. 47 »Wir […] haben dem Symbolbegriff von Anfang an eine […] weitere Bedeutung gegeben. Wir versuchten mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt; in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.« (E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, a. a. O., 105). Folglich stellt Catia Rotolo in ihrer Studie zu Recht fest: »Der Symbolbegriff [Cassirers] muß die Gesamtheit der Erscheinungen umfassen, in denen jegliche ›Bedeutungsrealisierung‹ des Sinnlichen sich präsentiert, die das sinnliche Element gleichzeitig als differenziert und verstoffl icht, als Ausdruck und Verkörperung einer Bedeutung zeigt. […] Der Symbolbegriff beinhaltet in Cassirers Sicht die endgültige Überwindung der Dualität, die der Kategorie ›Ding‹ innewohnt.« – C. Rotolo, Der Symbolbegriff im Denken Ernst Cassirers, 122 f. 48 H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 276 f., 278. 46

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ins Zukünftige oder in die Phantasie angesprochen. Folglich läuft dieses weitere Verständnis des Symbolischen auf die bereits erwähnte Einsicht zu, daß eine nichtpräsente g e i s t i g e Bedeutung sich in präsenten s i n n l i c h e n Zeichen verkörpern muß und kann, und daß sinnliche Erlebnisse nicht nur solche geistigen Bedeutungen darstellen, sondern daß das sinnliche Erlebnis aus dieser Verkörperungsfunktion auch seinen eigenen Sinn erfährt. Diese Verkörperungsfunktion, der auch »ein Element der Setzung, der aktiven Formung« angehört, 49 sieht Nordsieck bereits durch die basale Ausdrucksfunktion vollzogen, »die symbolische Relationen auf allen Ebenen erzeugt. Der Vorgang dieser [Setzung bzw. – C.M.] Erzeugung wird durch die symbolische Prägnanz beschrieben.«50 Bemerkenswert ist auch, daß Cassirer, wenn er das Sy m b o l problem aufwirft, zunächst einige Zeit (1917–1925) ohne den Begriff der Prägnanz bzw. der symbolischen P r ä g n a n z auskommt, auch wenn bestimmte sachliche Aspekte bereits formuliert werden. In welchem Erklärungskontext des Symbolischen erwächst bei Cassirer das Bedürfnis, eine regelrechte Theorie der symbolischen Prägnanz auszuarbeiten? Was fügt der Begriff der symbolischen P r ä g n a n z dem des Sy m b o l i s c h e n Neues hinzu, inwieweit fundiert er ihn vielleicht sogar? Wenn für Heike Delitz der Begriff symbolische Form »zunächst das Symbolische überhaupt, die schöpferische ›Energie des Geistes‹, die sich in der Kultur manifestiert«, meint, während symbolische Prägnanz »die Einsicht in die Janusköpfigkeit der Symbole als ans Sinnliche gebundene und darüber hinausweisende« formuliert,51 dann halte ich diese Erklärung nicht für falsch, wohl aber für zu kurz greifend. Auch die beiden erwähnten neueren Studien zu Cassirer versuchen sich an einer Erklärung des Spezifischen der Prägnanz bzw. symbolischen Prägnanz: Nach Catia Rotolo bezeichnet der Ausdruck der Prägnanz »die[…] ideale Durchdringung des Wahrnehmungsphänomens mit der Bedeutung.«52 Viola Nordsieck faßt, ausgehend von ihren prozeß- und ereignistheoretischen Überlegungen, die Bestimmung des Begriffs Prägnanz wie folgt zusammen: »Prägnanz V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead, a. a. O., 130. 50 Ebd., 134. 51 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 924. »Durch die jeweilige ›Sicht‹ ist eine Erscheinung also sinnhaft; die Welt erscheint nie in Empfi ndungsdaten. ›Sinn‹ ist das ›Urphänomen‹, und Sinnlichkeit nichts, dem wir in seiner naturhaften Form nahe kommen. Cassirer weist daher jede Frage nach dem ›materialen Apriori‹ ab. Sein Apriori ist die symbolische Prägnanz.« – Ebd., 925. 52 C. Rotolo, Der Symbolbegriff im Denken Ernst Cassirers, 120. »Symbolische Prägnanz ist eine Antwort auf die Dualität durch sprachliche und mathematische Differenzierung.« – Ebd., 121. 49

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enthält [bei Cassirer – C.M.] also den dreifachen Sinn der Formung als Gestalt, als strukturelle Bedingung der Veränderung, und als Veränderung selbst.«53 Nordsieck meint zudem, daß für Cassirer »drei Bedeutungen [von Prägnanz – C.M.] – die der Wirksamkeit des Unbestimmten zur Formbildung, die des Einschneidens oder Einprägens von Spuren, und die des anschaulichen Hervortretens der Form – eine Rolle spielen und mit einander in intensivem Zusammenhang stehen, so daß der Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹ immer das Ereignis des Übergangs von der latenten Wirkung zum aktuellen Hervortreten betrifft , und zwar durch Wechselwirkung mit den virtuellen, präformativen Strukturen.«54

Die Grundlagen für ihre Deutung des Prägnanzbegriffs als Ereignis weist sie in einer Gefühlstheorie auf, wonach «Sympathie […] die intensive Relation der Spannungsbewegung« ist und den »Übergang zur Prägnanzbildung« schafft .55 Nach diesen einführenden und allgemeinen Überlegungen bzw. Bemerkungen zum Begriff symbolischer Prägnanz wenden wir uns nun den beiden nachgelassenen Texten von 1926/27 zu, um mit ihrer Hilfe diesen Begriff und den durch ihn thematisierten Zusammenhang von Sinnerfüllung und verkörpernder Sinnlichkeit noch etwas tiefgründiger zu bestimmen.

V. Nordsieck, Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead, a. a. O., 275. 54 Ebd., 274. 55 Ebd., 281. Der »Begriff der Prägnanz« enthalte »sowohl den [poetischen – C.M.] Ausdruck selbst, das Hervortreten und sich Abgrenzen des Wirklichen im Ausdruck, als auch die Vorbereitung und Andeutung des Wandels […]: die Schwangerschaft , engl. ›pregnancy‹.« (Ebd., 300) »Erst die Formen des Ausdrucks, die sich um den Kern der Prägnanz herum bilden und gliedern, machen die Prägnanz zur symbolischen Prägnanz. Prägnanz als Übertragung wird durch poetische Ausdrucksformen angemessen erfaßt, weil es sich um die Wirkung einer poetischen Kraft handelt: der Entstehung von Neuem.« (Ebd., 301) »Wenn Konkretion Ereignis ist, dann ist Strukturentstehung ein Werden zur Form, ein Kontinuum der Strukturierung.« (Ebd., 302) »Echte Medialität ist das Dritte als Gemeinsames von Sein und Werden, nicht als ihr Produkt oder Prinzip.« (Ebd., 304) »Die Kontingenz dieser Bereiche [d. h. Sein und Nichts, Wahres und Falsches – C.M.] erschließt sich durch die intensive Relationalität der Gestaltung selbst, ihre ›immanente‹ Gliederung für die Erfahrung. Die Bedeutung aber, die ihnen im Verhältnis zu einander von der denkenden, reflektierenden Erfahrung zugeschrieben wird, wird zur Basis für die Erkenntnis. Darin liegt […] die schöpferische Ordnungsstruktur der Prägnanz.« (Ebd., 305) 53

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3. Symbolische Prägnanz als die Urschicht symbolischer Gestaltung Das Einstiegsproblem, welches Cassirer im Text »Praesentation und Repraesentation« (1927) beschäftigt, ist der Tatbestand, daß sich »s c h o n   [!] in der Sphaere der sinnlichen Wahrnehmung« verfolgen lasse, wie sich »der Übergang vom blossen ›Sein‹ der sinnlichen Wahrnehmung zu ihrer ›Bedeutung‹ […] vollzieht«, kurz: »daß die Wahrnehmung sich mehr und mehr mit bedeutungsmäßigem Gehalt erfüllt«.56 Das ›schon‹ deutet m.E. darauf hin, daß das hier beschriebene Bedeutungsproblem aus einer anderen Sphäre, offensichtlich der geistigen, bereits bekannt ist. ›Schon‹ die Wahrnehmung bildet – entgegen aller sensualistischen Theorien – ihre Sprache und Grammatik, ihren Logos aus. Mit diesem bedeutungsgesättigten Charakter erlangt das für die symbolische Prägnanz entscheidende Wahrnehmungsbewußtseins eine s y m b o l i s c h e Dimension, ist ihr das Korrelationsverhältnis von S i n n l i c h e m – als Sinn-Träger bzw. SinnVerkörperer – und S i n n , der »nur am ›Sinnlichen‹ […] ›erscheinen‹« kann,57 eigen. Im Text handelt Cassirer diese Thematik unter dem Titel bzw. Stichwort »Der Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung« ab.58 Offensichtlich sollte so auch ursprünglich das I. Kapitel des Zweiten Abschnittes (»Der Aufbau der anschaulichen Welt«) in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) lauten, in der publizierten Fassung trägt es jedoch den vorsichtigeren Titel »Der Begriff und das Problem der Repräsentation«. Dieser Titel umschreibt das aufgeworfene Problem zwar auch, verzichtet jedoch auf die eigentliche Pointe, den symbolisch-prägnanten Charakter der sinnlichen Wahrnehmung. Wenn Cassirer den ideellen ›Symbolwert‹ der Wahrnehmung auch als Phänomen des »Hinauswachsens, Hinausweisens jeder Wahrnehmung über sich selbst« hin auf »eine Totalität, die sich unmittelbar in ihr darstellt«,59 bezeichnet, dann hat er neben einem Merkmal des Sy m b o l i s c h e n ebenso drei bereits benannte Merkmale von symbolischer P r ä g n a n z aufgeführt. Der Terminus ›Praegnanz‹ wird im nachgelassenen Text ebenfalls an Hand des Merkmals der Bezogenheit des einzelnen Wahrnehmungserlebnisses auf ein »charakteristisches Sinn-Ganze« – mit Blick auf Leibniz auch als Eingebettet-Sein ins Sinn-Ganze, als ein Schwanger-mitdem-Ganzen-Gehen (praegnans totius) erläutert. 60 Zudem betont Cassirer E. Cassirer; »Praesentation und Repraesentation« (1926/27) in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ a. a. O., 3. 57 Ebd., 6. 58 Ebd., 3, 7, 11, 18, 24, 35, 49. 59 Ebd., 7. 60 Sie dazu auch Anm. 39 im vorliegenden Beitrag. 56

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immer wieder, daß Prägnanz notwendig »zum Wahrnehmungscharakter« gehört, daß ›schon‹ der Wahrnehmung eine urphänomenale »Sinnpraegnanz« eigen ist. Zur Erklärung weist Cassirer darauf hin, daß hierbei »jedes zeitlich-Momentane das ›Ganze‹ irgendwie darstellt«, indem es dieses u n m i t t e l b a r »mit-in sich« schließt. 61 Mit anderen Worten, das Sinnganze offenbart sich unmittelbar in der einzelnen Wahrnehmung, die in dieses eingebettet ist. 62 Damit finden die vier von uns an Hand der bekannten Definition im V. Kapitel der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) herausgearbeiteten Merkmale, noch ohne das der Ausweitung auf alle Bildungsrichtungen von Gestalt und Sinn, ihre Vorformulierung in diesem das Kapitel vorbereitenden Text. Das Eingebettetsein des Sinnlichen der Wahrnehmung ins ideelle Sinnganze, das sich wiederum am individuellen Sinnlichen unmittelbar offenbart, macht – so meine These – ein wesentliches Merkmal symbolischer Prägnanz aus, wobei es für den Prägnanzcharakter sowohl auf der Wahrnehmungsebene als auch – in abgewandelter Weise – für den Prägnanzcharakter der geistigen symbolischen Formen steht. Dabei scheinen die Termini P r ä g n a n z und P r ä g u n g von Cassirer weitgehend synonym gebraucht zu werden, heißt es doch in Bezug auf Sprachlaute bzw. beliebige Zeichen, daß, »wo einmal ein Ganzes sinnmäßig gegliedert [ist] und die einzelnen ›Glieder‹ als Träger, als Symbole, Repaesentanten dieses Gesamt-Sinnes erfaßt, zu solchen Symbolen geprägt [sind], [sich] diese Prägung auch [erhält – C.M.]«. 63

Die Glieder bzw. Symbole »bedeuten jetzt nichts mehr an sich, sie fungieren, wo sie auch auftreten, wiederkehren mögen als Ausdrücke dieses Gesamtsinnes«. 64 Hier angelangt, stoßen wir im nachgelassenen Text auf ein gewisses Interpretationsproblem: Cassirer versteht die prägnante Wahrnehmung nämlich einmal als ursprünglich ›integrierte‹, d. h. als eine solche, die noch nicht »in verschiedene Bedeutungsk r e i s e ([d. h.] in die Sphäre des ästhetischen, mythischen, theoretischen oder religiösen ›Sinnes‹)« eingeordnet ist, sondern noch als sogenannte »Voll-Wahrnehmung« fungiert, in der E. Cassirer; »Praesentation und Repraesentation« (1926/27) in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ a. a. O., 7. 62 Ebd., 8. 63 Ebd., 38. 64 Ebd., 38. Unter Umständen bezieht sich der Terminus Prägung stärker auf geistige Symbole, während der der Prägnanz mehr auf die sinnlichen Wahrnehmungserlebnisse bezogen bleibt. 61

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all diese Bedeutungskreise »selbst noch ganz undifferenziert ineinanderliegen«, dabei aber doch schon irgendwie aufweisbar, benennbar sind. 65 Damit scheint das Prägnanzproblem zunächst von dem der symbolischen Formen ›entkoppelt‹, was ein weiteres Interpretationsproblem aufwirft. Wenig später jedoch ist ausdrücklich von der ursprünglichen Einordnung jeglicher Prägnanz in Sinnkomplexe die Rede, deren Beschreibung als mythische und ästhetische Sinnkomplexe die eben vorgenommene Charakterisierung der »Voll-Wahrnehmung« wieder aufzuheben scheint. Allerdings, und dies deutet eine Lösung an, unterscheidet Cassirer eine »u nt e r s t e Stufe der Gestaltbildung (Symbolbildung)« von den »h ö h e r e n geistigen Formen des Symbols (Sprache, Mythos)«. 66 Im Übrigen rehabilitiert »auch Plessner die Welt des Gefühls [und] des Mythos.«67 Mit der Frage nach der symbolischen Prägnanz als dem Symbolcharakter sinnlicher Wahrnehmung bewegen wir uns ganz offensichtlich auf dieser ›untersten Stufe‹. Auf ihr fungiere die symbolische Funktion als »eine Urfunktion im Aufbau des Bewusstseins«, als »Funktion des ›Hinweisens‹ und ›Bedeutens‹«, was jegliche Gliederung sowohl des Bewußtseins (subjektive Richtung) als auch des Daseins (objektive Richtung) samt ihrer Einheits-Konstitution erst ermögliche. 68 Diese symbolische Urfunktion, so Cassirer, bildet die »Urschicht« aller »symbolischen Gestaltung (in Sprache, Kunst, Mythos, Theorie)«, d. h. aller symbolischen Formen. 69 Sie vollzieht sich entweder a u c h – aber nicht nur –auf der Wahrnehmungsebene, oder aber a u s s c h l i e ß l i c h im Aufbau unserer Wahrnehmungswelt. Da Cassirer betont, daß das damit gemeinte Ineinander von Sinn, d. h. das »durch dieses Unmittelbare Ve r m i t t e l t e«, und Sinnlichkeit, d. h. »das Unmittelbar-G e g e b e n e« ,70 im symbolischen Zeichen bzw. zeichenhaften Symbol hinsichtlich des jeweiligen Primats unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob es sich um das g e i s t i g e oder um das s i n n l i c h e Bewußtsein handelt,71 scheint die erste Lesart die angemessenere zu sein. Auch bei Plessner wird neben der unmittelbaren Darstellung des Geistigen bzw. Ebd., 8. Ebd., 45. 67 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 920. 68 E. Cassirer; »Praesentation und Repraesentation« (1926/27) in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ a. a. O., 11. Nordsieck hatte den Symbolprozeß als »Prozeß der kontinuierlichen (Re-)Strukturierung der Wirklichkeit« gedeutet, siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 32. 69 Ebd., 11. 70 Ebd., 15. 71 Ebd., 12. 65

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Ideellen im Sinnlichen auch der bei Cassirer betonte korrelative, symboltypische Charakter zwischen v e r s i n n l i c h t e m Sinn und s i n n h a f t e r Sinnlichkeit thematisiert. Lassen sich doch manche Stellen in der Ästhesiologie des Geistes so verstehen, als hätten wir es in der Sphäre der Kultur (z. B. der Kunst) mit »Ausdrucksfeldern« des v e r m i t t e l t e n Geistes zu tun, in denen künstlich ein »Sinn […] verleiblicht« wird bzw. in denen ein »Kunstwerk in der Symbolik seiner Formen« gestaltet wird, während der Leib in seinen Haltungen eine »u n m i t t e l b a r e Ausdrucksfähigkeit« von Geist bzw. Sinn besitzt, »welcher eine gleich u n m i t t e l b a r e […] Auffassungsgabe des Geistes für den Ausdruckssinn seiner Gestik, Mimik, Physiognomik notwendig entspricht«.72 Wenn aber auch der »Modus des Hörens«, als qualitatives Apriori, »u n m i t t e l b a r e s Sinnverständnis in physischen Daten«, die von »seiner Modalität sind«, garantiert,73 dann scheint dieser Modus als einer, der wie Cassirers Ausdrucksfunktion, noch nicht die eigentliche geistige Sphäre der Kultur ausmacht. Den programmatischen Ausdruck ›Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung‹ nimmt Cassirer auch im zweiten nachgelassenen Text, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27), auf und verbindet ihn mit dem Begriff der Prägnanz, indem er beide Begriffe sich zunächst gegenseitig erklären läßt: »Wir führen, um den Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung zu bezeichnen, den Terminus der ›Praegnanz‹ ein. Eine Wahrnehmung ist praegnant […] durch den Bedeutungsgehalt, den sie in sich schließt.«74

Die symbolische Prägnanz bzw. der prägnante Symbolcharakter der Wahrnehmungserlebnisse wird anschließend genauer erläutert: »Es kommt ihr [d. h. der symbolisch-prägnanten Wahrnehmung – C.M.] neben ihrem unmittelbaren [sinnlich-anschaulichen Einzel-]›Inhalt‹ eine bestimmte ›Funktion‹ zu, einen [geistigen – C.M.] ›Sinnkomplex‹ als Ganzes darzustellen, zu symbolisieren, dem Bewußtsein unmittelbar als solchen gegenwärtig zu machen.«75

H. Plessner, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS, Bd. III: Anthropologie der Sinne, a. a. O., 288. 73 Ebd., 290. 74 E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27) in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ a. a. O., 51. 75 Ebd., 51. 72

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Hier wird zum Einen deutlich, daß Cassirer Symbolisierung auch als Darstellung, Repräsentation verstanden wissen will. Symbolwert und Symbolisierung erscheinen als Termini mit teilweise divergierenden Bedeutungen, wobei Symbolwert für Sy m b o l i s c h e s stehen dürfte. Zum Anderen tritt noch einmal klar hervor, daß Cassirer das Spezifische der symbolischen Präg nanz der Wahrnehmung – im Unterschied zu den höheren geistigen symbolischen Formen – in der unmittelbar-intuitiven Vergegenwärtigung und Offenbarung des Ideellen im Sinnlich-Anschaulichen sieht. Der Begriff der Prägnanz bezieht sich also auf den Symbolcharakter der Wahrnehmung, und nicht auf den der symbolischen geistigen Gebilde, obwohl auch für diese eine gewisse Weise der Prägnanz zu gelten scheint. Der die sinnliche Wahrnehmung charakterisierende Vorgang der Darstellung bzw. Symbolisierung wird im Weiteren durch die Wechselbeziehung der Termini Präsentation, d. h. »unmittelbar gegenwärtige Erscheinung«, und Repräsentation, d. h. »Funktion, Nicht-Gegebenes zu vergegenwärtigen«, konkretisiert,76 wobei für Cassirer »im wirklichen Leben des Bewusstseins […] die Repraesentation […] das E r s t e , Un m i t t e l b a r e [ist]«.77 Symbolische Prägnanz, so fassen wir zusammen, ist die in der sinnlichen Wahrnehmung aktive Symbolfunktion, die ein ideelles oder geistigen Ganzes, eine Ordnung, unmittelbar, ohne Vermittlung, anschaulich zur Darstellung und damit zum Offenbarwerden bringt. Dies scheint die Symbolfunktion auf den h ö h e r e n , g e i s t i g e n Stufen des symbolischen Gestaltens (bzw. der Gestaltungen), das sich ebenfalls in ganzheitliche Sinnkomplexe eingefügt vollzieht, n i c h t mehr zu vermögen.78 Dies unterstreicht eine weitere Formulierung: »Alle ›Praegnanz‹ bedeutet letzten Endes ein a n s c h a u l i c h e s Enthaltensein des ›Ganzen‹ in jedem einzelnen ›Moment‹ [der Wahrnehmung, welches das Ganze – C.M.] unmittelbar symbolisch lebendig [macht]«.79

Ebd., 51. Ebd., 56. 78 Zum Verhältnis von geistigen symbolischen Formen und symbolischer Prägnanz, an denen gleichsam die »Funktion des Symbolischen« beteiligt ist, bemerkt Nordsieck: »Prägnanzbildung ist das gemeinsame, mediale Zentrum dieser konzentrischen Kreise«, die von der Funktion des Symbolischen »durch unsere Wirklichkeit« gezogen werden. »Natürlich geht der Formbegriff bei Ernst Cassirer verschiedentlich über die symbolische Prägnanz hinaus.« – V. Nordsieck, Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead, a. a. O., 289. 79 E. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27) in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ a. a. O., 81. 76

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›Symbolisch‹ dürfte hier für ›darstellend‹ stehen, wobei sich ein ideelles Ganzes unmittelbar, und nicht mittelbar, in sinnlicher Verkörperung dargestellt findet. Auch in diesem Text wirft die Aussage Cassirers, wonach die »u nt e rs t e Stufe der Gestaltbildung (Symbolbildung)«, d. h. die, auf der sich die Prägnanz der Wahrnehmung aufweisen läßt, bereits ein Berücksichtigen und Unterscheiden »einzelner besonderer Richtungen« voraussetzt, 80 die Frage auf, wie diese sich mit der bereits erwähnten Idee einer ›integrierten‹ Wahrnehmung verträgt. Nach all dem Dargelegten ist hier wohl nicht die Rede von unterschiedlichen Richtungen (Strukturgesetzen) der ›Energie des Geistes‹ bzw. der höheren geistigen Symbolbildung, die die symbolischen Formen konstituieren. Verbindet doch Cassirer den Begriff der urphänomenalen »Funktion der Praegnanz«81 mit der als Urschicht gedeuteten symbolischen F u n k t i o n innerhalb der Wahrnehmungserlebnisse, und nicht mit den geistigen symbolischen F o r m e n der Kultur, die als Zeichensysteme allerdings auch einen konkreten Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit realisieren. Obwohl offenbar ebenfalls auf dieser Ebene bestimmte Züge von Prägnanz, z. B. den Bezug des einzelnen Symbols auf das Sinn-Ganze, aufweisbar sind. Irritierend wirkt hierbei auch nicht die Aussage, daß jede Wahrnehmungsprägnanz »immer eine bestimmte Richtung voraus[setzt] – eine spezifische Relation, innerhalb derer sie sich bewegt«, zu der jeweils ein »sie charakterisierender Relations-Index« gehöre, weshalb wir es also mit je »besonderen Weisen der ›Praegnanz‹« der Wahrnehmung zu tun haben. Fragwürdig erscheinen vielmehr manche der Weisen bzw. Richtungen, die Cassirer dann aufzählt: »räumliche und zeitliche Praegnanz, theoretische [!] und aesthetische [!] Praeganz«. 82 Auf den ersten Blick hebt er damit die Unterscheidung niederer, sinnlicher und höherer, geistiger Symbolbildung wieder auf, so daß die ganze Charakterisierung sich unisono scheinbar auch auf die geistigen symbolischen Formen als ganzheitliche Sinnordnungen angewendet findet. Dies würde aber dem entscheidenden Merkmal symbolischer Prägnanz widersprechen, nämlich dem, wonach ideelle Bedeutungen, die uns grundsätzlich nur vermittelt zugänglich sind, sich hier intuitiv-unmittelbar in sinnlicher Verkörperung darstellen. 83 Ebd., 51. Ebd., 52, 54. 82 Ebd., 52. 83 Cassirer weist zudem darauf hin, daß es innerhalb einer solchen Ordnung noch zusätzlich Unterordnungen, Richtungen, Modi gibt, wie z. B. »innerhalb der theoretischen Sphäre« die Ding-Prägnanz, Eigenschaft s-Prägnanz etc. Wir haben »erstens« die Region, die Dimension des Sinns bestimmt, z. B. die Region des Theoretischen, »dann […] giebt innerhalb des Gebiets der theoretischen Erkenntnis jede Kategorie, jede Weise der 80 81

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Wir haben uns also zu fragen, ob Cassirer, wenn er die möglichen »Modi der Praegnanz« in Eins setzt mit den verschiedenartigsten ›Kategorien‹ »der symbolischen Formung überhaupt«, die symbolische Prägnanz als Urfunktion mit all den von uns herausgearbeiteten Merkmalen auch auf der Ebene der symbolischen Formen verortet, und wenn ja, wie. Bei wohlwollender Interpretation erweist sich, wie bereits angedeutet, der Terminus symbolische F o r m u n g als grundlegender und breiter als der Terminus symbolische F o r m . Symbolische Prägnanz bezieht sich offenbar auf den Symbol- und Darstellungscharakter jeglicher sinnlichen Wahrnehmung, jeglicher niederen sinnlichen Formung, und fundiert damit jegliche kulturelle symbolische Form. Diese wird jeweils durch eine konkrete ›Energie des Geistes‹ aufgebaut, ihr Strukturgesetz wird von ihren jeweiligen Symbolen jedoch nicht mehr unmittelbar-intuitiv zur Darstellung gebracht. Symbolische Prägnanz in der vollen Bedeutung des Begriffs kann folglich nicht im Bestand der einzelnen geistigen symbolischen Formen aufgewiesen werden. Als sinnlich-perzeptive Stufe einer jeden symbolischen Form ragt der jeweilige ornamenthafte, geometrische, theoretische, ästhetische etc. Modus der Prägnanz, ebenfalls die Prägnanzmodi innerhalb dieser Grundmodi, allerdings ins Gebiet der höheren geistigen Formungen hinein. Die Rede von den »verschiedenen Dimensionen (Regionen) des Sinns«, in denen Prägnanz auftritt, scheint also entweder ornamenthafte, geometrische, theoretische, ästhetische Wahrnehmungsrichtung zu meinen, 84 oder die geistigen symbolischen Formen, dann aber ohne intuitiv-unmittelbare Weise der Darstellung. Es ist wohl nicht zu leugnen, daß die Cassirersche Terminologie, die gelegentlich von Kant und Husserl entlehnt scheint, sich nicht immer eindeutig und klar erschließt. So trägt für Cassirer symbolische Prägnanz bzw. symbolisch-prägnante Auffassung, wie schon betont, einen s i n n l i c h e n , i nt u i t i v e n Zug (»S e h e n d - Meinen«), meint sie keinen rein g e i s t i g e n Vorgang (»Ur t e i l e n d -Meinen«). 85 Wenn Cassirer folglich z. B. sagen würde, das »Charakteristische der ›Praegnanz‹« beruht auf einem symbolischi nt u t i v e n Prozeß, keineswegs auf »einem [bloßen, nicht-symbolischen] Urteils- und Schlußprozeß«, 86 dann wäre dies eine eindeutige und klare Aussage, gibt es doch auch n i c h t-i nt u i t i v e symbolische Denkprozesse. Da er aber notiert, das »Charakteristische der ›Praegnanz‹« beruhe auf Verknüpfung auch ihre besondere Praegnanz [ab]: […] räumliche Praegnanz, zeitliche Praegnanz, Ding-Praegnanz, Eigenschafts-Praegnanz«. – Ebd., 61 f. 84 Ebd., 62. 85 Ebd., 65 f. 86 Ebd., 69.

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

»einem echt s y m b o l i s c h e n Prozeß«, also auf echter Darstellung, bleibt die Aussage dunkel und unklar, ignoriert sie doch die eben erwähnte Unterscheidung intuitiver und nicht-intuitiver symbolischer Erlebnisse. Eindeutig und klar ist dagegen der Hinweis darauf, daß wir unter der Bedingung symbolischer Prägnanz die Bedeutung intuitiv und nicht etwa diskursiv erfassen. 87 Das intuitive Haben der Bedeutung gilt aber, wie eben ausgeführt, nicht für jegliches symbolisches Denken, Auffassen; Prägnanz bezeichnet nur einen bestimmten Typus »symbolischer Funktion«, steht folglich nur für die »s y m b o l i s c h -i nt u i t i v e Repraesentation eines Zusammenhanges«, nicht für die ›symbolisch-geistige‹. Diese Einsicht wird etwas verdunkelt durch das Faktum, daß Cassirer die symbolische Prägnanz in der Auseinandersetzung mit ›falschen‹ Deutungen des Zusammenhangs von Sinnlichem und Sinn lediglich gegen eine »bloss assoziative ›Verknüpfung‹« und gegen einen »diskursiven, auf Schlüssen beruhenden ›Zusammenhang‹«, also nicht-symbolische Denkprozesse, abgrenzt. 88 Bei symbolischer Prägnanz stellt sich grundsätzlich »im anschaulichen Inhalt selbst […] ein anderes (ein Gesamtkomplex) u n m i t t e l b a r dar[…]«. 89 So wird z. B. das Dingganze, bei vorliegender Prägnanz, im einzelnen wahrgenommenen Ding-Eigenschafts-Moment »verkörpert«, nicht etwa analytisch erschlossen, weshalb es das Dingganze »symbolisch-integrativ und symbolischpraegnant [giebt]«.90Wenn Cassirer vom »s y m b o l i s c h - p r a e g n a nt e n ›Enthaltensein‹« des Repräsentativen im Präsentativem sprechen kann,91 muß es also neben nicht-symbolischen Denkakten auch nicht-prägnante symbolische Auffassungs- und Verstehensweisen geben. Letzteres muß dann für die Symbolisierungsprozesse in den »höheren geistigen Formen des Symbols« gelten. Diese Einsicht schafft allerdings die terminologische Schwierigkeit, daß der Begriff der Prägnanz, um Äquivokationen zu vermeiden, nicht geeignet wäre, bestimmte prägnante Züge dieser »Formen des Symbols« zu bezeichnen, denen das Merkmal der intuitiven Unmittelbarkeit der Darstellung nicht eigen ist und nicht eigen sein kann. Dagegen verträgt sich Cassirers relationistischer Ansatz – die Relationen sind primär gegenüber den Relata –, angewandt auf das Thema der ganzheitlichen prägnanten Sinngefüge sowohl mit der sinnlichen Ebene als auch der der geistigen Formen. Die Einheit solcher Sinngefüge sei »als solche ursprünglich, […] ›früher‹ als die Elemente selbst«. Darauf ruhe letztlich 87 88 89 90 91

Ebd., 69. Ebd., 69. Ebd., 69. Ebd., 76. Ebd., 73.

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das »Gesetz der (symbolischen) Praegnanz«.92 Dieses Gesetz löse »das Geheimnis des symbolischen ›Praegnanz‹ der Teile«, so Cassirer resümierend, denn »diese ›Praegnanz‹ ist […] der Geburtsbrief, durch den sie als aus einer bestimmten Sphaere des Sinnes ›stammend‹ gekennzeichnet sind«.93 Die Aussage, das Gesetz der Prägnanz gelte »nicht nur für das t h e o r e t i s c h e Gebiet, sondern für a l l e Gebiete der geistigen ›Formung‹ überhaupt«,94 ist folglich entweder ohne das Merkmal der intuitiven Unmittelbarkeit der Darstellung gemeint, oder besagt, daß das Gesetz der Prägnanz ausschließlich für die Wahrnehmungs- und Vorstellungsebene »a l l e r Gebiete« gilt. Die sich anschließende Rede von mythischer, theoretischer, ästhetischer Prägnanz als »spezifischen ›Praegnanzen‹«95 scheint jedenfalls »das charakteristische Erlebnis der [jeweiligen] Wahrnehmungspraegnanz« zu meinen und schließt das erwähnte Merkmal der Intuitivität ein. Wir sprechen also einmal von der symbolisch-i n t u t i v e n Prägnanz, ein andermal von einer symbolisch- g e i s t i g e n Prägnanz zweiter Ordnung sozusagen, ohne intuitiv-unmittelbare Darstellung des Sinns durch das Zeichen / Symbol. Deshalb kann Cassirer am Ende des zweiten Textes formulieren, das Gesetz der Prägnanz, das wir aus der Sphäre der Sprache kennen, bewähre sich »seinerseits auch [!] im Aufbau der Wahrnehmungswelt«, bzw. ermöglicht »auch erst [!] die ›syntaktische‹ Gliederung der Wahrnehmungswelt«. Im Aufbau der Wahrnehmungswelt bzw. bei ihrer syntaktischen Gliederung tritt das Merkmal der intuitiv-unmittelbaren Darstellung hinzu, weshalb die Welt der Wahrnehmung ihre Auszeichnung, diejenige Sinnsphäre zu sein, in der der Symbolcharakter als symbolische Prägnanz ›zu Hause‹ ist, behält. Mir scheint, um ein Resümee zu wagen, daß Cassirer im V. Kapitel des Dritten Teils der Philosophie der symbolischen Formen den Charakter der anschaulichen Unmittelbarkeit, der in den nachgelassenen Texten bei der – je spezifischen – symbolischen Prägung der einzelnen Erlebnisse die präsente Repräsentanz des ganzheitlichen Sinngefüges in und durch sie betont, weitgehend minimiert. Und dies tut er sowohl zugunsten eines stärkeren Augenmerks auf die, wie wir sie genannt haben, Prägnanz zweiter Ordnung, d. h. auf die ›Prägnanzereignisse‹ (Nordsieck) in der Sphäre der höheren geistigen Sinnformen, als auch zugunsten eines stärker betonten, wohl Husserl entlehnten Korrelationsgedankens zwischen Sinn und Sinnlichem,96 der Ebd., 81. Ebd., 83. 94 Ebd., 77. 95 Ebd., 78 f. 96 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 230 f., 232 f. 92 93

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

aber das Wesen der symbolischen Prägnanz nicht so klar und differenziert freilegt, wie es die beiden nachgelassen Texte erwarten lassen. Kurz: Cassirer läßt in der schließlich publizierten Fassung seiner Theorie symbolischer Prägnanz der Wahrnehmung das entscheidende Merkmal intuitiv-unmittelbarer Darstellung zugunsten anderer zurücktreten, was seinen Ausführungen im V. Kapitel – u. a. in Bezug auf die Theorie der symbolischen Formen – eine manchmal schwer faßliche Tönung gibt. Worauf Cassirer nirgends genauer eingeht, ist die Frage, wie unser Wahrnehmen sich konkret in die eine oder andere »praegnante Auffassung« versetzt bzw. versetzt findet? Geschieht dies willentlich-bewußt, unwillentlich-spontan, auf Grund äußerer Einflüsse oder gar zufällig, unbemerkt? Auch denkt er nicht systematisch darüber nach, ob diese vielfältigen Sinngefüge, die wir beim Wahrnehmen in Anspruch nehmen, etwas mit unserer körperlichen Konstitution, mit unserer Sozialisierung und Kulturalisierung zu tun haben, ob sie universaler oder regionaler Natur sind, usw.97 Plessner Ästhesiologie des Geistes richtet sich dagegen speziell, das hebt Heike Delitz hervor, auf »die Verschränkung des Geistes mit seinen körper-sinnlichen Bedingungen.«98 In der Folge gelange Plessner zu der These, »Geist und Körper [seien] in den Sinnen verschränkt«.99 Seine These von der »Konformität der [natürlichen] Sinne zu den uns möglichen Arten der Sinngebung« betont auf ihre Weise, daß »der Mensch … nicht völlig aus der Natur herausgesetzt [ist]«,100 was im Übrigen auch Cassirer immer einmal wieder unterstreicht.101 Auch Ansätze zu einer solchen Fragestellung sind aber wohl vorhanden: siehe u. a. im vorliegenden Band den Beitrag »Das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen. Versuch einer Annäherung«, 511–526. 98 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 918. 99 Ebd., 919. »Die Vielfalt des Verstehens ist nur aus der sinnlich-leiblichen Dimension zu verstehen.« (Ebd., 927) »Plessner folgt hier der anti-idealistischen Phänomenologie in der Abweisung der sich im Subjekt allein vollziehenden Konstitution.« (Ebd., 928). Oswald Schwemmer wiederum hält Cassirers Konzept symbolischer Prägnanz »weder [für] idealistisch – durch die ausschließliche Konzentration auf die geistigen Inhalte – noch [für] materialistisch – durch die Reduktion der Inhalte auf ihre materielle Beschaffenheit«. – O. Schwemmer, Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, 109. 100 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 920. 101 Es fi nden sich Belegstellen dafür, daß sich Cassirer durchaus bewußt ist, daß trotz des kulturellen Symbolisierungsprozesses die alte Naturgebundenheit, die »das Leben aller Organismen beherrscht«, auch für den Menschen weiter bestehenden bleibt. (E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser, Frankfurt a. Main 1990, 49 [= ECW 23, 29 f.). Dieser vermag es nicht, »aus der Natur heraus [zu] treten und sich ihrem Sein und Wirken 97

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den Plessner von Delitz zugeschriebenen Kern der Idee, wonach »kulturelle Objekte dem konstituierenden Subjekt resonanzhaft entgegenkommen«,102 vermag ich bei Cassirer in seiner Theorie der Kulturobjekte, dargelegt u. a. in der Studie Zur Logik der Kulturwissenschaft (1942), durchaus vorzufinden, vielleicht weniger prägnant und grundsätzlich als bei Plessner.

[zu] entziehen«. – E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg, 381. 102 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005) 6, 928.

Symbolische Formen als Wissensformen

I. Der Begriff des Wissens – im Unterschied zum Glauben, Meinen oder Nichtwissen – ist nicht nur ein zentraler Terminus einer jeden philosophischen Erkenntnistheorie, sondern einer jeden philosophischen Theorie überhaupt. Edmund Husserl z. B., auf den sich Ernst Cassirer gern und häufig bezieht,1 bindet den Wissens- bzw. den für ihn gleichbedeutenden Erkenntnisbegriff in den Prolegomena zur reinen Logik (1900) eng an den Terminus der Wissenschaft und verbindet dies mit seiner phänomenologischen Wahrheitslehre: »Im Wissen besitzen wir die Wahrheit«! Die Wahrheit wiederum beruhe als ›absolute‹ auf der Evidenz, auf dem »unmittelbaren Innewerden« dessen, »daß ein gewisser Sachverhalt besteht oder nicht besteht«. Dies vorausgesetzt kann Husserl formulieren: »Soweit die Evidenz reicht, so weit reicht auch der Begriff des Wissens«.2 In etwas anderer, aber ebenfalls grundsätzlicher Weise ist auch die Philosophie Cassirers auf den Wissens- bzw. Erkenntnisbegriff gerichtet. Davon zeugt nicht zuletzt der vielfältige Gebrauch des Terminus ›Wissen‹ im ersten Band des Erkenntnisproblems (1906).3 Selbst nicht als Wissenschaft verstanden, das Faktum der Wissenschaft bzw. wissenschaft licher Urteile allerdings voraussetzend, 4 konzipiert CasSiehe dazu u. a. vom Verfasser, »Cassirer und die Phänomenologie Husserls. Inhaltliche Bezugspunkte, Kulturverständnis und Eigenheiten«, in: ders., Husserlsche Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, 2., stark erweiterte Auflage, Berlin 2016, 299–333. 2 E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I: Prolegomena zur reinen Logik (1900), in: Hua XVIII, Hrsg. von E. Holenstein, Dordrecht/Boston/Lancaster 1992, 27–29. 3 E. Cassirer, EP, Erster Band (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999; es fi nden sich u. a. folgende Ausdrücke: »theoretisches Wissen« (1), »reine Formen« des »Wissens« kontra »empirisches Wissen« (31), der Gegensatz von »Sein« und »Wissen« (86), »Verhältnis von Wissen und Glauben« (144), »Wissen von Tatsachen« (251), Wissen beginnt mit der Empfi ndung (272), »rein intellektuelles Wissen« (283), »physikalisches Wissen« (321), Wissen in Bezug auf das »Ideal des Erkennens« (338), »Wissen« als Erkenntnis (392), »Wissen« und »ethisches Handeln« (433), Wissen und sein Objekt (472), »gegenständliches Wissen« (481), »philologisches und geschichtliches Wissen« (491), »das Wissen und seine Bedingungen« (506). 4 Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft bei Cassirer ist eine Frage, die noch genauer aufzuklären ist. Was man aber sagen kann, ist, daß ihm von Anfang an Philosophie und Wissenschaft als zwei »gleich selbständige und unentbehrliche Sym1

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

sirer die Philosophie zunächst als »allgemeine Erkenntnistheorie«,5 die zwar in erster Linie auf die Modalität mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis fokussiert ist, dabei aber historische, kulturelle und soziale Bezüge bzw. Wandlungen mit in den Blick nimmt. 6 So entwickelt er in den beiden ersten Bänden des Erkenntnisproblems (1906/1907) ein Konzept epochaler Lebensordnungen, das neben den Bereichen der Kultur sowohl die Art der Lebensführung als auch die Art der politischen und sozialen Ordnung einer jeden markanten historischen Epoche thematisiert. Dabei ist Cassirer vor allem dem Wandel aller ›Lebens- und Lehrformen‹ in den epochalen Zeitaltern und ihren ganzheitlichen ›Lebensordnungen‹ auf der Spur, wobei der Wandel jeweils von einer neuen ›Denkart‹ in einem der Bereiche der kulturellen Totalität – d. h. der Lebensformen der Lebensordnung – initiiert wird. Es darf als ziemlich sicher gelten, daß Cassirer den Terminus der ›Lebensordnung‹ den Schriften Diltheys entlehnt hat, die sich mit dem Problem des geschichtlichen Bewußtseins befassen7, zumal er in ihnen auch den Gedanken einheitlicher »großer geschichtlicher Bewußtseinslagen« finden konnte. 8 Diese neue Denkart finde in einem jeweiligen ptome ein und desselben intellektuellen Fortschritts« des Erkenntnisproblems gelten. (Ebd., 8) In Kantischer Tradition stehend, gilt ihm die Philosophie als ›Instrument‹ des transzendentalen Denkens, das die Bedingungen der wissenschaft lichen Urteile zu analysieren hat, selbst aber keine wissenschaft lichen Urteile formuliert. Die Transzendentalphilosophie sucht dabei vor allem »diejenigen universellen Formelemente zu ermitteln […], die sich in allem Wechsel der besonderen materialen Erfahrungsinhalte erhalten.« (E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik [1910], in: ECW 6, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2000, 289 f.). Im Spätwerk, insbesondere im Zusammenhang mit seinen Studien zur Besonderheit der Kulturwissenschaften, deutet Cassirer Philosophie noch grundsätzlicher als kontemplative Formenschau, die diese Aufgabe erfüllt: »Aus dieser kritisch-transzendentalen Fragestellung entwickelt sich die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und auf ihr baut sie auf – sie ist reine ›Kontemplation‹, nicht einer Einzelform, sondern der Allheit, des ›Kosmos der reinen Formen‹ – und sie sucht diesen Kosmos auf die ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurückzuführen.« – E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K.Ch. Köhnke und O. Schwemmer, Hamburg 1995, 194 f. 5 E. Cassirer, »Vorwort«, in: PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, VII. 6 Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie, Wissenschaft , Wissenschaft sphilosophie. Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft«, 445– 464. 7 Siehe dazu Anm. 21 des vorliegenden Beitrages. 8 »Die großen geschichtlichen Bewußtseinslagen nach Zeit und Völkern äußern sich in der seelischen Gesamtverfassung; diese spricht sich in der Lebensanschauung aus, sie bedingt im Intellekt die Weltanschauung, im Willen das Lebensideal.« – W. Dilthey,

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typischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriff und seiner logischen Grundansicht ihren schärfsten Ausdruck. Sei es doch das in jeder Epoche treibende Erkenntnisideal, und das heißt das entsprechende neue Wissenschaftsideal, das die intellektuelle Gesamtentwicklung, einschließlich die Lebensführung und die politisch-soziale Ordnung, prägt. Hier finden wir auch den Gedanken, auf den wir anschließend noch einmal zu sprechen kommen, wonach diese ›Prägung‹ sich nicht allein in Philosophie und Wissenschaft , sondern in allen Inhalten und Richtungen der Kultur wie Recht, Sitte, Sprache, Kunst und Religion vollzieht, weshalb diese ›Kulturmächte‹ faktisch strukturell oder stilmäßig ›zusammenstimmen‹. Wenn Cassirer gleichzeitig die Behauptung aufstellt, daß jede einzelne ›Kulturmacht‹ einer eigenen Gesetzlichkeit entspringt, die wiederum durch das Epochenprinzip (Denkart) eine bestimmte Tönung, einen bestimmten Akzent erfährt, dann klingen hier bereits Motive der späteren ›Philosophie der symbolischen Formen‹ an. Beginnend mit dem bislang nicht publizierten Manuskript »›Philosophie des Symbolischen‹ (allgemeine Disposition)« vom Juni 1917 entwirft Cassirer die Ausweitung und Überschreitung der bislang prioritären naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und spürt in der Folge diversen ›Modalitäten geistiger Formung‹ nach. Die hieraus wenige Jahre später hervorgehende ›Philosophie der symbolischen Formen‹ menschlicher Kultur wird allerdings weiterhin auch als eine, wenn auch ›erweiterte‹, allgemeine Erkenntnistheorie verstanden. Dabei faßt Cassirer seine ebenfalls durch Hegel inspirierte Phänomenologie des naturwissenschaftlichen Denkens, niedergelegt im Dritten Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929) des Werkes Philosophie der symbolischen Formen, als die ›eigentliche‹ Erkenntnislehre auf, die sich bei aller Kontinuität von seiner ursprünglichen allgemeinen Erkenntnistheorie, entworfen in der systematischen Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik (1910), tiefgreifend unterscheidet. Nunmehr nimmt seine Philosophie nämlich »die verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt« in den Blick, insbesondere auch die mythische und sprachliche Form, weshalb die erweiterte allgemeine Erkenntnistheorie zu einer »›Formenlehre‹ des Geistes« überhaupt bzw. seiner mannigfache Funktionen werde.9

»Das geschichtliche Bewußtsein und die Weltanschauungen«, in: GS, Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Hrsg. von B. Groethuysen, Leipzig und Berlin 1931, 27. 9 E. Cassirer, »Vorwort«, in: PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., VII.

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Wenn es die Philosophie aber mit mannigfachen Formen bzw. Funktionen des kulturprägenden Geistes zu tun hat, dann liegt zumindest die Vermutung nahe, daß Cassirer nicht nur von diversen symbolischen Formen, sondern auch von pluralen ›Wissensformen‹ sprechen müßte, um die Eigentümlichkeit sprachlichen Wissens von der des religiösen, ästhetischen oder eben theoretisch-wissenschaftlichen Wissens zu betonen. Etwa in der Art und Weise, in der der ebenfalls phänomenologisch (Husserl) inspirierte Max Scheler in seiner Schrift Probleme einer Soziologie des Wissens (1924) von den »Formen« menschlichen Wissens spricht.10 Dabei unterscheidet er drei »oberste Wissensarten« oder »Typen menschlichen Wissens«, zu denen er die »religiöse Wissenssuche«, das »metaphysische Wissen« und das »theoretische« Wissen samt Technik zählt.11 In Kirche, Philosophie und positiver Wissenschaft sieht Scheler die jeweiligen »Organisationsformen des Wissens«,12 zwischen denen sich die Machtverhältnisse ständig verschieben. Für die drei grundlegenden, »durcheinander ganz unersetzlichen menschlichen Wissensformen«,13 die trotz beständiger Konkurrenz untereinander das wachsende »Gesamtwissen der Welt« bzw. das »menschliche Gesamtwissen« ausmachen,14 schließt Scheler eine »absolute geschichtliche Konstanz« aus,15 vielmehr behauptet er die grundsätzlich »soziale Natur alles Wissens«,16 wobei das Wissen selbst wieder auf die Gesellschaft einwirkt. Diesen Gedanken auf den Punkt bringend heißt es: »Alles gemeinsame Wissen um dieselben Gegenstände bestimmt […] das Sosein der Gesellschaft«, ebenso wie »alles Wissen […] aber auch durch die Gesellschaft und ihre Struktur bestimmt [ist].«17 In der Folge spricht Scheler immer wieder von den verschiedenen »Wissenskulturen« der Völker und Zeitalter.18 Während Schelers Verweis darauf, daß die drei grundlegenden Wissensformen ›durcheinander ganz unersetzlich‹ sind, also je eigenen Bildungsprinzipien folgen, uns durchaus an Cassirers Charakteristik der symbolischen Formen zu erinnern vermag, so scheint das Betonen von »gemeinsamen Strukturformen« bzw. »Stileinheiten, die zwischen den religiö-

M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens (1924), in: ders., Die Wissenschaft und die Gesellschaft , Leipzig 1926, VI. 11 Ebd., 64–67. 12 Ebd., 22. 13 Ebd., 64. 14 Ebd., 189. 15 Ebd., V. 16 Ebd., 1. 17 Ebd., 48. 18 Ebd., VI. 10

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sen Systemen und dem Bestande der anderen Wissenssysteme bestehen«,19 und die wiederum im sozialen Charakter allen Wissens ihren letzten Grund hätten, sich mit Cassirers Deutung der symbolischen Formen nicht recht zu vertragen. Schelers Rede von den »stil- und strukturanalogen Beziehungen zwischen Kunst (und den Künsten untereinander), Philosophie und Wissenschaften der großen Epochen«20 weckt allerdings Assoziationen mit Cassirers früheren, in den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems (1906/07) entwickelten philosophischen Theorie der epochalen ›Lebensordnungen‹, in denen alle kulturellen Äußerungen und praktischen Verhaltensweisen – die ›Lebensformen‹ – durch ein einziges ›Denkprinzip‹ bestimmt sind,21 auch wenn Scheler andere Determinationsquellen präsentiert. Auf dieses Konzept kommen wir im Anschluß noch einmal zu sprechen. Eine Fußnote im Vorwort von Schelers Schrift belegt jedoch, daß wir, wenn wir die Erwartung einer Thematisierung von verschiedenartigen Wissensformen durch Cassirer mit Blick auf Schelers ›wissenssoziologische‹ Lehre von den Wissensformen aussprechen, nicht völlig unbegründet verfahren. Nachdem er das Fehlen einer »umfassenden Entwicklungslehre des menschlichen Wissens« – bis auf die der Positivisten – bemängelt hat, stellt Scheler überraschend fest: »Nur Ernst Cassirer versucht neuerdings in seiner bedeutenden ›Philosophie der symbolischen Formen‹ (bisher Sprache und Mythos) etwas ähnliches. […] Der Kundige wird […] bemerken, wie in vielen und wesentlichen Punkten sich die Resultate Cassirers […] mit den meinigen decken.«22

Dieser behaupteten ›Deckung‹ der Resultate können wir beim Versuch, die Begriffe ›Wissen‹ und ›Wissensform‹ in Cassirers Werk aufzuklären, nicht weiter nachgehen, hier eröffnet sich aber ein vielversprechendes Feld für künftige Recherchen.23 Ebd., 67, 77. Ebd., 120, 216. 21 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die Philosophie der symbolischen Formen«, 55–74. 22 M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens (1924), a. a. O., VII Anm. 1. 23 Zum Einen ist grundsätzlich zu klären, ob Schelers ›wissenssoziologischer‹ Ansatz mit Cassirers Konzept einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ kultureller Sinnstiftung überhaupt harmoniert, und wenn ja, bis zu welchem Punkt. Hierzu wären nicht nur die Grundideen beider Konzepte zu vergleichen, sondern auch Cassirers vielfältige – oft zustimmende – Äußerungen über Schelers Philosophie einmal systematisch auszuwerten. Spezielle Vergleichstermini könnten u. a. die der Struktur und der Lebensordnung sein, hier springen zumindest Parallelen geradezu ins Auge. In dem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob Schelers ›wissenssoziologischer‹ Ansatz eben auch – oder vor allem – mit Cas19

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Die Frage, die wir zunächst zu klären haben, ist folglich die, ob und inwieweit Cassirer selbst von ›Wissensformen‹ spricht, da eine entsprechende Erwartung, wie oben angesprochen, nicht völlig unbegründet zu sein scheint. Die symbolischen Formen prägen bzw. repräsentieren geistigkulturelle Sinnordnungen, in denen konkrete Bewußtseinsgehalte einen je bestimmten kulturellen Auffassungssinn besitzen, der durchaus auch als eine bestimmte Form des Wissens um den jeweiligen Gehalt interpretiert werden könnte. Die Art und Weise, wie dieser jeweilige Auffassungssinn eines Inhaltes sich konstituiert und von einem anderen Sinn unterscheidet, führt Cassirer auf je eigentümliche Strukturgesetze und Bildungsprinzipien zurück. Gleichzeitig scheinen mit dem Terminus der symbolischen Formen die entsprechenden Kultursphären selbst gemeint zu sein, die durch je einen konkreten verstehbaren Sinn strukturiert sind und allen ihren Phänomenen diesen Sinn aufprägen, eben auch den sich in ihnen betätigenden Denk- und Bewußtseinsweisen. II. Eine Recherche des Cassirerschen Textkorpus‘ ergibt nun, daß dieser mit den beiden Termini ›Wissen‹ und ›Wissensform‹ offenbar in einem recht klar umgrenzten Sinne operiert, der eine Deutung der symbolischen Formen als Wissensformen auszuschließen scheint. Cassirer identifi ziert – nicht unähnlich Husserl – zunächst Wissen mit Erkenntnis und Erkenntnis mit wissenschaft licher Erkenntnis, wobei ›wissenschaft lich‹ de facto für ›naturwissenschaftlich‹ steht. Diese Identifizierung findet sich z. B. in der bereits erwähnten erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), deren »Untersuchungen« über die »Begriffsfunktionen« und deren Voraussetzungen sich ausschließlich an »das Ganze der exakten Wissenschaften« wenden.24 In dieser programmatischen Schrift sucht Cassirer die ›Logik‹ mathematischnaturwissenschaftlicher Erkenntnis bzw. Begriffsbildung philosophisch zu durchdringen und in einer allgemeinen Erkenntnistheorie zur Darstellung sirers philosophischer Theorie der epochalen ›Lebensordnungen‹ in Beziehung gesetzt werden kann, was natürlich auch die Frage aufwirft , inwieweit die beiden Konzepte Cassirers zusammenpassen. Schließlich wäre die Frage zu bedenken, ob Schelers Konzept der historischen und soziologischen Bedingtheit der Äußerungsformen bestimmter idealer Gehalte Cassirers Formenlehre des menschlichen Geistes und seiner verschiedenen Sinnordnungen ergänzen könnte. 24 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff . Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik (1910), in: ECW 6, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2000, VII.

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zu bringen, weshalb Kap. 4 »Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung« das Hauptstück – im Ersten Teil – ausmacht. Dabei gilt ihm diese Logik als eine, die lediglich an der F o r m des Wissens, nicht an seinem I n h a l t interessiert ist, eine Deutung, die sich auch im Werk der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ fortschreibt. Da werden einige im Textkörper aufweisbare Formulierungen genau in diesem Sinne gebraucht, z. B. wenn es im Beitrag »Die Begriffsform des mythischen Denkens« (1921/22) heißt, die »Reflexion auf die Form des Wissens« sei ebenso wie die »Reflexion auf die Form der Sprache« bereits ursprünglich in der Logik angelegt, wie schon deren Name bezeuge.25 Diesen Grundgedanken hatte Cassirer bereits einige Jahre zuvor im 3. Band des Erkenntnisproblems (1919/20) zum Ausdruck gebracht und dabei diesen, rein auf die Form bezogenen, Wissensbegriff auch in der Philosophie selbst ausgemacht: Nach Fichte gehe nämlich »die Transzendentalphilosophie […] lediglich auf eine bestimmte Wissensform, nicht auf einen abgesonderten, für sich bestehenden konkreten Wissensinhalt, der neben die bereits bekannten als ein neuer Gegenstand treten könnte.«26

Allerdings scheint Cassirer hier den Formbegriff nicht ausschließlich bzw. nicht vordergründig gegen den Begriff des Inhaltes einer Erkenntnis bzw. des Wissens auszuspielen, sondern meint mit ›Wissensform‹ auch so etwas wie das bereits erwähnte ›Denkprinzip‹, auch genannt ›Denkart‹, das bzw. die sich zu einer bestimmten Zeit in der Philosophie, Wissenschaft, Lebensordnung etc. durchgesetzt hat. Dies klingt z. B. an, wenn es im Beitrag »Wahrheitsbegriff und Wahrheitsproblem bei Galilei« (1937) mit Blick auf die Wandlungen in der Naturwissenschaft heißt: »Durch das Werk Galileis wurde nicht nur der Inhalt des physikalisch-kosmologischen Wissens vermehrt oder verändert; es war eine neue Wissensform, die hier auftrat. Nicht um einzelne Fakten, sondern um die letzten Maßstäbe des Wissens wurde hier gekämpft, und die prinzipielle Umwandlung dieser Maßstäbe ist es, was dem Werk Galileis seine unvergleichliche philosophische Bedeutung gibt.«27

E. Cassirer, »Die Begriffsform des mythischen Denkens« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 9. 26 E. Cassirer, EP, Dritter Band: Die nachkantischen Systeme (1919), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000, 133. 27 E. Cassirer, »Wahrheitsbegriff und Wahrheitsproblem bei Galilei« (1937), in: 25

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Diese Dimension des Terminus Wissensform ist auch gemeint, wenn Cassirer in seinem Buch über Descartes (1938) vom »Aufbau einer neuen Kultur, einer neuen Wissensform, eines neuen Geschmacks« spricht.28 In dem oben bemühten Beitrag »Die Begriff sform des mythischen Denkens« (1921/22) scheint Cassirer zudem deutlich zu machen, daß ihm dasjenige, das Scheler als die verschiedenen ›Wissensformen‹ bezeichnet, vielmehr – oder lediglich – als diverse ›Formen der Weltauffassung‹ gilt. Diese Deutung der Termini ›Wissensform‹ und ›Logik‹ wird mit der nunmehrigen Einsicht verbunden, daß die theoretische [Natur-]Wissenschaft bloß eine einzelne ›Modalität des Denkens‹ darstellt und nicht das Denken überhaupt repräsentiert: Hier heißt es nämlich auch, daß die »Logik der mathematischen Naturwissenschaft«, die sich lediglich an einer einzelnen Modalität geistiger Formung, an der »Modalität der [wissenschaft lichen – C.M.] Erkenntnis« orientiert, sich »vor völlig neue Fragen [gestellt] sieht […], sobald sie versucht, ihren Blick, über die reinen Wissensformen [der naturwissenschaft lichen Erkenntnis – C.M.] hinaus, auf die Totalität der geistigen Formen der Weltauffassung zu richten.«29

Obwohl die »reinen Wissensformen« der mathematisch-naturwissenschaft lichen Logik folglich nur eine Modalität der vielfachen »geistigen Formen der Weltauffassung« bilden, dürfen wir die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, daß eine von Cassirers Grundüberzeugungen darin besteht, daß die Philosophie die einzelnen Modalitäten des Denkens, der geistigen Formung ausschließlich sachgerecht und wohl begründet thematisieren kann, wenn sie von den Methoden und Resultaten der jeweiligen Wissenschaften, also der Natur- und Kulturwissenschaften (bzw. Geisteswissenschaften) ihren Ausgang nimmt. Auf diese Weise stellt sich zumindest die Frage, ob der Terminus der ›reinen Wissensformen‹ in vielfältigen kulturellen Sinnordnungen vielleicht über diesen Umweg wieder ins Spiel kommt, wohl wissend allerdings, daß Cassirer für die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (und die Geschichtswissenschaft) eigene, eigentümliche Methodenlehren, sprich: Weisen der Begriffsbildung, ausarbeiten wird.30 ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2006, 72. 28 E. Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung (1938), in: ECW 20, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2005, 94. 29 E. Cassirer, »Die Begriffsform des mythischen Denkens« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 8. 30 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Kulturwissenschaften und ihr

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III. Im Werk Cassirers finden sich aber auch einige Aussagen, die auf eine vorsichtige Revision der Beschränkung von Wissen bzw. Erkenntnis auf die [Natur-]Wissenschaft hinweisen, und dies durchaus in dem von uns soeben angedeuteten Sinne. Im Beitrag »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938) äußert Cassirer z. B. folgende Überlegung: »Die Philosophie der symbolischen Formen will […] eine Phänomenologie der Erkenntnis sein. Sie nimmt dabei das Wort: ›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne. Sie versteht darunter n i c h t n u r den Akt des wissenschaftlichen Begreifens und theoretischen Erklärens, s o n d e r n j e d e geistige Tätigkeit, in der wir eine ›Welt‹ in ihrer charakteristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und in ihrem ›So-sein‹ aufbauen.«31

Im 1. Teil der Philosophie der symbolischen Formen, in Die Sprache (1923), hatte Cassirer diesen Erkenntnisbegriff ›im weitesten und umfassendsten Sinne‹ bereits als »prinzipielle Erweiterung« der herkömmlichen »allgemeinen Erkenntnistheorie« bezeichnet.32 Allerdings konnte ich bislang keine Textbelege dafür fi nden, daß Cassirer auch den Wissensbegriff explizit in diese Ausweitung des Erkenntnisbegriffs einschließt, was durchaus nahe liegen würde, da er, wie gesagt, beide Begriffe weitgehend identifiziert, zumindest für die wissenschaft liche Erkenntnis. Es bleibt aber die Frage, ob Cassirer bewußt die Termini ›reine Wissensform‹ und ›empirische Wissensform‹ unterscheidet, wobei reine Wissensformen ausschließlich in den theoretischen Wissenschaften vorkommen, die empirischen Wissensformen dagegen unter Umständen nicht- oder außerwissenschaft lichen Charakter tragen können, oder aber in die empirischen beschreibenden Wissenschaften (Biologie) gehören. Aus dem früheren Beitrag »Die Begriffsform des mythischen Denkens« (1921/22) läßt sich allerdings auch die andere, die Bedeutung des Terminus ›Wissensform‹ einschränkende Überlegung herauslesen, was sich unter Umständen aus dem doppelten Sinn des Begriffs ›Erkenntnis‹ erklärt: ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310; »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–464; »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–418. 31 E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 117. 32 E. Cassirer, »Vorwort«, in: PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., VII.

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IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

mal haben wir es mit seinem ›weitesten und umfassendsten Sinne‹ zu tun, ein anderes Mal, wie im nachfolgenden Zitat, mit dem ausschließlich ›wissenschaftlichen‹ Sinn von Erkenntnis. Cassirer legt hier u. a. dar, daß die »Modalität der [wissenschaftlichen – C.M.] Erkenntnis« sowohl die Logik der mathematischen Naturwissenschaft als auch die Logik der Geschichtswissenschaft umfaßt, wobei wir es dabei mit der »Gliederung der Teile« innerhalb »des Systembegriffs der wissenschaft lichen Erkenntnis« zu tun hätten, der sich von dem »anderer geistiger Ganzheiten« (d. h. der Erkenntnis im ›weitesten und umfassendsten Sinne‹) unterscheidet. 33 Folglich dürfte der Terminus »Logik[en] nicht-wissenschaft licher Gebilde«34 nicht mit dem der ›reinen Wissensformen‹ zur Deckung zu bringen sein, offen bleibt jedoch, ob mit dem der empirischen Wissensformen. Wenn wir also in Bezug auf die verschiedenen »Denkgebiete und Denkmodalitäten«35 zwar nicht von verschiedenen reinen ›Wissensformen‹ im Sinne theoretischer Erkenntnis sprechen können, so doch in jedem Fall im weitesten Sinne von mehrheitlich ›nicht-‹ oder besser ›außerwissenschaftlichen‹ Erkenntnisformen, die aus diversen ›geistigen Tätigkeiten‹ des Weltaufbaus hervorgehen. Es bleibt allerdings weiter ungesichert, ob Cassirer für diese Erkenntnisformen im weitesten Sinne den Terminus ›Wissensformen‹ gebraucht bzw. gebrauchen würde. Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ jedenfalls, die diese erforscht und durchdringt, ist und bleibt auf die jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen und ihre Wissensformen angewiesen. Um z. B. eine ›Phänomenologie der Sprachform‹ aufbauen zu können, mußte Cassirer, wie er 1923 selbst erklärt, auf die Entwicklung der Sprachwissenschaft bzw. sprachwissenschaft lichen Literatur zurückgreifen.36 Obwohl wir uns bei den diversen Wissenschaften wie Physik und Biologie, Sprach-, Religions- und Kunstwissenschaft , die jeweils eine charakteristische Ordnung der Welt erforschen und zur Darstellung bringen, innerhalb des e i n e n Modus ›wissenschaft liche Erkenntnis‹ bewegen, hat es doch j e d e dieser Wissenschaften auf ihrem Gegenstandsgebiet mit einem eigentümlichen, unwiederholbaren Modus der Begriff sbildung bzw. des Denkens zu tun. Die analytische Arbeit, die die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ leistet, ist eben, so Cassirer im Beitrag »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938),

E. Cassirer, »Die Begriffsform des mythischen Denkens« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a.a.O, 8. 34 Ebd. 9. 35 Ebd., 12. 36 E. Cassirer, »Vorwort«, in: PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., X. 33

Symbolische Formen als Wissensformen

601

»nicht mehr allein auf den Verstand, auf die Bedingungen des ›reinen Wissens‹ gerichtet. Sie will [vielmehr – C.M.] den ganzen Kreis des ›Weltverstehens‹ umfassen […]«,

wie es der Philosophie »durch die Entwicklung, die die einzelnen Geisteswissenschaften […] seit Kant erfahren haben, […] gebieterisch« vorgeschrieben wird.37 Die Wissensformen der Geistes- oder Kulturwissenschaften sind zwar allesamt wissenschaftlicher Art, differieren aber bei den strukturellen Zusammenhängen, die sie erfassen und darstellen. Falls es für Cassirer doch keine religiöse ›Form des Wissens‹ gibt, weil dies eine nicht- oder außerwissenschaftliche Form wäre, so gibt es aber offensichtlich eine Wissensform der Religionswissenschaft, die religiöse Sachverhalte darstellt, auch wenn dies vermutlich keine ›reine Wissensform‹ sein kann. Dem widerspricht nicht nur nicht, sondern dem scheint sogar die Erklärung Cassirers im Band Die Sprache geradezu zu entsprechen, daß er sich bei der Erforschung der unterschiedlichsten Auffassungs- und Verstehensweisen von Welt philosophisch grundsätzlich im »Gebiet der Erkenntnis« bewege, in welchem das »Reich der Erscheinungen« als das »eigentliche Gebiet des Wiss- und Kennbaren« in seiner Vielheit fungiert.38 Haben wir es dabei vom Gegenstand her doch mit der »›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne« zu tun, 39 wobei dieser vielfältige Gegenstand durch diverse wissenschaft liche Methoden und Weisen der Begriffsbildung durchdrungen und dargestellt wird. Gleichzeitig wird hier zum Ausdruck gebracht, daß Cassirer ›Erkenntnis‹ und ›Wissen‹ weitgehend gleichsetzt: Auch in dieser »unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände [sei] die Grundforderung der Einheit nicht als nichtig abgewiesen«. Vielmehr könne sie als funktionelle »Einheit des Wissens« aus der Forderung gewonnen werden, »die verschiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten Eigenart und Selbständigkeit in einem System zu begreifen, dessen einzelne Glieder […] sich wechselseitig bedingen und fordern.«40

E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 137. 38 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 5. 39 E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 117. 40 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 5. 37

602

IV. Formung, Symbolisierung und Objektivation

Deshalb müsse nun auch die »philosophische Kritik der [erweiterten – C.M.] Erkenntnis« dem Weg folgen, »den die b e s o n d e r e n Wissenschaften im einzelnen beschreiten«. 41 Es ist allerdings evident, daß wir uns bei der hier von Cassirer umschriebenen Sachlage auf der Ebene der wissenschaft lichen Erkenntnis der einzelnen ›Kulturmächte‹ bewegen, und nicht innerhalb deren eigentümlicher Bewußtseinsformen selbst, wie dem religiösen oder ästhetischen Bewußtsein bzw. Weltverstehen. Gleichzeitig ist völlig klar, daß wir uns zudem auf der Ebene des weiten Erkenntnisbegriffs bewegen, auf der diese kritisch betrachteten Denk- und Bewußtseinsformen als Weisen der Welterschließung gelten. Auf die erste, rein wissenschaftliche Ebene weist Cassirer hin, wenn er im Anschluß betont, daß »die Erkenntnis, so universell und umfassend ihr Begriff auch genommen werden mag, doch im Ganzen der geistigen Erfassung und Deutung des Seins immer nur eine einzelne Art der Formgebung darstellt.«42

Widerspruchslos zu der in Anm. 31 bzw. 39 zitierten Bemerkung über die »›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne« in Bezug setzen läßt sich diese Aussage nur, wenn in ihr ausschließlich von der Vielfalt wissenschaftlicher Erkenntnis die Rede ist. Die zweite Ebene des erweiterten Erkenntnisbegriffs ist gemeint, wenn es einige Seiten später heißt, »der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein a n d e r e r, als es der der Religion oder der Kunst ist«, denen folglich ebenfalls ein eigener, nicht- oder außerwissenschaft licher Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff zugestanden wird. 43 Alle diese Formen geistiger Gestaltung, so heißt es bei Cassirer erneut einige Seiten weiter, wandeln das »Chaos der sinnlichen Eindrücke« mittels Zeichen und Symbolen zu Gestalten, was sich eben »in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in v e r s c h i e d e n e r Weise und nach v e r s c h i e d e n e n Bildungsprinzipien« vollziehe. 44

41 42 43 44

Ebd., 6. Ebd., 6. Ebd., 22. Ebd., 41.

Symbolische Formen als Wissensformen

603

IV. F a z i t : Obwohl Ernst Cassirer den Erkenntnisbegriff und den Wissensbegriff weitgehend gleichzusetzen scheint, und obwohl er neben natur-, kulturund geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis auch außerwissenschaftliche Erkenntnisweisen annimmt, mit je eigenem Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff, scheint es so zu sein, daß er die mannigfachen ›Grundformen des Geistes‹ höchstens implizit als ›Formen des Wissens‹ auffaßt. Der Ausdruck ›Wissensform‹ scheint vielmehr den Wissenschaften und ihrer Erkenntnis vorbehalten zu bleiben, wobei die ›reine Form des Wissens‹ der theoretischen Naturwissenschaft zugeschrieben wird. Dabei bleibt die einzelne Strukturform geistig-kultureller Gestaltung nicht ohne prägende oder tönende Wirkung auf diejenige Wissensform, die sie natur-, kultur- oder geschichtswissenschaftlich durchdringt und darstellt. Für die außerwissenschaftlichen Erkenntnis- bzw. Denk- oder Bewußtseinsformen wird im bekannten Textkörper der Terminus ›Wissensform‹ nicht gebraucht.

v. system, struktur und symbol

Mythisch-magisches Denken als Kulturform und Symbolisierungsleistung Eine vergleichbare Fragestellung bei Cassirer und Lévi-Strauss

1. Methodische Vorbemerkungen In seinen letzten Lebensjahren, insbesondere nach seiner Bekanntschaft mit Roman Jakobson und der Strukturalistischen Linguistik im Jahre 1941, deutet Ernst Cassirer seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ebenfalls als einen Strukturalismus, wobei er seinen zentralen Begriff der symbolischen Form explizit als Strukturbegriff verstanden wissen will und ebenso den Begriff der Gestalt als Strukturbegriff definiert. Dies hat in jüngster Zeit die Vermutung bzw. die These (Van Vliet) aufkommen lassen, Cassirers Philosophie könne und müsse als ein – ungenutzter – Ansatz »strukturalistischen Denkens avant la lettre« betrachtet werden. Da sich Cassirer intensiv mit dem mythischen Denken auseinandergesetzt und eine wegweisende Phänomenologie1 des mythischen Denkens entworfen hat, liegt die Frage nahe, inwieweit dieser strukturalistische Ansatz in Cassirers Philosophie des mythischen Denkens Parallelen in der ›Strukturalen Anthropologie‹ von Claude Lévi-Strauss, der sich von der strukturalistischen Linguistik der 30er und 40er Jahre hat inspirieren lassen, findet, hat sein Werk doch ebenfalls die Erforschung der mythischen Lebens- und Denkform zum zentralen Gegenstand. Lévi-Stauss selbst erklärt 1971 in einem Brief an Werner Hofmann, daß ihm bei der Lektüre von Cassirers Artikel aus dem Jahre 19332 der Eindruck entstanden wäre, daß dieser »correspondre très exactement à ma propre pensée«.3 Dieses Bekenntnis wirft zudem die Frage auf, die sich durch die Lektüre von Schriften wie La pensée sauvage (1962) noch erhärtet, inwieweit im philosophisch relevanten Werk bei Lévi-Strauss von einem symboltheoretischen Denken und sogar einer sinngemäßen Anwendung des Begriffs der symbolischen Formen auszugehen ist. Diese beiden, sich

Zum Phänomenologiebegriff Cassirers siehe im vorliegenden Band den Beitrag »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹. Ein Vorbild für Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, 467–492. 2 E. Cassirer, »Le langage et la construction du monde des objectes«, in: Journal de Psychologie, Vol. 30 (1933), Nr. 1–4, 18–44 (= ECW 18, 265–290). 3 W. Hofmann, »Meine Wege zu Cassirer. Eine Skizze«, in: Cassirer Studies, Theory of Figuration, II/2009, Napoli, 53–64, hier: 55. 1

608

V. System, Struktur und Symbol

methodologisch ergänzenden Fragen bilden einen relativ neuen und äußerst interessanten Gegenstand für die Cassirerforschung. Komparative Studien zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ Cassirers und zur ›strukturalen Anthropologie‹ (Ethnologie) von Lévi-Strauss gehören in Frankreich schon seit geraumer Zeit zur wissenschaftlichen Praxis. Begonnen haben diese vermutlich mit einem Vergleich der beiden »approches de l’étude du mythe«, den Roger Silverstone 1976 vorgelegt hat. 4 Gute zehn Jahre später sieht Pierre Caussat den Sprachphilosophen Cassirer zwischen Humboldt und den linguistischen Strukturalismus agieren.5 Als neueste und exemplarische Untersuchung darf die von Muriel Van Vliet 2013 veröffentlichte Promotionsschrift gelten, die eine komparative Studie zu Cassirer und Lévi-Strauss enthält. 6 Ausdruck des intensiven Interesses an diesen vergleichenden Studien sind auch Kolloquien und Workshops. So fand im Januar 2011 an der Universität Amiens ein von Laurent Perreau und Jeffrey Andrew Barash organisiertes Kolloquium statt, das die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ mit der ›strukturalen Anthropologie‹ konfrontierte, und dies u. a. an Hand sowohl der fast zeitgleichen Beiträge beider Wissenschaftler in der New Yorker Zeitschrift Word7 als auch LéviStrauss’ »la Finale« aus Mythologiques, Vol. 4: L’ homme nu8 . Im Februar 2011 folgte am Collège de France in Paris eine Journée d’étude, organisiert von Dimitri Lorrain, zur Aktualität Cassirers, auf dem auch die erwähnten komparativen Studien eine Rolle spielten. In Portugal existieren Studien zu diesem Thema zwar bislang nicht, allerdings fand 2008 ein Internationales Kolloquium zum 100. Geburtstag von Lévi-Strauss und Merleau-Ponty statt, dessen Beiträge an der Universität Lissabon (Centro de Filosofia das Ciências) unter dem Titel Corps et

R. Silverstone, »Ernst Cassirer and Claude Lévy-Strauss. Two Approaches to the study of Myth«, in: Archives des sciences sociales des religions, (1976), vol. 41, 25–36. 5 P. Caussat, »Entre Humboldt et le structuralisme: la philosophie du langage d’E. Cassirer«, in: Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, Actes du colloque de Nanterre 12–14 octobre 1988 édités sous la direction de J. Seidengart, Paris 1990, 233–248. 6 M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer – De la morphologie au structuralisme, Préface de Ch. Möckel, Rennes 2013, Chapitre 7: »Universalisme pluriel et ›humanisme interminable‹«, 289–337. 7 E. Cassirer, »Structuralism in modern linguistics«, in: Word. Journal of the Linguistic Circle of New York, Vol. 1, Nr. 1 (1945), 99–120 (= ECW 24, 299–320); C. LéviStrauss, »L’analyse structurale en linguistique et en anthropologie«, in: ebd., Vol. 1, Nr. 2 (1945), 1–21 (= Strukturale Anthropologie I [franz. 1958], Frankfurt a. Main 1977, 43–67). 8 C. Lévi-Strauss, Mythologiques, Tome 4: L’homme nu, »la Finale« (1971), Paris 2009, 575–588. 4

Mythisch-magisches Denken als Kulturform

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Signes veröffentlicht wurden. Im Beitrag Étienne Bimbenets findet der Einfluß Cassirers im Zusammenhang mit Merleau-Ponty explizit Erwähnung.9 Weder in der deutschen Strukturalismusforschung noch in der deutschen Cassirerforschung gibt es bislang spezielle, tiefgründige Studien, die das Denken Cassirers und Lévi-Strauss’ nach philosophischen Gesichtspunkten vergleichen, auf einander beziehen. In zwei Beiträgen (1999, 2002) hat der 2010 verstorbene John Michael Krois diese Frage berührt, dabei allerdings mehr die grundsätzlichen Unterschiede zwischen beiden Denkern als ihre möglichen Gemeinsamkeiten betont. Lévi-Strauss sei auf der Suche nach »ahistorischen ›Tiefenstrukturen‹ im Symbolprozeß« gewesen, während Cassirer sich für die »Ordnung der Veränderungen und die relativen Invarianzen von Gliedern eines funktionalen Zusammenhanges« interessiert habe.10 Dagegen hat der bereits erwähnte Kunsthistoriker W. Hofmann kürzlich in den Cassirer Studies auf offensichtliche Parallelen im Denken beider Denker aufmerksam gemacht; dieser Beitrag dient – wie auch die Dissertationsschrift Van Vliets – den nachstehenden Überlegungen als methodische Orientierung. Für die deutsche Cassirerforschung muß in dieser Frage ein insgesamt unbefriedigender Zustand konstatiert werden, wie ihn Krois schon 1999 als »nicht zufriedenstellend« bezeichnet hatte.11 Ein Forschungsprojekt, für das ich Dank großzügiger Förderung durch die Fritz Thyssen Stiftung von April 2016 bis März 2017 intensiv recherchieren konnte, soll diesen Zustand künftig ein Stück weit ändern.12 Das Projekt geht »implizit der Frage nach, inwieweit der Strukturalismus bzw. die strukturale Methode der ethnologisch ausgerichteten Kulturwissenschaft (Anthropologie) von Claude Lévi-Strauss nicht nur in der Tradition der strukturalistischen Linguistik (Saussure, Trubetzkoi, Jacobson), sondern auch in der Tradition der Philosophie Ernst Cassirers, die in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der Kultur ihren prägnanten Ausdruck findet, steht. É. Bimbenet, »Merleau-Ponty-Lévi-Strauss: l’échange n’a pas eu lieu«, in: J.-Y. Mercury e N. Nabais (Ed.), Corps et Signes. No Centennário do Nascimento de Claude Lévi-Strauss e Maurice Merleau-Ponty. III Colóquio Internacional Filosofia das Ciências Humanas, Centro de Filosofia das Ciências da Universidade de Lisboa, (Colecção Documenta - Vol. 5), 77–96, hier: 80 f. 10 J.M. Krois, »Zur Darstellung von symbolischen und sozialen Strukturen. (Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu)«, in: Mitteilungen des Institutes für Wissenschaft und Kunst, 54. Jg., 1999, Nr. 2–3, 8–13, hier 8. 11 Ebd., 8. 12 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »System und Struktur. Eine Begriffsbeziehung bei Cassirer«, 655–702; »Cassirer und die strukturalistischen Linguisten. Am Beispiel der Begriffe System und Struktur«, 703–735. 9

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V. System, Struktur und Symbol

Explizit untersucht [es] die Begriffe der ›Struktur‹ im philosophischen Werk Cassirers und im philosophisch relevanten Werk Lévi-Strauss und versucht, diese in ihren Bedeutungsgehalten, Implikationen und Konsequenzen vergleichend zu erfassen.«13

Im nachstehenden, 2012/13 verfaßten Beitrag werden zunächst einige methodische Fragen auf der Grundlage erster eigener Vorarbeiten und der Überlegungen thematisiert, die Van Vliet und Hofmann vorgelegt haben. Im zweiten Teil sollen Rechercheergebnisse zur Diskussion gestellt werden, die mythisch-magisches Denken als Kulturform und als Kulturleistung sowohl in Cassirers An Essay on Man (1944) und The Mythe of the State (1946) als auch in Lévi-Strauss’ La pensée sauvage (1962) vergleichend aufweisen. Nachstehend einige methodische Überlegungen, Hinweise und Abgrenzungen. 1. Den methodischen Rahmen für eine solche komparative Recherche kann ein von Van Vliet vorgeschlagenes Verfahren dienen, »relire l’oeuvre de Cassirer à l’aune du structuralisme naissant«,14 um Cassirer als Vordenker des Strukturalismus, ja einer »anthropologie structurale« begreifen zu können. Andererseits läßt sich offensichtlich Lévi-Strauss gelegentlich besser verstehen, wenn er »à l’aune« der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ gelesen wird. Ein derartiges methodisches Verfahren wirft die Frage einer Verschränkbarkeit oder gar gegenseitigen Ergänzbarkeit (Komplementarität) von ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und ›strukturaler Anthropologie‹ auf. Selbstverständlich sind dabei die von Krois und Anderen betonten grundsätzlichen methodologischen und sachlichen Unterschiede im wissenschaftlichen Werk beider Denker, die »Suche nach ahistorischen sozialen Strukturen« einerseits und die Thematisierung »symbolischer Formen der Kultur als historisch veränderbare Systeme« andererseits, im Auge zu behalten. 2. Eine der Fragen, die eine komparative Untersuchung sofort aufwirft, ist die, ob der Begriff der Form, insbesondere der der symbolischen Form, mit dem Strukturbegriff, den Cassirer bereits sehr früh in seinen Werken verwendet, verglichen oder gar gleichgesetzt werden kann, bzw. ob sich der Begriff der symbolischen Form nach und nach zu dem der Struktur gewandelt hat, oder in welchem logischen Verhältnis beide Begriffe zu einander stehen. Cassirer selbst suggeriert in seinen letzten Schriften einen http://www.fritz-thyssen-stift ung.de/foerderung/gefoerderte-vorhaben/projekt/ pl/struktur-system-symbol/p/1645/?no_cache=1 14 M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer – De la morphologie au structuralisme, a. a. O., 236. 13

Mythisch-magisches Denken als Kulturform

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solchen Gedanken, wenn er seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹, insbesondere seine Phänomenologie der Sprache, als einen modernen linguistischen Strukturalismus, als »the expression of a general tendency of thought that, in these last decades, has become more and more prominent in almost all fields of scientific research«, verstanden wissen will.15 Zu überprüfen ist auch der damit in Zusammenhang stehende Gedanke Cassirers, daß der deutsche Begriff der Gestalt den Begriff der Struktur vorwegnehme bzw. diesen bereits zum Ausdruck bringe.16 Lévi-Strauss wiederum macht auf die Bedeutung des von dem Gestaltpsychologen Karl Bühler gebrauchten Begriffs der Gestalt für den linguistischen Strukturalismus aufmerksam.17 3. Hieran schließt sich die eigentliche Frage der in Angriff zu nehmenden grundsätzlichen Recherche an, nämlich die, ob der Strukturbegriff des E t h n o l o g e n Lévi-Strauss mit dem im p h i l o s o p h i s c h e n Werk Cassirers exzessiv anzutreffenden Terminus überhaupt verglichen oder sogar identifi ziert werden kann. Dies impliziert nicht zuletzt die philologische Frage, inwieweit der französische Ausdruck ›structure‹ und der deutsche Terminus ›Struktur‹ eine identische Bedeutung besitzen. Bezug zu nehmen wäre ebenfalls auf den Strukturbegriff der Linguistik, wie ihn R. Jakobson gebraucht, da Cassirer von diesem 1941 auf der Schiffsüberfahrt nach New York entscheidende Anregungen erfuhr, über sein Verhältnis zum aufkommenden linguistischen Strukturalismus nachzudenken.18 Bekanntlich ist auch das strukturalistische Denken Lévi-Strauss’ und seine Anwendung auf die Ethnologie von Jakobson und anderen Linguisten inspiriert worden. 4. Außerdem ergibt sich die Notwendigkeit, sich eingehend mit dem Thema Symbol und Symbolisierung im strukturalistischen Denken von E. Cassirer, »Structuralism in modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 299–320, hier: 320. 16 »When studying the phenomena of sense perception, the Gestalt psychologists had become aware of the fact that sense perception has a defi nite structure.« – Ebd., 320. 17 »Was die linguistischen Strukturalisten angeht, so haben Trubetzkoi und Jakobson oft gesagt, was sie der Gestaltpsychologie und insbesondere den Arbeiten K[arl] Bühlers verdanken.« – C. Lévi-Strauss, 16. Kap. »Nachtrag zu Kap. 15 [Der Strukturbegriff in der Ethologie]«, in: Strukturale Anthropologie I (1958), Frankfurt a. Main 1977, 348. 18 »Er [Jakobson] stellte sich Ernst vor und berichtete, daß er Linguist von Beruf und ein großer Bewunderer seiner Schriften sei. Er war glücklich, ihn [Cassirer] so unerwartet zu treffen, und es dauerte keine Viertelstunde und die beiden befanden sich in ein wissenschaft liches Gespräch vertieft . Das Gespräch dauerte lange […] fast die ganzen vierzehn Tage der Überfahrt und schien für beide Teile äußerst anregend und fruchtbar. […] die beiden Gelehrten sprachen über ihre Sprachprobleme mit größtem Eifer. – T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer (1948), Hamburg 2003, 284 f. 15

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V. System, Struktur und Symbol

Lévi-Strauss zu befassen, das hier ohne Zweifel eine wichtige Rolle gespielt hat. Es läßt sich vielfach belegen, z. B. in Lévi-Strauss’ »Introduction à l’oeuvre de Marcel Mauss«,19 daß er den Symbolcharakter der Kultur klar erkannt und benannt hat. In seinen Schriften finden sich viele Belege für eine Einsicht in den Symbolcharakter des Denkens, was im nachfolgenden zweiten Teil des Beitrages »Mythos als Kulturform und Kulturleistung« belegt werden wird. 5. Ausgehend von dem Aufweis des Symbolcharakters der Kultur bei Lévi-Strauss ist im Weiteren zu prüfen, ob hierbei eine – z. B. von Hofmann und Van Vliet behauptete – Nähe zum Symbolverständnis Cassirers vorliegt. Sich auf Lévi-Strauss‘ La penseé sauvage (1962) beziehend spricht Hofmann u. a. von einem ins Auge springenden »Paralleldenken der beiden Philosophen« und von methodischen Gemeinsamkeiten bei der Deutung der sinnstiftenden Klassifi kation von Namen, Sachen etc. im mythischen bzw. totemistischen Denken, wobei die Klassifi kation von beiden als geistige, symbolisierende und bedeutungsgebende Leistung verstanden werde.20 Van Vliet hebt u. a. hervor, daß sich bei beiden Denkern als gemeinsamer Ausgangspunkt des symboltheoretischen Denkens die Überzeugung vom Primat der Bedeutung gegenüber allen anderen Elementen des Systems finde.21 In dem Zusammenhang ist auch der Vermutung nachzugehen, daß Lévi-Strauss bei seiner Anwendung der Symboltheorie auf das mythischmagische bzw. totemistische Denken ebenso – wie Cassirer selbst auch – die Kategorie der »symbolischen Prägnanz« bemühe.22 Dies impliziert die C. Lévi-Strauss, »Introduction«, in: M. Mauss, Sociologie et anthropologie, Paris 1950, XIX. 20 »Cassirer und Lévi-Strauss betonen, daß der Bedeutungspluralismus der Erfahrungsdaten notwendig ›plusieurs systématisations possibles‹ zuläßt, ja geradezu fordert.« – W. Hofmann, »Meine Wege zu Cassirer«, in: Cassirer Studies, II/2009, a. a. O., 56, zuvor: 55. 21 »Tous deux partagent, malgré la diversité de leurs intentions respectives, un point de départ commun très fort: le primat de la signification sur tout autre élément du système, qu’il s’agisse des notions de sujet ou d’objet, du moi et du toi. La fonction symbolique constitue le noyau mouvant de leurs deux systèmes ouvert.« – M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer – De la morphologie au structuralisme, a. a. O., 290. 22 »Wir müssen von der ›Sinnpraegnanz‹ als Urphaenomen ausgehen – hinter dieses Phaenomen, daß jedes zeitlich-Momentane das ›Ganze‹ irgendwie darstellt, mit-in sich schließt, und zwar unmittelbar, können wir nicht zurück. « – E. Cassirer, »Praesentation und Repraesentation« (1926/27), in: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 4, Hamburg 2011, 7. »Eine Wahrnehmung ist praegnant – nicht schlechthin durch ihre ›Qualitäten‹, sondern durch den Bedeutungsgehalt, den sie in sich schliesst. Es kommt ihr neben ihrem unmittelbaren ›Inhalt‹ eine bestimmte ›Funktion‹ zu, einen ›Sinnkomplex‹ als Ganzes darzustellen, zu symbolisieren, dem Bewusstsein unmittelbar als solchen gegenwärtig zu machen«. – 19

Mythisch-magisches Denken als Kulturform

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Frage, ob sich bei Lévi-Strauss, ähnlich wie bei Merleau-Ponty, ein Verständnis von symbolischer Prägnanz aufweisen läßt.23 6. Anwendung findet der – im Einzelnen zu vergleichende und zu qualifizierende – symboltheoretische und strukturalistische Ansatz bei beiden Wissenschaftlern auf die Untersuchung der mythischen Lebens- und Sozialform und auf das mythisch-magische oder totemistische Denken. Letzteres wird als ein Verfahren von strukturierender bzw. strukturierter Weltwahrnehmung, sinnhafter Weltkonstitution und Weltbewältigung gedeutet, dem eine eigene Logik oder Rationalitätsform innewohnt, die eine in sich stimmige Totalität von Bedeutungen auszubilden erlaubt. Der sowohl von Cassirer als auch von Lévi-Strauss intensiv thematisierte Bezug von mythisch-magischer und empirisch-analytischer Klassifi kation Menschen, Lebewesen und Dinge betreffend bildet einen weiteren wichtigen Strang einer künftigen komparativen Untersuchung der philosophischen Instrumentarien beider Wissenschaftler. Während ganz klar weder Cassirer noch LéviStrauss die Behauptung eines simplen ›vorlogischen‹ Denkens teilen, wie sie Lucién Lévy-Bruhl vertritt,24 springt eine solche Gemeinsamkeit bei der ZuE. Cassirer, »Praegnanz, symbolische Ideation« (1926/27), in: ebd., 51. Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 23 M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer – De la morphologie au structuralisme, a. a. O., 304. 24 »Lucién Lévy-Bruhl has given one of the most thorough and fascinating analyses of the structure of the ›primitive‹ mind. Th is analysis is based upon the presupposition that ›primitive mentality is toto caelo different from modern mentality‹. [L. Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Introduction, 2, 6, 21.] Between the two modes of thinking there is no point of contact; they are separated from each other by an insurmountable gulf. Primitive mind is a ›prelogical‹ mind. Its concepts are not to be explained in terms of our logic or our psychology. In order to describe the structure of primitive mind Lévy-Bruhl had to introduce a new language and new categories for which there seemed to be no analogy in our own behaviour, our thoughts, our customs and institutions. According to Lévy-Bruhl the fundamental and irreconcilable contrast between ›primitive‹ and ›civilized‹ mentality lies in the fact that the former is governed by ›collective representations‹. ›Les représentations appelées collectives, à ne les définir qu’en gros et sans approfondir, peuvent se reconnaître aux signes suivants: elles sont communes aux membres d’un groupe social donné; elles s’y transmettent de génération en génération; elles s’y imposent aux individus et elles éveillent chez eux, selon les cas, des sentiments de respect, de crainte, d’adoration, etc., pour leurs objets.‹ [L. Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Introduction, I, 1] But if we admit this defi nition – can we really say that the civilized mind has ceased living in a world of collective representations, that all this has become a remote and dark past, a thing that has faded away and sunk into insignificance in modern culture?« – E. Cassirer, »The Myth of the State. Its Origin and Its Meaning. Th ird Part: The Myth of the Twentieth Century«, in: Zu Philosophie und Politik, Hrsg. von J.M. Krois und Ch. Möckel, in: ECN 9, Ham-

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V. System, Struktur und Symbol

rückweisung einer Intellektualisierung des mythisch-magischen Denkens, wie sie Frazer und Tylor vorschlagen, 25 nicht so einfach ins Auge. Bezüglich der Nähe und Vergleichbarkeit von mythisch-magischem und wissenschaftlichem Denken sehe ich einen entscheidenden Unterschied der beiden Autoren offenbar werden. Obwohl beide die Eigenständigkeit und autonome Selbstgenügsamkeit einer mythisch-magischen bzw. totemistischen Logik des Denkens, Klassifi zierens und Sinn- bzw. Bedeutungsgebens betonen, weil sie einer eigenen mythischen Lebens- und Sozialform korreliert und deren Bedürfnis nach der Etablierung einer Ordnung im Universum zu befriedigen vermag, hebt Cassirer stärker den unüberwindbaren Unterschied zwischen mythisch-magischer und wissenschaftlich-theoretischer Rationalität oder Logik als zweier eigentümlicher symbolischer Formen der Kultur hervor, 26 während es Lévi-Strauss vorzieht, von einer parallelen, alternativen, vorgreifenden oder vergleichbaren Logik zu sprechen. 27 7. Eine umfassende komparative Untersuchung sollte sich in erster Linie um mögliche Parallelen im Denken beider Wissenschaftler, weniger um die Frage des ›copy right‹ am strukturalistischen Denken bemühen, obwohl auch dies durchaus eine interessante wissenschaft s- und philosophiegeschichtliche Frage sein dürfte. Die eher biographische Frage, ob Cassirer und Lévi-Strauss persönlich voneinander Notiz nahmen, ob der Jüngere (1908 – 2009) die Schriften, Vorträge, Theorien etc. des Älteren (1874 – 1945) zur Kenntnis nimmt, ob also vielleicht sogar von einer philosophischen Beeinflussung Lévi-Strauss’ durch Ernst Cassirer gesprochen werden muß, wird im vorliegenden Beitrag nicht berührt. 28 Nachzugehen wäre wohl vor allem burg 2008, 178 f. Auch Lévi-Strauss erwähnt, daß es Lévy-Bruhl unerträglich gewesen sei, »daß der Wilde ›komplexe Kenntnisse‹ besitzt und der Analyse und Beweisführung fähig ist«. – C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), Frankfurt a. Main 1973, 289. 25 »In his [Frazer’s – C.M.] book the difference between the primitive mind and the mind of civilized man is almost obliterated. The primitive acts and thinks like a real philosopher.« – E. Cassirer, The Myth of the State, New Haven 1946, 10 (= ECW 25, 13). Obwohl Lévi-Strauss totemistisches und wissenschaft liches Denken nicht gleichsetzt, sondern wie Cassirer die Eigenständigkeit des ersteren betont, unterstreicht er doch immer wieder den quasi wissenschaftlichen Charakter des ›wilden‹ Denkens, wenn er dieses als »Wissenschaft vom Konkreten« deutet. – C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., 1. Kap., 11–48. 26 »Myth is nontheoretical in its very meaning and essence. It defies and challenges our fundamental categories of thought. Its logic […] is incommensurate with all our conceptions of empirical or scientific truth.« – E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), New Haven 1947, 73 (= ECW 23, 81). 27 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 1. Kap., 13, 23 f., 25, 27, 34. 28 »J’ai très peu fréquenté l’ouvre de Cassirer et je ne crois donc pas avoir été in

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möglichen indirekten Vermittlungen über Jakobson, Merleau-Ponty etc. Heißt es doch bei Lévi-Strauss selbst in seinem Brief an Hofmann: »Il est d’ailleurs possible que quelque chose de l’enseignement de Cassirer me soit parvenu, sans que je le sache, par l’intermédiaire de Roman Jakobson que, je crois, le connaissait personnellement«.29

Merleau-Ponty wiederum, mit dem Lévi-Strauss persönlich verkehrt und dem er La pensée sauvage gewidmet hat, verwendet in seinem Hauptwerk Phénoménologie de la Perception (1945) nicht nur viele der Autoren, auf die sich Cassirer permanent bezieht, sondern erwähnt auch Cassirer mehrfach selbst. Im nachstehenden zweiten Teil des Beitrages wird der These nachgegangen, daß Lévi-Strauss in seinem Werk La pensée sauvage, ähnlich wie Cassirer, die Symbolisierungsleistungen des mythisch-magischen Bewußtseins, des totemistischen Denkens bewußt thematisiert, benennt und diese als originäre Kulturleistungen auffaßt.

2. Mythos als Kulturform und Kulturleistung a. Mythos, Wissenschaft, Struktur Werfen wir zunächst einen Blick auf die Thematisierung des Strukturgedankens in beiden Theorien des Mythos als Kulturform, da sich die methodologische Rechtfertigung einer komparativen Studie nicht zuletzt auf die Erwartung gründet, hierbei auf gewisse Parallelen zu stoßen. Allerdings beschränken wir uns auf seinen Aufweis und stellen noch nicht die methodisch unerläßliche Frage, ob wir es in beiden Fällen mit ein und demselben Strukturbegriff zu tun haben. So bildet für Lévi-Strauss das mythisch-magische Denken »ein genau artikuliertes System«, das »in dieser Hinsicht unabhängig [ist] von dem anderen System, das die Wissenschaft später begründen wird«.30 Dieses Denken vollbringe, wie auch das wissenschaft liche, ein »Strukturieren« des Erlebten und Beobachteten, wobei ihm nur eine begrenzte Zahl von

fluencé par elle.« – C. Lévi-Strauss an W. Hofmann, 25. Oktober 1971, in: W. Hofmann, »Meine Wege zu Cassirer«, in: Cassirer Studies, II/2009, a. a. O., 55. 29 Ebd., 55. 30 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 25.

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V. System, Struktur und Symbol

möglichen Strukturen zur Verfügung steht.31 Im Unterschied zur späteren analytisch-unterscheidend vorgehenden Wissenschaft komme »die Eigenart des mythischen Denkens« in der Funktion zum Ausdruck, notwendig verfaßte »strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten«, und dies »durch Verwendung der Überreste von [zufälligen – C.M.] Ereignissen«.32 In der »Ordnung der Mittel und Zwecke« würden im mythisch-magischen bzw. ›wilden‹ Denken »dem [zufälligen – C.M.] Ereignis und der [notwendigen – C.M.] Struktur« klar definierte Funktionen zugewiesen, die denen im wissenschaftlichen Denken diametral entgegengesetzt sind: Das mythische oder totemistische Denken schafft notwendige Strukturen mittels zufälligen Ereignissen, während das wissenschaft liche Denken zufällige Ereignisse mittels notwendig verfaßter Strukturen hervorbringt bzw. erklärt.33 Aus diesem Grunde spricht Lévi-Strauss von einem prekären Gleichgewicht zwischen Struktur und Ereignis.34 Außerdem nehmen Mythen – wie auch Riten – die »ereignishaften Ganzheiten« auseinander und setzen sie wieder neu, d. h. modifiziert, zusammen.35 Auch in Cassirers Phänomenologie des mythischen Denkens findet sich der Strukturgedanke klar ausgesprochen. So spricht er ganz allgemein von der Aufgabe der Kulturphilosophie, »the structure of language, myth, religion, art and science« zu beschreiben, um einen Einblick in »the fundamental structure of each of these human activities« zu gewinnen.36 Wenn er in dem Zusammenhang fordert, »the form of primitiv mythical thought« sowohl in seinem »historical development« zu verfolgen als auch analytisch-strukturell zu betrachten,37 dann heißt das mit anderen Worten, am Mythos sowohl Formg e s c h i c h t e als auch Forma n a l y s e zu betreiben, wie dies in nachgelassen Texten zur Geschichte und zum Mythos ausgeführt wird.38 Geht es Cassirer doch um »the general structural principles«, die allen menschlichen Tätigkeitsformen zugrunde liegen. Diese Strukturprinzipien gründen wiederum in »particular historical and sociological conditions«. Methodologisch habe dabei aber »the problem of meaning« »precedence over the problem oh historical development«, habe »this struc-

Ebd., 23. Ebd., 35. 33 Ebd., 36, 38 f. 34 Ebd., 44. 35 Ebd., 48. 36 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 68 (= ECW 23, 76). 37 Ebd., 68 f. (= ECW 23, 76). 38 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–418. 31

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tural view of culture« jeglicher historischen Betrachtung grundsätzlich vorangehen.39 Mit anderen Worten, obwohl Mythos samt Magie ausschließlich in empirischen, d. h. historischen und sozialen Kontexten beschrieben werden müssen, biete allein ihre strukturelle, form-analytische Aufk lärung die Gewähr, sie als das zu verstehen, was sie sind. Dem mythischen Denken wird eine eigene »fundamental structure« zugeschrieben, der sowohl ein allgemeines als auch ein speziell mythisch-magischen Strukturprinzip korreliert. 40 Struktur und Prinzip lassen sich jedoch nicht einfach analytisch, durch Zerlegung in letzte begriffliche Elemente erfassen. Vielmehr müssen die konkreten und direkten mythischen Ausdrucksphänomene, die den Gefühlen und Empfindungen ihren Wert oder Sinn geben, bezogen werden auf »the whole of this expression in order to become aware of the structure of myth and primitive religion«. 41 Diese Argumentation impliziert, daß mythisch-magisches Denken kein irrationales, willkürliches Phantasieren ist, sondern eine strukturierende Leistung, die wiederum auf bestimmte Strukturmuster zurückgreifen kann. Diese will Cassirer aufk lären und benennen, da sie für ihn die ›Logik‹ des Mythos ausmachen.

b. Mythos und Magie als Symbolisierungsleistungen Das Mythische gilt Cassirer als »emotion turned into an image«, als ein Gefühl, das »assumes a defi nite shape«. Dies impliziert einen aktiven Prozeß, der eine Symbolisierungsleistung vollzieht, da er als symbolische »expression of emotion« endet. 42 Diese Gefühle beziehen sich auf Klassen von Gegenständen, d. h. korrelieren bestimmten Klassifi kationsleistungen. Der mythische Ausdruck mit seinem symbolischen Charakter erfüllt als eine »cultural activity« grundsätzlich »the task of objectivation«, d. h. er läßt subjektive Momente (Gefühle) eine neue Form annehmen, indem er sie ihren isolierten und individuellen Charakter verlieren macht, sobald sie »under class-concepts« gebracht werden, »which are designated by general ›names‹«. Das läßt sie einen systematischen und allgemeinen Charakter gewinnen, weshalb sie auch einen »symbolic character« tragen. 43

39 40 41 42 43

E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 69 (= ECW 23, 76 f.). Ebd., 76 f. (= ECW 23, 84). Ebd., 79 (= ECW 23, 87). E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 43 (= ECW 25, 45). Ebd., 45 (= ECW 25, 46).

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V. System, Struktur und Symbol

Sowohl für Cassirer als auch für Lévi-Strauss erweist sich die Klassifikation als eine entscheidende Leistung des mythisch-magischen Bewußtseins. Unter Klassifi kation versteht Lévi-Strauss u. a. die Einteilung aller belebten und unbelebten Wesen in Familien und Untergruppen, wobei dies nach bestimmten Merkmalen wie Geschlecht, Größe, Farbe, Funktion in der Magie etc. geschieht. Dabei kommen bestimmte Reihenbildungen oder bestimmte Kategorien der Gliederung zur Anwendung, das Ganze trägt »systematischen Charakter« und schließt »symbolisierende« Funktionen ein. 44 Er unterscheidet drei Typen mythisch-magischer Klassifi kationssysteme: konzipierte Klassifi kation (M y t h e n), vollzogene Klassifi kation (R i t e n) und gelebte totemistische (s o z i a l e) Klassifi kation. 45 Dabei gilt ihm der Totemismus als ein »erbliches Klassifi kationssystem«, das an »konkreten Gruppen oder konkreten Individuen« haftet, auch wenn nicht alle Formen des Totemismus im eigentlichen Sinne erblich sind. 46 Lévi-Strauss sieht in diesen Systemen grundsätzlich einen Konfl ikt zwischen Geschichte und Klassifi kation auftreten, dieser sei aber im mythischmagischen Denken vermittelbar. Die mythisch-magischen Klassifi kationen stimmen zwar nicht bzw. nur selten mit den empirisch-wissenschaft lichen Tatsachen überein, sind aber »oft hinreichend genau und unzweideutig« genug, um »bestimmte Identifi kationen zu ermöglichen«. 47 Deshalb vermögen sie einen kulturellen und gesellschaft lichen Zweck zu erfüllen: Im totemistischen Denken kommen auch bei »sehr niedrigem ökonomischen und technischen Niveau« überraschend »komplexe und kohärente Klassifi kationssysteme« zum Einsatz. 48 In Bezug auf den Bildcharakter des mythisch-magischen Denkens scheint Lévi-Strauss zunächst einen anderen Ansatz als Cassirer zu bevorzugen: er legt das Augenmerk vielmehr darauf, daß die »Elemente der mythischen Reflexion immer auf halbem Wege zwischen sinnlich wahrnehmbaren Eindrücken und Begriffen liegen«, wobei erstere sich nicht aus der konkreten Situation herauslösen lassen. 49 Zwischen Bild und Begriff bestehe mit dem konkreten sinnlichen Zeichen, dem die Funktion begriffl icher Verweisungsfähigkeit innewohnt, aber ein Zwischenglied.50 Das mythische Bild C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 53 f. Ebd., 268. 46 Ebd., 268 Anm. 47 Ebd., 54. 48 Ebd., 55. 49 Ebd., 31. 50 Dieses will er mit Hinweis auf de Saussure aufgefaßt wissen als »ein Band zwischen einem Bild und einem Begriff, die in der so hergestellten Vereinigung die Rolle des Signifi kanten bzw. des Signifi kats spielen.« – Ebd., 31. 44 45

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spielt folglich die Rolle eines Zeichens und erwirbt so die Funktionalität der Austauschbarkeit, die eigentlich dem Begriff vorbehalten ist.51 Doch wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Cassirer die zu mythischen Bildern und Gestalten gewandelten Gefühle als symbolische Ausdrücke bzw. Symbole auffaßt, die eine Repräsentationsfunktion einschließen, dann scheinen beide Erklärungen doch nicht so weit auseinander zu liegen. Indem »mythical symbolism leads to an objectivation of feelings«, stellt sich den Menschen früher oder später die Frage, was diese objektivierten Gefühle bedeuten,52 das zum Bild gewandelte Gefühl steht für eine bestimmte Bedeutung (d. h. etwas Allgemeines), indem es sie auch immer noch ist.53 Ebenso ist für Lévi-Strauss das mythische Denken, »obwohl es in Bildern gefangen ist, bereits verallgemeinernd«, arbeitet es doch mit »Analogien und Vergleichen«.54 Als Teile eines bestimmten Systems sind z. B. die Sprachbilder des Mythos bereits »verarbeitet Produkte« und damit »begriffliche Verdichtungen notwendiger Beziehungen«.55 Deshalb haben wir es hier, so Lévi-Strauss, in einem bestimmten Sinne bereits mit »abstraktem Denken« zu tun.56 Im Grunde vertritt auch Cassirer in seinem Werk Das mythische Denken (1925) einen analogen Gedanken, wenn er diesem Denken eine eigentümliche Ausprägung von allgemeinen Kategorien (Quantität, Qualität, Kausalität) und Anschauungsformen (Raum, Zeit, Zahl) zuschreibt bzw. vom »mythischen Vorstadium« dieser modernen Denkund Anschauungsformen handelt.57 In nahezu Cassirerscher Manier spricht Lévi-Strauss von »Invarianz[en]58 semantischer oder ästhetischer Art«, die Ebd., 33. E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 45 f. (= ECW 25, 47). 53 Cassirer bleibt bei der allseits bekannten Feststellung, in der mythischen Denkweise stelle »das ›Bild‹ […] die ›Sache‹ nicht dar – es ist die Sache«, eben nicht stehen. (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 47) Vielmehr interessiert ihn das partielle Auseinandertreten von Bild und Sache im Prozeß der ›Schematisierung‹, die das mythische Denken durchläuft und die im Einfluß der Raumworte auf die sprachliche Begriffsbildung zum Ausdruck kommt: »Durch die Vermittlung der Raumworte erschienen gewissermaßen die beiden Enden aller Sprachbildung erst wahrhaft aneinander geknüpft – schien im Sinnlichen des Sprachausdruckes ein rein geistiges Moment, wie im Geistigen des Sprachausdruckes ein sinnliches Moment aufgewiesen zu sein.« – Ebd., 96. 54 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 34. 55 Ebd., 49 f. 56 Ebd., 11. Lévi-Strauss hält es z. B. für erwiesen, »daß der Reichtum an abstrakten Wörtern eine Eigenschaft nicht nur der zivilisierten Sprachen ist.« – Ebd., 11. 57 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 78, 82 f., 84. 58 »Die Frage nach der Objektivität löst sich für die schärfere kritische Analyse in der Frage der ›Invarianz‹ auf.« – E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, 51

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jeweils eine »Gruppe von Transformationen«59 charakterisieren. 60 Das ›primitive‹ Denken vollziehe sich in einem »System von Begriffen […], die in Bildern verdichtet sind«, 61 und das die Worte wörtlich nimmt. Auch Cassirer spricht hinsichtlich des mythischen Denkens immer wieder von seinen Kategorien und Begriffen, betont aber grundsätzlich den Unterschied zur Form, die diese Kategorien und Begriffe im theoretischen Denken haben bzw. zur sie auszeichnenden Modalität. 62 Es fällt auf, daß Lévi-Strauss – zumindest in La penseé sauvage (1962) – wenig oder selten vom Gefühl als der Grundlage des Mythos spricht. Dennoch finden wir die mit Cassirer konform gehende Aussage, daß das mythischmagische Wissen konkreten Charakter trage und von »Gefühlswerten« Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, in: ECN 2, Hamburg 1999, 29. David Katz zitierend hebt Cassirer hervor, »daß […] ›der Invarianzgedanke, der eine erkenntnistheoretische Geltungsfrage allerersten Ranges ist, […] eine und vielleicht die nährendste Wurzel in der Wahrnehmungspsychologie [hat]‹«. (Ebd., 100) »Was wir immer wieder an den verschiedenen Ausprägungen des Invarianzgedankens feststellen konnten, das bewährt sich eben schliesslich – und zwar in besonders deutlicher und in unverkennbarer Weise – an ihm selbst. Er ist kein blosses Element der Erkenntnis, das als solches feststehen und mit sich selbst immer gleich bleiben müsste; er ist weit mehr ein stets fortwirkendes Erkenntnismotiv, dessen charakteristische Eigenart in der Art seiner Wirksamkeit, in dem Aufwerfen von Fragen, nicht in abgeschlossenen Lösungen besteht.« (Ebd., 133) 59 »Die moderne gruppentheoretische Auffassung […] nimmt dieser Wahrheit den Schein der Endgültigkeit. Legen wir die ›Hauptgruppe‹ von Transformationen zu Grunde, die für die Euklidische Geometrie gilt, so können wir eine bestimmte Zahl von Eigenschaften heraussondern, die sich gegenüber dieser Hauptgruppe invariant verhalten. Aber schreiten wir jetzt zu einer andern Gruppe fort, indem wir z. B. die affi nen oder projektiven Transformationen hinzufügen, so gerät all das, was bisher als festgestellt galt, wieder in Fluss. Denn mit jeder Erweiterung der Hauptgruppe geht uns ein Teil der Eigenschaften, die wir als unabänderlich ansahen, verloren. Es ergeben sich andere und neue ›Invarianzen‹, – und zwischen ihnen können wir eine gewisse Stufenfolge, eine ganz bestimmte ›Schichtung‹ aufweisen. Was in der einen Schicht als ein unaufheblicher generischer Unterschied erschien, das kann in einer andern als eine unwesentliche Modifi kation erscheinen.« – Ebd., 130. 60 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 50. »[…] hinter der empirischen Vielfalt der menschlichen Gesellschaften will die ethnologische Analyse Invarianten ermitteln […]« – Ebd., 284. 61 Ebd., 304. 62 »Die allgemeine Kategorie von ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ fehlt dem mythischen Denken keineswegs […]. Aber von der Form der kausalen Erklärung, die durch die wissenschaft liche Erkenntnis gefordert und aufgestellt wird, unterscheidet sich die Kausalität des Mythos auch hier in demselben Zug, auf den sich zuletzt der Gegensatz ihrer beiderseitigen Objektbegriffe reduziert.« (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., 57 f.) Immer wieder ist die Rede vom »spezifische[n] Objektbegriff und […] spezifische[n] Kausalbegriff des mythischen Denkens«. – Ebd., 77.

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durchdrungen ist. 63 Selbst das theoretische Wissen ist für Lévi-Strauss, wie auch für Cassirer, »nicht unvereinbar […] mit dem Gefühl«, kann mit »Gefühlsmomenten« belebt werden. 64 Gefühle, Gefühlswerte und Gefühlsmomente gehen also auch bei Lévi-Strauss in die Klassifi kationsleistungen des ›primitiven‹ Denkens ein. Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob Cassirer mit der diesen Gedanken wieder marginalisierenden These mitgehen würde, wonach das ›wilde‹ Denken als quantifizierendes Denken grundsätzlich mit den Mitteln der Vernunft arbeite, also mit »Hilfe von Unterscheidung und Gegensätzen«, keineswegs dagegen aber mit den Mitteln der Affektivität, d. h., »durch Verschmelzung und Partizipation«. 65

c. Mythisches Denken als kulturelle Leistung Im vorliegenden Beitrag kann und soll kein wohl begründeter Vergleich der Kulturbegriffe bei Cassirer und Lévi-Strauss vorgestellt werden. Cassirer bezeichnet im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch An Essay on Man (1944) Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte als die Bestandteile, die die verschiedenen Sektoren der Sphäre des Wirkens, des Tätigseins des Menschen, »the world of culture«, konstituieren. 66 Kultur gilt ihm also als ein Ensemble eigentümlicher symbolischer Formen oder Sinnordnungen, in denen der Mensch lebt, wirkt und schafft . Den SymbolC. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 52; »Myth is an offspring of emotion and its emotional background imbues all its productions with its own specific color.« (E. Cassirer, An Essay on Man [1944], a. a. O., 82 [= ECW 23, 91]); »The world of myth is a dramatic world – a world of actions, of forces, of confl icting powers. […] Mythical perception is always impregnated with these emotional qualities.« – Ebd., 76 (= ECW 23, 85). 64 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 52 f. »All the efforts of scientific thought are directed to the aim of obliterating every trace of this fi rst view. In the new light of science mythical perception has to fade away. But that does not mean that the data of our physiognomic experience as such are destroyed and annihilated. […] their anthropological value persists. In our human world we cannot deny them and we cannot miss them; they maintain their place and their significance. In social life, in our daily intercourse with men, we cannot efface these data.« – E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 77 (= ECW 23, 85). 65 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 308. 66 »Man’s outstanding characteristic, his distinguishing mark, is […] his work. It is this work, it is the system of human activities, which defi nes and determines the circle of ›humanity‹. Language, myth, religion, art, science, history are the constituents, the various sectors of this circle. […] Language, art, myth, religion are no isolated, random creations. They are held together by a common bond.« – E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 68 (= ECW 23, 76). 63

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charakter der Kultur als einer Ganzheit von Ordnungsformen scheint auch Lévi-Strauss klar benannt zu haben: »Toute culture peut être considérée comme un e n s e m b l e d e s y s t è m e s s y m b o l i q u e s au premier rang desquels se placent le langage, les règles matrimoniales, les rapports économiques, l’art, la science, la religion.«67 An dieser Definition von Kultur fällt auf, daß Lévi-Strauss in der Aufzählung den Mythos nicht als ein eigenes symbolisches System, als eine eigene symbolische Form erwähnt. Dies tut er aber in L’ homme nu, wenn er von vier »Struktur-Familien« spricht, die als symbolische Systeme oder Formen aufgefaßt werden: hier nennt er neben den natürlichen Sprache, Kunst und Mathematik auch den Mythos bzw. die Mythen. 68 Für Cassirer ist der Mythus »one of the oldest and greatest powers in human civilization. It is closely connected with all other human activities – it is inseparable from language, poetry, art and from early historical thought.«69 Eine ausdrücklich kulturelle Leistung des Symbolcharakter tragenden mythisch-magischen Denkens sieht er in der Tatsache, daß die s y m b o l i s c h e n Ausdrücke, wie schon die n a t ü r l i c h e n Gefühlsausdrücke, eine Art Entladung, eine mildernde Wirkung auf die emotionale Anspannung bieten. Gleichzeitig werde durch sie und nur durch sie die Kraft der Gefühle gebunden, zusammengezogen.70 »But symbolic expression does not mean extenuation; it means intensification«, »condensation«, Umwandlung der emotionalen Anspannung in kulturelle Werke.71 In dem Zusammenhang legt Cassirer großen Nachdruck auf die Feststellung: »Myth is an objectification of man’s social experience, not of his individual experience.«72 Der Mensch stehe unter der Macht des seine soziale Erfahrung objektivierenden Mythos, er faßt die mythischen Bilder jedoch nicht als objektivierende Symbole, sondern als Realität auf. Die Macht und Gewalt, die vom Mythos über die Menschen ausgeht, realisiert sich über die Emotionen, das Gefühl. Als eine speziell kulturelle »Funktion« des Mythos bestimmt Cassirer auch seine Aufgabe bzw. sein Vermögen, eine einheitsstiftende Leistung zu C. Lévi-Strauss, »Introduction«, in: M. Mauss, Sociologie et anthropologie, Paris 1950, XIX, zit. nach M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer. De la morphologie au structuralisme (2013), a. a. O., 290. 68 »Je poserai d’abord à titre d’hypothèse de travail, que le champ des études structurales inclut quatre familles d’occupant majeurs qui sont les êtres mathématiques, les langues naturelles, les ouvres musicales et les mythes«. – C. Lévi-Strauss, »L’homme nu«, in: Mythologiques, Tome 4, 578, zit. nach M. Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer. De la morphologie au structuralisme (2013), a. a. O., 318 note 117. 69 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 22 (= ECW 25, 24 f.). 70 Ebd., 46 (= ECW 25, 47). 71 Ebd., 46 (= ECW 25, 48). 72 Ebd., 47 (= ECW 25, 48). 67

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vollbringen, »a unity in the manifold« herzustellen. Indem der Mythos eine »unity of feeling« erwirkt, vollzieht er auf spezifische Weise eine Leistung, die allen symbolischen Kulturformen eigen ist.73 Diese Erfahrung der Einheit in der Vielfalt erlaubt eine erste Erfahrung von Ordnung, bei der allem Erlebten und Erfahrenen »a definite shape and structure« gegeben wird.74 Cassirer ist davon überzeugt, mit Blick auf uns Moderne bereits im mythischen Denken »the same desire of human nature« ausgedrückt vorzufinden, »to live in an ordered universe, and to overcome the chaotic state in which things and thoughts have not yet assumed a definite shape and structure«.75 Diese kulturell bedeutsame Klassifi kations- und Ordnungsleistung des mythisch-magischen Denkens wird auch bei Lévi-Strauss gewürdigt. Er formuliert diese Funktion für die Kulturformen Kunst, Wissenschaft und Mythos: »die Forderung nach Organisation [ist] ein der Kunst und der Wissenschaft gemeinsames Bedürfnis«,76 das sie mit dem mythischmagischen Denken teilen. Lebt doch bereits im ›primitiven‹ Denken das Bestreben, durch Klassifi kation, d. h. durch »Gruppenbildung von Dingen und Lebewesen«, den »Anfang einer Ordnung im Universum zu etablieren«,77 auch wenn sie dabei »auf halben Wege zwischen der Ordnung und der Unordnung« stehenbleiben.78 Die Feststellung, daß »diese Forderung nach Ordnung […] die Grundlage […] jedes Denkens [ist]«,79 entspricht der Erkenntnis Cassirers aus dem Vergleich der vielfältigen Modalitäten des Denkens, insbesondere des mythisch-magischen und des empirisch-kausalen. Das Gleiche gilt von der These Lévi-Strauss‘, wonach »jede Art der Klassifizierung […] dem Chaos überlegen ist«. Sei doch »selbst eine Klassifizierung auf der Ebene der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften«, wie sie das magische Denken vollbringt, »eine Etappe auf dem Weg zu einer »Art gives us a unity of intuition; science gives us a unity of thought; religion and myth give us a unity of feeling. Art opens to us the universe of ›living forms‹; science shows us a universe of laws and principles; …« – Ebd., 37 (= ECW 25, 39). 74 Ebd., 15 (= ECW 25, 18). 75 Ebd., 15 (= ECW 25, 18). 76 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 24 f. 77 »In Wahrheit handelt es sich […] darum, […] ob es möglich ist, in irgendeiner Hinsicht Spechtschnabel und Menschenzahn ›zusammenzubringen‹ […] und durch solche Gruppenbildung von Dingen und Lebewesen den Anfang der Ordnung im Universum zu etablieren.« – Ebd., 20 f. 78 Ebd., 88. 79 »Diese Forderung nach Ordnung ist die Grundlage des Denkens, das wir das primitive nennen, aber nur insofern, als es die Grundlage jedes Denkens ist: denn unter dem Blickwinkel der gemeinsamen Eigenschaften finden wir zu den Denkformen, die uns sehr fremd sind, leichter Zugang.« – Ebd., 21. 73

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rationalen Ordnung.«80 Hier ist allerdings anzumerken, daß Cassirer stärker die Vielfalt autonomer rationaler Ordnungen betont und unterstreicht, während Lévi-Strauss die Rationalität des Mythos bzw. der totemistischen ›Wissenschaft des Konkreten‹ und die der modernen Wissenschaft näher als Cassirer aneinander hält, sie als ähnlicher und verwandter deutet als Cassirer das tut. In den Leistungen mythisch-magischen Benennens und Klassifizierens von Erlebnissen hebt Lévi-Strauss mit Nachdruck das Motiv des t h e o r e t i s c h e n Interesses hervor, das nicht durch einen »praktischen Nutzen« für die Menschen gedeckt oder stimuliert ist. 81 Neben der »bloßen Befriedigung von Bedürfnissen«, die natürlich auch stattfindet, ließen sich in den Akten des Benennens und Klassifizierens auch bereits rein »intellektuelle Ansprüche« antreffen. 82 Diese Beobachtungen gehen durchaus konform mit dem zentralen GedankenCassirers, wonach wir grundsätzlich einen Übergang von lebensnahen, lebenspraktischen Leistungen, die auch im Tierreich anzutreffen sind, zu eigentümlich symbolischen und damit kulturellen Leistungen konstatieren können. Dieser Übergang realisiere eine Abkehr von rein praktischen Bedürfnissen. An Aphasie, Agnosie und Apraxie Erkrankte fallen, so Cassirers These, im Grunde auf die niedere Stufe lebensnaher, lebenspraktischer Leistungen zurück, da ihre symbolisierenden Fähigkeiten der Krankheit zum Opfer gefallen sind. 83 Lévi-Strauss betont das Vorhandensein rein »intellektueller Ansprüche« ohne intendierten praktischen Nutzen u. a. hinsichtlich der systematischen botanischen und biologischen Kenntnisse im totemistischen Denken, die sich auch auf »morphologische Eigenschaften« erstreckten und die nicht »ausschließlich von […] organischen und ökonomischen Bedürfnissen beherrscht« seien. 84

d. Mythos, Symbol, Kultur, Gesellschaft Beide, der Philosoph und der Ethnologe, sehen im Mythos nicht nur eine Kulturform bzw. eine kulturelle Leistung, sondern stellen auch einen engen Bezug des mythischen Denkens zur Sozialform der Gesellschaft her. Ebd., 27 f. Siehe hierzu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Anmerkungen zur philosophischen Anthropologie Cassirers«, 311–324. 81 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 11 f. 82 Ebd., 20. 83 Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen. Versuch einer Annäherung«, 511–526. 84 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 18, 13. 80

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Lévi-Strauss bringt dies durch die These zum Ausdruck, die soziale Praxis werde als Denken gelebt!85 Auch wenn er davon spricht, daß die totemistischen Klassifi kationen »nicht nur entworfen, sonder gelebt werden«, 86 ist der Sozialbezug hergestellt. Cassirer wiederum versteht die symbolischen Formen der Kultur als ihre Organisationsformen, weshalb auch die soziale Organisation der die Kultur hervorbringenden Gesellschaften in sein Blickfeld fällt. Er deutet die symbolische Form des Mythos als eine »form of communal human existence«, als eine »form of social organization«, die seine – des Menschen – subjektiven Aktivitäten und Betätigungen ausdrücken, organisieren, ordnen und systematisieren, ihnen einen bestimmten Sinn geben. 87 Verstehen lasse sich die primitive Denkform des Mythos nur unter Berücksichtigung der entsprechenden Sozialform, d. h. mit Blick auf »the forms of primitive society«. 88 Mit anderen Worten, um »the world of mythical perception and mythical imaginatpion« beschreiben zu können, brauchen wir »an interpretation of mythical life«. 89 Im mythischen Denken gelten nämlich nicht »the empirical relations between causas and effects«, sondern vielmehr tief und intensiv gefühlte menschliche d. h. soziale Beziehungen.90 Diese Argumentation impliziert hinsichtlich der Klassifi kationen letztlich eine Strukturgleichheit mythischen Denkens mit der sozialen Organisation der Gemeinschaften, der auch Sitte und Tradition der Gemeinschaften korrelieren, als auch mit der Natur (»plants, animals, organic beings and objects of inorganic nature, substances and qualities«). Während Cassirer den entscheidenden Sozialbezug des Mythos in den sozialen Handlungen der Menschen, speziell in ihren rituellen Handlungen, zu ergründen sucht,91 erfahren die zunächst unbewußt vollzogenen Riten in den mythischen Erzählungen doch eine befragende Erklärung,92 so stellt Lévi-Strauss einen wichtigen Sozialbezug über die totemistischen Klassifi kationssysteme her: »um die Mythen und Riten korrekt interpretieren »Die Art und Weise, wie der Mensch denkt, ist der Ausdruck seiner Beziehungen zur Welt und zu den Menschen.« – Ebd., 303. 86 Ebd., 83, siehe auch 268. 87 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 63 (= ECW 23, 71). 88 Ebd., 68 (= ECW 23, 76). 89 Ebd., 79 (= ECW 23, 86). 90 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 38 (= ECW 25, 40). 91 »For what we wish to know [of myth – C.M.] is […] its function in the man’s social and cultural life.« – Ebd., 34 (= ECW 25, 37). 92 »In his magical rites […] man acts under the pressure of deep individual desires and violent social impulses. He performs these actions without knowing their motives; they are entirely unconscious. But if these rites are turned into myths a new element appears. Man […] raises the question of what these things ›mean‹ […]« – Ebd., 45 f. (= ECW 25, 47). 85

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V. System, Struktur und Symbol

zu können«, sei man e r s t e n s auf »die genaue Identifizierung der Pflanzen und Tiere, soweit sie in den Mythen und Riten erwähnt […] werden, angewiesen«.93 Z w e i t e n s müsse man klären, welche Rolle jede einzelne Kultur den identifizierten, mythisch und rituell relevanten Gegenständen (Tieren, Pflanzen) »innerhalb eines Bedeutungssystems zuschreibt«.94 Immer dann, wenn das mythisch-magische Denken einem klassifizierten Gegenstand eine »signifi kante Funktion« zuweist, dann zieht es dafür nur wenige der an ihm beobachteten Einzelheiten heran. Dieselben Einzelheiten hätten »ganz andere Bedeutungen« erhalten können, das jeweilige Bedeutungssystem aber erweist sich als kohärent. Und dies ist u. a. so, weil ein solches Bedeutungssystem auf einem »anthropomorphistischen Symbolismus« beruht,95 der es ihm auch erlaubt, kombinierbare Klassifi kationsmerkmale (d. h. Einzelheiten) zur Bildung komplexer Botschaften zu verwenden. Die jeweilige, niemals immanente Bedeutung der Merkmale und Elemente des Systems ist für Lévi-Strauss »einerseits Funktion der Geschichte und des [empirischen – C.M.] kulturellen Rahmens und andererseits Funktion der Struktur des Systems, in das sie eingesetzt werden sollen«.96 Die soziale Gebundenheit oder Prägung der Klassifizierungen kommt auch zur Sprache, wenn Lévi-Strauss hervorhebt, daß ihnen jeweils bestimmte Logiken zugrunde liegen, die auf einem sozial relevanten Grundprinzip (z. B. der Dreiteilung des Clans) beruhen bzw. dieses Prinzip realisieren.97 Dennoch ist auch hierbei ein willkürliches und zufälliges Moment zu konstatieren. Deshalb lasse sich »das Prinzip einer Klassifi kation niemals postulieren«, sondern allein durch die »ethnographische Forschung, d. h. die Erfahrung, […] a posteriori aufdecken.«98 Lévi-Strauss sucht deshalb nicht nach einem allgemeinen Strukturschema totemistischen Denkens, sondern meint, bei jedem empirischen Volk von ›Primitiven‹ eine eigene, zufällige Assoziationskette im Denken vorzufinden, die seinen jeweiligen eigentümlichen »Weg des Denkens« – oder »Umweg des EingeborenenDenkens« – ausmacht.99 Um die Stellung z. B. eines bestimmten Tieres im Klassifi kationssystem des konkreten Volkes zu verstehen, müsse man folglich d r i t t e n s diese eigentümliche Assoziationskette kennen. Erst dann verstehe man die »symbolische Rolle« des bestimmten Tieres etc. im konkreten Klassifi kations- oder Bedeutungssystem, seine »pansymbo93 94 95 96 97 98 99

C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 61, siehe auch 64, 68 f. Ebd., 69. Ebd., 70. Ebd., 70. Ebd., 72 f. Ebd., 74. Ebd., 75.

Mythisch-magisches Denken als Kulturform

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lische Funktion«,100 dasjenige, wofür es als »Symbol« steht.101 In jedem System der Bedeutungen besitzen auch bestimmte Begriffsgegensätze bzw. Begriffspaare ihren »symbolischen Sinn«.102 Diese und ähnliche Aussagen zum Symbolcharakter des mythisch-magischen Denkens bzw. seiner Klassifi kationssysteme, in denen die klassifi zierten Dinge verschiedene »Funktionen in symbolischen Systemen« zu erfüllen vermögen,103 machen noch einmal eine beachtliche Nähe zum Symboldenken Cassirers deutlich. Diese Systeme gelten ihm zudem als eine »soziale Klassifizierung«, weil in diesen »gelebten« totemistischen Klassifi kationen soziale Gruppen benannt, identifiziert werden. Das »System des Totemismus«, das gekennzeichnet ist durch die »Homologie zwischen parallelen Reihen der natürlichen Arten und der sozialen Gruppen«,104 gilt Lévi-Strauss lediglich als »ein Sonderfall des allgemeinen Problems der Klassifizierung« und als »ein Beispiel unter anderen für die Rolle, die häufig den spezifischen Ausdrücken zugeschrieben wird, nämlich eine soziale Klassifizierung zu erarbeiten.«105 Im Grunde kehrt dieser Gedanke bei Cassirer wieder, wenn er zum Ausdruck bringt, daß der »fundamental social character of myth« für ihn nämlich auch deshalb unbestritten ist, weil im totemistischen Weltbild die Natur zu »the image of the social world« wird.106 Die Gliederung, Einteilung und Klassifi kation der physischen Welt, wie sie im mythisch-magischen Denken vorgenommen wird, ist, so Cassirer, »the exact duplicate and counterpart of the social world«, d. h. deren Einteilung »into diverse classes, tribes, clans«.107 Insbesondere in den magischen Riten, in denen der Mythos seine erzählende Erklärung findet, da er deren Motive hinterfragt und sinnhaft deutet, sind »the men […] fused with each other and fused with all things in nature«.108 Damit befriedigen die Riten »a deep and ardent desire of the individuals to identify themselves with the life of the community and with the life of nature.«109 In »totemistischen Systemen« ist z. B. das empirische Prinzip der Kausalität zwischen den Generationen ersetzt durch ihre im Ebd., 75. Ebd., 76. 102 Ebd., 85. 103 Ebd., 80. 104 Ebd., 259. 105 Ebd., 78. 106 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 79 f. (= ECW 23, 87 f.); »Not nature but society is the true model of myth.« – Ebd., 79 (= ECW 23, 87). 107 Ebd., 14 (= ECW 23, 18). 108 Ebd. 95 (= ECW 23, 104). 109 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 38 (= ECW 25, 40). 100 101

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V. System, Struktur und Symbol

Ritus real erfahrene Identität bzw. unmittelbar gefühlte Verkörperung der Vorfahren in der gegenwärtigen Generation.110 In diesem Identitätserlebnis kommt nach Cassirers Verständnis ein philosophisch-anthropologisches »fundamental feeling of mankind« zum Ausdruck, die gefühlte Sehnsucht des Individuums nämlich, wenigstens auf Zeit »to be freed from the fetters of its individuality, to immerse itself in the stream of universal life, to lose its identity, to be absorbed in the whole of nature.«111 Dieses Grund- oder Urgefühl wird in bzw. zu mythischen Erzählungen rationalisiert. Mit den mythischen Fragen an das Rituelle beschreitet der Mensch einen Weg, »which will in the end lead him far from his unconscious and instinctive life«, hinein in die Kultur!112 Lévi-Strauss deutet die kulturelle Funktion des Mythos etwas anders, für ihn besteht »der Hauptwert der [erzählend-erklärenden – C.M.] Mythen und [praktischen – C.M.] Riten« darin, »Beobachtungs- und Denkweisen«, die die sogenannte totemistische ›Wissenschaft vom Konkreten‹ ausmachen, »bis heute zu erhalten«.113 Sein kulturellen Wert bezieht dieses Erhalten und Bewahren der »Restbestände« von mythisch-magischen Beobachtungs- und Denkweisen daraus, daß diese »einer bestimmten Art von Entdeckungen angemessen waren (und es ohne Zweifel bleiben werden): jenen Entdeckungen […] unter der Voraussetzung der Organisation und spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren.«114

Welche Rolle und Bedeutung Cassirer den totemistischen Klassifi kationssystemen in Bezug auf den Zusammenhang von Strukturprinzip des Mythos und Strukturprinzip sozialen Lebens beimißt, ist noch im Einzelnen zu erforschen. Auf jeden Fall bilden diese Klassifi kations- und Bedeutungssysteme auch einen wichtigen Gegenstand seiner historisch-analytischen Überlegungen und Recherchen zum mythischen Denken und zur Sprachphilosophie. Dies wird deutlich, wenn er, Siegmund Freuds Theorie kritisierend, die Unterscheidung dreier das mythische Denken und Leben kennzeichnende Systeme umreißt, die – wie die symbolischen Formen auch – sich nicht aufeinander zurückführen lassen, die nicht auseinander hervor gehen: »the Taboo-prescriptions«, »the institution of exogamy« und »the tote110 111 112 113 114

Ebd., 39 (= ECW 25, 41). Ebd., 41 (= ECW 25, 43). Ebd., 46 (= ECW 25, 47). C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (franz. 1962), a. a. O., 29. Ebd., 29.

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mistic system«!115 Seine Ausführungen im Essay on Man (1944) lassen aber vermuten, daß er die Auffassung vertritt, daß das Tabu-System »was the only system of social restriction and obligation«, das dem Menschen in totemistischen Gemeinschaften das Leben und Überleben ermöglicht hat, da es allein dazu in der Lage war, den »cornerstone of the whole social order« zu bilden.116 Dieses komplexe Verbotssystem wird nach Cassirer Auslegung erst durch die aufkommende Religion als neue sittliche Kulturform gesprengt und überwunden, da sie »turned passive obedience into an active religious feeling.«117 Zumindest in La pensée sauvage (1962) scheint Lévi-Strauss dasjenige, was er hier Systeme der Bedeutung oder der Klassifi kation nennt, stärker als Welterkenntnis- und Wissenssysteme zu interessieren, weniger als soziales Ordnungsgefüge, obwohl ihnen eine soziale Ordnungsfunktion zukommt und sie den sozialen Kosmos der Menschen mehr oder weniger abbilden. Darauf, daß Cassirer in den hier herangezogenen Schriften An Essay on Man (1944) und The Myth of the State (1946) die symbolische Form des Mythos vor allem als eine »form of communal human existence« bzw. eine »form of social organisation« deutet und behandelt, haben wir bereits hingewiesen. 118 Der Mythos wird über die Riten eng an soziales Handeln gebunden. Dieses Herangehen verschließt zwar keineswegs die Augen vor den Erkenntnisleistungen des mythisch-magischen Denkens, stellt sie aber, im Vergleich mit dem Werk Das mythische Denken (1925), nicht ins Zentrum des Interesses. Diese unterschiedlichen Intentionen bei beiden Philosophen bilden eine gewisse Schranke für die Frage nach Analogien in der Thematisierung kulturell relevanter, konstitutiver Symbolisierungsleistungen des mythischmagischen Denkens und seiner Objektivationen, der Klassifi kationssysteme und Mythen.

115 116 117 118

E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 32 (= ECW 25, 35). E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 108 (= ECW 23, 117). Ebd., 108 (= ECW 23, 117). Ebd., 63 (= ECW 23, 71).

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹ Zu einigen begrifflichen Parallelen bei Cassirer und Lévi-Strauss 1. Einleitende Bemerkungen Die im Folgenden aufgezeigten – bzw. zumindest angedeuteten – philosophischen Parallelen in den Werken des Kulturphilosophen Ernst Cassirer und des philosophisch gebildeten Ethnologen Claude Lévi-Strauss,1 die zwei unterschiedlichen Generationen angehören und unterschiedlichen philosophischen Denktraditionen entstammen, lassen zwar keinen belastbaren Schluß auf einen geistigen Einfluß des Ersteren auf den Letzteren bzw. der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ auf den Strukturalismus in der Linguistik und Ethnologie zu, wohl aber auf die philosophische und wissenschaftliche Aktualität und Anschlußfähigkeit der Cassirerschen Kulturphilosophie und seiner »kritischen Phänomenologie des mythischen Bewußtseins«.2 Vielleicht kann man Lévi-Strauss’ bislang noch nicht geklärte Beziehung zum Werk Cassirers aber mit derjenigen vergleichen, die er für sich selbst zum Werk des russischen Formalisten Wladimir Propp, Morphologie des Märchens (1928), beschreibt, wobei er sich auf die von Svatava Pirkova-Jakobson verfaßte die Einleitung zur Übersetzung des Buches aus dem Russischen ins Englische (1958) bezieht: »Wenn, wie Frau Pirkova-Jakobson schreibt, der [Autor] dieser Zeilen ›die Methode von Propp angewandt und weiterentwickelt‹ zu haben scheint, dann bestimmt nicht bewußt, denn das Buch von Propp ist ihm bis zur Veröffentlichung dieser Übersetzung unzugänglich geblieben. Doch durch Roman Jakobson ist etwas von seiner Substanz und seinem Geist zu ihm gedrungen.«3

»Sie wissen, daß ich früher nie Ethnologie betrieben hatte. Meine Bildung war eine philosophische, ich war Philosophielehrer gewesen und ging nach Brasilien, ohne eine Ahnung von Ethnologie zu haben und ohne jemals eine Ethnologievorlesung besucht zu haben.« – C. Lévi-Strauss, »Die strukturalistische Tätigkeit. Ein Gespräch mit Marco d’Eramo« (1979), in: ders., Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss, Hrsg. von A. Reif, Frankfurt a. Main 1996, 273 f. 2 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 16. 3 C. Lévi-Strauss, »Die Struktur und die Form. Reflexionen über ein Werk von Wla1

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V. System, Struktur und Symbol

Die Bedeutung des auch mit dem ›amerikanischen‹ Cassirer in wissenschaftlichen Kontakt stehenden Roman Jakobson für Lévi-Strauss ist wohl kaum zu unterschätzen, wird doch dieser später einmal betonen, daß er erst in den USA »bei Jakobson entdeckte, was Linguistik ist und somit auch, was strukturale Analyse ist. Es ist ein Abschnitt in meinem Leben, dem ich alles verdanke«. 4 Im bereits erwähnten Beitrag »Die Struktur und die Form«, verfaßt 1960, lesen wir einige Seiten weiter: »Was zunächst im Werk von Propp auff ällt, ist die Tatsache, wie stark es den späteren Entwicklungen vorgreift. Diejenigen von uns, die die strukturale Analyse der mündlichen Literatur etwa um 1950 aufgenommen haben, ohne unmittelbare Kenntnis des Versuchs von Propp, der ein Vierteljahrhundert vorher unternommen wurde, finden darin verblüfft Formeln, manchmal sogar ganze Sätze wieder, die sie ihm doch nachweislich nicht entlehnt haben«.5

Bei der Lektüre von Lévi-Strauss’ Traurige Tropen und Das wilde Denken, zu der mich im Jahre 2008 der 100. Geburtstag ihres Autors angeregt hatte, hat sich mir genau dieser Eindruck hinsichtlich des symbolphilosophischen Werkes von Ernst Cassirer aufgedrängt; auch hier bleibt der Verweis auf die vermittelnde Rolle Jakobsons relevant. Seitdem beschäftigen mich sowohl die Suche nach möglichen Parallelen in den philosophischen Ansätzen Cassirers und Lévi-Strauss’ als auch die Frage einer möglichen Cassirer-Rezeption durch Lévi-Strauss. Einige Gründe für ein entsprechendes wissenschaftliches Interesse und einige methodische Überlegungen, welche Richtungen künftige Recherchen einschlagen sollten, habe ich kürzlich veröffentlicht. 6 Dabei steht die Suche nach den philosophischen Parallelen beider aus sehr unterschiedlichen intellektuellen Milieus herkommenden Denker im Mittelpunkt; die Frage nach einer – von Lévi-Strauss nicht offen gelegten – unmittelbaren oder mittelbaren Rezeption betrachte ich dagegen als sekundär. dimir Propp« (1960), in ders., Strukturale Anthropologie II (franz. 1973), Frankfurt a. Main 1992, 135–168, hier: 136. 4 C. Lévi-Strauss, »Die strukturalistische Tätigkeit« (1979), in: ders., Mythos und Bedeutung, a. a. O., 273. 5 C. Lévi-Strauss, »Die Struktur und die Form« (1960), in ders., Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 148. 6 Siehe im vorliegenden Band den Beitrag »Mythisch-magisches Denken als Kulturform und Symbolisierungsleistung. Eine vergleichbare Fragestellung bei Cassirer und Lévi-Strauss«, 607–630. Wichtige Vorarbeiten einer solchen Recherche fi nden sich zudem in Muriel Van Vliet, La forme selon Ernst Cassirer – De la morphologie au structuralisme, Rennes 2013.

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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Eine Annäherung an die Antwort auf diese Frage möchte ich mit der Abwägung versuchen, inwieweit wir bei Lévi-Strauss eine vergleichbare implizite Kulturphilosophie vorfinden, die statt von symbolischen Formen von ›symbolischen Strukturen‹ handelt. Bei den nachstehenden Überlegungen stütze ich mich vor allem auf Lévi-Strauss’ Strukturale Anthropologie I/II, insbesondere auf die Texte aus den 50er Jahren, und auf Cassirers Schrift An Essay on Man (1944), in dem dieser sowohl die letzte Fassung seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zur Darstellung als auch seine Wertschätzung der strukturalen Methode in der zeitgenössischen Linguistik zum Ausdruck bringt. Diese Wertschätzung erklärt sich u. a. daraus, daß sich nach seiner Überzeugung deren Prinzipien auch in anderen Wissenschaften (Feldphysik, Biologie, Gestaltpsychologie) als ganzheitlicher Ansatz durchzusetzen beginnen. Die folgenden Bemerkungen stützen sich zudem auf Recherchen und Diskussionen, die zwei jeweils im Sommersemester 2011 und 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltete Hauptseminare mit sich gebracht haben. Wenn wir nach Parallelen in den philosophischen Ansätzen, die kulturellen Systeme menschlicher Gemeinschaften auf die ihnen zugrundeliegenden Strukturen und Strukturprinzipien zurückzuführen, Ausschau halten wollen, dann erweist es sich methodisch als angebracht zu klären, ob Cassirer den Strukturbegriff überhaupt in einer mit dem strukturalistischen Ansatz Lévi-Strauss’ vergleichbaren Weise verwendet; daß er ihn selbst in den frühen Schriften schon häufig gebraucht, ist völlig evident, sobald man diese zur Hand nimmt.7 Offensichtlich ist auch, daß beide Denker mit diesem Begriff das innere Prinzip einer Ordnung, eines Systems beschreiben. Während bei Cassirer zumindest der System- und Ordnungsbegriff grundsätzlich mit dem des Lebendigen, des Organischen in Beziehung steht bzw. in Analogie gedacht wird und sich von dem des Mechanischen, Unbelebten abgrenzt, scheint Lévi-Strauss mit dem System oder zumindest mit dem Begriff seiner Struktur eher die entgegengesetzte Intention zu verbinden, wenn wir den Worten Bernhard Waldenfels’ Glauben schenken können, daß bei den Strukturalisten »Ausdrücke wie Prozeß, Mechanismus, Unbewußtes, […] Konstruktion, Rekonstruktion, Einschnitt, Transformation, Diskurs und – als pars pro toto – die Struktur« dominieren. 8 Unabhängig von der Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »System und Struktur. Eine Begriffsbeziehung bei Cassirer«, 655–702. 8 »Worte wie Subjekt, Mensch, Erlebnis, Bewußtsein, Intention, leibhaft ige Gegenwart, Sinn, Auslegung, Konstitution, Teleologie, Ursprung, Kontinuität, Totalität, Dialektik, Freiheit und Entfremdung […] werden [von den Strukturalisten – C.M.] überprüft , beargwöhnt und im äußersten Falle liquidiert. An ihre Stelle treten Ausdrücke wie Prozeß, Mechanismus, Unbewußtes, Begehren, Topik, Abwesenheit, Signifi kanten7

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V. System, Struktur und Symbol

Frage, mit welchen Intentionen Cassirer den Blick auf die Struktur richtet und wie er ihn letztlich mit Bedeutung ausfüllt, er ist zutiefst davon überzeugt, daß derjenige, der eine philosophische Darstellung der Zivilisation, der Welt der Kultur und ihrer universellen Formen zu geben beabsichtigt, »require fundamental structural categories«.9 Mit dem auf den Strukturbegriff gerichteten Fokus ist eine Ebene methodischen Vergleichens vorgegeben, freigelegt. Wir wollen uns diesem angestrebten Vergleich beider Denker in mehreren Schritten nähern, weshalb zunächst die jeweiligen Vorstellungen von Gesellschaft und Kultur zu einander in Bezug gesetzt werden sollen. Daran schließt sich ein Hinterfragen der Begriffe Struktur, System und Gesamtzusammenhang an, um dann die Komparation auf der Ebene von System, Zeichen und Symbol fortzusetzen. Im Anschluß rücken wir dem Strukturbegriff näher, indem auf das für die Strukturalisten entscheidende ›Unbewußte‹ Bezug genommen wird, um davon ausgehend nach dem statischen oder beweglichem Charakter der Strukturen zu fragen und die Beziehungen zwischen Systemen bzw. Strukturen zum thematisieren. Den Abschluß bilden Überlegungen zur Beziehung von Formbegriff und Strukturbegriff bei beiden Denkern, denen der Versuch einer Antwort auf die im Titel des Beitrages suggestiv formulierte These folgt. 2. Gesellschaft und Kultur Am Beginn der Erörterungen soll die These stehen, die mehr als Hypothese aufzufassen ist, daß wir bei Lévi-Strauss ein ähnliches Konzept von kulturellen Ordnungen wie in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ antreffen. Allerdings umgreift dieses Konzept nicht lediglich Sinnordnungen geistigen Schaffens, wie bei Cassirer, sondern bekanntlich auch solche des sozialen und wirtschaft lichen Lebens. Es läßt sich jedoch auch bei Cassirer eine gewisse Annäherung an diese Bezugsebene feststellen, so wenn er in den beiden in Yale veröffentlichten Schriften An Essay on Man (1944) und The Myth of the State (1946) die symbolischen Formen und das gesellschaftliche Leben in Form der Sozialordnung in einen engeren wechselseitigen Zusammenhang als in früheren Schriften setzt. Nun dominiert der Gedanke, daß »all human works arise under particular historical and sociokette, Sinneffekt, Konstruktion, Rekonstruktion, Einschnitt, Transformation, Diskurs und – als pars pro toto – die Struktur.« – B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. Main, 2. Aufl., 1998, 488. 9 E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944, 70 (= ECW 23, 78).

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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logical conditions« und wir deshalb z. B. »cannot understand the form of primitive mythical thought without taking into consideration the forms of primitive society«.10 Anderseits dürfte die von Lévi-Strauss getroffene Feststellung, daß es die strukturale Analyse nicht einfach mit empirischen »sozialen Beziehungen«, sondern mit »nach jener Wirklichkeit konstruierten Modellen« zu tun habe,11 für die Kulturphilosophie ebenso gelten wie seine Klarstellung, daß diese Modelle als »Symbolsysteme« zu verstehen sind.12 Der Begriff der »sozialen Struktur« darf also auch bei ihm nicht mit den empirischen »sozialen Beziehungen« einer konkreten Gesellschaft verwechselt werden, ist doch die Struktur »den Beziehungen im voraus gegeben«, ist sie doch selbst »etwas anderes […] als die Beziehungen«.13 Dennoch scheint es offensichtlich, daß der Philosoph Cassirer mit seiner allgemeinen Formenlehre der Kultur methodisch einen anderen Ansatz verfolgt als der seine Methoden außerordentlich tiefsinnig reflektierende Ethnologe Lévi-Strauss, dem es im Grunde immer um konkrete, empirische, reale ›primitive‹ Gesellschaften zu tun ist, der allerdings ebenso den Anspruch erhebt, in ihnen – bzw. in den Kulturleistungen ihrer Mitglieder – allgemeine, universale Gesetzmäßigkeiten, Strukturgesetze aufzudecken. Der Zusammenhang der Begriffe Kultur und Gesellschaft, den Lévi-Strauss zudem im Sinne von Marx und Engels zu gebrauchen meint,14 erschließt sich jedoch nicht auf einfache oder gar evidente Weise.15 Unter Umständen haben wir ihn in Analogie zu dem Verhältnis von ›Überbau‹ und ›Basis‹ zu verstehen,16 wenn auch manche Defi nitionen des Begriffs Kultur dem Ebd., 68 f. (= ECW 23, 76). C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: Strukturale Anthropologie I (franz. 1958), Übersetzt von Hans Naumann, Frankfurt a. Main, 1977, 301. 12 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: ebd., 24. 13 C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: ebd., 330 f. 14 »Herr Rodinson wirft mir eine Verkennung des Strukturbegriff s vor, den ich glaubte, Marx und Engels – unter anderen – entlehnt zu haben, um ihm eine wesentliche Rolle zu geben, […]. Am Ende rät mir Herr Rodinson, den Begriff ›Kultur‹ zugunsten dessen der ›Gesellschaft‹ aufzugeben. Ich habe, ohne auf den ersten zu verzichten, nicht auf Rodinson gewartet mit dem Versuch, beide in einer Perspektive zu plazieren, die mit den Prinzipien des Marxismus vereinbar ist.« – C. Lévi-Strauss, Brief an den Chefredakteur von La Nouvelle Critique, 25 November 1955, in: ders., »Nachtrag zu Kapitel 15« (1956), in: ebd., 358. 15 So wenn er von einer »anthropologischen Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft« spricht, die Saint-Simon antizipiert habe, wobei die ›Gesellschaft‹ für die ›Herrschaft‹ von Menschen – und Dingen – über Menschen, die ›Kultur‹ für die ›Verwaltung‹ der Dinge durch – freie – Menschen zu stehen scheint. 16 Dies z. B., wenn Lévi-Strauss ausführt, daß die »maschinistische Revolution des 19. Jahrhunderts« es perspektivisch ermöglichen werde, »jene dynamische Funktion auf 10 11

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V. System, Struktur und Symbol

zu widersprechen scheinen.17 Der Versuch, die Begriffe Kultur und Gesellschaft in den bei Lévi-Strauss intendierten Zusammenhang zu bringen, ließe sich noch um einen dritten Begriff, den der Zivilisation, erweitern.18 Dagegen erweisen sich Feststellungen, wonach Kultur in unterschiedlichsten Koordinatensystemen verortet sein kann, von einem menschheitlichen bis hin zu »familiären, beruflichen, konfessionellen, politischen« Systemen,19 keineswegs durch einen tiefen Graben von den Interpretationen Cassirers getrennt. Zudem besteht für Lévi-Strauss Kultur sowohl aus spezifischen Formen wie dem Sprachsystem oder der Mythologie als auch aus Regeln bzw. Formen, die selbst kulturindifferent sind und sowohl in der Natur als auch in der Kultur funktionieren.20 Letzterem würde Cassirer wohl nur in dem Sinne zustimmen können, daß es sich hierbei um Analogien des ›als ob‹ handelt.21 die Kultur zu übertragen, welche die protohistorische Revolution der Gesellschaft zugewiesen hatte« (C- Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« [1960], in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 41). Dann könnte ›Kultur‹ für die Institutionen und Systeme des ›Überbaus‹, und ›Gesellschaft‹ für die sozialen und wirtschaft lichen Ordnungen stehen. Oder wenn von der zukünft igen Gesellschaft sform die Rede ist, die aus einem »Verschmelzungsprozeß« von ›kalter‹, d. h. außerhalb der Geschichte stehender ›primitiver‹, stationärer Gesellschaft, und ›warmer‹ Gesellschaftsform, d. h. geschichtlicher, dynamischer ›zivilisierter‹ kapitalistischer Gesellschaft, hervorgehen könnte, und in der der Kultur – d. h. den Überbauordnungen wie Wissenschaft , Kunst etc. – vollständig die Aufgabe zufalle, »den Fortschritt zu produzieren«, was »die Gesellschaft von [dem] jahrtausendealten Fluch befreit, der sie zwang, die Menschen zu knechten, damit Fortschritt sei«, d. h. die soziale und wirtschaft liche Ordnung (Basis) von der Notwendigkeit der wirtschaft lichen Ausbeutung des Menschen und seiner sozialen Instrumentalisierung im Dienste des materiellen und geistigen Fortschritts ›befreien‹ würde (ebd., 41). Bei Marx und Engels findet sich bereits in den Frühschriften u. a. folgende Formulierung: »Die bürgerliche Gesellschaft als solche entwickelt sich erst mit der Bourgeoisie; die unmittelbar aus der Produktion und dem Verkehr sich entwickelnde gesellschaft liche Organisation, die zu allen Zeiten die Basis des Staats und der sonstigen idealistischen Superstruktur bildet, ist indes fortwährend mit demselben Namen bezeichnet worden.« – K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie (1845/46, veröffentl. 1932), in: MEW 3: Karl Marx und Friedrich Engels 1845–1846, Berlin 1973, 36. 17 »Wir nennen Kultur jede ethnographische Gesamtheit, die, vom Standpunkt der Untersuchung aus, gegenüber anderen bezeichnende Abweichungen aufweist.« – C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 320. 18 Darauf hat mich Jana Suhl in ihrer Seminararbeit »Der Begriff der Kultur in der Strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss« aufmerksam gemacht. 19 C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 321. 20 Ebd., 322. 21 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444.

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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Bei der Erläuterung dessen, was die strukturale Analyse und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ unter Gesellschaft und Kultur verstehen, stoßen wir, wie bereits deutlich geworden ist, immer wieder auf die Begriffe System und Struktur. Diese sollen nun in ihrem möglichen Zusammenhang betrachtet werden.

3. Struktur, System, Gesamtzusammenhang Die konkrete Gesellschaft, so wie sie den Ethnologen interessiert, sieht dieser durch mehrere Systeme bzw. Modelle beschrieben, die wiederum jeweils von Strukturen bzw. Strukturgesetzmäßigkeiten bestimmt werden, die den in ihnen lebenden Menschen unbewußt bleiben.22 Diese unbewußten bzw. unerkannten Strukturgesetze stellen, so Lévi-Strauss, Cassirers Kulturbegriff quasi paraphrasierend, »für die Forschung geeignete Ausdrucksformen« der Einheit einer empirischen Gesellschaft als einer Totalität von Beziehungen dar.23 Gesellschaft wird von ihm folglich aufgefaßt als »eine Gesamtheit von Strukturen, die verschiedenen Ordnungstypen entsprechen«, welche jeweils ein Mittel bieten, »die Individuen nach bestimmten Regeln zu ordnen«.24 In einem ähnlichen Sinne spricht Cassirer im Essay on Man (1944), wenn er die »form[s] of a communal human existence« erwähnt, derer der Mensch bedarf, um sein soziales und kulturelles Leben führen zu können, von »form[s] of social organization«, die die Funktion haben, »to organize his feelings, desires, and thoughts«, seine Taten und Handlungen zu systematisieren, zu ordnen und den jeweiligen Betätigungen des Menschen Ausdruck zu verleihen.25 Für Lévi-Strauss wie für Cassirer besitzt jeder Ordnungstyp bzw. jedes soziale bzw. kulturelle System seine eigene Struktur, seine »Ordnungsstruktur« bzw. seine »fundamental structure«. 26 Die Systeme werden als Systeme von Beziehungen zwischen kulturellen Phänomenen aufgefaßt, wobei bei Lévi-Strauss die ihnen jeweils zugrunde liegende elementare Struktur auf mehreren Gliedern beruht, die in Gegensatzpaare integriert sind. Dabei hält Lévi-Strauss – in Anlehnung an den Linguisten C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 45. 23 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: ebd., 100. 24 C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: ebd., 342. 25 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 63 (= ECW 23, 71). 26 C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 342; E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 68 (= ECW 23, 76). 22

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V. System, Struktur und Symbol

Nikolaj Trubetzkoj und in Analogie zu Cassirers philosophischen Grundpositionen eines »relational thought« – aber die Beziehungen zwischen den Gliedern, nicht die Glieder selbst, für entscheidend, für primär. 27 Cassirer nennt die den Fakta oder Phänomenen logisch vorhergehenden Beziehungen – unter Bezug auf die zeitgenössische Gestaltpsychologie – »fundamental structural elements« bzw. »patterns or configurations«. 28 Lévi-Strauss teilt folglich mit Cassirer das relationale oder Beziehungsdenken, das dieser zudem abhängig sieht von »a complex system of symbols« bzw. vom »symbolic thought«. 29 Wenn beide Denker die Funktion der Strukturierung beschreiben, dann teilen sie nicht zuletzt auch den Gedanken Cuviers, wonach die Struktur bzw. die Form keineswegs zur Ordnung der empirischen Beobachtung gehört, sondern sich jenseits derselben in einer Art »verborgenen Realität« findet.30 Diejenigen Sinnordnungen oder Systeme, die bei Cassirer die symbolischen Formen der Kultur heißen, von denen er im Essay on Man (1944) bekanntermaßen »language, myth, religion, art, science, history« zur Darstellung bringt, 31 die figurieren bei Lévi-Strauss, so meine These, als die »symbolischen Systeme« der Kultur bzw. der Gesellschaft, die er auch die »Kommunikationssysteme« nennt, 32 von denen die Sprache – wie bei Cassirer – nur eines unter anderen, wenn auch ein ausgezeichnetes, ist.33 Wie C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 61 f. 28 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 38 (= ECW 23, 43). 29 Ebd., 38 (= ECW 23, 43). 30 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 28, 26. 31 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 68 (= ECW 23, 76). 32 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 96. 33 Symbolisierungsleistungen des Raumbewußtseins »without the preliminary step of human language […] would not be possible.« – E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 38 (= ECW 23, 44). In einem 1927 in London gehaltenen Vortrag über das Verhältnis von Sprache, Denken und Wahrnehmung kommt Cassirer abschließend auf die Alternative zu sprechen, wonach entweder »sich eine gemeinsame Grundfunktion des Geistes auszeichnen [läßt – C.M.], die wir als die Symbolfunktion schlechthin bezeichnen können und von der die Sprache selbst nur eine besondere spezifische Ausprägung ist«, oder daß »vielmehr alles symbolische Verhalten auf die Sprache als Urgrund, als ›Bedingung seiner Möglichkeit‹ zurückgeht.« (E. Cassirer, »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« [1927], in ders., Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹«, Hrsg. von Ch. Möckel, in: ECN 4, Hamburg 2011, 310). Mit anderen Worten, Cassirer stellt sich die Frage, »wie weit die Sprache hierbei das Erste oder das Zweite, wie weit sie Grund oder Folge« ist. Obwohl er an dieser Stelle die Frage nicht explizit beantwortet, dürfte eine Antwort wohl mehr die erste Variante, weniger die zweite favorisieren. 27

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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bereits angesprochen, bezieht Lévi-Strauss in den Kreis der von ihm beachteten und untersuchten Systeme – im Unterschied zu Cassirer – auch modellierte soziale, biologische und wirtschaftliche Beziehungen bzw. Systeme mit ein. Zu ihnen zählt er u. a. die »Bereiche der Mythen [oder der Mythologie – C.M.], der Rituale, der Verwandtschaft«,34 an anderer Stelle die Systeme »Kunst, […] Ritus, Religion«.35 In den Texten ist zudem die Rede von drei »Ebenen« der zu erforschenden Regeln: den Verwandtschafts- und Heiratsregeln, den ökonomische Regeln des Gütertauschs und den sprachlichen Regeln des Nachrichtentausches.36 Ebenso spricht Lévi-Strauss von den »Systemen […] der politischen Ideologie, […] der Höflichkeitsformen und […] der Küche«.37 Sich an Durkheim anlehnend nennt er »die Logik, die Sprache, das Recht, die Kunst, die Religion«, die solche Systeme ausmachen, auch »Codes«, von denen jeder – wiederum quasi Cassirersche Begrifflichkeiten nutzend – eine spezielle »Organisationsform« und »differentielle Funktion« besitze.38 Auch bei Cassirer besitzt, wie bereits angedeutet, jede kulturelle Sinnordnung bzw. jede sich objektivierende Tätigkeitsform eine eigene »fundamental structure« bzw. eine eigene »basic function«. Der Grundfunktionen werden wir habhaft, indem wir »the structure of language, myth, religion, art and science« bzw. deren »general structural principles« beschreibend aufsuchen.39 Jede Struktur bedeutet für Cassirer »a character of rationality« bzw. eine eigentümliche »rationality of form«. 40 Gleichzeitig bilden alle Ordnungen »an organic whole«, werden alle durch »a common bond«, die allgemeine symbolische Funktion, umfaßt. 41 Da den Sinnordnungen jeweils bestimmte Formen der Betätigung zugeordnet werden, bilden diese ein ganzheitliches »system of human activities«, das »the circle of ›humanity‹« bestimmt. 42 Auch für Lévi-Strauss bilden die Systeme, Ordnungen, Ebenen, Bereiche, Codes einen »Gesamtzusammenhang«, von dem her erst ihre jeweilige Struktur bzw. Strukturgesetzlichkeit »bemerkbar« und ver-

C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 96. 35 Ebd., 98. 36 Ebd., 97. 37 Ebd., 100. 38 C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« (1960), in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 14. 39 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 68 f. (= ECW 23, 76 f.). 40 Ebd., 167 (= ECW 23, 181). 41 Ebd., 68 (= ECW 23, 76). 42 Ebd., 68 (= ECW 23, 76). 34

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V. System, Struktur und Symbol

ständlich wird. 43 Zudem könne von einer wie auch immer gearteten Gleichförmigkeit der Systeme innerhalb ihres Gesamtzusammenhanges keine Rede sein, die ›primitiven‹ Gesellschaften, deren Sozialordnung, d. h. deren ›Basis‹, von Ordnungen geprägt ist, die einem »transitiven und nichtzyklischen Typus« angehören, würden – diesen Regeln gehorchend – auf der »Ebene der Politik, des Mythos oder der Religion«, was sozusagen dem ›Überbau‹ entspricht, vielmehr »andere Ordnungstypen«, d. h. »›mögliche‹ oder ›ideelle‹« Systeme, die einen »intransitiven und zyklischen« Charakter tragen, entwerfen. 44 Cassirer läßt sich meines Wissens auf eine derartige konkrete, konträre Typisierung der einzelnen Sinnordnungen von kulturellem Tätigsein nicht ein. Obwohl er durchaus den Eigenheiten, den unterschiedlichen Proportionen bestimmter Grundfunktionen menschlichen Geistes in den symbolischen Formen nachgeht, erscheinen in seiner Kulturphilosophie die einzelnen systematischen Ordnungen wohl eher »as so many variations on a common theme«, wobei er wiederum die allgemeine Symbolfunktion menschlichen Geistes im Auge hat. 45

4. System, Zeichen und Symbol Was den Systembegriff bei Lévi-Strauss weiterhin kennzeichnet, ist, daß sich jedes System in »differentielle Elemente« zerlegen lasse, die sich in der Regel in »Gegensatzpaaren« organisieren, 46 von denen aber nur eine kleine Anzahl ausgewählt und wirksam wird. 47 Ähnlich erklärt Cassirer mit Blick auf Heinrich Wölfflin, die »a general structural scheme« bildenden Elemente »are not unlimited; as matter of fact they may be reduced to a small number«. 48 Einige dieser Elemente bleiben, so heißt es wiederum bei Lévi-Strauss, »durch die verschiedensten [empirischen – C.M.] Kulturen hindurch die gleichen« und werden »in immer neuen Strukturen kombiniert«. 49 Die methodische Zerlegung der Systeme in Elemente führe selbst allerdings nicht auf die »allgemeinsten Strukturgesetze»; dies leistet C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 61. 44 C. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethnologie« (1953), in: ebd., 342. 45 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 71 (= ECW 23, 79). 46 C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 48. 47 Ebd., 54. 48 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 71 (= ECW 23, 77). 49 C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 54. 43

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wohl nur die vergleichende Analyse der Systeme und ihrer Elemente. Cassirer wiederum will die aufgefundenen Strukturen analysiert, zerlegt, aber ebenfalls in ihren typischen Beziehungen freigelegt sehen.50 Auch ist für Lévi-Strauss der Wirklichkeitsstatus der Elemente in den verschiedenen Systemen nicht derselbe; mal komme ihnen objektive Existenz zu, mal seien sie bloße Abstraktionen.51 Die ihrem Inhalt nach unterscheidbaren Systeme gelten ihm je als Mittel zur Verwirklichung derjenigen Funktion, die die jeweilige Ordnung in der Kultur einer Gemeinschaft erfüllt.52 Wenn Lévi-Strauss die unterschiedlichsten Systeme – in Anlehnung an Ferdinand de Saussure – auch als »Zeichensysteme« auffaßt und folglich von »Bereichen der Semiologie« spricht,53 dann stehen wir vor weiteren Parallelen mit der Philosophie Cassirers. Dies wird z. B. in dessen »Einleitung und Problemstellung« in den 1. Teil der Philosophie der symbolischen Formen – Die Sprache (1923) – deutlich, in der er zur Klärung des Begriffs symbolische Form nicht nur vielfach auf die Begriffe Funktion, Struktur und System zurückgreift, sondern auch den Zeichencharakter der Symbole hervorhebt und von »Zeichensystem[en]« handelt.54 Diese Parallelen resultieren nicht zuletzt aus der Tatsache, daß Lévi-Strauss den Zeichencharakter der Systeme und ihrer Elemente – wie Cassirer auch – an den Begriff der Bedeutung bindet. Er charakterisiert die Systeme u. a. »als eine Gesamtheit von signifi kativen Entscheidungen«.55 Die Bedeutung, die alle relevanten kulturellen Phänomene – bzw. ihre sprachlichen Bezeichnungen – besitzen, wird ihnen allein durch ihre Eingliederung in entsprechende Systeme bzw. Ordnungen von Bedeutung gesichert;56 ein Zusammenhang, den Cassirer bekanntlich symbolische Prägnanz nennt.57 Auch die Aussagen zum ZuE. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 115 (= ECW 23, 125). C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 49. 52 Ebd., 50. 53 C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« (1960), in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 18. 54 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 15. 55 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 20. 56 C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: ebd., 46. 57 »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. […] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll den Ausdruck der ›Prägnanz‹ bezeichnen. […] Die ›Teilhabe‹ an diesem Gefüge gibt der Erscheinung 50 51

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V. System, Struktur und Symbol

sammenhang von Bedeutungs- und Strukturproblem finden sich bereits bei Cassirer, wenn er bei der Beschäftigung mit Sprache, Kunst und Mythos einräumt, daß »the problem of meaning takes precedence over the problem of historical development«.58 Deshalb, so Cassirer, »this structural view of culture must precede the merely historical view«.59 Jegliche Deutung von Fakten führe, so Cassirer weiter, auf »general structural problems belonging to a different type of knowledge«, 60 weshalb sie, die Deutung, wie bereits bemerkt, allgemeiner struktureller Schemata bedürfe. 61 In Zusammenhang mit dem Zeichen- und Bedeutungsproblem hebt Lévi-Strauss auch die »symbolische Natur« der sozialen bzw. kulturellen Realität und ihrer sie modellierenden Systeme hervor. Kommunizieren die Menschen doch »mit Hilfe von Symbolen und Zeichen«, weshalb »alles Symbol, und Zeichen, [ist,] das sich als Vermittler zwischen zwei Subjekte stellt«. 62 Zeichen und Symbole spielten allerdings nur insofern eine Rolle, »als sie zu Systemen gehören, die unter inneren Gesetzen [der jeweiligen Struktur – C.M.] stehen«. 63 Während Cassirer 1923 in Die Sprache Zeichen und Symbol auch noch weitgehend synonym gebraucht und die kulturellen Symbole als Weiterentwicklung natürlicher Symbole bzw. Zeichen deutet, 64 legt er später im Essay on Man (1944), den nordamerikanischen Kontext des Zeichen- bzw. Symboldiskurses in Betracht ziehend, großen Wert darauf, daß »we must carefully distingish between ›signs‹ and ›symbols‹«, 65 indem er die einen nun dem tierischen, die anderen jedoch dem menschlichen Verhalten zuordnet. Die damit verbundenen Argumente sind bekannt, sie sollen hier nicht wiederholt werden. Das Vokabular des Symbols bzw. des Symbolischen, das sich bei LéviStrauss findet, erinnert sehr stark an das Cassirersche. Das gilt auch für die Argumentation, daß, weil wir es bei den verschiedenen Ordnungen bzw. Systemen in Gesellschaft und Kultur mit »Systemen aus Symbolen« zu tun zu haben, beim Ethnologen ein »Symboldenken« gefordert sei, das

erst ihre objektive Wirklichkeit und ihr objektive Bedeutung.« – E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 231, 233. 58 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 69 (= ECW 23, 77). 59 Ebd., 69 (= ECW 23, 77). 60 Ebd., 119 (= ECW 23, 129). 61 Ebd., 69 (= ECW 23, 77). 62 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 20. 63 Ebd., 28. 64 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 40. 65 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 31 (= ECW 23, 36).

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jeg lichen »Naturalismus« vermeidet. 66 Diese grundsätzliche Abgrenzung gegenüber dem Naturalismus findet sich nämlich ebenso bei Cassirer, dessen »Phenomenology of human culture»67 es notwendig erschein läßt, neben der historischen Bedeutung aller Phänomene auch ihr »hidden symbolic meaning« aufzudecken. 68 Leider bleibt bei der Lektüre der Strukturalen Anthropologie letztlich doch irgendwie unklar, was Lévi-Strauss genau unter »symbolisch« versteht oder verstanden wissen will, auch Ausdrücke wie »symbolische Systeme«, zu denen er u. a. die Systeme bzw. Bereiche der Sprache, der Mythen, der Rituale, der Verwandtschaft zählt, 69 oder »symbolische Funktion« der Sprache 70 müssen – mit Blick auf Cassirer, der analoge Ausdrücke gebraucht und nicht notwendigerweise, wohl aber möglicherweise ein analoges Symbolverständnis besitzt71 – weiter aufgeklärt werden. Faßlicher erscheint es, wenn Lévi-Strauss in einem recht traditionellen Sinne von Symbolen und Symbolik handelt. So z. B., wenn er den kulturellen Gebrauch von Naturprodukten auch davon abhängen sieht, welchen »Symbolwert« ihnen die Menschen zuweisen.72 Ebenso zielt die Rede von der »Symbolsprache« bzw. einer Symbolbeziehung in der Regel auf das traditionelle Verständnis von – magischen – Symbolen und ihrem Gebrauch.73 Beide Denker, Lévi-Strauss wie auch Cassirer, verweisen immer wieder auf C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 67. 67 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 52 (= ECW 23, 58). 68 Ebd., 53 (= ECW 23, 59). 69 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 96. 70 Ebd., 104. 71 »Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, ›sind‹ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf« (E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache [1923], in: ECW 11, a. a. O., 40). Die kulturellen Ordnungen oder Systeme, sich konstituierend in symbolischen Zeichen und geformt durch gestaltende geistige Tätigkeit, werden als symbolische Formen beschrieben, wobei »unter einer ›symbolischen Form‹ […] jede Energie des Geistes verstanden werden [soll], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« (E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« [1923], in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften [1922–1926], Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 79). Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–590. 72 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 110. 73 C. Lévi-Strauss, »Die Wirksamkeit der Symbole« (1949), in: ebd., 217. 66

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V. System, Struktur und Symbol

das Verwobensein dieser Art magischer Symbolsprache mit sozialen Handlungen (Riten), was für ihre Funktion der »Manipulierung« von Sachverhalten unerläßlich sei. Cassirer z. B. sieht einen engen Zusammenhang zwischen den Mythen, als einer Weise der Symbolisierung, die eine bestimmte Objektivation von Gefühlen, Emotionen leistet, und den Riten als sozialen Handlungen, nach deren Bedeutung der Mensch in den mythischen Erzählungen frage, da ihm die Motive seines rituellen Handelns zunächst unbewußt seien.74 Wenn Lévi-Strauss die Möglichkeit der »Wirkungskraft« dieser Symbolsprache auf »formal homologe Strukturen« in den unterschiedlichen Ordnungen der Wirklichkeit zurückführt,75 weist dies auf seine Annahme »wirklich zeitloser« Strukturgesetze in ihnen hin. Die Haltung Cassirers, für den Strukturgesetze der symbolischen Formen bzw. symbolischen Systeme letztlich keine einfach empirisch-zufällige Prinzipien sein können, sondern zumindest eine ideelle, das Hier und Jetzt überschreitende Dimension haben, zur Annahme ›zeitloser‹ Strukturprinzipien muß noch genauer aufgeklärt werden.

5. Unbewußte Gesetze und Strukturen Die strukturierten Ordnungen einer Gesellschaft oder Kultur charakterisiert Lévi-Strauss auch als »Systeme von Vorstellungen«,76 die, wie z. B. das Verwandtschaftssystem, als »willkürliche Systeme von Vorstellungen« – im Unterschied zu ihrer Struktur, ihren Strukturgesetzen – »nur im Bewußtsein der Menschen« existierten.77 Dabei kämen in ihnen allerdings Bezüge zu den »unbewußten Bedingungen des sozialen Lebens« zum Tragen, was den »kollektiven Phänomenen« eine »unbewußte Natur« beilege.78 Es seien nun die Strukturen dieser willkürlichen Systeme, die in mehreren konkreten Systemen derselben Ordnung vorkommen und deshalb »einen bezeichnenden Ausdruck der unbewußten Haltungen« der in Gemeinschaft lebenden Menschen vollzögen bzw. bildeten.79 Dies meint u. a. die »unbewußte Strukturierung des Vokabulars« einer empirischen Sprache, 80 E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 45 f. (= ECW 25, 46 f.). C. Lévi-Strauss, »Die Wirksamkeit der Symbole« (1949), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 217. 76 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: ebd., 30 f. 77 C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: ebd., 66. 78 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: ebd., 32. 79 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: ebd., 102. 80 Ebd., 109. 74

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wobei grundsätzlich »zwischen vorgebildeten Möglichkeiten« gewählt wird bzw. gewählt werden muß, 81 weshalb für Lévi-Strauss – de Saussure folgend – empirische sprachliche Bedeutungen niemals bloße Konventionen sind. In der Behauptung, daß die konkreten Systeme einer ›primitiven‹ Gesellschaft oder Kultur »durch den Geist auf der Stufe des unbewußten Denkens gebildet« werden, sich »aus dem Spiel allgemeiner, aber [den Beteiligten – C.M.] verborgener Gesetze»82 – den »zeitlosen« Strukturgesetzen83 – ergeben, besteht eine markante Eigentümlichkeit der in seinen Texten implizit präsenten Kulturphilosophie. Das »Unbewußte« wird als »Organ einer spezifischen Funktion« – des menschlichen Geistes – aufgefaßt, die »unartikulierten Elementen« Struktur, Strukturierung auferlegt. 84 Das ›Unbewußte‹ werde aus der »Gesamtheit dieser Strukturen« gebildet und ist als »symbolische Funktion« anzusehen bzw. bringt eine solche zum Ausdruck, »die zwar spezifisch menschlich ist, die sich aber bei allen Menschen nach demselben Gesetzen vollzieht« und die sich »auf die Gesamtheit dieser Gesetze zurückführen läßt«. 85 Diese symbolische Funktion »erfüllt sich« durch die immer dieselbe bleibende Struktur. 86 Auf den ersten Blick scheint sich die auf Franz Boas und Ferdinand de Saussure zurückgehende Lehre vom ›Unbewußten‹ nicht mit dem Cassirerschen Verständnis geistiger menschlicher Aktivität zu vertragen. Allerdings stellt Cassirer ebenfalls eine allgemeine Symbolfunktion in den Mittelpunkt seiner Lehre vom menschlichen Geist, und im Grunde erweist sich manches, was er von den diversen »Energien des Geistes« bzw. »geistigen Energien»87 ausführt, die sich in eigenständigen und eigentümlichen symbolischen Formungen von bedeutsamen Gehalt, Ausformungen von Sinnordnungen verwirklichen, denen je eigene, für die gesamte Menschheit geltende »Prinzipien geistiger Gestaltung«88 – Strukturprinzipien bzw. »Strukturgesetze«89 – zugrunde liegen, schon nicht mehr durch Welten Ebd., 106. C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: ebd., 46. 83 C. Lévi-Strauss, »Die Wirksamkeit der Symbole« (1949), in: ebd., 223. 84 Ebd., 223 f.; »[…] wir meinen, [daß] die unbewußte Tätigkeit des Geistes darin besteht, einem Inhalt Formen aufzuzwingen, […] – wie die Untersuchung der symbolischen Funktion, wie sie in der Sprache zum Ausdruck kommt, überzeugend nachweist – […]« – C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: ebd., 35. 85 C. Lévi-Strauss, »Die Wirksamkeit der Symbole« (1949), in: ebd., 223. 86 Ebd., 224. 87 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 7, 9. 88 Ebd., 8 f. 89 Ebd., 38. 81

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getrennt von der hier angeführten Lehre. Zudem können wir hinter LéviStrauss’ Rede vom »unbewußten Denken, das sich in generellen Strukturen, Regeln, Gesetzen und symbolischen Funktionen betätigt«,90 durchaus den Cassirerschen Gedanken objektiver Sinnstrukturen erahnen, die zwar nur durch die geistige Aktivität der Menschen Realität erlangen, dabei aber keineswegs von ihnen gewußt werden müssen oder gar ihrer Willkür unterliegen. Als »Musterbild« für dieses Funktionieren des ›unbewußten‹ Denkens gelten Lévi-Strauss die Sprachgesetze, die er ganz in diesem Sinne auffaßt als »Fungieren von Regeln, die wir [die Sprachbenutzer – C.M.] nicht gesetzt haben und nicht beherrschen und deren Zwängen doch all unser Reden, Denken und Tun unterworfen ist«.91 Bei Cassirer, der ebenfalls die Vorgefundenheit der inneren Gesetze einer symbolischen Form, z. B. der Sprachform, betont, kommt allerdings noch der Gedanke hinzu, daß die Sprachbenutzer unwissentlich, allein durch ihr aktives Inanspruchnehmen, die konkrete empirische Sprache – und damit schließlich auch die allgemeine Sprachform selbst – unmerklich verändern, gestalten, umformen. Ob er dabei auch das Strukturprinzip der Sprachform und ihre allgemeinen Gesetze, oder nur das empirische Sprachsystem und die Sprachform als Bedeutungssystem der Metamorphose unterzogen sehen will, soll hier nicht weiter diskutiert werden, bei Annahme einer ›lebendigen‹ Regel müßte ersteres gelten. Cassirer betont aber ganz offensichtlich stärker als Lévi-Strauss den permanenten Veränderungsprozeß, dem auch die einzelnen Sinnordnungen, die einzelnen symbolischen Formen ausgesetzt sind, die dabei aber dennoch d i e s e l b e n bleiben. Auch für ihn bleiben die in praktischer kultureller Tätigkeit zur Anwendung kommenden Regeln, Gesetze einer Struktur bzw. eines kulturellen Phänomens (Boas) solange ›unbewußt‹, solange es keine Theorien, keine Wissenschaften von diesen Phänomenen gibt, die diese methodisch reflektierend analysieren, während die den Individuen bewußte Ebene sich so lange lediglich auf das Besondere, Spezielle beschränkt. In diesem Sinne sieht Lévi-Strauss den »Übergang vom Bewußten zum Unbewußten […] neben einem Fortschritt vom Speziellen zum Allgemeinen her[laufen]«.92

C. Lévi-Strauss, »Die Wirksamkeit der Symbole« (1949), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 223. 91 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: ebd., 34 f. 92 Ebd., 35. 90

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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6. Statische oder bewegliche Strukturen Im Grunde stellt sich hier die Frage, ob Lévi-Strauss die unbewußten Strukturen, die Struktur- und Ordnungsformen eher als universale, unbewegliche, statische oder doch als bewegliche, veränderliche, vielleicht sogar sich entwickelnde verstanden wissen will. Mit anderen Worten: fi ndet in ihnen so etwas wie eine Metamorphose statt, die Cassirer – im Anschluß an Goethe, auf den Lévi-Strauss ja auch vielfach verweist – seinen Formen zuschreibt, weshalb er sie auch ›lebendige‹ Formen nennt?93 Im Essay on Man (1944) heißt es von den ästhetischen Formen ganz bestimmt: »These forms are no static elements«.94 Kommen wir noch einmal auf eine Aussage von Lévi-Strauss zurück, auf die wir in der Anmerkung 84 bereits hingewiesen haben: in diesem Text führt er nicht nur aus, daß »die unbewußte Tätigkeit des Geistes darin besteht, einem Inhalt Formen aufzuzwingen«, sondern auch, daß »diese Formen im Grunde für alle Geister, die alten und die modernen, die primitiven und die zivilisierten[,] dieselben sind«, wie dies »die Untersuchung der symbolischen Funktion, wie sie in der Sprache zum Ausdruck kommt, überzeugend nachweist«.95 Deshalb, so seine methodische Schlußfolgerung, sei es notwendig und ausreichend, »die unbewußte Struktur, die jeder Institution oder jedem Brauch zugrunde liegt, zu fi nden, um ein Interpretationsprinzip zu bekommen, das [ebenso – C.M.] für andere Institutionen und andere Bräuche gültig ist«.96

Diese Aussagen und Erläuterungen machen es dem Leser scheinbar schwer, Lévi-Strauss’ Formen und Strukturen – im Gegensatz zu den immer dieselben bleibenden Gesetzen hinter den sich wandelnden Phänomenen – Beweglichkeit, Lebendigkeit und Entwicklung zuzuschreiben, da sie ihm als unbewußte »einheitliche Schema[ta]« gelten. Mehr noch, diese für alle Menschheitsgeister und »durch alle Schicksalswendungen hindurch« gleichbleibenden Formen bzw. formale Charaktere scheinen bei Lévi-Strauss

Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–398. 94 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 169 (= ECW 23, 182). 95 C. Lévi-Strauss, »Einleitung: Geschichte und Ethnologie« (1949), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 35. 96 Ebd., 35. 93

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V. System, Struktur und Symbol

auch für allen variablen – wirtschaftlichen, juristischen, religiösen oder kultischen – Inhalt dieselben zu sein.97 Andererseits zitiert er zustimmt die Einsicht Durkheims, wonach zwar »›die Phänomene, welche die Struktur betreffen, etwas Stabileres an sich [haben] als die funktionalen Phänomene‹«, zwischen »›beiden Ordnungen [jedoch] nur Gradunterschiede‹« bestünden. Auch folgende »tiefsinnigen Bemerkungen Durkheims« aus dem Jahre 1900 könnten, so Lévi-Strauss 1960, heute geschrieben sein: »›Der Struktur selbst begegnet man im Werden […] Sie entsteht und zerfällt ohne Unterlaß; sie ist das Leben, das einen bestimmten Grad an Konsolidierung erreicht hat; und sie vom Leben unterscheiden zu wollen, von dem sie sich herleitet, oder vom Leben, das sie determiniert, ist dasselbe, als wollte man Untrennbares trennen‹«.98

Dies bezieht er ebenfalls auf die Zeichensysteme, deren Geschichte »logische Evolutionen« umfaßten.99 Ohne aus den angeführten Aussagen bereits eine logisch- oder historisch-evolutionäre Auffassung der Begriffe System, Struktur und Form bei Lévi-Strauss ableiten zu wollen, scheint ihm diese Sichtweise doch nicht völlig fremd zu sein. Bei Cassirer dürfen wir eine logisch- und historisch-genetische Auffassung dieser Begriffe in der Weise voraussetzen, daß sie in ihren jeweiligen Ausprägungen Stadien oder Stufen des Aufbauens durchlaufen, die er u. a. den drei Grundfunktionen des Geistes – Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion – zuordnet. Ob dies für ihre ›Lebensgesetze‹, die Form- oder Strukturprinzipien, auch gilt, muß an dieser Stelle offen gelassen werden.

7. Beziehungen zwischen Systemen bzw. Strukturen Lévi-Strauss richtet sein Augenmerk auch, ebenso wie Cassirer, auf die »offensichtlichen Beziehungen«, die zwischen den verschiedenen Systemen bzw. Formen bestehen und die vergleichend zu untersuchen seien.100 Den Typus dieser Beziehungen will er weder als »strengen Parallelismus« noch als »Unabhängigkeit« der einzelnen »Ordnungen von einander« Ebd., 36 f. C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« (1960), in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 27. 99 Ebd., 27. 100 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu den Kapiteln 3 und 4« (1956), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 97. 97 98

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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verstanden wissen, vielmehr seien sie als »funktionelle« »Wechselbeziehungen« zu charakterisieren.101 Wie auch Cassirer betont er zudem, daß es sich hierbei um nichtkausale Beziehungen (»Homologien») handele. Die Wechselbeziehungen z. B. zwischen den »unbewußten Kategorien des Denkens« und den »sozialen Verhaltensweisen« der Menschen in ›primitiven‹ Gesellschaften, die eine gewisse Parallelität bzw. Korrelativität offenbaren, würden in »homologen Ausdrücken der Sprachstruktur und der sozialen Struktur« sichtbar.102 Diese Korrelativität bzw. Homologie komme u. a. darin zum Ausdruck, daß, wenn die »Systeme« eines Typs – wie die Verwandtschaftssysteme – sich von einer konkreten Gesellschaft zur anderen abwandeln, diesen Abwandlungen »Umwandlungen« z. B. in den Mythen dieser Gesellschaften entsprechen, wenn man verschiedene Versionen des gleichen Mythos vergleicht. So stelle sich der Mythos als »eine Gesamtheit [d. h. als ein System – C.M.] bipolarer Strukturen dar, die denen analog sind, die das Verwandtschaftssystem bilden«.103 Lévi-Strauss schlußfolgert daraus, daß, wenn Korrelationen selbst zwischen solch entfernten Systemen festzustellen sind, dann auch eine »Korrelation mit dem Sprachsystem bestehen« müsse.104 Korrelative Wechselbeziehungen vermutet er auch zwischen den Typen einer ›gedachten‹ (Religion) und den Typen einer ›gelebten‹ Ordnung (Sozialstruktur).105 Wobei »›gelebte‹ Ordnungen« von einer objektiven Wirklichkeit abhängen, während die »›gedachten‹ Ordnungen« auf den »Gebiet[en] des Mythos oder der Religion«, aber auch dem der »politischen Ideologie der modernen Gesellschaften«, unmittelbar keiner objektiven Wirklichkeit entsprechen.106 Das Freilegen solcher Korrelationen führt Lévi-Strauss auf die Einsicht, wonach die »magischen Glaubensinhalte« einer Gemeinschaft als »eine direkte Funktion der Struktur der sozialen Gruppe« zu verstehen seien.107 Er hält es deshalb für »möglich […], durch Umwandlungen von der ökonomischen Struktur oder der der sozialen Beziehungen zur Struktur des Rechts, der Kunst oder der Religion überzugehen«,108 was mög licherweise dem Übergang zwischen den Strukturen der ›gelebten‹ und der ›geC. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: ebd., 52. 102 C. Lévi-Strauss, »Sprachwissenschaft und Anthropologie« (1952), in: ebd., 85. 103 Ebd., 89. 104 Ebd., 89, 93. 105 E. Lévi-Strauss, »Der Strukturbegriff in der Ethologie« (1952), in: ebd., 343. 106 Ebd., 342 f. 107 Ebd., 344. 108 C. Lévi-Strauss, »Nachtrag zu Kapitel 15« (1956), in: ebd., 359. 101

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V. System, Struktur und Symbol

dachten‹ Ordnungen entspricht. Ein ähnlicher methodischer Gedanke findet sich bereits bei dem Biologen und Zeitgenossen Goethes, Cuvier, der die Wertschätzung Cassirers und Lévi-Strauss’ genießt. Cassirer bringt 1945 in seinem Beitrag »Structuralism in Modern Linguistics« zum Ausdruck, daß sich Cuviers biologische Termini, denen gemäß die Veränderung eines Teiles, einer Funktion, einer Beziehung des Systems die Veränderung der anderen Teile etc. nach sich zieht, weil sie sich wechselseitig wiedergeben, in linguistische Termini überführen ließen, was zur Konsequenz habe, daß »we should have, before our very eyes, the program of modern linguistic structuralism«.109 Cassirer selbst hatte bereits 1932 in seinem »Vortrag: Symbolproblem« die »engen Beziehungen […], die zwischen der Struktur der Sprachwelt und der der Wahrnehmungswelt bestehen«, thematisiert.110 In dem Zusammenhang ist von »Strukturveränderungen« der »Wahrnehmungswelt durch die Sprache« und von »einer ständigen Wechselbeziehung zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur« die Rede.111 Sowohl bei Lévi-Strauss als auch bei Cassirer sind diese Wechselbeziehungen als Korrelationen, nicht aber als Kausalbeziehungen gemeint. Wenn sich Lévi-Strauss also dermaßen zielstrebig für die Strukturanalogien zwischen Systemen, die eine Gesellschaft ausmachen, und zwischen analogen Systemen (der Verwandtschaft , der Mythen, der Sprache etc.) in verschiedenen Gesellschaften bzw. »Gesamtzusammenhängen«, interessiert, dann führt uns auch dieses Interesse auf eine Parallele im Denken Cassirers. Erinnert diese Aufmerksamkeit für Strukturanalogien doch an ein quasi analoges Interesse des jungen Cassirer in den beiden ersten Bänden seines Erkenntnisproblems (1906/07), Bände, die im Grunde auch eine umfassende Vorstellung von der Kultur enthalten. Zunächst finden wir in ihnen die methodisch verwirklichte Idee vor, daß wir es in jeder besonderen historischen Epoche mit kulturellen Totalitäten zu tun haben, bei denen je ein bestimmtes geistiges Grundprinzip alle Teilsysteme der Kultur wie Moral, Wissenschaft , Recht und auch Philosophie durchdringt und bestimmt. Wandlungen, die ein neues Grundprinzip – oder Denkprinzip, wie es Cassirer auch nennt – in einem der Teilsysteme auslöst, vollziehen sich demnach früher oder später korrelativ auch in den anderen Bereichen der Kultur, bis die gesamte kulturelle Lebensordnung umgewälzt ist. Am Ende bildet sich eine so genannte neue kulturelle ›Lebensordnung‹ aus, woE. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 307. 110 E. Cassirer, »Vortrag: Symbolproblem« (1927), in: ECN 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, a. a. O., 110. 111 Ebd., 111 f. 109

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bei Cassirer diesen Begriff vermutlich Dilthey entlehnt, den er u. a. auf die Lebensordnungen der Renaissancekultur und des Mittelalters anwendet.112 D. h., auch Cassirer geht dem korrelativen Charakter der Abwandlungen von Teilsystemen einer konkreten historischen Totalität analytisch nach. Lévi-Strauss greift den Begriff der Lebensordnungen – ohne ihn explizit zu gebrauchen – im Grunde bei seinem Strukturvergleich des ›indo-europäischen Systems‹ und des ›sino-tibetischen Systems‹ auf. Beide Systeme stehen für »zwei Typen sozialer Strukturen«, denen zwei Typen von Sprachstrukturen korrelieren.113 In der späteren ›Philosophie der symbolischen Formen‹ scheint dieser methodische Gedanke allerdings etwas in den Hindergrund zu treten. Hier geht es Cassirer in erster Linie sowohl um die Tönung oder Prägung, die eine bestimmte Sinnordnung allen in sie eingeordneten Gehalten aufprägt, als auch um die logische und historische Entfaltung (Genese) einer jeden Sinnordnung, was u. a. bedeutet, daß sie die funktionalen Eigenheiten anderer symbolischen Formen quasi durchläuft. Doch selbst noch im Essay on Man (1944) unterstreicht Cassirer, daß jede symbolische Form als eine bestimmte Form des Lebens Bestandteil einer bestimmten ›Lebensordnung‹, im Englischen wiedergegeben als »human order«, ist.114 Den Gedanken der Transformierbarkeit des einen Systems in ein anderes, von Lévi-Strauss zum »Wesen eines Zeichensystems« erklärt, gemäß dem es »übersetzbar in die Sprache eines anderen Systems mit Hilfe von Substitutionen« zu sein habe,115 scheint Cassirer allerdings nicht unbesehen zu teilen; die berühmte Interpretation des Liniengleichnisses116 läuft nicht auf Transformationen, sondern auf plurale Perspektiven und Sinndeutungen (Auffassungsweisen)

Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Der Begriff der ›Lebensordnung‹ und die ›Philosophie der symbolischen Formen‹, 55–74. 113 C. Lévi-Strauss, »Sprachwissenschaft und Anthropologie« (1952), in: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., 90. 114 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 225 (= ECW 23, 240). 115 C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« (1960), in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 28. 116 »Analog können wir gewisse räumliche Formen, gewisse Komplexe von Linien und Figuren, in dem einen Fall als künstlerisches Ornament, in dem anderen als geometrisches Zeichen auffassen und kraft dieser Auffassung ein und demselben Material einen ganz verschiedenen Sinn verleihen. Die Einheit des Raumes, die wir uns im ästhetischen Schauen und Erzeugen […] aufbauen, gehört einer ganz anderen Stufe an, als diejenige, die sich in bestimmten geometrischen Lehrsätzen und in einer bestimmten Form der geometrischen Axiomatik darstellt.« – E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 28; siehe dazu auch ders., PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 232 ff. 112

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V. System, Struktur und Symbol

hinaus. Das Transformationsproblem ist ihm allerdings aus der zeitgenössischen Mathematik (F. Klein) bekannt.117

8. Formbegriff und Strukturbegriff Abschließend soll die Frage nach dem Verhältnis, in welchem sich bei beiden Denkern Form- und Strukturbegriff befinden, zumindest gestellt werden. Zunächst einmal stehen bei ihnen beide Begriffe für das Beständige, Gesetzmäßige, Bestimmende hinter den wechselnden Erscheinungen, vielfältigen Phänomenen, auch wenn die beiden Begriffe selbst u. U. Veränderungen, Metamorphosen, Genesen durchmachen. Auch lehnen im Grunde beide die alte Auffassung ab, wonach »die Form […] sich im Gegensatz zu einer Materie, die ihr fremd ist, [definiert – C.M.]«.118 Den Formalismus in der Linguistik im Blick habend erklärt Lévi-Strauss, und dies durchaus im Sinne Cassirers, daß die »offenkundige Antinomie zwischen der Konstanz der Form und der Variabilität des Inhalts«,119 daß die »formalistische Dichotomie, die Form und Inhalt einander gegenüberstellt«,120 eine scheinbare ist, die auf Irrtümern beruht. »Für den Strukturalismus«, so Lévi-Strauss weiter ganz im Geiste Cassirers, »existiert dieser Gegensatz nicht: […] Form und Inhalt sind gleicher Natur, sie unterstehen beide ein und derselben Analyse. Der Inhalt bezieht seine Realität aus der Struktur [weil die ihn gliedert und ihm Bedeutung verleiht – C.M.], und was man Form nennt, ist die ›Strukturierung‹ der lokalen Strukturen, aus welchen der Inhalt besteht«.121

Folglich habe »die Struktur […] keinen von ihr unterschiedenen Inhalt: sie ist der Inhalt selbst, erfaßt in einer logischen Organisation, die als eine Eigenschaft des Realen gilt«.122 Die Zustimmung Cassirers zu diesen und ähnlichen Auffassungen bringen u. a. entsprechende Formulierungen im Essay on Man (1944), auch hier mit Blick auf den Formalismus, zum Ausdruck: »The distinction between form and matter proves artificil and inadequate. E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, Hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, in: ECN 2, Hamburg 1999, 118, 125 ff. 118 C. Lévi-Strauss, »Die Struktur und die Form. Reflexionen über ein Werk von Wladimir Propp« (1960), in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 135. 119 Ebd., 148. 120 Ebd., 153. 121 Ebd., 153. 122 Ebd., 135. 117

›Philosophie der symbolischen Strukturen‹

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Speech is an indissoluble unity which cannot be divided into two independent and isolated factors, form and matter«.123 Die Position der Strukturalisten, wonach »in the realm of language there is no opposition between what is ›formal‹ and what is merely ›factual‹«, weil es die Linguistik mit kohärenten Systemen zu tun hat, würdigt Cassirer auch noch einmal ausdrücklich in seiner letzten Veröffentlichung, im Aufsatz über den Strukturalismus in der Linguistik.124 Cassirer setzt die Begriffe Form und Struktur gelegentlich nahezu identisch, wie an folgender Formulierung deutlich wird: »Human culture derives its specific character and its intellectual and moral values, not from the material of which it consists, but from its form, its architectural structure.«125 Wie die Struktur ist auch die Form eine Weise der Rationalität, die unsere Auffassung von Erscheinungen ordnet.126 Sie bilden beide jeweils eine ›bewegliche‹ Ordnung. Dennoch bleibt künftig zu klären, ob sowohl bei Cassirer als auch bei Lévi-Strauss dem Begriff der Form eine analoge Ordnungs- und Systematisierungsfunktion zugeschrieben wird wie dem der ›strukturierenden‹ Struktur. Ich selbst bin unentschieden, ob bei Cassirer die symbolische Form durch ein eigenes Strukturgesetz bestimmt und konstituiert wird, oder ob sie selbst als strukturierendes Prinzip anzusehen ist, eine Sinn- und Bedeutungsordnung, ein System konstituierend.

9. Resümee Eine Antwort auf die im Titel formulierte These kann derzeit nur unter gewissen einschränkenden Bedingungen gegeben werden: die zahlreichen aufweisbaren Parallelen erlauben, bei Lévi-Strauss von einer impliziten ›Philosophie der symbolischen Strukturen‹, vielleicht besser ›Philosophie der strukturgeprägten symbolischen Systeme‹, zu sprechen, dies aber unter der Bedingung, daß sich künftig eine weitgehende Äquivalenz der Begriffe Form und Struktur, wie sie bei Lévi-Strauss und bei Cassirer verwendet werden, belegen läßt. Die Zielrichtung dieser impliziten Philosophie ist aber keine philosophisch-anthropologisch gestützte universale Kulturphilosophie, wie bei Cassirer, sondern die einzelwissenschaft liche Erforschung konkreter ›primitiver‹ Gesellschaften samt ihrer empirischen KulE. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 125 (= ECW 23, 135). E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 304. 125 E. Cassirer, An Essay on Man (1944), a. a. O., 36 (= ECW 23, 41). 126 Ebd., 167 (= ECW 23, 181). 123

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V. System, Struktur und Symbol

turen, die unbewußte, verborgene Gesetze des Geistes einen. Die Umrisse universaler Ordnungen des Handelns, Schaffens und Denkens, die diese Recherchen erahnen lassen, gelten Cassirer als frühgeschichtlich127 und zukunftsbedrohend,128 Lévi-Strauss dagegen als zukunftsweisend.129

»The taboo system threatens to make the life of man a burden that in the end becomes unbearable. Man’s whole existence, physical and moral, is smothered under the continual reassure of this system.« – Ebd., 108 (= ECW 23, 117 f.). 128 »Our [modern – C.M.] science, our poetry, our art, and our religion are only the upper layer of a much older stratum that reaches down to a great depth. We must always be prepared for violent concussion that may shake our cultural world and our social order to its very foundations. […] But once they begin to lose their strength chaos is come again. Mythical thought then starts to rise anew and to pervade the whole of man’s cultural and social life.« – E. Cassirer, The Myth of the State (1946), a. a. O., 297 f. (= ECW 25, 293 f.). 129 Lévi-Strauss erwartet vom Prototyp der »außerhalb und über der Geschichte stehend[en]« ›primitiven‹ Gesellschaft , daß sie »erneut jene regelmäßige und gleichsam kristalline Struktur gewinnen [könnte], die, wie die am besten erhaltenen Gesellschaften uns lehren, nicht im Widerspruch zur Menschheit steht.« (C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« [1960], in: Strukturale Anthropologie II, a. a. O., 41) In den »Lebens- und Denkformen« dieser Gesellschaften will er »eine dauernde Chance des Menschen« und den »lebendigen Beweis dessen« sehen, »was wir retten wollen«. (Ebd., 41 f.) Die ›primitiven‹ Gesellschaften hätten den Zivilisierten, so Lévi-Strauss, »die Mittel geliefert, den menschlichen Tatsachen ihre wahre Dimension zuzuweisen.« (Ebd., 44). 127

System und Struktur Eine Begriffsbeziehung bei Cassirer

D

er nachstehende Beitrag, eine in der Cassirerforschung erstmals unternommene Darstellung der Begriffe System und Struktur, wie sie Cassirers gesamtes philosophisches Werk prägen, bildet das erste Resultat einer von der Fritz Thyssen Stiftung (Köln) geförderten einjährigen Recherche, die der Realisierung des Forschungsprojektes »Struktur – System – Symbol. Studie zum Verhältnis von Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und Claude Lévi-Strauss’ ›Strukturaler Anthropologie‹« dient. Ihm folgt unmittelbar der gleichzeitig erstellte Beitrag »Cassirer und die strukturalistischen Linguisten. Am Beispiel der Begriffe System und Struktur« nach. Cassirer stellt im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Beitrag »Structuralism in Modern Lingistics« (1945) selbst den Bezug seiner philosophischen Begrifflichkeit zur strukturalistischen Methode in der zeitgenössischen Linguistik her.1 Dieser Methode kommt bekanntlich in der Folge bei der Formierung der strukturalen Analyse durch Lévi-Strauss eine entscheidende Bedeutung zu. Um die Rechtmäßigkeit der Bezugnahme Cassirers argumentativ überprüfen zu können, wird im vorliegenden Beitrag der Sinn, der den Begriffen System und Struktur in seiner Philosophie selbst zukommt, systematisch-chronologisch herausgearbeitet. Im sich anschließenden Beitrag wird Cassirers Bezugnahme auf und methodische Identifikation mit der strukturalistischen Sprachwissenschaft zunächst dargestellt, bevor der Versuch unternommen wird, die Bedeutung, mit der diese beiden für die strukturalistische Methode zentralen Begriffe von den modernen Linguisten Ferdinand de Saussure, Nikolaj Trubetzkoj und Roman Jakobsons verwendet werden, 2 zu klären. Dabei wird en passant zu prüfen sein, inwieweit Cassirer und die strukturalistischen Linguisten diese Begriffe

Zu den Umständen, unter denen Cassirer sein Interesse für die strukturalistische Linguistik entdeckt und entwickelt siehe im vorliegenden Band den Beitrag »Mythischmagisches Denken als Kulturform und als Kulturleistung. Eine vergleichende Fragestellung bei Cassirer und Lévi-Strauss«, 607–630. 2 Für die Recherche wurden u. a. folgende linguistische Schriften herangezogen, die Cassirer hätte zur Kenntnis nehmen können: F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (franz. 1916/deutsch 1931); N. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938/deutsch 1957); R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1944). 1

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V. System, Struktur und Symbol

wirklich auf identische, oder zumindest vergleichbare, Weise verstehen und gebrauchen. Das o. g. Forschungsprojekt weiter realisierend werden künftig – durch Auswertung der Rechercheergebnisse, die in Exzerpten von mehr als vierhundert Seiten niedergelegt sind – die beiden vorliegenden Beiträge systematisch erweiternde Ausarbeitungen folgen. Geplant sind Beiträge zu den von Cassirer und den linguistischen bzw. ethnologischen Strukturalisten vorgefundenen Begrifflichkeiten (System, Struktur, Symbol) bei Wilhelm von Humboldt und bei Wilhelm Dilthey,3 aber auch zu Gebrauch und Funktion dieser Begriffe in anderen zeitgenössischen philosophischen Traditionslinien wie der Wissenssoziologie Max Schelers, die sich der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ verbunden weiß. 4 Eine größere Ausarbeitung wird sich dem Sinn dieser Begriffsbeziehung – insbesondere in Form der sogenannten strukturalen Methode / Analyse – im ethnologischen Werk LéviStrauss‘ widmen, einschließlich ihrer Bezüge zu den Bedeutungen, die die Begriffe in der strukturalistischen Linguistik haben. Und schließlich wird ein Beitrag der zentralen Frage des ganzen Projektes nachgehen, inwieweit der oft gleich lautenden Begrifflichkeit bei Cassirer und Lévi-Strauss ein identischer Sinn – oder auch nicht – entspricht. In einer speziellen Studie soll der – vermutlich verschiedene – Bedeutungsgehalt des Begriffs Symbol bei Cassirer und Lévi-Strauss herausgearbeitet werden. Schlußendlich werden, zur Abrundung des o. g. Projektes, Ausführungen sowohl der Frage einer möglichen – bewußten oder unbewußten, indirekten – Kenntnisnahme Cassirerscher Begrifflichkeiten und Ansätze durch Lévi-Strauss nachgehen, als auch der Frage, ob im Falle des linguistischen Strukturalismus (Jakobson) und der strukturalen Anthropologie (Lévi-Strauss) von einer wie auch immer gearteten Wirkung der Philosophie Cassirers gesprochen werden kann.5 Sinnvoll wäre auch eine Analyse zumindest des Terminus System und seines Gebrauches in der Kritischen Philosophie Kants, die Cassirer ja grundsätzlich als »System« versteht. Ein Blick z. B. auf die Schrift Kants Leben und Lehre (1918) zeigt, daß immer wieder von System und Struktur in Bezug auf die Kritische Philosophie die Rede ist, so wenn Cassirer ein mögliches »System von Raumformen« erwähnt, »die in ihrer [jeweiligen] Struktur […] verschieden sein können«. – E. Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2001, 24, siehe dazu auch die Seiten 89, 139, 187. 4 Wünschenswert wäre zudem, auch den Strukturbegriff, wie er bei dem russischen Phänomenologen Gustav Špet zur Anwendung kommt, in diesen Exkurs mit einzubeziehen. – Siehe dazu N. Plotnikov, »Ein Kapitel aus der Geschichte des Strukturbegriffs. Gustav Špet als Vermittler zwischen Phänomenologie, Hermeneutik und Strukturalismus«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 48 (2006), 191–201. 5 Der Verfasser beabsichtigt, diese zunächst separat erarbeiteten und veröffentlichten 3

System und Struktur

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Cassirers Verständnis von System und Struktur Die erwähnte Würdigung des linguistischen Strukturalismus durch den späten Cassirer thematisiert sowohl dessen Gebrauch der Begriffe System und Struktur wie auch seine Hinwendung zur Frage der Bedeutung aller sprachlichen Phänomene. Außerdem versteht sie den Strukturalismus in der Sprachwissenschaft als Beispiel einer allgemeinen Entwicklung in den Wissenschaften, die mindestens bis auf Goethe, Humboldt und Cuvier zurückreicht und mit der Ausbildung der Kulturwissenschaften und der sie philosophisch durchdringenden ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eine neue Dynamik erlangt. Angesichts dieser unübersehbaren Aspekte und Bezüge scheint es an der Zeit, Cassirers eigenen Gebrauch der Begriffe System und Struktur einmal zum Thema einer zielgerichteten Recherche zu machen. Der Gebrauch dieser Begriffe reicht bis in seine ersten philosophischen Schriften zurück, also weit v o r die Formierung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, was im Sommer 1917 gezielt einsetzt, und hält bis in die Arbeiten unmittelbar vor seinem Tode im Frühjahr 1945 an. Mit anderen Worten, das philosophische Denkens Cassirers bewegt sich von Anfang an in diesen beiden Kategorien und bestimmten, damit verbundenen Annahmen, lange bevor er in der Strukturanalyse eine ausgezeichnete Methode der Kulturwissenschaft bzw. Kulturphilosophie ausmacht.

A. Die Periode vor der Ausarbeitung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ (1902–1920) Als eine wichtige Inspirationsquelle seines Philosophierens versteht der ›Neukantianer‹ Cassirer die Leibniz’sche Philosophie, die er – so auch der Titel seines ersten großen Buches (1902) – als ein »System« auf »wissenschaftlichen Grundlagen« deutet. Eine Lektüre des Bandes macht deutlich, daß er zum Einen im Grunde jede wissenschaft liche bzw. philosophische Theorie, Lehre eines konkreten Denkers, aber auch jede philosophische bzw. wissenschaftliche Disziplin (Mathematik, Mechanik, Ethik, Erkenntnistheorie) als ein ›System‹ von Begriffen verstanden wissen will, hervorgegangen aus einer bestimmten System- bzw. Begriffsbildung. Die jeweilige »Systemform«, in dem eben beschriebenen Sinne, muß nichts Fixes, Endgültiges sein, sondern erfährt in der Philosophie- bzw. Wissenschaftsgeschichte im-

Beiträge in einer künftigen Monographie zu vereinen.

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V. System, Struktur und Symbol

mer wieder ihre »Zersprengung und Neubildung«. 6 Dabei hat der Terminus System immer auch die Bedeutung von Ordnung, gelegentlich ist die Rede von einer »systematischen Ordnung«.7 Ein übergreifendes System, so dasjenige der Grundbegriffe der Mechanik, kann wiederum mehrere Subsysteme enthalten, in konkreten Falle der Mathematik die »beiden Systeme [der Begriffe – C.M.] des Raumes und der Zeit«. 8 Ein solcher Gebrauch des Begriffs System, der eine mehr oder weniger systematisch aufgebaute, abgeleitete, begründete Theorie bzw. Disziplin meint, wird sich durch das gesamte Cassirersche Werk ziehen. Gelegentlich findet sich der Begriff des Systems auch direkt auf die Realität und ihre Zusammenhänge angewandt, so beim »mittelalterlichen Lehns- und Feudalsystem« oder beim »Lehrund Lebenssystem« einer Epoche.9 Da der Systembegriff eine ganzheitliche Ordnung meint, innerhalb derer die Momente, Elemente oder Teile (Teilbegriffe) einer systematischen Verknüpfung unterliegen,10 fi nden wir auch in den frühen Schriften eine Reihe von Aussagen über die Art und Weise dieser Verknüpfung. Cassirer ist zudem das Prozeßdenken nicht fremd, wenn er – mit Blick auf Leibniz und Descartes – zu bedenken gibt, daß in bestimmten theoretischen Systemen das einzelne Moment, Element nur als »Glied innerhalb eines stetigen gedanklichen Prozesses erfaßt [wird – C.M.]«.11 Außerdem werden Teil und Ganzes in einer ursprünglichen Setzung zugleich erzeugt; sie bilden eine Einheit »in der logischen Erzeugung«.12 Auch der logische Vorrang der Relationen innerhalb eines Systems gegenüber dem sich in Relationen befindlichen einzelnen Elementen glaubt Cassirer als notwendig voraussetzen zu müssen.13 Leibniz regt Cassirer weiterhin an, das Systemdenken mit zeichentheoretischen Überlegungen zu verbinden: stellen doch für diesen E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 1998, 459. 7 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2001, 293. 8 E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, a. a. O., 219. 9 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 323; ebd., 19. 10 E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 1999, 329. 11 E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, a. a. O., 14. 12 Ebd., 117. 13 »Das Einzelne ist das gedankliche Ergebnis inhaltlicher Relationen, die in […] Systemen […] einheitlich zusammengefaßt sind.« (Ebd., 219) Der »Relationsgedanke [besitzt] seine deutlichste Ausprägung im Begriff der Funktion […]«. (E. Cassirer, EP, Bd. 1 [1906], in: ECW 2, a. a. O., 349). 6

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die Zeichen bzw. Charaktere »gedankliche Relationen zwischen den Inhalten«, »Grundrelationen« dar, bilden sie ein »Kategoriensystem« (z. B. der Mathematik), weshalb sie, die Zeichen, »Bedeutung« haben.14 Mit anderen Worten, Bedeutung erlangen die Zeichen allein in einem System von Zeichen. Der Grundgedanke eines Primates der Relation von den Relata – und damit die »Forderung einer Logik der Relationen«15 – behält bei Cassirer im Anschluß an Leibnitz allerdings eine ausgesprochen idealistische Deutung.16 Ein »streng begriffliches System« zeichnet sich zudem durch eine »Über- und Unterordnung von Beziehungen« in ihm selbst aus.17 Und schließlich findet Cassirer bei Leibniz auch den Gedanken der »Repräsentation des Gesamtprozesses durch ein Einzelglied« vorformuliert, welches als »Sonderfall einem umfassenden System eingeordnet« zu denken ist.18 Von Anfang an vertritt Cassirer eine in gewissem Sinne holistische Position: »Das Einzelne erhält seinen Sinn und Gehalt erst vom Ganzen […], [das] im Gesetz [d. h. Strukturprinzip – C.M.] seines Aufbaus erfaßt und durch dieses Gesetz bestimmt werden [muß].«19

Demnach ist »ein ›System‹ von Inhalten derart gegeben […], daß ein Glied des Systems von dem andern ›abhängt‹ und mit ihm kraft einer Regel

E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, a. a. O., 121, 124, 125. 15 E. Cassirer, EP, Bd. 1 (1906), in: ECW 2, a. a. O., 193. 16 »Der Grund des Zusammenhanges nach Gesetzen [im System] liegt nicht in den Sachen, sondern in dem ursprünglichen Prinzip der Einheit des Bewußtseins.« – E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, a. a. O., 319, siehe dazu auch Seite 332. 17 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, Text und Anm. bearbeitet von R. Schmücker, Hamburg 2000, 367. 18 E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, a. a. O., 269. In einem »einheitlichen, in sich geschlossenen System [steht] […] jedes Glied nicht nur für sich […], sondern [repräsentiert] zugleich den Aufbau und das formale Prinzip der Gesamtreihe […].« (E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff [1910], in: ECW 6, a. a. O., 43) »[W]enn wir uns alle Glieder des Geschehens durch notwendige Relationen verknüpft denken, können wir irgendeine einzelne Phase, die wir herausheben, als Darstellung [d. h. Repräsentation – C.M.] des Gesamtprozesses und seiner durchgängigen Regel gebrauchen.« – Ebd., 266. 19 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. (1910), in: ECW 6, a. a. O., 343. Unter Hinweis auf Meinong stellt Cassirer fest, wir hätten es grundsätzlich mit dem »systematischen Ganzen eines Begründungs-Zusammenhangs [zu tun], dessen Elemente sich wechselseitig bedingen und fordern.« (Ebd., 373). 14

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›zusammenhängt‹«, 20 was auch für die Begriffe gilt, die eine »relative Stellung […] gegeneinander im System einnehmen«.21 Die linguistische Systemauffassung de Saussures und Trubetzkojs, die sich auf einzelne Bedeutungsgehalte der Laute im Sprachsystem bezieht, quasi vorwegnehmend, versteht Cassirer Begriffssysteme doch ebenfalls vor allem als Systeme von Geltungen bzw. Bedeutungen, und nicht als Systeme von Seiendem, formuliert er in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) die Einsicht, daß »jedem Glied durch das andere die Stelle im System [der Zahlen – C.M.] eindeutig vorgeschrieben ist«. 22 Damit komm es also auf die B e z i e hu n g e n zwischen den Gliedern und nicht auf die G l i e d e r a n s i c h an. Mit anderen Worten, die »Systemglied[er]« finden ihre »spezifische Bedeutung« nicht in sich selbst, sondern »in dem gesetzlichen Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Gliedern besteht«.23 Damit ist eine erste Bestimmung des Systembegriffs, so wie ihn Cassirer in den frühen Schriften einsetzt, gegeben. Gemessen an der in Leibniz’ System (19102) und den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems (1906/07) entwickelten Bestimmung ändert sich diese in den zeitlich bis 1917 nachfolgenden Schriften nicht entscheidend; sie bleibt in Vielem an die Begriffl ichkeit der mathematischen Wissenschaften und ihre philosophische Durchdringung gebunden. Ein System bildet ein Ganzes, eine »organische Einheit« 24 und kein »Aggregat«.25 Es besteht aus Gliedern, die »nach einem bestimmten Gesetz« der Reihe (Bildungsprinzip) stetig erzeugt werden. 26 Sie befi nden sich deshalb in konstanten Beziehungen, welche gemeinsam mit den Gliedern eine bestimmte »Ordnung« bzw. einen bestimmten »Zusammenhang« bilden. 27 Mit anderen Worten, in einem von Gliedern (z. B. Zahlbegriffen) gebildeten »System [obwalten – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 27. Ebd, 90. 22 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. (1910), in: ECW 6, a. a. O., 39; »Ist irgendein endliches System gegeben, so können wir es auf den zuvor entwickelten Inbegriff der Zahlen in bestimmter und eindeutiger Weise beziehen, indem wir jedem Element des Systems eine und nur eine Stelle dieses Inbegriffs entsprechen lassen. Wir gelangen auf diese Weise, indem wir der vorgeschriebenen festen Ordnung der Stellen folgen, schließlich dazu, dem letzten Gliede des Systems eine bestimmte Ordinalzahl, n, zuzuordnen.« (Ebd., 41 f.) 23 Ebd., 161. 24 E. Cassirer, EP, 3. Bd.: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2000, 306. 25 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 308. 26 E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaft lichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, a. a. O., 166 f. 27 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, a. a. O., 203. 20 21

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C.M.] […] gewisse konstante Beziehungen«, 28 womit »ein System« das Gegenteil von einem »Chaos« ist. 29 Diese Ordnungen – wie Raum und Zeit – gelten als Systeme von begrifflichen Relationen. Mehre Bildungsprinzipien bzw. Gesetze wiederum machen ein – übergeordnetes – »gemeinsames Grundsystem gültiger Regeln« aus.30 Begriffssysteme können offene Systeme oder »geschlossene Systeme« sein, wie das »mittelalterliche System der Lebensführung«31 oder das der Ordnungszahlen,32 sie können aber auch weniger oder mehr »komplex[…]«33 , »empiristisch« oder »rational« sein.34 In Systemen ordnen und strukturieren wir nicht nur Begriffe, sondern auch Sätze35 bzw. Grundsätze, 36 Urteile37 und mathematische Operationen,38 Verknüpfungsweisen des Empirischen, 39 mögliche Hypothesen40 oder Bewegungen. 41 Ein bestimmtes »System« kann an die Stelle eines »anderen Systems« gesetzt werden, 42 oder ein »System« der Beobachtungen oder Wahrnehmungen kann mit einem »System« der deduktiven Schlußfolgerungen übereinstimmen. 43 Schließlich besitzt für Cassirer Ebd., 28. Ebd., 161. 30 E. Cassirer, EP, 2. Bd. (1907), in: ECW 3, Text und Anm. bearbeitet von D. Vogel, Hamburg 1999, 603. 31 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 121. 32 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. (1910), in: ECW 6, a. a. O., 43. 33 Ebd., 63. 34 Ebd., 108, 114. 35 So spricht Cassirer u. a. vom »System der geometrischen Sätze« (ebd., 88), gleichzeitig wird ein Satz durch »seine bestimmte logisch-grammatische Struktur« charakterisiert (ebd., 374). 36 Ebd., 289. 37 Ebd., 289 f. 38 So fasse der Gruppenbegriff in der Geometrie »nicht sowohl ein Ganzes von einzelnen Elementen oder Gebilden als vielmehr ein System von Operationen zu einer gedanklichen Einheit zusammen[…]«. – Ebd., 94. 39 »[E]s ist zuletzt stets ein bestimmtes logisches System der Verknüpfung des Empirischen, das an einem anderen derartigen System [von Verknüpfungsweisen] gemessen und von ihm aus beurteilt wird.« – Ebd., 115. Mathematisch symbolisierte Fakten werden mit »der Gesamtheit der Phänomene systematisch verknüpft«. – Ebd., 160. 40 Ebd., 117. 41 Ebd., 127. 42 Ebd., 188. 43 Ebd., 199. In der Wissenschaft komme es nämlich zur »Trennung […] zwischen dem System unserer Begriffe und dem System des Wirklichen«. (Ebd., 240) So treffe in der Wissenschaft von der Wirklichkeit das »System des Erfahrungswissens« auf die »Welt der ›reinen Formen‹« der mathematischen Physik (ebd., 292, 296). Den »eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs« bildet ein »gegliedertes System von Abhängigkeiten«, in das die »logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte« eingeordnet wird. (Ebd., 302) »Die allesgemeingültigen Funktionsformen der […] Erkenntnis« selbst »bil28 29

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ein philosophisches oder wissenschaftliches »System« neben einem »sachlichen Gehalt« auch eine »sachliche Struktur«, 44 so wie jedes »Ganze« – als ein System – seine »Struktur« hat.45 Wobei Cassirer das strukturierte Begriffssystem und seine »Systemform« vom »sachlichen Gehalt« offenbar weitgehend unabhängig sieht, wie eine Bemerkung aus dem Jahre 1910 deutlich werden läßt.46 Womit wir bei unserem zweiten Begriff, dem der Struktur wären. Der Strukturbegriff fällt bei Cassirer erstmals im Werk Leibniz’ System (1902) mittelbar und zunächst separat, wenn in einem Leibniz-Zitat – mit Blick auf die Monaden – von der »Anordnung der organischen Struktur« die Rede ist. 47 Etwas später heißt dann, nunmehr mit Blick auf das Problem der Elastizität, Leibniz mache hier die »Annahme« einer bestimmten »Struktur der Materie«.48 Wirklich relevant wird er im Leibniz-Buch jedoch erst, wenn Cassirer vom lebenden, biologischen Organismus handelt. Bei einem Organismus fungierten eigenständige Teile gemäß dem Zweck eines übergeordneten Ganzen, welches eine je »besondere organische Struktur« und damit die »selbständige Einheit eines Lebewesen« bilde. 49 Obwohl Cassirer den Strukturbegriff 1902 am »Phänomen organischer Strukturen« einführt,50 spricht er – mit Blick auf Leibniz – aber ebenso sowohl physiden ein festgefügtes System von Bedingungen: Und nur relativ zu diesem System erhalten alle Aussagen über den Gegenstand […] einen verständlichen Sinn.« (Ebd., 334). 44 E. Cassirer, EP, 2. Bd. (1907), in: ECW 3, a. a. O., 489. Der Terminus ›sachlich‹ weist dabei vermutlich auf Sphäre (das Gebiet) hin, in der (auf dem) ein bestimmtes strukturiertes Begriffssystem gilt. Zufall scheint diese Unterscheidung nicht zu sein, auch in anderen Zusammenhängen werden »Gehalt« und »Struktur« »aller logischen Arbeit« im Erkenntnisprozeß geschieden. – E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, a. a. O., 18. 45 E. Cassirer, EP, 3. Bd.: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, a. a. O., 2. 46 »Wo immer ein System von Bedingungen gegeben ist, das sich in verschiedenen Inhalten erfüllen kann, da können wir, unbekümmert um die Veränderlichkeit dieser Inhalte, die Systemform selbst als Invariante festhalten und ihre Gesetze deduktiv entwickeln.« – E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, a. a. O., 41. 47 E. Cassirer, Leibniz’ System (1902), in: ECW 1, a. a. O., 238. 48 Ebd., 294, siehe auch 471. 49 Ebd., 361. Jede Teilung und Unterteilung organischer Materie besitzt eine »besondere Struktur [gemäß der sie sich – C.M.] als Ausdruck und als Grundlage für einen besonderen organischen Lebensprozeß erweist.« – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 42. 50 E. Cassirer, Leibniz’ System (1902) in: ECW 1, a. a. O., 365, 368. Der Begriff der »organischen Struktur« taucht im 9. Kapitel über den Organismus mehrfach auf (ebd., 368, 371), und da auch die Natur als solche als »ein[…] lebendiger Gesamtorganismus« gilt (E. Cassirer, EP, 1. Bd. [1906], in: ECW 2, a. a. O., 266), ist der Strukturbegriff ebenfalls auf sie anzuwenden.

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kalischen Körpern eine »Struktur« zu als auch »unserem [menschlichen C.M.] Körper«.51 Im Erkenntnisproblem I/II (1906/07) wird der Strukturbegriff dann auf alle Wissens- und Erkenntnisbereiche ausgedehnt, auf die Mathematik und Logik, schließlich auch auf Theorien und Lehren. Cassirer interessiert sich nunmehr nicht nur für »die allgemeine Struktur des französischen Staatsgedankens«, 52 sondern auch für die »innere Struktur« z. B. der »Schopenhauerschen Erkenntnislehre«.53 So wie alle Theorien, Lehren oder Wissenschaftsdisziplinen ein jeweiliges System von Begriffen, Prinzipien und Funktionen bilden, besitzen sie alle auch eine »allgemeine gedankliche Struktur«,54 die Cassirer immer wieder auch eine je eigene »logische Struktur«, so z. B. im Fall der »reinen Zahlenlehre«,55 nennt. Interessant und bezeichnend erscheint der bereits in dieser Periode geäußerte Gedanke, daß innerhalb der »Struktur des [kulturellen – C.M.] Wirklichen« der »Struktur der ästhetischen Gegenstände«56 Eigenständigkeit in Bezug auf andere Gegenstandsarten zukommt.57 Mit Struktur scheint hier vor allem das Bildungsprinzip der systematisch geordneten Beziehungen bzw. das Reihenprinzip einer Reihe von begrifflichen Abwandlungen gemeint zu sein, ohne daß diese Strukturprinzipien jedes Mal als solche bezeichnet würden. Da auch jeder wissenschaft liche Begriff seine »spezifische Struktur« hat,58 E. Cassirer, Leibniz’ System (1902) in: ECW 1, a. a. O., 441 Anm. 16, 448; vgl. dazu auch E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 104, 167. 52 E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 324. 53 E. Cassirer, EP, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, a. a. O., 398; ebd., 158. 54 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, a. a. O., 134; E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 138. 55 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, a. a. O., 29, 72. 56 E. Cassirer, EP, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, a. a. O., 379. 57 Ebenso betont Cassirer den Gedanken jeweils eigentümlicher Strukturen, wenn er »die Gegenstände« der reinen Logik in Vergleich mit den entsprechenden Wahrnehmungsbildern »eine eigene Struktur [besitzen]« läßt (E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff [1910], in: ECW 6, a. a. O., 24). Auf jeden Fall besitze das »einzelne Kunstwerk« eine je besondere »Struktur« (E. Cassirer, Freiheit und Form [1916], in: ECW 7, a. a. O., 108), dies ist beim »dramatischen Kunstwerk« eine »geistige Struktur«, der sich ein organischer Charakter beigesellt (ebd., 109). Auch die »teleologischen« Urteile über »Dinge als »Naturzwecke«« bilden »ein neues Gebiet von Urteilen […], die sich in ihrer Struktur und in ihrer objektiven Geltung ebensowohl von den theoretischen wie von den praktischen Grundurteilen unterscheiden«. (E. Cassirer, Kants Leben und Lehre [1918], in: ECW 8, a. a. O., 275). 58 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. (1910), in: ECW 6, a. a. O., 73; so ist »ein Gesetz von […] begriffl icher Struktur« (ebd., 280). 51

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darf die Aussage, echte Begriffe müßten als Relations-Struktur bzw. »Reihenbegriff« aufgefaßt werden, nicht jedoch als Ergebnis von Abstraktionsverfahren,59 als ein Beleg für unsere Schlußfolgerung verstanden werden. 60 Einen Anklang an eine gewisse Austauschbarkeit von System und Struktur impliziert die Formulierung, daß wir in der Vernunft eine »systematische Struktur« vorfinden, 61 wobei diese ein System der Begriffe oder Ideen zu bilden scheint und gleichsam als »Organismus der Vernunft selbst« fungiert. 62 Explizit in Beziehung gebracht werden System- und Strukturbegriff im Leibniz-Buch allerdings nicht, auch nicht, wenn von einer »Struktur der Materie« in »materiellen Systemen« die Rede ist. 63 Ebenso werden beide Begriffe von Cassirer nirgends defi niert, entwickelt, aufgebaut, sondern immer in ihrer Bedeutung als evident vorausgesetzt. Neben der bereits erwähnten Bedeutung von Struktur als Prinzip und Gesetz des Aufbaus eines Systems, was u. a. die Termini ›Strukturprinzip‹ und ›Strukturgesetz‹ nach sich zieht, 64 wovon später noch ausführlicher die Rede sein wird, dürfte ›Struktur‹ in den frühen Schriften Cassirers Gliederung, Stufung, Reihung meinen, vielleicht auch Form oder Geformtheit von Beziehungen in einem System. Weniger wahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen, erscheint hier die Deutung als Basis, Fundament, Grundlage eines Systems. Neben der »Struktur und Verfassung des Seins« als eines Erkenntnisgegenstandes, die Begriff, logisch gültiges Urteil und Schlußverfahren »treffen wollen«, 65 ist in Bezug auf Theorien bzw. Begriffssysteme immer wieder von deren »logischer Struktur« die Rede, wobei diese wiederum jeweils Ebd., 292 ff., 315. Das gilt auch für die Aussage, die »›Wirklichkeit‹ [ist] kein zusammenhangsloser Komplex von Einzelheiten, sondern ein [systematisches – C.M.] Ganzes, dessen Struktur sich in allgemeinen Prinzipien aussprechen läßt«. – E. Cassirer, Freiheit und Form (1916), in: ECW 7, a. a. O., 17. 61 E. Cassirer, EP, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, a. a. O., 368; für Cassirer macht die Vernunft sich »ihre eigene Struktur […] deutlich und durchsichtig« (E. Cassirer, Freiheit und Form [1916], in: ECW 7, a. a. O., 80), die »Gliederung des Verstandes« ist offenbar nicht völlig identisch mit »seiner eigentümlichen Struktur« (E. Cassirer, Kants Leben und Lehre [1918], in: ECW 8, a. a. O., 238). 62 E. Cassirer, EP, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme (1920), in: ECW 4, a. a. O., 315. 63 E. Cassirer, Leibniz’ System (1902), in: ECW 1, a. a. O., 471, 474. 64 Bereits 1910 spricht daß Cassirer von »einheitlichen quantitativen Strukturgesetzen, die […] das Ganze des Seins beherrschen« (E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff [1910], in: ECW 6, a. a. O., 272), und später erklärt er, daß jegliche Weise der Erkenntnis von »ihrer Strukturgesetzlichkeit« geprägt sei (E. Cassirer, EP, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme [1920], in: ECW 4, a. a. O., 321). 65 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, a. a. O., 121. 59

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ein »bestimmtes […] System der Verknüpfung des Empirischen« bilde. 66 Damit würde die Struktur eines Systems letztlich selbst die Form eines Systems von Verknüpfungen haben, die sich als »bestimmte Strukturverhältnisse in Gleichungen [d. h. Formeln – C.M.] ausdrücken« lassen. 67 Ob wir im Einzelfall von logischer Struktur oder System der Verknüpfungen sprechen, hängt wohl letztlich vom jeweiligen Gesichts- bzw. Beobachtungsstandpunkt ab. 68 Einen interessanten Fingerzeig bietet die Aussage, daß, wenn wir in der Geometrie das »Grundsystem« wechseln, »auf das wir alle Aussagen bezogen denken«, wir in der Folge »zu einer anderen Struktur« geometrischer Theorie übergehen und damit die »Form der Geometrie« verändern, 69 wobei aber alle Systeme der Geometrie ihrer »logischen Struktur nach gleichwertig« sind.70 Obwohl nach den in erster Linie wissenschaftsgeschichtlichen Erörterungen im Erkenntnisproblem I und II (1906/07) die sich auf systematische Weise mit der mathematischen und naturwissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung befassende Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) einen Höhepunkt im Gebrauch der Begrifflichkeit System und Struktur bildet, erweist sich, daß im rund zehn Jahre später erschienen Erkenntnisproblem III (1920) die Verwendung des Terminus Struktur in Bezug auf wissenschaftliche Begriffe, Theorien, Disziplinen und Wirklichkeitsgebiete samt entsprechenden Gegenständlichkeiten, Sphären des menschlichen Lebens, ja auch des Bewußtseins und der Erfahrung deutlich angestiegen ist, ohne daß von einer grundsätzlich neuen, vertieften Bedeutung des Systemund des Strukturbegriffs die Rede sein könnte.

So besitze die »Verfassung d[…]er außerpersönlichen Welt« eine »innere ontologische Struktur«. (Ebd., 338). 66 Ebd., 114, 115. 67 Ebd., 235. »[…] der chemische ›Begriff‹ eines bestimmten Körpers [ist] durch seine Konstitutionsformel gegeben, in der er als besonderer Stoff in seiner eigentümlichen Struktur aufgefaßt [wird].« – Ebd., 245. 68 Wenn Cassirer an anderer Stelle ausführt, daß der Anteil, der einem »jeden einzelnen Moment […] in der Struktur des Ganzen zukommt«, sich bestimmen läßt (ebd., 275), dann führt uns diese Formulierung ebenfalls auf den Gedanken einer gewissen Austauschbarkeit der Termini ›System‹ und ›Struktur‹. 69 Ebd., 95. 70 Ebd., 115.

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B. System- und Strukturbegriff in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und begleitenden Texten (1921–1932) Der Gebrauch der Begriffe System und Struktur ändert sich in der Hamburger Schaffensperiode (1919–1933) nicht grundsätzlich. Weiterhin wird Begriffen, Theorien, Disziplinen und Wissenschaften, bestimmten geistigen Haltungen,71 dem theoretischen Denken,72 aber auch den Lehren konkreter Autoren Systemcharakter bescheinigt,73 wie Cassirer dies schon in der BerSo macht Cassirer einen »Systemgeist des kritischen Idealismus« aus (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2002, 302 Anm. 39) und schreibt der Aufk lärungsepoche ein grundsätzlich »systematisches Denken«, wenn auch nicht systemabauendes Denken, zu (E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung [1932], in: ECW 15, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2003, 7, 5 f.). 72 Jegliches diskursive »theoretische Denken« erweist sich als den Weg des Systemaufbaus bzw. den Aufbau von Inbegriffen beschreitend. – E. Cassirer, »Sprache und Mythos« (1925), in: ECN 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 258. 73 So bilde die Philosophie ein »System« (E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« [1921], in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften [1902–1921], Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, 272). Ebenso widmet Cassirer seine Aufmerksamkeit dem »System der ›Geisteswissenschaften‹« (E. Cassirer, »Die Begriff sform im mythischen Denken« [1922], in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften [1922–1926], a. a. O., 6) bzw. dem »System der Wissenschaften« (E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache [1923], in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 111), klärt die Voraussetzungen des »Systems des Empirismus« (ebd., 80) ebenso wie die des »Systems der Philosophie« (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., X). Immer wieder treffen wir auf Ausdrücke wie »das gesamte System der Geisteswissenschaften« (ebd., XIV), »das gesamte System der römischen ›Theologie‹« (ebd., 118) oder »das System der christlichmittelalterlichen Glaubenslehre« (ebd., 120), »ein System des positiven Wissens« (ebd., 277), »das ausgebildete theologische System der persischen Religion« (ebd., 283) etc. Ihn beschäft igt weiterhin »das universelle System der Naturerkenntnis« (E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 15), »das ›klassische‹ System der Naturwissenschaft« (ebd., 22), »das klassische System der Physik« (ebd., 28), das »System synthetischer Grundsätze a priori« der »theoretischen Erkenntnis« (ebd., 56), das »System der Analysis« (ebd., 396), das »bisherige System der Mathematik« (ebd., 406) oder das »rein begriffl iche, hypothetisch-deduktive System der Geometrie« (ebd., 482, 484). In seinen Texten dieser Periode ist ebenfalls die Rede vom »Copernikanischen System« (E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« [1921], in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften [1902–1921], a. a. O., 275) wie vom »Linnéschen klassifi zierenden System« (ebd., 277), von »Platons System« (E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache [1923], in: ECW 11, a. a. O., 60), vom »System Berkeleys« (ebd., 77); die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Cassirer handelt zudem von Schellings »philosophischem System« (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, 71

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liner Periode (1902–1919) getan hatte. Den Systembegriff faßt er weiterhin in einer Weise auf, die seiner Deutung durch die strukturalistischen Linguisten nicht wiederspricht. So versteht er System als ein »Ganzes«, bei dem alle Phänomene »untereinander einen lebendigen Bezug haben« und so ein »zusammenhängendes System« darstellen.74 In diesem System – z. B. dem der »Rechtssystematik« des 18. Jahrhunderts – erfährt »jede einzelne Entscheidung vom Ganzen her ihre Sanktion und ihre Beglaubigung«.75 »Ein System« vereint »Verhältnisse und funktionale Abhängigkeiten«,76 in ihm »gibt es keinen isolierten Punkt mehr: Alle Glieder beziehen sich aufeinander, weisen aufeinander hin und erhellen und erklären sich wechselseitig. […] Die theoretische Bedeutung, die [das Einzelne – C.M.] erhält, besteht darin, daß ihm das Gepräge des Ganzen aufgedrückt wird.«77

Weiterhin sind wissenschaft liche Begriffssysteme künstliche Zeichensysteme, die den Zusammenhang »der Beziehungen und der begrifflichen Bedeutungen« des jeweiligen Gegenstandes als eines Systems, eines Ganzes zum Ausdruck bringen.78 Das für den Gebrauch des Systembegriffs Gesagte gilt grundsätzlich analog auch für den Einsatz des Begriffs der Struktur in der Hamburger Periode. Strukturiert erweisen sich alle wissenschaft lichen Begriffe, wobei die a. a. O., 10), »Comtes System« (ebd., XIV), Leibniz’ »System der universellen Harmonie« (ebd., 303), dem »Newtonschen klassischen System« (E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« [1927], in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften [1927–1931], Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 265), dem »System der Galilei-Newtonischen Dynamik« (E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, a. a. O., 22), dem »System der Kantischen Transzendentalphilosophie« (ebd., 28), Leibniz’ »System der Monadologie« (ebd., 192), dem »System Bergsons« (ebd., 211, 212), »Lockes System des Empirismus« (ebd., 333), »Hilberts System« (ebd., 438), Meyers und Mendelejeffs »›natürlichen System der Elemente‹« (ebd., 511), dem »System der Naturerkenntnis« (ebd., 490), einem »System geometrischer Formen« (ebd., 491), dem »periodischen System« (ebd., 513), dem »System der ›klassischen Mechanik‹« (ebd., 533), den »großen repräsentativen philosophischen Gedankensystemen« des 19. Jahrhunderts (ebd., 533), dem »System der Physik« (ebd., 546) etc. 74 E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 283. 75 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., 249. 76 E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 291, 294. 77 E. Cassirer, »Sprache und Mythos« (1925), in: ECN 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2003, 258. 78 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 95; E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 327.

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V. System, Struktur und Symbol

»Struktur des ›logischen‹ Begriffs« und die Struktur »des ›wissenschaftlichen‹ Begriffs« nicht das Gleiche sind.79 Über eine Struktur verfügen auch einzelne Disziplinen wie die Physik oder Mathematik, 80 das Wissen als solches 81 bzw. ein bestimmtes Wissensgebiet. 82 Die Philosophie stelle ganz grundsätzlich die Frage, inwieweit die »logische Struktur des Denkens und die Struktur des Seins in durchgängiger Harmonie zueinander stehen«. 83 Strukturen finden sich im Alltagsleben, so in der »Struktur und Ordnung des römischen [Feld-]Lagers«. 84 Schwierig bleibt aber weiterhin der Nachvollzug dessen, was Cassirer denn nun wirklich genau unter ›Struktur‹ versteht. Einen kleinen Hinweis geben terminologische Unterscheidungen, so die zwischen »Form« und »Struktur« wissenschaft licher Begriffe 85 oder die in Anm. 80 erwähnte zwischen »Gegenstand« und »Struktur«. Allerdings erschließt er mit seiner neuen Theorie der symbolischen Formen des Geistes bzw. der Kultur, die Anfang der 20er Jahre sowohl als eine ›Phänomenologie‹ im Hegelschen Sinne als auch als eine ›erweiterte‹ Erkenntnistheorie entwickelt wird, 86 einen neuen Anwendungsbereich für sein Denken in Termini des Systems, der Struktur und der Geltung bzw. Bedeutung, erweitert um die Termini der Form, des Symbolischen und der Prägnanz. 87 Im Rahmen dieser neuen Theorie wendet Cassirer nunmehr den Strukturbegriff bewußt und systematisch ebenfalls auf die Wahrnehmung an, 88 was er zusätzlich mit den Termini des ›Symbolcharakters‹ der E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 342. 80 Cassirer unterscheidet den »Gegenstand und die Struktur der Physik« (ebd., 24) und spricht sowohl von der »gedanklichen Struktur der modernen Mathematik« (ebd., 408) als auch von der »›Sinnstruktur des Mathematischen‹« (ebd., 466 Anm. 158). 81 So gehe es bei Kant um »die logische Struktur des Wissens als solche« (ebd., 7), das selbst wieder ein »System des Wissens« (ebd., 351) bildet. 82 Ebd., 323. 83 E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 286. 84 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 121. 85 Die Rede von »Form und [!] Struktur der physikalischen Begriffe« impliziert einen Bedeutungsunterschied beider Termini (E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« [1921], in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften [1902–1921], a. a. O., 293), ebenso wie von »Gesellschaft sform« und »gesellschaft licher Struktur« (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., 207 f.). 86 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Philosophie, Wissenschaft, Wissenschaftsphilosophie. Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft«, 445–464. 87 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564. 88 Cassirer besteht auf einer »Struktur des Wahrgenommenen und Angeschauten« 79

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Wahrnehmung und der ›symbolischen Prägnanz‹ der Wahrnehmung umschreibt. 89 Wenn er der »Struktur« der Erfahrung bzw. Wahrnehmung »logische Notwendigkeit«90 und systematischen Charakter zuschreibt,91 dann teilt er diese Annahmen bzw. Einsichten mit den strukturalistischen Linguisten. Die nunmehr entworfene und formierte ›Philosophie der symbolischen Formen‹ versteht sich zudem als Formenlehre und Analyse der jeweiligen Struktur der vielfältigen Formen des Geistes, wodurch auch der Begriff der zu entdeckenden »Strukturgesetze« bzw. »Strukturzusammenhänge« eine neue, grundsätzlichere Bedeutung gewinnt.92 Mit Blick auf Goethes ›Urpflanze‹ als einem ›Urphänomen‹ macht Cassirer bereits 1921 auf deren Modellcharakter aufmerksam, was bedeute, daß die Urpflanze als Modell zwar »nicht selbst in der Natur existiert, […] aber nichtsdestoweniger die eigentümliche innere Struktur des Existierenden und die Wechselbeziehungen, die zwischen all seinen einzelnen Gliedern [innerhalb eines Ganzen, eines Systems – C.M.] stattfinden, erleuchtet und durchsichtig macht.«93

Damit ist ein wichtiger strukturalistischer Gedanke [prä-]formuliert. Was den Systembegriff innerhalb dieser neuen philosophischen Konzeption betrifft , so betont Cassirer nun, und dabei durchaus an Einsichten aus der Berliner Periode anknüpfend, vor allem, daß die Art und Weise, wie die theoretisch-logische Begriffsbildung ihren Systemaufbau in der Naturwissenschaft vollzieht, von der Richtung, die sprachliche und mythische

(E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, a. a. O., 15), d. h. auf der »Struktur der Wahrnehmung« (ebd., 32) bzw. auf der »Struktur der Wahrnehmungswelt« (ebd., 255). 89 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und Plessner über korrelative Beziehungen zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Am Beispiel des Problems symbolischer Prägnanz«, 565–590. 90 E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 300. 91 Anstatt einer »bloßen ›Rhapsodie‹ der Wahrnehmungen« haben wir es mit »einer fest geschlossenen Einheit«, mit einem »System der Erfahrungserkenntnis« zu tun. – E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 8 f. 92 Ebd., 302; E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 258. 93 E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 281. Ein ›Modell‹ nennt Cassirer auch die »ideelle Grundform«, die »zum Führer im Labyrinth der wirklichen Pflanzenformen [wird]« (ebd., 282).

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Begriffs- und Systembildung einschlagen, stark abweicht.94 Mit anderen Worten, jede Richtung realisiert ein eigenständiges Bildungs- bzw. Aufbaugesetz, d. h. Strukturgesetz. Folglich gliedert sich der »Systembegriff der [natur-]wissenschaftlichen Erkenntnis« gemäß der »Logik der mathematischen Naturwissenschaft« und bildet dabei ein »Ganzes« in Bezug auf die »anderen geistigen Ganzheiten [wie Ästhetik, Mythos – C.M.] von wesentlich verschiedener Struktur und Fügung«.95 Die »geistigen Bildungen […] Sprache, […] Mythos und […] Kunst« werden nun als je »selbständiger Kosmos mit [je] eigentümlichen Strukturgesetzen« begriffen.96 Wir haben es hier jeweils mit »einem System« zu tun, »dessen einzelne Glieder […] sich wechselseitig bedingen und fordern«.97 Gleichzeitig muß »irgend eine logische Gemeinsamkeit der Struktur« angenommen werden, »aber wichtiger […] erscheint […] die spezifische Prägung und Nuancierung, die der [Struktur-]Gesetzesbegriff in jedem Einzelgebiet erfährt.«98 Die neue Philosophie soll alle denkbaren Weisen der Begriff s- und Systembildung umfassen und erforschen, soll sowohl die Strukturgesetze aller dieser Sinnordnungen als auch deren wechselseitigen Verhältnisse zueinander aufk lären.99 Dafür ist ein »umfassendes [gemeinsames gedankliches  – C.M.] Bezugssystem« geistig-kultureller Tätigkeiten zu entwerfen,100 »in welchem […] jedem […] Einzelglied sein idealer Ort bestimmt werden muß«,101 wobei die verschiedenen Einzelglieder des »Bezugssystems« – die »verschiedensten Systeme sinnlicher Symbole«102 – als »symbolische Funktionen« der Synthese von Geist und Welt fungie-

E. Cassirer, »Sprache und Mythos« (1925), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 304 f. 95 Ebd., 8. 96 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 257; E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., VII, VIII. 97 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 5. 98 Ebd., 112. Nach Cassirer »soll die Sprache als eine wahrhaft selbständige und ursprüngliche Energie des Geistes erwiesen werden«, nicht reduzibel auf eine andere Energie, Formungsweise (ebd., 121). In diesem Sinne weist sie eine »eigene Grundgesetzlichkeit der Formung« auf. (ebd., 122). 99 E. Cassirer, »Sprache und Mythos« (1925), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 245, 247, 288, 300, 303, 309. 100 E. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., 259; Cassirer spricht auch vom »System der mannigfachen Äußerungen des Geistes«. – E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 19. 101 E. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 303. 102 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 19. 94

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ren.103 Werden die Beziehungen dieser Einzelglieder (Teilsysteme) und ihr Zusammenhang aufgeklärt, dann gestalten wir das die kulturelle Wirklichkeit erfassende System »zu einem bedeutungs- und sinnvollen Ganzen«. Diesen Anspruch nennt Cassirer an anderer Stelle »die Aufgabe einer allgemeinen Systematik der symbolischen Formen«,104 der sich die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ im Bunde mit den Kulturwissenschaften zu stellen habe. Wieder an anderer Stelle nennt Cassirer die symbolischen Formen, die eigenständigen Teilsysteme des gemeinsamen Bezugssystems »verschiedene Zeichensysteme« des Geistes.105 Wissenschaftliche Begriffe gelten ihm als »selbstgeschaffene intellektuelle Symbole« oder »Zeichen«,106 die ein »System« bilden,107 das strukturiert ist. In diesen Zeichensystemen vollzieht der menschliche Geist auch eine urphänomenale Repräsentationsfunktion, die auf das Problem der Bedeutung bzw. Geltung führt: »dem [einzelnen – C.M.] Zeichen kommt […] eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es […] steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte«.108

Das Strukturgesetz des Ganzen kehrt im Strukturgesetz des Teiles wieder.109 Deshalb »müssen wir die allgemeinen Strukturgesetze des Bewußtseins schon in jedem seiner Elemente […] mitgegeben denken: […] als Tendenzen und Richtungen, die schon im Sinnlich-Einzelnen angelegt sind«.110

Wenn hinsichtlich des »Bezugssystems« und seiner Glieder, den Teilsystemen, von einem »inneren geistigen Prinzip« als einem »bestimmten PrinE. Cassirer, »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), a. a. O., 303. 104 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 78. 105 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 41. 106 Ebd., 2, 3. 107 Ebd., 4. 108 Ebd., 20. 109 Der »Grundcharakter des Bewußtseins, daß das Ganze […] nicht erst aus den Teilen gewonnen wird, sondern daß jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen, nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach bereits in sich schließt«, ist immer »derselbe«. – Ebd., 35. 110 Ebd., 38. 103

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zip der Verknüpfung und der ›Reihung‹« bzw. der »Form der Reihung« die Rede ist, 111 »nach dem [das jeweilige – C.M.] System sich gliedert«,112 dann scheint dies das Strukturgesetz der Systeme zu meinen. Der Strukturbegriff wird jedoch auch in den Schriften der 20er Jahre im Grunde nirgends wirklich expliziert. Die »Grundrelationen« des Bewußtseins, die unsere Wahrnehmung und Anschauung der Wirklichkeit ordnen, strukturieren, und die als q u a l i t a t i v e Verknüpfungsweisen (z. B. Raum, Zeit) in unterschiedlichen (logischen, sprachlichen, ästhetischen etc.) M o d i funktionieren, nennt Cassirer »allgemeine Strukturform[en]«.113 Damit fi ndet der Strukturbegriff bzw. der des Strukturgesetzes Anwendung sowohl auf die qualitativen, kategorialen Ordnungsfunktionen (Raum, Zeit, Zahl etc.) als auch auf die modalen Prägungen dieser Funktionen, die sich in den Sinnsystemen (»Sinnganzes«, »Gesamtsystem«) der symbolischen Formen vollziehen. Das modale Strukturgesetz einer symbolischen Form bezeichnet Cassirer als ihr »in sich geschlossenes Formgesetz«,114 rückt hier also Form- und Strukturbegriff dicht aneinander. Die vermutete, und mehrfach herausgearbeitete, Korrelation zwischen Eigenheiten der grammatischen Struktur der Sprache u n d Eigenheiten der »Struktur« der »mythisch-religiösen Welt« bzw. deren Begriffsbildung 115 führt er auf »die gemeinsame Wurzel der sprachlichen u n d der mythischen Begriffsbildung« zurück. Dieser Tatbestand stelle sich als ein gemeinsamer »Zusammenhang […] in der Struktur der mythischen u n d der sprachlichen ›Welt‹ dar[…]«.116 Cassirers These zielt dabei entweder auf das jeweilige q u a l i t a t i v e Strukturgesetz (Verknüpfungsform) ab, das sich im sprachlichen wie im mythisch-religiösen Modus der Verknüpfung bewährt, oder auf das allgemeine Strukturgesetz E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 8, 10. 112 Ebd., 14. 113 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 26; E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 351. 114 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 27. 115 E. Cassirer, »Sprache und Mythos« (1925), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 265. 116 Ebd., 266. Da Cassirer die verschiedenen ›geistigen Energien‹ kultureller Sinnstift ung auch Weisen der Begriffsbildung nennt, und folglich mythische, sprachliche, logisch-theoretische etc. Begriffsbildungen unterscheidet, die bei ihrem Durchgang durch die Ebenen Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion auch Gemeinsamkeiten aufweisen, kann er vom »Fortgang vom Sprachbegriff zum wissenschaft lichen Begriff« sprechen (E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in: ECW 13, a. a. O., 379), bzw. vom »Fortgang von den ›Wortzeichen‹ der Sprache zu den reinen ›Begriffszeichen‹ der theoretischen Wissenschaft« (ebd., 382). 111

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des »Bezugssystems«, der »Systematik des Geistes«, das sich in den einzelnen symbolischen Formen bzw. M o d i besondert. Es erscheint zudem nicht unwichtig, gesondert auf die Tatsache hinzuweisen, daß Cassirer den im ersten Abschnitt ausführlich behandelten Gedanken, wonach in der modernen Naturwissenschaft , insbesondere in der Biologie, neben »allgemeinen Funktions- und Gesetzesbegriffen« der Kausalität ebenfalls »besondere [Form- und – C.M.] ›Strukturbegriffe‹, die sich ihrer gesamten methodologischen Schichtung und Fügung nach deutlich von den Begriffen der ersten Art abheben«,117 Anwendung finden, bereits 1922 formuliert, d. h. zu einem Zeitpunkt, als das Konzept einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ weitgehend ausgereift ist. Im Folgenden sollen die System- und Strukturaussagen in Zusammenhang mit den drei großen kulturellen Sinnordnungen Sprache, Mythos und [Natur-] Wissenschaft , die die entscheidenden systematischen Bezugsordnungen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bilden, zusammengefaßt werden. 1. So gilt ihm die S p r a c h e , wie jede symbolische Form, als ein ganzheitliches System,118 das sich »als ein Organismus [erweist – C.M.], in welchem […] das Ganze früher als die Teile ist«,119 und das weitere Teilsysteme enthält.120 Die Tatsache, daß sich in den verschieden Teilsystemen der Sprache, speziell denen der Laute und der Formwerte, Analogien aufweisen lassen, lasse sich »nur aus den tieferen geistigen Strukturverhältnissen der Sprache« begreifen.121 Mit anderen Worten, Cassirer vermutet im System der Sprache als einer besonderen »symbolische Form« eine »einheitliche und allgemeingültige Struktur«,122 die sich u. a. in einem dreifachen, systematisch relevanten Stufengang des »inneren Aufbaus der einzelnen Formwerte« der Sprache manifestiert.123 Ohne Kenntnis von de E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 41. »Insbesondere sind es die beschreibenden Naturwissenschaften, vor allem die Wissenschaften vom organischen Leben, die derartige Strukturbegriffe nirgends entbehren können.« (Ebd., 41) 118 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften « (1921/22), in: ebd., 78. 119 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 281. 120 Das System Sprache enthält z. B. das »differenzierte und fein abgestufte System von Lokalpräfi xen«. – E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 16. 121 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften « (1921/22), in: ebd., 77. 122 Ebd., 79. 123 Der bereits 1921/22 vermutete dreifache Stufengang des »inneren Aufbaus der einzelnen Formwerte« der Sprache umfaßt die Stufen 1. Lautnachahmung bzw. »mi117

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Saussures entsprechenden Überlegungen im Cours zu besitzen, gelten ihm bereits 1921/22 die Sprache und ihre Teilsysteme als »Zeichensysteme«,124 in denen die einzelnen sinnlichen Zeichen die »Repräsentation eines bestimmten Bedeutungsgehaltes« leisten.125 D. h., die Sprache scheint sich, so Cassirers Einsicht, »vollständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken zu lassen«.126 Dabei vereint das »Lautzeichen, das die Materie aller Sprachbildung darstellt«, in sich zwei Momente: es ist gleichzeitig »geformter Laut« u n d »Teil der sinnlichen Wirklichkeit«.127 Als System von Bedeutungen gliedert uns die Sprache die sprachlich erfaßte Wirklichkeit zu einem sinnvoll strukturierten Ganzen.128 Die Erkenntnis, daß der Sprachlaut ›geformter‹ und damit Bedeutung tragender Laut ist, führt von de Saussure zu Trubetzkoj und dessen ›Phonologie‹, was Cassirer aber erst in den 40er Jahren, während seiner Yaler bzw. New-Yorker Periode, ausdrücklich würdigen kann. Gleichzeitig fungiert Sprache als System bzw. Regel der Klassifi zierung von Phänomenen, der Bildung von Klassenbegriffen. Dabei differieren diese Regeln und ergeben sich nicht immer aus der Logik der Sprache, sondern können auch von anderen Modi – des Denkens, der Begriffs- und Klassenbildung – inspiriert sein. So drücke sich in einem System »mythischer Klassenbegriffe« die eigenartige, aber »notwendige Struktur dieses [mythischen – C.M.] Denkens aus[…]«,129 habe doch die »Welt des Mymischer Ausdruck«, 2. »›analogische‹ Bezeichnungsweise« ohne »sachlich aufzeigbare Ähnlichkeit« zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Bedeutung), 3. »symbolischer Ausdruck« ohne jegliche Form der Nachahmung der Sprache, am Ende tritt die »reine Beziehung des [sinnlichen – C.M.] Lautes auf die [geistige] Bedeutung […] selbständig heraus, ohne mehr der Stütze in irgendeiner ›natürlichen‹ Ähnlichkeit zwischen beiden zu bedürfen«, die »Sprache [fungiert – C.M.] als reiner Begriffsausdruck«. – Ebd., 82–85. 124 Ebd., 89. 125 Ebd., 95. 126 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 16. 127 Ebd., 23. Der »Sprachlaut« ist der »Ausdruck der feinsten gedanklichen und gefühlsmäßigen Differenzen«, was er als sinnliche Träger »unmittelbar ist, tritt jetzt völlig zurück gegenüber dem, was er mittelbar leistet und ›besagt‹«. (Ebd., 25) Dabei fügen sich »die sinnlichen Einzelheiten […] einem Bewußtseins-Ganzen ein[…] und [erhalten – C.M.] von diesem erst ihren qualitativen Sinn«. (Ebd., 25). 128 »So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß wir es ›benennen‹ und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen Denkens […] durchdringen.« – Ebd., 18. 129 E. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 25. Cassirer beruft sich dabei u. a. auf Durkheim und Mauss (ebd., 21, 26 Anm. 25), genau wie später Lévi-Strauss. Auch den für Lévi-Strauss wesentlichen Gedanken, wonach sich im mythischen Denken die jeweilige Sozialstruktur ausdrücke, spricht Cassirer bereits 1922 aus (ebd., 29, 35 f.).

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thos« – ebenso wie die der »reinen Sprachform«130 – ihre eigene »Struktur und Art«.131 Der Sprachphilosoph Cassirer ist auffallend interessiert an der Einsicht in die »Struktur verschiedener und in ihrem gedanklichen Grundtypus weit voneinander abweichender Sprachkreise«, besonders in die »Struktur der sogenannten ›primitiven‹ Sprachen«, wobei er sich u. a. auf Boas stützt.132 Dabei glaubt er an eine allgemeine Sprachform, d. h. an das »Beständige und Gleichförmige« der Sprache als solcher als eines Systems,133 das es zu erkennen gelte, und setzt auf Humboldts »Verbindung der Idee der organischen Form und der Idee der Totalität«.134 In diesem Sinne sucht sich Cassirer mit Blick auf Humboldt über die »›innere Sprachform‹« klarzuwerden, d. h. über »das bedingende Gesetz ihres Aufbaus«, und dies sowohl für die Einzelsprachen135 als auch für jegliche Sprache, für die Sprache überhaupt, für die Sprachform als einer speziellen geistigen Ausdrucksform.136 Resümierend läßt sich sagen, daß sich für Cassirer aus »einer begrenzten Zahl sprachlicher Zeichen«, »wenn diese nur nach bestimmten allgemeingültigen Regeln verknüpft werden«, »das ganze System« des sprachlichen Denkens aufbauen, sich »die Gesamtheit der Denkinhalte und ihre Struktur erschöpfend bezeichnen« läßt.137 Hier ist nochmals auf die bei Cassirer wesentliche Unterscheidung des logischen, sprachlichen und mythischen Denkens hinzuweisen. Das »System von [sprachlichen – C.M.] Zeichen«, als ein »System von Namen«, erlaubt Rückschlüsse auf die »Struktur der Sprache«. Diese k e h r t in der »Struktur der Erkenntnis« als einem »System des Wissens« w i e d e r, 138 da in beiden Systemen bzw. Strukturen das allgemeine Bezugssystem der symbolischen Formen und dessen Struktur ›repräsentiert‹ ist. Sprache als ein System von gegliederten Sprachlauten, E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., X. E. Cassirer, »Die Begriff sform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), a. a. O., 37. Cassirer unterscheidet folglich »die Richtung der sprachlichen [von der] Richtung der mythisch-religiösen Begriffsbildung.« – E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., 260. 132 E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, a. a. O., X. 133 Ebd., 103. Lasse sich doch »das Beständige und Gleichförmige in der Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben«, »in seinem Zusammenhange« auffassen und »systematisch dar[…]stellen«. – Ebd., 256. 134 Ebd., 97. 135 Nach Humboldt bezeichnet die »›innere Form‹« einer konkreten empirischen Sprache das »spezifische Gesetz […], durch das sich [diese] Sprache in ihrer Begriffsbildung von anderen unterscheidet«. – Ebd., 255 f. 136 Ebd., 10. 137 Ebd., 64. 138 Ebd., 75 f. 130 131

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die immer mehr zu »reinen Bedeutungslauten« werden,139 erfaßt den sprachlich dargestellten Gegenstand »in seinen Strukturverhältnissen«, die – so der idealistische Sprachphilosoph – vom »Bewußtsein konstruktiv erzeugt« werden.140 Wir erhalten schließlich mit der sprachlich benannten Welt »ein System von erstaunlicher Mannigfaltigkeit und von den feinsten Bedeutungsschattierungen«.141 2. Auch das m y t h i s c h e D e n k e n als eine eigene Richtung der Begriffs- und Klassenbildung wird sowohl »vom Standpunkt des [Gesamt-] Systems der geistigen Ausdrucksformen« als auch von dem seiner strukturellen Besonderung innerhalb dieses Systems betrachtet.142 Es gelte, den »Ort, den der Mythos im System der geistigen Formen«, d. h., im »systematischen Stufengang der geistigen Ausdrucksformen«,143 einnimmt, aufzuklären. Dafür sind »genetische Probleme« – Probleme der »Genesis [der Grundformen der Kultur – C.M.] aus dem mythischen Bewußtsein«144 – und »Strukturprobleme« streng zu unterscheiden, wobei erstere ohne Beachtung letzterer nicht zu lösen sind.145 Der Philosoph der symbolischen Formen habe nämlich nicht nach irgendeiner »Gemeinsamkeit des Ursprungs [von Sprache, Mythos und Religion – C.M.], sondern [nach] der Struktur«, d. h. in diesem Falle, nach einer möglichen »Einheit der [strukturellen – C.M.] Funktion«, zu fragen.146 Weiterhin gelte es, »durch die Analyse seiner [des Mythos – C.M.] geistigen Struktur […] nach der einen Seite seinen eigentümlichen Sinn, nach der anderen seine Grenze [gegenüber anderen symbolischen Formen zu – C.M.] bestimmen.«147

Ebd., 137. Ebd., 129. »Beides bedingt sich jetzt wechselseitig: die Gliederung der Laute wird zum Mittel für die Gliederung der Gedanken, wie diese letztere sich in der Ausbildung und Formung der Laute ein immer differenzierteres und empfi ndlicheres Organ erschafft .« (Ebd., 130) »In der Entstehung des gegliederten Lautes […] stellt sich uns so ein allgemeines Phänomen dar, das uns in den verschiedensten Gebieten des Geistes in immer neuer Form begegnet. Hier scheint durch die Besonderheit der sprachlichen Form wieder die universelle symbolische Funktion hindurch […]« (ebd., 132). 141 Ebd., 144. 142 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 27, X. 143 Ebd., 32, 33. 144 Ebd., XI. 145 Diese »genetischen Probleme [können ihre Lösung – C.M.] niemals rein für sich, sondern nur in nächster Verknüpfung und in durchgängiger Korrelation mit den ›Strukturproblemen‹ […] fi nden«. – Ebd., XI. 146 Ebd., 298. 147 Ebd., XIV. 139

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Erneut lassen Cassirers Formulierungen auf eine Identifizierung von ›geistiger Struktur‹ bzw. »immanenter Strukturgesetzlichkeit« und ›innerer Form‹ schließen.148 Er erklärt mit Blick auf die Einheit der Natur bei Kant, daß die Einheit der Kultur nicht »faktisch an den [kulturellen – C.M.] Erscheinungen« aufgewiesen werden kann, sondern »aus der Einheit einer bestimmten [kulturellen – C.M:] ›Strukturform‹ des Geistes verständlich [zu] machen« ist.149 Hier wird nicht ganz klar, ob er mit »›Strukturform‹ des Geistes«, mit ›Bedingungen der Möglichkeit‹, das »geistige Prinzip« einer bestimmten ›symbolischen Form‹ oder die Kultur insgesamt als System meint, deren Strukturprinzip sich in jeder symbolischen Form abgewandelt wiederholt. In den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ faktischer Kulturerscheinungen – also auch der mythischen – sei ein »bestimmter Stufenbau, eine Über- und Unterordnung der Strukturgesetze des betreffenden Gebietes, ein Zusammenhang und eine wechselseitige Bestimmung der einzelnen gestaltenden Momente aufzuweisen«.150

In dem Zusammenhang erklärt Cassirer, es sei die »Husserlsche Phänomenologie« gewesen, die »erst wieder den Blick geschärft« habe für »die Verschiedenheiten der geistigen ›Strukturformen‹« der Kultur, indem sie »die Strukturen ganz verschiedener Gegenstandsbereiche rein nach dem, was sie ›bedeuten‹«, untersucht habe.151 Konkret interessiert ihn die »ursprüngliche und einheitliche [Bedeutungs-]Struktur des Mythischen [Denkens – C.M.]«, die »Struktur der mythischen Welt«,152 das Begreifen des Mythos als »eines in sich geschlossenen und aus sich verständlichen Systems«153 bzw. die »tiefere Strukturform der mythischen Phantasie und des mythischen Denkens«, kurzum »die Funktion des Mythischen selbst«.154 Dieses Interesse führt ihn auf die »eigentümliche Struktur« der »grundlegenden mythischen Begriffe«,155 die »sich mit Notwendigkeit aus der Struktur dieses Denkens« ergibt.156 Ebd., XV, 5. Ebd., 13. 150 Ebd., 14. 151 Ebd., 14 Anm. 12. 152 Ebd., 28. 153 Ebd., 22. 154 Ebd., 23. 155 Ebd., 2, 44. 156 Ebd., 57. Ein wichtiges Strukturmerkmal scheint die »Ur-Teilung« in »Heiliges« und »Profanes« als zwei Begriffsklassen zu sein. (Ebd., 94, 89). 148 149

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V. System, Struktur und Symbol

Entgegen aller Behauptungen von einem ›vorlogischen‹ Denken (LévyBruhl) hält Cassirer die »mythische Welt« »keineswegs [für] gesetzlos«, vielmehr weise sie »eine Strukturform von eigentümlicher und selbständiger Prägung« auf.157 Auch für das mythische Denken gelte das »Prinzip der Ursächlichkeit«,158 gehe das Ganze den Teilen vorher.159 Während allerdings beim logisch-theoretischen »Funktionsraum der reinen Mathematik« das »Ganze […] aus Elementen [entsteht – C.M.], indem es aus ihnen […] erwächst«,160 liegt beim »Strukturraum« des Mythos »ein rein statisches Verhältnis des […] Innewohnens« vor.161 Das mythische Denken arbeitet beim Weltaufbau bzw. Weltverstehen mit der »Analogie der räumlichen Struktur«,162 womit es eine »primäre bedeutungsgebende Funktion« vollzieht.163 Die einzelnen Strukturbegriffe, mit denen Cassirer operiert, erweisen sich folglich jeweils m o d a l geprägt. Ein wichtiges Merkmal der Struktur des mythischen Denkens als eines grundsätzlich sozialen sieht er darin, daß sich hier »alles natürliche Sein in der Sprache des menschlichsozialen Seins, alles menschlich-soziale [Sein] in der Sprache des natürlichen [Seins] aus[spricht – C.M.].«164 3. Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ will die »besondere Natur der verschiedenen brechenden Medien erkennen […,] jedes von ihnen E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., VII. 158 E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, a. a. O., 59. 159 »Die Grundstruktur des mythischen Denkens […] greift weiter – sie erfaßt und bestimmt auch die Einzelgestaltungen dieses Denkens und drückt ihnen gleichsam ihr Siegel auf.« – Ebd., 75. 160 Ebd., 111 f.; E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 168. 161 »So weit wir auch die Teilung [des mythischen Strukturraumes – C.M.] fortsetzen mögen, so fi nden wir doch in jedem Teile die Form, die Struktur des Ganzen wieder. Diese Form […] beharrt, unbeschadet jeder Teilung […], in sich selbst.« (E. Cassirer, PSF, Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], in: ECW 12, a. a. O., 104). »Wie der [mythische – C.M.] Raum in sich selbst eine bestimmte Struktur besitzt, die in all seinen einzelnen Gebilden wiederkehrt, so kann auch kein einzelnes Sein und Geschehen aus der Bestimmtheit, aus der Fatalität des Ganzen heraustreten und von ihr gleichsam abfallen.« (Ebd., 105 f.). 162 Ebd., 107, 110. 163 Ebd., 111. 164 Ebd., 225. »Denn alle Kategorien, in die wir diese [mythische – C.M.] Wirklichkeit fassen […] sind Produkte nicht des individuellen, sondern des sozialen Denkens und haben demgemäß ihre religiös-soziale Vorgeschichte. Sie auf diese Vorgeschichte zurückführen, ihre scheinbar rein logische Struktur auf bestimmte soziale Strukturen zurückzuführen: das heißt diese Begriffe erklären und sie in ihrer eigentlichen ›Apriorität‹ verstehen.« (Ebd., 226). 157

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nach seiner Beschaffenheit und nach den Gesetzen seiner Struktur durchschauen«,165 von denen die jeweilige modale »Gliederung« des Mannigfaltigen abhängt.166 Der Dritte Teil Phänomenologie der Erkenntnis (1929) beansprucht, nunmehr die Modalität des »t h e o r e t i s c h e n W i s s e n s […] in seiner ›Bedeutungsstruktur‹« zu verstehen.167 Hier zeige sich nicht nur, daß bestimmten theoretischen »Bedeutungsdifferenzen« bestimmte »Bedeutungsstrukturen« korrelieren,168 sondern auch, daß die Wahrnehmung, als Grundlage jeglicher wissenschaft lichen Erfahrung, nicht ohne »Sinnstruktur« gedacht werden kann, um sich »zu einem gedanklichen Gefüge zusammenfassen […] zu lassen«.169 Während die Wissenschaft nach der »Struktur der dinglichen Welt« fragt,170 interessiere sich die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ für die jeweiligen »Strukturformen« der modal geprägten Bewußtseinsbestände.171 Dabei tritt zu Tage, daß das Denken bemüht ist, »die Mannigfaltigkeit der Ereignisse in ein System zusammenzufassen«.172 Auf dem Weg zu deren theoretischer Erkenntnis »[stellt – C.M.] der Gedanke […] ein System von Zeichen auf, und […] lernt, diese Zeichen als ›Stellvertreter‹ der Gegenstände zu gebrauchen«.173 Durch diese wiederholte symbolische Darstellung jeder einzelnen Bestimmung des Gegenstandes »gewinnt [das Denken – C.M.] ein immer vollkommeneres Modell des Seins und seiner t h e o r e t i s c h e n Gesamtstruktur. Jetzt braucht [es], um dieser Struktur gewiß zu werden, nicht mehr nach dem einzelnen Gegenstand zu greifen und ihn […] in seiner sinnlichen ›Wirklichkeit‹ vor sich hinzustellen.«174

Mit Hilfe der zu den »Bedingungen der Möglichkeit zurückdringenden Analyse« unternimmt es Cassirer nun, der »Frage nach der Struktur des wahrnehmenden, des anschauenden und des erkennenden Bewußtseins«

E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 1. 166 Ebd., 15. 167 Ebd., 6. 168 Ebd., 11. 169 Ebd., 12. 170 Ebd., 66, 67. 171 Ebd., 54. 172 Ebd., 183. 173 Ebd., 49. 174 Ebd., 49. 165

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V. System, Struktur und Symbol

nachzugehen,175 drei »Formwelten«, die die Stufenfolge der theoretischen Erkenntnis bilden.176 Die Struktur des w a h r n e h m e n d e n Bewußtseins sucht er in der Ausdrucksfunktion desselben, in der »eigentümlichen Struktur« der »Ausdrucksphänomene«.177 Demgegenüber ruhen das »a n s c h a u l i c h e Weltbild«, d. h. die »Struktur der Dingwelt«,178 und die Sprache auf »ein und derselben fundamentalen Leistung« des Geistes, nämlich auf der Repräsentations- oder Darstellungsfunktion des Bewußtseins.179 Cassirer konstatiert aber auch, wie bereits erwähnt, einen »durchgängigen Zusammenhang zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur«, bei dem es sich um »ein sachliches Verhältnis der ›Fundierung‹« handele.180 Die Struktur des erkennenden Bewußtseins auf der Ebene der t h e o r e t i s c h e n Wissenschaft (Bedeutungsfunktion) fi ndet sich in einem »System der Beziehungen und der begrifflichen Bedeutungen«, dem »ein Inbegriff von Zeichen unterlegt [wird – C.M:], der so beschaffen ist, daß sich an ihm der Zusammenhang der zwischen den einzelnen Elementen jenes Systems obwaltet, übersehen und ablesen läßt«.181

Die Zeichen eines solchen Systems sind »reine ›Bedeutungszeichen‹«.182 Cassirer findet hier ein »abgestuftes und gegliedertes System rein repräsentativer Funktionen« vor,183 ein »System der [reinen – C.M.] Relationen«,184 in dem sich der »Fortgang von den ›Wortzeichen‹ der Sprache zu den reinen ›Begriffszeichen‹ der theoretischen Wissenschaft« vollzogen hat.185 Dieses Ebd., 63. Gleichzeitig verfolgt Cassirer den »Aufbau der drei Formwelten, […] [den] Übergang von den mythischen Begriffen zu den Sprachbegriffen, von diesen zu den physikalischen Gesetzesbegriffen«. – Ebd., 519. 177 Ebd., 112. 178 Ebd., 136. 179 Ebd., 130. Die »Form des sprachlichen Denkens« wirke stark an der Gestaltung des »empirischen ›Anschauungsraumes‹« mit und »[bestimme – C.M.] tief […] seine gesamte Struktur«. (Ebd., 488). 180 Ebd., 262. »Eine bestimmte Richtung des Wahrnehmungsbewußtseins« »[läuft] einer Grundrichtung innerhalb des Sprachbewußtseins parallel« (Ebd., 264). Deshalb erfährt »die Wahrnehmungswelt und ihre Struktur unter dem Einfluß pathologischer Störungen der Sprachfunktion« bestimmte »Änderungen«. (Ebd., 493). 181 Ebd., 327. 182 Ebd., 328. 183 Ebd., 345. 184 Ebd., 348. »Die Mathematik […] [stellt – C.M.] ein System rein funktionaler Bestimmungen dar[…].« (Ebd., 431). 185 Ebd., 382. 175 176

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System der Begriffszeichen nennt er ein notwendig »in sich geschlossenes«, da »zwischen ›Zeichen‹ und ›Bedeutung‹ […] eine strenge eindeutige Zuordnung angestrebt [ist]«.186 Die Struktur der Zeichen erlaubt, daß sie sich »auch auseinander […] entfalten«, was sich in »einem universellen System von [bloßen – C.M.] Ordnungszeichen, das […] nach einem bestimmten, allgemeingültigen Prinzip fortschreitet«, realisiert.187 Unter der »apriorischen Struktur eines bestimmten Gebietes« will Cassirer ein »allgemeines Gesetz« – eine »Strukturformel« – verstanden wissen, das die »Konstruktionsmöglichkeit« im theoretischen System regelt,188 das »neue Tatbestände gewissermaßen hervorlockt«,189 »ein[…] festes Prinzip«, nach dem eine »Mannigfaltigkeit sich übersehen und gliedern, sich […] ordnen [läßt]«.190 Der modale (mathematische, physikalische etc.) Typus eines Systems wird u. a. durch die »Setzungsarten« bzw. »Formen der Setzung« von Gegenständlichkeit zum Ausdruck gebracht, die in ihm gelten bzw. vollzogen werden. Cassirer betont auch hier, und das weist erneut auf die Systemauffassung der strukturalistischen Linguisten hin, daß den Elementen im mathematischen System bestimmte Eigenschaften »nicht an sich« zukommen, »sondern nur im System der Zahlen«, innerhalb der »reinen Ordnungsbeziehungen, in denen die einzelne Zahl zur Gesamtheit der möglichen Zahlen steht.«191 Am Ende dieser Schaffensperiode, in Die Philosophie der Aufklärung (1932), nimmt Cassirer eine Präzisierung bzw. Modifi kation hinsichtlich seiner Rede von den historischen philosophischen Systemen vor. Könne man für das »siebzehnte Jahrhundert […] noch die Hoffnung hegen, das Ganze seines philosophischen Gehalts und seiner philosophischen Entwicklung dadurch zu bezeichnen, daß man diese Entwicklung von ›System‹ zu ›System‹ […] verfolgt,«192

so habe im 18. Jahrhundert »das philosophische System als solches […] seine bindende und seine eigentlich repräsentative Kraft verloren«.193

186 187 188 189 190 191 192 193

Ebd., 387. Ebd., 394. Ebd., 429. Ebd., 509. Ebd., 511. Ebd., 470 f. E. Cassirer, Die Philosophie der Aufk lärung (1932), in: ECW 15, a. a. O., XIII. Ebd., XIII.

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V. System, Struktur und Symbol

»Das Denken der Aufk lärung durchbricht immer wieder die starren Schranken des Systems, und es sucht sich, gerade in den reichsten und originalsten Geistern, der strengen systematischen Zucht zu entwinden.«194

»Die Philosophie der Aufk lärungsepoche« wird vielmehr von »wenigen großen Haupt- und Grundgedanken beherrscht […], die sie in strenger Geschlossenheit und in straffer Gliederung vor uns hinstellt.«195 Dies hindert ihn aber nicht, auch weiterhin von ›Hegels System‹ oder ›Rickerts System‹ zu sprechen.

C. System- und Strukturbegriff in den Schriften der Emigrationszeit (1933–1941) Die 1935 bis 1941 in Göteborg, Schweden, als Emigrant verbrachten Jahre erweisen sich als eine sehr produktive Periode im Leben Cassirers. Hier entwirft er eine Theorie (›Metaphysik‹) der ›Basisphänomene‹ der Wahrnehmung (ECN 1), hält davon inspiriert 1939 eine philosophisch anspruchsvolle Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« (ECN 5), deren Einsichten und Grundthesen in die fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaft (1941/42) eingehen. Außerdem stellt er in dieser Zeit den vierten Band des Erkenntnisproblems in Wissenschaft und Philosophie »Von Hegels Tod bis in die Gegenwart« fertig und systematisiert die nunmehr reifste Version seiner Wissenschaftsphilosophie in dem Manuskript »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« (ECN 2). Auch in dieser Schaffensperiode erweisen sich die Begriffe System und Struktur für das Philosophieren Cassirers als zentrale philosophische Termini u n d als theoriebildende Kategorien. So wird der Systembegriff weiterhin auf philosophische Lehren und Disziplinen, auf die Vernunft und die Erfahrung,196 aber auch generell auf

Ebd., XIII. Ebd., XIV. 196 Es ist z. B. vom »Hegelschen System« bzw. »Hegels System« (E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, Text und Anm. bearbeitet von T. Berben und D. Vogel, Hamburg 2000, 3, 6, 197) die Rede, Mills »System« (ebd., 7), dem »System […] Wolff s« (ebd., 200), den »scholastischen Systemen« (E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hrsg. von J.M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R.A. Bast, K. Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995, 130), von »Fichtes ›System der Sittenlehre‹« (ebd., 154) etc. Üblich ist – mit Blick auf Kant – die Rede vom »System der reinen Vernunft« (E.  Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 3), die »Dreiteilung« der Funktionen der Vernunft erscheine bei Kant »als eine 194 195

System und Struktur

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die Wissenschaften bzw. Wissenschaftstheorien,197 speziell auf die Mathematik (Geometrie),198 die Physik 199 und die Biologie 200 angewandt. Wir haben es auf all diesen Gegenstandgebieten grundsätzlich mit systematischen Zusammenhängen zu tun. 201 Auf der Ebene der philosophischen und wissenschaftlichen Systeme entspanne sich – ganz nach Dilthey – ein »Kampf der Systeme«;202 jedes philosophische System hat seine spezifische ›Wahrheit‹. 203 Wir lesen aber auch von »Bezugssystemen«, 204 »WertArt ideelles Bezugssystems«. (E. Cassirer, »Erstes Kapitel: ›Geist‹ und ›Leben‹« [1928], in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 6). Cassirer handelt u. a. vom »System der Erfahrung«. – E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 119. 197 So bildeten nach Comte »die Wissenschaften ein einziges, in sich zusammenhängendes und hierarchisch gegliedertes System« (ebd., 18), dabei wird »das System der Wissenschaften, das Comte [selbst] aufgestellt hat«, eingehend gewürdigt (ebd., 329 f.). 198 Cassirer erwähnt das »System« der Nicht-Euklidischen Geometrie (ebd., 28), deutet die Zahlen als ein »reines System von Zeichen« (ebd., 74), als ein »System« von »Beziehungsformen« (ebd., 78), spricht vom »gesamten System der Mathematik« (ebd., 84), etc. 199 Helmholtz sei bestrebt gewesen, »ein höchst einfaches und in sich völlig geschlossenes System der Physik« zu schaffen (ebd., 99). Am System der Physik zeigen sich viele wichtige Systemeigenschaften: »Die physikalische Wissenschaft ist ein System, das man als ein in sich geschlossenes Ganzes nehmen muß; sie ist ein Organismus, von dem man keinen einzelnen Teil funktionieren lassen kann, ohne daß damit auch alle anderen, noch so entfernten Teile, die einen mehr, die anderen weniger, aber jeder in einem bestimmten Grade, in Wirksamkeit treten. Wenn die Funktion irgendwelche Hemmungen erfährt, so muß der Physiker, auf Grund der Wirkung, die sich im Gesamtsystem zeigt, das Organ zu erraten suchen, das an der Störung schuld ist und das der Besserung bedarf, ohne daß es ihm möglich wäre, dieses Organ zu isolieren und es für sich allein zu prüfen.« (Ebd., 131). 200 In der Biologie haben wir es u. a. mit dem »Linnéschen System« zu tun (ebd., 148), sie kann auch als ein »mechanistisches System« aufgefaßt werden, (ebd., 217), Roux nimmt sie als ein »komplexes System von Leistungen« (ebd., 221), »Drieschs System« (ebd., 229) unterscheidet sich vom Loebschen »System« (ebd., 239) und auch vom »System […] Reinkes« (ebd., 240). 201 So hatte Cassirer auch einmal einen »inneren systematischen Zusammenhang« zwischen dem »Grundproblem der Ästhetik und den Problemen der Sprachphilosophie« konstatiert (E. Cassirer, »Zweites Kapitel: Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« [1928], in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 78). 202 E. Cassirer, »Symbolische Formen. Zu Band IV«, in: ebd., 201. Pflegt doch »jedes philosophische System […], in der Wirklichkeitsfrage, einen bestimmten ›Standpunkt‹ zu wählen, den es streng festzuhalten sucht.« (E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, hrsg. von K.Ch. Köhnke und J.M. Krois, Hamburg 1999, 6). 203 So unterscheidet sich »Art und Struktur« der »Wahrheit Fichtes« von der des Cartesischen Systems. – E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 18. 204 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 172, 181; ders., Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 116, 117 Anm., 118, 119, 127, 141.

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V. System, Struktur und Symbol

Systemen«, 205 von geschlossenen und von offenen Systemen.206 Der Systembegriff bezieht sich in der Regel auf Begriffe, die ein Begriffssystem bilden.207 Als wichtige Handhabe für einen Vergleich des Cassirerschen Systembegriffs mit dem der strukturalistischen Linguisten erweist sich die Einsicht Cassirers, daß sich seine Systemauffassung erfolgreich in einer funktionalistischen Auffassung, z. B. in der Mathematik, bewähre, betont doch auch er »mit stärkstem Nachdruck […], daß wir es in den Zahlen nicht mit einem System von Dingen, sondern mit einem reinen System von Zeichen zu tun haben.«208 Mathematische Zeichensysteme repräsentieren folglich jeweils ein ganzes »System [von] Beziehungsformen«, nicht aber von Dingen. 209 Auch in der modernen Physik werde »das naturwissenschaftliche Objekt […] in ein System von Relationen und funktionalen Verknüpfungen aufgelöst.«210 Dabei arbeitet sie mit »einer eigenen Sprache, [d. h. mit] einem bestimmten System von Symbolen«, 211 das »ein ganzes System physikalischer Urteile impliziert«.212

Insbesondere mit Blick auf Rickert ist von einem »Wertsystem« bzw. »System der Werte« die Rede (E. Cassirer, Wege und Ziele der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 159), während Windelbands »System der Wertbegriffe« als »ein Bezugssystem« fungiere (ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942], in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften [1941–1946], Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 394). Ein »System« als ein »allgemeines Wertsystem« lasse sich nicht »a priori konstruieren« (ebd., 394). 206 Während der Rationalismus die Wirklichkeitserkenntnis durch »ein in sich geschlossenes System theoretischer Begriffe und Prinzipien« anstrebte (E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 5), wird in der Mathematik sowohl mit »offenen Systemen« als auch »geschlossenen Systemen« mathematischer Begriffe operiert (ebd., 52), wobei gemäß der »Struktur des mathematischen Denkens« die Begriffe »von Anfang an als offene [Begriffs-]Systeme, nicht als geschlossene Systeme betrachtet werden.« (Ebd., 50 Anm. C, 52). 207 Ebd., 158; ders., »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 115. 208 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 74. 209 Ebd., 75. »In Hilberts [geometrischem – C.M.] System haben die Elemente und Relationen keine selbständige, keine […] ›absolute‹ Bedeutung; sie empfangen diese vielmehr erst durch die Relationen, die sie eingehen.« (E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« [1937], in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften [1936–1940], a. a. O., 133). D. h., »keiner der im System enthaltenen Grundbegriffe [läßt] sich für sich erklären und sinnvoll gebrauchen« (ebd., 135). 210 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 116. 211 Ebd., 129. 212 Ebd., 130. 205

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Der mathematisch-physikalische Raum als ein »reiner System-Raum« ist »nicht sowohl ein Komplex gegenständlicher Elemente, als vielmehr ein System von Relationen.«213 Die Begriffe werden hier als Funktionen aufgefaßt, und »die Struktur der einzelnen Funktionen konnte […] aufgedeckt und ihre systematische Verwandtschaft in ein ganz neues Licht gesetzt werden«, die Funktionen wiederum bilden ein eigenes System.214 Der Begriff – z. B. der Zahl – wird nur »nach dem genommen, was [er – C.M.] bedeutet und als was [er – C.M.] fungiert«, er ist kein selbständiges Ding mehr, und auch keine Bezeichnung einer den Dingen anhaftenden Eigenschaft.215 Die Funktionsauffassung dehnt Cassirer auch auf die Wahrnehmung aus, die allein uns die ›Wirklichkeit‹ erschließt.216 Sie leistet dies durch bestimmte »Funktionen« (›Basisphänomene‹), von denen uns »ihre systematische Gesamtheit und ihre systematische Gliederung« interessiert.217 Und auch in der Biologie werden die Naturformen »unter dem Gesichtspunkt eines Ganzen [betrachtet – C.M.], das so geartet ist, daß durch dasselbe die Beschaffenheit der Teile bestimmt wird. […] Damit hört [die biologische Naturform – C.M.] auf, bloßes Aggregat zu sein und wird zum System.«218

In einem wissenschaftlichen System funktioniert kein Teil, kein ›Organ‹ unabhängig von all den anderen, handelt es sich bei einem solchen System doch quasi um einen Organismus.219 Damit steuert Cassirer auf »die ›Formbegriffe‹ der Biologie [zu, die – C.M.] eine spezifische Struktur besitzen«, die sie »ungeachtet aller Fortschritte der kausalen Erklärung immer behalten müssen«.220 Biologen wie Cuvier und von Uexküll sehen, gibt sich Cassirer überzeugt, im Allgemeinen (Typischen) der systematischen biologischen Naturformen »reine Strukturverhältnisse«, die die einzelnen Organe (Funktionen), welche selbst wieder Systeme bilden, einordnend

E. Cassirer, »Zweites Kapitel: Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 93. 214 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 63. 215 Ebd., 80. 216 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 118. 217 Ebd., 150. 218 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 141. 219 Ebd., 131. 220 Ebd., 244. 213

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bestimmen.221 Der hier gebrauchte Typen- und Formbegriff meint ein strukturelles Sein, kein kausales Werden wie die Entwicklungstheorie.222 Cassirer scheint die Deutungen der Struktur der Arten bzw. Gattungen der Lebewesen als deren Bauplan bzw. Lebensfunktionen (Uexküll) zu teilen. 223 Damit ist das, »was wir ›Leben‹ nennen, […] ein in hierarchischer Ordnung gegliedertes System.«224 Wie ein Vorgriff auf die Gruppen- und Transformationstheorie bei LéviStrauss klingt es, wenn Cassirer, der sich seit Mitte der 30er Jahre mit dem Gruppenbegriff der zeitgenössischen Mathematik beschäftigt,225 mit Bezugnahme auf Felix Klein im Manuskript des vierten Bandes des Erkenntnisproblems Mitte der 30er Jahre feststellt, daß alle nicht-euklidischen Geometrien, als Systeme, theoretisch gleichberechtigt seien, weil »sie […] sich lediglich in Bezug auf das System [d. h. auf die Gruppe – C.M.] von Transformationen [unterscheiden – C.M.], das sie zugrunde legen und im Hinblick auf welches sie die Gesamtheit von invarianten Eigenschaften feststellen.«226

Daraus zieht er u. a. den Schluß, das ersichtlich sei, »daß das Denken […] nicht von vornherein an ein einziges festes System gebunden ist, sondern es dieses System wählen und frei variieren kann«.227 In der mathematischen Gruppentheorie gilt die Gruppe der Transformationen als »Bezugssystem«, das gewechselt werden kann, 228 wobei »der Begriff der Transformationsgruppe« u. a. die »Systematik« des geometrischen Raumes als eines Ebd., 151. Ebd., 153. 223 Ebd., 231 f. 224 Ebd., 250. 225 E. Cassirer, »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie« (1937), in: ECN 8: Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften 1907– 1945, Hrsg. von Jörg Fingerhut, Gerald Hartung und Rüdiger Kramme †, Hamburg 2010, 137–182; ders., »The Concept of Group« (1945), in: ebd., 183–203. 226 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 36. Der »Euklidischen Geometrie« liege eine bestimmte »›Hauptgruppe‹ von Transformationen […] zu Grunde […], [die es] uns [erlaubt] eine bestimmte Zahl von ›Eigenschaften‹ herauszusondern, die sich ihr gegenüber invariant verhalten.« – E. Cassirer, »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie« (1937), in: ECN 8: Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften 1907–1945, a. a. O., 172. 227 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 36. 228 E. Cassirer, »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie« (1937), in: ECN 8: Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften 1907– 1945, a. a. O., 142 f. 221

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Ganzen deutlich zum Ausdruck bringe.229 Auf das insbesondere von Klein thematisierte Problem der Transformation von »Koordinatensystemen«, bei der bestimmte »geometrische Eigenschaften« einer »Gruppe bestimmter Koordinatentransformationen« invariant sind,230 kommt Cassirer auch an anderer Stelle zu sprechen.231 Außerdem bilden die in der Gruppentheorie zentralen »Begriffe der ›Invarianz‹ und der ›Transformation‹« ebenfalls »zwei Grundbegriffe« der Wahrnehmungspsychologie, 232 korreliert doch dem notwendigen Systemcharakter der Wahrnehmung, die sich eben »nicht in ein bloßes Mosaik, in ein Aggregat einzelner ›Empfindungen‹ auflösen« läßt, 233 eine »Wahrnehmungskonstanz«.234 Diese Invarianz, Identität erlaubt es, in der »Wahrnehmung […] nicht bloß Elemente auszusondern, sondern ›Strukturen‹ festzuhalten.«235 Mit anderen Worten, in der Gruppentheorie findet Cassirer nicht nur den Begriff System an prominenter Stelle plaziert, sondern auch den der Struktur.236 In den Texten der englischen und schwedischen Emigrationszeit (1933– 1941), wird der Strukturbegriff, wie bereits vorher, erneut auf diverse Ausdrucksformen des menschlichen Geistes bezogen. So besitze wissenschaftliches und philosophisches Wissen bzw. Theorie »eine feste logische Struktur«, 237 weshalb auch jeder wissenschaft liche »Einzelgegenstand« durch die »Feinheit seiner Struktur« charakterisiert ist.238 Philosophische Konzepte wie die Platonische Ideenlehre verfügen über eine bestimmte »Struktur«, 239 ebenso eine jegliche »Ideenwelt«. 240 Wir kennen nicht

Ebd., 145. E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 26 f. 231 Ebd., 126 f. 232 E. Cassirer, »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie« (1937), in: ECN 8: Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften 1907– 1945, a. a. O., 148. 233 Ebd., 145 f. 234 Ebd., 146, 159, 161. 235 Ebd., 167. 236 Das gilt auch für die Wahrnehmungspsychologie, in der verschiedene Perspektiven (›Beleuchtungsperspektive‹, ›Raumperspektive‹) die Rolle der Gruppen spielen, wobei hinsichtlich der Perspektive eine gewisse »Freiheit der Wahl« bestehe, die letztlich die »Wahrnehmungsstruktur« bedingt. – Ebd., 153 f. 237 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 8. Auch der Darwinismus als eine bestimmte wissenschaft liche Theorie besitzt eine »allgemeinste logische Struktur« (ebd., 192). 238 Ebd., 18. 239 Ebd., 13. 240 Die »Ideenwelt« der Metaphysik sei charakterisiert durch »ihre Vielgestaltigkeit, 229

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eine einzig mögliche Struktur des Denkens, vielmehr hängt sie im Konkreten von der jeweiligen ›Richtung‹ des Denkens ab, zeichnet das »metaphysische und [das] mathematische Denken« doch je eine »besondere Struktur« aus.241 Jegliches wissenschaft liches Denken besitzt für Cassirer offenbar auch eine eigene »logische Struktur«, die mit seiner modalen Struktur, z. B. mit der des physikalischen oder »mathematischen Denkens«, nicht identisch zu sein scheint.242 Dem scheint die Aussage nicht zu wiedersprechen, daß uns z. B. »die Mathematik über […] die logische Struktur des Raumes [be-] lehrt«.243 »Logik und Mathematik« weisen, als zwei u nt e r s c h i e d l i c h e Weisen der Begriffsbildung, jeweils »eine spezifisch-verschiedene Erkenntnisstruktur auf[…]«, d. h., einen »Unterschied der Erkenntnisstruktur«.244 Das »Erkenntnisproblem« habe in Wissenschaft und Philosophie im Laufe der Jahrhunderte eine immer »komplexere Struktur« gewonnen.245 Neben dem Denken erweisen sich aber auch das Vorstellen und die Phantasie als strukturiert, 246 und schließlich die Wirklichkeit selbst. 247 Es gibt für Cassirer nur eine »strukturierte ›Welt‹«.248 Dabei sei aber die Struktur der Zeichen, d. h. der »physikalischen Begriffe« einer die Wirklichkeit erklärenden Theorie, eine »ganz andere« als die Struktur dessen, was sie bezeichnen, denn das »Bezeichnete« – die physikalische Realität – gehöre »einer ganz anderen Welt an«.249 Wenn die Rede davon ist, daß die »Struktur und [die] Gliederung« der »Dingwelt« durchsichtig gemacht werden

[…] ihre logische Struktur und […] ihre logische Differenzierung«. – E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 22. 241 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 17. 242 Ebd., 20, 82. 243 Ebd., 37. 244 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 37. »Mathematisches und syllogistischen Denken […] [fallen – C.M.] ihrer Struktur nach nicht zusammen[…]« (Ebd., 34, 44), wohl aber weisen »arithmetische und geometrische Aussagen […] eine analoge Struktur« auf (Ebd., 55). 245 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 21. 246 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 386. 247 Ebd., 447. 248 E. Cassirer, »Zweites Kapitel: Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 108. 249 E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O., 132 f.

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sollen, 250 dann scheinen ›Struktur‹ und ›Gliederung‹ eines Gegenstandes der Erkenntnis für Cassirer nicht ein und dasselbe zu sein. Insbesondere im Erkenntnisproblem IV nimmt der Strukturbegriff der Biologie noch einmal großen Raum ein; er wird mit dem Systembegriff und dem des Organismus verbunden. Obwohl die »Struktur« der Organismen, im Vergleich mit den anorganischen Naturobjekten, eine »eigentümliche und spezifische Bestimmtheit« besitzt, treten wir zur Erklärung dieser Struktur insofern nicht »aus dem allgemeinen Kreise der Kausalität« heraus, 251 als wir uns ohne Annahmen »über die metaphysische Struktur des Seins« behelfen müssen. 252 Bekanntlich übernimmt Cassirer für die Aufk lärung der »anatomischen Struktur eines Lebewesens« den Uexküllschen Begriff des ›Bauplanes‹, dem bestimmte Funktionen bzw. Leistungen zugeordnet werden, 253 – »Funktionskreise«.254 Von seiner biologischen »Struktur«, seinem funktionalen ›Bauplan‹ her lasse sich das Eigentümliche des Menschen gegenüber dem Tier aber nicht erklären.255 Vielmehr sei beim Übergang von den »organischen Formen« zu den »Kulturformen« eine »funktionelle Differenz«, ein »eigentümlicher Funktionswandel« aller Bestimmungen zu beobachten.256 Einem Begriff, so z. B. einem mathematischen, liegen gemäß Cassirer grundsätzlich bestimmte »Strukturprinzipien« zu Grunde, 257 d. h., die »bestimmte Struktur [eines Begriffs – C.M.] ist durch das Bildungsgesetz dieses [Begriffs – C.M.] gegeben«.258 Die Subsysteme eines Systems (»Gesamtsystems«) besitzen je eigene »Struktur-Eigenschaften«, in ihnen gilt ein je anderer »›Ordnungstypus‹«, wodurch sich »verschiedene Strukturgesetze […] scharf gegenüber [treten]«.259 Mit anderen Worten, mit den Subsystemen eines Systems stehen sich verschiedene Bildungsgesetze gegenüber. Diese

250 251

E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 8. E. Cassirer, EP, Bd. IV: Von Hegels Tod bis in die Gegenwart, in: ECW 5, a. a. O.,

140 f. Ebd., 146. E. Cassirer, »Zweites Kapitel: Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« (1928), in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 41. 254 Ebd., 73. 255 Ebd., 41. 256 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 381. 257 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 77. 258 Ebd., 77. 259 Ebd., 78 Anm. A, 79. 252 253

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»bilden in dieser ihrer Verschiedenheit [allerdings – C.M.] kein blosses Aggregat, sondern [wiederum – C.M.] ein echtes System, sofern sie nicht nur nebeneinander oder nacheinander auftreten, sondern eine bestimmte Überund Unterordnung, eine Art ›Hierarchie‹ der Begriffe zeigen.«260

Da Cassirer seine Philosophie von Anfang an als eine Theorie der Begriffsund Klassenbildung verstanden hat, verwundert es nicht, daß er es 1937 als ein »universelles logisches Grundproblem« bezeichnet, eine Antwort auf die »Frage nach der Struktur des Begriffs selbst« zu suchen, was einschließe, die Frage »der ›Möglichkeit‹ dieser Struktur« zu klären.261 Erst darauf aufbauend könne nach einem »Einzelbegriff wie dem des Symbols« gefragt werden. Cassirer, der in der modernen Wissenschaft grundsätzlich Relationsbegriffe anstelle der alten Dingbegriffe vorzufinden meint, 262 weshalb er um eine »Auffassung von der Struktur und Bedeutung der reinen Relationsbegriffe« bemüht ist, deutet auch den Symbolbegriff, so wie er ihn verwendet, 263 als einen solchen.264 In seinem Entwurf einer Theorie der drei ›Basisphänomene‹ der die Wirklichkeit erschließenden Wahrnehmung kommt er zu der Überzeugung, daß sich in den drei »Typen der Metaphysik, wie sie tatsächlich in der Geschichte [der Philosophie – C.M.] hervorgegangen sind«, drei unterschiedliche Darstellungen der »Strukturverhältnisse« der Wirklichkeitserkenntnis finden, denen er auch nachgeht. 265 Interessant ist dabei die kritische Würdigung Diltheys, für den die gesellschaftliche und geschichtliche »Welt des Menschen« »ihre [eigenen – C.M.] Strukturbedingungen« hat, die gemäß einer »Struktur des Erlebens«, das ein »Verstehen« ermöglicht, freizulegen sind.266 Neben der Analyse der ›Struktur des Erlebens‹ vollzieht Dilthey ebenso »die Strukturanalyse des Werkes, des Geschaffenen«, klärt

Ebd., 79. E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1937), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 112. 262 »Das Feld ist kein Dingbegriff, sondern ein Relationsbegriff; es setzt sich nicht aus Stücken zusammen, sondern ist ein System, ein Inbegriff von Kraft linien«. (E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften [1942], in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften [1941–1946], a. a. O., 451) 263 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564. 264 E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1937), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 129. 265 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 152. 266 Ebd., 159. 260 261

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er die »(teleologischen) Struktur-Bedingungen des Geschaffenen« auf, 267 um das Schaffen und seine Struktur selbst verstehen zu können. Dieses methodische Verfahren wird von Cassirer grundsätzlich geteilt,268 so daß er es in den fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) selbst praktiziert.269 Wenn für Dilthey die verschiedenen Typen von kulturellen Werken je eine »eigene Struktur« haben270 und dabei außerdem von »allgemeinen Strukturgesetzen« getragen werden, 271 dann tun sich hier durchaus Parallelen zur ›Philosophie der symbolischen Formen‹ auf. Deren »Problemstellung« besteht für Cassirer darin, ebenfalls, aber auf ihre eigene Weise, »nach der ›Struktur‹ der Werke zu fragen«. 272 Auch wenn er diese Gemeinsamkeit mit Dilthey nicht recht anerkennen mag, wird diesem zumindest hier mit Blick auf das philosophische Verfahren von Strukturanalysen kultureller Phänomene ein sehr prominenter Platz eingeräumt. Auch stützten sich drei Typen von methodisch divergierenden Erkenntnistheorien jeweils auf eines der drei Basisphänomene, was es ihnen ermögliche, innerhalb der »als Ganzes« erschlossenen Welt »verschiedene Strukturen zu unterscheiden«.273 Dabei setzt jede der drei »Art[en] der Erkenntnis« ihr eigenes »Bezugssystem« voraus. 274 Diese Einsichten in die sich dem Wissenschaft ler und Philosophen immer wieder aufdrängenden Strukturprobleme nutzt Cassirer zu eigenen wissenschaft smethodischen Überlegungen. So trete uns mit dem »bestimmten einheitlichen StrukturEbd., 160 f. E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 170. 269 Cassirer präsentiert hier sein Konzept, auf Grund welcher Voraussetzungen und mit Hilfe welcher Methoden »die Struktur und Eigenart« der kulturellen Werke des Menschen »wahrhaft [zu] begreifen« sind, wobei die »Werke der menschlichen Kultur« auf den Sinngebieten Mythos, Sprache, Religion oder Dichtung eine je eigene »innere Struktur« besitzen, deren Schöpfer letztlich der Mensch sei, weshalb sie »dem menschlichen Geist zugänglich« ist. – E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 365 f. 270 »Das Kunst-Werk z. B. hat seine eigene Struktur, die sich objektiv einsehen, die sich z. B. von der Struktur eines Werkes der Philosophie, der Wissenschaft deutlich abheben lässt[.]« – E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a. a. O., 161. 271 Ebd., 161. 272 Ebd., 163. Die Philosophie habe »von dem Inbegriff und von der Struktur d[…]er Gebilde [Kunst, Mythos, theoretische Erkenntnis – C.M.] auszugehen, und sie nicht sowohl in ihrem Werden als vielmehr in ihrem reinen Bestand zu ergreifen«. (E. Cassirer, »Zweites Kapitel: Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie« [1928], in: ebd., 36). 273 E. Cassirer, »Über Basisphänomene«, in: ebd., 167. 274 Ebd., 172, 181. 267

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prinzip«, das uns überall »an einem Mannigfaltigen und Verschiedenen« sichtbar wird, »die Idee einer durchgreifenden Ordnung« entgegen. Das Walten des »Strukturgesetzes« müsse als »der allgemeine Ausdruck für das, was wir im weitesten Sinne mit dem Namen der ›Objektivität‹ bezeichnen«,275 verstanden werden. Eine solche »Strukturanalyse« komme s o w o h l in den »Naturwissenschaften« als auch in den »›Kulturwissenschaften‹« zur Anwendung.276 Im »System der ›symbolischen Formen‹«, das ein »System der Mittelglieder« bildet, die als Subsysteme durch die Symbole der Wortsprache, die Gestalten des Mythos, der Religion, der Kunst repräsentiert werden und in denen »ein und dieselbe Grundfunktion, die Funktion des Symbolischen als solche«, auf verschiedene Weise »neue Gebilde« schafft , macht die »Wissenschaft […] nur e i n Glied und e i n Teilmoment«, wenn auch den »Schlußstein«, aus.277 Um die »verschiedenen Begriffstypen« in Natur- und Kulturwissenschaft aufzuklären, müsse »von der [jeweiligen – C.M.] Begriffsstruktur auf die [entsprechende – C.M.] Wahrnehmungsstruktur zurück[gegangen]« werden.278 Die spezifischen »Formbegriffe« der Kulturwissenschaften erfassen »Strukturprobleme«, z. B. »reine Strukturprobleme der Sprache, die von historischen Problemen deutlich unterschieden sind.«279 Die »Strukturbegriffe« der Kulturwissenschaften gehören für Cassirer alle »zur selben logischen ›Familie‹«, obwohl jede einzelne Kulturwissenschaft ihre »bestimmten Form- und Stilbegriffe« ausbildet, 280 was letztlich aber »unwillkürlich auf ganz universelle Probleme der ›Formwissenschaft‹« führe. 281 Die Kulturbegriffe besitzen gegenüber den historischen Begriffen und den Wertbegriffen eine eigenständige »logische Struktur«.282 Ihr ›Geheimnis‹ sieht Cassirer in der Art und Weise, wie »sie die Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine vollziehen.«283 Er glaubt, es in »jener Differenz, die uns früher in der Wahrnehmungsstruktur entgegentrat«, aufgedeckt zu haben, in jenen »zwei Grundformen des Erlebens«, 284 die auf den »Form-

E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 369. 276 Ebd., 372. 277 Ebd., 374, 26, 383. 278 Ebd., 414. 279 Ebd., 416. Den Sprachwissenschaft ler interessiert »eine Sprache ihrer Struktur nach«, das »Wissen um die Sprachstruktur«. – Ebd., 416. 280 Ebd., 416, 417, 420. 281 Ebd., 419 f. 282 Ebd., 422. 283 Ebd., 427. 284 Ebd., 431. 275

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begriff und [auf] den Kausalbegriff« führen, welche »die beiden Pole [bilden – C.M.], um die sich unser Weltbegreifen bewegt.«285 Deshalb trete in den Kulturwissenschaften »dem Kausalbegriff […] als leitendes Prinzip [der Strukturbegriff – C.M.] gegenüber«, ohne aber den Kausalbegriff gänzlich abzulösen.286 Andererseits habe der »Ganzheitsbegriff und der Strukturbegriff« inzwischen »auch in Physik, Biologie und Psychologie« Anerkennung gefunden, so daß zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft »eine trennende Schranke beseitigt« worden sei:287 »Form-Analysen und kausale Analysen erscheinen nunmehr als zwei Richtungen, die einander […] ergänzen, und die sich in allem Wissen miteinander verbinden müssen.«288 Beide Weisen der Analyse dürfen nicht verwechselt, »die eine nicht auf die andere zurückgeführt« werden.289 Diese Einsichten formuliert Cassirer bereits am Ende der Schwedischen Periode, d. h., vor seiner intensiven Beschäftigung mit der strukturalistischen Linguistik. In dieser Periode der Emigration in Europa (1933–1941) fi nden sich bei Cassirer immer wieder die bereits erwähnten und an Lévi-Strauss erinnernden Aussagen, die sich gegen Lévy-Bruhls Behauptung eines ›vorlogischen‹ Denkens bei den ›Primitiven‹, also den Menschen in totemistischen Gesellschaften wenden, und dies mit Bezug auf deren und unsere ›Denkstruktur‹. Es müsse nämlich sowohl in der »Denkstruktur« als auch in der »Erfahrungsstruktur« des ›Primitiven‹ und des ›Kulturmenschen‹ »etwas Gemeinsames« geben, folglich auch in der »theoretischen und mythischen Logik«. 290 Und dies, obwohl sich empirische Wahrnehmungswelt (Kulturmensch) und Welt der Ausdruckswahrnehmung (Primitiver) »in ihrer Struktur« durchaus unterscheiden, ungeachtet dessen, daß der Mensch in beiden ›Welten‹ gegenständlich orientiert ist, d. h. aus dem Fließen und Verändern Konstantes heraushebt, denn dies vollzieht er eben nach völlig unterschiedlichen Gesichtspunkten.291 Für Cassirer ist weder eine »strukturlose« Ausdruckswahrnehmung noch eine »strukturlose« empirische Wahrnehmung denkbar. 292 Dabei Ebd., 446. Ebd., 455. 287 Ebd., 455. 288 Ebd., 455. »In aller Betrachtung von Kulturgebilden steht die Werdens-Analyse […] der Werk-Analyse und der Form-Analyse gegenüber. Die Werk-Analyse bildet die eigentliche tragende Grundschicht.« (Ebd., 456) 289 Ebd., 459. 290 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 89 Anm. A. 291 Ebd., 93. 292 Ebd, 105. 285

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hängen auch die Konstanten und Invarianten, die der Strukturierung von Wahrnehmung dienen, vom ›gewählten‹ »Bezugssystem« ab, das wechseln kann.293 Für jede Weise oder Richtung der (Welt-)Erkenntnis tritt uns das Prinzip des »Invarianzgedankens« folglich in »einer anderen Prägung« entgegen.294 Mit anderen Worten, die »eigentümliche logische Struktur« der Wahrnehmungsbegriffe besteht für Cassirer darin, daß ihre sinngebende Formbestimmtheit variabel ist, 295 abhängig von der jeweiligen Intention des Wahrnehmenden. Ohne Rückgriff auf die »Ausdruckswahrnehmung«, die, wie bereits betont, keineswegs jeglicher »Struktur«, jeglichen Bildungsgesetzes entbehrt, lassen sich nach Cassirer »die Strukturen der ›Kulturwelt‹ [nicht – C.M.] durchsichtig machen«. 296 Dafür sei auch, »im Ganzen der Logik und Wissenschaftstheorie«, unbedingt die Frage nach der »Struktur der Kulturwissenschaften« und nach der »Besonderheit ihrer Grundbegriffe« zu beantworten.297 Cassirer ist schließlich davon überzeugt, daß »eine individuelle Schöpfung« auf dem Gebiet der Kultur (Kunst) nicht ohne die »Erkenntnis allgemeiner Formstrukturen« zu erfassen und zu verstehen ist, dabei dürfe das Allgemeine »nicht bloß als ein System von einander überund untergeordneten Gattungsbegriffen« genommen werden, sondern in »seiner konkreten Gestaltung«, als ein »Inbegriff von ›Formen‹«.298

D. System und Struktur beim späten, ›strukturalistisch‹ informierten Cassirer (1941–1945) Nach der persönlichen Bekanntschaft mit Jakobson und dessen Unterrichtung über den methodischen Strukturalismus in der modernen Sprachwissenschaft bemüht sich Cassirer um eine zielgerichtete Rezeption des linguistischen Strukturalismus und stellt zunehmend bestimmte gemeinsame Traditionslinien und Ansätze zwischen dieser Richtung in der Linguistik und der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ heraus. 299 Unabhängig Ebd., 116. Ebd., 119. 295 E. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1937), in: ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), a. a. O., 121. 296 E. Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, a. a. O., 151. 297 Ebd., 151. 298 Ebd., 174. 299 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Mythisch-magisches Denken als Kulturform und Symbolisierungsleistung. Eine vergleichbare Fragestellung bei Cassirer 293

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davon kommt den Begriffen System und Struktur auch in den Ausarbeitungen während der letzten Lebensjahre im nordamerikanischen Exil (1941–1945) eine zentrale Bedeutung zu. Und dies umso mehr, als er sich und seine wissenschaftsphilosophischen Überlegungen bzw. Voraussagen durch die Hinwendung in der modernen Linguistik zum Strukturbegriff, zu den Strukturproblemen und zur Strukturanalyse aufs ausdrücklichste bestätig sieht.300 Cassirer knüpft im amerikanischen Exil gezielt an die Bemühungen der schwedischen Jahre (1935–1941) an, nach Eigenheiten kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung im Unterschied zur mathematischen, naturwissenschaftlichen und historischen Begriffs- und Klassenbildung zu suchen, wobei er diese in den konstitutiven Begriffen Symbol, Form, Struktur und Stil zu finden meint. So bieten die Manuskripte der Yaler Vorlesung »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42) und der ersten Fassung des Werkes An Essay on Man (1943), das den Untertitel »A Philosophical Anthropology« trägt, ebenso wie die 1944 veröffentlichte endgültige Version mit dem Untertitel »An Introduction to a Philosophy of Human Culture« und das posthum erscheinende letzte große Werk The Myth of the State (1946) eine grundsätzliche Verwendung der Termini »System«, »systematisch« und »Struktur« bzw. »struktural«, wie wir dies bereits kennen. Konkret treffen wir auf die Rede von philosophischen und wissenschaft lichen Systemen301 ebenso wie auf das Hervorheben von systematischen Zusammenhängen und Verfahren.302 Er lenkt in seinen Texten die Aufmerksamkeit aber auch und Lévi-Strauss«, 607–630; »›Philosophie der symbolischen Strukturen‹. Zu einigen begriffl ichen Parallelen bei Cassirer und Lévi-Strauss«, 631–654. 300 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Cassirer und die strukturalistischen Linguisten. Am Beispiel der Begriffe System und Struktur«, 703–735. 301 So spricht Cassirer von »romantic idealistic systems« oder von »a […] system of various sciences« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hrsg. von G. Hartung und H. Kopp-Oberstebrink unter Mitwirkung von J. Faehnrich, Hamburg 2005, 192, 204), von einem »more complex system of algebraic symbolism« bei Felix Klein (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 627), von »Systemen« des Stoizismus (E. Cassirer, Der Mythos der Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens [engl. 1946], Frankfurt a. Main 1988, 134 [= ECW 25, 100]), der »mittelalterlichen Staatstheorie« (ebd., 141 [= ECW 25, 107]), »System[en]« der »mittelalterlichen Philosophie« (ebd., 149 [= ECW 25, 108]), vom »kosmologischen System« des Aristoteles (ebd., 175 [= ECW 25, 134]), den »Systemen« Macchiavellis (ebd., 182 [= ECW 25, 140]), der romantischen Philosophie (ebd., 239 [= ECW 25, 182]), Schellings (ebd., 240 [= ECW 25, 182]), Hegels (ebd., 241, 322, 323, 325, 328, 348, 349, 357 [= ECW 25, 182, 245 ff., 250, 257 ff.]), Kants (ebd., 343 [= ECW 25, 257]), Bodins und Hobbes‘ (ebd., 227 [= ECW 25, 172]), etc. 302 Wir fi nden Formulierungen vor wie »a systematical description of all the phone-

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auf Begriffs-, Zeichen- oder Symbolsysteme,303 die objektive Bedeutungen repräsentieren bzw. ausdrücken.304 In den Manuskripten bzw. Veröffentlichungen der letzten Lebensjahre wird der Systembegriff ebenso auf das kulturelle bzw. gesellschaftliche Leben305 wie auch auf das biologische Leben mas« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 204), « a real systematic unity between all the activities of the human mind« (ebd., 211), »a general systematic plan« (ebd., 214 f.), »the systematic order« des empirischen Materials (ebd., 236, 266), »a systematic interpretation of [facts – C.M.]« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 396), »a systematic thinker« (ebd., 591) oder »a systematic order« (ebd., 619, 623). Wir lesen von »einer logischen und systematischen […] Ordnung [der Sprache – C.M.]« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser [engl. 1944], Frankfurt a. Main 1990, 199 [= ECW 23, a. a. O., 139]), vom »Systematisieren« der Gedanken (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 103 [= ECW 25, 76]), von einem »systematischen Zerstörungswerk« (ebd., 318 [= ECW 25, 240]). Cassirer ist sicher, daß das »relationale Denkens oder Beziehungsdenkens vom symbolischen Denken [abhängt – C.M.]. Ohne ein komplexes Symbolsystem kann relationales Denken gar nicht entstehen« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944] a. a. O., 66 [= ECW 23, 43]). 303 So verweist Cassirer auf »the most powerfull system of symbols« in der modernen Mathematik (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 247), auf »a system of concepts« (ebd., 269), auf »a system of symbols« (ebd., 269) bzw. »a system of signs and symbols« (ebd., 286, 340) und auf das tierische »system of signals« (ebd., 341), und schließlich auf »a coherent system of signs« in der Mathematik (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 419). Ein »›Symbolnetz‹ oder Symbolsystem« ergänze Uexkülls »Merknetz« und »Wirknetz« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 49 [= ECW 23, 29]), er führt aus, daß die menschliche Sprache »ein Symbolsystem« ist (ebd., 68 f. [= ECW 23, 45]), daß die Babylonier bereits ein »abstraktes Symbolsystem« kannten (ebd., 80 [= ECW 23, 53f]), was »ein System wohlgeordneter Symbole« darstellt (ebd., 329 [= ECW 23, 233]). 304 Im System sei »ein Symbol […] Teil der menschlichen Bedeutungswelt« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 58 [= ECW 23, 37]), indem das Symbol etwas in objektiver allgemeiner Bedeutung ausdrückt (ebd., 61 f. [= ECW 23, 37 f.]). 305 Es ist die Rede von einem »whole system of our cultural life« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 256) bzw. davon, daß »the world of human culture is […] a system, […] an organic whole.« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 630). Cassirer beschreibt die Welt des Mythos als eine, bei der alles Teil hat an einem »großen System des Lebens«. (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 55 [= ECW 25, 41]), untersucht »das mittelalterliche System« der Kultur (ebd., 110 [= ECW 25, 81]) ebenso wie das « Tabu-System« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 163 [= ECW 23, 113, 117]), dessen Leistung und Grenzen er wie folgt würdigt: »Trotz seiner offenkundigen Mängel war das Tabu-System das einzige System sozialer Einschränkung und Verpfl ichtung, das der Mensch entdeckt hatte. […] Das Tabu-System droht das Leben des Men-

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bezogen.306 Der biologische Terminus des ›organischen Ganzen‹ bzw. des ›strukturalen Ganzen‹ seinerseits wird generell auf die Begrifflichkeit der Systeme bzw. systematischen Zusammenhänge ausgedehnt.307 Auch der Begriff der Struktur wird erneut auf wissenschaft lich erfaßte kulturelle Phänomene und Schöpfungen wie Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft angewandt, wobei sich Cassirer oft auf konkrete Theorien bestimmter Autoren bezieht.308 Der Strukturbegriff wird aber auch – wie gehabt – auf menschliche Fähigkeiten wie den Verstand bzw. Geist, 309 den Menschen selbst, 309a sein Erkenntnisvermöschen zu einer Bürde zu machen, die am Ende unerträglich wird.« (ebd., 169 [= ECW 23, 117]). Cassirer sucht nach den Grundlagen der »modernen totalitären Systeme« (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 360 [= ECW 25, 272]) und erkennt, daß nach 1918 »das ganze soziale und ökonomische System Deutschlands von vollständigem Zusammenbruch bedroht« war (ebd., 361 [= ECW 25, 273]). Das Feudalsystem ist für ihn »das genaue Bild und Gegenbild des allgemeinen hierarchischen System; es ist Ausdruck und Symbol jener universalen kosmischen Ordnung, die […] ewig und unveränderlich ist« (ebd., 175 [= ECW 25, 134]), dieses »hierarchische System« bildete »die ganze Basis des mittelalterlichen politischen Systems« (ebd., 179 [= ECW 25, 134]). 306 In der Welt des Tieres fi nden wir z. B. »the nervous system« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 255) oder das »system of responses« vor (ebd., 256). 307 E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 445. 308 So handle O. Jesperson von »the total structure of the languages« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ebd., 203), nach Meillet besitzen die Sprachen »a grammatical structure« (ebd., 207), Boas thematisiere »an […] variety of structure« of Indian languages (ebd., 207), die Welt der Sprache »has a structure of its own and […] follows defi nite […] rules« (ebd., 320). Die Wissenschaften haben in ihren Theorien jeweils »a clear and defi nite structural law« aufzuweisen (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), in: ebd., 620). 309 Cassirer thematisiert »the structure of objective mind« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 210), »the […] structure [of] our own human experience« (ebd., 313) ebenso wie »the whole structure of our ›symbolic consciousness‹« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 469). Erneut besteht er darauf, daß das primitive Denkens eine »Struktur« besitzt, die »uns fremdartig und paradox erscheinen« mag, die aber dennoch « einen bestimmten logischen Aufbau« besitzt (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 23 [= ECW 25, 17]). 309a Philosophie und Wissenschaften (Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie) arbeiteten alle an einem neuen Bild »of the structure of man« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 236), es gelte »the structure of our human life« aufzuklären (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 471), d. h. »die Struktur des menschlichen Lebens« (E. Cassirer, Versuch

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V. System, Struktur und Symbol

gen 310 und sein Handeln bezogen.311 Strukturen finden sich laut Cassirer auch in biologischen 312 und in gesellschaft lichen Zusammenhängen, 313 ebenso in der Welt der Kultur314 und in der Welt im Ganzen (Kosmos).315

über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 88 [= ECW 23, 59]), und auch die »Struktur der moralischen Welt« (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 151 [= ECW 25, 115]) sind grundsätzlich zukunftsgerichtet. (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 88 [= ECW 23, 59].). 310 Die »organized and articulated experience« des Menschen besitze »a defi nite structure« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 614). Auch in der vorwissenschaft lichen Welt ist die Erfahrung »bereits geordnet und gegliedert und bes[itzt] eine feste Struktur. (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 316 f. [= ECW 23, 224]). 311 Cassirer fi ndet im »field of action« eine bestimmte »structure« vor (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 462), »a stable structure of lexical and grammatical habits« (ebd., 478). 312 Diese betreffen u. a. »the anatomical structure of man« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ebd., 252), eine »modification of structure« (Darwin) (ebd., 258), die »structure [of a species – C.M.], in its anatomical, physiological, biological aspect« (ebd., 259), die »bodily structure and [the] bodily qualities« of an animal (Weismann) (ebd., 294), »the modification of structure« of the species (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 381). Cassirer ist sich zudem im Klaren, daß die »generelle Struktur des tierischen Lebens« durch das »biologische Gesetz bestimmt« wird (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 339 [= ECW 23, 240]). 313 Cassirer erwähnt z. B. »›the social structure of Roman life‹« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 521), untersucht die »Struktur des neuen [bürgerlichen – C.M.] Staates« (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 179 [= ECW 25, 135]). 314 Cassirer vermutet »a defi nite and undeniable teleological structure« of the »cultural world« ( E. Cassirer, An Essay on Man [1944], in: ECW 23, 25), welche eine »theory of culture« aufzuklären hat (ebd., 25), und weiß bereits, daß es sich um eine »architektonische Struktur« handelt (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 63 [= ECW 23, 41]). 315 Die Welt als Ganzes besitzt für ihn eine erkennbare »structure« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 409), in ihr haben wir »the atomistic structure of matter« vor uns (ebd., 426), wir suchen nach »the whole structure of our material universe« (ebd., 542, 545), nach »the fundamental structure of the cosmical order« (ebd., 618). Auf allen Stufen der Kultur gebe es »denselben Wunsch der menschlichen Natur, […] in einem geordneten Universum zu leben und den chaotischen Zustand zu überwinden, in dem die Dinge und Gedanken noch keine bestimmte Gestalt und Struktur angenommen haben.« (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 24 [= ECW 25, 18]).

System und Struktur

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Eine Klärung und Präzisierung erfährt der Strukturbegriff in all diesen Bezügen auch jetzt nicht, ganz wie auch der Systembegriff. Dabei scheinen die Aussagen über letzteren konkreter zu sein, werden doch zumindest die Beziehungen der Elemente innerhalb eines Systems immer wieder herausgestellt, und dies auf eine Weise, wie sie sowohl für sein Philosophieren von Anfang an (d. h. seit 1902) als auch für den Systembegriff der strukturalistischen Sprachwissenschaft seit de Saussure charakteristisch ist: das System gilt als Gegensatz zum Aggregat, die Elemente sind nichts (d. h. bedeutungslos) außerhalb des systematischen Ganzen, die Relationen im System setzen erst die Elemente (d. h. die Zeichen, Symbole) als solche, welche den Gesamtzusammenhang bzw. das Grundgesetz des Systems repräsentieren.316 Das System als Ganzes ist immer mehr als seine Teile bzw. seine Elemente besitzen ihre Bedeutung allein als Glieder des Systems.317 Ganz offensichtlich scheint der Systembegriff mit den verschiedensten wissenschaft lichen (und philosophischen) Forschungs-, Erkenntnis- und Darstellungsmethoden vereinbar zu sein, so wie sie selbst in den traditionellen Naturwissenschaften und der vorkritischen Philosophie zur Anwendung kommen, solange sie – die Methoden – nicht den Begriff des mechanischen Aggregates zugrunde legen. Allerding ist hier und da auch von der Annahme mechanischer Systeme in wissenschaft lichen und philosophischen Theorien die Rede. Das in Analogie (›als ob‹) zum lebendigen Organismus aufgefaßte System dürfte eine neue Stufe im Gebrauch des Begriffs ›System‹ ausmachen, auf der direkte oder indirekte Bezüge zu biologischen Fragestellungen methodisch dazugehören. Ähnliches gilt offenbar vom Strukturbegriff. Solange ›Struktur‹ als Strukturgesetz, Bildungsgesetz eines Systems aufgefaßt und genommen wird, ist der Begriff spätestens seit Leibniz in Philosophie »The different forms of human activities are no mere aggregate; they form a system. If we consider a single element of this system outside the relation it bears to the whole we are not really explaining this element, we are falsifying it. […] the phenomena of speech and language can, therefore, not be treated as separate or isolated phenomena. They must be investigated in constant connexion with the whole system of which they are not only single parts but in which they are […] embedded.« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 210). »In language man wins a system of signs and symbols by which he represents reality […]« (ebd., 286). 317 E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), in: ebd., 539, 541. Und im »Reich der Zahlen« »[ist] eine einzelne Zahl […] nur eine einzelne Stelle in einer allgemeinen systematischen Ordnung. Sie hat kein eigenes Dasein, keine eigenständige Realität. Ihre Bedeutung wird bestimmt durch die Position, die sie im System der Zahlen einnimmt.« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 322 [= ECW 23, 228]). 316

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V. System, Struktur und Symbol

und Naturwissenschaft präsent. Erst durch seine Verbindung mit dem Zeichencharakter der Systeme, denen er als Prinzip zugrunde liegt, wodurch ›Bestands-‹ und Bedeutungsprobleme im Gegensatz zu Tatsachen- und Kausalitätsproblemen aufgeworfen werden, scheint der Strukturbegriff als ›Strukturproblem‹ bzw. ›Strukturbetrachtung‹ eine neue Funktion vor allem in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und in den ›modernen‹ Kulturwissenschaften (Linguistik) zu erlangen. Beide Weisen der Welterklärung streben bekanntlich »a full insight into their [language, art, religion] structure« an.318 Diese neue Funktion macht sich aber auch in den modernen Naturwissenschaften bemerkbar, welche das Substanzdenken durch ein reines Funktionsdenken ersetzen. Damit erweist sich der Strukturbegriff nunmehr als untrennbar verbunden mit dem Symbolbegriff. Statt einer ›Logik‹ der Entstehungsprobleme (»genetic problems«) gelte es nun eine ›Logik‹ der Strukturprobleme (»structural problems«) methodisch zur Anwendung zu bringen,319 welche »an objective structural analysis of the fundamental forms of culture« erfodert.320 Dagegen ist von einer wie immer gearteten speziellen ›Systemanalyse‹ in seinen Schriften und Ausarbeitungen keine Rede, sondern ausschließlich vom systematischen Charakter der Theorien und Beziehungen innerhalb einer Ordnung. Was aber noch zu klären bleibt, ist der Zusammenhang von Struktur- und Formanalyse in Cassirers Werk, d. h. die Frage nach der – partiellen – Identität von Form und Struktur. Was versteht der späte Cassirer genau unter einer »strukturalen Analyse« bzw. unter »Strukturproblemen«? In der Vorlesung von 1941/42 scheint er dies mit einer auf die symbolischen Formen gerichteten Analyse zu verbinden. Bemerkenswert ist aus meiner Sicht, daß Cassirer dem logischen Positivisten Carnap zugesteht, in seiner Schrift Logische Syntax der Sprache (1934) eine »strukturale Analyse« hinsichtlich logischer Formen der Sprache anzuwenden.321 ›Strukturanalyse‹ scheint bei Cassirer gleichbedeutend mit ›Strukturbetrachtung‹ zu sein. Und diese wird indirekt durch ihre Gegenüberstellung mit der kausalen, historischen und genetischen Betrachtung definiert. ›Strukturale Probleme‹ werden ziemlich klar mit BeE. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 245. And »their structure« is »different« (ebd., 247). 319 E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), in: ebd., 245. 320 Ebd., 245; ders., »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), in: ebd., 400, 400 note 4, 400 ff., 541. 321 E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 198 [= ECW 23, 139]. 318

System und Struktur

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deutungsproblemen verbunden, d. h. mit symbol- und zeichentheoretischen Fragestellungen, weshalb auch Sprache als Zeichensystem im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Folglich stellt die Sprache als System322 – und Teil eines übergeordneten Systems – ein wichtiges Anwendungsgebiet der strukturalen Betrachtung dar, setzt ihre wissenschaft liche Aufk lärung doch das Verstehen ihrer Struktur[en] voraus.323 Gleichzeitig macht Cassirer in diesem Zusammenhang deutlich, daß komparativ vorgehende kulturwissenschaft liche Strukturbetrachtungen eng mit einem organischen bzw. ›organistischen‹ Systemdenken – im Gegensatz zu einem mechanistischen Aggregatdenken – verbunden sind, 324 ebenso, daß Systeme eine mehr oder weniger komplexe Struktur besitzen.325 Mit Blick auf die Geschichte bzw. Geschichtsauffassung als einer möglichen symbolischen Form der Kultur bringt er einmal den Gedanken zum Ausdrucke, daß diese als »ein System […] stets […] eine identische Struktur voraus[setzt]. Tatsächlich ist diese Strukturalität [des Geschichtlichen – C.M.] […] eine Identität der Form, nicht des Inhalts […]«.326 Kurz gesagt, Cassirer spricht von »the part-of-speech system« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 330, 331), von »a system of grammatical forms or rules« (ebd., 333), von »our own languages and their complicated syntactic and morphological system« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 434), vom »grammatical system« (ebd., 335). 323 Besitzen doch selbst »the so-colled ›primitive‹ languages […] a very complex structure« (E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« [1941/42], in: ebd., 326), die »the grammatical structure of these languages« einschließt (ebd., 326; ders., »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ebd., 434, 438, 615). Geradezu inflationär ist von der »Struktur« der Sprache bzw. der »Sprachstruktur« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 181, 189 [= ECW 23, 125, 130, 135, 138]), von »strukturellen Problemen« der Sprache (ebd., 185, 190 [= ECW 23, 131, 132, 133]), von »konstanten Strukturbeziehungen« der Sprache als System die Rede (ebd., 190 [= ECW 23, 133]). »Sprache zeigt uns immer eine festgefügte und durchgehende logische Struktur, sowohl in ihrem Laut- als auch in ihrem morphologischen System.« (E. Cassirer, Der Mythus des Staates [engl. 1946], a. a. O., 22 [= ECW 25, 17]). 324 Die Kulturwissenschaften wenden auf die Kulturformen »comparative studies« an, um in ihnen eigentümliche Prinzipien und Kategorien zu defi nieren, »by which they may bring the phenomena of religion, of art, of language into a systematic order.« (E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« [1943], in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 403 f.). 325 So besitze das »system of ›taboo‹« eine »a very complex structure« (ebd., 528, 529, 531, 532 f.); »A ›system‹ always presupposes […] an identical ›structure‹. As a matter of fact this structural identity [is] an identiy of form« (ebd., 573; ders., Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 163 [= ECW 23, 113]). 326 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 264 (= ECW 23, 186). 322

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V. System, Struktur und Symbol

dem holistisch gebrauchten Systembegriff wird ein Strukturprinzip bzw. Strukturgesetz zugeschrieben. Struktur scheint auch als ›innere Form‹ zu gelten.327 Schließlich spielt in den Arbeiten der letzten Jahre der philosophischanthropologisch relevante Gedanke eine große Rolle, daß »das menschliche Leben und die menschliche Kultur« gegenüber den tierischen »Lebensformen«, die die Biologie erforscht, eine eigene »bestimmte Struktur« hat, der eine Vielzahl von »Symbolsystemen« korrelieren, und daß eine »Theorie der Kultur […] diese Struktur aufzudecken [hat – C.M.]«328 , in erster Linie durch Strukturbetrachtungen. Systematische kulturelle Tätigkeit bzw. deren systematische Erkenntnis führen uns auf eine »Ordnung«, eine »Struktur«, eine »Architektonik« dieser Tätigkeiten bzw. symbolischen Systeme.329 Damit scheint der als Grundprinzip, innere Form, Bildungsgesetz eines organismus-analogen Systems aufgefaßte Strukturbegriff in der Tat aller biologischen und vitalbezogenen Bezüge enthoben und ausschließlich in die Sphäre der idealen Bedeutungen sprachlicher bzw. allgemein kultureller – auch bildhafter – Symbole erhoben zu sein.

D. h., »a characteristic structure« gilt als »an ›inner form‹« – E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 619. 328 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 43, 49 (= ECW 23, 25). Hinsichtlich der Sprache bzw. der symbolischen Sprachform und ihres Bedeutungsproblems z. B. versage eine biologische Erklärung (Tiersprache), da sie deren »Struktur« als propositionale Sprache nicht zu erklären vermag (ebd., 181 [= ECW 23, 125]). 329 Ebd., 237 f. (= ECW 23, 167). 327

Cassirer und die strukturalistischen Linguisten Am Beispiel der Begriffe System und Struktur1

I

m letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Beitrag »Structuralism in Modern Lingistics« (1945) stellt Cassirer selbst den Bezug seiner eigenen philosophischen Begrifflichkeit zur strukturalistischen Methode in der zeitgenössischen Linguistik her.2 Dieser Methode kommt bekanntlich in der Folge bei der Formierung der strukturalen Analyse durch Lévi-Strauss eine entscheidende Bedeutung zu. Im vorliegenden Beitrag wird, um die Rechtmäßigkeit der Bezugnahme Cassirers argumentativ überprüfen zu können, diese zunächst dargestellt. Anschließend wird der Versuch unternommen, die Bedeutung, mit der diese beiden für die strukturalistische Methode zentralen Begriffe von den modernen Linguisten de Saussure, Trubetzkoj und Jakobson verwendet werden,3 zu klären. Dabei ist en passant zu prüfen, inwieweit Cassirer und die strukturalistischen Linguisten diese Begriffe wirklich auf identische, oder zumindest vergleichbare, Weise verstehen und gebrauchen.

1. Würdigung der strukturalitischen Linguistik während der Yaler Zeit (1941–1945) Als Cassirer im Sommersemester 1922 seine Hamburger Vorlesung »Grundprobleme der Sprachphilosophie« hält, 4 die er ein Jahr später unter dem Titel Die Sprache als Ersten Teil der Philosophie der symbolischen Der Beitrag ist ein Resultat einer von der Fritz Thyssen Stift ung (Köln) geförderten einjährigen Recherche, die der Realisierung des Forschungsprojektes »Struktur – System – Symbol. Studie zum Verhältnis von Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und Claude Lévi-Strauss‘ ›Strukturaler Anthropologie‹« diente. Siehe dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag »System und Struktur. Eine Begriffsbeziehung bei Cassirer«, 655–702. 2 Zu den Umständen, unter denen Cassirer sein Interesse für die strukturalistische Linguistik entdeckt und entwickelt, siehe im vorliegenden Band den Beitrag »Mythischmagisches Denken als Kulturform und als Kulturleistung. Eine Fragestellung bei Cassirer und Lévi-Strauss«, 607–630. 3 Für die Recherche wurden u. a. folgende linguistische Schriften herangezogen, die Cassirer hätte zur Kenntnis nehmen können: Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (franz. 1916 / deutsch 1931); Nikolaj Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938 / deutsch 1957); Roman Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941). 4 E. Cassirer, »Grundprobleme der Sprachphilosophie« [Vorlesungsmitschrift] Willi 1

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V. System, Struktur und Symbol

Formen herausbringt und eine ›Phänomenologie der Sprache‹ nennt, hat er ganz offensichtlich noch keine Kenntnis von Ferdinand de Saussure und dessen postum veröffentlichten Vorlesungen Cours de linguistique générale. De Saussure hatte diese Vorlesungen zwischen 1906/07 und 1910/11 drei Mal in Genf gehalten, Vorlesungen, die, wie es später heißen wird, Grundzüge der strukturalistischen Methode und einer strukturalistischen Sprachauffassung vorbereiten. Einer Nähe zur strukturalen Methode in der Linguistik wird sich Cassirer erst gegen Ende seines Lebens bewußt, nachdem er 1941 auf der Überfahrt von England nach New York den russischen Sprachwissenschaftler Roman Jakobson persönlich kennengelernt und mit ihm stundenlange Gespräche über Fragen der zeitgenössischen Sprachwissenschaft und –philosophie geführt hat. Danach nimmt er, nun schon in New Haven (Connecticut), erstmals zielgerichtet Kenntnis von de Saussure und der strukturalistischen Linguistik. Ihre Vertreter wie Nikolaj Trubetzkoj, Viggo Brøndal und eben Jakobson, aber auch später der ›strukturale Anthropologe‹ (Ethnologe) LéviStrauss, berufen sich auf de Saussure und dessen Vorarbeit. Die von Trubetzkoj im Anschluß an de Saussure in den 30er Jahren entwickelte strukturale Methode der Sprachwissenschaft lasse sich, so Lévi-Strauss 1945 in einem berühmt gewordenen Beitrag, in vier Prinzipien zusammenfassen: 1. Der strukturale Linguist geht von der Analyse der bewußten Sprache r s c h e i n u n g e n zur »unbewußten I n f r a s t r u k t u r« der Sprache über; 2. er geht von den B e z i e h u n g e n zwischen den Ausdrücken aus, nicht von unabhängigen E nt i t ä t e n (= relationales Denken); 3. er »zeigt konkrete phonologische S y s t e m e und hebt ihre S t r u k t u r hervor«; 4. er zielt »auf die Entdeckung [a b s o l u t e r – C.M.] allgemeiner G e s e t z e«.5 Uns interessieren an diesen vier Prinzipien allerdings nur ihre allgemeine philosophische Bedeutung hinsichtlich des Gebrauchs der Begriffe System und Struktur. Wir verfolgen im vorliegenden Beitrag nicht die Absicht, eine Antwort auf die Frage zu geben, inwieweit sich diese vier Prinzipien bzw. die aus ihnen resultierende strukturale Methode mit Cassirers eigenen Sprachphilosophie vereinbaren bzw. in ihr ebenfalls finden lassen, was allerdings eine lohnenswerte Untersuchung darstellt. Vielmehr verfolgen wir allein das Ziel, zu zeigen, daß sich Cassirers allgemeine philosophische Positionen mit diesen Prinzipien vereinbaren lassen, wofür immer auch der Blick in den Meyne, Hamburg, Sommer-Semester 1922, in: ECN4: Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Hrsg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, 219–270. 5 C. Lévi-Strauss, »2. Kap. Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie« (1945), in: Strukturale Anthropologie I (franz. 1958), Frankfurt a. Main (1967) 1977, 45 f.

Cassirer und die strukturalistischen Linguisten

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voranstehenden Beitrag sinnvoll ist, ohne daß darauf im vorliegenden Beitrag jeweils extra hingewiesen wird. Beginnen wollen wir unsere Abhandlung über Cassirer und die strukturalistische Sprachwissenschaft zunächst mit der Darstellung seiner philosophischen Würdigung dieser zeitgenössischen Richtung in der Linguistik, wie er sie in den letzten Lebensjahren vornimmt. Wie bereits erwähnt, hinterlassen die stundenlangen Gespräche, die er und Jakobson im Frühjahr 1941 über die ›Philosophie der symbolischen Formen‹, Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft führen, 6 während dieser ihn mit der neueren strukturalistischen Sprachwissenschaft (Trubetzkoj, Brøndal, Jakobson) bekannt macht und ihn sicher auch auf das Werk de Saussures hinweist, beim Philosophen Wirkung. Dies belegen Cassirers zeitlich danach verfaßte einschlägige Arbeiten und Publikationen zu Problemen der Sprache, speziell die nachgelassene Yaler Vorlesung »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), Kapitel VII: Language, in dem er m.W. erstmals de Saussures Cours de linguistique générale (2ième edition, Paris 1922, p. 155) erwähnt und zitiert,7 ebenso das nachgelassene erste Manuskript von An Essay on Man, Book I, Chapter I: »Philosophy of symbolic forms – problem and method«, 8 in dem er das erste Mal ausdrücklich auf Jakobson und Brøndal verweist,9 oder dasselbe Manuskript Book II, Chapter II: »The critical solution« (1942/43).10 Diese TextpassaT. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer (1948), Hamburg 2003, 285 f. »Apart from language – says Ferdinand de Saussure in a very impressive and striking simile – our thought is only an amorphous and unorganized mass. […] Taken in itself thought is like a misty veil. There are no pre-established ideas and nothing is distinct before the appearance of language.« – E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, Hrsg. von G. Hartung und H. Kopp-Oberstebrink unter Mitwirkung von J. Faehnrich, Hamburg 2005, 304–345, hier: 325. Wenig später beruft er sich auf de Saussure, wenn er die induktive Methoden anwendende »onomatopoetic theory« diskutiert, die nach diesem nicht in der Lage sei, »some formal and morphological elements« der Sprache zu erklären; eine Kritik, die Cassirer teilt: »Cf. for instance Saussure, Cours de Linguistique générale, 2 édition, p. 102« – ebd., 337. 8 E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), Book I, in: ebd., 400 f. 9 »A very and interesting description of the development that from the positivism of the 19th century led to the modern ›structuralism‹ is given in an paper of Roman Jakobson, La Scuola Linguistica de Praga, La Cultura, Anno XII, 3, 633–641. See also Viggo Brøndal, Structure et Variabilité des systems morphologiques, Sciencia, Aout 1935, 109–119 – Ebd., 402. 10 Ebd., Book II, 421–452, hier: 437. In diesem Text zitiert Cassirer denselben Satz wie in der Vorlesung von 1941/42 (siehe vorstehende Anm. 7) und spricht mit Blick auf Otto Jesperson und Ferdinand Brunot von »some general structural laws of language« als einem Gesichtspunkt der »modern Linguistics« (ebd., 437). 6 7

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V. System, Struktur und Symbol

gen, wie auch entsprechende in der veröffentlichten Fassung des Werkes An Essay on Man (1944), Chapter: »Language«, und eben der letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Beitrag »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), der im Essay bereits formulierte Überlegungen noch einmal bündelt und auf den Punkt bringt, zeigen Cassirer nunmehr gut informiert über diese neueste Richtung in der Sprachwissenschaft. Außerdem enthalten sie auch eine tiefgründige und umfangreiche Darstellung der Grundannahmen der strukturalistischen Linguistik. Zudem lassen sich einige Aussagen auch so lesen, daß Cassirer hier eine philosophische Nähe zu dieser bzw. zu einer Reihe von Positionen der strukturalistischen Linguistik andeutet.11 Diese Nähe gilt nicht nur im Rückblick auf sein eigenes sprachphilosophisches Werk, das sich im Übrigen nicht auf den Band Die Sprache (PsF I, 1923) beschränkt, sondern auch in Hinblick auf seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ insgesamt.12 E i n e Cassirer wichtig erscheinende gemeinsame Überzeugung, die er bereits in seiner noch in Schweden entstandenen Schrift Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) zum Ausdruck gebracht hatte,13 ist die, daß »Modern Linguistics is concerned with structural problems that cannot be reduced to causal or historical problems.«14 Dieser These, oder besser Dies nicht zuletzt an Hand bestimmter Indizien, so wenn Cassirer im Zusammenhang mit »modern Linguistics« und deren »general structural laws of language« auf seinen eigenen Beitrag »The influence of language on the development of scientiefic thought« (1942) verweist. – Ebd., Book II, 437 Anm. 3. 12 »Poetry and painting, music, sculpture, architecture speak not only a special technical but also a special structural language.« – Ebd., Book IV, Chapter III: »Art«, 550. 13 »Hier handelt es sich um reine Strukturprobleme der Sprache, die von historischen Problemen deutlich unterschieden sind und die unabhängig von ihnen behandelt werden können und müssen. – E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2007, 416. 14 »And it is convinced that is only by a careful study of these problems that we can reach a scientific description and classification of the phenomena of speech.« – E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), Book I, in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 400 f. We i t e r e Gemeinsamkeiten mit den strukturalistischen Linguisten sind u. a. in der von Cassirer geforderten Ganzheitsbetrachtung, anstelle einer Segmentierung des Ganzen, zu sehen. Das wird u. a. deutlich, wenn mit Blick auf die strukturalistische Sprachwissenschaft die Rede davon ist, daß wir »our intuition [do not segregate] into singles elements. We regard them as an unbroken unity, as a structural whole.« (Ebd., Book II, 445), oder, daß »[a] work of art always is a structural whole.« (Ebd., Book IV, 570). Auch die Einsicht, daß bei der Sprachanalyse »das Problem der Bedeutung Vorrang [habe] vor dem Problem der historischen Entwicklung«, daß »die strukturelle Betrachtung« der Sprache als Bedeutungsanalyse der »historischen Betrachtung [der Sprache – C.M.] vorangehen« muß (E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine 11

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gesagt: Feststellung, werden wir im Weiteren noch genauer nachgehen. Wenn Cassirer nunmehr von »modern Linguistics« spricht, ist zwar in der Regel die strukturalistische Linguistik gemeint, jedoch nicht immer, so zählt der viel zitierte Otto Jespersen wohl nicht zu dieser Richtung, das gilt auch für Franz Bopp, den Cassirer ebenfalls zu den »pioneers of modern linguistics« zählt, allerdings im 19. Jahrhundert.15 Das in den bislang erwähnten Texten Cassirers zum Ausdruck kommende Gefühl eines ›déjà vu‹, wenn er sich mit der strukturalistischen Linguistik befaßt, hat natürlich seine Gründe nicht zuletzt darin, daß der der Marburger Schule des Neukantianismus entstammende Philosoph von Anfang an selbst mit den Begriffen System, Struktur und Sinn/Bedeutung operiert, worauf wir im vorstehenden Beitrag »System und Struktur« eingegangen sind. Festzuhalten ist an dieser Stelle noch einmal, daß Cassirer im Zusammenhang mit seinen umfangreichen Arbeiten zur Grundlegung einer Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft insbesondere den Formund den Strukturbegriff als deren Grundbegriffe heraushebt, die sich vom Kausal- und Gesetzesbegriff der Naturwissenschaft grundsätzlich unterschieden. Außerdem gehe, so seine Beobachtung, in der zeitgenössischen Wissenschaft generell eine Ablöse der Kausal- durch Form- und Strukturbegriffe vonstatten.16 Deshalb erstrebten die modernen Kulturwissenschaften u n d die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ »a full insight into their [d. h. der Sprache, der Kunst, der Religion – C.M.] structure«, wobei die eine Struktur sich von der anderen unterscheidet.17 Mit anderen Worten, die kulturwissenschaftliche Forschung könne in keinem Fall auf »an objective structural analysis of the fundamental forms of culture« verzichten.18 In diesem Sinne interpretiert er in der letzten, in der Yaler Periode seines Schaffens (1941–1945) die moderne strukturalistische Linguistik nicht Philosophie der Kultur, Aus dem Englischen von R. Kaiser [engl. 1944], Frankfurt a. Main 1990, 111 f. [= ECW 23, 77]), haben beide Richtungen gemeinsam. 15 E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 302. 16 Siehe dazu im vorliegenden Band die Beiträge »Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, 293–310.; »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre und ihre Rezeption durch Cassirer«, 367–398; »›Lebendige Formen‹. Cassirers Konzept der ›Formwissenschaft‹«, 397–418; »Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Cassirer über methodologische Analogien«, 419–444; »Philosophie, Wissenschaft , Wissenschaftsphilosophie. Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft«, 445–464. 17 E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 245, 247. 18 Ebd., 245.

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nur als eine Kulturwissenschaft, deren Methode Einsichten und Begrifflichkeiten zur Anwendung bringt, die denen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ sehr nahekommen, sondern auch als einen Beleg für seine eigene wissenschaftstheoretische bzw. –historische Konzeption. Nach dieser löst in den Wissenschaften im 20. Jahrhundert insgesamt die Strukturbetrachtung die Kausalbetrachtung entweder ab, oder ergänzt sie zumindest; das sind zwei Betrachtungs- bzw. Begriffsbildungsweisen, die Cassirer methodisch streng geschieden wissen will.19 Ausgesprochen wird die Würdigung der strukturalitischen Linguistik bereits sehr klar und prinzipiell in der ersten Version des Essay on Man (1942/43). Hier wird zum Einen der uns beschäftigende Gedanke lanciert, daß es die »modern linguistics« in erster Linie mit »structural problems« zu tun hätten,20 wobei eine entscheidende »logical difference between structural and causal problems« bestehe,21 was unterschiedliche Methoden und Erkenntnisziele nach sich ziehe. Zum Anderen sieht Cassirer das beobachtete und geforderte methodische Herangehen an Strukturprobleme – »a full insight into […] structure and constitution«22 – im »modern ›structuralism‹«, wie er u. a. vom Linguisten Jakobson vertreten werde,23 exemplarisch verwirklicht. Die getroffene Feststellung, »even modern Linguistics upholds the view that there are some general structural laws of language«,24 scheint Cassirer ganz offensichtlich zu teilen. Ein gutes Jahr später, 1944, in der gedruckten Version von An Essay on Man, wird der Gedanke, daß in den Kulturwissenschaften notwendigerweise Strukturanalysen vorzunehmen sind, erneut unterstrichen und ausgebaut. »All human works« hingen zwar von besonderen historischen und soziologischen Bedingungen ab, diese ließen sich aber nur dann verstehen, wenn wir »were able to grisp the general structural principles underlying »Structural problems and genetic problems must be carefully distinguished; they do not belong to the same logical order and cannot be treated according [to] one and the same method. The psychological methods […] must, therefore, always be completed and substituted by […] the methods of an objective structural analysis of the fundamental forms of culture.« (Ebd., 245) »I seems, as if the structural view was at the point of prevailing over the mere genetic view. Th is development of modern linguistic psychology can be studied in Karl Bühler’s Sprachtheorie (1934). Bühler constructs an ›Organmodel‹, a universal structural model according to which […] all the single utterances of speech […] are moulded.« (Ebd., 332). 20 E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), Book I, in: ebd., 400. 21 Ebd., Book I, 400 note 4. 22 Ebd., Book IV, 541. 23 Ebd., Book I, 401 note 1; 24 Ebd., Book II, 437. 19

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these works.«25 Wenn es dann heißt, daß dabei »das Problem der Bedeutung Vorrang [habe] vor dem Problem der historischen Entwicklung«, daß »die strukturelle Betrachtung der Kultur [als Bedeutungsanalyse – C.M.] […] der historischen Betrachtung vorangehen [muß]«, 26 dann ist damit, wie gesagt, eine große Nähe zur strukturalistischen Linguistik angezeigt. Ihre Würdigung als Strukturwissenschaft erfolgt teilweise mit den gleichen Worten wie in der unpublizierten Version des Buches. Dabei stellt Cassirer, wiederum ein Jahr später, im Beitrag »Structuralism in Modern Linguistics« (1945) die Entwicklung der Linguistik hin zur strukturalistischen Sprachphilosophie in die – von ihm auch anderswo schon herausgestellte – allgemeine Bewegung in den Wissenschaften, die ebenso in der Gestaltpsychologie (Christian von Ehrenfels), 27 der Feldphysik und der Biologie zu Strukturbetrachtungen führe.28 Eines der wichtigsten Merkmale dieser Entwicklung – z. B. in der Biologie – sieht Cassirer in der sich durchsetzenden Auffassung, wonach »›das Ganze Vorrang hat vor dem Teil‹«, 29 bzw. es unmöglich sei, die »defi nite structure« psychischer Phänomene »to understand […] by treating it as a loose conglomerate – a mere mosaic of sense data«.30 Eine Besonderheit dieses Textes von 1944, wie auch des von 1945, macht die sich nun anschließende sehr kundige, verständnisvolle und ausführliche Darstellung der strukturalistischen Sprachtheorie (de Saussure, Brøndal, Trubetzkoj, Jakobson) aus, die mit der Feststellung anhebt, »[…] die moderne Sprachwissenschaft« wende »nu n die gleiche Methode an[…]«, wie die zu Strukturbetrachtungen gelangten Naturwissenschaften und konzentriere »sich zunehmend auf strukturelle Probleme«.31 Recht betrachtet spricht Cassirer hier den strukturalistischen Linguisten das ›copy right‹ 25

E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 111 (= ECW 23,

76 f.). Ebd., 111 f. (= ECW 23, 77). E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 319. 28 »Ideengeschichtlich ist es sehr interessant und bemerkenswert, daß die Sprachwissenschaft in dieser Hinsicht die gleichen Veränderungen durchlaufen hat, die wir auch in anderen Wissensbereichen [z. B. der Feldphysik und in der Biologie – C.M.] beobachten.« (E. Cassirer, Versuch über den Menschen [engl. 1944], a. a. O., 189 [= ECW 23, 131 f.]) Auch »die moderne Gestaltpsychologie« hat »den Weg zu einer neuartigen strukturellen Psychologie gebahnt« und die alte rein analytische Psychologie überwunden (ebd., 190 [= ECW 23, 132]). 29 Ebd., 189 f. (= ECW 23, 132). 30 E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 301. 31 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 190 (= ECW 23, 132). 26 27

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an der strukturalistischen Methode ab. Diese gelangt ja nicht nur – unabhängig von der Sprachwissenschaft – in den zeitgenössischen Naturwissenschaften zu immer stärkerer Anwendung, sondern, selbst wenn dies an dieser Stelle nicht herausgestellt wird, auch die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ versteht sich ja von Anfang an, also seit dem Beginn der 20er Jahre, als Strukturforschung. Die Lesart, daß für Cassirer der linguistische Strukturalismus der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als Methode von System-, Struktur- und Sinnbetrachtungen im Gegensatz zu kausalgesetzlicher Forschung im Grunde nichts wirklich Neues ist, sondern seit Humboldt und Goethe bewußt praktiziert wird, wird nicht zuletzt von der erstaunlichen These gestützt, daß wir, in einem »very interesting mental experiment […] may exchange every biological term of Cuvier for a linguistic term. In this case we should have, before our very eyes, the program of modern linguistic structuralism.«32

Mit anderen Worten, die Tatsache, daß in der modernen Sprachwissenschaft Strukturanalysen angestellt werden, ist Ausdruck einer allgemeinen Bewegung in der Wissenschaftsgeschichte, vergleichbar – oder verbunden – mit der Ablösung des Denkens in Substanzbegriffen durch eines in Funktionsbegriffen. Deshalb dürfe es nicht verwundern, wenn die neuere Biologie, die methodisch geprägt ist von Holismus und Organizismus (Bertalanff y), »bears a close relationship to linguistic structuralism«.33 Cassirer spricht von »a parallel between the method of linguistics and the method of biology«34 und verweist als Beleg dafür auf eine Arbeit von Jakobson.35 Wir haben es hier mit einem Gedanke zu tun, an den später in gewissem Sinne Lévi-Strauss anknüpfen wird, wenn er die methodischen Parallelen zwischen strukturalistischer Linguistik und Ethnologie / Anthropologie thematisieren wird. Aufschlußreich ist zudem, daß Cassirer, ebenso wie Jakobson, die Kindersprache und die Sprachpathologien als Weg hin zu bzw. weg von den Strukturgesetzen der Sprache deutet, und dies im Grunde seit dem entsprechenden Kapitel »Zur Pathologie des Symbolbewußtseins«, verortet E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 307. 33 Ebd., 307 f. 34 Ebd., 309. 35 Konkret verweist Cassirer auf »Roman Jakobson, Sur la théorie des affinités phonologiques des langues, in: Actes du quatrième congrès international des linguistes. Tenu à Copenhague du 27 Août au 1er Septembre 1936, Copenhague 1938, pp. 48–58.« – Ebd., 308. 32

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im Drittel Teil (1929) der Philosophie der symbolischen Formen. Ohne auf Jakobsons 1941/42 in Schweden erschienene Arbeit Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze zu verweisen, schreibt Cassirer 1945, daß »recent research in the field of psychopathology of language – the study of aphasia and kindred disorders of speech – has done very much to clarify our concepts of the general function of speech.«36 In der ersten Version von An Essay on Man (1943) hatte er bereits mit Verweis auf ein Werk des Psychologen Heinz Werner von »structural analogies between the mentality of the child and primitive mentality« gesprochen.37 In der Darstellung der Grundzüge der Sprachtheorie de Saussures durch Cassirer dominiert der Systemgedanke: die »grundlegende strukturelle Einheit der Sprache« werde laut dieser als »System der grammatischen Formen« und als materielles »Lautsystem« erforscht.38 »Die strukturalen Probleme der Phonologie« dagegen seien »sehr viel später entdeckt« worden: »Der moderne Strukturalismus, so wie er sich in den Werken von Trubetzkoy und in den Travaux du Cercle Linguistique de Prage ausgebildet hat, näherte sich dem [strukturalen – C.M.] Problem [der materialen Laute – C.M.] von einer ganz anderen Position her«,

nämlich indem er die Vorstellung k a u s a l e r Notwendigkeit aus der Sprachtheorie ausschloß: »Die Sprache ist [für ihn – C.M.] keine Ansammlung von Wörtern; sie ist ein System[, besitzt eine – C.M.] systematische Ordnung[, die sich] physikalischen oder historischen Kausalitätskategorien [entzieht – C.M.].«39

Die jeweils »eigene Struktur« einer jeden einzelnen Sprache werde von einem irreduziblem »[Phonem-]Typ« zum Ausdruck gebracht. Gleichwohl bestehe für die Strukturalisten (Brøndal) »zwischen den Phonemen einer bestimmten Sprache stets ein fester Zusammenhang«, der aus empirischem Material, das »einen inneren Zusammenhalt [bezeugt – C.M.]«, erschlossen werden muß. 40 Wie für die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bilden vom linguistisch-strukturalistischen Standpunkt aus »Form

Ebd., 303. E. Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology« (1943), Book IV, in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 484. 38 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 191 (= ECW 23, 133). 39 Ebd., 193 (= ECW 23, 134). 40 Ebd., 193 (= ECW 23, 135). 36 37

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und Inhalt« (physischer Laut) einer jeden Sprache »eine unauflösliche Einheit«. 41 Deshalb untersucht die neue, von Trubetzkoj geschaffene Phonologie »nicht physikalische Laute, [wie die Phonetik, – C.M.], sondern signifi kante Laute«, d. h. deren »semantische Funktion«. 42 Für die linguistische Strukturbetrachtung ist der Laut – das »Phonem« – nur noch relevant als »Bedeutungsunterschied«, als signifi kanter Laut, 43 eine These, die auch den Beitrag von 1945 beherrscht, 44 weshalb Cassirer feststellen kann: »Linguistics is a part of semiotics, not of physics« . 45 Daß es die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ mit Bedeutungsproblemen und nicht mit Kausalproblemen zu tun hat, darauf hatte Cassirer bereits in ihrem Ersten Teil: Die Sprache (1923) bestanden. 46 Die Gemeinsamkeiten auf den Begriff bringend heißt es im Beitrag von 1945: auch »the linguist lives in […] a symbolic universe, a universe of meaning«, 47 genau wie der Philosoph der symbolischen Formen. Unter Bezug auf Trubetzkoj, Bloomfield und Sapir vermag es Cassirer 1944/45, Grundideen der ›Phonologie‹ kenntnisreich und präzise zu umreißen, wobei deutlich wird, daß diese nicht zuletzt auf dem Systembegriff

Eine Feststellung, die im Beitrag »Structuralism in Modern Linguistics« (1945) wiederholt, bekräftigt und vertieft wird. – E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 303 f. 42 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 194 (= ECW 23, 135). 43 »Das Phonem [d. h. die ›minimale Einheit eines distinktiven Lautmerkmals‹ – C.M.] ist keine physikalische, sondern eine Bedeutungs-Einheit.« – Ebd., 195 (= ECW 23, 136). 44 »The structuralists […] emphasize that sounds, as mere physical occurrences, have no interest for the linguist. The sounds must have a meaning; the phoneme itself is a ›unit of meaning‹« (Trubetzkoj) – E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 313 f. 45 Ebd., 314. 46 »Demnach wird alles geistige Sein und Geschehen, sosehr es in seiner spezifischen Besonderung erfaßt und in dieser Besonderung anerkannt werden soll, doch zuletzt gleichsam auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert – und diese Beziehung ist es erst, in welcher sein tiefster Gehalt und seine eigentliche Bedeutung erfaßt wird. / Und in der Tat scheint diese letzte Zentrierung aller geistigen Formen in der einen logischen Form durch den Begriff der Philosophie selbst und insbesondere durch das Grundprinzip des philosophischen Idealismus notwendig gefordert zu sein.« (E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache. [1929], in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 13) »Das erste Problem, das uns in der Analyse der Sprache, der Kunst, des Mythos entgegentritt, besteht in der Frage, wie überhaupt ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen ›Bedeutung‹ gemacht werden kann.« (Ebd., 25). 47 E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 314 f. 41

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(»System von Phonemen«, »Lautsysteme«, »grammatisches System« von »Wortarten«, »Wortsystem«) fußt, der die Eigenschaft eines »kohärentes Ganzen« besitzt. 48 Dies klingt auch an, wenn Cassirer unter Bezug auf Brøndal direkt konstatiert, daß die strukturalistische Linguistik, um die »Sprachstruktur« zu erforschen, mit dem Systembegriff arbeitet, 49 von faktischen »›systèmes de sons (ou phonèmes)‹« und von den »›systèmes de formes et de mots (m o r p h è m e s et s é m a n t è m e s)‹« handelt.50 Allerdings wird nicht ganz klar, auf welche Weise dieser Systemcharakter der Sprache für Cassirer die »Struktur der einzelnen uns bekannten Sprache« prägt, ausmacht.51 Aus dem Beitrag von 1945 ist herauszulesen, daß sich Cassirer zu »the same conviction« bekennt, wie sie in Bezug auf System, Struktur und Notwendigkeit beim zitierten Brøndal (Anm. 49) zum Ausdruck gebracht wird, und wie sie »appears in Saussure’s »Cours de linguistique générale«, in the works of Trubetzkoy, of Roman Jakobson, and of the other members of the »Cercle Linguistique de Prague«. Obviously the necessity which is claimed here for a linguistic system has no metaphysical connotation. It is no absolute but a relative or hypothetical necessity.«52

Diese hier wiedergegebenen Überlegungen Cassirers machen deutlich, daß er mit Blick auf den Wandel methodologischer Einstellungen und Verfahren sowohl seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹, mit ihrer Art und Weise, die Struktur-, Form- und Bedeutungsgesetze kultureller Phänomene und Ordnungen aufzuklären, aber auch mit ihrer Art und Weise, Wissenschafts- und Philosophiegeschichte zu deuten, als auch die zeitgenössische strukturalistische Linguistik als legitime Verbündete, methodologisch Gleichgesinnte versteht, da sie aus derselben geschichtlichen Bewegung me-

E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 195, 197 (= ECW 23, 136, 137 f.). 49 »›Qui dit système, dit ensemble cohérent: si tout se tient, chaque terme doit dépendre de tout autre. Or on voudrait connaître les modalités de cette cohérence, les degrés possibles et variables de cette dépendance mutuelle, en d’autres termes il faudrait étudier les conditions de la structure linguistique, distinguer dans les systèmes phonologiques et morphologiques ce qui est possible de ce qui est impossible, le contingent du nécessaire.‹« (Brøndal) – E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 304. 50 Ebd., 304. 51 E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 198 (= ECW 23, 138). 52 E. Cassirer, »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), a. a. O., 304. 48

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thodologischer Auffassung heraus gegen denselben Gegner philosophieen.53 Dies unterstreicht noch einmal der Schlußsatz des Beitrages von 1945.54

2. System und Struktur bei den zeitgenössischen Linguisten Um Cassirers positive Bezugnahme in Sachen Strukturbetrachtung auf die strukturalistische Linguistik (Brøndal, Trubetzkoj, Jakobson) in seinen späten – amerikanischen – Schriften sachlich würdigen zu können, sollen, nachdem wir uns einen Einblick in Gebrauch und Bedeutung der Begriffe System und Struktur in seiner eigenen Philosophie in der gesamten Schaffensperiode von 1902 bis 1945 verschafft haben,55 auch noch die entsprechenden philosophischen Implikationen der Termini System und Struktur in repräsentativen Arbeiten Trubetzkojs und Jakobsons erkundet und dargestellt werden. Da sich beide in ihnen immer wieder auf den Sprachwissenschaftler de Saussure und seine synchrone Sprachwissenschaft berufen, die sich selbst wiederum u. a. auf Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie stützt und die Sprache als Kulturform insbesondere über den Systembegriff zu fassen sucht, werden wir mit dessen Sprachauffassung aus dem Cours de linguistique générale (1916) beginnen. Dies um so mehr, als auch der strukturalistisch ›informierte‹ Cassirer diesen Ansatz bei de Saussure ausdrücklich würdigt.56

Im Grunde haben alle, die Strukturbetrachtung anstellen, denselben Gegner; so bekämpfen Biologen und Sprachwissenschaft ler methodologisch denselben Feind: »structuralism versus mechanism; morphologism against materialism«, führen alle im Grunde denselben Kampf wie die modernen Linguisten: »the struggle between the materialists and formalists«. – Ebd., 310, 312. 54 »What I wished to make clear in this paper is the fact that structuralism is no isolated phenomenon; it is, rather, the expression of a general tendency of thought that, in these last decades, has become more and more prominent in almost all fields of scientific research.« – Ebd., 320; siehe dazu auch E. Cassirer, Versuch über den Menschen (engl. 1944), a. a. O., 190 (= ECW 23, 132). 55 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »System und Struktur. Eine Begriffsbeziehung bei Cassirer«, 655–702. 56 Cassirer zitiert Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (Ed. by Charles Bally and Albert Sechehaye, Paris 1916; Paris 19222), wie schon erwähnt, seit der Yaler Vorlesung über Symbolismus und Sprachphilosophie, d. h. ab Herbst 1941. – E. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« (1941/42), in: ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., 325. 53

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A. System und Struktur bei Ferdinand de Saussure (1906–1911) In de Saussures Vorlesungen über Grundfragen der allgemeiner Sprachwissenschaft kommt, wie bereits gesagt, dem Systembegriff in philosophischer Hinsicht eine wichtige, ja entscheidende Rolle zu. Der Begriff zieht sich in unterschiedlichen Konstellationen durch den gesamten Cours57 und wird sowohl mit dem Organismusbegriff58 bzw. dem des Ganzen59 als auch mit dem Zeichen- bzw. Symbolbegriff in Beziehung gebracht. 60 Der Strukturbegriff kommt bei de Saussure zwar nur selten vor, scheint da, wo er fällt, so etwas wie Grundbeziehungen – oder das Grundgesetz – eines Systems zu meinen, z. B. wenn von der »inneren Struktur der Sprache« die Rede ist. 61 In Bezug auf die Bildung bzw. den Aufbau von Einheiten oder Subsystemen scheint de Saussure »die Ausdrücke ›Konstruktion‹ [d. h. Anordnung – C.M.] und ›Struktur‹« zu unterscheiden. 62 Was er und Cassirer auf jeden Saussure untersucht die »Organisation der Sprache als System« (F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [franz. 1916 / deutsch 1931], Berlin / New York 2001, 15) bzw. »die Sprache als System« (ebd., 158), geht »ihrem [der Sprache – C.M.] System« nach (ebd., 24), es ist die Rede von einer »systematischen Methode« (ebd., 26 f.), vom »ideographisches System« und dem »phonetisches System« der einzelnen Sprachen (ebd., 30 f.), vom »Schrift system« (ebd., 32), vom »phonologisches System« (ebd., 39) und dem »Lautsystem« der Sprache (ebd., 41 f., 266), Sprache gilt ihm als ein »Ausdruckssystem« (ebd., 80) bzw. als ein »System von Ausdrucksmitteln« (ebd., 160), als »ein System von Gleichwertigkeiten zwischen Dingen verschiedener Ordnung« (ebd., 94), als ein »System der Werte an sich« (ebd., 13) oder als ein »System gleichzeitiger Werte« (ebd., 95). Sprache kann als ein »ideosynchronisches System« (ebd., 120), als »ein System von Werten« (ebd., 144), als »doppeltes System« (ebd., 154) oder als »ein ganzes latentes System [von Formen – C.M.]« (ebd., 155) aufgefaßt werden, wobei auch die »Elemente des Systems« erforscht werden müssen (ebd., 158). Folglich stellt Sprache einen »komplexen und systematischen Gegenstand« der Sprachwissenschaft dar (ebd., 160), der u. a. ein »grammatisches Systems« (ebd., 162) bzw. ein »System der Grammatik« (ebd., 163 f.) umfaßt und ein »System der Assoziationen« bildet (ebd., 206). Der Linguist habe »die Veränderung der Glieder des Systems« ebenso zu untersuchen wie »die Entwicklung des Systems selbst« (ebd., 216). 58 So faßt de Saussure »den inneren Organismus einer Sprache« als deren System auf. – Ebd., 26. 59 Die »Sprache [ist] als Ganzes« zu behandeln, nicht als Aggregat. – Ebd., 256. 60 Die Sprache sei als ein »System von Symbolen« aufzufassen, nicht als ein »System von beliebigen Zeichen« ebd., 85), sie müsse als die »Organisation eines Zeichensystems« verstanden werden (ebd., 106), wobei nicht allein die Sprache »semeologische Systeme« bildet (ebd., 131). 61 Ebd., 20; auch die Subsysteme der Sprache besitzen eine Struktur, so lesen wir von der »Struktur des Wortes und [der] Struktur des Satzes« (ebd., 156). 62 »Man wendet oft die Ausdrücke ›Konstruktion‹ [Anordnung] und ›Struktur‹ in bezug auf die Bildung von Wörtern an.« – Ebd., 213. 57

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Fall eint, ohne daß sie darum wissen, ist die Überzeugung des Philologen, daß die »Sprache […] eine Form und nicht eine Substanz [ist]«. 63 De Saussure betont dabei wohl etwas stärker als Cassirer die soziale Dimension der Sprache, 64 sie wird von einer Sprachgemeinschaft gesprochen, aufbewahrt und den Einzelnen übergeben. 65 De Saussure erforscht die Sprache (langue) als ein System von grundsätzlichen, für alle Sprachen geltenden Beziehungen, Regeln, Gesetzen, die sich in den einzelnen realen Sprachen abwandeln. 66 Eine empirische Sprache gilt ihm einerseits als »ein feststehendes System«, andererseits als Produkt einer »Entwicklung«; Gegensätze, die eine untrennbare Einheit bilden;67 das ist ein Gedanke, den Cassirer ähnlich formuliert. Wie bereits erwähnt, deutet de Saussure »die Sprache [als] ein Ganzes in sich«, als eine »natürliche Ordnung«, 68 als einen »Organismus«, 69 dessen Elemente – die Worte – Zeichen sind, die ein System bilden. Die Unterscheidung zwischen dem physischen Laut einerseits und dem Gedanken (Bedeutung), den dieser ausdrückt, andererseits, wobei Lautzeichen und Gedanke eine untrennbare Einheit bilden,70 ist eine, auf die spätere strukturalistische Linguisten Ebd., 146. Die Sprache ist eine »soziale Einrichtung« neben »den politischen, rechtlichen usw. Einrichtungen« der Gesellschaft , besitzt aber ebenso eine eigene »besondere Natur« als Sprache (ebd., 18 f.). 65 Die Sprache bildet »ein grammatisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen« (ebd., 16). Sie »besteht in der Sprachgemeinschaft in Gestalt einer Summe von Eindrücken, die in jedem [individuellen – CM.] Gehirn niedergelegt sind«, und die »unter sich völlig gleich« sind. »Sie ist also etwas, das in jedem Einzelnen von ihnen vorhanden, zugleich aber auch allen gemeinsam ist und unabhängig von dem Willen der Aufbewahrer« (ebd., 23). 66 Ebd., 27 f. Die »Verschiedenheit der Sprachen [verberge – C.M.] eine tiefe innere Einheit [als System].« (Ebd., 118). 67 Ebd., 10. 68 Ebd., 11. 69 Ebd., 17. Die Auff assung Schleichers, »in der Sprache etwas Organisches [zu sehen – C.M.], das das Gesetz seiner Entwicklung in sich selber trüge«, wird von de Saussure offenbar geteilt (ebd., 279). Cassirer hatte sie in seinem wichtigsten Werke zur Sprache ebenfalls kritisch gewürdigt: »[…] während [bei Schleicher – C.M.] die flektierenden Sprachen, bei denen das Wort die Einheit in der Mannigfaltigkeit der Glieder ist, dem animalischen Organismus entsprechen.«(E. Cassirer, PSF, Erster Teil: Die Sprache [1923], in: ECW 11, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2001, 109). »Die Theorie der Evolution, die Darwin für die Arten der Tiere und Pflanzen geltend gemacht hat, muß [nach dem späten Schleicher – C.M.] nicht minder für die Organismen der Sprachen gelten.« (Ebd., 111). 70 De Saussure unterscheidet am »sprachlichen Phänomen« (Zeichen) den akustischstimmlichen Laut und den Gedanken (die Vorstellung), wobei der Laut »nur das Werkzeug des Gedankens [ist] und […] nicht für sich [existiert – C.M.]«, beide bilden zu63

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aufbauen. Außerdem fi ndet sie sich so oder so ähnlich auch in Cassirers Sprachphilosophie und liegt letztlich in abgewandelter Form seiner gesamten ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zugrunde. Der Mensch, so de Saussure, schaffe mit der Sprache »ein System unterschiedlicher Zeichen, die unterschiedlichen Vorstellungen [d. h. Gedanken bzw. Sinnbestimmungen – C.M.] entsprechen«,71 wobei in diesem »System von Zeichen […] einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich« ist.72 Als Zeichensystem existiert die Sprache in der Gesellschaft neben anderen kulturellen Zeichensystemen,73 als eine »Ausdrucksform«, ein »Ausdrucksmittel«, ein »Ausdruckssystem« unter anderen Ausdruckssystemen;74 auch der Ausdrucksgedanke verbindet de Saussure und Cassirer. Die Sprachwissenschaft habe die allgemeinen »Gesetze« der Zeichen auf das spezielle System Sprache anzuwenden,75 wobei es »Aufgabe des Sprachforschers ist […], zu bestimmen, wodurch die Sprache ein besonderes System in der Gesamtheit der semeologischen […] [Systeme – C.M.] ist«.76 Diese Aufgabe formuliert auch Cassirer sinngemäß in seinem Werk Die Sprache (1923). Um die »Natur der Sprache« als eines eigentümlichen Systems aufzuklären, müsse man, so de Saussure, zuerst untersuchen, »was sie mit allen anderen Systemen der gleichen [sozialen – C.M.] Ordnung gemein hat«, aber auch, was sie »von anderen Systemen […] unterscheidet«.77 Die »Sprache [als] […] ein System, das nur seine eigene Ordnung [d. h. Regeln und Gesetze – C.M.] zuläßt«, erfordert zu ihrer Erforschung unbedingt die »systematische Methode«;78 von einer strukturalen ist hier allerdings noch keine Rede. Ein weiteres wichtiges Zeichensystem wird von den Schriftzeichen gebildet, die die Sprache darstellen, wobei dieses »dem inneren System [der Sprache – C.M.] fremd« sei, d. h. eigenen Gesetzen folgt.79 Sprache bildet sammen eine »physiologische und geistige« Einheit. – F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (franz. 1916/deutsch 1931), a. a. O., 9 f. 71 Ebd., 12. 72 Ebd., 18. In den Bestandteilen der Sprache setzt sich »ein Gedanke […] in einem Laut fest« und »ein Laut [wird] das Zeichen eines Gedankens«, »diese Verbindung schafft eine Form, keine Substanz« (ebd., 134). 73 »Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und [ist] insofern« anderen Systemen wie »der Schrift , dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höfl ichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar. Nur ist sie das wichtigste dieser Systeme.« (Ebd., 19). 74 Ebd., 80. 75 Ebd., 19. 76 Ebd., 19. 77 Ebd., 20 f. 78 Ebd., 26 f. 79 Ebd., 28. »Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen« (ebd., 28).

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außerdem ein phonologisches »System, das auf der geistigen Gegenüberstellung d[…]er lautlichen Eindrücke beruht«, d. h. auf der Differenz der durch die Laute ausgedrückten Gedanken, Bedeutungen. 80 Wobei jede konkrete Sprache mit »einer bestimmten [d. h. begrenzten – C.M.] Anzahl deutlich [akustisch] unterschiedener Lauteinheiten« arbeitet, 81 d. h. ihr »Lautsystem« wird von einer begrenzten Zahl von Elementen, Gliedern gebildet. 82 Lautelemente können durch »ihr Vorhandensein oder Fehlen an einem bestimmten Platz [im Wort oder im Satz – C.M.] eine Rolle in der Struktur des Wortes und der Struktur des Satzes [spielen].«83 Wir haben es hier mit den Einheiten, den »Phonemen«, zu tun, 84 die durch Sprachzeichen ausgedrückt, dargestellt werden. De Saussure spricht bei den Sprachzeichen auch von einer Vereinigung, Einheit, Ganzheit von Gedanke (Sinn) und »Lautbild« als dem materiellen Träger, wobei letzerer aus Phonemen gebildet wird. 85 Die »sprachlichen Zeichen« unterscheiden sich folglich auch, oder vor allem, nach ihren »Bedeutungen«. 86 De Saussure legt Wert auf die Einsicht, daß zu den »Trägern der Bedeutung« »nicht der Laut selbst, sondern die lautlichen Verschiedenheiten« werden, die gestatten, das eine Lautbild »von allen anderen zu unterscheiden«. 87 Eine Einsicht, die er verallgemeinert, 88 die bei Cassirer jedoch nicht so klar ausgesprochen wird. De Saussure hat erkannt, daß in den Wortsilben zwischen bestimmten einzelnen Lauten ein feststellbares, durch Gesetze geregeltes »Verhältnis innerer Abhängigkeit« besteht, bei dem die Veränderung eines Elements durch die anderen begrenzt ist, es gebe nämlich »Gesetze, die die Kombination

Ebd., 38 f. Ebd., 142. 82 Ebd., 40, 41, 46. 83 Ebd.,156. 84 Ebd., 46. 85 Ebd.,77 ff., 112. Dabei sei »das Band, welches das Bezeichnete [den Sinn – C.M.] mit der Bezeichnung [dem Wortbild – C.M.] verknüpft , […] beliebig«, d. h. »unmotiviert« (ebd., 79). Hingegen ist »die Bezeichnung hinsichtlich der [Bedeutung – C.M.], die sie vertritt«, »in Beziehung auf die Sprachgemeinschaft , in der sie gebraucht wird, nicht frei, sondern ihr auferlegt. Die Masse der Sprachgenossen wird in der Wahl der Bezeichnung nicht zu Rate gezogen« (ebd., 83). ). »In der Tat beruht das ganze System der Sprache auf dem irrationalen Prinzip der Beliebigkeit des Zeichens […]; aber der Geist bringt ein Prinzip der Ordnung und Regelmäßigkeit in einen Teil der Zeichen, und das ist die Rolle des relativ Motivierten.« (ebd., 158). 86 Ebd., 123 f. 87 Ebd., 140. In der Sprache beruhe alles auf »Beziehungen und […] Verschiedenheiten« (ebd., 147). 88 »In der Sprache wird, wie in jedem [!] semeologischen System, ein Zeichen nur durch das gebildet, was es Unterscheidendes an sich hat.« (ebd., 145). 80 81

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der Phoneme beherrschen«. 89 Diese Gesetze seien weder positive Gesetze im Sinne einer vom Menschen geschaffenen Rechtsordnung noch einfach Naturgesetze,90 d. h. sie sind letztlich eigentümliche kulturwissenschaftliche Gesetze, wie es Cassirer formulieren würde. Während sich de Saussure und Cassirer mit ihren Zeichentheorien folglich recht nahe kommen,91 gilt dies nicht in diesem Maße für ihre Symboltheorien,92 da de Saussure dem Symbol im Unterschied zum Zeichen »bis zu einem gewissen Grade eine natürliche Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem« zuschreibt.93 Die Sprache bilde jedoch ein »System von beliebigen Zeichen«, ein »System von [beliebigen – C.M.] Symbolen« existiert für offenbar ihn nicht.94 De Saussure denkt auch über das Problem von Bewußtheit und Unbewußtheit nach, seien doch »die Gesetze der Sprache den sprechenden Personen großenteils nicht bewußt«.95 Die an sich unveränderlichen Zeichen des Sprachsystems werden aber in Wirklichkeit partiell »umgestaltet, weil [sie – C.M.] sich ununterbrochen in der Zeit fortpflanz[en]«,96 und weil die »zwei Elemente« des Sprachzeichens, das Bezeichnende und das Bezeichnete, »beide ihr eigenes Leben führen in einem übrigens unbekannten Verhältnis«,97 eine Auffassung, die Cassirer im Grunde ebenfalls teilt. Auf der Grundlage der Unveränderlichkeit der Sprachzeichen und ihrer Beziehungen zueinander entwirft De Saussure eine synchrone (»statische«) Sprachwissenschaft, auf die sich der Strukturalismus stützen wird:

Ebd., 58, 59. Ebd., 113, 114. 91 Das betrifft auch die Unterscheidung »natürlicher Zeichen« bzw. »natürlicher Symbole« von künstlichen wie den Sprachzeichen bzw. Sprachsymbolen (ebd., 79) bzw. von natürlichen und »künstlichen Sprachen« bzw. Zeichensystemen (ebd., 90). 92 Siehe dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Symbol und Symbolisches im Denken Cassirers«, 545–564. 93 »Man hat auch das Wort Symbol für das sprachliche Zeichen gebraucht, genauer für das, was wir die Bezeichnung [d. h. das Lautbild – C.M.] nennen.« (F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [franz. 1916/deutsch 1931], a. a. O., 80). Allerdings sei es »beim Symbol […] wesentlich, daß es niemals ganz beliebig ist; es ist nicht inhaltlos, sondern in ihm besteht bis zu einem gewissen Grade eine natürliche Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem.« (Ebd., 80). 94 Das »Symbol [hat] eine rationale Beziehung mit der bezeichneten Sache« und befi ndet sich in einem »System von [nicht beliebigen – C.M.] Symbolen«, während die Sprache ein »System von beliebigen Zeichen« bildet (ebd., 85). 95 Ebd., 85. 96 Ebd., 87 f. 97 Ebd., 89 f. 89

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»Die Sprache ist ein System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird [d. h. von – C.M.] einem System gleichzeitiger Werte«.98

Diese Auffassung klingt als ›idealistischer Standpunkt‹ in Cassirers Sprachphilosophie ebenfalls an. Im Sprachsystem bestimmt sich der ›Wert‹ eines Zeichens daraus, daß es Gegenstück zu einem anderen Zeichen des Systems ist. Folglich ist für de Saussure, wie für Cassirer, »die Sprache ein System […], dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben«.99

Der synchronen Betrachtung geht es deshalb um »die Beziehungen im System«,100 um die »gleichzeitigen Bestandteile der Sprache« auf der horizontalen Achse von Systemerscheinungen,101 und sie setzt voraus, daß auch zwischen den einzelnen »stets bedeutungsvollen« Bestandteilen und »dem Ganzen« des »Systems« grundsätzlich eine »gegenseitige Abhängigkeit« besteht.102 Resümierend hebt de Saussure aus dem Gesagten vier Thesen heraus: 1. »Die Sprache ist ein System, dessen Teile in ihrer synchronischen Wechselbeziehung betrachtet werden können.« 2. »Die Umgestaltungen vollziehen sich niemals am System als Ganzem, sondern an einem oder dem anderen seiner Elemente, und können nur außerhalb desselben untersucht werden.« 3. »Allerdings hat jede Umgestaltung ihre Rückwirkung auf das System«, aber immer nur auf einen Punkt, sie hat keine Konsequenzen für die Zusammenhänge im System; Einsichten, die an die Gruppen- bzw. Transformationstheorie bei Felix Klein und ihre Rezeption durch Cassirer denken lassen. 4. »Die[…] verschiedene Natur der aufeinanderfolgenden Glieder und der gleichzeitigen Glieder« verbietet es, sie »zum Gegenstand Ebd., 95. »[…] die Sprache [ist] nichts anderes als ein System von bloßen Werten«, die zwei »Bestandteile« haben: Vorstellungen und Laute (ebd., 132). 99 Ebd., 136 f. So ergeben sich auch die konkreten Werte der Wörter (Lautbilder) erst aus dem »System«, in dem sie Anwendung fi nden (ebd., 139). Die konkrete Bedeutung eines Wortes existiert nicht ohne seinen Wert, d. h. nicht ohne »seine Verhältnisse zu anderen ähnlichen Werten« (ebd., 140). Eine »Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffl iche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System [und den Stellungsverhältnissen in ihm – C.M.] ergeben.« (Ebd., 143 f., 105). 100 Ebd., 95. 101 Ebd., 98 f. 102 Ebd., 100, 101. 98

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einer einzigen Wissenschaft zu machen.«103 Als eine 5. These ließe sich die Überzeugung formulieren, wonach die Untersuchung der Sprache vom System aus zu beginnen hat, »um durch Analyse [des zusammenhängenden Ganzen – C.M.] die Bestandteile zu gewinnen, die es einschließt.«104

B. System und Struktur bei Nikolaj Trubetzkoj (1938) Obwohl die »Schule Ferdinand de Saussure’s […] vor dem [Ersten Welt-] Kriege in Rußland wenig bekannt war«,105 baut der russische Linguist Nikolaj Trubetzkoj seine strukturalistische Sprachtheorie, die exzessiv mit dem Systembegriff arbeitet, nicht zuletzt auf Saussures Auslegung der Sprache als überzeitlichem ›System‹ und auf dessen »›synchronischer‹ Sprachwissenschaft« auf, auch »wenn Ferdinand de Saussure, obgleich er lehrt, daß die ›Sprache ein System‹ ist, [es] nicht gewagt hat, die Konsequenzen aus seiner eigenen Theorie zu ziehen […]«.106 Der Saussuresche Einfluß kommt u. a. in Trubetzkojs »phonologischer Analyse der Sprache« (»phonologische Methode«) zum Ausdruck, die in der Disziplin der »Phonologie« – im Unterschied zur Phonetik107 – ihren Niederschlag findet.108 Gleichzeitig übt der Landsmann Jakobson einen bestimmten Einfluß auf ihn aus, und er selbst wiederum auf diesen. Cassirers Schriften kannte Trubetzkoj höchstwahrscheinlich nicht, zieht aber mit A.H. Gardiner (Oxford), Bühler (Jena) und Jespersen (Kopenhagen) Autoren heran, auf die sich ebenfalls Cassirer in seinen Arbeiten über die symbolische Sprachform und ihr Strukturgesetz stützt. Den Systembegriff finden wir in den Grundzügen, durchaus vergleichbar mit Cassirers Schriften, angewandt auf die Sprache im Allgemeinen,109 auf ihre ›formalen‹ Untersysteme,110 wobei das »phonologische System«, das aus Ebd., 103. Ebd., 135. 105 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: Grundzüge der Phonologie (franz. 1938 / deutsch 1957), 6. Aufl. Göttingen 1977, 278. Trubetzkoj studiert de Saussure dann auch erst ab 1929 gründlicher (ebd., 285). 106 Ebd., 283. 107 »Die phonetische Natur des Lautes und die Rolle des Lautes in einem System sind […] [zu] unterscheiden.« – Ebd., 286 f. 108 Ebd., 281f. 109 Mit Blick auf de Saussure heißt es ganz grundsätzlich, »die ›Sprache [ist] ein System‹« (ebd., 283). 110 So ist die Rede vom »grammatischen System« der Sprache neben ihrem »phonologischen System« (N.S. Trubetzkoj, »Gedanken über Morphonologie«, in: Grund103

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bedeutungstragenden Lauten – den Phonemen – bestehe, die ein System aus Gegensätzen bilden,111 für Trubetzkojs Interesse das wichtigste System bildet. Diese Eigenschaften bedingen eine systematische, überzeitliche Analyse,112 die eine Theorie des Systems zum Ziel hat.113 In »einem System von bedeutungsbildenden Bestandteilen« komme es, z. B. auf Grund des historischen Lautwandels, zu einem Wandel, der mit dem phonologischen System in Beziehung gesetzt und von ihm her begriffen werden müsse.114 Für Trubetzkoj steht ebenso der Zeichencharakter der Phoneme und Laute fest, was darauf hinausläuft, daß die Sprache ein Zeichensystem ist, 115 wobei er Anregungen und Unterscheidungen Saussures aufnimmt.116 Außerdem werden, wie auch bei Cassirer, immer wieder theoretische Systeme bestimmter Personen erwähnt.117 Trubetzkoj spricht zudem gelegentlich vom »Systematischen«, züge der Phonologie [franz. 1938], a. a. O., 271, ders., »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285; ders., »Einleitung«, in: ebd., 14, 17, 22; ders., »Phonologie und Sprachgeographie«, in: ebd., 262, 266; ders., Grundzüge der Phonologie [franz. 1938], a. a. O., 47), vom »phonetischen System« im Unterschied zum phonologischen (ders., »Einleitung«, in: ebd., 24), aber auch einfach vom »Lautsystem einer Sprache« (ebd., 19), vom »vokalischen System« (ders., »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285; ebd., 87, ) bzw. von »drei Grundtypen von Vokalsystemen« (ders., Grundzüge der Phonologie [franz. 1938], a. a. O., 87), vom »Konsonantensystem« (ebd., 64) oder vom »indogermanischen Ablautsystem« (ders., »Gedanken über Morphonologie«, in: ebd., 268). 111 Die bedeutungstragenden Phoneme bilden ein funktionierendes »Phonemsystem« (N.S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie [franz. 1938], a. a. O., 60, 69, 70), bilden ein »ganzes Oppositionssystem« der Phoneme (ebd., 60), ein »System der phonologischen Oppositionen« (ebd., 60), d. h. das »phonologische System einer Sprache« ist ein »System von Gegensätzen« (ebd., 61), ein »phonologisches Oppositionssystem« (ebd., 61, 65, 69, 76, 81). 112 Eine solche Analyse nennt Trubetzkoj die »synchronische Analyse des phonologischen Systems« (N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 282). 113 N.S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938), a. a. O., 70. 114 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 282. Hier gehe es um die »Anwendung der phonologischen Methode auf die Sprachgeschichte« (ebd., 284). Für Jakobsons »Thesen zur historischen Phonologie« (1927/28), die Trubetzkoj unterstützt (ebd., 284), sei »eine große Vorarbeit auf dem Gebiet der synchronischen Phonologie« notwendig gewesen (ebd., 284). 115 Die Sprache ist »ein einheitliches Zeichensystem« (N.S. Trubetzkoj, »Vorwort«, in: Grundzüge der Phonologie [franz. 1938], a. a. O., 3), dabei wird die »lautlichen Seite des als konventionelles Zeichensystem gefaßten Sprachgebildes« (ders., »Einleitung«, in: ebd., 19) von der bedeutsamen Seite des phonologischen Systems unterschieden. Trubetzkoj betont, daß »die Phoneme und wortunterscheidenden […] Eigenschaften niemals Sprachzeichen an sich, sondern immer nur Teile von Sprachzeichen sind. […] Dagegen sind die satzunterscheidenden Mittel selbständige Sprachzeichen […]« (ders., Grundzüge der Phonologie [franz. 1938], a. a. O., 204). 116 N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: ebd., 5 f. 117 So z. B. die linguistischen »Systeme« von Baudouin und Ščerba (N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 286.

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d. h. von einer bestimmen Ordnung der Phänomene, Sachverhalte etc.118 Die Sprachsysteme können »kohärent« oder »inkohärent« sein,119 »kompliziert« oder weniger kompliziert.120 »Teilsysteme« ordnen sich zu einem »Gesamtsystem«,121 sie bestehen, wie bereits ausgeführt, grundsätzlich aus Oppositionspaaren,122 und sie folgen bestimmten »Typologien«.123 Der Strukturbegriff, der bei de Saussure noch keine sonderliche Rolle gespielt hat, ist bei Trubetzkoj bereits zu einem entscheidenden Terminus geworden, über den er die eigentümliche Weise, »Probleme der strukturellen Sprachwissenschaft im allgemeinen und der Phonologie im besonderen« aufzuwerfen und zu erforschen,124 definiert. Eine solche Wissenschaft fragt nach der »Struktur der phonologischen Systeme«, nach »Struktur und […] Funktionieren des phonologischen Systems« bzw. »Phonemsystems«.125 Sie interessiert sich folglich für die »Gesetze der phonologischen Struktur« der Sprachen,126 aber auch für die »Strukturtypen« der »Morpheme«127 und anderer Einheiten.128 Trubetzkoj unterscheidet »kontextbedingte u n d strukturbedingte Aufhebungsarten« distinktiver Gegensätze.129 Vermutlich mit Bezug auf de Saussure spricht er auch von »sozialer Struktur«.130 N.S. Trubetzkoj, »Phonologie und Sprachgeographie«, in: ebd., 269. N.S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938), a. a. O., 76. 120 Ebd., 131. 121 Ebd., 206, 223. 122 Ebd., 81. 123 Ebd., 219. 124 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 284. »Es gibt [einsilbige, isolierende – C.M.] Sprachen, wo die Abgrenzung der Bedeutungseinheiten im vorhinein durch deren phonematische Struktur gegeben ist.« (ebd., 248). 125 N.S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938), a. a. O., 62, 67, 69. 126 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285. 127 Trubetzkoj arbeitet an einer »Lehre von der phonologischen Struktur der Morpheme« (N.S. Trubetzkoj, »Gedanken über Morphonologie«, in: ebd., 262, 225), unterscheidet »mannigfaltige Strukturtypen [der] Wurzelmorpheme« (ebd., 270) und läßt nur »eine beschränkte Anzahl möglicher Typen der lautlichen Struktur« zu (ebd., 270). »Nachdem die Einteilung der Rahmeneinheiten [d. h. der Wörter bzw. Morpheme – C.M.] in Strukturtypen durchgeführt ist, müssen nun die Phonemverbindungen innerhalb dieser Strukturtypen erforscht werden. […] [Es muß geklärt werden, – C.M.] welche Phoneme in der betreffenden Stellung miteinander verbunden werden und welche Phoneme einander ausschließen.« (ebd., 227). 128 Trubetzkoj handelt auch von der »Struktur größerer phonetischer Ganzheiten« (N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: Grundzüge der Phonologie [franz. 1938 ], a. a. O., 17), von der »Ton- und Intensitätsstruktur« der Appellmittel einer Sprache (ebd., 25), der »die Struktur« von »Korrelationsbündeln« (Oppositionsbündeln) (ebd., 78). 129 N.S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938), a. a. O., 205. 130 Es müsse die »soziale Struktur festgesetzt [werden]«, durch die »die Sprecher als 118 119

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Aus dem Systemcharakter der Sprache ergibt sich für Trubetzkoj ihr »logischer Charakter«,131 der auch ihre Entwicklung kennzeichnet und der die »immanenten«,132 »rein sprachwissenschaftlichen Gesetze«133 der »inneren Logik [der Sprach-]Entwicklung […] von außerlinguistischen Faktoren […] unabhängig« macht.134 Hier vertritt er eine Auffassung, die sich mit der Cassirers in Bezug auf die je eigentümlichen Strukturgesetze der symbolischen Formen zumindest berührt.135 Mit Blick auf die Sprache als System mit einer Vielzahl von Teilsystemen (»vokalisches System«, »phonologisches System«) formuliert Trubetzkoj allgemeine systemtheoretische, philosophisch relevante Einsichten: »Da das [phonologisch zu betrachtende – C.M.] Sprachgebilde aus Regeln oder Normen besteht, so ist es im Gegensatz zum [empirischen – C.M.] Sprechakt ein System oder, besser gesagt, mehrere Teilsysteme. […] Alle diese Systeme sind wohl ausbilanziert, so daß alle Teile136 einander zusammenhalten, einander ergänzen, sich aufeinander beziehen.«137

Außerdem reduzieren sich »alle Systeme […] auf eine kleine Zahl von Typen und können immer durch symmetrische Schemata dargestellt werden […]. Einige [allgemeine – C.M.] Gesetze über die ›Bildung der Systeme‹ lassen sich ohne Mühe daran ablesen.«138

Zugehörige bestimmter, für den Bestand der betreffenden Sprachgemeinschaft wesentlicher Menschentypen oder Gruppen gekennzeichnet sind.« – N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: ebd., 20, 21. 131 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 282. 132 Ebd., 283. 133 Trubetzkoj spricht auch von »allgemeinen Baugesetzen« der Sprachen (ebd., 284 f.). 134 Ebd., 283. 135 Heißt es doch weiter bei ihm: »Die verschiedenen Aspekte der Kultur und des Lebens der Völker entwickeln sich auch nach einer immanenten Logik, […].« (ebd., 283) Es »besteht zweifellos eine gewisse Parallelität in der Entwicklung der verschiedenen Aspekte der Kultur. […] Eine besondere Wissenschaft muß entstehen, die das synthetische Studium der Parallelität in der Entwicklung der verschiedenen Seiten des Lebens ins Auge faßt. / Alles dies ließe sich auch auf die Probleme der Sprache anwenden […]« (ebd., 283), ein Ansinnen, das Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹, bzw. eine auf ihr gründende allgemeine Kulturphilosophie, in Angriff nimmt. 136 Trubetzkoj spricht anstatt von Teilen gelegentlich auch von »den Gliedern der Systeme der Sprachgebilde«. – N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: Grundzüge der Phonologie (franz. 1938), a. a. O., 6 f. 137 Ebd., 6. 138 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285.

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Bildungsgesetze scheinen auch bei Trubetzkoj als Strukturgesetze gedeutet zu werden. Im Mittelpunkt seines Interesses steht, wie mehrfach erwähnt, das »phonologische System«, innerhalb dessen sich aus den unterschiedlichen Stellungen eines Phonems im System »Funktionsunterschiede« ergeben,139 in deren Folge Lautunterschiede »eine bedeutungsdifferenzierende Funktion« erfahren. Dies alles gilt nicht von den bloß »phonetischen Unterschied[en]«,140 d. h., den bloßen Lautunterschieden. Mit der bereits angesprochenen Unterscheidung von bedeutungsschwangeren »Sprachgebilden« und empirischen »Sprechakten«141 ist eine der wichtigsten linguistischen Einsichten Trubetzkojs benannt,142 die auch von Jakobson geteilt wird; sie ist ein Grundpfeiler der strukturalistischen Methode in der Linguistik.143 Im phonologischen System gelten die einen phonologischen Strukturgesetze allgemein, »während die anderen auf einen bestimmten Typ der morphologischen und […] lexikalischen [Teil-] Struktur [der Sprache – C.M.] beschränkt bleiben.«144 Aus dem Systemcharakter der Sprache als solcher folge auch der enge Zusammenhang der »grammatischen und phonologischen Strukturen« der Sprache.145 Die Typen der Teilsysteme der Sprache und deren Strukturen sind, so eine weitere systemtheoretisch relevante Einsicht, nicht beliebig kombinierbar.146 Wie Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29), so betont N.S. Trubetzkoj, »Phonologie und Sprachgeographie«, in: ebd., 262. Ebd., 262; ders., »Einleitung«, in: ebd., 14. 141 »Das Sprachgebilde [ist] als soziale Institution eine Welt von Beziehungen, Funktionen und Werten, der Sprechakt dagegen eine Welt von empirischen Erscheinungen […].« – N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: ebd., 15. 142 Aber auch auf Seiten der »bezeichnenden« Laute (Sprechaktlautlehre) fi ndet Trubetzkoj »ein geordnetes System [vor, das – C.M.] Ordnung in den Lautstrom [bringt – C.M.]« (ebd., 6 f.), ebenso wie auf der »bezeichneten Seite« der Bedeutungen, dem Untersuchungsgebiet der neuen Disziplin Phonologie (Sprachgebildelehre) (ebd., 6 f.). 143 Trubetzkoj und Jakobson vertreten die »Forderung nach ganzheitlicher Betrachtung, nach Untersuchung der Strukturgesetze der phonologischen Systeme und nach Ausdehnung dieser Grundsätze nicht nur auf die beschreibende [synchronische – C.M.], sondern auch auf die historische [diachronische – C.M.] Lautlehre«. – Ebd., 8, 12. 144 N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285. 145 Ebd., 285. Deshalb kann in der Phonologie die gleiche Methode angewendet werden, die auch bei der Erforschung »des grammatischen Systems« der Sprache zum Tragen kommt und die ebenso an den »sprachlichen Funktionen«, d. h. an »bedeutungsunterscheidenden oder distinktiven Funktion« interessiert ist (N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: ebd., 14). Im Übrigen übernimmt Trubetzkoj, wie Cassirer auf vergleichbare Weise auch, die »drei Bühlerschen Funktionen« der Sprache (ebd., 27). 146 »Mit ein- und derselben grammatischen Struktur läßt sich nur eine beschränkte Anzahl phonologischer Systeme vereinbaren.« – N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285. 139

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V. System, Struktur und Symbol

Trubetzkoj in den Grundzügen (1938), an denen er mindestens seit 1935 arbeitet und über deren Fertigstellung er verstirbt, die Notwendigkeit von »Untersuchungen der Strukturgesetze der phonologischen Systeme«,147 wobei er auf dem »Gebiet der phonologischen Struktur« bestimmte Modalitäten ihrer »binaren Gegensätze« entdeckt hatte.148 Eine klare und eindeutig faßbare Antwort auf die Frage, was letztlich die Struktur eines Systems ausmacht, in welchen Zusammenhang System und Struktur stehen und wodurch sich beide Termini folglich inhaltlich unterscheiden, finde ich in den Grundzügen (1938) nicht. Die »Struktur des […] Systems«, in diesem Falle des phonologischen, scheint mit der Ordnung der einzelnen Laute (Phoneme) »in diesem System« in Zusammenhang zu stehen.149 Die Stelle des einzelnen Phonems im »Phonemsystem« ist gleichbedeutend mit bestimmten bedeutungsrelevanten Oppositionen unter den Phonemen. »Die Struktur der [einzelnen – C.M.] Phonemsysteme« wiederum beruhe auf ihrer jeweiligen »Beziehung zum ganzen [phonologischen – C.M.] Oppositionssystem«.150 Deshalb sei »das Phoneminventar einer Sprache […] nur ein Korrelat des Systems der phonologischen Oppositionen,«151 seiner »bestimmten Ordnung oder Struktur«, welche sich je nach der »verschiedenen Art[…] der phonologischen Oppositionen« erkläre.152 »Die Abhängigkeit des phonologischen [signifi kativen – C.M.] Gehaltes eines Phonems von der Stellung dieses Phonems im phonologischen System und folglich von der Struktur dieses Systems ist eine Grundtatsache der Phonologie.«153

Die Struktur gibt folglich laut Trubetzkoj eine bedeutungsrelevante »innere Ordnung« der Elemente bzw. ihrer Kombination im System vor, sie ist so etwas wie das Grundgesetz der Gegensätze, Oppositionen im System.

N.S. Trubetzkoj, »Einleitung«, in: ebd., 8. N.S. Trubetzkoj, »Autobiographische Notizen«, in: ebd., 285. 149 N.S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (franz. 1938), a. a. O., 57. 150 Ebd., 60. 151 Ebd., 60. 152 Ebd., 60. »Durch die verschiedenen Arten von Oppositionen wird die innere Ordnung oder die Struktur des Phoneminventars als eines Systems von phonologischen Oppositionen bedingt.« – Ebd., 64. 153 Ebd., 65, 66. 147

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Cassirer und die strukturalistischen Linguisten

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C. Die Begriffe System und Struktur bei Roman Jakobson (1931–1944) Von Roman Jakobson ziehen wir für unsere Recherche nur Veröffentlichungen heran, die dieser bis 1945 vorgelegt hat, so daß sie Cassirer – zumindest theoretisch – hätte lesen bzw. zur Kenntnis nehmen können.154 Obwohl Toni Cassirer in ihren Erinnerungen berichtet, daß Jakobson bei der ersten Begegnung mit ihrem Mann erklärt habe, »ein großer Bewunderer seiner Schriften [zu sein – C.M.]«,155 habe ich in seinen Schriften bislang keine Verweise auf Cassirer gefunden. Das gilt u. a. für alle in Sinn und Form (1974) veröffentlichten Texte, die 1970 enden. Daß Jakobson mit Cassirers Philosophie bekannt, vielleicht sogar vertraut war, wird aber auch von Claude Lévi-Strauss bezeugt.156 Cassirer seinerseits zitiert bzw. erwähnt in den amerikanischen Spätschriften, d. h. nach der persönlichen Begegnung mit Jakobson im Jahre 1941, zumindest einige Texte Jakobsons.157 Elmar Holenstein wiederum, 1973 Assistent Jakobsons an der Harvard Universität, deutet dessen linguistischen Strukturalismus als einen »phänomenologischen« bzw. als einen »›Husserlianismus‹« und sucht in Jakobsons Werk ausschließlich nach Berührungspunkten mit Husserl und dessen Phänomenologie.158 Ein eigenartiger Fall ist Jakobsons Schrift Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, die er von Ende 1939 bis Anfang 1941, als Emigrant, in Oslo und Stockholm verfaßt und die von 1940 bis 1942 zunächst in einer schwedischen Zeitschrift und dann 1941 in Uppsala auf Deutsch erscheint, Das sind z. B. aus der Sammlung Form und Sinn (1974) die Texte »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), »Die Struktur des russischen Verbums« (1931/32) und »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« (1935/36), wobei die letzten beiden von Cassirer nicht erwähnt werden. 155 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer (1948), Hamburg 2003, 285. 156 »Il est d’ailleurs possible que quelque chose de l‘enseignement de Cassirer me soit parvenu, sans que je le sache, par l’intermédiaire de Roman Jakobson que, je crois, le connaissant personellement.« – C. Lévi-Strauss an W. Hofmann, 25. Oktober 1971, in: W. Hofmann, »Meine Wege zu Cassirer«, in: Cassirer Studies, ed. by G. Raio and C. Metta, Napoli, II–2009: Theory of Figuration, 55. 157 Zitiert und erwähnt werden von Cassirer folgende Texte von Jakobson: »La Scuola Linguistica di Praga«, in: La cultura 12 (1933), pp. 633–641; »Remarques sur l’évolution phonologique du russe comparée à celle des autres langues slaves«, Prague 1929 (Travaux du cercle linguistique de Prague, Vol. 2); »Sur la théorie des affinités phonologiques des langues«, in: Actes du quatrième congrès international des linguistes. Tenu à Copenhague du 27 Août au 1er Septembre 1936, Copenhague 1938, pp. 48–58; »Franz Boas’ Approach to Language«, in: International Journal of American Linguistics 10/4 (1944), pp. 188–195. 158 E. Holenstein, Jakobson. O estruturalismus fenomenológico (franz. 1975), Lisboa o. J., 53, 104. 154

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V. System, Struktur und Symbol

in einer Zeit also, als sich der Emigrant Cassirer selbst noch in Schweden aufhält, aber bereits mit der Übersiedelung nach den USA beschäftigt ist. Obwohl Titel und Inhalt der Schrift unmittelbar Fragestellungen Cassirers aufnehmen, wie sie in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) aufgeworfen und behandelt werden, erwähnt Jakobson diese weitgehend mit den eigenen übereinstimmenden Überlegungen Cassirers nicht, obwohl er und Cassirer vielfach auf dieselben Autoren und Quellen zurückgreifen.159 Aber auch Cassirer, der ab Herbst 1941 in New Haven (Connecticut) an der Yale University lehrt und publiziert, während Jakobson zur selben Zeit an der New Yorker Ecole Libre des Hautes Etudes und später an der Columbia University tätig ist, an die 1944 auch Cassirer für ein Jahr kommt, scheint er diese Schrift Jakobsons nicht mehr zur Kenntnis genommen zu haben bzw. haben können, obwohl sie in Vielem Einsichten und Thesen seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bestätigt.160 Dies gilt auch für die uns beschäftigende Hinwendung zu System, Struktur und Symbol. Zunächst ist auf eine wichtige Parallele zwischen den Ansichten Jakobsons und Cassirers aufmerksam zu machen: bezüglich der methodischen Das sind u. a. K. Bühler, W. Stern, K. Stumpf, H.G.C. von der Gabelentz, H. Delacroix, A. Pick, P. Broca, K. Goldstein, H. Head, H. Jackson, E. Husserl, H. Liepmann, E. Jaensch und W. Köhler. 160 So erklärt Jakobson das Problem der Aphasie ganz im Sinne von Cassirer als einen Verlust der Fähigkeit, unterschiedliche Wort- bzw. Lautbedeutungen (»distinktiven [phonematischen] Wert [der Laute – C.M.]«) zu erfassen, also durch den Verlust der symbolischen Fähigkeit: »Bei den aphasischen Lautstörungen sind [nicht – C.M.] die Artikulations- oder Hörorgane an sich geschädigt«, sondern die Fähigkeit, »den distinktiven sprachlichen Wert der betreffenden Laute« zu erfassen, es handelt sich also um »die Einschränkung […] der funktionsgemäß unterscheidbaren Laute« (R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze [1941], Frankfurt a. Main 1969, 36, 37); »Das auf [Paul] Brocas klarsehende Formulierungen […] zurückgehende Bestreben der modernen Psychiatrie, alle Erscheinungen des Sprachlebens unter dem Gesichtspunkt ›ihres Symbolcharakters, ihres Zeichenseins‹ zu betrachten […], wird […] immer folgerichtiger angewendet […], also [auch] auf die Lautform der Sprache und demgemäß auf die Lautstörungen […].« (Ebd., 39 f.); »Der Aphasische [verliert – C.M.] das Vermögen […], benachbarte Bedeutungen sprachlich auseinanderzuhalten« (ebd., 42 f.). »Auf welche Ebene die Aphasie sich auch erstreckt, es ist stets die zeichenhafte Funktion der betreffenden Spracheinheiten, die verletzt wird [Anm.]: bei Phonemen ihr distinktiver Wert, beim Wortschatz die lexikalischen und bei den morphologischen und syntaktischen Formen die grammatischen Bedeutungen; […] Anm.: [Henry] Heads Behauptung, jede Spielart der Aphasie befalle in irgendwelcher Weise die ›symbolic formulation‹ der Sprache, behält somit Recht. Übrigens hat schon Saussure diesen Tatbestand scharfsichtig skizziert […].« (Ebd., 44). Cassirer hebt dieselbe Formulierung Heads mehrfach hervor, siehe dazu E. Cassirer, »VI. Zur Pathologie des Symbolbewußtseins«, in: PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, Text und Anm. bearbeitet von J. Clemens, Hamburg 2002, 234–322, hier 239. 159

Cassirer und die strukturalistischen Linguisten

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Richtung der Wissenschaftsentwicklung finden sich bei Jakobson und Cassirer analoge Einsichten. Deshalb kann sich letzterer in den letzten Jahren seines Lebens von der strukturalistischen Linguistik und ihrem Siegeszug vollauf bestätigt sehen. Hatte doch Jakobson bereits 1929 in einem Beitrag über »Romantischen Panslawismus und Neue Slawistik« festgestellt: »›Se quiséssemos caracterizar brevemente o pensamento director da ciência actual nas suas mais variadas manifestações, não encontraríamos expressão mais justa do que e s t r u t u r a l i s m o . Cada conjunto de fenómenos tratados pela ciência actual é encarado, não como um aglomerado mecânico, mas como uma unidade strutural, como um s i s t e m a , e a tarafa fundamental é a de descobrir as suas leis intrínsecas – tanto estáticas como dinâmicas. Não é a impulsionação exterior, mas as condições interiores da evolução, não é a génese na sua aparência mecânica, mas a função, que estão no centro do interesse da ciência actual.‹« 161

Und einige Jahre später, 1936, schreibt Jakobson erneut in diesem Sinne die Beobachtung nieder, daß das Eintreten der russisch-tschechischen ›Prager Schule‹ der Linguistik für das »strukturalistische, ganzheitliche Verfahren auf dem Gebiet der Sprachund Literaturwissenschaft, sowie der Zeichenlehre überhaupt […] ein kennzeichnendes Beispiel für Tendenzen [ist], welche […] gemäß einer inneren Notwendigkeit in der Weltwissenschaft hervortreten«.162

Eine Beobachtung, die Cassirer vor 1941 wohl ohne Zögern unterschrieben hätte, und die er nach 1941 auf analoge Weise, fast mit gleichen Worten, zum Ausdruck bringt. In den für den vorliegenden Beitrag ausgewerteten Beiträgen Jakobsons ist viel von Systemen,163 Teilsystemen und Strukturen der SpraR. Jakobson, »Romantické všeslovanstvi – nová slavistika« (1929), zitiert nach: E. Holenstein, Jakobson. O estruturalismo fenomenológico (franz. 1975), a. a. O., 53. 162 R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), in: Form und Sinn. Sprachwissenschaft liche Betrachtungen. München 1974, 31. 163 Im Sinne de Saussures betrachtet Jakobson die »slavischen Sprachsysteme« (R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], in: Form und Sinn, a. a. O., 79) in ihren Systemeigenschaften, interessiert sich für den »Bau des gesamten Systems« (ders., »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« [1936], in: ebd., 32), schenkt Subsystemen wie dem »System der sozialen Lautwerte« (ders., »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« [1936], in: ebd., 32), dem »grammatische System« einer Sprache (ders., »Die Struktur des russischen Verbums« [1931/32], in: ebd., 57; ders., »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], in ebd., 77, 80), dem »System des russischen 161

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V. System, Struktur und Symbol

chen163a bzw. Sprachlehren164 die Rede. Jakobson übernimmt die von Trubetzkoj entwickelte Phonologie mit all ihren Implikationen, folglich auch das »System der Phoneme«, und schenkt seinen »Baugesetzen« große Aufmerksamkeit.165 Werden »Sprachlautsysteme«166 bzw. »Lautsysteme«167 phonologisch aufgefaßt, dann, so Jakobson, weist »der Bau des Laut- und Farbensystems […] markante Übereinstimmungen auf«.168 Auf die Nähe von Wahrnehmungs- und Sprachstrukturen weist auch Cassirer in seinen Schriften und Vorträgen immer wieder hin.169

Verbums« (ders., »Die Struktur des russischen Verbums« [1931/32], in: ebd., 57, 63) als »einem System einiger Korrelationen« (ebd., 57) ebenso Aufmerksamkeit wie dem »Vokalsystem« und dem »Konsonantensystem« (ders., Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze [1941], a. a. O., 65, 102, 111, 122) als zwei »Teilsystemen« der Sprache (ebd., 122) oder dem »ganzen Kasussystem« (ders., »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], in: ebd., 80) bzw. dem »Gesamtsystem der Kasusgegensätze« (ebd., 83) und schließlich auch der »Untersuchung der Struktur dieses [Kasus-]Systems« (ebd., 80), wobei das »System der präpositionalen Fügungen« kein »Kasussystem« sei (ebd., 82). 163a Jakobson befaßt sich ebenso mit der »Struktur des russischen Verbums« (R. Jakobson, »Die Struktur des russischen Verbums« [1931/32], in: Form und Sinn, a. a. O., 55) wie mit der »Grundlage der Sprachstruktur« (ebd., 65), mit der »Untersuchung der Struktur dieses [Kasus-]Systems« (ders., »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], in: ebd., 80) oder mit der »allgemeinen Struktur des Kasussystems« (ebd., 83), er will ganz grundsätzlich die »Strukturgesetze« der »Sprachlautsysteme« aufdecken (ebd., 90). 164 So konzipiert und erprobte Jakobson sowohl eine »strukturale Sprachlehre« (R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« [1936], in: Form und Sinn, a. a. O., 32) als auch eine »strukturale Grammatik« (ebd., 32; ders., »Zur Struktur des russischen Verbums« [1931/32], in: ebd., 66 Anm.*; ders., »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], 80). 165 Deshalb lesen wir u. a. von der notwendigen Analyse des »phonologischen Systems einer Sprache« (R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« [1936], in: Form und Sinn, a. a. O., 32), vom »System der Phoneme« (ders., Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze [1941], a. a. O., 28) bzw. den »Phonemsystem[en]« (ebd., 74, 78, 83, 91, 93, 119, 124, 125, 130), vom »Aufbau des Phonemsystems« (ebd., 30), dem »Auftreten der Phoneme im Sprachsystem« (ebd., 31), dem »Phonemsystem, oder […] dem System der bedeutungsunterscheidenden Lautwerte« (ebd., 38) oder den »Baugesetzen des Phonemsystems« (ebd., 47). Jakobson konstatiert dabei einen »stufenförmigen Aufbau des Sprachsystems« (ebd., 87) und interessiert sich für den »Bau jedes einzelnen morphologischen oder syntaktischen Teilsystems« (ebd., 131). 166 R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941), a. a. O., 90, 117. 167 Ebd., 91. 168 Ebd., 114. 169 Sieh dazu u. a. im vorliegenden Band den Beitrag »Kunst und Sprache als zwei symbolische Formen in nachgelassenen Schriften Cassirers«, 527–544.

Cassirer und die strukturalistischen Linguisten

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Systeme besitzen eine Struktur, die aufgedeckt werden muß und kann,170 dabei lassen sich Typen von System unterscheiden.171 Sowohl der Linguist als auch der Philosoph fassen ein System als eine Ganzheit auf.172 Seine Glieder, Teile oder Elemente befinden sich in einer bestimmten Ordnung, in einem bestimmten stufenförmigen »Aufbau«,173 u. a. bilden sie Gegensätze, Oppositionen, worauf Cassirer in seiner Systemauffassung ganz offensichtlich weniger Wert zu legen scheint.174 Auch Jakobson behandelt das Sprachsystem als ein Zeichensystem.175 Er untersucht im Besonderen das »kindliche Sprachlautsystem«176 und den »aphasischen Abbau des Sprachlautsystems«,177 wobei er beide einer »systematischen vergleichbaren Analyse« unterwirft.178 Den Linguisten Hjelmslev zitierend bringt Jakobson die von Cassirer geteilte Einsicht zum Ausdruck, wonach der »›ganzheitliche Standpunkt […] das System zugleich zum Ausgangspunkt und zum Endziel der Forschung‹« macht.179 Jakobson vertritt zudem – ebenfalls – die Überzeugung, daß die »sprachlichen Zeichen und […] die grammatischen Formen«, verstanden als »reine Gegensatz-Werte«, »durch den Bau des gesamten Systems beJakobson fordert »die Untersuchung der Struktur dieses [Kasus-]Systems« (R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], in: Form und Sinn, a. a. O., ebd., 80), d. h., der »allgemeinen Struktur des Kasussystems« (ebd., 83). 171 Ebd., 80. 172 Ihm gilt z. B. das »Kasussystem als eine Ganzheit« (ebd., 83). 173 »Im Aufbau des Phonemsystems« z. B. werden »die weniger strukturierten Einheiten […] durch immer mehr strukturierte ersetzt, und dementsprechend fi nden alle Fundierungsgesetze in der Überschichtung der einfacheren und gröberen Gegensätze durch feinere und differenziertere ihre Erklärung«, ein sehr stark phänomenologisch anmutende Aussage. (R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze [1941], a. a. O., 125). Dies spiegelt sich u. a. in der »hierarchischen Reihenfolge im Aufund Abbau« der Sprache, in ihrem »Schichtenbau« wieder (ebd., 132). 174 Deshalb ist bei Jakobson, wie bei Trubetzkoj, vom »System der sprachlichen Gegensätze« die Rede (R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« [1935/36], in: Form und Sinn, a. a. O., ebd., 83), er untersucht das »Gesamtsystem der russischen Kasusgegensätze« (ebd., 116). 175 Er deutet, vergleichbar mit de Saussure, den er später allerdings dafür kritisiert, »die Sprache als System willkürlicher Zeichen« (R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze [1941], a. a. O., 32). 176 Ebd., 9. 177 Ebd., 39. Nach dem Abbau bilden die Reste noch »ein geordnetes, wenn auch verarmtes System« (ebd., 38). Jakobson unternimmt »eine systematische Zusammenstellung« der »Lautentsprechungen zwischen den beiden Reihen« der unreifen Kindersprache und der der Aphasie-Kranken (ebd., 80). 178 Ebd., 7. 179 R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« (1935/36), in: Form und Sinn, a. a. O., 82. 170

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V. System, Struktur und Symbol

stimmt werden«.180 Um wiederum die »innere, immanente Entwicklung des Sprachsystems«181 feststellen und erklären zu können, müsse das bislang vernachlässigte »Studium der Strukturgesetze der [einzelnen – C.M.] Sprachsysteme« in den Mittelpunkt treten.182 Der Strukturbegriff wird von Jakobson demnach auch als Kennzeichnung eines bestimmten methodischen Verfahrens herangezogen, so arbeite man u. a. an einer »ganzheitlichen strukturellen Morphologie« der Sprache183 bzw. an »strukturalistischen, ganzheitlichen Verfahren«,184 bemühe sich um eine »strukturelle Analyse des Spracherwerbs«.185 Der ›Prager linguistische Zirkel‹ insgesamt strebe eine »strukturale Sprachlehre« an,186 bei der die Grammatiklehre, als »Formenlehre«, auch als eine »strukturale Grammatik« verstanden ist, die es mit »der Bedeutungsfrage« zu tun hat.187 »Strukturale Grammatik« und »grammatisches System« stehen also in einem bestimmten Verhältnis, so besitzt das russische Verb als eine grammatische Kategorie eine Struktur und ein System,188 wobei ihm die »Baugesetze« der »Kasussysteme« offenbar als Strukturgesetze gelten.189 Während Cassirer mit Struktur eher ein Prinzip der Bildung einer Reihe oder Ordnung zu meinen scheint, ist bei Jakobson die Struktur für eine bestimmte Anordnung von Grundverhältnissen verantwortlich, die immer wiederkehrt und folglich Übertragungen bzw. Übersetzungen »in […] ein R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), in: Form und Sinn, a. a. O., 32.»So darf man nicht […] das Auftreten einzelner Laute ohne Rücksicht auf ihre Stelle im Lautsystem isoliert behandeln.« (ders., Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze [1941], a. a. O., 91). 181 R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941), a. a. O., 16. 182 Ebd., 17. 183 R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« (1935/36), in: Form und Sinn, a. a. O., 80. 184 R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), in: ebd., 31. 185 R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941), a. a. O., 19. 186 R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), in: Form und Sinn, a. a. O., 32. 187 Ebd., 32; siehe auch ders., »Zur Struktur des russischen Verbums« (1931/32), in: ebd., 66 Anm.*; ders., »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« (1935/36), in: ebd., 80. 188 »Das System des russischen Verbums […] läßt sich […] restlos auf ein System einiger Korrelationen zurückführen«. – R. Jakobson, »Die Struktur des russischen Verbums« (1931/32), in: Form und Sinn, a. a. O., 57. 189 R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« (1935/36), in: ebd., 121. Der »asymmetrische Bau des sprachlichen Zeichens« gilt ihm als eine der »Antinomien«, die »die Grundlage der Sprachstruktur« bilden. – ders., »Die Struktur des russischen Verbums« (1931/32), in: ebd., 65. 180

Cassirer und die strukturalistischen Linguisten

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anderes Zeichensystem« zuläßt;190 ein Problem, das in Cassirers Philosophie weitgehend ausgespart bleibt, da die Struktur- bzw. Bildungsprinzipien bestimmter Ordnungssysteme eher auf ihre Eigenständigkeit, Einmaligkeit, Eigenartigkeit hin betrachtet werden. Jakobson operiert, hierbei wieder wie Cassirer, mit dem allgemeinen Begriff des Ausdrucks und unterscheidet geistige Ausdrucksformen, wie z. B. die emotionale »Dichtungssprache« und die »Darstellungssprache« als zwei »Funktionen« der Sprache.191 Gleichzeitig kennt er einen engeren Ausdrucksbegriff, wenn er bei seinen Sprachstudien ganz im Sinne Cassirers »den […] Übergang vom Gefühlsausdruck zur darstellenden Sprache« bemerkt.192 Wobei die Zeichenfunktion der Sprache vor allem an die »darstellende Funktion« der Sprache gebunden wird.193 Wenn Jakobson zum Ausdruck bringt, daß an einer »allgemeinen Zeichenlehre (Semiotik)«, an der auch die Linguisten arbeiten, zu unterscheiden sei, welche Elemente »für das sprachliche Zeichensystem selbst spezifisch sind und welche hingegen Allgemeingut der Zeichenwelt überhaupt sind«,194 dann könnte dieses Satz auch von Cassirer stammen. Was ihn als Anhänger der Phonologie im Gegensatz zur Phonetik ebenfalls mit Cassirer eint, ist die Überzeugung, daß Strukturalismus neben System- und Strukturbetrachtung außerdem – oder vor allem – Bedeutungslehre, Erforschung der signifi kativen Seite der Sprachlaute ist, wird doch in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ebenfalls das Hauptaugenmerk auf die Bedeutung[en] gelegt. Für den Sprachwissenschaftler bildet deshalb die – systemtheoretisch zu beantwortende – »Frage der Gesamtbedeutungen der grammatischen Formen« die »Grundlage der Lehre von dem grammatischen System der Sprache«.195 Zum »Gebiete der Zeichenlehre (Semiologie und insbesondere Sprachlehre)« gehören unbedingt »die Fragen der Bedeutung«.196 Auch die moderne Forschung zur »SprachpatholoR. Jakobson, »Die Suche nach dem Wesen der Sprache« (1966), in: ebd., 21; ders., »Der Begriff der grammatischen Bedeutung bei Boas«, in: ebd., 73; ders., »Die Sprache in ihrem Verhältnis zu anderen Kommunikationssystemen« (1970), in: ebd., 173. 191 R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), in: ebd., 33 f. 192 R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941), a. a. O., 100. 193 R. Jakobson, »Die Arbeit der sogenannten ›Prager Schule‹« (1936), in: Form und Sinn, a. a. O., 33 f. 194 Ebd., 34. 195 R. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre« (1935/36), in: ebd., 77. Erweist sich doch die »Gesamtbedeutung jedes Kasus [d. h. einer bestimmten Sprachform – C.M.] ›durch das ganze Kasussystem der gegebenen Sprache bedingt‹ und kann nur durch die Untersuchung der Struktur dieses Systems festgesetzt werden«. (Ebd., 83). 196 Ebd., 77 f. 190

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gie« belege dies indem sie auf das Problem des »Hineinschreiten[s] aus der Sphäre des Lautes in die des Sinnes« stoße (A. Pick), und folglich unweigerlich auf die »Phonologie«, deren sie bedarf.197 Jakobson konstatiert hier also einen gewissen Gleichklang von moderner strukturalistischen Linguistik (Phonologie) und moderner Sprachpathologie (Broca, Pick, Goldstein).198 Cassirer wiederum dient die moderne Sprachpathologie u. a. als Beleg für die Aktualität der »Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Gestaltung der Sprache und der Struktur der Wahrnehmungswelt«.199

D. Epilog In späteren Schriften, die nach Cassirers Tod (1945) entstanden sind, hält Jakobson an seiner systemtheoretischen 200 und strukturtheoretischen 201 Sprachauffassung fest, auch daran, daß dabei das Problem der Bedeutung nicht ausgespart werden darf.202 Ebenso hat er weiterhin die Bezüge auf die entsprechenden Ansätze bei de Saussure im Blick, die kritisch gewürdigt und herangezogen werden. 203 Der später von Lévi-Strauss stark gemachte methodologische Begriff des Modells (Strukturtypen) figuriert ebenso in

197

R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941), a. a. O.,

40. Ebd., 41, »Die neuesten pathologischen Arbeiten kommen dieser Feststellung [daß eine rein linguistische Einteilung der aphasischen Störungen erforderlich ist – C.M.] immer mehr entgegen.« (Ebd., 45). Außerdem verweist Jakobson zur Bekräftigung seiner Vergleiche von Sprachwissenschaft und Pathologie auf N. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie (1938), E. Husserl, LU II (1913) und C. Stumpf, Die Sprachlaute (1926) (ebd., 47). 199 E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, a. a. O., 237. »Das pathologische Verhalten hat gewissermaßen die Kraft des geistigen Impulses eingebüßt, der den Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen und des unmittelbar Begehrten hinausdrängt.« – Ebd., 321. 200 R. Jakobson, »Zeichen und System der Sprache« (1959), in: Form und Sinn, a. a. O., 9, 10, 11); ders., »Die Suche nach dem Wesen der Sprache« (1966), in: ebd., 17, 21, 23, 24, 28; ders., »Die Sprache in ihrem Verhältnis zu anderen Kommunikationssystemen« (1970), in: ebd., 162, 163, 167, 172 f., 173, 174. 201 R. Jakobson, »Zeichen und System der Sprache« (1959), in: ebd., 8, 21, 22 f., 24, 26, 27; ders., »Der Begriff der grammatischen Bedeutung bei Boas« (nach 1957), in: ebd., 72, 73, 74; ders., »Die Sprache in ihrem Verhältnis zu anderen Kommunikationssystemen« (1970), in: ebd., 162, 163, 167, 169, 172, 173, 174. 202 R. Jakobson, »Der Begriff der grammatischen Bedeutung bei Boas« [nach 1957], in: ebd., 72, 74. 203 R. Jakobson, »Die Suche nach dem Wesen der Sprache« (1966), in: ebd., 17. 198

Cassirer und die strukturalistischen Linguisten

735

diesen Texten wie die Begrifflichkeit der Zeichentheorie hinsichtlich der Sprache.204 Für den ›reifen‹ Jakobson ist Sprache kein »ganz gleichförmiges, monolitisches System. Die Sprache ist [vielmehr – C.M.] ein System der Systeme, ein Gesamtcode […], der verschiedene Sondercode […] [einschließlich einen Grundcode – C.M.] enthält«,

die sich in einer »gesetzmäßigen Hierarchie« (Struktur) befinden.205 Mit Blick auf die Zeichentheorien von Peirce (1867) und de Saussure bzw. die moderne Linguistik (seit Ende des 19. Jahrhunderts) wirft Jakobson 1966 in einem Beitrag die Frage auf, ob zwischen bestimmten Ideen in der Wissenschaftsgeschichte eine »genetische Beziehung« bestehe oder ob wir es mit einem »zufälligen Auftreten gleicher Ideen zur gleichen Zeit« zu tun hätten, habe doch die moderne Linguistik immer noch keine Kenntnis von Peirce und seiner Zeichentheorie genommen.206 Diese methodische Frage wird auch im vorliegenden Projekt mehrfach gestellt: einerseits in Bezug auf die den Strukturbegriff bemühenden Systemtheorien der Linguisten de Saussures, Trubetzkojs, Jakobsons und des Philosophen der symbolischen Formen, andererseits in Bezug auf die System-Strukturbegriffe beim Philosophen Cassirer und beim Ethnologen / Anthropologen Lévi-Strauss. Für eine begründet Antwort auf diese Fragen scheint es momentan noch zu früh zu sein.

R. Jakobson, »Zeichen und System der Sprache« (1959), in: ebd., 8; ders., »Die Sprache in ihrem Verhältnis zu anderen Kommunikationssystemen« (1970), in: ebd., 163, 167, 169, 172, 174; ders., »Zeichen und System der Sprache« (1959), in: ebd., 8, 9, 14; ders., »Die Suche nach dem Wesen der Sprache« (1966), in: ebd., 17, 18, 19, 21, 22f, 23, 28, 29; ders., »Der Begriff der grammatischen Bedeutung bei Boas«(nach 1957), in: ebd., 73. 205 R. Jakobson, »Zeichen und System der Sprache« (1959), in: ebd., 10, 11. 206 R. Jakobson, »Die Suche nach dem Wesen der Sprache« (1966), in: ebd., 15. Cassirer wiederum erwähnt Peirce 1907 ein erstes Mal, allerdings im Zusammenhang mit Schroeder und Russel (E. Cassirer, »Kant und die moderne Mathematik« [1907], in: ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften, Text und Anm. bearbeitet von M. Simon, Hamburg 2001, , 41), 1923 ein weiteres Mal in einem analogen mathematisch-logischen Kontext (E. Cassirer, PSF, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis ([1929], in: ECW 13, a. a. O., 400 Anm. 81), ebenso zwei Mal 1929 (E. Cassirer, Beiträge für die Encyclopedia Britannica, in: ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anm. bearbeitet von T. Berben, Hamburg 2004, 318, 366) und noch einmal 1936 (E. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem, in: ECW 19, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Hamburg 2004, 109), allerdings niemals im Zusammenhang mit dessen Zeichentheorie. 204

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Verzeichnis verwendeter Siglen

PhB

CF ECB ECN

ECW EP GA GA

GS

GS

GW

GW

HA

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Hua

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Personenverzeichnis

Abbott. Thomas Kingsmill 266, 268, 270, 272, 278, 762 Adams, William George Steward 261 Adickes, Erich 274, 745 Adler, Friedrich 172, 745 Adler, Max 171, 172, 745 Albert, Karl 28, 106, 745 Albrecht, Renate 743 Althusius, Johannes 163, 180, 198, 200, 757 Anschütz, Gerhard 163, 191, 201– 202, 745 Antigone 213 Appelbaum, Anne 6, 23, 55, 79, 101, 106, 177, 258, 295, 312, 326, 345, 387, 397, 439, 469, 528, 592, 682, 750 Ariadne 275, 458, 761 Aristoteles 273, 421, 426, 430, 542, 546, 695, 775 Arnaud, Eraldo 556, 749 Arndt, Andreas 739 Arteaga, Alex 740 Augustinus, Aurelius 286, 761 Bacon, Francis 157, 368 Baeck, Leo 134, 774 Baillie, James Black 277–278, 286, 289, 760 Bally, Charles 714, 772 Barash, Jeffrey Andrew 608 Barlowitsch (Barlovič), E. (Барлович, Е.) 527, 749 Bartolomei, Maria Cristina 546, 556, 740, 745 Bassenge, Friedrich 489, 760

Bast, Rainer A. 6–7, 21, 23, 55, 79, 101, 106, 177, 258, 295, 312, 326, 345, 387, 397, 439, 469, 528, 592, 682, 745–746, 750 Bauch, Bruno 133–134, 163, 176, 191, 194–195, 200, 248, 250, 746, 753, 774 Baudouin de Courtenay, Jan Ignacy Niecislaw 722 Bauer, Otto 172, 746 Baumgardt, D. 263, 750 Beardsley, Monroe C. 264 Beaufret, Jean 503, 761 Becker, Ralf 119, 131, 230, 386, 530, 747 Behr, Michael 75, 774 Below, Georg von 163, 200 Benn, Gottfried 367–370, 746 Berben, Tobias 4, 16, 25, 32, 56, 64, 71, 83–84, 107–108, 116, 131, 155, 174, 180, 233, 255, 294, 306, 321, 329, 389, 415, 420–421, 470, 530, 539, 557, 573–574, 591, 598, 656, 658, 667, 682, 735, 747–749 Bergbohm, Karl 230 Bergson, Henri 29–30, 33–34, 37, 40, 47, 55, 62, 76–77, 80, 86–87, 89, 106–107, 489, 565–566, 570, 572– 574, 577–578, 583, 667, 769 Berkeley, George 271, 347, 573, 666 Berliner, Arnold 341, 773 Bermes, Christian 124, 771 Bernard, John H. 272, 762 Bertalanff y, Ludwig von 433, 463, 710, 770 Bertrand, Alexis. 574, 765

780

Personenverzeichnis

Besoli, Stefano 345, 768 Beyer, Wilhelm Raimund 219, 746 Biancu, Stefano 546, 559, 746 Biemel, Marly 761 Biemel, Walter 761 Bimbenet, Étienne 609, 746 Blanshard, Brand 264 Bloomfield, Leonard 712 Blumenthal, Lieselotte 348, 369, 758 Bluntschli, Johann Caspar 162, 230 Boas, Franz 645–646, 675, 697, 727, 733–735 Böhme, Karl 133, 164, 193, 196, 199, 203, 251, 745–746, 758, 767, 775, 777 Bohr, Jörn 256, 493, 530, 748, 749 Bohr, Niels 400 Bonaldi, Claudio 529, 746 Bopp, Franz 707 Bourdieu, Pierre 609, 764 Braga, Joaquim 740 Braun, Hans-Jürg 29, 105, 130–131, 137, 155, 157, 174, 746, 757, 761, 769, 776 Bredekamp, Horst 740 Breitscheid, Rudolf 195 Broca, Paul 728, 734 Brøndal, Viggo 462, 704–705, 709, 711, 713–714, 746 Bruendel, Stefan 163–164, 167, 176, 189, 191, 197, 199, 201, 251, 746 Brunot, Ferdinand 705 Brunstädt, Friedrich 290, 760 Buchenau, Artur 268, 763, Bühler, Karl 356, 611, 708, 721, 725, 728 Buek, Otto 268, 763 Burckhardt, Jacob 84–85, 155, 290, 424 Capeillères, Fabien 205, 229, 747

Carlyle, Thomas 75, 153–154, 227 Carnap, Rudolf 113, 296–297, 304, 325, 328, 332–337, 340, 345–346, 359, 361–366, 398, 454, 529, 532, 700, 739, 747, 773 Carus, Carl Gustav 372, 747 Carus, Paul 266, 272, 275, 763 Cassirer, Heinrich 274, 753 Cassirer, Toni 256, 258, 260–263, 493, 611, 705, 727, 748, 753 Caussat, Pierre 608, 753 Chang, Wei Shi 277, 753 Charybdis 276 Chichele, Henry 260 Ciavatta, Lorenzo 739 Clemens, Julia 4, 9, 20, 30, 63, 96, 106, 114, 255, 313, 350, 397, 449, 453, 468, 513, 528, 530, 547, 550, 567, 597, 642–643, 666–667, 728, 747, 749 Cohen, Hermann 3–11, 14, 31–32, 75, 91, 106, 133, 161, 164, 166, 175–176, 184, 187, 193–195, 197– 202, 204, 206–207, 231, 242–243, 245, 247–249, 251–254, 256, 268, 293–294, 468, 493, 545, 748, 752, 753, 763, 771 Cohen, Martha 256, 493, 748 Colli, Giorgio 744 Comte, Auguste 13, 496, 667, 683 Cornelius, Hans 537, 754 Cousin, D.R. 286, 761 Croce, Benedetto 461 Cunow, Heinrich 171, 754 Cuvier, Georges 431, 462, 638, 650, 657, 685, 710 Dahme, Heinz-Jürgen 3, 754 Danek, Jaromir 5, 754 Darwin, Charles 27, 289, 390, 429, 431–432, 439, 687, 698, 716

Personenverzeichnis

Delacroix, Henri 728 Delbrück, Hans 163, 191 Delitz, Heike 566, 568–571, 573, 575, 577, 581, 588–589, 754 d’Eramo, Marco 631, 765 Descartes, René (Cartesius) XI. 55, 57, 87, 256, 259, 270–271, 354, 360, 430, 598, 658, 683, 748 Dessoir, Max 136, 189 Dewey, John 87 Diderot, Denis 495 Dilthey, Wilhelm 4, 25, 27–28, 31– 33, 37, 55, 58, 62, 64–70, 72–73, 76–77, 80, 106, 109, 132, 211, 235, 237, 277, 286, 346, 358, 386, 406, 442–443, 470, 479–480, 494, 592, 651, 656, 683, 690–691, 743, 754, 767, 769–771 Dionysos 76, 78, 89 Dmitrieva, Nina (Дмитриева, Нина. 527, 738, 755, 759 Drack, Manfred 433, 755, 770 Driesch, Hans 434, 683 Du Bois-Reymond, Emil 367, 755 Durkheim, Émile 639, 648, 674 Dux, Günther 743 Dyde, Samuel W. 277, 760 Ehrenfels, Christian von 709 Einem, Herbert von 372, 758 Einstein, Albert 195, 330–331, 446– 447, 527, 749–750, 755, 773 Endres, Tobias 740, Englmann, Felicia 738, Engels, Friedrich 68, 171, 221–222, 635–636, 744, 755, 766 Engler, Finn Ole 255, 329, 331–332, 335, 446, 547, 739, 755, 768, 776 Ernst, Peter 772 Etterson, Julie R. 425, 755, 757 Eucken, Rudolf 164, 201

781

Euklid 476, 620, 683, 686 Ewing, Alfred Cyril 273, 755 Faehndrich, Jutta 259, 750 Falter, Gustav 237, 755 Favuzzi, Pellegrino XII. 161, 230, 740, 755–756, 759, 763, 769 Fellmann, Ferdinand 28, 106, 756 Ferrari, Massimo 29, 60, 86, 106, 139, 141, 166, 168, 199, 252, 326, 330– 331, 345, 470, 756, 768 Fetz, Reto Luzius 738, 756, 775 Feuerbach, Ludwig 222, 775 Fichte, Johann Gottlieb 87, 134, 147, 166, 175, 196–198, 206–207, 210, 231, 234, 236, 239, 241, 243–249, 251, 253, 274, 280–281, 597, 682– 683 Fiedler, Konrad 543, 756 Fingerhut, Jörg 170, 258, 295, 325, 346, 390, 404, 419, 452, 528, 686, 749 Fitch, Frederic B. 264 Fitzi, Gregor 68, 80, 774 Focht, Boris A. (Фохт, Борис А.) 527, 756 Frazer, James George 614 Frede, Dorothea 109, 130, 756, 772– 773, 776 Freud, Siegmund 470, 628, 772 Freytag 84 Friedrich Wilhelm [II.] 8, 31, 109, 130, 192, 237, 256, 259, 329, 367, 755, 765, 776 Fries, Jakob Friedrich 274 Frings, Manfred S. 743 Frischeisen-Köhler, Max 8, 33, 77 Fülberth, Georg 171, 763 Gabelentz, Hans Georg Conon von der 728

782

Personenverzeichnis

Galilei, Galileo 29, 462, 597, 667, 753 Galloway, Laura F. 425, 755, 757 Gans, Eduard 237, 759, 760 Garcia, Rafael 740 Gardiner, Alan Henderson 721 Gawoll, Hans-Jürgen 3, 757 Gawronsky, Dimitri 4, 5, 7, 757 Gehlen, Arnold 320, 324, 757 Geiger, Moritz 261, 750 Gelb, Adhémar 514, 516, 541 Gentile, Giovanni 211–212 Gerhardt, Volker 24, 26, 64, 76, 105, 130–131, 137, 155, 157, 174, 179, 294, 757, 767, 771 Giel, Joanna 528, 767 Gierke, Otto von 162–164, 180, 193, 196, 198, 200–201, 230, 757 Glockner, Hermann 283, 290, 760 Gobineau, Arthur Graf 90, 153, 154, 227 Görland, Albert 268, 763 Görland, Ingtraut 467, 761 Goethe, Wolfgang von 4, 30, 32–34, 52, 55, 58, 60–61, 67–73, 75–76, 78, 86, 96, 108, 113, 117, 119–120, 138, 152, 174, 295–297, 308–309, 322, 328, 345–350, 352–358, 360, 362–363, 366–395, 398, 404, 408–409, 411, 415, 421, 425, 428, 431–432, 454, 469, 470, 473, 483, 485, 489, 498–499, 500, 503, 529, 531–532, 535–536, 542, 555, 573, 647, 650, 657, 666–671, 707, 710, 739, 743, 746–748, 751–753, 755, 757–758, 764, 767–768, 770, 773, 776 Goldschmidt, James 230 Goldstein, Kurt 136, 512–515, 541, 728, 734, 750 Goldstein, Lucien 29 Graeser, Andreas 7, 759

Grifzowa (Grifcova), I.N. (Грифцова, И.Н.) 528, 738, 755, 759 Grillo, Andrea 546, 559, 746 Groethuysen, Bernhard 66–67, 311, 358, 593, 754–755 Großheim, Michael 28, 759 Grotius, Hugo 135, 144, 198 Guidetti, Luca 345, 768 Haase, Hugo 195 Hänel, Michael 162, 189, 194–195, 759 Haesler, Aldo J. 15, 759 Haines, Charles Grove 230 Haldane, Elizabeth S. 278, 760 Haldane, John Burdon Sanderson 463 Hamada, Yosuke XII. 173, 308, 511, 756, 759 Hartmann, Eduard von 25, 434 Hartmann, Nicolai 437 Hartung, Gerald 259, 312, 314–315, 530, 686, 695, 705, 749, 759 Haym, Rudolf 237, 287, 759 Head, Henry 728 Hecker, Max 113, 296, 352–353, 387, 758 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm X. 24–25, 32, 55, 57, 66–67, 84, 90, 94–95, 105, 116, 118, 120–121, 133–134, 139–140, 146, 153–155, 163–168, 170–171, 175–176, 191, 197–199, 205–226, 229, 231, 233–237, 240–249, 252, 255, 257, 259–260, 262–264, 266, 274, 277–290, 295, 375, 386, 389, 390, 394, 404, 411, 415, 420, 422–424, 426, 428–435, 440, 449, 467–485, 487–492, 496–497, 532, 593, 607, 668, 682–689, 695, 738–739, 746, 748, 750, 752–753, 755, 759–761, 764, 766, 769, 771–772, 775, 777

Personenverzeichnis

Heidegger, Martin 3, 27–29, 87, 113, 123, 125, 129, 132, 136, 179, 186, 258, 451, 467, 468, 472, 481, 493– 494, 496, 503–509, 739, 743, 752, 757, 759–761, 763, 767 Heidenbrink, Ludger 29, 761 Heilinger, Jan-Christoph 738 Heller, Hermann 211, 215, 245, 278, 287–290, 759, 761 Helmholtz, Hermann von 367, 683 Hendel, Charles W. 262–264, 286– 287 Herder, Johann Gottfried 71, 232, 498 Hesoid 236 Heusden, Barend van 458, 761 Hilbert, David 667, 684 Hjelmslev, Louis 731 Hobbes, Thomas 213, 280, 346, 695 Hölderlin, Friedrich 8, 72, 76, 347, 388, 503, 506, 748 Hofmann, Paul 562 Hofmann, Werner 607, 609–610, 612, 615, 727, 761 Hoffmann, Christoph 448, 773 Hoffmann, Ernst 286, 761, 763 Hoffmeister, Johannes 467, 760 Holborn, Hajo 219, 263, 286–287, 761 Holenstein, Elmar 591, 727, 729, 762 Holzhey, Helmut 29, 105, 130, 174, 326, 330–331, 746, 756–757, 761, 763, 770, 776 Homer 236 Humboldt, Wilhelm von IX. 19, 24, 60, 120, 138, 202, 230, 244, 460– 461, 463, 489, 498, 531, 608, 633, 656–657, 675, 710, 714, 751, 753, 761, 770 Hume, David 271, 276 Husserl, Edmund XI, XII. 5, 20, 26–

783

29, 87, 100, 129, 136–137, 179, 293, 297, 311–312, 345, 355, 359–360, 472, 479–483, 491, 501, 504–505, 508, 529, 532, 565, 585, 587, 591, 594, 596, 677, 727–728, 734, 739, 743–744, 761, 767–770 Ihrering, Rudolph von 230 Ijsseling, Samuel 744 Irrlitz, Gerd 468, 478, 762 Iven, Matthias 255, 446, 547, 739, 762, 768 Jackson, Hughlings 728 Jaensch, Erich Rudolf 728 Jacobsson, Malte 261–263, 750 Jaeschke, Walter 235, 469, 777 Jakobson, Roman 462, 607, 609, 611, 615, 631–632, 655–656, 694, 703– 705, 708–710, 713–714, 721, 725, 727–735, 762 James, William 87, 522–523 Jellinek, Georg 162, 180–181, 198– 200, 230, 762 Jesperson, Otto 697, 705 Jones, L.E. 162, 189, 759 Jünger, Ernst 29 Juschkewitsch (Juškevič), P. (Юшкевич, П.) 527, 749, 763 Kaegi, Dominic 179, 757, 772 Kaiser, R. 17, 50, 76, 116, 138, 162, 317, 515, 588, 696, 707, 749 Kaplun, Viktor 737 Kapp, Ernst 521, 763 Kaufmann, Erich 230 Kautsky, Karl 171–172, 763, 765 Kant, Immanuel X. 4–15, 20, 24, 29, 31, 55, 57, 59–60, 64, 66–67, 70– 72, 75, 88, 105–106, 108, 120, 130, 133–135, 137–138, 140–142, 154,

784

Personenverzeichnis

157, 161–162, 166, 175, 178, 190, 193–195, 197–199, 207, 210, 224, 231–236, 239–243, 245, 247–253, 255–257, 259–280, 282–285, 287– 290, 294–295, 312, 315, 325–326, 328, 330–331, 339, 345, 354, 358, 386, 388, 420–421, 430–431, 446, 451–452, 455, 460, 468, 470, 472– 475, 477–480, 486, 489, 493–494, 521, 529, 543, 546, 566, 573–574, 585, 592, 597, 601, 656–657, 660, 662–664, 667–668, 677, 682, 695, 707, 738–739, 745–746, 749, 751– 757, 761–764, 768–770, 773–776 Katz, David 620 Kellermann, Benzion 268, 763 Kemp Smith, Norman 273, 275, 763 King, Colin G. 738 Kirchmann, Julius Herrmann von 762–763 Klages, Ludwig 25, 28–30, 41, 44–47, 55, 81–82, 99, 101–102, 104, 107, 500, 505, 759, 763 Klattenhoff, Timo XII. 740, 756, 763 Kleger, Heinz 776 Klein, Felix 652, 686–687, 695, 720 Kleist, Heinrich von 72, 76, 347, 388, 748 Klenner, Hermann 760, 761 Klibansky, Raimund 286, 761, 263, 770 Knoppe, Thomas 29, 105, 763 Köhler, Wolfgang 335, 728 Köhnke, Klaus Christian XI. 6, 7, 23, 55, 79, 101, 106, 107, 155, 177, 256, 258, 295, 312, 326, 345, 351, 387, 391, 397–398, 410, 430, 439, 454, 469, 487, 493, 528, 532, 592, 620, 652, 682, 683, 743, 748, 750, 763, 774 König, Burghard 757

König, Traugott 765 Körner, R. 8 Kohler, Josef 230 Kolerow, M.A. (Колеров, М.А.) 528, 767 Kolubowskij (Kolubovskij), I. (Колубовский, И.) 527, 749 Konnerth, Hermann 543, 756 Kopernikus, Nikolaus (Copernicus. 11, 271, 275, 543, 547, 575, 666 Kopp-Oberstebrink, Herbert 259, 315, 388, 398, 532, 695, 705, 748, 749 Kozljanič, Robert Josef 147, 182, 768 Kraft, Julius 296 Kramme, Rüdiger 8, 170, 258, 295, 325, 346, 388, 390, 398, 404, 419, 452, 528, 532, 686, 748–749, 764 Krech, Volkhard 7, 75, 764, 774 Krois, John Michael XI. 6–8, 23, 32–34, 55, 58, 60, 79, 84, 101, 106– 107, 123, 130–131, 155, 161, 174, 177, 190, 205, 230, 259–260, 264, 295, 312, 322, 324–326, 332, 335, 339, 345–346, 351, 386–387, 391, 397, 410, 430, 439, 454, 469, 470, 487, 513, 528, 541, 565, 592, 609, 610, 613, 620, 652, 682–683, 743, 747–750, 764 Kroner, Richard 279, 287, 764 Küppers, Bernd-Olaf 32, 58, 322, 764, 772 Kuhn, Dorothea 347, 370, 758 Lafort, Ghislain 546, 746 Lamarck, Jean-Baptiste de 367, 427 Landmann, Michael 7, 13, 764, 774 Landshut, Siegfried 8, 130, 467, 764, 766 Lange, Friedrich Albert 201, 754

Personenverzeichnis

Langer, Susanne K. 263, 750 Lassalle, Ferdinand 198, 249, 251 Lasson, Adolf 237, 764 Lasson, Georg 211, 237, 277, 290, 760, 764 Lauschke, Marion 106, 259, 326, 346, 513, 541, 740, 747, 756 Lavater, Johann Caspar 369 Lee, Weon-Sook 545, 764 Legien, Carl 193, 202, 745, 765, 768, 769, 775 Leibniz, Gottfried Wilhelm XI. 55, 57, 60, 62, 64, 71, 76, 77, 105, 108– 109, 111, 118, 135, 144–146, 161, 166, 168, 175, 195, 198, 231, 237, 239, 253, 256, 257, 259, 261, 271, 275–276, 333, 346, 386, 420–421, 433, 489, 498, 532, 573–574, 589, 657–660, 662–664, 667, 699, 748– 749, 752, 765, 776 Leinkauf, Thomas 132, 771 Lenin (Uljanow), Wladimir Iljitsch 171–172, 744, 765 Lenz, Max 237, 765 Leopold 367, 776 Lessing, Gotthold Ephraim 232, 498 Lévi-Strauss, Claude 380,402, 404, 495, 607–616, 618–656, 674, 686, 693, 695, 703–704, 710, 727, 734– 735, 740–741, 746, 765, 774 Levine, Eugen 195 Levit, Svetlana Jakovlevna (Левит, Светлана Яковлевна. 748 Lévy-Bruhl, Lucién 613–614, 678, 693, 766 Liepmann, Hugo 513, 728 Linke, Paul 136 Linné, Carl von 347, 431, 666, 683 Lipps, Theodor 355 Lipton, D.R. 130, 766

785

Locke, John 145, 271, 667 Loeb, James 683 Löwith, Karl 25, 766 Lohse, Gerhard 8, 130, 764 Lomonaco, Fabrizio 738 Lommel, Herman 772 Loos, Waltraud 348, 369, 758 Lorrain, Dimitri 608 Losev (Lossev), Aleksej Fjodorovič (Лосев, Алексей Федорович. 527, 766 Lübbe, Hermann 129, 130, 766 Lüddecke, Dirk 738 Lukács, Georg 27–29, 106, 219, 745, 766 Lukay, Maureen 161, 164, 430, 530 Mach, Ernst 331, 335, 340, 747, 773 Machiavelli (Macchiavelli), Niccolò 151, 156, 167, 199, 216, 284, 287–288, 695 Mahaff y, John P. 272, 762 Mann, Thomas 60, 350, 753 Marc-Wogau, Konrad 551, 561, 766 Marck, Siegfried 136 Margenau, Henry 276 Marion, Jean-Luc 565, 769 Marquard, Odo 743 Marx, Karl 68, 88, 165, 171–172, 211–212, 219, 221, 406, 467, 504, 508, 635–636, 744–745, 754–755, 765–766 Mauss, Marcel 612, 622, 674, 766 Mayer, Gustav 195 Mayer, J.P. 467, 766 Mead, Georg Herbert 546, 775 Medicus, Fritz 262, 750 Mehring, Reinhard 64, 139, 166, 175, 757, 767 Meillet, Antonine 697 Meinecke, Friedrich 162–163, 189,

786

Personenverzeichnis

195, 197, 199, 200–201, 203, 211, 230, 237, 278, 767 Meinong, Alexius 659 Mendel, Gregor 367 Mendelejeff (Mendelejev), Dmitri Iwanowitsch 667 Mendelssohn, Moses 276 Mercury, Jean-Yves 609, 746 Merleau-Ponty, Maurice 608–609, 613, 615, 746, 767 Metta, Carmen 727, 739, 761 Meuter, Norbert 311, 314, 316, 318– 319, 442–443, 767 Meyer, Georg 181, 199, 762 Meyer, Robert 667 Meyer, Thomas 189, 191, 193–194, 195, 262, 327, 767 Meyne, Willi 258, 704, 752 Mill, John Stuart 682 Misch, Georg 27–28, 58, 65, 346, 479, 754, 767, 769 Mnich, Roman (Мних, Роман. 528, 767, 770 Möckel, Christian (Verfasser) IX– XII. 23, 26, 29, 76, 91, 108–109, 111, 123–124, 131, 147, 161, 169, 174, 182, 190, 205, 210, 230, 234, 255–256, 258–260, 264, 293–294, 297, 309, 320, 324–325, 345, 352, 369, 386, 390, 419, 446, 458, 470, 472, 475, 479–480, 504, 513, 528– 529, 547, 555, 561, 566, 591, 608, 612–613, 638, 656, 704, 740, 743, 746, 748–750, 755–756, 762, 767, 776 Moldenhauer, Eva 765 Montaigne, Michel de 69, 120 Montenari, Mazzino 744 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 213 Moog, Willy 562

Müller, Adam 147, 182, 768 Müller, Ernst 739 Müller, Friedrich Max 266, 272, 762–763 Nabais, Nuno 609, 746 Napoleon Bonaparte 289 Natorp, Paul 5, 8, 31, 75, 91, 106, 193, 201–203, 293–294, 297, 341, 345, 356, 359, 364, 468, 480, 483, 529, 545, 768, 771 Naumann, Barbara 32, 768 Naumann, Friedrich 189, 195 Naumann, Hans 635, 765 Nenon, Thomas 312, 762 Neuber, Matthias 739, 769 Neurath, Otto 326–327, 750, 769 Newton, Isaac 271, 276, 330, 667 Nicolaysen, Rainer 8, 130, 764 Nicolin, Friedhelm 472, 769–770 Nietzsche, Friedrich 25, 28, 37, 75– 90, 106, 439, 508, 737, 744–745, 757, 769, 771, 774–775 Noack, Hermann 452 Nohl, Herman 67, 211, 235, 237, 277, 286, 470, 755, 760 Noiré, Ludwig 762 Nordsieck, Viola XII. 565–566, 570, 572–574, 577–578, 581, 583, 587, 756, 769 Northrop, Filmer S.C. 264, 276 Olivetti, Marco M. 565, 769 Oncken, Hermann 193, 769 Orth, Ernst Wolfgang 4, 6–7, 29, 31, 58–62, 65, 73, 84, 105, 124, 130, 174, 326, 330–331, 346, 443–444, 460, 479, 746, 748–749, 756–757, 761, 763, 769–771, 776 Ostwald, Wilhelm 367, 770

Personenverzeichnis

Pätzold, Detlev 205, 229, 458, 545, 761, 770, 772, 777 Paetzold, Heinz 30, 130, 770 Pandora 72, 76, 78, 751 Panofsky, Erwin 452 Paton, Herbert James 273–274, 286, 761, 763, 770 Peano, Giuseppe 701 Peirce, Charles Sanders 735 Perreau, Laurent 608 Petzäll, Åke 259, 325–326, 750 Philippi, B. 343 Pick, Arnold 728, 734 Pirkova-Jakobson, Svatava 631 Plaga, Friederike 495, 748 Platon 88, 105, 139, 141, 148, 154, 157, 164, 166–167, 171, 181, 195, 199, 221, 273, 286, 320, 389, 421, 495, 503–504, 506, 546, 565, 666, 687, 748, 761, 775 Plessner, Helmut 52, 73–74, 311, 315–319, 357, 397, 488, 494, 534, 557, 565–566, 568–571, 573, 575– 576, 581–582, 588–589, 613, 669, 740, 743, 754, 770 Plotnikow, Nikolaj S. (Плотников, Николай С.) 528, 656, 740, 767, 770 Plümacher, Martina 480, 770 Pöggeler, Otto 472, 769–770 Pombo, Olga 738 Popper, Karl 325–326, 337, 770 Pouvreau, David 433, 770 Preuß, Hugo 163, 191, 195, 201 Prokrustes 89 Prometheus 76, 82, 309 Propp, Wladimir 631–632, 765 Proteus 384 Pufendorf, Samuel von 143 Rahman, Shahid 738

787

Rádl, Emanuel 463 Raio, Giulio 556, 727, 739, 749, 761 Rammstedt, Otthein 68, 80, 743, 774 Ranke, Leopold von 162, 165, 389, 408 Rathenau, Walter 189, 195 Recki, Birgit IX. 124, 293, 321, 451, 739, 743, 771 Rehm, Hermann 162, 230 Reichel, Hans 230 Reichenbach, Hans 325–328, 331, 340, 346, 361, 750, 771, 773 Reif, Adelbert 631, 765 Reinke, Johannes 683 Rembrandt van Rijn 86 Renz, Ursula 91, 132, 293, 771 Reschke, Renate 75–76, 78, 86, 757, 771, 775 Reyburn, Hugh A. 277, 289, 771 Ribot, Théodule-Armand 522–523 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, duc de 165 Rickert, Heinrich 27–29, 33–34, 36, 76, 79, 80, 91, 106, 294, 405, 409, 473, 682, 684, 771 Ricœur, Paul 546, 775 Riedlinger, Albert 772 Riehl, Alois 84 Rindert, Jana 65, 757, 771 Ritschl, Albrecht 162 Ritter, Hans Henning 765 Rodinson, Maxime 635 Rosenberg, Alfred 27, 771 Rosenkranz, Claus 4, 19, 22, 34, 49, 56, 63, 92, 93, 106, 115, 122, 129, 131, 137, 224, 255, 259, 294–295, 313, 318, 323, 326, 346, 350, 387– 388, 398, 400, 402, 420–421, 446, 448, 455, 470, 473, 495–496, 513, 517, 520, 541, 547, 551, 569, 574, 589, 592, 598, 611, 619, 631, 641,

788

Personenverzeichnis

650, 666, 684, 706, 712, 716, 735, 747–749 Rosenthal, Jacob 194, 771 Rossi, Paolo 470, 772 Rotolo, Catia 566, 576–577, 772 Rousseau, Jean-Jacques 142, 144, 166, 213, 495 Roux, Wilhelm 683 Rubini, Paolo XI. 259, 748 Rudolph, Enno 58, 108, 130, 139, 141, 166, 168, 179, 199, 253, 322, 470, 480, 756–757, 763–764, 767, 770, 772 Russel, Bertrand 271, 296, 332–334, 359, 735 Saint-Simon, Henri de 635 Salander, Gustav Adolf 230 Salomon, F. 467, 766 Sandkühler, Hans Jörg 205, 229, 458, 461, 480, 545, 566, 761, 770, 772, 777 Sapir, Edward 712 Saussure, Ferdinand de 459, 462, 556, 609, 618, 641, 645, 655, 660, 674, 699, 703–705, 709, 711, 713–723, 728–729, 731, 734–735, 772 Saxl, Fritz 260, 750 Ščerba (Schtscherba), Lev В. (Lew W.) (Щерба, Лев В.) 722 Schardt, Alois 563 Scheidemann, Philipp 201 Scheler, Max 23, 25–26, 28–30, 32, 34, 36–38, 40–41, 43, 45, 52, 67, 73, 76, 79, 103–104, 107, 110, 164, 201, 311, 317, 477, 494, 594–596, 598, 656, 737, 743, 772 Scheler, Maria 26, 67, 743, 772 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 219, 244–245, 274, 472– 473, 546, 554, 666, 695, 775

Schiller, Friedrich 72, 76, 113, 243– 244, 296, 347, 352, 387–388, 498, 503, 748, 758 Schilpp, Paul Arthur 5, 757 Schleicher, August 461, 716 Schlick, Blanche 328, 750 Schlick, Moritz 136, 189, 269, 295, 325–335, 340–343, 346, 351, 359, 361, 364, 399, 435, 446, 739, 744, 750, 756, 769, 772, 776 Schmid, Günther 377–379, 385, 389, 773 Schmidt, Eberhardt 230, Schmidt, Erich 758 Schmidt, Heinrich 24, 773 Schmidt, Gert 75, 774 Schmidt, Raymund 274, 776 Schmidt, Richard W. 743 Schmied-Kowarzik, Walther 563 Schmoller, Gustav von 3, 754 Schmücker, Reinold 32, 70, 108, 120, 130–131, 161, 174, 192, 207, 232, 331, 347, 386, 387, 446, 447, 470, 495, 592, 596, 658–659, 748–750, 756, 772–773, 776 Schopenhauer, Arthur 75–78, 81, 83–85, 87–88, 90, 218, 274, 367, 663, 770, 774 Schrimpf, Hans Joachim 348, 370, 758 Schröder, Leonie 566, 772 Schroeder, Leopold von 734 Schubbach, Arno 3, 230, 448, 546– 553, 555, 575, 752, 773 Schumann, Elisabeth 5, 744 Schumann, Karl 5, 297, 744 Schweller, Walter 565, 769 Schwemmer, Oswald XI. 6, 23, 30, 32, 50, 55, 57, 64, 79, 86, 97, 101, 106, 108, 114, 177, 258, 293, 295, 304, 312, 326, 345, 386–387, 397,

Personenverzeichnis

401, 420, 435, 439, 469, 486, 528, 567, 569, 570, 572, 588, 592, 682, 743, 750, 773 Scylla 276 Sechehaye, Albert 714, 772 Seeberg, Reinhold 163, 200 Seidengart, Jean 608, 753, 774 Sepp, Hans Rainer 312, 762 Shakespeare, William 260 Sibree, J. 277–278, 286, 289, 760 Sieg, Ulrich 134, 774 Siep, Ludwig 235, 469, 777 Silverstone, Roger 608, 774 Simmel, Georg 3–23, 25, 27–31, 34, 36–43, 45, 47–48, 51–52, 55–56, 58, 62, 68, 75–76, 78–81, 86, 107, 109–110, 164, 193, 201, 309, 353, 439, 477, 539, 737, 743–744, 754, 757, 759, 763–764, 769, 774–775 Simon(-Gadhof), Marcel XII. 5, 33, 77–78, 105, 166, 235, 237, 255, 259, 326, 346–347, 389, 421, 470, 513, 541, 573, 598, 658, 660, 666, 735, 747–748, 749 Simson, Frances H. 278, 760 Sloterdijk, Peter 493–494, 504, 774 Smith, John Alexander 277 Snell, Bruno 8, 130, 764 Sokrates 154, 221, 284 Solies, Dirk 75, 78, 775 Sophokles 213 Spemann, Hans 341, 773 Spengler, Oswald 4, 27, 29, 45, 55, 63, 69, 95, 104, 106–107, 113, 226, 309, 390–393, 408, 411, 415, 439, 496, 500, 775 Špet, Gustav 656, 770 Spinoza, Benedikt (Benedictus de) XI. 259, 271, 275, 748 Stadler, Friedrich 332, 335, 339, 346, 744, 764

789

Stalin (Dschugaschwili), Josef Wissarionowitsch 172, 745 Stekeler-Weithofer, Pirmin 566, 772 Stern, William 728 Sterrett, James Macbridge 277, 286, 289, 760 Stevenson, Charles L. 264 Stinzing, Roderich v. 230 Stirling, James Hutchison 286, 775 Stolpner, B. (Столпнер, Б.) 527, 749 Stoellger, Philipp 570 Strauss, David 84, 769 Strayer, Joseph Reese 219, 286, 761 Ströker, Elisabeth 743 Stumpf, Carl 728, 734, 775 Suhl, Jana 636 Suphan, Bernhard 758 Swedenborg, Emanuel 276 Symons, John 738 Taine, Hippolyte 496 Th imme, Friedrich 193, 202, 745, 765, 768–769, 775 Tilitzki, Christian 132, 134, 136, 156, 190, 775 Tillich, Paul 554, 743, 775 Tomberg, Markus 546, 775 Torres, Juan Manuel 738 Treitschke, Heinrich von 162, 290 Troeltsch, Ernst 162, 189, 195, 199– 201, 203, 775 Trubetzkoj (Trubetzkoy), Nikolaj 462, 609, 611, 638, 655, 660, 674, 703–705, 709, 711–714, 721–726, 730–731, 734–735, 775 Trunz, Erich 348, 369, 372, 758 Tylor, Edward Burnett 614 Uexküll, Jakob von 315, 390, 429,

790

Personenverzeichnis

432–433, 438, 524, 685–686, 689, 696 Ullrich, Sebastian 738, 756, 775 Ungern-Sternberg, Jürgen von 194, 775 Ungern-Sternberg, Wolfgang von 194, 775 Vaihinger, Hans 274, 776 Van Breda, Herman Leo 744 Van Vliet, Muriel 352, 607–610, 612–613, 622, 632, 776 Vogel, Barbara 130, 776 Vogel, Dagmar 69, 84, 108, 116, 155, 255, 306, 323, 347, 389, 415, 420, 661, 682, 748 Vossler, Karl 461 Waldenfels, Bernhard 633–634, 776 Wallace, William 278, 286, 289, 760 Walther, Johannes 367, 372, 377–379, 385, 389, 747, 773, 776 Wankmüller, Rike 347, 370, 758 Weber, Max 136, 163, 167, 189, 191, 195, 201, 308, 391, 406 Weismann, August 698 Weiß, Otto 760 Weizäcker, Christian Friedrich von 347, 370, 758 Wendel, Hans Jürgen 329, 331–332, 335, 744, 755, 776

Werle, Josef Maria 29, 84, 105, 749, 776 Werner, Heinz 711 Wetterer, Angelika 743 Whitehead, Alfred North 566, 577– 578, 583 Wiedebach, Hartwig 754 Widdau, Christoph Sebastian 145, 776 Wildgen, Wolfgang 461, 777 Winckelmann, Johann Joachim 498 Wind, Edgar 452 Windelband, Wilhelm 235, 304, 405, 409, 470, 684, 777 Wischke, Mirko 737 Wittgenstein, Ludwig 129, 327, 333, 337 Wittwer, Héctor. 738 Wölfflin, Heinrich 640 Wolf, Erik 230 Wolff, Christian 135, 145, 198, 239, 253, 271, 276, 339, 682 Wundt, Max 134–135, 163, 196, 200, 251, 777 Wundt, Wilhelm 461 Wunsch, Matthias 235, 469, 777 Wyrwich, Thomas 235, 469, 777 Zemlin, Michael-Joachim 743