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German Pages 318 [320] Year 2020
Tobias Endres
Ernst Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung
Meiner
CASSIRER-FORSCHUNGEN
Band 20
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Tobias Endres
Ernst Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3903-7 ISBN eBook 978-3-7873-3904-4 Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2018 Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Für Valentine
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1: Einleitung – Wissensformen und Formen der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Hinführende Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Was ist ein Symbol? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Was ist ein Zeichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Was ist eine symbolische Form? . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Abriss zum Forschungsstand und Probleme der analytischen Wahrnehmungsphilosophie . . . . . . . . . 1.3 Wahrnehmung und die Objektivität der Erfahrung . 1.4 Von der Philosophie der symbolischen Formen zur Phänomenologie der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Phänomenologie bei Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Hegels Leiter: Der Mythos und die Unmittelbarkeit 1.4.3 Rekonstruktive Analyse: Natorps Einfluss auf Cassirer 1.4.4 Die Philosophie der symbolischen Formen als Phänomenologie der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2: Systematische Propädeutik – Zugänge und Hintergründe 2.1 Ziele und Wege der Philosophie der symbolischen Formen 2.2 Exkurs: Kant und McDowell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Wahrnehmung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Konzeptualistische und nicht-konzeptualistische Deutung 2.2.3 Wahrnehmung und Einbildungskraft in der A-Deduktion 2.2.4 Wahrnehmen durch die Kategorien des Zeitlichen . . . . . . 2.2.5 Der nicht-begriffliche Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3: Zur Theorie der Repräsentation . . . . 3.1 Mimisch, analogisch, (rein) symbolisch . 3.2 Ausdruck, Darstellung, (reine) Bedeutung 3.3 Die Verflochtenheit der Schemata . . . . .
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3.4 3.5
Inhalt
Konsequenzen für ein offenes System symbolischer Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Gemeinsamkeiten mit dem Drei-Ebenen-Modell in Günter Abels Interpretationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Kapitel 4: Zur Theorie des Ausdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes . 4.2 Die Notwendigkeit der Ausdruckserlebnisse . . . . . . . . . 4.3 Direktheit und Realität des Ausdruckserlebnisses . . . . . 4.4 Ausdruck als Urphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Bewusstheit und Unbewusstheit der Ausdruckserlebnisse 4.6 Die Dialektik der Ausdruckserlebnisse . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 5: ‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition? . . . . . . . . . 5.1 Cassirers Versuch einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sechs Deutungsversuche der Forschungsliteratur . . . . . . 5.3 Das Erwachen des Geistes aus seinen natürlichen Anlagen 5.4 ‚Natürliche` Symbolik als passiver Ausdruck . . . . . . . . .
. . 163 . . 163 . . 166 . 173 . . 179
Kapitel 6: Aspekte einer Theorie perzeptueller Erfahrung . . . . 6.1 Einleitendes zur Analyse der Wahrnehmung . . . . . . . 6.1.1 Historisch-systematische Herleitung . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Das vierte Dogma des Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Begriffe und ‚sinnliche Allgemeinheit` . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Phänomenalismus, Phänomenologie und Dinge-an-sich 6.1.5 Die Konstanzhypothese und die Objekte der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung . 6.2.1 Symbolische Prägnanz: Husserl und Meillassoux in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Wahrnehmung und Begriff: Die Invariantentheorie . . 6.2.3 Die Funktionen der Ausdruckswahrnehmung und die Prinzipien des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Der Zusammenhang von Dingwahrnehmung, Repräsentation und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Die Objektivität der „Sinnenkreise“ . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie: Eine Mathematisierung der Sinne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7 Wahrnehmung als Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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6.2.8 Das Problem der Halluzination und Illusion: Cassirer und Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 6.2.9 Die Wahrnehmung und das Bewusstsein des Tieres . . . . . . 280 Ergebnis und Ausblick
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Hinweise zur Zitierweise Siglenverzeichnis . . . . . Literaturverzeichnis . . Abbildungsverzeichnis . Personenregister . . . . . .
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist meine Dissertationsschrift, die im Fach Philosophie an der Fakultät I – Geistes- und Bildungswissenschaften der Technischen Universität Berlin vorgelegt wurde. Die Entstehung dieser Arbeit wäre ohne eine Reihe von Personen und Institutionen nicht möglich gewesen, denen ich im Folgenden meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Günter Abel, danke ich sehr herzlich für die Übernahme der Betreuung des Promotionsvorhabens, wodurch mir nach Abschluss meines Studiums in Bonn der Wechsel nach Berlin und damit die Anbindung an viele für meine Forschung relevante Institutionen möglich wurde. Für die Diskussion meiner Gedanken, sein kontinuierliches Interesse an meiner Forschung, die vertrauensvolle Unterstützung durch viele Gutachten und sein immer einfühlsames Eindenken in die Situation des Promovierenden gebührt ihm der größtmögliche Dank. Meiner Zweitbetreuerin, Frau Prof. Dr. Martina Plümacher, gilt herausragender Dank für die gemeinsame, seit 2012 bestehende Zusammenarbeit im Rahmen der von ihr geleiteten Ernst Cassirer Arbeitsgruppe am Innovationszentrum Wissensforschung der Technischen Universität Berlin. Ihr sachkundiger Rat und die Einbettung in einen kontinuierlichen Forschungsrahmen zur Philosophie Ernst Cassirers waren für das Gedeihen der Arbeit unvergleichlich förderlich und haben mir darüber hinaus auch die Mitherausgabe eines Sammelbandes zu Cassirer ermöglicht (zusammen mit Dr. Pellegrino Favuzzi und Dr. Timo Klattenhoff, denen ich ebenfalls herzlich danken möchte). In diesem Kontext möchte ich ebenso dem Co-Leiter der Arbeitsgruppe und Arbeitsstellenleiter der Ernst-Cassirer-Nachlassedition an der Humboldt-Universität zu Berlin, Herrn Prof. Dr. Christian Möckel, meinen nachdrücklichen Dank für seine stete wissenschaftliche Unterstützung, die Übernahme des Drittgutachtens und für viele wichtige Impulse aussprechen, von denen meine Arbeit enorm profitiert hat. Dem Evangelischen Studienwerk Villigst e.V. gebührt besonderer Dank für die großzügige finanzielle Unterstützung durch die Vergabe eines dreijährigen Promotionsstipendiums, ohne das diese Arbeit nicht entstanden wäre. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auch Herrn Prof. Dr. Markus Gabriel danken, der 2010 nach meiner Teilnahme an der von ihm
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Vorwort
organisierten International Summer School in German Philosophy an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn das Zweitgutachten für meine Bewerbung um das Stipendium angefertigt hat. Ganz eigener Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolfram Hogrebe, der mein philosophisches Denken während meiner Bonner Studienzeit wesentlich geprägt hat und dessen Einfluss in der vorliegenden Studie deutlich spürbar ist. Als weiteren wichtigen akademischen Lehrer möchte ich Herrn Prof. Dr. Guido Kreis nennen, dem ich für die unzähligen engagierten Seminarstunden zu Kant, Hegel, Adorno und Frege noch einmal meine explizite Wertschätzung aussprechen möchte. Herrn Prof. Dr. Sebastian Luft und der Technischen Universität Berlin danke ich dafür, dass ich meine Forschungsergebnisse, unterstützt durch ein Reisestipendium, beim Central Division Meeting 2017 der American Philosophical Association präsentieren konnte. Dem Felix Meiner Verlag und seinem Cheflektor Herrn Marcel Simon-Gadhof danke ich für die Aufnahme dieses Buches in die Cassirer-Forschungen und der VG Wort für die Bewilligung des großzügigen Druckkostenzuschusses aus dem Förderungsfonds Wissenschaft. Den Künstlern Pierre Huyghe und Olafur Eliasson danke ich recht herzlich für die Genehmigung, ihre Werke Silence Score und The weather project zu reproduzieren. Mein persönlichster und dringlichster Dank gilt meinen Eltern Brigitta Endres und Dr. Robert Endres sowie meinem Bruder Oliver Endres, nicht nur für die nie abreißende emotionale und auch finanzielle Unterstützung. Diese Arbeit wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Für ihre Freundschaft, philosophische Verbundenheit und Unterstützung bei der Arbeit danke ich: Dr. Jaroslaw Bledowski, Dr. Philipp Disselbeck, Dr. Rodion Ebbighausen, Dr. Marie Göbel, Sofina Hell, Klaus Köther, Christoph Leitsch, Prof. Dr. Jörg Löschke, Dr. Chi-Chun Liu-Reinacher, Thomas Pöttgen, Florian Reinacher, Dr. Felix Repp, Jan Schwart und Michael Thiel. Unvergessen bleibt Herr PD Dr. Lothar Ridder (†), der mich zu Schulzeiten erstmals mit der Philosophie in Kontakt gebracht hat. Braunschweig, im Mai 2020
Tobias Endres
Kapitel 1 Einleitung – Wissensformen und Formen der Wahrnehmung
„Und die » Erkenntnistheorie« darf sich nicht einseitig auf einen einzigen Maßstab verpflichten und all das, was ihm nicht entspricht, verdächtigen, ihm die objektive »Wahrheit« absprechen – sie muss vielmehr versuchen, zunächst einmal alle Wissensformen als solche zu beschreiben, ehe sie über ihr “Recht” oder “Unrecht” entscheidet – sie muss zunächst einmal “Phaenomenologie der Erkenntnis” sein, ehe sie Kritik der Erkenntnis werden kann –“ 1
1.1 Hinführende Begriffsbestimmungen Kein längerer Kommentar zum Werk Ernst Cassirers kann ohne eine analytische Klärung der zentralen Begriffe der Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) auskommen. Und keine systematische Studie zu einem philosophischen Problem kann ohne eine historische Kontextualisierung dieses Problems gewinnbringend durchgeführt werden. 2 Die vorliegende Untersuchung versucht beide Aufgaben zu verschränken, indem das philosophische Problem der Wahrnehmung aus den durchweg historisch-systematisch verfassten Schriften Cassirers herauspräpariert und dann eigenständig historisch und systematisch argumentierend auf aktuelle Entwicklungen der Wahrnehmungsphilosophie bezogen wird. Dazu werden in diesem ersten Abschnitt (1.1) drei Begriffsbestimmungen vorgenommen, die im Rahmen der Debatten zur Wahrnehmungstheorie zunächst nicht augenscheinlich sind. Es gilt zu bestimmen, was ein Symbol ist, denn Cassirer bestimmt Wahrnehmungserfahrungen als symbolisch vermittelte und folglich geistige Erfahrungen. Zudem führt er den Begriff des Symbols recht eigenwillig, wenn auch für die PhilosoECN 5, S. 88. Mit der vorliegenden Studie wird eine möglichst enge Auseinandersetzung zwischen Ernst Cassirers Wahrnehmungstheorie und den Problemen der gegenwärtigen analytischen Wahrnehmungstheorie angestrebt. Der formulierte historisch-systematische Anspruch grenzt sich dabei jedoch bewusst von denjenigen Autoren der analytischen Philosophie ab, die sich methodisch ausschließlich auf die Begriffsanalyse stützen. 1 2
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Einleitung – Wissensformen und Formen der Wahrnehmung
phie letztlich bahnbrechend, ein. In einem ersten Schritt – und zunächst nur soweit dies voraussetzungslos möglich ist – soll also bestimmt werden, wie Cassirer diesen Begriff im weiteren und im engeren Sinne fasst (1.1.1), und zweitens, in welcher Relation er zum Begriff des Zeichens steht (1.1.2). Eine dritte Begriffsbestimmung schließt unmittelbar daran an, nämlich anhand der Frage, was eine ‚symbolische Form` sei (1.1.3). Der Formbegriff ist nach Ansicht mancher Interpreten – und ich reihe mich hier ein – der zentralere Begriff des Cassirerschen Hauptwerkes. Dieser Gedanke ergibt sich nicht primär daraus, dass der Formbegriff weitaus mehr in Kontinuität mit seiner Bestimmung in der Ideengeschichte im Ausgang von Platon konzipiert ist, als dies auf den Symbolbegriff zutrifft, den Cassirer gewissermaßen neu bestimmt. Vielmehr verhält es sich so, dass die Bestimmung der Form als symbolisch den Fokus auf das Symbolische richtet und so den Leser dazu verleitet, den Formbegriff zunächst zu übersehen. Im Resultat aber lässt sich nach der Lektüre der Philosophie der symbolischen Formen viel leichter angeben, was die Begriffe „Form“ und „Formung“ im Rahmen dieser prima philosophia ausmachen, als dies für den Begriff „Symbol“ der Fall ist. Eine Klärung des Begriffs „Symbol“ (und sein Verhältnis zum Zeichenbegriff ) ist so zwangsläufig an eine Klärung des Begriffs „symbolische Form“ gebunden, weshalb diese Begriffsbestimmungen den Auftakt der vorliegenden Studie bilden. Im Anschluss (1.2) werden Stand und Probleme der analytischen Wahrnehmungsphilosophie anhand von vier Theorie-Typen umrissen, die ich als gegenwärtig maßgeblich erachte und deren spezifische Problemstellungen mir als diskussionswürdig für das Problem der Wahrnehmung erscheinen. Von dort aus wird dann das Problemfeld eröffnet, in welchem Verhältnis die Begriffe „Wahrnehmung“, „Objektivität“ und „Erfahrung“ stehen (1.3). Es wird der Entwurf einer integrativen Theorie perzeptueller Erfahrung angestrebt, die Wahrnehmungserfahrungen als objektive Erfahrungen zu bestimmen sucht. Mit „integrativ“ ist dabei gemeint, dass anhand des Begriffs der Wahrnehmung eine Theorie der Vermittlung zwischen subjektivem und objektivem Geist entworfen wird, wobei mit ersterem personale Wahrnehmungserfahrungen als solche bezeichnet seien und mit letzterem deren (intersubjektiver) kultureller Ausdruck, der notwendig in einem konstitutiven Wechselverhältnis mit ihnen steht. Im letzten Schritt der Einleitung (1.4) wird dann die Leitthese dieses Buches entwickelt, dass die Philosophie der symbolischen Formen eine Phänomenologie der Wahrnehmung ist. Dieses Kernstück der Einleitung hellt die Begriffe „objektiver Geist“, „Erfahrung“, „Kultur“ und „Wahrnehmung“ weiter auf und verdeutlicht ihre essenzielle Verschränkung. Vor
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diesem Hintergrund wird anhand der Analyse des Begriffs „Phänomenologie“ der Einfluss der philosophischen Projekte Hegels und Husserls auf die Philosophie der symbolischen Formen nachgewiesen und somit die Verwendung dieses Begriffs im Sinne Cassirers gerechtfertigt. 1.1.1 Was ist ein Symbol? Wie wir heute wissen, ist der Symbolbegriff im Denken Cassirers bereits seit Juni 1917 thematisch. 3 Die Ausarbeitung der philosophischen Grundlegung der Kulturwissenschaften entstand nicht nur mitten im Ersten Weltkrieg, in dem der vom aktiven Militärdienst befreite Cassirer zunächst als Gymnasiallehrer, dann gezwungenermaßen propagandistisch in der französischen Sektion des Kriegspresseamts arbeitete, 4 sondern auch zwischen der Publikation der zwei umfangreichen Monographien Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916) und Kants Leben und Lehre (1918), die den Abschluss einer Neuedition der Werke Kants bildete. Diesen voraus gingen bereits Cassirers Dissertation zu Descartes' Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen ErDies hat jüngst Arno Schubbach in seiner Habilitationsschrift anhand eines bislang unveröffentlichten Manuskripts mit dem Titel „‚Philosophie des Symbolischen` (allg[emeine] Disposition)“ nachgewiesen. Vgl. Schubbach, Arno: Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Symbolphilosophie, Hamburg: Meiner 2016. Den Hinweis darauf lieferte aber bereits Cassirers Ehefrau in dem erstmals 1981 veröffentlichten Typoskript Mein Leben mit Ernst Cassirer von 1948: „Den Sommer 1917 [. . . ] verbrachten wir in Westend, in der Nähe unseres kleinen Grundstückes [. . . ]. Von dort hatte Ernst 1 ½ Stunden in der über und über besetzten Elektrischen zu fahren, bis er das Kriegspresseamt erreichte. Wenige Male machte ich diese Fahrt mit ihm gemeinsam und konnte beobachten, wie er selbst in einer derart grotesken Situation zu arbeiten imstande war. Er versuchte niemals, einen Sitzplatz zu erreichen, da er sicher war, daß er diesen sehr bald an Frauen, ältere Leute oder Kriegsinvaliden würde abgeben müssen. Er suchte bis zum oberen Ende des Wagens durchzudringen und stand dort auf einen minimalen Raum beengt, mit der einen Hand nach einer Stütze greifend, um nicht umzufallen, und in der anderen Hand das Buch haltend, in dem er las. Lärm, Gedränge, elende Beleuchtung, schlechte Luft – dies alles bildete kein Hindernis. Auf diese Weise ist der Plan der drei Bände der ‚Symbolischen Formen` ausgearbeitet worden.“ (Cassirer, Toni: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 2003, S. 120.) Ferner verweisen bereits einige im Sommer 1915 angefertigte Exzerpte zu Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie auf, mit Frege gewendet, Cassirers Fassen des Gedankens ‚symbolischer Formen`. Vgl. dazu Favuzzi, Pellegrino: „Die Kulturphilosophie in den frühen Schriften Ernst Cassirers“, in: Krijnen, Christian / Ferrari, Massimo / Fiorato, Pierfrancesco (Hrsg.): Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 276. 4 Vgl. Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 118 f. 3
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kenntnis (1899), die für den von der Berliner Akademie ausgeschriebenen Leibnizpreis angefertigte Schrift Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), der zur Habilitation angenommene erste sowie der zweite Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906 und 1907), seine erste stärker systematisch ausgerichtete Studie Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) und eine ganze Reihe kleinerer Schriften. Bevor der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen zur ‚Phänomenologie der sprachlichen Form` (1923) als Auftakt dieser Grundlegung der Kulturwissenschaften dann erschien, folgten zunächst der dritte Band des Erkenntnisproblems (1920) und auch noch eine kleinere Monographie Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (1921), die Albert Einstein selbst im Manuskript las und vor der Publikation kritisch kommentierte. Die Erkenntnis der Dringlichkeit einer Symbolphilosophie ist folglich nicht dem Erstkontakt mit der Bibliothek Aby Warburgs 1920 kurz nach Cassirers Berufung an die neu gegründete Universität Hamburg 1919 5 geschuldet. 6 Es handelt sich vielmehr um eine in Loslösung 7 vom Neukantianismus seiner Lehrer Hermann Cohen und Paul Natorp gereifte Synthese seiner bisherigen Arbeiten. Eine historisch voraussetzungslose Begriffsbestimmung rein aus dem textlichen Bestand des Hauptwerkes ist vor dem Hintergrund dieses Panoramas also gar nicht möglich. Da es für das vorliegende Projekt aber nicht um eine genetische Rekonstruktion des Symbolbegriffs geht, werde ich dennoch im Folgenden anhand weniger ausgewählter Zitate versuchen zu umreißen, was Cassirer mit ‚Symbol` meint. Ein über diese provisorische Annäherung hinausgehendes Verständnis des Symbolbegriffs muss sich dann aus der Zielsetzung und dem Gang der Untersuchung zum Wahrnehmungsbegriff ergeben. Cassirer führt den Symbolbegriff im ersten Band anhand zweier für die Philosophie der symbolischen Formen elementarer Problemfelder ein: Vgl. hierzu das Kapitel ‚Eine ‚gefährliche` Bibliothek` in Ferrari, Massimo: Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie, Hamburg: Meiner 2003, S. 207– 248. 6 Dieser Eindruck wird wohl durch namhafte Kommentatoren wie Hans Blumenberg am Leben gehalten: „Die Theorie dieser Bibliothek, wenn man es so sagen darf, [. . . ] war Cassirers dreibändige Philosophie der symbolischen Formen“. (Blumenberg, Hans: „Ernst Cassirer gedenkend“ (1974), in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 165.) 7 Der Topos solch einer Loslösung ist in der Cassirer- und Neukantianismus-Forschung durchaus umstritten. Ein differenziertes Bild bietet Luft, Sebastian: The Space of Culture. Towards a Neo-Kantian Philosophy of Culture (Cohen, Natorp, and Cassirer), Oxford: Oxford University Press 2015, S. 18–20. 5
Hinführende Begriffsbestimmungen
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anhand (a) des Verlustes der metaphysischen Einheit der Wissenschaften durch den Erfolg der modernen Naturwissenschaften und die Etablierung der Einzelwissenschaften sowie (b) der daraus für die Philosophie im positiven Sinne folgenden Überwindung des Repräsentationalismus. Die Pluralisierung der Erkenntnismethoden ist Cassirers Denken zufolge die dialektische Voraussetzung dafür, den kantischen Anspruch, dass sich die Gegenstände der Erkenntnis nach den Bedingungen der Erkenntnis richten müssen, gegen die an der traditionellen Einheit von Denken und Sein festhaltenden nachkantischen Systeme durchzusetzen. Der Siegeszug der Naturwissenschaften verhilft dem philosophischen Denken, das Cassirers Anspruch nach eine – wenn auch revidierte – Universalwissenschaft ist, dazu, neuen Boden zu gewinnen, nachdem das Scheitern der auf die Einheit der Wissenschaften pochenden letzten großen philosophischen Systeme eingesehen wurde. Cassirer fasst dies in der Einleitung in die Symbolphilosophie folgendermaßen zusammen: Der starre Seinsbegriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung zu geraten – und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken. In dem Maße, als sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch-physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist. 8
Das griechische Wort „σύµβολον“ bezeichnet ursprünglich Erkennungsmarken wie Astragale oder Ringe, welche nach griechischem Brauch das Gastrecht regelten. 9 Die Verbformen „συµβάλλειν“ und „συµβάλλεσθαι“ haben ein weites Bedeutungsspektrum, das von „zusammenfügen“ über „vergleichen“ bis „erschließen“ reicht, und verweisen auf die Praxis des gegenseitigen Erkennens, nach dem ein Gegenstand zunächst in zwei Teile gebrochen und die Bruchstücke an die teilnehmenden Parteien verteilt wurden. In Platons Symposion findet der Begriff dann durch die Idee der Kugelmenschen, die von Zeus als komplementäre ECW 11, S. 3. Vgl. hierzu und im Folgenden Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände, Basel: Schwabe 1971– 2007, Bd. 10, S. 710 ff (im weiteren Verlauf HWPh abgekürzt). 8 9
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Einleitung – Wissensformen und Formen der Wahrnehmung
Teile entzwei geschnitten werden, Eingang in die Begriffsgeschichte der Philosophie. 10 Bei Aristoteles vollzieht sich dann schon eine folgenreiche Sinnverschiebung, wenn dieser das Symbol als Übereinkunft im Sinne des sprachlichen Ausdrucks bestimmt und so erstmals die Verbindung zu konventionellen schriftlichen und lautlichen Zeichen herstellt. 11 Von hier aus können wir uns erschließen, dass im übertragenen Sinne jede Form von Erkennungszeichen oder Bedeutungsträgern ein Symbol ist. Weiter generalisiert ließe sich sagen, dass ein Symbol ein sinnliches Zeichen ist, mit dem man eine nicht notwendigerweise an die Erscheinungsweise des Zeichens gebundene Vorstellung verbindet: Ein Symbol kann mimetisch auf seinen Sinn verweisen oder aber genauso gut einen komplexen, abstrakten Sachverhalt in einem einzelnen sinnlichen Zeichen bündeln. Auf den obigen Problemzusammenhang bezogen bedeutet dies, dass Erkenntnis symbolisch vermittelt ist und dass das Erkennen des Seins nur dadurch möglich ist, dass Menschen das Sein selbst dadurch formen, dass sie Zusammenhänge des Seienden in symbolische Relationen übersetzen. Die Einsicht in das Symbolische der Erkenntnis bedeutet für die Wissenschaft die Abkehr vom Substanzdenken und damit den Übergang zum Funktionsdenken, wie Cassirer es in Substanzbegriff und Funktionsbegriff dargelegt hat. 12 Daraus ergibt sich sofort, dass das Erkennen der Welt nicht in einer abbildenden Relation zu einer symbolisch bereits feststehenden Welt bestehen kann. Vielmehr gibt es ganz unterschiedliche Weisen der Symbolbildung, die
Vgl. Platon, Symp. 190c–191d. Vgl. Aristoteles, De int. I, 16 a 3–4. 12 Cassirer selbst stellt als wichtigsten Bezugspunkt der Philosophie der symbolischen Formen im Vorwort zu Band 1 unmissverständlich Substanzbegriff und Funktionsbegriff heraus: „Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff ` (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen werden, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Erweiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des ‚Verstehens` der Welt bestimmt gegeneinander abzugrenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen.“ (ECW 11, S. VII.) 10
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Hinführende Begriffsbestimmungen
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den Horizont des Zusammenhanges von Geist und Welt vorzeichnen: Mathematische Symbole und deren Funktionszusammenhänge rücken das Verstehen der Welt in ein anderes Licht, als dies religiöse Symbole und deren ebenfalls funktional zu bestimmende Praktiken tun. Die Erweiterung der Erkenntnistheorie im Ausgang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff um grundsätzlich alle nur möglichen Formen des menschlichen Verstehens bedeutet nicht nur die Überwindung des Repräsentationalismus im Rortyschen Sinne von der Natur und deren Konzeptualisierung als Spiegelbild, sondern die Abkehr von dem Gedanken, dass die Welt in irgendeiner Weise bereits objektiv vorliegt. Das Sein ist selbstverständlich als Sein unverrückbar, die Welt ist, wie sie ist, in dem Sinne, dass nicht der Mensch bestimmt, welchen Widerhall seine Erkenntnisbemühungen erzeugen. Für uns ist das Sein deshalb anvisierter Zielpunkt, wie Cassirer sagt, nicht aber Ausgangspunkt in dem Sinne, dass es aus Sicht des Symbolischen bereits feststünde – wie es sowohl der absolute Idealismus Hegels, Brandoms und McDowells in begrifflicher Hinsicht als auch der Physikalismus in materieller Hinsicht behaupten. Das Symbol als elementarstes Medium des Verstehens ist weder nur als Begriff objektiv noch auf seine materielle Seite hin reduzierbar. Es formt vielmehr den Raum der Bedeutung und damit das Verständnis der Welt in pluraler und nicht vorgefertigter Weise. Aus dem Symbolbegriff ergibt sich folglich bereits der Formbegriff und ebenso das Programm der Symbolphilosophie als „Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen“. 13 Zusammenfassend möchte ich den Symbolbegriff dahingehend bestimmen, dass sich an ihm die Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen, objektiv realisieren. Die Philosophie des Symbolischen ist die Kritik der Repräsentation unter Beibehaltung des Begriffs der Repräsentation dadurch, dass dieser ausschließlich bezogen auf den Begriff der Präsentation entfaltet wird. In diesem weiten Sinne fallen der Repräsentationsbegriff und der Symbolbegriff zusammen. Der Repräsentationsbegriff im engeren Sinne ist vom Symbolbegriff aber auch nicht abgekoppelt, da er unter ihn fällt. Cassirer versteht darunter „die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen“ 14 oder auch den „geistige[n] Grundakt [. . . ] des Meinens eines ‚Allgemeinen` im Einzelnen“. 15 Die alltägliche Auffassung von Repräsentation als zweistellige Stellvertreter-
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ECW 11, S. VII. ECW 11, S. 39. ECW 13, S. 361.
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Konzeption, die durch Thomas Hobbes Einzug in das moderne Denken hielt, 16 findet dagegen bei Cassirer keinen Platz. 17 1.1.2 Was ist ein Zeichen? Was versteht Cassirer nun in Abgrenzung zum Symbol unter Zeichen und ließe sich hier überhaupt eine spezifische Differenz ausmachen? Das deutsche Wort „Zeichen“ stammt vom indogermanischen „dei“ ab und bedeutet „(hell) scheinen“. Das griechische „σῆµα“ verweist zunächst auf unterschiedliche Arten von Signalen im Sinne von An- bzw. Vorzeichen, bevor Parmenides diese als begriffliche Merkmale bestimmt. 18 Platon redet dann erstmals von Sprachzeichen und bei Aristoteles findet in De interpretatione erstmals eine Identifikation von Zeichen und Symbol statt, bevor im Mittelalter die Bedeutung von Zeichen als Wunderzeichen wieder Einzug erhält. Ganz allgemein gefasst besagt ‚Zeichen` für uns, dass etwas auf etwas ‚hindeutet` oder, weiter generalisiert, dass es schlichtweg etwas ‚bezeichnet`. Im Kontext des Problemfelds von Zeichen und Bezeichnetem scheint zunächst überhaupt kein Unterschied zum Symbol zu bestehen. Cassirer schreibt im zweiten Band: [U]nsere allgemeine Aufgabe [verlangt], daß statt einer Ursprungseinheit, in welcher die Gegensätze sich aufzulösen und ineinander überzugehen scheinen, die kritisch-transzendentale Begriffseinheit gesucht wird, die vielmehr auf die Erhaltung, auf die klare Bestimmung und Begrenzung der Sonderformen hinzielt. Das Prinzip dieser Sonderung wird deutlich, wenn man hier das Problem der Bedeutung mit dem der Bezeichnung verknüpft – d.h., wenn man auf die Art reflektiert, in der sich in den verschiedenen geistigen Äußerungsformen der „Gegenstand“ mit dem „Bild“, der „Gehalt“ mit dem „Zeichen“ verknüpft und in der sich zugleich beide voneinander ablösen und sich gegeneinander selbständig erhalten. 19 Vgl. HWPh, Bd. 8, S. 803. Sandkühler differenziert zwei- und mehrstellige Repräsentationsbegriffe folgendermaßen: „Der Alltagsverstand unterstellt eine nur zweistellige Repräsentationsrelation: b repr a – ein Repräsentandum a und ein Repräsentat b stehen in einer unumkehrbaren Repräsentationsrelation; b steht für a. [. . . ] Nur mehrstellige Repräsentationsbegriffe berücksichtigen, dass (Re-)Präsentationen von bestimmten wissenskulturellen Voraussetzungen [. . . ] abhängig sind“. (Sandkühler, Hans Jörg: Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 60.) 18 Vgl. hierzu und im Folgenden HWPh, Bd. 12, S. 1156 ff. 19 ECW 12, S. 29. 16 17
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Zeichen und Bezeichnetes scheinen hier analog zum Verhältnis Präsentation und Repräsentation gefasst: Sie existieren ausschließlich nach dem Verhältnis einer wechselseitig konstitutiven Korrelation und nicht nach dem Verhältnis von Urbild und Abbild. Cassirer spricht infolgedessen davon, „daß sich die aktive, die schöpferische Kraft des Zeichens ebensowohl im Mythos wie in der Sprache, ebensowohl in der künstlerischen Gestaltung wie in der Bildung der theoretischen Grundbegriffe von der Welt und vom Zusammenhang der Welt bewährt“. 20 Auch dies klingt verdächtig danach, dass sich Zeichen und Symbol hier substituieren ließen. Im ersten Band ist Cassirer noch deutlicher, wenn er die Symbole selbst als zeichenhaft bestimmt: „Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, ‚sind` nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung.“ 21 Ich deute diesen Sachverhalt so, dass Cassirer zufolge durch den Akt des Bezeichnens, anhand der pragmatischen Verwendung von Zeichen, der Raum der Bedeutung geöffnet wird, in dem sich symbolische Relationen als Weisen der Repräsentation zeigen. Dieses Primat symbolischer Bedeutung in der Verwendung von Zeichen wird besonders deutlich, wenn wir uns mit Cassirer vergegenwärtigen, dass die durch das Zeichen eröffnete symbolische Relation keine Kausalrelation sein kann, obwohl der Begriff des Zeichens selbst zu dieser Annahme verleitet: Die symbolische Beziehung des „Meinens“, die Art, wie die „Erscheinung“ sich auf den „Gegenstand“ bezieht und ihn in dieser Beziehung ausdrückt, wird verfehlt, sobald man sie als Sonderfall einer kausalen Beziehung zu denken, sobald man sie dem „Satz vom Grunde“ einzufügen und unterzuordnen sucht. Was hier die Einsicht in die spezifische Differenz erschwert, was immer von neuem dazu verlockt, reine Bedeutungsverhältnisse auf Kausalverhältnisse zurückzuführen und aus ihnen zu erklären – dies ist vor allem eine Äquivokation, die im Begriff des „Zeichens“ selbst und im Gebrauch desselben besteht. 22
Auf zwei Binnendifferenzierungen möchte ich abschließend noch hinweisen. So wie ich am Begriff des Symbols einen weiten von einem engen Sinn von Repräsentation unterschieden habe, möchte ich am Begriff des Zeichens eine weite und eine enge Verwendung der Symbolbegriffs differenzieren. Es ist deutlich geworden, dass der weite Symbolbegriff sich auf den 20 21 22
Ebd. ECW 11, S. 40. ECW 13, S. 371.
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Formbegriff und das Programmatische der Philosophie der symbolischen Formen bezieht. Im engeren Sinne dagegen ist ein Symbol ein Zeichen. Für den Zeichenbegriff selbst gilt Cassirer zufolge: „[I]m weiten Sinne kann man sagen, daß der Begriff »Zeichen« das Ganze dessen umfasst, was »Gegenstand der Kultur« ist“. 23 Damit ist gemeint, dass potentiell jeder physische Gegenstand, jede motorische Bewegung etc. als Kulturobjekt im Sinne eines bedeutungstragenden Zeichens aufgefasst werden kann. Die engere Bedeutung von Zeichen besteht in der pragmatischen Verwendung von Kulturobjekten als Zeichen, wie etwa Schriftsysteme, religiöse Symbole etc. Die Betonung der pragmatischen Dimension im Zeichengebrauch ist in Bezug auf das Symbolische, auf den Raum der Bedeutung, nachdrücklich hervorzuheben, denn das „‚Sein` ist hier nirgends anders als im ‚Tun` erfaßbar“. 24 1.1.3 Was ist eine symbolische Form? Die Grundlagen der Begriffsbestimmung einer ‚symbolischen Form` wurden aufgrund der intrinsischen Verflechtung der Begriffe „Symbol“, „Form“, „Repräsentation“ und „Zeichen“ bereits im letzten Abschnitt gewonnen. Da aber Cassirer den Begriff der symbolischen Form an prominenter Stelle sogar definiert, möchte ich diese Definition kurz diskutieren. 25 Die bekannteste Begriffsbestimmung der symbolischen Form stammt nicht aus Cassirers Hauptwerk, sondern aus dem Aufsatz Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), der zeitgleich zum ersten Band des Hauptwerks erschien. Cassirer führt diesen Begriff folgendermaßen ein: Unter einer „symbolischen Form“ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser BeECN 5, S. 69. ECW 11, S. 9. 25 Für eine umfangreiche, diese Lesart als ganze aber auch voraussetzende Beantwortung der Frage, was eine ‚symbolische Form` sei, vgl. Kreis, Guido: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 449–455 sowie ders.: „Was ist eigentlich eine symbolische Form?“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (33,3), 2008, S. 263– 286. 23 24
Hinführende Begriffsbestimmungen
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wußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft. 26
Die im Hauptwerk thematisierten symbolischen Formen sind Sprache, Mythos und Erkenntnis bzw. Wissenschaft. Dazu treten im obigen Zitat Religion und Kunst. Weiterhin führt Cassirer im Aufsatz Form und Technik (1930) die Technik und, je nach Lesart, auch die Wirtschaft als symbolische Formen an. Im Spätwerk An Essay on Man (1944) kommt dann noch die Geschichte hinzu und Mythos und Religion werden nun auch im Titel des entsprechenden Kapitels zusammengefasst. Unklar ist zunächst, warum die Kunst hier ein eigenes Kapitel zugewiesen bekommt und nicht wie zuvor im Rahmen von Mythos und Religion diskutiert wird. Auch die Ausgliederung der Geschichte aus dem Kapitel ‚Wissenschaft`, wo man sie wahrscheinlich wie alle anderen Wissenschaften vermuten würde, ist auf den ersten Blick rätselhaft. 27 Im Band zum Mythos ist außerdem die Sitte als symbolische Form impliziert. Die Sachlage dieser vagen Bestimmungen weist darauf hin, dass Cassirer eher keinen verbindlichen Kanon der symbolischen Formen festgelegt hat, sondern die Grundlegung der Kulturwissenschaften als offenes System versteht. 28 In der Sekundärliteratur werden infolgedessen u.a. Perspektive, 29 Recht, 30 Moral, 31 Erziehung, 32
ECW 16, S. 79. Eine These, die möglichen Gründen hierfür nachspürt, entwickele ich in Endres, Tobias: „Ernst Cassirers Kritik an der modernen Anthropologie und die Bestimmung des Menschen als animal symbolicum“, in: Asmuth, Christoph / Helling, Simon (Hrsg.): Anthropologie in der klassischen Deutschen Philosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann (im Erscheinen). 28 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 388–392. 29 Vgl. Panofsky, Erwin: „Die Perspektive als ‚symbolische Form`“, in: Saxl, Fritz (Hrsg.): Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–1925, Leipzig: Teubner 1927, S. 258– 330. 30 Vgl. Coskun, Deniz: Law as Symbolic Form. Ernst Cassirer and the Anthropocentric View of Law, Dordrecht: Springer 2007. 31 Vgl. Recki, Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 162–164. 32 Vgl. Nießeler, Andreas: Formen symbolischer Weltaneignung. Zur pädagogischen Bedeutung von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, Würzburg: Ergon 2003. 26 27
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Geld, 33 Architektur, 34 Politik 35 und natürlich die Philosophie selbst 36 als symbolische Formen diskutiert. Für alle gilt: Nicht die Gesamtheit der Kulturgüter, die sich bspw. der Kunst zuordnen ließen, machen die entsprechende symbolische Form als solche aus. Die Erzeugnisse der Kultur selbst, das faktische Vorliegen von Kultur, fasst Cassirer im Begriff des objektiven Geistes. Die Mona Lisa, die 2016er Installation „Your Sense of Unity“ von Olafur Eliasson im Château de Versailles, das Guggenheim-Museum in Bilbao und Proseminare an der UdK Berlin im Sommersemester 2016 sind durch physische Materialien und (Sprach-)Handlungen realisierter, geronnener, objektivierter Geist, der im weitesten Sinne der Kunst zuzuordnen ist. Als solche haben sie Werk- oder rein intersubjektiven Charakter. Bezogen auf die Frage nach den symbolischen Formen lassen sie sich alle mit der symbolischen Form Kunst in Verbindungen bringen, aber auch mit den symbolischen Formen Geschichte, Technik, Architektur und Wissenschaft. Wenn die symbolischen Formen aber nicht mit dem objektiven Geist identifiziert werden können, was sind sie dann und warum spricht Cassirer von „Energien des Geistes“? Sie scheinen ein vermittelndes Element zwischen subjektivem Geist – also dem personalen, wahrnehmenden und zeichenverwendenden Menschen – und objektivem Geist – also der Gesamtheit kultureller Gebilde – einzunehmen und innerhalb dieses Zusammenspiels Objektivität als Ausdrucksmodalität zu ermöglichen. Damit meine ich, dass es Regeln geben muss, wie Zeichen zu verwenden sind, damit etwas nicht nur als Zeichen wahrgenommen, sondern zugleich auch durch Zeichen zum Ausdruck gebracht wird. An der Gegebenheit der physischen Welt muss sich der menschliche Geist mittels unterschiedVgl. Klattenhoff, Timo: „Zur Universalität des Tauschmittels. Wie sich Geld als symbolische Form verstehen lässt“, in: Endres, Tobias / Favuzzi, Pellegrino / Klattenhoff, Timo (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen. Ernst Cassirer neu lesen, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2016, S. 113–136 sowie ders.: Geld, eine symbolische Form. Perspektiven mit Ernst Cassirer und Georg Simmel, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. 34 Vgl. Ehrlich, Christof: Architektur als symbolische Form. Die postmoderne Architektur Robert Venturis und Charles Moores als Erkenntnisgegenstand, Hamburg: VDK 2015. 35 Vgl. Villinger, Ingeborg: Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und die Medien des Politischen. Mit einer Studie zum Demonstrationsritual im Herbst 1989, Würzburg: Ergon 2005. 36 Vgl. Bonaldi, Claudio: „Cassirer und das philosophische Denken als generative Formung der Sinnwelt“, in: Endres / Favuzzi / Klattenhoff (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen, S. 283–301; Schwemmer, Oswald: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin: De Gruyter 1997, S. 64–66. 33
Abriss zum Forschungsstand und Probleme
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licher Objektivierungsstrategien abarbeiten. Gelingt es, die Regeln und Grundkategorien solcher Praktiken der Objektivierung zu rekonstruieren, können wir von diesen Weisen der Objektivierung zuordenbaren symbolischen Formen reden. Symbolische Formen sind aufweisbar anhand dieser (transzendentalen) Rekonstruktionsleistung, weshalb die Wendung „Energie des Geistes“ letztlich gar nicht so esoterisch ist, wie sie zunächst anmutet: „Freilich handelt es sich in diesem Prozeß nicht um einen bloßen Reflexionsprozeß[.] [. . . ] Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt.“ 37 Symbolische Formen sind also einerseits ein Reflexionsprodukt der Philosophie, als solches aber zugleich pragmatische Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeitserschließung. 1.2 Abriss zum Forschungsstand und Probleme der analytischen Wahrnehmungsphilosophie In diesem Kapitel werde ich den Blick kurzzeitig von Cassirer abwenden, um denjenigen Forschungsstand zu erschließen, mit dem die Cassirersche Wahrnehmungstheorie in ein Verhältnis gesetzt werden soll. Die gegenwärtige Debatte in der analytischen Wahrnehmungsphilosophie besteht vornehmlich aus dem argumentativen Austausch von vier Theorie-Typen: (1) der Sinnesdatentheorie, (2) der Adverbialtheorie, (3) der intentionalistischen Theorie und (4) der disjunktiven Theorie der Wahrnehmung. Jeder dieser Theorie-Typen muss auf zwei Standardargumente antworten können: (a) auf das Argument der Illusion und (b) auf das Argument der Halluzination. Beide Argumente konfligieren mit der gewöhnlichen Annahme, dass die Wahrnehmung einen unverstellten Zugang zur Welt bereitstellt und garantiert. Die beiden Argumente lassen sich wie folgt schematisieren: (a) (P) Im Falle einer Illusion wird eine Qualität F wahrgenommen, die dem realen Objekt nicht zukommt (wie bspw. im Falle der Müller-Lyer-Illusion). (P) Einer wahrgenommenen Qualität F muss etwas Reales zugrundeliegen. (K) Entweder nimmt man nicht das reale Objekt wahr oder man nimmt es nur indirekt wahr. 37
ECW 12, S. 183.
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(b) (P) Eine Halluzination ist für das Subjekt der Erfahrung ununterscheidbar von einer gewöhnlichen Wahrnehmung und somit eine Erfahrung gleicher Art. (P) Halluzinationen zeichnen sich im Gegensatz zu einer genuinen Wahrnehmung dadurch aus, dass ihnen kein reales Objekt entspricht. (K) Die Wahrnehmung kann nicht vom Objekt der Erfahrung abhängig sein. (1) Die Sinnesdatentheorie 38 geht davon aus, dass unser Weltzugang durch Sinnesdaten mediiert wird. Wahrnehmung ist demnach ein mentaler Akt, der in Relation zu einem durch die Sinne mental gegebenen Objekt, das nicht das physikalische Objekt selbst sein kann, steht. Die via Sinnesdaten konstituierte Erfahrung erlaubt es, einen Unterschied zwischen phänomenalen und objektiven Eigenschaften von Objekten zu konstruieren. Somit lassen sich die oben skizzierten Problemstellungen (a) und (b) gleichermaßen bewältigen, da der Wahrnehmung Sinnesdaten und nicht physikalische Objekte zugrundeliegen. Bezüglich des metaphysischen Status von Sinnesdaten lässt die Sinnesdatentheorie metatheoretisch sowohl eine intern-realistische 39 als auch eine objektiv-idealistische 40 Deutung zu. Dieser Theorie steht eine Reihe von Einwänden gegenüber. Am stärksten trifft sie – in abgewandelter Form – Wittgensteins Privatsprachenargument. 41 Diesem Argument zufolge kann der Zugang zu Sinnesdaten, ähnlich wie der zu Empfindungen, nur introspektiv erfolgen, wodurch der intersubjektiv konstituierte Gegenstandsbezug der wahrgenommenen Sinnesdaten verlorengeht. Ferner kann man der Sinnesdatentheorie vorhalten, eine sowohl sinnliche wie auch epistemische Lücke zwischen Geist und Welt zu postulieren, sofern sie den direkten Realismus zurückweist. (2) Der Adverbialtheoretiker stimmt dem phänomenalistischen Prinzip der Sinnesdatentheorie zu, wonach wir nur einen indirekten Zugang zur Welt besitzen. Er bestreitet jedoch die Möglichkeit, von den instantiierten Sinnesqualitäten auf die Existenz von Sinnesdaten schließen zu können. Vgl. Russell, Bertrand: The Problems of Philosophy, Oxford: OUP 1997; Moore, G.E.: Some Main Problems of Philosophy, London: Allen and Unwin 1953; Ayer, Alfred J.: The Foundations of Empirical Knowledge, London: Macmillan 1940. 39 Vgl. Jackson, Frank: Perception: A Representative Theory, Cambridge: CUP 1977. 40 Vgl. Foster, John: The Nature of Perception, Oxford: OUP 2000. 41 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen (I), Oxford: Blackwell 1953, §§ 243–315. 38
Abriss zum Forschungsstand und Probleme
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Wahrgenommene Qualitäten sind dieser Theorie zufolge Modifikationen der subjektiven Erfahrung. Die Wahrnehmung lässt also erfahrbare Gegenstände beispielsweise durch verschiedene Farbmodifikationen erscheinen. Stellt sich einem Subjekt ein Gegenstand beispielsweise blau und rund dar, nimmt ihn das Subjekt der Adverbialtheorie zufolge bläulich und rundlich wahr. Die Diskussion um den metaphysischen Status der durch die Sinnesdatentheorie postulierten Entitäten wird somit hinfällig. 42 Einwenden lässt sich hier leicht, dass die Adverbialtheorie offensichtlich einen Objektverlust erleidet. Denn die Zuordnung wahrgenommener Qualitäten wie z.B. ‚braun` und ‚quadratisch` sowie ‚grün` und ‚dreieckig` erfolgt nicht mehr objektindividuierend. 43 Ferner kann die Theorie den phänomenalen Befund nicht erklären, dass unsere Erfahrung als eine Struktur von Wahrnehmungsakt und Objekt angesehen werden kann. 44 (3) Anscombe hat den phänomenologischen Begriff der Intentionalität in die analytische Debatte eingeführt, worin ihr weitere Autoren gefolgt sind. 45 Dieser Begriff scheint besonders geeignet, das Argument der Illusion zu entschärfen: Ebenso wie ich etwas Nicht-Vorhandenes denken bzw. vorstellen kann, lässt es sich auch wahrnehmen. Das ist möglich, weil die Wahrnehmung einen Inhalt repräsentiert. Folglich ist jede Wahrnehmungstheorie eng mit einer Urteilstheorie verknüpft. So lässt sich leicht erklären, warum Sinnestäuschungen wie die Müller-Lyer-Illusion trotz besseren Wissens als solche erfahren werden können. Wird Wahrnehmung also durch ihren intentionalen Gehalt charakterisiert, lässt sich der phänomenale Bestand des Zusammenfallens von Wahrnehmung und Illusion unter Rekurs auf die Identität des Inhalts erklären. Dabei muss der wahrgenommene Inhalt propositional gedacht werden. Eine so konstituierte Repräsentation ist also ein Fall von etwas und enthält demnach Vgl. Ducasse, Curt J.: „Moore's Refutation of Idealism“, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The Philosophy of G.E. Moore, Chicago: Northwestern University Press 1942, S. 223–252; Chisholm, Roderick M.: Perceiving: A Philosophical Study, Ithaca: CUP 1957. 43 Vgl. Jackson, Frank: „On the Adverbial Theory of Visual Experience“, in: Metaphilosophy (6), 1975, S. 127–135. 44 Vgl. Martin, M. G. F.: „Setting Things Before the Mind“, in: O'Hear, Anthony: Contemporary Issues in the Philosophy of Mind, Cambridge: CUP 1998; Crane, Tim / Patterson, Sarah: History of the Mind-Body Problem, London: Routledge 2000. 45 Vgl. Anscombe, G. E. M.: „The Intentionality of Sensation. A Grammatical Feature“, in: Noë, Alva / Thompson, Evan (Hrsg.): Vision and Mind, Cambridge (Mass.): MIT 2002; Armstrong, David M.: A Materialist Theory of the Mind, London: Routledge 1968; Pitcher, George: A Theory of Perception, Princeton: PUP 1970; Searle, John: Intentionality, Cambridge: CUP 1983. 42
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Erfüllungsbedingungen, in Rekurs auf welche über Wahrheit und Falschheit des Inhalts entschieden werden kann. Darüber hinaus steht es dieser Art von Theoriebildung offen, auch nicht-propositionale Inhalte als wahrnehmbar anzunehmen. Dretske unterscheidet bspw. zwischen epistemischem und nicht-epistemischem Sehen. 46 Das Objekt der intentionalistischen Theorie lässt sich zunächst als intentionales Objekt beschreiben. Im Falle einer gewöhnlichen Wahrnehmung liegt dem repräsentierten Objekt ein Geist-unabhängiges Objekt zugrunde. Im Falle der Illusion oder Halluzination handelt es sich um eine missglückte Repräsentation. Schwierigkeiten dieser Konzeption treten auf, sobald näher gefragt wird, wodurch sich ‚wahrnehmen, dass . . . ` von anderen intentionalen Zuständen wie ‚glauben, dass . . . ` oder ‚wissen, dass . . . ` unterscheidet. Wird Wahrnehmung durch Repräsentation im Sinne eines überlieferten zweistelligen Repräsentationalismus erklärt, geht der direkte und qualitative Charakter von Wahrnehmungserfahrungen selbst verloren und es fällt auch schwer, zwischen Wahrnehmen und Denken bzw. Vorstellen zu unterscheiden. Letzten Endes stellt sich einer intentionalistischen Theorie ein ähnliches Problem wie der Sinnesdatentheorie: Die Kluft zwischen Geist und Welt muss via Stellvertreter (hier: das intentionale Objekt) überbrückt werden. (4) Im Disjunktivismus nimmt man an, Objekte existieren unabhängig von den objekt-konstituierenden Prinzipien seitens eines Subjekts. Der phänomenale Charakter der Wahrnehmungserfahrung beruht auf diesen Objekten. Zugleich bricht diese Theorie auch mit einer anderen Standardannahme: Psychologisch und logisch betrachtet sind Wahrnehmungen und Halluzinationen keinesfalls identisch. So leitet sich der Name dieser Theorie aus den Prämissen des Halluzinationsarguments ab: Entweder handelt es sich um eine genuine Wahrnehmung oder um eine bloße Halluzination. 47 Hilary Putnam hat diese These so reformuliert, dass es keine identischen Qualitäten zwischen Wahrnehmungen und Halluzinationen gibt. 48 Wenn eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Erfahrungen anzunehmen ist, dann liegt diese lediglich in der Ununterscheidbarkeit beider Zustände. Der Disjunktivismus fängt gleichermaßen Intuitionen der Sinnesdatentheorie wie auch des Intentionalismus ein. Jener ähnelt er darin, Vgl. Dretske, Fred: Seeing and Knowing, Chicago: University of Chicago Press 1969; ders.: Perception, Knowledge and Belief. Selected Essays. Cambridge: CUP 2000. 47 Vgl. Hinton, J. M. E.: Experiences. An Inquiry into Some Ambiguities, Oxford: Clarendon 1973; Snowdon, Paul F.: „Perception, Vision and Causation“, in: Proceedings of the Aristotelian Society (81), 1981. 48 Vgl. Putnam, Hilary: The Threefold Cord, New York: CUP 1999. 46
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dass das Objekt die Wahrnehmung konstituiert. Diesem ähnelt er darin, dass Objekte direkt wahrnehmbar sind – allerdings mit dem Unterschied, dass ein Wahrnehmungszustand nur in Anwesenheit eines Objekts eintreten kann. Objekteigenschaften werden also nicht repräsentiert, sondern im Moment der Wahrnehmung instantiiert. Bei Halluzinationen handelt es sich im Unterschied dazu um Repräsentationen. 49 Aus Sicht des Disjunktivismus besteht das Problem aller anderen Theorien der Wahrnehmung in der Voraussetzung, Wahrnehmen und Halluzinieren sei ein Akt gleicher Art. Da dies nach Voraussetzung des Disjunktivismus nicht der Fall ist, können Wahrnehmen und Halluzinieren auch nicht in derselben Relation zu einem einzigen Objekt stehen. Auch gegen diesen Theorie-Typus lassen sich Einwände geltend machen. Zunächst ist zu fragen, warum im Falle der Wahrnehmung kein intentionaler Gehalt vorliegen soll. Vor diesem Hintergrund ist es unplausibel, Halluzinationen gerade durch Repräsentation oder rein intentionale Gehalte zu erklären. Ein weiterer Einwand trifft diese Theorie noch schwerer: Wenn sich Halluzinationen und Wahrnehmungen so signifikant unterscheiden, kann wiederum schwerlich erklärt werden, wodurch die subjektive Ununterscheidbarkeit zustande kommt und wie es dann möglich sein soll, aus beiden Zuständen dieselben (subjektiven) Gründe für Überzeugungen oder Handlungen zu gewinnen. 50 1.3 Wahrnehmung und die Objektivität der Erfahrung In dieser Studie wird eine Problemstellung bearbeitet, die die vier soeben vorgestellten Theorien der Wahrnehmung, zumindest indirekt, betrifft: Wie sind Wahrnehmungen in einer philosophischen Theorie der Erfahrung methodisch angemessen zu positionieren? Diese Fragestellung evoziert scheinbar nur zwei mögliche Lösungsansätze: (1) Folgt man der phänomenologischen und empiristischen Intuition, wonach uns die sinnliche Gewissheit einen unmittelbaren und im Vergleich zum sprachgebundenen Denken reichhaltigeren Zugang zur Welt liefert, stellt sich das Problem der Objektivität der Erfahrung in Form der Frage, wie sich mit unmittelbar Wahrgenommenem überhaupt ein intersubjektiver Geltungsanspruch rekonstruieren lässt. (2) Folgt man der rationalistischen bzw. mentalisVgl. Martin, M. G. F.: „The Transparancy of Experience“, in: Mind and Language (17), 2002, S. 376–425. 50 Vgl. Sturgeon, Scott: „Visual Experience“, in: Proceedings of the Aristotelian Society (72,2), 1998, S. 179–200; ders.: Matters of Mind: Consciousness, Reason and Nature, London: Routledge 2000. 49
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tischen Intuition, nach der jede Erfahrung von der Welt begrifflich vermittelt sein muss, um überhaupt von einer bewussten und somit objektivitätsfähigen Erfahrung reden zu können, stellt sich das Problem der Objektivität in der Form, dass Wahrnehmungen dann ihres Spezifikums (eine über die begrifflich bestimmbare Erfahrung hinausgehende Reichhaltigkeit der Welt bereitzustellen) beraubt werden. Nicht-propositionale Aspekte der Erfahrung wären schlicht nicht objektivitätsfähig. Diese problematische Opposition, die sich latent durch nahezu alle Detailfragen der Wahrnehmungsphilosophie zieht, formiert sich jedoch überhaupt nur vor dem Hintergrund eines falschen Ausgangspunkts: Alle vier oben vorgestellten Theorie-Typen stehen nach wie vor entweder auf dem Boden des Empirismus oder des Mentalismus. Die Detailfragen der Wahrnehmungsphilosophie – wie die nach dem Verhältnis von Kognition und Wahrnehmung, dem Verhältnis von Begrifflichkeit und NichtBegrifflichkeit der Wahrnehmung, dem Status, der Feinkörnigkeit oder, ganz grundlegend, den Objekten der Wahrnehmung – sind also vor allem deshalb unbewältigt, weil Wahrnehmungen entweder empiristisch im Sinne der Unmittelbarkeit unseres Weltzugangs (auf der dann Erkenntnis stufenartig aufbaut) missverstanden oder, wie im Mentalismus, als rein private Erlebnisse aufgefasst werden. Beide Strategien jedoch scheitern an dem Vorhaben, die Wahrnehmung als vermittelnde Instanz zwischen Geist und Welt angemessen zu charakterisieren und zu positionieren. Vor diesem Hintergrund beginnt die Entwicklung der Forschungshypothese dieser Studie mit einer methodologischen Reflexion. Diese erfolgt zunächst durch eine Rückbesinnung auf Kants erkenntniskritische Wende. Kant hat gezeigt, dass die Trennung von Denken und Wahrnehmen zu einer Nicht-Zugehörigkeit der Wahrnehmungen zur Erfahrung führt, wonach jene „weniger als ein Traum“ 51 wären. Eine Erfahrungstheorie nach Kant soll Sinnlichkeit und Verstand so vermitteln, dass das Zusammenstimmen von Geist und Welt über die Objektivität der Erfahrung sichergestellt wird. Kant hat dies durch eine am naturwissenschaftlichen Erkennen orientierte Theorie begrifflich bestimmter Erfahrung erreicht. Sein Ansatz unterschlägt jedoch Aspekte des Nicht-Propositionalen menschlicher Erfahrung, die insbesondere von phänomenologischer Seite unter Rekurs auf die Wahrnehmung geltend gemacht werden. 52 Die Herausforderung, der sich jeder phänomenologisch ausgerichtete Ansatz stellen muss, besteht einerseits in der Verteidigung nicht-diskurKrV, A 112. Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phénomenologie de la Perception, Paris: Gallimard 1945. 51 52
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siver Ursprünge menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns und andererseits in der Berücksichtigung der Diskursivität menschlicher Erfahrung, wie sie zuletzt von Sellars und McDowell im Anschluss an Kant und Wittgenstein konzipiert wurde. 53 Einer Theorie begrifflich bestimmter Erfahrung zufolge gibt es unmittelbare Wahrnehmungen für uns nicht in dem Sinne, dass wir unmittelbaren Zugriff auf sie hätten, weshalb unser Wissen um bewusste Wahrnehmungen nicht vom Standpunkt der Präreflexivität aus, sondern begrifflich-normativ rekonstruiert werden müsste. Die Phänomenologen stehen deshalb vor dem Problem, dass ihnen keine Kategorien zur Unterscheidung zwischen einem rein natürlichen Geschehen und der bewussten Wahrnehmung eines Subjekts zur Verfügung stehen. Diese Unterscheidung ist, so die These Sellars' und McDowells, wesentlich an begrifflich-kategoriale Fähigkeiten gebunden und ergibt sich nicht aus der Wahrnehmung selbst. Hier lautet eine leitende Hypothese dagegen, dass eine Theorie perzeptueller Erfahrung vor dem Hintergrund eines sozial-normativen Ausdrucksgeschehens durchgeführt werden kann. Hierzu ist es notwendig, die These zu entwickeln, dass sinnliche Vorkommnisse immer auch geistige Vorkommnisse sind, die in einem sozialen bzw. öffentlichen Raum angesiedelt sind. Dadurch lassen sich sowohl die phänomenologische als auch die rationalistische Intuition einholen. Zum einen ließe sich objektive Erfahrung öffentlich-intersubjektivistisch konzipieren und zum anderen eine genuine Form der Objektivität an nicht-sprachlichen Ausdrucksgestalten ausmachen. Es gilt zu zeigen, dass das Geistige nicht dualistisch der materiellen Welt gegenübersteht. Konzipiert man das Sinnlich-Geistige so, dass es durch Wahrnehmung und Analyse von Ausdrucksgestalten objektiv erfahrbar wird, lässt sich die wechselseitige Integration von Geist und Welt verständlich machen. Eine Theorie perzeptueller Erfahrung muss also die Eigenständigkeit des Nicht-Propositionalen dahingehend einholen, dass zwischen begrifflich vermittelter Dingwahrnehmung und nicht-begrifflicher Ausdruckswahrnehmung unterschieden wird. Diesen Schritt hat Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen vollzogen. 54 Wahrnehmung Vgl. Sellars, Wilfred: Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge (Mass.): HUP 1956; McDowell, John H.: Mind and World, Cambridge (Mass.): HUP 1994. 54 Vgl. dazu und im Folgenden Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 282 ff. Ein Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit besteht darin nachzuweisen, dass die Distinktion zwischen begrifflicher Erfahrung im Kontext der Sprache und nicht-begrifflicher Erfahrung im Kontext des Ausdrucksgeschehens keinesfalls mit der Distinktion bewusst – unbewusst zusammenfällt, wie Kreis dies unter Berufung auf die Philosophie der symbolischen Formen behauptet. 53
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wird bei Cassirer weder introspektiv wie im Mentalismus noch naiv realistisch wie im Empirismus, sondern als rekonstruktive Analyse objektiv vorliegender Ausdrucksgestalten behandelt, wodurch gleichermaßen die Direktheit der Wahrnehmung im Ausdruckserlebnis gesichert und die Falle des Repräsentationalismus umgangen wird. Cassirer unterscheidet zwei Arten sinnlicher Vorkommnisse: (1) solche im Kontext begrifflicher Erkenntnis und (2) reine Ausdruckserlebnisse: (1) Im Kontext begrifflicher Erkenntnis können Wahrnehmungen nur funktional in ihrem Beitrag zur sprachgebundenen Erfahrung, also erkenntniskritisch (und nicht mentalistisch) beschrieben werden. Damit ein wahrgenommener Inhalt in dieser Hinsicht objektiv sein kann, muss er sich zum Ausdruck einer Gesamterfahrung, die unter Gesetzen steht, erweitern. Wahrnehmungen sind dieser Konzeption zufolge öffentlich, d.h. intersubjektiv zugänglich. Alle derartigen bewussten Wahrnehmungen, also Wahrnehmungen von etwas als Etwas, setzen die Beherrschung von Begriffen (im Sellarsschen Sinne) voraus. Innerhalb dieses Rahmens ist zu zeigen, dass alles, was eine Person bewusst wahrnimmt, prinzipiell auch von allen anderen Personen wahrgenommen werden kann. (2) Es ist allerdings auch eine notwendige Bedingung der Erfahrung, dass die Klasse der Ausdruckswahrnehmungen größer ist als die der begrifflichen Wahrnehmungen. Diese unmittelbaren Wahrnehmungen sind nach Cassirer nicht Fall von Etwas, sondern Ausdruck von Wirklichkeit, die in ihrer physiognomischen Individualität erfahren wird. Wirklichkeit und Erleben sind so untrennbar miteinander verbunden und nehmen einen besonderen Platz im funktionalen Aufbau objektiver Erfahrung ein. Unser Zugang zur Welt wird also der zu entwickelnden Theorie perzeptueller Erfahrung zufolge nicht durch Sinnesdaten oder andere elementare ‚Bausteine der Erkenntnis` ermöglicht, sondern – mit Cassirer gesprochen – durch das Urphänomen des Ausdrucks. Voraussetzung jeder bewussten Erfahrung ist demnach das Zusammenfallen von Wirklichkeit und Erleben, auch dann, wenn wir methodisch betrachtet nicht sprachlich und zugleich unmittelbar auf diese ursprüngliche Einheit zugreifen können. Ausdruckswahrnehmungen sind nun aber gerade keine subjektive Voraussetzung von objektiver Erfahrung. Dies käme einer mentalistischen Fehldeutung gleich, die den Subjekt-Objekt-Gegensatz voraussetzt und die Ausdruckswahrnehmungen in der Privatheit des Subjektiven verortet. Solch ein Vorgehen wäre sofort der Kritik von Wittgensteins Privatsprachenargument und der Vertreter einer rein propositionalistischen
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Erfahrungstheorie ausgesetzt, da der Beitrag der Ausdruckswahrnehmungen zur Gesamterfahrung über objektive, d. h. öffentlich-intersubjektive Kriterien erfolgen muss. Die Subjekt-Objekt-Trennung ist im Falle der Ausdruckswahrnehmungen, welche die Sach- oder Dingwahrnehmungen fundieren, stets schon unterlaufen. Ausdruckswahrnehmungen sind bewusst wahrgenommene Wirklichkeitsgestalten im Sinne welthaltiger Erlebnisse wie Stimmungen oder Gefühle, die in einem Lebensraum erfahren werden. Sie sind ebenso objektiv wie sprachlich vermittelt Wahrgenommenes, da sie Aspekte der Wirklichkeit – und keine rein privaten Erlebnisse – sind. Die methodische Vermittlung zwischen der Geltung eines objektiven Erfahrungsbegriffs und der Genese eines solchen wird also über einen differenzierten Begriff der Wahrnehmung gewonnen. Propositionalität und Nicht-Propositionalität finden darin gleichermaßen Berücksichtigung, indem die erlebte Wirklichkeit die Bedingung der Möglichkeit der Subjekt-Objekt-Trennung unserer begrifflichen Rede darstellt. Vor diesem Hintergrund zeigt die Analyse nicht-propositionaler Aspekte der Wahrnehmung, in welchem Sinne diese einen positiven Beitrag zur Objektivität der Erfahrung leisten. Die Cassirersche Theorie steht demnach im Einklang mit wichtigen Entwicklungen der Philosophie im Zwanzigsten Jahrhundert. Es wurde bereits angedeutet, dass Ausdruckswahrnehmungen in einem Setting, das ich oben unter dem Begriff „Lebensraum“ gefasst habe, erfahren werden. Seit Husserl – dann bei Schütz und Habermas – wird für Konzeptionen eines solchen – meist pragmatistisch konstituierten – Settings der Begriff „Lebenswelt“ verwendet. 55 Lebenswelt lässt sich als universeller Hintergrund und im Sinne eines regulativen Prinzips verstehen, durch das unser Weltbezug überhaupt erst möglich wird. Im Unterschied zu Kants konstitutiven Prinzipien (welche die Bedingungen der Möglichkeit von Objekterkenntnis darstellen) liefern regulative Prinzipien keine Gegenstandserkenntnis, bedingen aber jede Gegenstandserkenntnis – und im vorliegenden Kontext jede Form der Wahrnehmung – im Sinne eines Kontextprinzips, 56 ohne welches nichts verstanden oder wahrgenommen werden könnte. Lebenswelten sind nichts Gegenständliches, fundieren jedoch die NorVgl. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg: Meiner 2012, § 9h und §§ 28–55; Husserl, Edmund: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte Bd. II, Stuttgart: Reclam 1986; Schütz, Alfred / Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979; Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. 56 Vgl. hierzu auch Benoist, Jocelyn: Sens et sensibilité. L'intentionalité en contexte, Paris: Cerf 2009, S. 203–231. 55
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mativität von Wahrnehmung, Bedeutung und Referenz in pragmatischer Hinsicht. 57 Dieser ursprüngliche Erfahrungskontext eröffnet uns erst denjenigen Spielraum der Interaktion mit unserer Umwelt, den wir gleichsam denkend überschreiten. Zur Analyse dieses Erfahrungskontextes im Lichte der Wahrnehmungstheorie Cassirers wird diese im stetigen Bezug zu modernen und gegenwärtigen Theorien der Wahrnehmung entwickelt. So ist einerseits Merleau-Ponty ein wichtiger Ansprechpartner, der in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) eine Überwindung der Dichotomie zwischen Intellektualismus und Objektivismus durch eine Analyse der Begriffe des Leibes, des Raums der Motive und der motorischen Intentionalität anstrebt. 58 Im Anschluss hieran muss dann auch Alva Noës Wahrnehmungstheorie, in der Wahrnehmung als ein aktives Orientieren menschlicher Subjekte in ihrem Lebensraum reflektiert wird, 59 von Cassirers Standpunkt aus einbezogen und kritisch diskutiert werden. Neben den bereits angesprochenen analytischen Theorien der Wahrnehmung sind weiterhin einige wichtige Problemfelder der Philosophy of Mind, wie der Geist-Welt-Dualismus und das Problem des Repräsentationalismus, kontinuierlicher Bezugspunkt, um Ernst Cassirers Wahrnehmungstheorie anschlussfähig an die Debatten der Gegenwart zu halten. Auf ‚kontinentaler` Seite spielen weiterhin Wolfram Hogrebes protosemantische Untersuchungen eine wichtige Rolle, in denen Wahrnehmen und Erkennen in einer Neufassung der antiken Kunst der Mantik als Deutungsnatur des Menschen fundiert sind. So wird die Beziehung zwischen Mensch und Lebenswelt als szenische Verfasstheit des Menschen interpretiert. 60 Der Welt-Geist-Dualismus wird hier ähnlich wie bei Cassirer durch Rückbindung an informelle Wissensformen unterlaufen. Wahrnehmen und Verstehen sind stets in einen wirklichen Horizont eingelassen, der den Raum der Möglichkeiten erst eröffnet. Über den Begriff des Horizontes und den des Lebens ist es ferner möglich, auch Kant im Blick auf Aspekte des Nicht-Propositionalen wiederVgl. Abel, Günter: „Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft“, in: Gethmann, Carl F. (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongress für Philosophie, Universität Duisburg-Essen, September 2008, Kolloquienbeiträge, Hamburg: Meiner 2011, S. 351–371. 58 Vgl. dazu insbesondere Dreyfus, Hubert L.: „Detachment, Involvement, and Rationality. Are we Essentially Rational Animals“, in: Human Affairs (17), Warschau 2007. 59 Vgl. Noë, Alva: Action in Perception, Cambridge (Mass.): MIT 2004. 60 Vgl. Hogrebe, Wolfram: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992; ders.: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin: Akademie 2009. 57
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zuentdecken, nachdem er durch McDowell für die Theorie begrifflicher Erfahrung einseitig in Beschlag genommen wurde, worauf ich in einem Exkurs (Kapitel 2.2) eingehen werde, um Cassirers Anschluss an Kant von dieser Warte her, die so nicht Teil der Philosophie der symbolischen Formen ist, zu rekonstruieren. Kant unterscheidet zwischen einem logischen und einem ästhetischen Horizont der Erkenntnis. 61 Demnach ist die Grenzziehung der Vernunft (die einem Bewusstwerden des eigenen Horizontes gleicht) kein rein diskursives Vorgehen. Vielmehr bedarf es der ästhetischen, d. h. sinnlichen Veranschaulichung der transzendentalen Apperzeption, die durch das ‚Ich denke` neben dem logischen auch einen raum-zeitlichen Standpunkt markiert. Der Horizont fungiert bei Kant als nicht-begriffliche Bestimmung des Subjekts der Erfahrung und ist mit Cassirer gesprochen ein Urphänomen des Lebens. Gemäß diesen leitenden Ideen ist es darüber hinaus notwendig, mit Cassirer einen fundamentalen Aspekt der Wahrnehmung, nämlich die Intentionalität der Wahrnehmung, ebenfalls pragmatisch zu fundieren. Intentionalität – wie ich sie in diesem Kontext verstehe – ist dasjenige Merkmal des Geistigen, mit dem auch die Wahrnehmung als geistiger, nicht naturalisierbarer Akt belegt ist. John Searle hat den Schritt in eine pragmatische Grundlegung der Intentionalität vorbereitet, indem er seine Theorie der Intentionalität durch zwei Phänomene stützt, die er als Netzwerk und als Hintergrund bezeichnet. 62 Jede Intention ist nach Searle in ein Netzwerk intentionaler Zustände eingebettet, welches auf grundlegenderen geistigen Fähigkeiten beruht, die wiederum keine Repräsentationen sein können. Es geht um den vor-intentionalen Hintergrund, ohne den keine explizit intentionale Wahrnehmung möglich wäre. Der Hintergrund bildet auf mehreren Ebenen das Know-how dafür, wie (a) die Dinge sich verhalten und wie (b) man gewisse Sachen macht. Der Hintergrund soll in Searles Philosophie des Geistes letzten Endes Bedingung der Möglichkeit aller Repräsentationen sein. Es ist jedoch fraglich, ob Searle dieser Nachweis gelungen ist. Zum einen fehlt Searle ein methodischer Zugang zum Phänomen des Hintergrundes, weshalb auch der logische und ontologische Status der Hintergrund-Voraussetzungen ungeklärt bleibt. Ferner fasst Searle den Hintergrund naturalistisch in einem kausalen Modell der Intentionalität. Kulturelle Hintergrundpraktiken können aber nicht vollständig naturalisiert werden, da sie zwar körperlich realisiert sind, aber Vgl. Simon, Josef: „Das Ich und seine Horizonte. Zur Metapher des Horizonts bei Kant, in: Elm, Ralf (Hg.): Horizonte des Horizontbegriffs, Sankt Augustin: Academia 2004, S. 85–102. 62 Searle: Intentionality, S. 19 ff, 37–78 und 141–159. 61
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auch einen symbolischen Gehalt und symbolische Funktionalität haben. Daher gilt es den Nachweis zu führen, wie solch ein Hintergrund aus symboltheoretisch-pragmatistischer Sicht zu konzipieren ist. Neben einer detaillierten Rekonstruktion der Cassirerschen Wahrnehmungstheorie ist es also das Anliegen dieser Arbeit aufzuzeigen, wie genau die Analysen des Nicht-Propositionalen auf ein sozial-normatives Ausdrucksgeschehen rückzubeziehen sind. Alle Praktiken der Geltung, worunter das Heranziehen von Ursachen und Gründen fällt, haben eine Genealogie der Lebenswelt hinter sich. Dabei hat die Praxis zwar einen Vorrang vor der Theorie. Aber sie ist selbst ein sozial-normatives Geschehen – freilich eines, das sich nicht rein begrifflich-kognitiv konstituiert. In diesem Sinne versteht sich diese Arbeit auch als eine Ernst Cassirers Symboltheorie gewidmete pragmatistische Reformulierung dieser Zusammenhänge. 1.4 Von der Philosophie der symbolischen Formen zur Phänomenologie der Wahrnehmung Die vorliegende Arbeit strebt eine Gesamtinterpretation des Cassirerschen Hauptwerkes an. 63 Meine Leitthese besagt, dass die Philosophie der symbolischen Formen der Sache nach und zugleich exegetisch eine Phänomenologie der Wahrnehmung ist. Mit welchem Fug und Recht solch eine ausgreifende These behauptet werden kann, ist Gegenstand dieses zur Leitthese hinführenden Kapitels. Untersucht wird dabei insbesondere Cassirers Auffassung von Phänomenologie, die vielschichtig und voraussetzungsreich ist. Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Idee einer Phänomenologie der Wahrnehmung auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zurückgeht, der unter eben diesem Titel 1945 sein Hauptwerk publizierte. Weitgehend unbekannt dagegen ist, dass Ernst Cassirer schon 1929 mit Erscheinen des dritten Bandes seiner Philosophie der symbolischen Formen genau diese Terminologie verwendet. 64 Beide wiederum beziehen sich an vielen Stellen ihrer Werke auf den weniger bekannten Wilhelm Schapp, der jedoch äußerst prominent 1910 mit seinen Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung bei Edmund Wesentliche Inhalte dieses Kapitels wurden bereits an anderer Stelle publiziert, für die vorliegende Studie jedoch ausführlich überarbeitet. Vgl. Endres, Tobias: „Die Philosophie der symbolischen Formen als Phänomenologie der Wahrnehmung“, in: Endres / Favuzzi / Klattenhoff (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen, S. 35–53. 64 Cassirer spricht dort an sieben Stellen von einer „Phänomenologie der Wahrnehmung“: ECW 13, S. 33, 36, 38, 66, 69, 143 u. 220. 63
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Husserl promovierte. 65 Während in erster Linie Merleau-Ponty als Wegbereiter einer Phänomenologie der Wahrnehmung in die Geschichte der Philosophie eingegangen ist, ordnete man Cassirer lange Zeit dem Marburger Neukantianismus seiner Lehrer Hermann Cohen und Paul Natorp zu. Über diese naturwissenschaftlich-erkenntnistheoretische Prägung hinaus kannte man Cassirer bestenfalls noch vornehmlich als Spezialisten der Ideengeschichte für die Epochen der Aufklärung und der Renaissance. John Michael Krois stieß mit der bahnbrechenden Studie Cassirer, Symbolic Forms and History (1987) jedoch eine eigens Cassirer gewidmete Renaissance an, die seit Anfang der Neunziger Jahre auch unter dem Begriff „Cassirer-Renaissance“ firmiert 66 und mit obigen verkürzten Darstellungen aufgeräumt hat. So wurden bspw. Cassirers linguistic turn im Ausgang von Humboldt, seine originelle Semiotik oder sein Wirken auf den Strukturalismus besonders anerkennend herausgestellt. 67 Für die philosophische Ästhetik war sein Einfluss einem breiteren Publikum bereits über die Arbeiten Susan K. Langers und Nelson Goodmans bekannt. Als Wahrnehmungstheoretiker und Phänomenologe wurde Cassirer bislang jedoch nicht ausreichend gewürdigt. 68 Vgl. Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, 5. Aufl., Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2013. 66 Enno Rudolph und Günter Figal sprachen 1992 von einer Renaissance und Massimo Ferrari steuerte 1994 einen einflussreichen Beitrag zur Verbreitung dieses Begriffs bei. Vgl. Rudolph, Enno / Figal, Günter: „Editorial“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (1,2), 1992, S. 163 sowie Ferrari, Massimo: „La ‚Cassirer-Renaissance` in Europa“, in: Studi Kantiani 7, 1994, S. 111–139. 67 Vgl. für einen Überblick der Cassirer-Renaissance als kollektives Unternehmen bis in die Gegenwart Endres, Tobias / Favuzzi, Pellegrino / Klattenhoff, Timo: „Cassirer, globalized. Über Sinn und Zweck eines Neulesens“, in: dies. (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen, S. 9–17 sowie Favuzzi, Pellegrino: Kultur und Staat. Quellen und Kontext des politischen Denkens Ernst Cassirers, Dissertation (online): HU Berlin 2013, S. 11–46. 68 Wahrnehmungstheoretische Aspekte in Cassirers Denken diskutieren: Michotte, Albert: „Réflexions sur le rôle du langage dans l'analyse des organisations perceptives“, in: Acta Psychologica (15), 1959, S. 17–35; Carini, Lou: „Ernst Cassirer's Psychology: Part I: A Unification of Perception and Language“, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences (9), 1973, S. 148–151; Bernet, Rudolf: „Perception et herméneutique (Husserl, Cassirer et Heidegger)“, in: ders. (Hrsg.): La vie du sujet. Études sur Husserl et la phénoménologie (Épiméthée), Paris: Presses Universitaires de France 1994, S. 139–162; Plümacher, Martina: „Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer“, in: Rudolph, Enno / Stamatescu, Ion O. (Hrsg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg: Meiner 1997, S. 171–208; Bundgård, Peer F.: „Ernst Cassirer's Theory of Perception. Towards a Geometry of Experience“, in: Foss, Gunnar / Kasa, Eivind (Hrsg.): Forms of Knowledge and Sensibility. Ernst Cassirer and the Human Sciences, Kristiansand: Høyskoleforlaget 2002, 65
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Diese Ausgangslage allein ist schon auffällig, da gerade Merleau-Ponty, was zumindest den Rezipienten seines Haupt- und Frühwerkes bekannt ist, Cassirer in der Phänomenologie der Wahrnehmung ausführlich kritisiert. Dort beanstandet er zunächst in methodischer Hinsicht, dass die reflexive Analyse des Bewusstseins und seiner repräsentationalen Funktionen, die Cassirer im Begriff der Symbolfunktion zu fassen sucht, dem Intellektualismus verhaftet bleibt. 69 Weiterhin moniert er das Fehlen eines existenziellen Untergrundes der Symbolfunktion, wie ihn MerleauPonty anhand des Begriffs des Leibes zu fassen sucht. 70 Diese Kritik verdichtet er zu der These, dass man Cassirers Theorie zufolge im Falle einer durch einen Granatsplitter im Schädel verursachten Sehstörung annehmen müsse, „que l'éclat d'obus s'est rencontré avec la conscience symbolique“. 71 Stellte es sich wirklich so dar, dass Cassirers Analysen „moins fausse qu'abstraite“ 72 sind und auf eine „subsomption du contenu sous une forme autonome“ 73 hinauslaufen, könnte man Merleau-Ponty die attestierte Absurdität 74 des ‚Unterfangens Symbolphilosophie` zugestehen. Dass dem nicht so ist, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Der anvisierten Lesart zufolge löst die Philosophie der symbolischen Formen genau das ein, was Merleau-Ponty im angeführten Abschnitt über La spatialité du corps propre et la motricité unter dem Stichwort „phénoménologie génétique“ 75 – und man möge hinzusetzen: de la perception 76 – einfordert: S. 149–182; Hoel, Aud S.: „Cassirer's Dynamic Conception of Form“, in: Foss / Kasa: Forms of Knowledge and Sensibility, S. 183–207; Plümacher, Martina: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin: Parerga 2004; Sauer, Martina: „Wahrnehmen von Sinn vor jeder sprachlichen oder gedanklichen Fassung? Frage an Ernst Cassirer“, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal (1), 2008; Viebrock, Lena: Symbolische Prägnanz und inkarnierter Sinn in der Frage nach dem Leib, Unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 2009; Springstübe, Darja: Über Wahrnehmung und Ausdruck in der Philosophie Maurice Merleau-Pontys, Berlin: Logos 2013, S. 122–132; Kreis, Guido: „The Varieties of Perception. Nonconceptual Content in Kant, Cassirer and McDowell“, in: Friedmann, Tyler / Luft, Sebastian (Hrsg.): Ernst Cassirer. A Novel Assessment, Berlin: de Gruyter 2015, S. 313–335. 69 Vgl. Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, S. 140 ff. 70 Vgl. ebd. S. 145 ff. 71 Ebd. S. 146 („dass der Granatsplitter mit dem symbolischen Bewusstsein zusammengestoßen ist“; meine Übersetzung). 72 Ebd. S. 145 („weniger falsch als abstrakt“; meine Übersetzung). 73 Ebd. S. 147 („Subsumption des Inhalts unter eine autonome Form“; meine Übersetzung). 74 Vgl. ebd. S. 146. 75 Ebd. S. 147 („genetische Phänomenologie“; meine Übersetzung). 76 Meiner Lesart am nächsten stehen: Bösch, Michael: „Symbolische Prägnanz und passive Synthesis. Genetische Phänomenologie der Wahrnehmung bei Cassirer und
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nämlich eine Grundlegung des Symbolischen im und durch das Wahrnehmungsbewusstsein. 1.4.1 Phänomenologie bei Cassirer In den drei Bänden seines Hauptwerks benutzt Cassirer den Begriff „Phänomenologie“ vierundzwanzig Mal. Das Spektrum seiner Verwendung ist breit gefächert: Neben der offensichtlichen Platzierung als Untertitel zum dritten Band, der Phänomenologie der Erkenntnis, spricht Cassirer von einer „kritische[n] Phänomenologie des mythischen Bewußtseins“, 77 einer „spezielle[n] Phänomenologie des Mythos“, 78 einer „Phänomenologie der Magie“, 79 einer „bloße[n] Phänomenologie des mythischen Denkens“, 80 einer „reine[n] Phänomenologie der Wahrnehmung“, 81 einer „Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse“, 82 einer „universellen ‚Phänomenologie des Geistes`“, 83 einer „allgemeinen ‚Phänomenologie des Geistes`“ 84 und einer „wahrhafte[n] Phänomenologie der Wahrnehmung“. 85 Darüber hinaus rekurriert Cassirer an vielen Stellen auf Hegel, Husserl, Natorp und Schapp, so dass der Begriff insgesamt achtundvierzig Mal in der Philosophie der symbolischen Formen auftaucht. 86 Diese Fülle und weitreichende Verwendung legt eine gründliche Untersuchung über die Bedeutsamkeit des Begriffs der Phänomenologie in Cassirers Hauptwerk nicht nur nahe, sondern macht diese obligatorisch für jeden Versuch einer Gesamtinterpretation der Symbolphilosophie. Husserl“, in: Philosophisches Jahrbuch (109), 2002, S. 148–161 und Van Vliet, Muriel: La forme selon Ernst Cassirer. De la morphologie au structuralisme, Rennes: Presses universitaires de Rennes 2013, S. 50–83. 77 ECW 12, S. 16. 78 Ebd. S. 44. 79 Ebd. S. 64. 80 Ebd. S. 90. 81 ECW 13, S. 33 und 69. An letzterer Stelle zieht Cassirer, wenn auch nicht primär in methodischer Absicht, den genetischen Aspekt ausdrücklich hinzu: „Auch vom rein genetischen Gesichtspunkt aus scheint kein Zweifel zu bestehen, welcher der beiden Wahrnehmungsformen die Priorität zuzusprechen ist.“ (ECW 13, S. 69.) Die Genesis dient ihm hier der Sache nach offensichtlich als Plausibilitätstest seines eigenen methodischen Ansatzes. 82 Ebd. S. 74. 83 Ebd. S. 87. 84 Ebd. S. 161. 85 Ebd. S. 220. 86 Zum quantitativen Vergleich: Die Begriffe „symbolische Form(en)“ und „symbolische Formung“ tauchen insgesamt fünfundfünfzig Mal im Hauptwerk auf.
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Mit Erscheinen des ersten Nachlassbandes im Jahre 1995 wurde einer größeren Leserschaft bekannt, dass Cassirer plante, allen drei Bänden seines Hauptwerks den Titel Phänomenologie der Erkenntnis zu geben. John Michael Krois schreibt im editorischen Anhang des ersten Nachlassbandes: Der Nachlaß zeigt, daß Cassirer der PsF insgesamt, d.h. allen drei Bänden, ursprünglich nicht den Titel Philosophie der symbolischen Formen geben wollte, sondern den Titel, den er später dem Band 3 allein verlieh. Bis zur Drucklegung des Bandes 1 der PsF nannte Cassirer das gesamte Werk: Phänomenologie der Erkenntnis. 87
Auch das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes dokumentiert die ursprüngliche Absicht: Zwischen dem Vorwort und den fünf Kapiteln findet sich der Titel ‚Erster Teil. Zur Phänomenologie der sprachlichen Form`. Allein im zweiten Band ist der Begriff „Phänomenologie“ aus Titel und Inhaltsverzeichnis verschwunden. Cassirer spricht dort aber bereits in der Einleitung von einer „kritische[n] Phänomenologie des mythischen Bewußtseins“. 88 Es kann demnach nicht sinnvoll bezweifelt werden, dass Cassirers Hauptwerk insgesamt als eine Phänomenologie, also als Lehre näher zu bestimmender Erscheinungsweisen, entworfen wurde. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie (a) der Begriff „Phänomenologie“ bei Cassirer zu verstehen ist und inwiefern er in Zusammenhang mit Hegels 89 und Husserls Begriff einer Phänomenologie gebracht werden kann, sowie (b) warum eine Phänomenologie der sprachlichen Form, des mythischen Bewusstseins und der Erkenntnis (so die ‚eigentlichen` drei Titel des Hauptwerks) nach Cassirers eigenen Voraussetzungen in Korrelation mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung durchgeführt werden müssen. 90 ECN 1, S. 299 f. ECW 12, S. 16. 89 Folgende Studien sind zum Thema Hegel und Cassirer besonders einschlägig: Orth, Ernst W.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 162–175; Möckel, Christian: „Hegels Phänomenologie des Geistes als Vorbild für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“, in: Arndt, Andreas / Müller, Ernst (Hrsg.): Hegels ‚Phänomenologie des Geistes` heute, Berlin: Akademie Verlag, 2004, S. 256–275. 90 Zu diesem Ergebnis kommt auch Van Vliet: Le forme selon Ernst Cassirer, S. 65: „La totalité du sens ne peut s'offrir que dans le passage d'une forme à l'autre, de la perception sensible au langage, au mythe, à l'art et à la science, qui constituent diverses manières d'articuler la prégnance symbolique.“ („Nur im Übergang von einer Form zur anderen kann sich die Totalität der Sinngehalte eröffnen: von der empfindsamen Wahrnehmung zur Sprache, zum Mythos, zur Kunst und zur Wissenschaft, welche unterschiedliche Weisen konstituieren, die symbolische Prägnanz zu artikulieren“; meine Übersetzung.) 87 88
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1.4.2 Hegels Leiter: Der Mythos und die Unmittelbarkeit Husserls Einfluss auf Cassirer ist in diesem Kontext schnell erörtert: Husserl bestimmt die Phänomenologie in einer Vorlesung zum Sommersemester 1925 als eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen. 91
Bekanntlich lässt sich Cassirers Ambition der Philosophie der symbolischen Formen als eine Transformation der kantischen Kritik der Vernunft hin zu einer Kritik der Kultur bezeichnen. 92 Cassirer forciert eine umfassende Erneuerung der kantischen Kategorienlehre, 93 welche die verschiedenen Symbolfunktionen des Mythos, der Sprache und der Erkenntnis so begreift, dass „daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht“. 94 Andrea Poma fasst zusammen: „Auf diese Weise ist die Erweiterung der kopernikanischen Drehung zum eigentlichen Programm der Philosophie der symbolischen Formen geworden.“ 95 Die Begründung des streng allgemeinen Objektivitätsanspruchs des wissenschaftlichen Weltbildes ist somit nicht mehr primärer Fokus der philosophischen Fragestellung, weshalb Husserls Projekt einer apriorischen Grundlegung der Einzelwissenschaften durch die Philosophie Cassirer nicht als Vorbild dienen kann. Insbesondere die Idee einer Husserl, Edmund: Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, Dordrecht: Springer Science+Business Media, 1968, S. 277. 92 Vgl. ECW 11, S. 9. 93 Er erläutert dieses Programm so: „Sie sucht die Kategorien des Gegenstandsbewußtseins nicht nur in der theoretisch-intellektuellen Sphäre auf, sondern sie geht davon aus, daß derartige Kategorien überall dort wirksam sein müssen, wo überhaupt aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein charakteristisches und typisches ‚Weltbild` sich formt.“ (ECW 12, S. 35.) 94 Ebd. 95 Poma, Andrea: „Ernst Cassirer. Von der Kulturphilosophie zur Phänomenologie der Erkenntnis“, in: Braun, Hans-Jürg / Holzhey, Helmut / Orth, Ernst W. (Hrsg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988, S. 92. 91
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methodischen Reform aller Wissenschaften durch die Philosophie findet keinen Widerhall in Cassirers Denken, der die Ergebnisse der methodologisch notwendig anders als die Philosophie vorgehenden positiven Wissenschaften vielmehr als Prüfstein der eigenen Theorie betrachtet. 96 Was Cassirer und Husserl aber verbindet, „ist der unverbrüchliche Zusammenhang von Philosophie und Wissenschaftlichkeit, der es auch erfordert, die Philosophie immer wieder mit der einzelwissenschaftlichen Forschung in Kontakt zu halten“. 97 Den Status der Philosophie begreift Cassirer nicht als symbolische Form, 98 sondern als Selbstreflexion auf diese Formen, 99 gewissermaßen als Denken des Denkens im aristotelischen Sinne, 100 und ist somit gerade in Bezug auf die Frage nach der Phänomenologie in erster Linie Hegel 101 verpflichtet. Bereits im zweiten Band zum mythischen Denken heißt es diesbezüglich: So stellt sich im Verhältnis des Mythos, der Sprache und der Kunst, sosehr ihre Gestaltungen in den konkreten geschichtlichen Erscheinungen unmittelbar ineinandergreifen, doch ein bestimmter systematischer Stufengang, ein ideeller Fortschritt dar, als dessen Ziel es sich bezeichnen läßt, daß der Geist in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Nichtsdestotrotz lassen sich ausgehend vom späten Husserl – in etwa ab den Cartesianischen Meditationen (1929) bis zur Krisis-Schrift (1936) – erstaunliche Parallelen zu Cassirer ziehen, der sich besonders intensiv 1925–1928 während der Vorbereitungen des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen und dann noch einmal in Schweden 1935–1941 mit Husserl auseinandersetzte. Vgl. hierzu in aller Ausführlichkeit Möckel, Christian: „Ernst Cassirer und die Phänomenologie Edmund Husserls. Inhaltliche Bezugspunkte, Kulturverständnis und Eigenheiten“, in: Journal Phänomenologie (42), 2014, S. 17–51 sowie Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, S. 18–26. 97 Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 175; Hervorhebungen von mir. 98 Eine gegenteilige Meinung vertritt z.B. Naumann, Barbara: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München: Wilhelm Fink 1998, S. 19. 99 Zu diesem Ergebnis, dem ich im Wesentlichen folge, kommt Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 475: „Die Philosophie der symbolischen Formen [. . . ] ist die Einheitsstiftung, die sich unser Geist selbst gibt. [. . . ] Damit hat Cassirer gezeigt und durchgeführt, was die Philosophie selbst ist: absoluter Geist.“ Es wäre darüber hinaus – um Missverständnissen vorzubeugen – notwendig zu betonen, dass die symbolischen Formen Cassirer zufolge nicht nur Formen des Denkens, sondern auch des Anschauens und des Lebens sind. 100 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1074 b 34. 101 Hegel führt Aristoteles' Formel des νόησις νοήσεως im Paragraphen zur absoluten Idee an. Vgl. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, § 236, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970, S. 388. 96
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Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift. 102
Auch wenn Cassirer an dieser Stelle die Wissenschaft als Vollendung des Denkens außen vor lässt, klingt doch hier bereits Hegels Leiter-Metapher 103 aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) an, die er im Vorwort auch ausführlich zitiert, um herauszustellen, dass diese „Sätze, in denen Hegel das Verhältnis der ‚Wissenschaft` zum sinnlichen Bewußtsein kennzeichnet, [. . . ] in vollem Umfang und in voller Schärfe für das Verhältnis der Erkenntnis zum mythischen Bewußtsein [gelten]“. 104 In der Vorrede zum dritten Band spricht Cassirer die nun bereits rekonstruierte Hegelsche Programmatik noch einmal in aller Deutlichkeit aus: Wenn ich von einer „Phänomenologie der Erkenntnis“ spreche, so knüpfe ich hierin nicht an den modernen Sprachgebrauch an, sondern ich gehe auf jene Grundbedeutung der „Phänomenologie“ zurück, wie Hegel sie festgestellt und wie er sie systematisch begründet und gerechtfertigt hat. [. . . ] Schärfer kann es nicht ausgesprochen werden, daß das Ende, das „Telos“ des Geistes nicht erfaßt und nicht ausgesprochen werden kann, wenn man dasselbe als ein für sich bestehendes, wenn man es losgelöst und abgesondert von Anfang und Mitte nimmt. Die philosophische Reflexion setzt nicht in dieser Weise das Ende gegen Mitte und Anfang ab, sondern nimmt alle drei als integrierende Momente einer einheitlichen Gesamtbewegung. In diesem Grundprinzip der Betrachtung stimmt die „Philosophie der symbolischen Formen“ mit dem Hegelschen Ansatz überein – sosehr sie in der Begründung wie in der Durchführung desselben andere Wege gehen muß. 105
Dieser andere Weg ist dadurch bestimmt, dass die Philosophie jene Leiter, die dem Bewusstsein des natürlichen Weltbildes zum Emporsteigen gereicht wird, eine Ebene tiefer ansetzen muss, als Hegel es vorsah. 106 So stoßen wir auf den Pfad der Phänomenologie der Wahrnehmung. Doch Cassirer kritisiert Hegel dahingehend, dass die sinnliche Gewissheit gar nicht das Unmittelbare repräsentiert, weil Hegel ihren Wissensanspruch unter der Voraussetzung, dass das Wahrnehmen von Sachverhalten die
102 103 104 105 106
ECW 12, S. 32; Hervorhebungen von mir. Vgl. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner, 1988, S. 20. ECW 12, S. XIII. ECW 13, S. VIII. Vgl. ECW 12, S. XIII.
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basalste Form von Verstehen ist, dekonstruiert. 107 Die Welt wird vom Bewusstsein zuallererst aber mythisch wahrgenommen: Was man das sinnliche Bewußtsein zu nennen pflegt, der Bestand einer „Wahrnehmungswelt“, die sich weiterhin in deutlich geschiedene einzelne Wahrnehmungskreise, in die sinnlichen „Elemente“ der Farbe, des Tones usf. gliedert: das ist selbst bereits das Produkt einer Abstraktion, einer theoretischen Bearbeitung des „Gegebenen“. Bevor das Selbstbewußtsein sich zu dieser Abstraktion erhebt, ist und lebt es in den Gebilden des mythischen Bewußtseins – in einer Welt nicht sowohl von „Dingen“ und deren „Eigenschaften“ als vielmehr von mythischen Potenzen und Kräften, von Dämonen- und Göttergestalten. 108
Cassirer zufolge müssen wir eine Tiefenschicht im Wahrnehmungsbewusstsein annehmen, die er Ausdruckswahrnehmung nennt, um sicherzustellen, dass der Ausgangspunkt der angestrebten philosophischen Theorie die Unmittelbarkeit ist. In Differenz zur Ding- oder Sachwahrnehmung, welche Hegel gleichermaßen in den Kapiteln Sinnliche Gewißheit und Die Wahrnehmung ansetzt und welcher er theoretische Formmotive wie Ding, Eigenschaft und Kausalität zuordnet, besitzt die Ausdruckswahrnehmung eine völlig eigene Struktur. In der Dingwahrnehmung hat eine Umformung durch die Sprache von der konkreten Wahrnehmung zur Anschauung bereits stattgefunden. Cassirer schreibt: [D]as Phänomen der Wahrnehmung [. . . ] gibt sich als ein zunächst noch ungeschiedenes Ganze[s], als ein Gesamterlebnis, das zwar in irgendeiner Weise gegliedert ist, dessen Gliederung aber keineswegs seine Zerfällung in disparate sinnliche Elemente in sich schließt. [. . . ] Diese Sonderung gehört somit nicht zum einfachen „Befund“ des Wahrnehmungsbewußtseins, sondern schließt bereits ein Moment der Reflexion, der kausalen Analyse in sich. [. . . ] Daß diese Analyse nicht erst mit der Ausbildung der eigentlichen „Wissenschaft“ einsetzt, sondern daß sie schon dem vorwissenschaftlichen Weltbild angehört, darf nicht dazu verleiten, ihren eigentümlichen theoretischen Charakter zu verkennen oder zu leugnen. Denn nicht erst die Gegenstandswelt der Physik, sondern bereits die Dingwelt Im Unterschied zu Cassirer ist die Phänomenologie nach Hegel, auch wenn sie bei der sinnlichen Gewissheit anhebt, eben keine Erscheinungslehre im Ausgang von Wahrnehmungserfahrungen, sondern von Wissensansprüchen, die bei Hegel ausschließlich sprachlich artikuliert sind: „Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein, als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist.“ (Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 69.) 108 Ebd. 107
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der vorwissenschaftlichen Erfahrung ist mit bestimmten Motiven der Reflexion, insbesondere mit Motiven der kausalen Deutung der Phänomene durchsetzt. 109
Die Ausdruckswahrnehmung ist dagegen in einem noch näher zu bestimmenden Sinne ursprünglicher und Cassirers Anknüpfungspunkt an die Unmittelbarkeit. Selbstverständlich ist dieses Modell ein Reflexionsprodukt und Cassirer vertritt erklärtermaßen keine Version des Mythos des Gegebenen, demnach wir erkenntnismäßigen Zugriff auf das Unmittelbare hätten. „Das Paradies der Unmittelbarkeit ist diesem Denken verschlossen“. 110 Cassirer führt folgendes entscheidende Argument an, das die Annahme dieser Tiefenschicht im Wahrnehmungsbewusstsein stützt: Auch das mythische Bewusstsein macht perzeptuelle Erfahrungen einer strukturierten Welt. Diese Struktur ist jedoch nicht in Dinge und Eigenschaften gegliedert. Cassirer zufolge weist sie eine eigentümliche Fluidität auf. Es waltet ein Prinzip der Metamorphose und der Sympathie, das noch nicht das logische Gesetz der Identität kennt. Wenn der theoretische Gedanke die Glieder, zwischen denen er eine bestimmte synthetische Verknüpfung vollzieht, in ebendieser Verknüpfung als selbständige Elemente bewahrt, wenn er sie, indem er sie aufeinander bezieht, zugleich sondert und auseinanderhält, so fließt im mythischen Denken das, was aufeinander bezogen, was wie durch ein magisches Band geeint gilt, in eine unterschiedslose Gestalt zusammen. Hierdurch kann das vom Standpunkt der unmittelbaren Wahrnehmung Unähnlichste oder vom Standpunkt unserer „rationalen“ Begriffe Ungleichartigste als „ähnlich“ oder „gleich“ erscheinen, sofern es nur als Glied in ein und denselben magischen Gesamtkomplex eingeht. Die Anwendung der Kategorie der Gleichheit erfolgt nicht auf Grund der Übereinstimmung in irgendwelchen sinnlichen Merkmalen oder abstrakt-begrifflichen Momenten, sondern sie ist bedingt durch das Gesetz des magischen Zusammenhangs, der magischen „Sympathie“. Was immer durch diese Sympathie geeint ist, was sich magisch „entspricht“, sich unterstützt und fördert: das geht zur Einheit einer mythischen Gattung zusammen. 111
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Wahrnehmungsleistung des Menschen auf der Stufe des mythischen Bewusstseins keine stabilisierende Funktionalität aufweist. Selbstverständlich kann er Pflanzen, Tiere 109 110 111
ECW 13, S. 31. Ebd. S. 46. ECW 12, S. 212 f.
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und andere Menschen individuieren, also als für sich selbst existierende Organismen wahrnehmen. Sie sind ihm jedoch gattungsmäßig nicht geschieden. Das Bemerken eines Tieres kann die Begegnung mit einem verstorbenen Ahnen bedeuten, und das besagt nach Cassirers Voraussetzungen 112 eben auch, dass dem Menschen das Wahrnehmungsphänomen genau so erscheint. Die Grenzlinien, die wir durch unsere empirischen Gattungs- und Artbegriffe ziehen, verschieben und verflüchtigen sich dem Menschen im Mythos. Diese Qualität des Ephemeren wäre nicht begreiflich, wenn schon die direkte Wahrnehmung, wie sie in der Ausdruckswahrnehmung vorliegt, vor Ausbildung des eigentlichen Repräsentationsvermögens durch die Sprache die „Abteilung und Aufteilung der Welt in feste Klassen in sich schlösse“. 113 Wäre das der Fall, so das entscheidende Argument, „müßte der Mythos auf Schritt und Tritt nicht nur gegen die Gesetze der ‚Logik`, sondern gegen die elementaren ‚Tatsachen der Wahrnehmung` verstoßen“. 114 Zu diesem Widerstreit kommt es jedoch nicht; Wahrnehmung und Formwelt sind im Mythos vollständig ineinander verwachsen. Dies lässt sich grundsätzlich nur verstehen, „wenn die Wahrnehmung selber bestimmte ursprüngliche Wesenszüge aufweist, in denen sie der Weise und Richtung des Mythischen entspricht und gewissermaßen entgegenkommt“. 115 Die Argumente innerhalb der Phänomenologie des Mythos reichen also viel tiefer, als Ernst Wolfgang Orth annimmt, wenn er schreibt, dass Cassirer Hegels Phänomenologie des Geistes lediglich „auf die Forschungsarbeit des Mythen- und Sprachforschers Usener sowie auf Herders Sprachphilosophie anwendet“. 116 Vielmehr stellt es sich so dar, dass die Phänomenologie des Mythos in Auseinandersetzung mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt werden muss.
Cassirer zufolge ist jedes Wahrnehmungserlebnis symbolisch prägnant, dem Wahrgenommenen wohnt ein nicht-anschaulicher Sinn inne. (Vgl. ECW 13, S. 105 u. 231) Mit dieser Bestimmung nimmt Cassirer auch Merleau-Pontys bekanntes Diktum vom „inkarnierten Sinn“ vorweg: „Ce sens incarné est le phénomène central dont corps et esprit, signe et signification sont des moments abstraits.“ (Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, S. 193.) („Dieser inkarnierte Sinn ist das zentrale Phänomen, von dem Körper und Geist, Zeichen und Bedeutung abstrakte Momente sind“; meine Übersetzung.) 113 ECW 13, S. 67. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 68. 116 Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 167. Auf den Zusammenhang von Sprache und einer Phänomenologie der Wahrnehmung verweist Orth dagegen auf angegebener Seite in der Anmerkung 14. 112
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1.4.3 Rekonstruktive Analyse: Natorps Einfluss auf Cassirer Es wurde gezeigt, warum Cassirers Idee einer Phänomenologie beim mythischen Bewusstsein ansetzen muss und dass „der Mythos zu der universellen Aufgabe der Phänomenologie des Geistes in einem innerlichen und notwendigen Verhältnis steht“. 117 An Husserl wiederum orientiert sich Cassirer, wenn es um die reine Deskription des Wahrnehmungsphänomens und die empirische Absicherung der philosophischen Theorie entlang der Ergebnisse der Einzelwissenschaften geht. Um Cassirers überaus komplexe Methodologie zu verstehen, gilt es nun ferner, den Einfluss seines Lehrers Paul Natorp auf die Symbolphilosophie herauszuarbeiten, denn wie wir gesehen haben, muss Cassirer „in der Begründung wie in der Durchführung [. . . ] andere Wege gehen“ 118 als Hegel. Insbesondere Hegels dialektische Methode lehnt Cassirer im Rahmen der Phänomenologie der Wahrnehmung und der Erkenntnis ab, und auch der für die Philosophie der symbolischen Formen wichtige Begriff des objektiven Geistes ist ein anderer als derjenige Hegels. Zunächst ist es sinnvoll, sich erneut zu vergegenwärtigen, worum es Cassirer mit einer Kritik der Kultur überhaupt geht: Wie wir gemäß der kritischen Grundansicht die Einheit der Natur nur dadurch haben, daß wir sie in die Erscheinungen „hineinlegen“, daß wir sie als Einheit der gedanklichen Form nicht sowohl aus den Einzelphänomenen gewinnen als sie vielmehr an ihnen darstellen und herstellen – so gilt das gleiche auch von der Einheit der Kultur und von jeder ihrer ursprünglichen Richtungen. Auch für sie genügt es nicht, sie faktisch an den Erscheinungen aufzuweisen, sondern wir müssen sie aus der Einheit einer bestimmten „Strukturform“ des Geistes verständlich machen. So steht auch hier, wie in der Theorie der Erkenntnis, die Methodik der kritischen Analyse zwischen der metaphysisch-deduktiven und der psychologisch-induktiven Methodik. Sie muß, gleich dieser letzteren, überall vom „Gegebenen“, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins ausgehen; aber sie kann bei ihnen als einem bloß Gegebenen nicht stehenbleiben. Sie fragt von der Wirklichkeit des Faktums nach den „Bedingungen seiner Möglichkeit“ zurück. 119
Das Faktum der Kultur in Form eines Bestands des objektiven Geistes gibt es freilich nur dann, wenn es auch ein Bewusstsein von diesem 117 118 119
ECW 12, S. XII. ECW 13, S. VIII. ECW 12, S. 13.
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gibt. Bewusstsein fasst Cassirer im Ausgang seines Frühwerks Substanzbegriff und Funktionsbegriff als funktionale, nicht als substanzielle Einheit auf. Hierdurch ist die metaphysische Auffassung von Bewusstsein bereits überwunden. In Anlehnung an Kant könnte man weiterhin sagen, dass Cassirer darum bemüht ist, der „Rhapsodie von Wahrnehmungen“ 120 im Ausdruck der Vielfalt der Kulturformen eine Einheit zu geben. Cassirers Motivation, trotz des Antiessentialismus der Philosophie der symbolischen Formen nach Einheit zu suchen, ist kein Systemwille, sondern die vorausgreifende Vermeidung eines Problems der vielen (disparaten) Welten. 121 Diesem lässt sich dadurch begegnen, dass man zeigt, dass sich alle Objektivierungsleistungen und der Bestand des objektiven Geistes notwendig auf genau eine Welt beziehen. 122 Diese Einheit wird bei Cassirer durch die Symbolfunktion, die er gelegentlich mit der Bedeutungsfunktion in eins setzt, 123 garantiert: „Findet sich in ihr bei allem Wechsel der Einzelmotive eine relativ gleichbleibende ‚innere Form`, so schließen wir von ihr nicht auf die substantielle Einheit des Geistes zurück, sondern diese Einheit gilt uns eben hierdurch als konstituiert und bezeichnet.“ 124 Man kann folglich die Symbolphilosophie als semantische Theorie eines objektiven Weltbezugs auffassen. 125
KrV, B 195. Hiermit ist der Umstand gemeint, dass dem pluralen kulturellen Ausdruck unterschiedliche Modi der Wahrnehmung und Repräsentation entsprechen. 121 Diesen bekannten Einwand hat beispielsweise Willard V. O. Quine gegen Nelson Goodmans Weisen der Welterzeugung oder auch Geert-Lueke Lueken gegen Günter Abels Interpretationswelten erhoben. Vgl. Quine, W. V. O.: „Überweltlich“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (56,6), 2008, S. 986 (Wiederabdruck) sowie Lueken, GeertLueke: „‚Alles, was so ist, könnte auch anders sein.`. Zu Günter Abels Interpretationswelten“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (44), 1996, S. 891. Die Antworten darauf fallen naturgemäß etwas anders aus als bei Cassirer, haben der Sache nach aber denselben Gegenstand zur Kritik. 122 Vgl. dazu ausführlich Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 406–437. 123 Es wird hierbei nicht klar, ob Cassirer damit lediglich die semantische Funktion aller Symbolfunktionen herausstellen möchte oder ob gemeint ist, dass die Ausdrucksund die Darstellungsfunktion gewissermaßen Vorstufen der eigentlichen Bedeutungsund Symbolfunktion sind. Für Letzteres argumentiert Poma: Ernst Cassirer, S. 100. Dagegen spricht jedoch ECW 13, S. 62f: „In der Tat wird sich uns zeigen, daß die ‚Darstellungsfunktion`, die der Sprache ihren Gehalt und ihren Charakter gibt, mit der ‚Bedeutungsfunktion`, die in den Begriffen der wissenschaftlichen Erkenntnis waltet, nicht eins und daß die letztere auch nicht etwa bloß die ‚Entwicklung`, d. h. die geradlinige Fortsetzung der ersteren ist, sondern daß beide qualitativ verschiedene Arten der Sinngebung in sich schließen.“ Die hier zugrunde gelegte Lesart wird in Kapitel 3 entwickelt. 124 ECW 12, S. 15; Hervorhebungen von mir. 125 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 188–209. 120
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Da Cassirer nun auch den funktionalen Zusammenhang von mythischem, natürlichem und wissenschaftlichem Weltbild in Korrelation mit den verschiedenen Wahrnehmungsschichten nachweisen will, muss der Pluralität der Kulturformen auch eine Multidimensionalität der Bewusstseinsfunktionen entsprechen. Diese werden nicht nach kantischem Vorbild deduziert, sondern rekonstruktiv nach analytischer Methode erschlossen. Anders als Kant in der Kritik der reinen Vernunft 126 stellt Cassirer das quid facti an den Anfang, 127 um im Anschluss zu fragen, welche Bedingungen für das Bewusstsein gelten müssen, um sich in Richtung der unterschiedlichen Kulturformen objektivieren zu können. Denn wie die reine Erkenntniskritik im besonderen, so fragt die Philosophie der symbolischen Formen im ganzen nicht nach dieser empirischen Herkunft des Bewußtseins, sondern nach seinem reinen Bestand. Statt seinen zeitlichen Entstehungsursachen nachzugehen, richtet sie sich lediglich auf das, was „in ihm liegt“; auf die Erfassung und Beschreibung seiner Strukturformen. Die Sprache, der Mythos, die theoretische Erkenntnis: sie alle werden hier als Grundgestalten des „objektiven Geistes“ genommen, deren „Sein“ sich rein als solches, unabhängig von der Frage nach seinem „Gewordensein“, aufweisen und verstehen lassen muß. Wir stehen im Kreise der allgemeinen „transzendentalen“ Frage: im Kreise derjenigen Methodik, die das „quid facti“ der einzelnen Bewußtseinsformen nur zum Ausgangspunkt nimmt, um nach ihrer Bedeutung, um nach ihrem „quid juris“ zu fragen. 128
Dieses transzendentale Vorgehen ist durch Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912) inspiriert, welche ein vom Psychologismus freies „universelles Programm einer Phänomenologie des Bewußtseins [. . . ] in streng ‚kritischer` Besinnung“ 129 aufstellt. Demnach kann das Bewusstsein nicht als Teil und nach Maßstab einer erst zu etablierenden Form der Objektivität, nämlich derjenigen der Wissenschaft, Cassirer schließt hier, beeinflusst durch den Marburger Neukantianismus seiner Lehrer Hermann Cohen und Paul Natorp, an Kants analytische Methode der Prolegomena (1783) an: „Analytische Methode [. . . ] bedeutet [. . . ], daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist.“ (Prol AA 276 f, § 5, Anm. 1.) 127 Cassirer ist hierbei stets auf Höhe der zeitgenössischen Einzelwissenschaften und diskutiert Ergebnisse und Theorien aus der Mythenforschung, Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Ethnologie, Psychologie, Wissenschaftstheorie, Mathematik und Physik u.v.m. 128 ECW 13, S. 54. 129 Ebd. S. 59. 126
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beschrieben werden, sondern muss phänomenologisch freigelegt werden. Bewusstsein ist ein „Urphänomen“. 130 „Hier geht es nicht um ‚ein Erscheinendes`, sondern um ‚die reine Tatsache des Erscheinens[`] selbst.“ 131 In Korrelation zum Bestand des objektiven Geistes soll so eine Bewusstseinstheorie, welche Cassirer auch als „eigentliche[n] Proteus der Philosophie“ 132 bezeichnet, entworfen werden. Die folgenden Untersuchungen stellen sich die Aufgabe zu zeigen, wie hier, angefangen von dem schlichten Ausdruckswert der Wahrnehmung und von den repräsentativen Charakteren der Vorstellung, insbesondere der Raum- und Zeitvorstellung, bis hinauf zu den allgemeinen Sinndeutungen der Sprache und der theoretischen Erkenntnis, ein einheitlicher Zusammenhang besteht. Die Art dieses Zusammenhangs kann nur dadurch bezeichnet und kenntlich gemacht werden, daß man seinem Aufbau folgt und daß man an diesem Aufbau inne wird, wie er, so verschiedenartig, ja gegensätzlich seine einzelnen Phasen sind, dennoch von ein und derselben geistigen Grundfunktion beherrscht und geleitet wird. 133
Cassirer rekonstruiert infolgedessen eine Dreigliedrigkeit der Symbolfunktion, die sich in Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und reine Bedeutungsfunktion auffächert. Diese ordnet er den drei Formwelten 134 Mythos, Sprache und Wissenschaft zu, die insgesamt das Medium des objektiven Geistes ausmachen. In jeder Symbolfunktion und in jeder symbolischen Form drücken sich geistige Objektivierungsleistungen aus, die in konstitutiver Wechselwirkung mit den Modi der Wahrnehmung und Repräsentation stehen. 135 Diese bezeichnet Cassirer als Ausdruckswahrnehmung, Dingwahrnehmung und reines Denken. Ich verstehe dieses Modell insgesamt als ein Repräsentationsmodell ohne Repräsentationalismus, 136 in dem keines der oben genannten Momente isoliert für sich auftaucht, sondern auf jeder Stufe sich Wahrnehmung und Objektivierungsleistung wechselseitig durchdringen und sich auf eine sinnlich-geistige Einheit hin symbolisch prägnant formen. Diese Terminologie übernimmt Cassirer bekanntermaßen von Goethe. Cassirer nennt beispielsweise auch Ausdruck, Leben, Leib-Seele-Verhältnis, Person, Sprache, Tod und Zeit Urphänomene. Vgl. ECN 1, S. 306. 131 Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 172. 132 ECW 13, S. 53. 133 Ebd. S. 46 f. 134 Ebd. S. 519. 135 Vgl. ECW 13, S. 158. 136 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 235–256. 130
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Sollen wir eine wahrhaft konkrete Anschauung der „vollen Objektivität“ des Geistes einerseits, seiner „vollen Subjektivität“ andererseits gewinnen, so müssen wir die methodische Korrelation, die Natorp als Prinzip aufstellt, für alle Gebiete geistigen Schaffens zur Durchführung zu bringen suchen. [. . . ] Die Betrachtung wird über die drei Dimensionen des Logischen, des Ethischen und des Ästhetischen hinausgedrängt: Sie muß insbesondere die „Form“ der Sprache und die „Form“ des Mythos in ihren Kreis hineinziehen, wenn sie zu den primären subjektiven „Quellen“, zu den ursprünglichen Verhaltungsweisen und Gestaltungsweisen des Bewußtseins zurückdringen will. Unter diesem Gesichtspunkt treten wir nunmehr an unsere Frage: an die Frage nach der Struktur des wahrnehmenden, des anschauenden und des erkennenden Bewußtseins heran. 137
Cassirer entwirft demnach eine holistische Theorie des subjektiven und des objektiven Geistes. 138 Die „einander entsprechenden [. . . ] Formen, [. . . ] Funktionen und [. . . ] Fähigkeiten [. . . ] werden auf diese Weise in eine phänomenologische Folge eingeordnet, welche die Hierarchie symbolischer Formen innerhalb der geschichtlichen Geistesentwicklung fest bestimmt“. 139 Das Bewusstsein wird in Vermittlung mit seinen Objektivierungsleistungen phänomenologisch freigelegt. Anders als in den lediglich aus einem Objektivationsmodus heraus entwickelten empiristischen Bewusstseinstheorien bietet Cassirers Geist-Holismus die Möglichkeit eines wechselseitigen methodologischen Korrektivs: An diesem Punkte stellt sich uns daher von neuem – und in einer höchst eindringlichen Weise – die Beziehung dar, die zwischen der Methodik der phänomenologischen Analyse und der Methodik einer rein objektiv gerichteten „Philosophie des Geistes“ besteht. Beide sind so eng miteinander verknüpft und so notwendig aufeinander angewiesen, daß sie nicht nur in ihren positiven Ergebnissen ständig ineinandergreifen, sondern daß auch umgekehrt jeder falsche oder unvollkommene Ansatz innerhalb der einen Richtung der Betrachtung sich alsbald auf der Gegenseite bemerkbar und fühlbar macht. Eine mangelhafte Erfassung des objektiven Bestandes, der in den einzelnen symbolischen Formen vorliegt, birgt stets die Gefahr in sich, daß die Phänomene, in denen dieser Bestand sich gründet, verkannt werden – und andererseits gefährdet jedes theoretische Vorurteil, das sich ECW 13, S. 63. Zu diesem Ergebnis kommt auch Luft, Sebastian: „A Hermeneutic Phenomenology of Subjective and Objective Spirit“, in: ders.: Subjectivity and Lifeworld in Transcendental Phenomenology, Northwestern University Press: Evanston 2011, S. 235–267. 139 Poma: Ernst Cassirer, S. 100. 137 138
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in die reine Deskription der Phänomene einmischt, zugleich die Würdigung des Sinngehalts der Formen, die aus ihnen resultieren. 140
Hiermit sind nun die Programmatik und die Reichweite phänomenologischen Denkens innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen vollständig dargelegt. Es wäre zu wenig gesagt, behauptete man: „Cassirer entschied sich [. . . ] für eine Phänomenologie [. . . ], in der sich Einflüsse von Hegel, Natorp und Husserl verflechten.“ 141 Vielmehr bezeichnet dieser Terminus „eine eigene wissenschaftliche Disziplin“. 142 Es bleibt zu fragen, wie sich diese Ergebnisse insgesamt zu der Idee verhalten, die Philosophie der symbolischen Formen als Phänomenologie der Wahrnehmung auszulegen.
1.4.4 Die Philosophie der symbolischen Formen als Phänomenologie der Wahrnehmung Versteht man das Projekt einer Phänomenologie der Wahrnehmung, das Cassirer an den angeführten sieben Stellen des dritten Bandes sowie in dem wichtigen Aufsatz Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung (1942) ausdrücklich benennt, 143 nun im Sinne der skizzierten holistischen Theorie des Geistes, ergibt sich vorläufig folgendes Bild: Eine Wahrnehmungsphilosophie soll ganz grundsätzlich den Weg vom Wahrnehmen zum Wissen plausibilisieren. Dies streben nicht nur die klassischen rationalistischen und empiristischen, sondern auch fast alle modernen pragmatistisch-epistemologischen Theorien wie bspw. der Disjunktivismus an. 144 Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich der Enaktivismus, der Wahrnehmen als Handeln und Orientieren rekonstruieren möchte und hierzu nicht nur das Erkennen in den Hintergrund rückt, sondern – und dies halte ich für sehr viel problematischer – den Begriff der Repräsentation komplett fallen lässt. 145 Wegmarken auf dem Pfad vom Wahrnehmen zum Wissen sind nun insbesondere die Fragen, wie (a) Begriffe und ECW 13, S. 82 f. Poma: Ernst Cassirer, S. 104. 142 Möckel: „Hegels Phänomenologie des Geistes als Vorbild für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“, S. 268. 143 Vgl. ECW 24, S. 396. 144 Vgl. beispielsweise McDowell, John H.: Perception as a Capacity for Knowledge, Milwaukee: Marquette University Press 2011. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass nicht alle Spielarten des Disjunktivismus in epistemologischer Absicht formuliert sind. 145 Vgl. hierzu meine Kritik in Endres, Tobias: „Merleau-Ponty und das Problem der Repräsentation. Kommentar zu Jürgen Trabant“, in: Fuchs, Thomas / Schlette, Magnus / 140 141
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Wahrnehmung zusammenspielen, (b) an welcher Stelle nicht-begriffliche Erfahrungen ihren Platz haben, (c) wie sich die Repräsentationsleistungen, in denen ein Teil unseres Wissens unbezweifelbar vorliegt, aufbauen, und letztendlich (d), wie das Verhältnis von Geist und Welt nicht-dualistisch ausbuchstabiert werden kann. In methodologischer Hinsicht gilt für all dies die in Anschlag gebrachte phänomenologische Disziplin. Die Vermittlung von subjektivem und objektivem Geist sucht nach einem Standpunkt, der die relative Geltung der Kausalanalyse methodisch überschreitet: Wenn der Physiologe und der physiologische Optiker hierbei den sinnlichen Faktor vom geistigen reinlich abzuscheiden sucht, wenn er geneigt ist, jenen als „primär“, diesen als „sekundär und accidentell“ zu betrachten, so mag diese Tendenz vom Standpunkte der „Sicht“, in der er selbst steht und die ihm die Richtung seiner Betrachtung vorschreibt, vom Standpunkt der kausalen Analyse, der genetischen „Erklärung“ des Wahrnehmungsvorganges relativ berechtigt sein – aber völlig verfehlt wäre es, dieses relative Recht mit einem absoluten zu verwechseln. Die rein phänomenologische Betrachtung wird hier, wenn sie überhaupt noch von einem „Früher“ oder „Später“ spricht, eher geneigt sein, das Verhältnis umzukehren: Sie wird betonen, daß die „Ideation“, daß die Art der „Sicht“ das eigentliche πρότερον τή φύσει ist, weil erst in ihr und durch sie die Bedeutung des Gesehenen hervortritt und weil sie sich erst gemäß ihr bestimmt. 146
Die Phänomenologie der Wahrnehmung im Sinne der in der Philosophie der symbolischen Formen entwickelten Theorie des Geistes ist im folgenden Sinne dialektisch: Sie beginnt beim unmittelbar Sinnlichen, nimmt ihren Weg über das Anschauliche und vollendet sich im radikal Unanschaulichen. Fundament des Bewusstseins ist die Ausdruckswahrnehmung, welcher die ‚Formwelt` des Mythos entspricht. Dieses Weltbild ist noch weitgehend durch Indifferenzen bestimmt und erst noch auf dem Weg zur Entzweiung in die klassischen philosophischen Dichotomien von Subjekt und Objekt sowie Geist und Welt. Das Bewusstsein hat die Welt hier noch in einem ursprünglich affektiv-expressiven Sinne, anstatt sich in Differenz zu ihr zu wissen. Insbesondere das Kausalgeschehen wird mythisch-magisch wahrgenommen: Die Tiere bringen die Jahreszeiten, der Rauch des Feuers macht die Regenwolken usf. Jedes durch eine der drei Kirchner, Anna Maria (Hrsg.): Schriften des Marsilius-Kollegs. Anthropologie der Wahrnehmung, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017, S. 355–360. 146 ECW 13, S. 150 f.
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Symbolfunktionen dominierte Weltbild durchläuft dabei eine mimische, eine analogische und eine rein symbolische Phase, wodurch die skizzierte Phänomenologie nun auch eine genetische Dimension erhält. 147 Die zunächst im mimischen Verstehen herrschende Identität von Zeichen und Sache wandelt sich über die analogische Zeichenverwendung, in der ein Zeichen für ein anderes einstehen kann, zur Einsicht in die Autonomie des Zeichens. Dies soll erklären, wie es überhaupt erst zu einer Krise und folglich zum Erreichen eines neuen geistigen Niveaus im Bewusstsein kommt. Erst mit der Sprache kann das Bewusstsein dann zu den im Ausdruck bereits angelegten eigentlichen Repräsentationsleistungen fortschreiten. Die Sprache formt so ein Weltbild der Vorstellungen, wodurch die Ding- oder Sachwahrnehmung in den Vordergrund rückt. Das Bewusstsein fasst nun das Wahrgenommene anhand von Dingen und Eigenschaften auf und beginnt experimentell, das wahrgenommene Geschehen in Ursache und Wirkung zu zergliedern. Dies geschieht selbstverständlich zunächst auf unwissenschaftliche Weise. Auch die Welt der Anschauung muss durch die Krisen der drei angeführten Phasen hindurchschreiten, um in einem letzten Schritt das wissenschaftliche Weltbild des reinen Denkens zu etablieren, in dem rein funktionale Zusammenhänge auch Unanschauliches wie die Ergebnisse von Quantenmechanik und Relativitätstheorie bezeichnen können. Aber genau wie die unseren sprachlich geformten Alltag des natürlichen Weltbildes dominierende Sachwahrnehmung niemals die Urschicht der Ausdruckswahrnehmung völlig zum Verschwinden bringen kann, 148 bleibt auch die streng wissenschaftliche Die Forschungsliteratur diskutiert, ob die Trias „Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung“ im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen mit der Trias „mimisch, analogisch, rein symbolisch“ des ersten Bandes kongruiert oder ob Letztere eine diachrone Dimension im funktionalen Aufbau des Geistes einnimmt. Birgit Recki kritisiert beide Schemata als inkonsistente „Adhoc-Konstruktionen“ und bestreitet ihre Wichtigkeit für die Philosophie Cassirers. Vgl. Recki, Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin: Akademie Verlag, 2004, S. 48, Anm. 33. Ich widerspreche sowohl der Kongruenz- als auch der Inkonsistenzthese, was ich in Kapitel 3 argumentativ darlegen werde. 148 Cassirer betont dies ausdrücklich: „In Wahrheit aber läßt sich das Korrelat der mythischen Weltansicht, läßt sich die Grundlage, die es in einer bestimmten Richtung der Wahrnehmung hat, kaum verfehlen, wenn man bedenkt, daß auch das theoretische Weltbild diese Grundlage zwar vielfältig modifiziert und durch Gestaltungen von anderer Art und Herkunft gleichsam überdeckt, daß es sie aber keineswegs völlig zum Verschwinden gebracht hat. Auch dieses Weltbild kennt die Wirklichkeit keineswegs allein als einen Inbegriff von Dingen und als einen Komplex von Veränderungen, die von streng kausalen Gesetzen beherrscht und durch sie miteinander verknüpft werden. Es ‚hat` die Welt noch in einem anderen und in einem ursprünglicheren Sinne, sofern sie sich ihm als reines Ausdrucksphänomen offenbart.“ (ECW 13, S. 68 f.) 147
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Erkenntnis durch den Beobachtungsrahmen im Experiment auf die Wahrnehmung stets angewiesen – auch dann, wenn ihre Resultate weder direkt wahrnehmbar noch unmittelbar anschaulich sind. Der Gang von der mythischen Weltsicht zur wissenschaftlichen spiegelt sich so gleichermaßen in der Trias von mythischen, sprachlichen und wissenschaftlichen Begriffen 149 wie in der Trias Wahrnehmen, Anschauen, Denken wider. Die Explikation solch einer Phänomenologie hat Cassirer meiner Lesart zufolge genau mit Erscheinen des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen vorgelegt. Geht man von der oben nachgewiesenen Gesamtüberschrift aus, die Cassirer mit „Grundzüge einer Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ 150 untertitelt hatte, und versteht die phänomenologischen Analysen des Mythos, der Sprache und der Erkenntnis als Teile einer die Bewusstseinsfunktionen fundierenden Phänomenologie (nämlich einer Phänomenologie der Wahrnehmung), sieht man sofort, dass sich genau diese Struktur im Aufbau des dritten Bandes widerspiegelt. Die eigentliche Phänomenologie der Erkenntnis, also diejenige rekonstruktive Analyse, die freilegt, wie sich Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinne aufbaut, bildet lediglich den dritten und abschließenden Teil des Bandes. Teil Eins widmet sich der Ausdrucksfunktion und der Ausdruckswelt, also der Ausdruckswahrnehmung. Teil Zwei ist mit „Das Problem der Repräsentation und der Aufbau der anschaulichen Welt“ überschrieben und verhandelt neben den Pathologien des Symbolbewusstseins und dem methodologisch, aber auch wahrnehmungstheoretisch äußerst wichtigen Kapitel Symbolische Prägnanz in erster Linie den Aufbau der Dingwahrnehmung. Cassirers Gesamttheorie einer Philosophie der symbolischen Formen ist folglich erst mit Erscheinen des dritten Bandes zur Reife gelangt und reintegriert die beiden ersten Bände, sachlich begründet in umgekehrter Reihenfolge, in komprimierter Form und unter insgesamt klarerer Fragestellung in den dritten Band. 151 Einen ersten Beleg für diese Gesamtinterpretation liefert bereits die Vorrede zum abschließenden Band: Vgl. hierzu Cassirers kleinere Schriften Die Begriffsform im mythischen Denken von 1922 (ECW 16) sowie Zur Theorie des Begriffs. Bemerkungen zu dem Aufsatz von Georg Heymans von 1928 (ECW 17). 150 ECN 1, S. 301. 151 Zu selbigem Ergebnis kommt, wenn auch auf etwas anderem Wege, Van Vliet: Le forme selon Ernst Cassirer, S. 64: „La Préface et l'Introduction du troisième tome de la Philosophie des formes symboliques sont très denses car elles constituent une prise de conscience par Cassirer du changement de méthode que les deux premiers tomes ont implicitement mis en pratique. Il qualifie désormais son entreprise de « phénoménologie de la connaissance » et spécifie qu'il faut l'entendre en premier lieu comme phénoméno149
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Zwar behandeln auch diese Teile [die ersten beiden Abschnitte der Phänomenologie der Erkenntnis, T.E.], die es im wesentlichen mit der Grundform der Ausdruckswahrnehmung und mit der der Dingwahrnehmung zu tun haben, bekannte Probleme – Probleme, die von seiten der Psychologie wie von seiten der Erkenntniskritik, von der Phänomenologie wie von der Metaphysik seit alters her gestellt worden sind. Aber alle diese Fragen gewinnen eine neue Gestalt und eine veränderte Bedeutung, sobald man sie in dem Zusammenhang erblickt, den sie durch die Beziehung auf die systematische Grundfrage der „Philosophie der symbolischen Formen“ gewinnen. 152
Die Durchführung einer Phänomenologie der Wahrnehmung behandelt also notwendigerweise zwei Kernfragen der Philosophie der symbolischen Formen, nämlich (a) die Einheit des Weltbezuges innerhalb aller symbolischen Formen durch die Symbolfunktion und (b) die Überwindung des Welt-Geist-Dualismus, die weder dem Repräsentationalismus noch dem reduktiven Naturalismus gelungen ist. Cassirers Ergebnis bezüglich des funktionalen Aufbaus von Wahrnehmungen liegt dabei nicht nur in der Pointe, dass alle Wahrnehmungserlebnisse symbolisch prägnant und somit elementar geistige Erfahrungen sind, sondern im Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung. 153 Wahrnehmen ist demnach an die ursprünglich-produktive Umgestaltung des Eindrucks zum Ausdruck gebunden. „Das Gegebene wird nicht nur gegeben, es wird auch genommen, es wird wahrgenommen. Das spontane Rezipieren ist ein verstehendes Rezipieren. Verstehen ist nicht weniger spontan als Schaffen.“ 154 Im Ausdrucksphänomen haben wir die Welt erst in einem originären Sinne, so dass wir sie verstehen und später auch denken können.
logie de la perception.“ („Die Vorrede und die Einleitung des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen sind sehr dicht, weil sie eine Bewusstwerdung Cassirers hinsichtlich eines Methodenwechsels darstellen, welchen die ersten beiden Bände bereits implizit in die Praxis umgesetzt haben. Er nennt sein Unternehmen nun ‚Phänomenologie der Erkenntnis` und spezifiziert, dass es in erster Linie als Phänomenologie der Wahrnehmung zu verstehen ist“; meine Übersetzung.) 152 ECW 13, S. X. Ein sachlich detaillierterer Nachweis erfolgt in Kapitel 3.3. 153 Dazu mehr in Kapitel 4 und 6.2.3. 154 Strauss, Michael: Empfindung, Intention und Zeichen. Typologie des Sinntragens, Freiburg / München: Alber 1984, S. 100. Strauss' „Versuch, Cassirers Arbeit über die symbolischen Formen fortzusetzen“ (Ebd. S. 5.) hatte, ebenso wie die Aufnahme der Experimente Albert Michottes zur Wahrnehmung von Kausalität, bedeutsamen Einflus auf die Wahrnehmungstheorie Ben-Ze'evs. Vgl. Ben-Ze'ev, Aaron: The Perceptual System. A Philosophical and Psychological Perspective, New York: Peter Lang 1993.
Phänomenologie der Wahrnehmung
57
Ohne die Tatsache, daß sich in bestimmten Wahrnehmungserlebnissen ein Ausdruckssinn offenbart, bliebe das Dasein für uns stumm. Wirklichkeit könnte niemals aus der Wahrnehmung als bloßer Sachwahrnehmung gefolgert werden, wenn sie nicht in ihr, kraft der Ausdruckswahrnehmung, schon in irgendeiner Weise beschlossen läge und sich hier in einer durchaus eigentümlichen Weise manifestierte. 155
Im Phänomen des Ausdrucks liegt unser direkter geistiger Anschluss an das Natürliche beschlossen. 156 Hierin ist eine eminent realistische Pointe Cassirers zu sehen: Cassirers Bewusstseins- und Wahrnehmungstheorie ist nicht repräsentationalistisch, da sie im Ausdrucksphänomen eine vorprädikative Sinndimension erschließt, die Anfang und Entwicklung von Wahrnehmen, Verstehen und Wissen plausibilisiert. Auch ist sie resistent gegen den Skeptizismus, da der Skeptiker die Frage nach der Begründung des Phänomens des Ausdrucks erst unter den Voraussetzungen der etablierten Subjekt-Objekt-Dichotomie und des sprachlich-wissenschaftlichen Kausalitätsdenkens stellen kann. Das Urphänomen des Ausdrucks kann aufgrund seines Erlebnischarakters aber gar nicht vernünftig in Zweifel gezogen werden. 157 Cassirers Theorie der Vermittlung integriert also das Unmittelbare und die Direktheit der Wahrnehmung im Ausgang von der Ausdruckswahrnehmung. Sie ist wie jedes Urphänomen keiner Letztbegründung fähig, kann jedoch rekonstruktiv erschlossen und nicht nach vernünftigem Maß bezweifelt werden. Dieses Ergebnis steht also ganz im Sinne des ursprünglichen Entwurfs einer ‚Theorie der geistigen Ausdrucksformen`, welche als „Gesamttheorie unserer natürlichen und geistigen Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisse“ 158 in Korrelation zu den Formen der Wahrnehmung entwickelt wird. Folgerichtig lässt sich behaupten, dass die Philosophie der symbolischen Formen nicht nur in Auseinandersetzung mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt werden muss, sondern dass beide gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille sind. 159 ECW 13, S. 81 f. Siehe Kapitel 4.3. 157 Siehe Kapitel 4.4. 158 Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 11. 159 Meine Leitthese ist somit – wenn auch völlig im Einklang, so doch – geringfügig stärker formuliert als Van Vliets Lesart der Phänomenologie Cassirers als Weise der Prägnanzbildung, die zum Ergebnis eines Inklusionsverhältnisses kommt: „La phénoménologie de la connaissance inclut une phénoménologie de la perception.“ (Van Vliet: La forme selon Ernst Cassirer, S. 69.) („Die Phänomenologie der Erkenntnis umfasst eine Phänomenologie der Wahrnehmung“; meine Übersetzung.) 155 156
Kapitel 2 Systematische Propädeutik – Zugänge und Hintergründe
„Die Naturwissenschaft ist die Objektivierung der »Wahrnehmungs«-Erlebnisse[,] die Kulturwissenschaft die Objektivierung der »Ausdruckserlebnisse«[;]“ 1
2.1 Ziele und Wege der Philosophie der symbolischen Formen Im Folgenden soll es darum gehen, Programmatik und Methode der Philosophie der symbolischen Formen in aller Ausführlichkeit darzustellen. Die Dringlichkeit dessen speist sich aus zwei Erfahrungshorizonten: Cassirer ist zum einen lange Zeit – wenn auch als anerkannter Vertreter dieser Fachdisziplin – lediglich als Philosophiehistoriker wahrgenommen worden. 2 Die Fähigkeit, einen eigenen systematischen Beitrag zur Problemgeschichte innerhalb der Philosophie zu entwickeln, wurde ihm, nach zuerst überschwänglicher Anerkennung, exemplarisch von Edmund Husserl abgesprochen. 3 Man vermutet, dass Cassirer dies selbst gesehen und darauf auf dem Höhepunkt seines philosophischen Schaffens in der Einleitung ECN 5, S. 144. Dies gilt insbesondere für die anglo-amerikanische Rezeptionsgeschichte, in der Cassirer – trotz seines angeblichen Historismus – breit gewirkt hat. Innerhalb der kontinentalen Rezeptionsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg galt Cassirer als Erkenntnistheoretiker neukantianischer Provenienz und somit als überholt und geriet so in Vergessenheit, bis schließlich Mitte der achtziger Jahre eine erste Cassirer-Renaissance einsetzte. Vgl. Krois, John M.: Cassirer, Symbolic Forms and History, New Haven / London: YUP 1987, S. Xf. 3 Im Briefwechsel mit Natorp zwischen 1908 und 1918 setzt sich Husserl für die Berufung Cassirers nach Göttingen und insbesondere Marburg ein, um dort eine Tradition philosophischer Exzellenz aufrecht erhalten zu können. Cassirer gilt ihm zunächst als „kongeniale[r] Vertreter“ und „wirklicher Philosoph“ eines „Werk[s] großen Stils“ und 1918 schließlich als „einzig wahrhaft bedeutende[r] Mann in seiner ganzen philosophischen Generation“. In seiner letzten Äußerung über Cassirer gegenüber Natorp 1922 relativiert Husserl jedoch seine Einschätzung drastisch und stellt ihn als lediglich „außerordentlichen Historiker“ dar, der keines „persönliche[n] Ringen[s] um Leben und Tod [. . . ] eigenster [. . . ] Gedanken“ fähig sei. (Alle Stellen übernommen von Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 163 f.) 1 2
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Systematische Propädeutik – Zugänge und Hintergründe
zum dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen indirekt geantwortet hat, als er schrieb: Wie in meinen früheren Arbeiten, so habe ich auch in dieser die systematische Betrachtung nicht von der historischen abzulösen versucht, sondern nach einem engen Zusammenschluß beider gestrebt. Nur in einer solchen ständigen Rückbeziehung aufeinander können beide sich wechselseitig erhellen und wechselseitig fördern. [. . . ] [D]enn der jetzt wieder so vielfach beliebte Brauch, die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen, ohne nach ihrer Beziehung und Verknüpfung mit der Gesamtarbeit der wissenschaftlichen Philosophie zu fragen, ist mir niemals förderlich und fruchtbar erschienen. 4
Zum anderen machen die meisten Leser Cassirers beim Erstkontakt mit dessen Œuvre eine gemeinsame Erfahrung: Zunächst liest sich das Cassirersche Philosophieren vergleichsweise leicht. Lange, verschachtelte Sätze in kantischer Manier oder eine besonders eigenwillige Terminologie, wie wir sie z.B. von Hegel kennen, bleiben dem Leser erspart bzw. bleibt selten unerläutert. Dies mag auch in Teilen der Rezeption den Eindruck verfestigt haben, es handele sich bei Cassirers Schriften eher um Philosophiegeschichte als um das Ringen um eine eigene systematische Position. Der sorgsame Leser wird jedoch alsbald von einer gänzlich anderen Erfahrung überrascht: Der von Cassirer benannte „Zusammenschluß“ der „systematischen“ und „historischen Betrachtung“ ist programmatisch zu verstehen und alles andere als leicht verständlich. Cassirer hat diesen Zusammenschluss in aller Konsequenz in seinem systematischen Hauptwerk, der Philosophie der symbolischen Formen, durchgeführt. So werden wie in fast allen längeren Abhandlungen Cassirers philosophische Positionen immer wieder in indirekter Rede eingeführt, kritisiert und – zu oft vom Leser unbemerkt – dialektisch vermittelt. Je tiefer der Leser in das Denken Cassirers vordringt, desto klarer wird ihm, wie zwingend historisch und zugleich systematisch voraussetzungsreich Cassirer argumentiert. Jeder systematische Beitrag in Cassirers Denken erfordert vom Interpreten daher eine umfassende Rekonstruktionsleistung, in der letztlich auf sämtliche für den Kontext relevanten Werke sowie den Nachlass zurückgegriffen werden sollte. 5 ECW 13, S. XI. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil in Cassirers Werk mindestens vier Phasen auszumachen sind: (1) eine erkenntnistheoretische, (2) eine kulturphilosophische, (3) eine anthropologische und (4) eine sozialphilosophische. Vgl. Paetzold, Heinz: Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg: Junius 1993, S. 7–11. 4 5
Ziele und Wege der Philosophie der symbolischen Formen
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An attempt to understand Cassirer's philosophy in a comprehensive way must strive to see his systematic and historical works as aspects of one project of thought. It requires taking cognizance of the early writings and mature works from Cassirer's career in Germany as well as the later writings from his years in England, Sweden, and the United States. 6
Die hier anvisierte Darstellung der Cassirerschen Wahrnehmungstheorie wird so zu einem heiklen Unterfangen. Die Wahrnehmungsthematik zieht sich zwar wie ein roter Faden durch Cassirers Denken, muss jedoch, um als Beitrag zur Wahrnehmungsphilosophie dargestellt werden zu können, mit großer Sorgfalt aus Cassirers Schriften insgesamt herauspräpariert werden. Ich gehe an dieser Stelle daher erneut ausführlich auf Cassirers Methode ein und lege entlang dieser die Programmatik der Philosophie der symbolischen Formen so vollständig wie möglich dar. Cassirer bezeichnet seine Philosophie als idealistisch. 7 Dies ist insofern erläuterungsbedürftig, als man Cassirer eher mit Kant und dem Neukantianimsus als mit dem Deutschen Idealismus assoziiert und so wieder vor einer methodologischen Frage steht: Betreibt Cassirer Transzendentalphilosophie im kantischen Sinne, also im Sinne eines transzendentalen Idealismus, der zugleich ein empirischer Realismus sein will? Oder orientiert er sich am objektiven Idealismus im Sinne Hegels oder Schellings? Der Begriff „objektiver Geist“ ist ja bekanntlich zentral für Cassirers Philosophie. Aus der Darstellung der Phänomenologie als methodische Disziplin wissen wir bereits, dass Cassirer eine Synthese vieler methodologischer Einflüsse geltend macht. 8 Eine erste gemeinsame Schnittmenge, die man idealistischen Philosophien zuschreiben kann, ist die Kritik am Empirismus. Diese hebt bei Cassirer mit einem Zugeständnis an David Humes Analyse der Kausalität an und er zeigt daran die Selbstwidersprüchlichkeit eines sich missverstehenden Empirismus in Bezug auf die „reine Phänomenologie der Wahrnehmung“ 9 auf: Die scharfe Trennung des „Gegebenen“ und „Gedachten“ gehört seit Hume zu den sichersten Ergebnissen und zu den eigentlichen GrundforKrois: Cassirer, Symbolic Forms and History, S. 2. Vgl. ECW 11, S. XI. 8 Vgl. Kapitel 1.4.3. Eine differenzierte Positionierung zur Frage „Kant oder Hegel?“ entwickelt Wunsch, Matthias: „Phänomenologie des Symbolischen? Die Hegelrezeption Ernst Cassirers“, in: Wyrwich, Thomas (Hg.): Hegel in der neueren Philosophie (= HegelStudien, Beiheft 55), Hamburg: Meiner 2011, S. 113–140. 9 ECW 13, S. 33. 6
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derungen des Empirismus selbst. Daß insbesondere die „Idee“ der Kausalität in der bloßen sinnlichen Impression nicht enthalten noch aus ihr durch irgendeine Art des mittelbaren Schließens herauszuziehen ist, hat Hume ein für allemal gezeigt. Aber die positivistische Erkenntnislehre vergißt nicht selten, daß dieses Resultat auch in umgekehrter Richtung gilt – daß somit in die Darstellung des rein Tatsächlichen des Wahrnehmungsbewußtseins kein Moment eingemischt werden darf, das letzten Endes im kausalen Denken wurzelt und aus ihm seine Nahrung zieht. Die Vermengung deskriptiver und genetischer Gesichtspunkte bedeutet somit einen Verstoß gegen den Geist der empirischen Methode selbst – eine solche Vermengung aber ist es, wenn man dort, wo es sich um die reine Phänomenologie der Wahrnehmung handelt, auf die Tatsachen der Sinnesphysiologie zurückgreift und wenn man sie zum eigentlichen Einteilungsgrund, zum fundamentum divisionis, macht. 10
Cassirers Kritik am Empirismus beginnt also nicht mit dem rationalistischen Paradigma des der Sinnlichkeit entgegengestellten reinen Denkens, sondern hebt geradezu umgekehrt bei der Sinnlichkeit an. Die dem theoretischen Denken zugehörige Kausalität muss zunächst aus der Analyse herausgehalten werden bzw. darf sich nicht als Vorurteil in theoretischer Hinsicht in die reine Deskription der Wahrnehmungserlebnisse einschleichen. Cassirer kann so einen klaren Unterschied zwischen Empirismus und Empirie benennen, den ihm zufolge alle selbsternannten Empiristen nicht gesehen haben. Denn alle die Forscher, die diesen Weg gegangen sind, waren ohne Zweifel überzeugte „Empiristen“: Sie glaubten, indem sie ihn beschritten, ausschließlich den Tatsachen selbst zu folgen und sich all ihre Folgerungen lediglich durch die unmittelbare Beobachtung vorschreiben zu lassen. Aber wieder einmal zeigt sich hier in aller Deutlichkeit die Kluft, die zwischen „Empirismus“ und „Empirie“ besteht. Denn weit entfernt, daß man auf diesem Wege zu einer reinen „Deskription“ der Phänomene gelangte, wurden diese jetzt von vornherein unter bestimmte theoretische Vorannahmen und Vorurteile gerückt und ihnen gemäß gedeutet. 11
Der Verweis auf das Faktische kann, folgt man Cassirers phänomenologischer Intuition, nicht bedeuten, dass die theoretische Weltsicht und somit Kausalität, Dinge und Eigenschaften die ‚Urtatsachen` des Bewusstseins
10 11
ECW 13, S. 23 f. ECW 13, S. 248.
Ziele und Wege der Philosophie der symbolischen Formen
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bilden. Das Wahrnehmungserlebnis besteht auch und zuerst in anderen Formen der Bewusstheit. Ein weiteres Problemfeld, das bereits kurz vor der Jahrtausendwende dem Idealismus Kants und Hegels – in Form eines pragmatistisch gewendeten semantischen Holismus 12 – erneut Aufwind verschafft hat, ist der von Wilfrid Sellars so benannte Mythos des Gegebenen. 13 Cassirer thematisiert diesen entlang der Idee der Unmittelbarkeit des Lebens und in kritischer Auseinandersetzung mit Henri Bergson. Denken und Leben stehen sich demnach auf den ersten Blick unversöhnlich gegenüber: Die durch das Denken in die Welt gekommene Entzweiung von Geist und Welt lässt sich durch das Denken nicht in die Unmittelbarkeit des Lebens zurückübersetzen. Bergson mobilisiert deshalb die Idee einer reinen Intuition, 14 die entgegen den repräsentativen Leistungen des Bewusstseins, also Sprechen und Denken, die Unmittelbarkeit des unentzweiten Lebens anschauen möchte. Die reine Unmittelbarkeit des Lebens aber läßt keine derartige Teilung und Zerfällung zu. Sie kann, wie es scheint, nur ganz oder gar nicht geschaut werden: Sie tritt in die mittelbaren Darstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondern bleibt als ein prinzipiell Anderes, ihnen Entgegengesetztes außerhalb ihrer stehen. Nicht in irgendeiner Form der Repräsentation, sondern nur in der reinen Intuition läßt sich der ursprüngliche Gehalt des Lebens erfassen. [. . . ] Die Kluft zwischen diesen beiden Gegensätzen läßt sich – so scheint es – durch keine Bemühung des vermittelnden Denkens, das selbst ganz auf der einen Seite des Gegensatzes verharrt, jemals überbrücken: Je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische, auf das bloß Signifikative fortschreiten, um so mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition. 15
Diese Idee ist jedoch, wie Cassirer treffend schreibt, Schein, sie „scheint eben [nur] darin zu bestehen, diesen Schleier aufzuheben – von der vermittelnden Sphäre des bloßen Bedeutens und Bezeichnens wieder in die ursprüngliche des intuitiven Schauens zurückzudringen“. 16 Sie ist also Vgl. Brandom, Robert B.: „Sketch for a Program of a Critical Reading of Hegel. Comparing Empirical and Logical Concepts“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus (3), 2005, S. 131–161. 13 Vgl. Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, S. 13. 14 Vgl. Bergson, Henri: Introduction à la métaphysique, Paris: Presses Universitaires de France 2011 sowie Deleuze, Gilles: Le bergsonisme, Paris: Presses Universitaires de France 1966, S. 1–28. 15 ECW 11, S. 47. 16 ECW 11, S. 49. 12
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ein Mythos, denn der Weg, den jede die Unmittelbarkeit thematisierende Philosophie gehen möchte, erfolgt notwendig durch die vermittelnde Tätigkeit des geistigen Lebens, die reine Unmittelbarkeit des Lebens dagegen ist stumm. Der Philosophie bleibt einzig und allein der Weg über den Begriff. Folgte man hier Bergson, bliebe dem Denken aus prinzipiellen Gründen „das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit, verschlossen.“ 17 Cassirer dagegen sieht klar, dass das Unmittelbare nur auf dem Weg der Vermittlung, also durch Integration in das geistige Leben, einholbar ist. Hier bleibt daher für sie kein anderer Ausweg, als die Richtung der Betrachtung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun, muß sie versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden. Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt zu machen. In dieser Bewußtheit erst erhebt sich der Gehalt des Lebens zu seiner echten Form. Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus: Es bleibt ebensowenig ein Stück dieses Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des „Geistes“. 18
Die von Bergson vorgestellte Unmittelbarkeit des Lebens, die durch reine Intuition geschaut werden soll, ist demnach ein falsches Unmittelbares. Hat man einmal verstanden, dass die philosophisch motivierte Rückkehr in die Unmittelbarkeit des Lebens ein Selbstbetrug am Akt ebenjener Tätigkeit ist, sieht man, dass die wahre Unmittelbarkeit eben die geistig geformte, also reflektierte Unmittelbarkeit ist. 19 Cassirers Idealismus ist folglich eine Philosophie der Vermittlung. Ziel dieser Philosophie ist Ebd. Ebd., Hervorhebungen von mir. Cassirers Rede von der „Vollendung nach Vorwärts“ kommt sachlich wie sprachlich Adornos Diktum, dass „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ (Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 27.) ist, sehr nahe, welches dieser auf das Denken des Nichtidentischen in einer negativen Dialektik bezieht. 19 Steve Lofts deutet den gelebten Mythos folgerichtig als die Bedeutsamkeit des Lebens selbst: „Le mythe vécu apparaît comme la signification de la vie elle-même. Lorsque nous ne le voyons plus comme la signification culturelle et historique, nous l'avons déjà surmonté. Alors un mythe qui est vu comme un mythe est forcément un mythe passé.“ (Lofts, Steve G.: Ernst Cassirer. La vie de l'esprit. Essai sur l'unité systématique de la philosophie des formes symboliques et de la culture, Leuven: Peeters / Vrin 1997, S. 55.) („Der gelebte Mythos erscheint als die Bedeutung des Lebens selbst. Wenn wir ihn nicht mehr mit seiner kulturellen und historischen Bedeutung betrachten, dann haben wir ihn 17 18
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die Selbsterkenntnis des Geistes durch Reflexion auf diejenigen schöpferischen Prinzipien, die ein Verstehen der Welt und somit Kultur erst möglich machen: die symbolischen Formen. Cassirer hat die Bedeutung des Begriffs der symbolischen Formen an anderer Stelle anhand ebenjener Entzweiung von unmittelbarem und geistigem Leben sehr treffend und weniger metaphorisch als durch die „Energien des Geistes“ 20 bestimmt. Im Kapitel zu den Pathologien des Symbolbewusstseins 21 deutet er die symbolischen Formen als vermittelndes Medium zwischen 22 den organischen und den geistigen Funktionen des Lebens: Läßt sich den pathologischen Veränderungen der Sprache und der mit ihr verwandten symbolischen Grundleistungen ein Hinweis darauf entnehmen, was diese Leistungen für den Aufbau und für die Gesamtgestalt der Kultur bedeuten? Gelb und Goldstein haben das Verhalten der Kranken, um es von dem „kategorialen“ Verhalten der Gesunden zu unterscheiden, als das „primitivere“ und „lebensnähere“ bezeichnet. Und dieser Ausdruck der Lebensnähe trifft in der Tat zu, wenn man unter dem Begriff des Lebens die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfaßt und diese den spezifisch geistigen Funktionen gegenüberstellt. Denn was zwischen diesen beiden Sphären steht und was den scharfen Schnitt zwischen ihnen vollzieht: das sind ebenjene geistigen Gebilde, die sich unter den Einheitsbegriff der „symbolischen Formen“ zusammenfassen lassen. 23
Versteht man also Kultur entlang des Begriffs der symbolischen Formen, so sind Mythos, Sprache und Wissenschaft eben keine kulturellen Erzeugnisse, keine Produkte der dem organischen Leben enthobenen geistigen Funktionen. Vielmehr bezeichnen sie – und damit kommen wir doch wieder zu den „Energien des Geistes“ zurück – ein eigentümliches Zwischenreich zwischen Natur und Kultur, das sich uns reflexiv als dialektischer Prozess erschließt. Um diese Dialektik der symbolischen Formen im Ausgang vom Mythos zu verdeutlichen, bemüht Cassirer, wie in vielerlei Hinsicht, Goethe:
bereits überwunden. Ein Mythos, der als Mythos gesehen wird, ist also zwangsläufig ein vergangener Mythos“; meine Übersetzung.) 20 Vgl. ECW 16, S. 79; ECW 11, S. 7 u. 121; ECW 12, S. 275. 21 Vgl. ECW 13, S. 234–322. 22 Vgl. zur Idee eines Übergangs vom bewussten zum selbstbewussten, also geistigen Leben Kapitel 5 der vorliegenden Studie zur ‚natürlichen` Symbolik. 23 ECW 13, S. 319.
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Was Goethe einmal von der Darstellung großer Menschen sagt: daß die Quelle immer nur beschrieben werden könne, indem sie fließt, das gilt in einem allgemeinen Sinne von jedweder lebendigen Bewegung des Geistes. Die Natur ihres Fortschritts kann nicht lediglich formelhaft und abstrakt definiert, sondern sie muß in ihrer Aktualität, in der Energie der Bewegung selbst, ergriffen werden. Das methodische Gesetz des „Procedere“ läßt sich nicht anders als am konkreten Prozeß selber, an seinen Anfängen und seiner Fortentwicklung, seinen Wendungen und Wandlungen, seinen geistigen Krisen und Peripetien deutlich machen. Der dogmatische Empirismus wie der dogmatische Rationalismus scheitern beide daran, daß sie dieser Aktualität, diesem reinen Prozeßcharakter der Erkenntnis nicht gerecht werden können. 24
An dieser Stelle zeigt sich erneut der Bezug auf sowie die Kritik an Hegel. Die symbolischen Formen „schäumen“ ähnlich wie aus Hegels „Geisterreich“ 25 aus dem Mythos als „Mutterboden“ 26 der Kultur. Im Unterschied zu Hegel ist Cassirer aber die essentialistische Teleologie fremd. Jede fort- oder rückschrittliche 27 Veränderung des geistigen Lebens offenbart Krisen und Wendepunkte, die das eigentlich Dialektisch-Prozessuale des Geistes ausmachen. [A]uch der Mythos setzt eine derartige geistige „Krisis“ voraus – auch er bildet sich erst, indem im Ganzen des Bewußtseins eine Scheidung sich vollzieht, durch die nun auch in die Anschauung des Weltganzen eine bestimmte Trennung eindringt, durch die eine Zerlegung dieses Ganzen in verschiedene Bedeutungsschichten bewirkt wird. 28
Das Weltverstehen durch die unterschiedlichen symbolischen Formen tritt so insbesondere regelmäßig in Widerspruch zum Mythos, aus dem sie – idealtypisch gesprochen – letztlich hervorgegangen sind. Wobei man sich freilich gegenwärtig halten muß, daß es sich hier nicht um eine zeitliche, sondern um eine methodische Schichtung handelt, und daß ECW 13, S. 477. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 531. 26 Vgl. ECW 12, S. 277. 27 Cassirer zufolge tendiert die Kultur insgesamt dazu, in mythisches Denken zurückzufallen, da die ihr zugrunde liegende Sozialität auf dem Mythos als Gefühlswelt aufbaut. Diese Tendenz hat er ausführlich und exemplarisch in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in seinem letzten Werk The Myth of the State (1946) analysiert. Vgl. ECW 25, S. 39–51. 28 ECW 12, S. 86; meine Hervorhebung. 24 25
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demnach in einer gegebenen historischen Gestalt [. . . ] die Schichten, die wir hier gedanklich zu sondern versuchen, neben- und miteinander bestehen und sich in der mannigfachsten Weise übereinanderlagern können. 29
Der Empirismus scheitert, weil er diese Widersprüchlichkeit, anstatt sie dialektisch zu vermitteln, an einem falsch verstandenen, hypostasierten Faktischen misst. Der Rationalismus – hier in der Gestalt Hegels – scheitert, weil er der dialektischen Entwicklung ein hypostasiertes Sein des Geistes unterschiebt und so letztlich die Welt logifiziert. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen holt die Dynamik des ursprünglich von Hegel geforderten „lebendige[n] unmittelbare[n] Werden[s]“ 30 des entäußerten Geistes ein, welche den Gegensätzen durch Vermittlung gerecht wird: „Diese Polarität wird vernichtet, wenn man die gegensätzlichen Momente, statt sie aufeinander zu beziehen und sie gedanklich miteinander zu vermitteln, vielmehr aufeinander zurückzuführen sucht.“ 31 So wird erneut einsichtig, mit welcher Absicht Cassirer seine Philosophie idealistisch nennt. Sie ist dies in radikal antimetaphysischer Weise: Das, wonach Cassirer mittels der symbolischen Formen sucht, „das sind nicht sowohl Gemeinsamkeiten im Sein, als es Gemeinsamkeiten im Sinn sind“. 32 Cassirers Idealismus ist somit wesentlich ein semantisch-semiotischer Idealismus. Verstehen und Bezugnahme auf die Welt sind über die symbolischen Formen vermittelt, welche in ideeller, also bedeutungsmäßiger Hinsicht diejenigen Schichten markieren, an denen sich die bekannten Entzweiungen in Geist und Welt oder auch in Subjekt und Objekt vollziehen. In all diesen Übergängen werden wir wieder unmittelbar jene Dynamik gewahr, die zum Wesen jeder echten geistigen Ausdrucksform gehört. Es ist die entscheidende Leistung jeder derartigen Form, daß in ihr die starre Grenze zwischen dem „Innen“ und „Außen“, dem „Subjektiven“ und ECW 11, S. 270. Dieses Zitat steht ausdrücklich im Kontext der Analyse sprachlicher „Schichten“ und „Schichtungen“, jedoch ist Cassirers methodisch-idealtypische Rede auch für die anderen symbolischen Formen gültig, wie folgendes Zitat belegt: „In diesem Sinne nach einer ‚Form` des mythischen Bewußtseins fragen heißt weder nach seinen letzten metaphysischen Gründen noch nach seinen psychologischen, seinen geschichtlichen oder sozialen Ursachen suchen: Vielmehr ist damit lediglich die Frage nach der Einheit des geistigen Prinzips gestellt, von dem all seine besonderen Gestaltungen, in all ihrer Verschiedenheit und in ihrer unübersehbaren empirischen Fülle, sich zuletzt beherrscht zeigen.“ (ECW 12, S. 14.) 30 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 530. 31 ECW 13, S. 478. 32 ECW 13, S. 319. 29
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Systematische Propädeutik – Zugänge und Hintergründe
„Objektiven“ nicht als solche bestehenbleibt, sondern daß sie gleichsam flüssig zu werden beginnt. Das Innere steht nicht neben dem Äußeren, das Äußere neben dem Innern, als je ein eigener abgesonderter Bezirk, sondern beide reflektieren sich ineinander und erschließen erst in dieser wechselseitigen Spiegelung ihren eigenen Gehalt. 33
Ein weiterer radikal antimetaphysischer Aspekt des Cassirerschen Denkens zeigt sich in einer weiteren Passage aus dem ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Dort bezieht er die zuvor dargelegten Überlegungen zum ideell-sinnhaften Status der symbolischen Formen und ihrer Rolle im Aufbau des Weltverstehens und den damit einhergehenden Entzweiungen zwischen Ich und Welt auf einen methodischen Aspekt der Hegelschen Dialektik. Die zuvor kritisierte Teleologie im Aufbau des Bewusstseins bei Hegel gilt nicht grundsätzlich für dessen gesamtes methodisches Vorgehen. Hegel hat in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) als Erster vorgeführt, wie man grundsätzlich voraussetzungslos philosophiert: durch immanente Kritik. Bei Hegel bedeutet dies, die Wissensansprüche einer bestimmten Erscheinungsform des Bewusstseins, z.B. die der „sinnliche[n] Gewißheit“, 34 ausschließlich an ihren eigenen Maßstäben zu messen. Hegels weiteres Vorgehen entlang des dialektischen Dreischritts Setzung, Negation und Negation der Negation muss an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, da Cassirer diese Dialektik aufgrund ihres spekulativen Vorgehens als metaphysisch ablehnt. 35 Vielmehr überträgt er lediglich die Idee des voraussetzungslosen Anfangs auf seine Grundidee verschiedener Formen des Weltaufbaus und -verstehens. Um die Eigentümlichkeit irgendeiner geistigen Form sicher zu bestimmen, ist es vor allem notwendig, daß man sie mit ihren eigenen Maßen mißt. Die Gesichtspunkte, nach denen sie beurteilt und nach welchen ihre Leistung abgeschätzt wird, dürfen nicht von außen an sie herangebracht, sondern sie müssen der eigenen Grundgesetzlichkeit der Formung selbst entnommen werden. Keine feststehende „metaphysische“ Kategorie, keine von andersher gegebene Bestimmung und Einteilung des Seins, so sicher und festgegründet sie immer erscheinen mag, kann uns der Notwendigkeit eines solchen rein immanenten Anfangs überheben. [. . . ] Jede
ECW 12, S. 117. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 69–78. 35 Vgl. hierzu ausführlich das Hegel-Kapitel im dritten Band des Erkenntnisproblems: ECW 2, S. 274–363. 33 34
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neue Form stellt in diesem Sinne einen neuen „Aufbau“ der Welt dar, der sich nach spezifischen, nur für sie gültigen Richtmaßen vollzieht. 36
Diese Denkfigur haben wir bereits weiter oben an Cassirers Kritik des Empirismus beobachten können, wo er das Wahrnehmungsphänomen zunächst frei von der Kausalität und weiteren theoretischen Formmomenten wie Ding und Eigenschaft gehalten wissen wollte. Jede symbolische Form enthält solche Formungsprinzipien, die folglich das Weltbild prägen. Wir dürfen aber nicht verschiedene Weltbilder an ihnen fremden Maßstäben messen. Und auch dürfen wir nicht versucht sein, von irgendeiner dogmatisch-metaphysischen Annahme über das Sein der Welt auszugehen. Die dogmatische Betrachtung, die vom Sein der Welt als einem gegebenen und festen Einheitspunkt ausgeht, ist freilich geneigt, alle diese inneren Unterschiede der geistigen Spontaneität in irgendeinen Allgemeinbegriff vom „Wesen“ der Welt aufgehen zu lassen und sie dadurch zum Verschwinden zu bringen. Sie schafft feste Zerlegungen des Seins: Sie teilt es etwa in eine „innere“ und eine „äußere“, in eine „psychische“ und eine „physische“ Wirklichkeit, in eine Welt der „Dinge“ und der „Vorstellungen“ – und auch innerhalb der einzelnen, auf diese Weise gegeneinander abgegrenzten Bezirke wiederholen sich ihr die gleichen Scheidungen. Auch das Bewußtsein, auch das Sein der „Seele“ zerfällt wieder in eine Reihe abgesonderter, gegeneinander selbständiger „Vermögen“. Erst die fortschreitende Kritik der Erkenntnis lehrt uns, diese Teilungen und Trennungen nicht als ein für allemal in den Dingen selbst liegende, als absolute Bestimmungen zu nehmen, sondern sie als durch die Erkenntnis selbst vermittelte zu verstehen. Sie zeigt, daß insbesondere der Gegensatz von „Subjekt“ und „Objekt“, von „Ich“ und „Welt“ für die Erkenntnis nicht einfach hinzunehmen, sondern aus ihren Voraussetzungen zu begründen und in seiner Bedeutung erst zu bestimmen ist. Und wie im Aufbau der Welt des Wissens, so gilt das gleiche in irgendeinem Sinne für alle wahrhaft selbständigen geistigen Grundfunktionen. 37
Cassirer kommt so über einen langen methodologischen Umweg über Hegel im Ausgangspunkt wieder auf Kant zurück. Subjekt und Objekt, Geist und Welt sind keine feststehenden Kategorien, sondern sind in korrelativer Auseinandersetzung für alle geistigen Grundfunktionen erst zu bestimmen. Demnach ist Cassirers Philosophie eher dem Geiste Kants 36 37
ECW 11, S. 122. Ebd.
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und dem transzendentalen Idealismus als dem subjektiven Idealismus Fichtes oder dem objektiven Idealismus Hegels verpflichtet. Letzterer ist jedoch, wie aufgezeigt und im Gegensatz zu Fichte, ein wichtiger Ideengeber für die Philosophie der symbolischen Formen. Dem Subjektivismusvorwurf gegenüber der kantischen Philosophie 38 entgeht Cassirer durch eine korrelationalistische Deutung der Konstitutionsthese Kants, 39 wie er sie von Paul Natorp übernommen hat 40 und welche das Problem der Affektion, welches seit Jacobi 41 im Zentrum der Kritik der kantischen Ding-an-sich-Konzeption steht, umgehen kann. 42 Freilich geht Cassirer damit aber auch weit über Kant hinaus, indem er die Kopernikanische Wende auf die nicht-wissenschaftlichen Bereiche der Kultur ausdehnt. Der Gegenstand besteht nicht vor und außerhalb der synthetischen Einheit, sondern er wird vielmehr erst durch sie konstituiert – er ist keine geprägte Form, die sich dem Bewußtsein einfach aufdrängt und eindrückt, sondern er ist das Ergebnis einer Formung, die sich kraft der Grundmittel des Bewußtseins, kraft der Bedingungen der Anschauung und des reinen Denkens vollzieht. Die „Philosophie der symbolischen Formen“ nimmt diesen kritischen Grundgedanken, dieses Prinzip, auf welchem Kants „Kopernikanische Drehung“ beruht, auf, um es zu erweitern. Sie sucht die Kategorien des Gegenstandsbewußtseins nicht nur in der theoretischintellektuellen Sphäre auf, sondern sie geht davon aus, daß derartige Kategorien überall dort wirksam sein müssen, wo überhaupt aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein charakteristisches und typisches „Weltbild“ sich formt. Jedes solche Weltbild ist nur möglich durch eigenartige Akte der Objektivierung, der Umprägung der bloßen „Eindrücke“ zu in sich bestimmten und gestalteten „Vorstellungen“. 43 Diesen Vorwurf hat insbesondere Konrad Marc-Wogau gegen Cassirer und seinen „Kantianismus“ erhoben, worauf dieser mit dem im schwedischen Exil geschriebenen Aufsatz Was ist ‚Subjektivismus`? (1939) geantwortet hat. Vgl. ECW 22, S. 167–192. 39 An dieser hat jüngst Quentin Meillassoux Anstoß genommen. Vgl. Meillassoux, Quentin: Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris: Seuil, 2006. 40 Vgl. insbesondere das Kapitel „Subjektive und objektive Analyse“ im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen. (ECW 13, S. 49–63.) 41 Vgl. Jacobi, Friedrich H.: Über das Unternehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstand zu bringen, Breslau: Gottlob Löwe 1801. 42 Zur Kant-internen Vermeidung dieses Problems siehe die Strategien von Prauss (Unterscheidung der Theorieebenen) und Allison (Zwei-Aspekte- statt Zwei-WeltenLesart). Vgl. Prauss, Gerold: Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn: Bouvier 1989 sowie Allison, Henry E.: Kant's Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven / London: Yale University Press 2004. 43 ECW 12, S. 35. 38
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An dieser Stelle sind wir an einem neuralgischen Punkt angelangt. Wenn Cassirer hier von Vorstellungen spricht, könnte man meinen, die Philosophie der symbolischen Formen lanciere einen Phänomenalismus bspw. Schopenhauerscher Manier, der freilich erneut dem Subjektivismusvorwurf ausgesetzt wäre. Die Welt ist nach Cassirer jedoch weder die Repräsentation eines dunklen Willens noch einfach das Produkt gewisser kategorialer Auffassungen eines mit einem Symbolvermögen ausgestatteten Lebewesens. Die Symbolfunktion sichert lediglich die Bezugnahme durch unterschiedliche Objektivierungsleistungen in semantisch-semiotischer 44 Hinsicht auf genau eine Welt. Dies kann nicht bedeuten, daß wir die verschiedenartigen repräsentativ-symbolischen Leistungen, die für das Sprechen, für das wahrnehmende Erkennen und für das Handeln die unerläßliche Bedingung sind, als Äußerungen einer „Grundkraft“ betrachten, daß wir sie als verschiedene Betätigungen des „Symbolvermögens schlechthin“ ansehen dürfen. Die „Philosophie der symbolischen Formen“ bedarf keiner derartigen Hypostasierung, noch kann sie sie nach ihren methodischen Voraussetzungen zulassen. 45
Cassirer überwindet Kant also auch dahingehend, dass mit der Rede von den ‚Vermögen` des vernunftbegabten Tieres Mensch endgültig Schluss gemacht wird und das Wahrnehmen, Sprechen, Handeln und Denken ins Zentrum der Überlegungen zum Begriff der (symbolischen) Repräsentation gerückt werden. Und auch die Einheit des Geistes, die Kant in der transzendentalen Apperzeption zu fassen sucht, darf nicht mehr als eine solche Einheit aufgefasst werden, die einem erkennenden Subjekt logisch, indirekt aber auch ‚substanziell` zukomme, um das Problem eines „vielfarbige[n] verschiedene[n] Selbst“ 46 zu vermeiden. 47 Seit seiner ersten systematischen Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) ist Cassirer unterscheidet nicht immer terminologisch zwischen Zeichen und Symbol. Siehe dazu die einleitende Begriffsbestimmung (1.1.2). 45 ECW 13, S. 319. 46 KrV, B 134. 47 Hiermit sei nicht behauptet, dass Kants ‚Ich denke` in erster Linie ein personales, individuelles Ich wie bei Descartes bezeichnet. Die „transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins“ ist „allgemeine[s] Selbstbewußtsein“ (KrV, B 132). Als solche ist sie jedoch auch Konstitutionsbedingung für die Einheit der Vorstellungen eines konkreten Ichs und in diesem Sinne, mit Cassirer gesprochen, Substanz. Dass Kant ‚Subjekt als Substanz` gänzlich anders versteht, zeigt Rosefeldt, Tobias: Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst, Berlin: Philo 2000, S. 31–48 u. 58–69. Cassirer dagegen spricht gar nicht mehr vom Subjekt als Substanz und denkt Kant deshalb erst zuende. 44
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Cassirer klar, dass jede „Theorie des Geltens“ 48 nur noch in funktionaler Absicht behauptet werden kann. Innerhalb der Grenzen der kritischen Betrachtungsweise können wir somit nicht von der vorausbestehenden oder vorausgesetzten Einheit des metaphysischen oder psychologischen Substrats auf die Einheit der Funktion schließen, noch diese in jener begründen, sondern wir müssen rein von der Funktion als solcher ausgehen: Findet sich in ihr bei allem Wechsel der Einzelmotive eine relativ gleichbleibende „innere Form“, so schließen wir von ihr nicht auf die substantielle Einheit des Geistes zurück, sondern diese Einheit gilt uns eben hierdurch als konstituiert und bezeichnet. Die Einheit erscheint, mit anderen Worten, nicht als der Grund, sondern nur als ein anderer Ausdruck ebendieser Formbestimmtheit selbst. 49
Der kantische Konstitutionsbegriff wird so bei Cassirer weitestgehend durch den Formbegriff abgelöst. Die Philosophie der symbolischen Formen ist keine Erkenntnistheorie im überbrachten Sinne mehr, vielmehr will sie „die verschiedenen Grundformen des ‚Verstehens` der Welt bestimmt gegeneinander ab[. . . ]grenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form [. . . ] erfassen“. 50 Daraus ergibt sich für Cassirer die Programmatik einer „‚Formenlehre` des Geistes“ 51 bzw. einer „allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen“, 52 welche eine „Analyse der sprachlichen Form“, eine „Phänomenologie des mythischen und religiösen Denkens“ und die „Formenlehre des wissenschaftlichen Denkens“ 53 umfassen soll. Das größte Hindernis auf dem Weg zu einer solchen allgemeinen Theorie stellen für Cassirer die „Antinomien des Kulturbegriffs“ 54 dar, wie er sie in der „skeptische[n] Sprachkritik“, der „skeptische[n] Mythenkritik“ und der „Erkenntniskritik“ seit „den Tagen der griechischen Sophistik“ 55 in der Geschichte der wissenschaftlichen Philosophie wiederkehren sieht. Cassirer betrachtet alle Formen des Skeptizismus sowie die daraus entstehenden Antinomien als notwendig, da jeder „Grundform 48 49 50 51 52 53 54 55
ECW 13, S. 346. ECW 12, S. 15; Hervorhebungen von mir. ECW 11, S. VII. Ebd. ECW 11, S. VIII. Ebd. ECW 11, S. 11. ECW 11, S. 10.
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des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Bestreben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu geben und somit statt einer bloß relativen eine absolute Geltung für sich in Anspruch zu nehmen“. 56 Wollte man irgendeiner dieser Grundrichtungen also den Vorzug geben, wie dies gegenwärtig durch szientistische Philosophien mitunter auch geschieht, verbliebe man in einer „negativen Einstellung“. 57 Cassirers Philosophie dagegen ist positive Philosophie in dem Sinne, dass sie das ‚Absolute` der Welt von der Pluralität der Kultur aus denkt. Um diese jedoch durchzuführen, sieht man sich mit mannigfaltigen methodischen Problemen konfrontiert. Das vorliegende Kapitel sollte genau deswegen Cassirers Methodologie abschreiten, um überhaupt die Programmatik der Philosophie der symbolischen Formen einsichtig zu machen. Damit gelangen wir schließlich zum zentralen Begriff des Cassirerschen Hauptwerks: dem der symbolischen Formen. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden, wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in jeder geistigen Grundform wiederfindet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt. Dann ließe sich im Hinblick auf dieses Moment der ideelle Zusammenhang der einzelnen Gebiete – der Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Erkenntnis, des Ästhetischen und des Religiösen – behaupten, ohne daß in ihm die unvergleichliche Eigenheit einer jeden von ihnen verlorenginge. Wenn sich ein Medium finden ließe, durch welches alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grundrichtungen vollzieht, hindurchgeht und in welchem sie nichtsdestoweniger ihre besondere Natur, ihren spezifischen Charakter bewahrt – so wäre damit das notwendige Mittelglied für eine Betrachtung gegeben, die dasjenige, was die transzendentale Kritik für die reine Erkenntnis leistet, auf die Allheit der geistigen Formen überträgt. 58
Ebd. Ebd. Die Rede von der ‚negativen Einstellung` geht zurück auf Schellings Unterteilung in negative und positive Philosophie, welche auch jüngst Markus Gabriel überzeugend für eine moderne Ontologie wiederbelebt hat. Vgl. Gabriel, Markus: Fields of Sense. A New Realist Ontology, Edinburgh: Edinburgh University Press 2015. Gabriels Auffassung der kantischen Philosophie als ‚negativen Dogmatismus` hingegen halte ich für problematisch, da sie ähnlich wie Meillassoux' Kritik an ‚Kants Korrelationismus` von konstruktionalen Aspekten der Erkenntnis vorschnell auf einen Konstruktivismus im Denken Kants schließt. Vgl. Gabriel, Markus: An den Grenzen der Erkenntnistheorie, München: Alber 2014, § 2. 58 ECW 11, S. 14. 56 57
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Es ist genau dieses Moment und dieses Medium, das Cassirer im Begriff der symbolischen Form gefunden zu haben glaubt. Die Methode zur Aufdeckung der verschiedenen symbolischen Formen kann im weitesten Sinne mit „‚Analytisch-Allgemein[. . . ]`“ 59 bezeichnet werden, denn sie begnügt sich damit, die „möglichen Verknüpfungsformen in einem höchsten Systembegriff zu vereinen und sie damit bestimmten fundamentalen Gesetzen unterzuordnen“. 60 Im Gegensatz zur metaphysisch-spekulativen Methode versucht sie nicht zu vereinheitlichen, sondern „fordert geradezu eine Mehrheit verschiedener ‚Dimensionen` der Betrachtung“. 61 Und doch wird, gerade in einer solchen Ansicht, auf einen Zusammenhang der Einzelformen unter sich keineswegs verzichtet, sondern es wird vielmehr umgekehrt der Gedanke des Systems dadurch noch verschärft, daß an Stelle des Begriffs eines einfachen Systems der Begriff eines komplexen Systems tritt. Jede Form wird sozusagen einer besonderen Ebene zugeteilt, innerhalb welcher sie sich auswirkt und in der sie ihre spezifische Eigenart völlig unabhängig entfaltet – aber gerade in der Gesamtheit dieser ideellen Wirkungsweisen treten nun zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische Verhaltungsweisen hervor, die sich als solche herausheben und beschreiben lassen. 62
Cassirer gelingt es so, anhand des Symbolbegriffs nach einer Einheit in der Vielheit aller geistigen Formen zu fragen. 63 In der Idee des komplexen Systems klingt ferner die Idee Kants einer Architektonik der reinen Vernunft an, 64 die offensichtlich einen Einfluss auf Cassirers Gesamtentwurf einer „Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ hatte. 65
ECW 11, S. 26. ECW 11, S. 27. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 „In all human activities and in all forms of human culture we find a ‚unity in the manifold`. Art gives us a unity of intuition; science gives us a unity of thought; religion and myth give us a unity of feeling. Art opens to us the universe of ‚living forms`; science shows us a universe of laws and principles; religion and myth begin with the awareness of the universality and fundamental identity of life.“ (ECW 25, S. 39.) 64 Vgl. KrV, B 860–879. 65 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 377–405. 59 60
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2.2 Exkurs: Kant und McDowell Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, welchen Beitrag die Wahrnehmung zur Konstitution objektiver Erfahrung leistet, allerdings unter besonderer Berücksichtigung der Phänomenalität von Wahrnehmungserfahrungen. Warum diese besonderer Berücksichtigung bedarf, wird im weiteren Verlauf deutlich, wenn ich auf die Debatte zwischen Konzeptualisten und Nicht-Konzeptualisten eingehe. Dieser Zusammenhang muss auf Cassirers Erfahrungs- und Repräsentationstheorie rückbezogen werden, da nur diese das Potential bereitstellt, die spezifischen Fragen der Wahrnehmungsphilosophie, wie sie Propositionalisten und Nicht-Propositionalisten stellen, innerhalb einer sinnkritischen Theorie perzeptueller Erfahrung, die vornehmlich das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand zu bestimmen sucht, zu klären. Dieses Kapitel soll als Exkurs in diesem Unternehmen verstanden werden, da ich zwar am Ende auf Cassirer zu sprechen komme, zunächst aber die sachlichen Grundlagen des skizzierten Projekts innerhalb des kantischen Kritizismus herausstellen möchte, auf den sich Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen maßgeblich bezieht. Ferner geht es darum, das gesamte Projekt an gegenwärtige Debatten der Wahrnehmungsphilosophie anschlussfähig zu halten. Einer der Wortführer dieser Debatten ist John McDowell. McDowell hat seine Position bzgl. der Wahrnehmung und dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand ausführlich in Mind and World (1994), Having the World in View (2009) und zuletzt in den Aquinas-Lectures unter dem Titel Perception as a Capacity of Knowledge (2013) dargelegt. Unter dem Paradigma des Konzeptualismus bzw. Propositionalismus vertritt er eine – wenn auch in den Folgeschriften zu Mind and World relativierte – Theorie vollständig begrifflicher Wahrnehmungserfahrung, die er an den kantischen Leitbegriffen von Spontaneität und Rezeptivität entfaltet. Dabei wird sich zeigen, dass sich McDowell nur mit Einschränkungen zu Recht auf Kant beziehen kann. Ich möchte im Folgenden nun so vorgehen, dass ich zunächst herausstelle, (a) welchen Platz die Wahrnehmung in Kants Erfahrungstheorie innerhalb der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) einnimmt. Dies geschieht durch einen kurzen Aufriss des Problemfeldes zwischen Konzeptualismus und Nicht-Konzeptualismus, wie es Thomas Land rekonstruiert hat, 66 und daran anschließend anhand einer eigenen Interpretation Vgl. für diesen Problemaufriss und einen möglichen Lösungsansatz die umfassende Rekonstruktion dieser Debatte von Land, Thomas: „Kantian Conceptualism“, in: Abel, 66
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der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe nach Ausgabe A der Kritik der reinen Vernunft und in Auseinandersetzung mit McDowell. Das damit aufgespannte Problemfeld wird dann entlang der Interpretation der Analogien der Erfahrung, wie sie Sebastian Rödl in Kategorien des Zeitlichen (2003) dargelegt hat, einer Lösung zugeführt. Im Anschluss versuche ich (b) eine mit der Kritik der reinen Vernunft konsistente Lesart der Wahrnehmungsurteile, die Kant in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) einführt, zu lancieren. Es wird sich zeigen, dass diese zwar nicht mit den Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft in Konflikt stehen, jedoch auch keinen ‚richtigen Platz` in Kants Theorie objektiver Erfahrung haben. Dies eröffnet aber die Möglichkeit, mit Kant über Kant hinauszugehen und (c) den Weg zu einer Theorie zu ebnen, die auch nicht-propositionale Formen der Wahrnehmung und Erfahrung einbeziehen kann. 2.2.1 Wahrnehmung bei Kant Kant gibt uns in der Kritik der reinen Vernunft verschiedene, dem ersten Anschein nach sich widersprechende Definitionen der Wahrnehmung. In der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe nach der A-Auflage heißt es: „Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt“. 67 Im § 22 der Deduktion nach Ausgabe B definiert er Wahrnehmung dagegen lediglich als „mit Empfindung begleitete Vorstellung“ 68 und präzisiert im Paralogismenkapitel, dass Empfindung, „wenn sie auf einen Gegenstand überhaupt, ohne diesen zu bestimmen, angewandt wird, Wahrnehmung heißt“. 69 Zur Aufhellung dieser Bestimmungen lohnt ein Blick auf Kants Repräsentationsmodell, das er zu Beginn der transzendentalen Dialektik als ‚Stufenleiter der Vorstellungsart` erläutert. 70 Hier heißt es: „Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio). Eine Perzeption, die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustands bezieht, ist Empfindung Günter / Conant, James (Hrsg.): Rethinking Epistemology. Volume 1, Berlin: De Gruyter 2011, S. 197–239. 67 KrV, A 119 f. 68 KrV, B 146 f. 69 KrV, A 374. 70 Vgl. KrV, A 320.
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(sensatio), eine objektive Perzeption ist Erkenntnis (cognitio).“ 71 Weiterhin bestimmt Kant die Anschauung als „einzelne“ und sich „unmittelbar auf den Gegenstand“ beziehend, während der Begriff „vermittelst eines Merkmals“ sich auf das bezieht, „was mehreren Dingen gemein sein kann“. 72 2.2.2 Konzeptualistische und nicht-konzeptualistische Deutung Kant nennt objektive Wahrnehmung also Erkenntnis. Unsere Wahrnehmung liefert aber nicht nur Erkenntnis, darauf verweist schon der weitere Begriff „Wahrnehmungserfahrung“. Das Phänomen Wahrnehmung ist nicht nur auf epistemische Ansprüche bezogen, sondern ist erst einmal eine Erfahrung sui generis, die einen gewissen Gehalt aufweist. Wie wäre dieser Gehalt zu beschreiben und methodisch zu fassen, wenn er – wovon ich ausgehe – mehr als ein propositionaler Inhalt, wie etwa ein Gedanke, ist? Entlang dieses Inhaltsproblems verläuft nun die Debatte zwischen Konzeptualisten und Nicht-Konzeptualisten in der gegenwärtigen Wahrnehmungsphilosophie. Genau genommen geht es um Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten der Struktur des Inhalts von einerseits Begriffen und andererseits Wahrnehmungserfahrungen, und man fragt sich in erster Linie unter Rekurs auf die Unähnlichkeiten beider, wie diese zusammenspielen. 73 Die meisten Interpreten übersehen dabei, dass sie, sobald sie ihrer Intuition bzgl. der inhaltlichen Struktur der Wahrnehmung folgen, eine entscheidendere Frage übersprungen haben: Denn Kant fragt nach den Bedingungen der Objektivität der Intentionalität von Wahrnehmungserfahrungen. Er fragt, welche Bedingungen überhaupt erfüllt sein müssen, um einen repräsentationalen Gehalt zu haben. Dies geht der Frage nach der Natur des Inhalts von Wahrnehmungserfahrungen logisch vorher, da Ebd. Ebd. 73 Günter Abel versucht dieses Problem anhand einer „zeichen-philosophische[n] Reformulierung der produktiven Einbildungskraft“ (S. 396) zu lösen und spricht dabei von einem „Digital-Analog-Umwandler“ (S. 392 f ), um den Übergang von der Anschauung zum Begriff zu konzeptualisieren. Dass damit jedoch nicht das letzte Wort gesprochen ist, gesteht Abel zu, denn den Grund der Lebendigkeit der produktiven Einbildungskraft „können wir nicht selbst und noch einmal transparent und distanziert vor uns hinstellen.“ (S. 397). Vgl. Abel, Günter: „Imagination und Kognition. Zur Funktion der Einbildungskraft in Wahrnehmung, Sprache und Repräsentation“, in: Hoffmann, Thomas Sören / Majetschak, Stefan (Hrsg.): Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag im August 1995, Berlin / New York: De Gruyter 1995, S. 381–398. 71 72
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erst zu klären ist, was es überhaupt objektiv bedeutet, Inhalt in einer Wahrnehmungserfahrung zu haben. 74 Konzeptualisten und Nicht-Konzeptualisten stimmen nun in einem überein: Wahrnehmung ist mehr als das Haben von Sinneseindrücken. Die Wahrnehmung hat Objekte zum Inhalt. Eindrücke sind lediglich momentan und perspektivisch. Objekte dagegen vereinen systematisch perspektivische Eindrücke zu einer raumzeitlichen Einheit. Die Wahrnehmung von Objekten ist in dieser inhaltlichen Hinsicht folglich ein Bewusstsein von Einheiten. 75 Damit kommen wir auf die eingangs von Kant bestimmten Definitionen zurück: Inhalt der Wahrnehmungserfahrung sind Erscheinungen oder „Gegenstände überhaupt“, die wir zunächst durch Affektion empfinden, allerdings, wie Kant auch sagt, „ohne diese zu bestimmen“. Die Bestimmung von Objekten dagegen erfolgt durch Begriffe, also durch den Verstand. Ich möchte nun zunächst kurz die Heterogenität von Sinnlichkeit und Verstand darstellen und dann die Argumente sammeln, die sich Nonkonzeptualisten unter Berufung auf Kant zu eigen machen. Der Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmen lässt sich anhand einer Diskursivitätsthese und einer Anschauungsthese plausibilisieren. 76 Die Diskursivitätsthese besagt, dass Denken Urteilen ist und begrifflich operiert. Begriffe sind (1) allgemeine Repräsentationen, (2) klassifikatorisch, sie instantiieren etwas in seiner Allgemeinheit und werden (3) logisch artikuliert als Inferenzen. Die Anschauungsthese besagt, dass Wahrnehmungen Anschauungen in Raum und Zeit sind. Wahrnehmungen sind so (I) singuläre Anschauungen, (II) vollständig bestimmt in ihrer Präsenz und (III) raumzeitlich strukturiert, haben also Objekte in Raum und Zeit zum Inhalt. 77 Hieraus folgt unmittelbar die Heterogenität von Sinnlichkeit und Verstand, die Kant an prominenter Stelle wie folgt beschrieben hat: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ 78 Grundprobleme der Konzeptualisten, Thesen also, die die Nicht-Begrifflichkeit der Wahrnehmung stützen, sind in erster Linie die (a) Feinkörnigkeit der Wahrnehmung, (b) die Situationsabhängigkeit der Wahrnehmung und (c) die Gemeinsamkeit mit Tieren und Menschen im vorsprachlichen Alter hinsichtlich der Wahrnehmung. 74 75 76 77 78
Vgl. Land: „Kantian Conceptualism“, S. 201. Vgl. ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 202. Vgl. ebd. KrV, B 75.
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(a) besagt, dass Begriffe grobkörniger sind als alles, was sich in Wahrnehmungserfahrungen abspielt. Diese These geht auf Evans und Peacocke zurück, 79 lässt sich allerdings auch schon bspw. bei Schopenhauer und Nietzsche finden. 80 Sie lässt sich leicht illustrieren, wenn wir uns vorstellen, dass wir z.B. Farbabstufungen viel differenzierter wahrnehmen können, als uns aktual Begriffe dafür zur Verfügung stünden. (b) besagt, dass in Wahrnehmungen durch die aktuale Instanziierung eher Inhalte präsentiert als repräsentiert werden. (c) besagt, dass Kinder, die noch nicht über vollständig entwickelte rationale Standards und Sprache verfügen, bzw. Tiere, denen dies erst gar nicht zukommt, mindestens eine basale Schicht der Wahrnehmung mit rationalen Lebewesen teilen, da sie auch Objekte ihrer Umgebung individuieren, wenn auch nicht weiter klassifizieren können. Nicht-Konzeptualisten wie Robert Hanna bemühen sich nun unter Rekurs auf Kant zu zeigen, dass die Fähigkeit, Objekte in Raum und Zeit zu lokalisieren, ohne Begriffe auskommt. 81 Der sich in dieses Denken einreihende Enaktivismus spricht von Fähigkeiten und embodiment. Objektwahrnehmung wird in erster Linie als rein sinnliche Fähigkeit aufgefasst. Autoren wie Alva Noë versuchen dies zwar unter Einbeziehung kognitiver Fähigkeiten zu beschreiben, wesentlicher Punkt jedoch ist, dass es sich um nicht-begriffliche Fähigkeiten handelt. 82 Bezieht man diese Theorien Vgl. Evans, Gareth: The Varieties of Reference, Oxford: OUP, 1982; Peacocke, Christopher: „Review. Nonconceptual Content Defended. Mind and World by John McDowell“, in: Philosophy and Phenomenological Research (58,2), 1998, S. 381–388. 80 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, München: DTV 1998, § 3, wo dieser begriffliche Erkenntnis den ‚abstrakten Vorstellungen` zuordnet und diesen direkt anschauliche ‚intuitive Vorstellungen` gegenüberstellt, sowie die §§8– 14 zur Vertiefung dieser Begriffstheorie. Nietzsches Ausführungen hierzu finden sich in Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: KSA 1, München: DTV 1999, S. 878 ff und ist am treffendstem in folgendem Satz auf den Punkt gebracht: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.“ (Ebd., S. 880.) 81 Vgl. Hanna, Robert: „Kant and nonconceptual content“, in: European Journal of Philosophy (13,2), 2005, S. 247–290. 82 Vgl. Noë: Action in Perception, S. 181–208, der Wahrnehmen wie folgt in einem Knowing-how fundiert sieht: „[O]ne of the main themes of this book has been that to perceive you must have sensory stimulation that you understand. But unlike Kant and the tradition spawned by him, the form of understanding I have taken as basic is sensorimotor understanding. Mere sensory stimulation becomes experience with world-presenting content thanks to the perceiver's possession of sensorimotor skills.“ (Ebd. S. 183.) Das Problem dieses zunächst attraktiven Ansatzes beginnt dann jedoch schon mit der Frage, wie man sich den Übergang von diesem Knowing-how zum Knowing-that, das begriffliche Kompetenzen voraussetzt, vorzustellen hat. Noë spricht weiter von „sensorimotor skills as themselves conceptual, or ‚proto-conceptual` skills“ (S. 183), bleibt dem Leser 79
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auf Kant zurück, wird man dazu verleitet, die transzendentale Ästhetik unabhängig von der transzendentalen Logik zu betrachten. Aber welchen Standpunkt gewinnt man dadurch überhaupt, abgesehen von der Behauptung, dass auch Tiere Objekte ihrer Umgebung identifizieren können und Menschen nun einmal auch Tiere sind? Es ließe sich zunächst bestreiten, dass Nicht-Konzeptualisten überhaupt Kants Problem berühren. Kant möchte Existenz- bzw. Aktualitätsaussagen machen und fragt letztlich nach der epistemischen Funktionalität der Wahrnehmungsinhalte. 83 Kant fragt nicht nach dem konkreten Objekt der Wahrnehmung, sondern möchte Erkenntnis zunächst dadurch transzendental absichern, dass das formale Objekt der Wahrnehmung identisch ist mit dem formalen Objekt des Denkens. 84 Aufgrund dieses Erkenntnisinteresses geht es ihm um die Frage, in welcher Weise Wahrnehmen und Denken füreinander gemacht sind, wie Anschauung und Begriff ‚zusammenpassen` können. Aus der Metaperspektive drängt sich wiederum – bei aller Schwierigkeit, genau das zu zeigen – das Problem auf, dass wenn das Wahrnehmungsobjekt und das Gedankenobjekt nur kontingenterweise zusammenpassten, es im echten Sinne keine epistemische Funktion gäbe. 85 Die zunächst bescheidenere These lautet: Damit Objekte überhaupt Inhalt von Wissen sein können, müssen sie auch Inhalt von Überzeugungen sein. Der Sinn von Objekt hier ist: formales Objekt des Denkens. Wenn man nun unter nicht-konzeptualistischem Vorzeichen die Einheit des Objekts in die reine Anschauung verlegt, braucht man einen zusätzlichen Schritt, um zu zeigen, dass die objektive Einheit der Anschauung und die objektive Einheit des Denkens dieselbe sind. Kant aber fragt direkt nach den Möglichkeitsbedingungen dieser Identität und bestimmt daraufhin das Objekt der Erkenntnis. Ein kantianischer NichtKonzeptualismus scheitert also daran, die objektive Einheit der Anschauung sicherzustellen. 86 Ohne das Involviertsein des Verstandes können Anaber den Nachweis, wie sich aus proto-begrifflichen Fähigkeiten Begriffe entwickeln, schuldig. Ein Hauptproblem des Enaktivismus liegt m.E. im Versuch begründet, gänzlich ohne den Begriff der Repräsentation auszukommen. Begriffe und andere symbolische Verhältnisse erwachsen selbstverständlich aus Praktiken, aber eben auch aus solchen, die Nicht-Präsentes in den praktisch-handelnden Vollzug mit einbeziehen. Vgl. hierzu auch meine Kritik in Endres: „Merleau-Ponty und das Problem der Repräsentation“, S. 311. 83 Vgl. Land: „Kantian Conceptualism“, S. 207. 84 „We can express this point by saying that the formal object of perception must be identical to the formal object of thought.“ (Ebd. S. 209.) 85 Vgl. ebd. 86 „But this means that, at the very least, we would need an additional argument showing that the unity exhibited by the pure form of sensibility is the same as, or conforms
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schauungen keine epistemische Rolle spielen, die Anschauungen bleiben blind. John McDowell hat sich diese Form der Argumentation zu eigen gemacht und in Mind and World gegen Gareth Evans' Theorie der Informationszustände und zuletzt in Perception as a Capacity of Knowledge gegen Tyler Burges Wahrnehmungstheorie in Perceptual Entitlement (2003) eingewandt. 87 McDowells ‚harter Propositionalismus` bringt jedoch auch problematische Thesen mit sich, denen man nicht ohne weiteres folgen möchte. Unter Berufung auf Kant will er zeigen, dass die Anschauung die gleiche Struktur hat wie das Urteil, oder anders gewendet: dass die sinnliche Synthesis, die Kant Apprehension nennt, ein Akt des Urteilens ist. 88 Diese Form des harten Propositionalismus hat McDowell später zwar aufgegeben. Er spricht nunmehr lediglich davon, dass die Anschauung dem Urteil begrifflich zugänglich sein muss, nicht jedoch selbst schon begrifflich artikuliert ist. 89 Jedoch vertritt er die strittige These, „that the world is conceptually structured“. 90 McDowell kann zwar überzeugend zeigen, dass er eine Form des Idealismus vertritt, die im kantischen Sinne zugleich ein empirischer Realismus ist. Es ist prima facie durchaus einleuchtend, dass die Welt nur in dem Sinne objektiv sein kann, wie wir sie begrifflich konzeptualisieren und artikulieren können. Rekonstruiert man die Welt anhand der Idee, dass sie im Wittgensteinschen Sinne alles ist, was der Fall ist, behauptet man ja nicht, dass sie eine Projektion subjektiver Erkenntnisstrukturen ist. Vielmehr verteidigt man die Idee, dass die objektive Rekonstruktion der Welt begrifflich sein muss, um den Ansprüchen von Objektivität dahingehend gerecht zu werden, dass man wahrheitsfähige Sätze über die Welt ausspricht und kein reines Fürwahrhalten eines Subjekts ausdrückt. Es stellt sich aber auch die Frage, inwiefern man sich mit solch einer ‚Tatsachen-Welt` überhaupt auf Kant berufen kann, dem die Welt ja als regulatives Ideal gilt. Die Welt im kantischen Verständnis weist – wenn auch nicht im Sinne des Nicht-Konzeptualismus – immer ein Mehr auf, das wir nicht urteilend einholen können. In diesem Sinne to, the objective unity that has its source in the understanding. Kantian Nonconceptualists do not provide such an argument.“ (Ebd. S. 210.) 87 Vgl. McDowell: Mind and World, S. 46–65 (Lecture III) sowie ders.: Perception as a Capacity of Knowledge, S. 18–36. 88 Vgl. Land: „Kantian Conceptualism“, S. 217. 89 „Now intuiting is not discursive, even in the extended sense in which judging is. Discursive content is articulated. Intuitional content is not.“ (McDowell, John H.: „Avoiding the Myth of the Given“, in: Having the World in View. Essays on Kant, Hegel, and Sellars, Cambridge (Mass.) 2009, S. 262.) 90 McDowell, John: „Conceptual Capacities in Perception“, in: Having the World in View. Essays on Kant, Hegel, and Sellars, Cambridge (Mass.) 2009, S. 144, Anm. 18.
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ist das Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft nicht nur eine Limitation unserer Verstandesleistungen, sondern in erster Linie die Einsicht, dass unser Verstehen der Welt weiter reicht als ihr Erkennen sensu stricto. 91 Ich verlasse im Folgenden deshalb das von Thomas Land exzellent herausgearbeitete Terrain des (Nicht-)Begrifflichkeits-Streits und erschließe mir eigenständig den von Land angestrebten dritten Weg zwischen diesen beiden Extrempolen dahingehend, wie es für den argumentativen Anschluss an Cassirer sinnvoll ist. 2.2.3 Wahrnehmung und Einbildungskraft in der A-Deduktion Zu Beginn der transzendentalen Dialektik schreibt Kant: „Noch weniger dürfen Erscheinung und Schein für einerlei gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen.“ 92 Hierzu sei zunächst angemerkt, dass aufgrund dieser Einsicht Kants bereits starke Zweifel an der Plausibilität des Disjunktivismus aufkommen. Die Distinktion in veridische Wahrnehmung und reine Täuschung untergräbt genau den Umstand, dass Sinnestäuschungen ununterscheidbar sind von Fällen, in denen wir auf Basis der Wahrnehmung richtig urteilen. Ferner ist der mit vielen disjunktivistischen Wahrnehmungstheorien verbundene naive Realismus eine unattraktive Theorie-Option, da mit ihm der spätestens im Zwanzigsten Jahrhundert endgültig überwunden geglaubte metaphysische Realismus erneut Einzug in die Philosophie erhält. Aber auch McDowells epistemologisch motivierter Disjunktivismus, der auf einem direkten Realismus von Wahrnehmung und Urteil beruht, ist im Rahmen einer Theorie perzeptueller Erfahrung mindestens unvollständig, weil dieser die Welt auf ebendiesen epistemischen Kontext reduziert. Die einzig wirklich hilfreiche Beobachtung des McDowellschen Disjunktivismus scheint mir die Einsicht, dass jede Theorie, die aus Angst vor skeptizistischen Szenarien die Fallibilität unseres Sinnesvermögens übergeneralisiert, einem Fallibilitätsfehlschluss erliegt. 93 Dass die Sinne uns die Sachverhalte nicht immer so präsentieren, wie sie sich auch wirkVgl. Hogrebe, Wolfram: Metaphysische Einflüsterungen, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2016, S. 55. 92 KrV, B 350. 93 Vgl. McDowell: Perception as a Capacity of Knowledge, S. 44–52. „When we imagine that fallibility might be quantified, we leave the sheer fact of fallibility“. (Ebd. S. 52.) 91
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lich verhalten, ist nämlich kein Grund anzunehmen, dass dies grundsätzlich immer der Fall ist. Unser urteilendes Denken ist unser Korrektiv und mittels dieser gegenüber der Wahrnehmung gewonnenen Autonomie sehen wir doch eher, dass wir in den allermeisten Fällen aufgrund unserer Wahrnehmungsinhalte richtig urteilen. Die Sinnlichkeit ist, wie Kant schreibt, „Quell realer Erkenntnisse“ und „Grund des Irrtums“. 94 Im weiteren Verlauf möchte ich nun zeigen, wie Sinnlichkeit und Verstand bei Kant zusammenkommen können, ohne davon ausgehen zu müssen, dass die einzig sinnvolle Konzeption unserer Welt ihr eine begriffliche Struktur unterstellt. Kant kennt zwei Formen der Synthesis: Zum einen die Synthesis der Apperzeption als Instanz des Denkens und zum anderen die Synthesis der Apprehension als Instanz der Anschauung. Er erläutert: „Zuvörderst merke ich an, daß ich unter der Synthesis der Apprehension die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung verstehe, dadurch Wahrnehmung, d.i. empirisches Bewußtsein derselben, (als Erscheinung) möglich wird.“ 95 Die Synthesis der Apprehension ist eine Zusammenstellung von bewussten Vorstellungen, also von Wahrnehmungen. Kant bezeichnet diese Zusammenstellung auch als Handlung des Vermögens der Einbildungskraft, die unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübt wird, er schreibt: Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt[.] [. . . ] Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. 96
Wie sieht nun aber diese unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung, die Anschauung und Begriffe zusammenbringen soll, aus? Kants Antwort lautet: Der Bezug auf das Ich als Korrelat des Bewusstseins und auf die Zeit als Korrelat der Anschauung, die beide nicht wahrgenommen werden können, bringen Sinnlichkeit und Verstand zusammen.
94 95 96
KrV, B 351, Anm. KrV, B 160. KrV, A 119 f.
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Denn das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption) macht das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus, so fern es bloß möglich ist, sich ihrer bewußt zu werden, und alles Bewußtsein gehört eben so wohl zu einer allbefassenden reinen Apperzeption, wie alle sinnliche Anschauung als Vorstellung zu einer reinen innern Anschauung, nämlich der Zeit. Diese Apperzeption ist es nun, welche zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen muß, um ihre Funktion intellektuell zu machen. Denn an sich selbst ist die Synthesis der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinnlich[.] [. . . ] Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen. 97
Kant gesteht also durchaus zu, dass die Synthesis der Einbildungskraft eine Zusammenstellung von Vorstellungen nicht-begrifflicher Art ist. In Bezug auf die Objektivität der Wahrnehmungsinhalte haben wir es jedoch mit begrifflichen Wahrnehmungserfahrungen zu tun: „Die durchgängige und synthetische Einheit der Wahrnehmungen macht nämlich gerade die Form der Erfahrung aus, und sie ist nichts anders, als die synthetische Einheit der Erscheinungen nach Begriffen.“ 98 Die Form jeder bewussten Erfahrung liegt also in der Einheit der Wahrnehmung nach Begriffen. Setzte man diese Einheit des Bewusstseins durch die Rückbindung aller Aktivität der Einbildungskraft an das ‚Ich denke` der transzendentalen Apperzeption nicht voraus, würden unsere Wahrnehmungen „auch zu keiner Erfahrung gehören, folglich ohne Objekt, und nichts als ein blindes Spiel der Vorstellungen, d.i. weniger, als ein Traum sein“. 99 In der Terminologie der (Bottom-up)-Deduktion in der A-Auflage werden unsere Sinne also affiziert, was zur Vorstellung empirischer Erscheinungen in der Wahrnehmung führt. „[V]ornehmlich dann, wenn man die Betrachtung ‚von unten auf `, beim Empirischen anfängt, läßt sich mit Kant die Einsatzund Funktionsstelle der Imagination / Einbildungskraft in der Wahrnehmung markieren.“ 100 Denn die Einbildungskraft assoziiert diese in ihrer Präsenz und reproduziert sie im Gedächtnis. Die Apperzeption bezieht die Vorstellungen auf die Identität des empirischen Bewusstseins durch begriffliche Rekognition. 101 Die objektive Form der Erfahrung „ist also
97 98 99 100 101
KrV, A 123 f. KrV, A 110. KrV, A 112. Abel: „Imagination und Kognition“, S. 384. Vgl. KrV, A 115 f.
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die notwendige Bedingung so gar aller möglichen Wahrnehmungen“ 102 und diese ist „a priori auf Regeln gegründet“. 103 Wäre dies nicht so, könnten wir uns gar nicht auf die Inhalte unserer Wahrnehmungserfahrungen als die einer kontinuierlichen und bewussten Erfahrung beziehen. Kant veranschaulicht das treffend: [O]b wir gleich das Vermögen hätten, Wahrnehmungen zu assoziieren; so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob sie auch assoziabel wären; und in dem Falle, daß sie es nicht wären, so würde eine Menge Wahrnehmungen, und auch wohl eine ganze Sinnlichkeit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewußtsein in meinem Gemüt anzutreffen wäre, aber getrennt, und ohne daß es zu einem Bewußtsein meiner selbst gehörete, welches aber unmöglich ist. Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei. 104
Die Form bewusster Erfahrung gestaltet sich nach Kant anhand der Formen der Anschauung und der Regeln des Verstandes. 105 Diese Regeln, die Kant auch als „Gründe der Rekognition des Mannigfaltigen“ 106 bezeichnet, sind nun die Kategorien. Der Verstand, als Vermögen der Regeln, muss als Vermögen der Repräsentation apperzeptiver Einheit aufgefasst werden, auch wenn innerhalb dieser Repräsentationsleistung die Synthesis des Urteils Einheit auf andere Weise herstellt als die Synthesis der Anschauung. In der B-Deduktion wird Kant noch deutlicher: Diese synthetische Einheit aber kann keine andere sein, als die der Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt in einem ursprünglichen Bewußtsein, den Kategorien gemäß, nur auf unsere sinnliche Anschauung angewandt. Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien, und, da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen ist, so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung. 107 102 103 104 105 106 107
KrV, A 123. Ebd. KrV, A 122. Vgl. KrV, A 126. KrV, A 125. KrV, B 161.
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Und kurz darauf bekräftigt er noch einmal: Da nun von der Synthesis der Apprehension alle mögliche Wahrnehmung, sie selbst aber, diese empirische Synthesis, von der transzendentalen, mithin den Kategorien abhängt, so müssen alle möglichen Wahrnehmungen, mithin auch alles, was zum empirischen Bewußtsein immer gelangen kann, d.i. alle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach, unter den Kategorien stehen. 108
Es lässt sich also weder in Bezug auf Kant exegetisch noch über Kant hinaus aus rein sachlichen Gründen dafür argumentieren, dass die sinnliche Synthesis auf eigenen Beinen stehen könnte. McDowell wäre also so weit recht zu geben; die Kritik muss fortan anderswo ansetzen. Die Notwendigkeit der Kategorien ist so weit erwiesen, einzig die Ausweisung ihrer Gültigkeit in der Anwendung auf Erfahrung steht noch aus. Diese liefert Kant in der Doktrin der Urteilskraft; hierin folgt nun nach der Analytik der Begriffe die Analytik der Grundsätze. Deren erstes Hauptstück handelt vom Schematismus der Kategorien, das vielen Interpreten als dunkelstes Stück der Kritik gilt. Das darauf folgende und in diesem Kontext wichtigere zweite Hauptstück vom System aller Grundsätze gilt den meisten Kommentatoren als gescheitert, wovon allerdings, wie ich im Folgenden zeigen möchte, keine Rede sein kann.
2.2.4 Wahrnehmen durch die Kategorien des Zeitlichen Ich habe weiter oben behauptet, dass Sinnlichkeit und Verstand einerseits durch die Einheit des Bewusstseins und andererseits durch die Zeit (als zugehörig zur Sinnlichkeit) zusammenkommen. Genau darum geht es nun sowohl im Schematismus als auch in den Grundsätzen. Kant verwirrt den Leser zunächst ein wenig, indem er das Schema als vermittelnde, „einerseits zwar intellektuell[e], andererseits sinnlich[e]“ 109 Vorstellung zwischen Sinnlichkeit und Verstand einführt, und man fragt sich, warum das „Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“, 110 eine eigene Art Vorstellung sein soll. Kant spricht in diesem Zu-
108 109 110
KrV, B 164 f. KrV, B 177. KrV, B 180.
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sammenhang auch von der „Vorstellung der Zeit“ oder der „Erfüllung der Zeit“ 111 und präzisiert: Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände. [. . . ] Also sind die Schemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen [den Anschauungen] eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen. 112
An dieser Stelle lässt sich eine semantische Lesart des Schematismus profilieren, wie sie Wolfram Hogrebe in Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik (1972) dargelegt hat und die auch für Cassirer der Sache nach eine Rolle spielt. Hogrebe schreibt, Kants Bestimmung der transzendentalen Schemate als Zeitbestimmungen a priori legt für die transzendental-semantische Interpretation die Auffassung nahe, ‚Bedeutung überhaupt' als Zeitigungsmodus der Kategorien zu exponieren. [. . . ] Ohne die transzendentalen Schemate haben die Kategorien daher „nur logische Bedeutung der bloßen Einheit der Vorstellungen“, wie Kant sagt, aber eben keine Bedeutung, „die einen Begriff vom Objekt abgeben könnte“. (B 186) Denn: „Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, in dem sie ihn zugleich restringiert.“ (B 187). 113
Um nun schlussendlich zu zeigen, wie Sinnlichkeit und Verstand in der Kritik zusammenkommen, lege ich zusätzlich Sebastian Rödls erhellende Interpretation der Analogien der Erfahrung, die den dritten Teil der synthetischen Grundsätze ausmachen, dar. Rödls Leitthese in Kategorien des Zeitlichen (2003) lautet: Die Form unseres Anschauens ist die Zeit, weil das, was uns anschaulich gegeben ist, als solches in zeitlos wahre Aussagen eingeht, und unsere Aussagen sind wesentlich zeitlich, weil sie als solche auf rezeptive Anschauung bezogen sind. Zeitbewußtsein ist die den Menschen bestimmende Einheit von Sinnlichkeit und Verstand. 114 Beide Zitate KrV, B 184. KrV, B 184 f. 113 Hogrebe, Wolfram: Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, Freiburg i.B.: Karl Alber 1972, S. 104. 114 Rödl, Sebastian, Kategorien des Zeitlichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 82. 111 112
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Um diese These zu verdeutlichen, ist ein kurzer Blick in den zweiten Abschnitt der transzendentalen Ästhetik nötig. Dort schreibt Kant: Die Zeit ist [. . . ] kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge. Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen: daß einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nach einander) sei. 115
In der transzendentalen Erörterung des Zeitbegriffs fügt Kant noch hinzu, „daß der Begriff der Veränderung und, mit ihm, der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung ist“. 116 Nachdem Kant in den ‚Axiomen der Anschauung` und den ‚Antizipationen der Wahrnehmung`, die er als mathematische resp. konstitutive Grundsätze bezeichnet, gezeigt hat, dass alle Erscheinungen eine extensive Größe, also Anschauung, und eine intensive Größe, also einen Grad an Empfindung, haben, will er in den drei Analogien der Erfahrung, die einen dynamischen resp. regulativen Grundsatz bilden, nachweisen, dass „Erfahrung [. . . ] nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich“ 117 ist. In einem ersten Beweisschritt versucht Kant zu zeigen, dass Erfahrung empirische Erkenntnis ist, die „durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt“. 118 Prominente Interpreten wie Paul Guyer und Béatrice Longueness deuten die Analogien so, dass in ihnen die Regeln angegeben werden, aus denen sich von subjektiven Abfolgen der Wahrnehmung auf objektive, zeitlich geordnete Abfolgen schließen lässt. Die Wahrnehmung würde also in der Erfahrung in eine zeitliche Ordnung uminterpretiert. Tenor der Forschung ist, dass es Kant nicht gelingt, diese Regeln auszuweisen. 119 Nach dieser Lesart, die Rödl eine ‚erkenntnistheoretische Deutung` nennt, kann man nach Kant direkt nur die Folgen der eigenen Wahrnehmungen wahrnehmen, aber dass etwas zeitlich nach etwas anderem ist, kann man nur indirekt, aus dem, was man aus der subjektiven Folge der Wahrnehmung ableitet, wahrnehmen. KrV, B 46. KrV, B 48. 117 KrV, B 219. 118 KrV, B 218. 119 Vgl. Guyer, Paul: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge: CUP 1987, S. 244 u. 248 sowie Longueness, Béatrice: Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason, Princeton: PUP 1998, S. 334 f. (Beide Stellen entnehme ich Rödl: Kategorien des Zeitlichen, S. 117 f.) 115 116
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Es drängt sich die unbeantwortbare Frage auf, wie man aufgrund dieser Prämissen dann erkennen kann, dass etwas zeitlich nach etwas kommt oder mit ihm zugleich geschieht. Deutet man die Analogien wie Rödl dagegen logisch, sieht man, dass Kant sehr wohl davon ausgeht, dass wir wahrnehmen, dass etwas zeitlich nach etwas kommt oder zugleich mit ihm geschieht. Das, was wir wahrnehmen, hat somit eine logische Form und diese beschreibt Kant in den drei Analogien. 120 Die erste lautet: „Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst, und das Wandelbare, als dessen bloße Bestimmung, d.i. als eine Art, wie der Gegenstand existiert.“ 121 Die Einheit der Zeit in einer Wahrnehmung ist also die Substanz bzw. deren Zustand oder Zustände, je nachdem, ob sie beharrt oder wechselt. Eine Substanz ist folglich im Unterschied zur Zeit in den Gegenständen der Wahrnehmung anzutreffen. Man kann die Verwirrung, die durch die erkenntnistheoretische Lesart entstanden ist, nun auflösen, indem man zeitliche Folgen differenziert: 122 (1) Man nimmt dieses früher wahr als jenes. (2) Man nimmt wahr, dass man dieses früher wahrnimmt als jenes. (3) Man nimmt wahr, dass dieses früher ist als jenes. Das Missverständnis liegt nun darin, (2) subjektiv aufzufassen. (1) ist subjektiv und (2) und (3) sind objektiv, welche ein Vorstellen bedeuten, das sich auf ein Objekt bezieht resp. dieses repräsentiert. Eine subjektive zeitliche Folge bedeutet, dass ein Vorstellen auf ein anderes folgt, eine objektive zeitliche Folge dagegen, dass in dem Vorgestellten dieses auf das andere folgt. Die subjektive Folge der Apprehension ist die Sukzession in der Wahrnehmung, die objektive Folge aber ist ein Inhalt, und zwar, dass in der Wahrnehmung etwas auf etwas folgt. „Kant meint, daß daraus, daß wir eines nach dem anderen wahrnehmen nicht folgt, daß wir wahrnehmen, daß etwas nach oder zugleich mit etwas anderem ist.“ 123 Der Begriff der Substanz bezeichnet die Einheit, die einer Anschauung zukommt, insofern ihre Form die Zeit ist. Uns erscheinen Objekte als Substanzen und wir nehmen direkt wahr, dass sie in der Zeit beharren oder wechseln. Ein Tier tut das nicht: „Die Form des menschlichen Anschauens ist die Zeit und das unterscheidet das menschliche Anschauen von der tierischen Sinnlichkeit.“ 124 Dies ist auch McDowells Ergebnis in Mind and World, nur dass dieser die Differenz von menschlicher und tierischer Wahrneh120 121 122 123 124
Vgl. Rödl: Kategorien des Zeitlichen, S. 116–127. KrV, B 224. Vgl. Rödl: Kategorien des Zeitlichen, S. 122. Ebd. S. 124. Ebd., S. 127.
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mung an der Begrifflichkeit festmachen will, anstatt dieses Spezifikum des Menschen in der Zeitlichkeit der Anschauung zu verorten. Die zweite Analogie zeigt dann, dass es nur möglich ist, dass sich zeitliche Aussagen in Substanz und Zustand gliedern, wenn sich Substanzen mit Bewegungsformen verbinden und damit unter Gesetze der Bewegung fallen, 125 worauf ich nicht weiter eingehen möchte, da das für den vorliegenden Kontext Wesentliche bereits gezeigt wurde: „Daß man durch die Sinne Substanzen und ihre Bewegungen erfaßt und durch den Verstand Formen und ihre Gesetze, sind zwei Seiten derselben Medaille.“ 126 2.2.5 Der nicht-begriffliche Kant Ich möchte nun abschließend zeigen, wo in solch einer elaborierten Erfahrungstheorie, die die Bestimmung von Objekten exklusiv begrifflichgesetzlich auffasst, noch Platz für eine Theorie des Nicht-Propositionalen ist, nämlich (1) anhand des Begriffs des Horizonts in der Lesart Josef Simons und (2) entlang der Wahrnehmungsurteile aus Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). (1) Josef Simon hat anhand des Horizont-Begriffs nachgewiesen, dass der Kritizismus Kants nicht von einem rein logisch-begrifflichen Standpunkt aus formuliert werden kann. Zunächst sei angemerkt, dass die Metapher des Horizonts ganz allgemein für eine Grenze steht. Die meisten Leser werden ferner zunächst an Husserl denken, der schon in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) 127 und später in den Cartesianischen Meditationen (1929) in Bezug auf das Bewusstsein von einem „intentionalen Horizont der Verweisung“ 128 spricht, der im Wahrnehmungserlebnis für die Protentionen – also das Erwartete, aber nicht direkt Wahrgenommene – steht und auch die Möglichkeit, die Wahrnehmung zu dirigieren – z.B. durch Lenkung der Aufmerksamkeit – veranschaulichen soll. Diese Formen der konkreten Perspektivität diskutiert Kant bekanntlich nicht explizit; vielmehr denken wir an die regulativen Ideen, wenn es darum geht, dass HorizontVgl. ebd., S. 187. Ebd., S. 207. 127 Vgl. hierzu Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung (1,1), 1913, § 82. 128 Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen, Hamburg: Meiner 1995, §19. 125 126
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haftes, wenn auch nicht in konstitutiver Hinsicht, unsere Erfahrung anleitet. Kant benutzt die Metapher des Horizonts jedoch an entscheidenden Stellen seines Werkes und sie dient dort „der ästhetischen Verdeutlichung der raumzeitlichen Bedingtheit aller menschlichen Erkenntnishandlungen“. 129 Ähnlich den transzendentalen Ideen lässt sich der Horizont Simon zufolge in seiner Funktionalität „nicht objektivieren“, 130 denn „der ästhetische Standpunkt logischen Bestimmens von Gegenständen ‚überhaupt` kann [. . . ] selbst nicht logisch bestimmt werden“. 131 Wieso ist das so? Diese Frage zielt auf die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntniskritik als solcher. Kants Hauptargument lautet, dass diskursive Erkenntnis auf Anschauung angewiesen ist und der Mensch nun einmal ein raumzeitliches Wesen mit endlichem Verstand ist, ein intellectus ectypus im Gegensatz zu einem göttlichen intellectus archetypus, für den Denken und Anschauen zusammenfielen. 132 Simon weist nun zu Recht darauf hin, dass diese Form der Grenzziehung selbst metaphorisch ist: „‚Rein` logisch ist es unmöglich, dass die Vernunft sich im Gebrauch ihrer Mittel selbst kritisiert. Die Metapher des begrenzten Horizonts veranschaulicht jedoch die Unmöglichkeit, ‚über` den jeweils eigenen Horizont hinauszudenken. Sie ‚verbildlicht` nicht nur das kritische Denken, sondern ermöglicht es erst.“ 133 Dies ist eine argumentativ starke Antwort auf Hegels Einwand gegen die kantische Selbstlimitierung. Selbiges gilt darüber hinaus für weitere zentrale Theoreme Kants. Die transzendentale Apperzeption bspw. wird von Kant auch nicht rein logisch bestimmt, 134 denn der begrifflich nicht näher zu bestimmende deiktische Partikel „ich“ bezeichnet den Herkunftsort der bestimmenden Stimme ästhetisch. „Ich“ ist kein Allgemeinbegriff, der alle denkenden Wesen unter sich fasste. In seiner begrifflich nicht zu fassenden ästhetischen Unterschiedenheit von anderem „ich“ ist es die transzendentale Bezeichnung des Ausgangspunktes aller möglichen Bestimmungen, einschließlich der Versuche der begrifflichen Bestimmung besonderer Denkhorizonte des bestimmenden Subjekts. 135
Diese Form der Transzendentalität des Anschaulichen weist Simon bei Kant am Begriff des Horizonts dann auch für die Begriffe des Begriffs 136 129 130 131 132 133 134 135 136
Simon: „Das Ich und seine Horizonte“, S. 85. Ebd., S. 87. Ebd. Vgl. KU, §77. Simon: „Das Ich und seine Horizonte“, S. 86. Vgl. für eine entgegengesetzt akzentuierte Lesart Rosefeldt: Das logische Ich. Simon: „Das Ich und seine Horizonte“, S. 88. Vgl. Simon: „Das Ich und seine Horizonte“, S. 97 f.
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und des Daseins bzw. der Existenz 137 nach, worauf ich aber nicht mehr im Einzelnen eingehen möchte, da das Wichtigste bereits gezeigt wurde: Die Lesart der kantischen Philosophie als Propositionalismus ist mindestens unvollständig. (2) In den Prolegomena hebt Kant zunächst damit an, dass Erfahrung selbst nichts anderes sei „als eine kontinuierliche Zusammenfügung (Synthesis) der Wahrnehmungen“. 138 Etwas später präzisiert er, Erfahrung – und ich setze hinzu: objektive Erfahrung – „besteht in der synthetischen Verknüpfung der Erscheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewußtsein, sofern dieselbe notwendig ist“. 139 Vor dem Hintergrund der Modalitäten Notwendigkeit und Kontingenz lässt sich nun die Definition der einzig in den Prolegomena vorkommenden Wahrnehmungsurteile plausibilisieren: „Empirische Urteile, sofern sie objektive Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurteile; die aber, so nur subjektiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurteile.“ 140 Kant erläutert weiter, dass die Wahrnehmungsurteile „keines reinen Verstandesbegriffs“, 141 sondern lediglich der „logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt“ 142 bedürfen. Diese logische Verknüpfung liegt, wie wir gesehen haben, in der Zeitlichkeit der Anschauung. Wir können etwas früher als etwas anderes wahrnehmen, aber daraus folgt noch nicht, dass es selbst, objektiv, früher als das andere ist. „Alle unsere Urteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile; sie gelten bloß für uns, d.i. für unser Subjekt“. 143 Wollen wir diese – ich nenne es subjektive Erfahrung resp. Wahrnehmungserfahrung, obwohl Kant diese Ausdrücke nicht gebraucht und Erfahrung meist mit objektiver ErfahVgl. ebd., S. 100 f. Prol AA 275. 139 Prol AA 305. 140 Prol AA 298. Vgl. zur Diskussion der Wahrnehmungsurteile in der Kant-Forschung: Freudiger, Jürg: „Zum Problem der Wahrnehmungsurteile in Kants theoretischer Philosophie“, in: Kant-Studien (82,4), 1991, S. 414–435; Wyller, Truls: „Wahrnehmung, Substanz und Kausalität bei Kant“, in: Kant-Studien (92), 2001, S. 283– 295; Lohmar, Dieter: „Kants Wahrnehmungsurteile als Erbe Humes?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung (46,2), 2002, S. 186–204; Wenzel, Christian Helmut: „Spielen nach Kant die Kategorien schon bei der Wahrnehmung eine Rolle? Peter Rohs und John McDowell“, in: Kant-Studien (96), 2005, S. 407–426; Sassen, Brigitte: „Varieties of Subjective Judgments. Judgments of Perception“, in: Kant-Studien (99), 2008, S. 269– 284. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd. 137 138
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rung, also Erkenntnis gleichsetzt – in einen größeren Erfahrungszusammenhang eingliedern, müssen die Grundsätze Anwendung finden, „unter die jede Wahrnehmung allererst subsumiert und dann vermittelst derselben in Erfahrung kann verwandelt werden“. 144 Kant zufolge machen wir also durchaus nicht nur objektive Erfahrungen, wenn er von Erfahrung spricht. 145 Wahrnehmungsurteile seien zwar „noch bei weitem nicht Erfahrungsurteile“, 146 denn in ihrem Falle „würde das Urteil nur die Wahrnehmungen verknüpfen, sowie sie in der sinnlichen Anschauung gegeben sind“, 147 dagegen sollen Erfahrungsurteile sagen, „was Erfahrung überhaupt, mithin nicht, was die bloße Wahrnehmung, deren Gültigkeit bloß subjektiv ist, enthält“. 148 Ich halte es folglich für geboten, Kant terminologisch zu ergänzen, und schlage vor, Wahrnehmungserfahrungen mit subjektiven Erfahrungen, die aber auch objektiv gerichtet sind, also Intentionalität besitzen, und Erfahrung im strikten Sinne mit objektiver Erfahrung zu identifizieren. Eine Anmerkung in den Prolegomena stützt meine Behauptung: „Wenn ich sage Erfahrung lehrt mir etwas, so meine ich jederzeit nur die Wahrnehmung, die in ihr [der Erfahrung, T.E.] liegt, z.B. daß auf die Beleuchtung des Steins durch die Sonne jederzeit Wärme folge, und also ist der Erfahrungssatz [subjektiv, T.E.] sofern allemal zufällig.“ 149 Hier wird nun insbesondere Kants Position gegenüber Hume deutlich. Er kommentiert ihn folgendermaßen: Daß diese Erwärmung notwendig aus der Beleuchtung durch die Sonne erfolge, ist zwar in dem Erfahrungsurteile (vermöge des Begriffs der Ursache) [objektiv, T.E.] enthalten, aber das lerne ich nicht durch [subjektive, T.E.] Erfahrung, sondern umgekehrt, [objektive, T.E.] Erfahrung wird allererst durch diesen Zusatz des Verstandesbegriffes (der Ursache) zur Wahrnehmung [subjektive Erfahrung, T.E.] erzeugt. 150
Prol AA 247. Unter diesem Paradigma versuchen Interpreten, die sich ausschließlich auf die Kritik der reinen Vernunft stützen möchten, die Wahrnehmungsurteile als inkonsistent auszuweisen. Vgl. bspw. Kotzin, Rhoda H. / Lansing, East / Baumgärtner, Jörg: „Sensations and Judgments of Perceptions. Diagnosis and Rehabilitation of some of Kant's Misleading Examples“, in: Kant-Studien (81), 1990, S. 401–412. 146 Prol AA 304. 147 Ebd. 148 Ebd. 149 Prol AA 305, Anm. 1. 150 Ebd., Hinzufügungen in Klammern von mir. 144 145
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Diese Erzeugung wird folgendermaßen vollzogen: „[I]n der Anwendung auf Erscheinungen werden wir der Kategorie das Schema als Formel des Grundsatzes zur Seite setzen.“ 151 Die Subsumption der Wahrnehmungsurteile erfolgt durch die Schemata als Formeln der Instanzen der Grundsätze. In Bezug auf die zweite Analogie, die die Anwendung der Kategorie der Kausalität diskutiert, gestaltet sich die Transformation eines Wahrnehmungsurteils in ein Erfahrungsurteil folgendermaßen: Gegeben sei ein Wahrnehmungsurteil, damit eine subjektive zeitliche Abfolge von Wahrnehmungen. Um nun die objektive Abfolge herauszufinden und also festzustellen, ob die subjektive Abfolge mit der objektiven zusammenfällt oder nicht, suche ich im zeitlich ersten eine Bedingung für das zweite. Finde ich keine solche Bedingung, so ist die Abfolge meiner Wahrnehmungen nicht objektiv gültig und der Versuch eines Erfahrungsurteils sozusagen mißlungen. 152
Mit dieser Lesart lässt sich der entscheidende Punkt herausstellen, dass in Kants Philosophie subjektive Wahrnehmungserfahrungen aufgrund ihrer Intentionalität sich potentiell in objektive Erfahrungszusammenhänge einordnen lassen: Erfahrung ist zunächst immer subjektiv und lässt sich in Wahrnehmungsurteilen verbalisieren. Es handelt sich um den Ausdruck von Erlebnissen, die teils kontingenterweise, teils absichtlich herbeigeführt dem Wahrnehmenden entgegentreten. Im Gesamtzusammenhang der objektiven Erfahrung hat man immer schon Erkenntnisse gesammelt, die ein Netzwerk an Hintergrundüberzeugungen bilden. Meine Erkenntnisse in diesen Zusammenhängen könnten mich z.B. dazu veranlassen, neue Erfahrungen zu sammeln. Diese sind in ihrem Erleben zunächst subjektiv, werden aber dann in einen Gesamtzusammenhang objektiver Erfahrung eingeordnet. Was in Kants Philosophie nun fehlt, ist eine Analyse dieser lebensweltlichen Zusammenhänge, die ich anhand von Cassirers Symbolphilosophie rekonstruieren werde. Blind dafür war Kant, entgegen der Meinung vieler Interpreten, jedoch ganz und gar nicht. So schreibt er im § 48 der Prolegomena sehr deutlich: „Nun ist die subjektive Bedingung aller unserer möglichen Erfahrung das Leben.“ 153 Mit Cassirer wird dieser Aussage zuzustimmen sein, insofern es Teil seines eigenen Projekts ist, das ‚Urphänomen des Lebens` in die transzendentale Reflexion einzubin-
Freudiger: „Zum Problem der Wahrnehmungsurteile in Kants theoretischer Philosophie“, S. 431. 152 Ebd. S. 433. 153 Prol AA 335. 151
Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion
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den. 154 Es wird sich zeigen, dass Wahrnehmungserfahrungen unterhalb der Ebene strenger Erkenntnisbedingungen jedoch nicht weniger objektiv sind, weshalb Kants Qualifizierung dieser Bedingungen als „subjektive“ im Folgenden genauer differenziert werden muss. Wie wir sehen werden, muss jede Wissensform, auch die nicht-propositionale, auf unterschiedliche ‚Weltordnungen` bezogen und sowohl nach ihren subjektiven als auch nach ihren objektiven Grundlagen auf eine spezifische Form der Wahrnehmung rückbezogen werden, um die Grundlagen objektiver Erfahrung zu erweitern. Gegenüber Kant bemerkt Cassirer daher: Der Kausalbegriff, im kritischen Sinne verstanden, ist vielmehr ein reiner Ordnungsbegriff – er dient dazu, "Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können"[.] Dies Ziel, »Wahrnehmung“ in »Erfahrung“ zu verwandeln[,] erreicht er dadurch, daß er ein Mittel der »Zeitordnung des Geschehens“ ist (cf. Kants zweite Analogie)[.] Aber daraus ergibt sich unmittelbar, daß das Geschehen, wenn Wir nicht seine blosse Zeitordnung ins Auge fassen – wenn wir eine andere Frage an dasselbe richten – auch der Ordnung nach einem anderen Prinzip fähig – und daß sie einer solchen Ordnung bedürftig ist. 155
Die Transformation der kantischen Kritik der Erkenntnis zu einer umfangreichen Kritik der Kultur bedeutet an dieser Stelle also eine Erweiterung der Transformation diverser Wahrnehmungserfahrungen in unterschiedliche Formen objektiver Erfahrung.
2.3 Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion Um Wahrnehmungserfahrungen mit Wissensformen zu verknüpfen, die unterhalb des kantischen Erfahrungsurteils und des Naturobjektes angesiedelt sind, muss Cassirer zeigen, dass nicht nur die Dingwahrnehmung, sondern auch die Ausdruckswahrnehmung neben der subjektiven Komponente eine objektive Dimension aufweist. Kant gilt ihm hier dennoch als Anknüpfungspunkt. Allerdings sieht Cassirer zwei Arten intellektueller Gegnerschaft, welche die Frage „ist etwas anderes als »Dingwahrnehmung« überhaupt möglich – gibt es so etwas wie »AusdruckswahrDies zu zeigen ist nicht Aufgabe dieser Studie, da eine hervorragende Rekonstruktion bereits vorliegt. Vgl. Möckel, Christian: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg: Meiner 2005. 155 ECN 5, S. 101; meine Hervorhebung. 154
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nehmung« als originär-geltende Funktion der Erkenntnis?“ 156 generell bestreiten: „In der Philosophie: der Physikalismus[,] in der Psychologie: der Behaviorismus.“ 157 Auch wenn Letzterer weitgehend durch den Kognitivismus abgelöst wurde und dieser wiederum moderne Wahrnehmungstheorien wie den Enaktivismus auf den Weg gebracht und so Einzug in die Philosophie erhalten hat, gelten die damit verbundenen Paradigmen des Empirismus und Naturalismus nach wie vor ausgesprochen vielen Philosophinnen und Philosophen als Gesetz. Für beide Lager ist es ausgesprochener Konsens, dass die Erfahrung von Farben, Gefühlen, Fremdpsychischem, ja die ganze Erfahrung vom Innenleben von Personen, rein private, also subjektive Prozesse sind. Beobachtbar und somit objektiv seien lediglich Verhaltensmuster und physikalisch Messbares. Diese Annahmen gilt es im Folgenden zu widerlegen. Mit Cassirer machen wir uns zunächst den Unterschied von Kultur- und Naturobjekten deutlich: Das Gebilde »Goethe“ kann z. B. beschrieben werden als Produkt einer bestimmten »Veranlagung“[,] diese kann wieder auf eine gewisse »Erbanlage“ zurückgeführt werden – nebst den "äusseren" Bedingungen, insbesondere den sozialen Bedingungen – aufgewachsen in einem Frankfurter Patrizierhause, Goethe als Dichter einer "bürgerlichen Kultur" (Thomas Mann) und diese »bürgerliche Kultur“ kann wieder zurückgeführt werden auf gewisse wirtschaftliche Momente – z.B. auf die Entwicklung des Kapitalismus – Das hat sein volles Recht – ohne dies alles wäre die Erscheinung »Goethe“ nicht möglich gewesen aber selbst wenn damit die »Ursachen“ zu dieser Erscheinung vollständig aufgewiesen wären, wenn ein »Laplacescher Geist“ sie vollständig zu durchschauen vermöchte, so wäre damit der »Sinn“ von Goethe, der Sinn des Buddhismus, der »Sinn“ der griechischen Sprache oder Mythologie noch nicht erfasst – dieser konstituiert sich vielmehr in einem anderen Erkenntnismodus – und mit einem anderen Mittel, als dem der "Dingwahrnehmung". [b)] Wir bezeichnen diesen neuen Erkenntnismodus mit dem Namen der Ausdruckswahrnehmung – Wir behaupten, daß die Ausdruckswahrnehmung es ist, die eine neue Dimension der Wirklichkeit ergibt – und daß diese »Dimension“ für alle Kulturobjekte charakteristisch und bestimmend ist – 158
Die Wahrnehmung von Ausdruck ist im funktionalen Aufbau des Wissens die Ausgangsbasis. Auch wenn sie gegenüber der Wahrnehmung von Naturobjekten eine neue Dimension der Wirklichkeit aufschließt, näm156 157 158
ECN 5, S. 70. Ebd. ECN 5, S. 67 f.
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lich die der Bedeutung, gilt es zu beachten, dass das Naturobjekt trotz seiner ‚empirischen Realität` ebenfalls über die von Cassirer angeführte Dimension des Sinns rekonstruiert wird; die intentionale Ausrichtung auf das Objekt ist lediglich derart, dass der kulturelle Sinn ausgeklammert wird. Die Erkenntnis des Naturobjektes ist zwar mit der Wahrnehmung eines realen Dinges verknüpft, bleibt aber eine kulturelle Praktik und ist als solche in ein System von Bedeutungen eingebunden. Gleichwohl ist aber auch jedes Kulturobjekt ein Naturobjekt, denn der Sinn von bspw. Buddhismus muss sich materiell anhand von Schriften, Praktiken, rituellen Handlungen etc. realisieren. Der Wahrnehmung von Sinnlichem stellt Cassirer konsequent die Wahrnehmung von Sinn an die Seite: Die Kulturobjekte sind Kulturobjekte, nicht durch das was sie unmittelbar, physisch sind – sondern durch das, was sie mittelbar bedeuten und ausdrücken – Es gäbe für uns daher in der Tat keine Kulturobjekte, wenn es nicht in uns eine bestimmte Funktion gäbe, die ursprünglich originär »Ausdruck, Bedeutung“ etc. erfassen könnte – wie unsere Sinne unmittelbar Wirklichkeit, physische Gegenständlichkeit erfassen können.
Die Ausdruckswahrnehmung ermöglicht, dass das Wahrgenommene zum Zeichen im weitesten Sinne werden kann. Die skeptische Bestreitung der Ausdrucksfunktion kann im strengen Sinne nicht widerlegt werden. Unter Berufung auf Hume behauptet Cassirer: „Alle Realität ist uns immer durch a-theoretische Funktionen (durch "Erlebnisse") vermittelt“. 159 Diese Grundlage weitet er auf die Ausdruckserlebnisse aus und hält Hume zugleich entgegen, dass dieser einem Fehlschluss unterliegt, wenn er aus der theoretischen Unbeweisbarkeit die reine Subjektivität von Wahrnehmung, Außenwelt und Fremdpsychischem folgert. 160 Der „ObjektivitätsAnspruch der "Wahrnehmung" und des Ausdruckserlebnisses“ ist gegeben und deshalb „ein Moment der Gewissheit, die über allen blassen Beweis hinausgeht“. 161 Damit will nicht gesagt sein, dass die Wahrnehmung schon immer objektiv ist, sondern dass sie ihrem eigenen Anspruch nach objektivitätsfähig ist. Die Wahrnehmungserfahrung eines dinglichen Zusammenhanges, bspw. das Verköstigen von Wein gemeinsam mit Käse, ist einerseits ein subjektives Erlebnis (es schmeckt mir oder schmeckt mir nicht) und andererseits bspw. dahingehend objektiv, dass ich zu der Erkenntnis gelangen kann, dass Wein intensiver mit Käse schmeckt, weil Käse z.T. aus Fett besteht, welcher den Geschmack verstärkt. Man könnte 159 160 161
ECN 5, S. 105. Vgl. ECN 5, S. 107. Beide Stellen ebd.
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also lediglich behaupten, dass einem diese Kombination nicht schmeckt, nicht jedoch, dass Käse den Geschmack von Wein nicht intensiviert. Die Dingwahrnehmung hat also mit der Objektivität und somit den Gesetzlichkeiten der ‚Außenwelt`, also der Natur, zu tun. Auf die Frage „Gibt es ein Analogon dieser allgemeinen Gesetze auch für die Ausdrucksfunktion?“ antwortet Cassirer überraschenderweise zunächst: „Die Frage scheint absurd – denn die Ausdrucksfunktion scheint ja grade das zu sein, was dem Kreis der blassen Subjektivität, der Innenwelt, der nur-psychischen Realität angehört“. 162 Die Frage scheint aber eben nur absurd, „denn der Gegensatz: subjektiv-objektiv (im transzendentalen Sinne) ist ein »Dignitäts«-Gegensatz – der mit dem Gegenstandsgebiet als solchem gar nichts zu tun hat – der also keineswegs mit dem Gegensatz »physisch-psychisch« zusammenfällt“. 163 Vielmehr ist es ein „Fehler einer naiven Abbild-Theorie“, den „Gegensatz Innen-Aussen [. . . ] mit dem Gegensatz Subjektiv-Objektiv“ 164 gleichzusetzen. Dies liegt einerseits darin begründet, dass das Innenleben von Menschen keine solipsistische Privatveranstaltung ist, sondern sich intersubjektiv in Form der Soziabilität äußert und ausbildet. Die Ausdruckswahrnehmung verbindet sich folglich mit den Gesetzlichkeiten der intersubjektiven Welt der Bedeutungen, des Sinnhaften: der Kultur. „Auch in dem Aufbau der »Innenwelt« müssen wir scharf zwischen dem, was objektiv-gültig und nur »subjektiv-gültig« ist[,] unterscheiden.“ 165 Dies können wir uns sehr anschaulich an Farben verdeutlichen: Phänomenal gesehen sind Farben subjektiv, objektiv dagegen sind sie als Wellenlängen beschreibbar – aber nicht nur: Es wäre ein Fehlschluss, aus ihrer Erscheinungsweise als rot, als blau usf. abzuleiten, dass sie mental im Sinne von Sinnesdaten sind und nicht etwa an äußeren Gegenständen anzutreffen wären. Cassirer folgert: „es giebt physisch-Subjektives und physisch-Objektives [ – ] so wird es auch psychisch-Subjektives und psychisch-Objektives geben“ 166 – und bestimmt in Kontrast dazu das „Gebiet des psychisch-Objektiven“ als „das Gesamtgebiet des sogen[annten] »Geistigen« des in »geistigen« Akten Erfassbaren, Objektivierbaren durch Sprache, Kunst etc. Darstellbaren“. 167 Das psychisch-Subjektive ist das von Physikalismus und Behaviorismus verbannte „nicht-Darstellbare, der blosse "mir" gegebene und 162 163 164 165 166 167
Beide Stellen ECN 5, S. 108. ECN 5, S. 108 f. Beide Stellen ECN 5, S. 109. Ebd. ECN 5, S. 110. Ebd.
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mir allein bekannte Inhalt)“. 168 Ein Außenstehender wird niemals beurteilen können, ob eine andere Person wirklich Schmerzen fühlt (denken wir bspw. an einen Menschen, der vorgibt, elektrosensibel zu sein, was wissenschaftlich ungeklärt ist) oder ob sie ein Kleid blau-schwarz oder weiß-gold 169 wahrnimmt. Daraus folgt nun aber nicht, dass wir uns nicht intersubjektiv über diese Phänomene verständigen können. Schmerzen einerseits sind bspw. in der Kunst, sei es bildnerisch, sei es literarisch, darstellbar und daran als solche nachvollziehbar. Die unterschiedliche Wahrnehmung der Streifen des Kleides können wir ohne die Normierung der Farben als Spektralfarben rein phänomenologisch durch Abgleich von Hintergrundfarben und Beleuchtung verstehen, selbst dann, wenn sich die einmal adaptierte Wahrnehmung nicht mehr ändert. Cassirer gibt der falschen Konzeption einer Abbildtheorie weiterhin noch eine andere Wendung, die sich als metaphysisches Problem entlarvt: Im Gebiet der »Sinneswahrnehmung« ( – Wahrnehmung von "Physischem") lautet der Ansatz nicht so, daß wir fragen[,] ob es jenseit und ausserhalb der Sinneswahrnehmung ein Gebiet unabhängig[er], an sich bestehender 'Objekte' giebt, die durch die Wahrnehmung »abgebildet« werden – Die Frage lautet vielmehr, ob die Sinneswahrnehmung bestimmten Gesetzen der Verknüpfung[,] bestimmten allgemeinen Regeln gehorcht – Diese »Gesetze der Verknüpfung« definieren wir als ihre (empirische) »Realität« (cf. Leibniz . . . ) welche Data der Sinneswahrn[ehmung] dürfen wir als objektiv beibehalten, um der Ford[erung] der gesetzl[ichen] Verknüpfung gerecht zu werden? 170
Die Abbildtheorie – heute sprechen wir von Repräsentationalismus – ist Cassirer zufolge eine „falsche Abstraktion“, die ein Scheinproblem schafft, aus dem, hat man sich einmal darauf eingelassen, kein Beweis mehr zur Realität der Ding- und Ausdruckswahrnehmung führt. Cassirer weist indirekt nach, dass der Schluss auf die Subjektivität der Wahrnehmung, der Außenwelt und des Fremdpsychischen und die damit verbundene Skepsis Ergebnis schlechter Metaphysik und für die Ausdruckswahrnehmung noch weniger durchführbar ist als für die Dingwahrnehmung:
Ebd. Gemeint ist das Internetphänomen von 2015, das unter dem Hashtag #thedress firmierte. 170 ECN 5, S. 110. 168 169
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Im Gebiet der Ausdruckswahrnehmung liegt das Problem in gewissem Sinne noch einfacher – Denn hier brauchen wir die Frage nicht zu stellen, ob fremdpsychische Subjekte existieren – Der Vorstellungs-Idealismus ist hier noch weniger durchführbar, als im Gebiet der Sinneswahrnehmung – der Objektivitäts-Anspruch (Hume: belief ) als solcher ist unbestreitbar und unausrottbar, als Ganzes können wir ihn niemals verneinen[.] Der Vorstellungs-Idealismus ist keineswegs durch Besinnung auf das 'Gegebene' (als bloss-Gegebenes) zu begründen – er ist vielmehr Ergebnis einer falschen Abstraktion (Ausdruck einer falschen "Logik" (Beweisbarkeits-These) und einer falschen 'Metaphysik': Die Welt ist meine Vorstellung)[.] 171
Cassirer rekonstruiert hier das Fremdpsychische als Möglichkeitsbedingung von Intersubjektivität und hält dem Skeptiker ein Tu-quoque-Argument entgegen: Der Solipsismus ist nicht formulierbar, denn durch die Verneinung meines Gegenübers bleibt nichts Gegebenes, keine Vorstellung oder dergleichen mehr bestehen. Der Sprechakt der Verneinung entzieht sich stattdessen selbst die Grundlage der Möglichkeit seiner Formulierung. Die sich theoretisch ergebende Vorstellungswelt, die weder Vorstellung von etwas noch für jemanden sein kann, basiert weiterhin auf einer methodologischen Konfusion: die Entscheidung über die `Ausdehnung' der Ausdrucksfunktion hängt zuletzt von einer methodologischen Maxime ab – Und hier gibt es vor allem zwei methodol[ogische] Maximen[:] a) die Maxime des strengWissbaren[,] des Beweisbaren und des empirisch-Aufzeigbaren, Begründbaren . . . es ist die Maxime des »Behaviorismus«[;] b) die Maxime des »konkret-Verstehbaren« (des Respekts vor dem was »intuitiv-gewiss« ist)[.] Beide Maximen dürfen nicht als metaphysische Sätze, sondern sie müssen als (relative) Postulate verstanden werden. 172
Cassirer hält an dieser Stelle verdeckt Schopenhauer, dem wohl exponiertesten Vertreter eines Vorstellungs-Idealismus, ein von ihm selbst formuliertes Argument entgegen, nämlich das des Außenwelt-Skeptizismus als theoretischem Egoismus: 173 Der Skeptiker ist Cassirer zufolge genau deshalb ein Egoist, weil er keinen ‚Respekt` vor denjenigen menschlichen Verstehensleistungen hat, welche unterhalb der Schwelle des wissenschaftlichen Wissens der Erkenntnis den Weg bahnen. Gegen diese 171 172 173
ECN 5, S. 110 f. ECN 5, S. 113. Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, §19, S. 156 f.
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Überbetonung der theoretischen Erkenntnis spricht ferner auch „schon alle psycholog[ische] Empirie“, denn „der Säugling müsste alsdann im Stande sein[,] theoret[ische] Schlüsse zu ziehen etc“. 174 Entlang des Ausdrucksphänomens lässt sich „je ein verschied[ener] Grad der Gewissheit“ aufweisen, weshalb es ausreichend Grund gibt, ihm Objektivität zuzusprechen und mehr noch: hier die präreflexive Basis allen Wissens zu suchen. Cassirer grenzt den „reflektorischen Ausdruck“ 175 wie bspw. das Erröten oder das Herzklopfen von der spezifischeren kulturellen Wahrnehmung von Zeichen ab. Ganz offensichtlich deuten wir diese Weisen eines passiven Ausdrucks 176 als „Zeichen (Symptome) eines Fremdpsych[ischen]“ und orientieren uns an diesen im „Verkehr von Mensch zu Mensch, im sozialen Verbund“, weil wir sie „geläufig in all ihren feinsten Nuancen“ 177 verstehen. Was in der analytischen Wahrnehmungstheorie immer wieder als Feinkörnigkeitsargument angeführt wird, 178 ist vor dem Hintergrund dieser ‚Ausdruckssprache` viel geeigneter, die eigentliche Schwäche des Propositionalismus aufzuzeigen, als der Versuch, nicht-propositionale Aspekte in Bezug auf die Dingwahrnehmung und die begriffliche Rede nachzuweisen. Nicht-propositionale Aspekte der Wahrnehmung haben ein echtes Fundament im Aufbau der Erkenntnis nur im Ausgang des Ausdrucksphänomens. Wohl reicht diese Form der Gewissheit, die wir Cassirer zufolge „unbedenklich“ als „Zeugnisse psychischer Vorgänge“ 179 in den Ausdrucksbewegungen anderer Subjekte sehen, nicht hin, um die Welt der Intersubjektivität objektiv aufzuweisen. Der reflektorische Ausdruck hinterlässt Zweifel, da er sich z.B. auch für die Tropismen der Pflanzen nachweisen lässt, 180 denen wir aber noch viel weniger als den Tieren den Zugang zum Raum der Bedeutung zusprechen wollen. Der kulturelle resp. aktive Ausdruck dagegen ist geistig ECN 5, S. 116. ECN 5, S. 117. 176 Ich greife hier terminologisch vor auf das Ergebnis des Kapitels 5 zur ‚natürlichen` Symbolik. 177 Alle drei Stellen ECN 5, S. 117. 178 Vgl. Kelly, Sean: „The non-conceptual content of perceptual experience. Situationdependence and fineness of grain“, in: Philosophy and Phenomenological Research (62), 2001, S. 601–608 und Tye, Michael: „Nonconceptual Content, Richness, and Fineness of Grain“, in: Gendler, Tamar S. / Hawthorne, John: Perceptual Experience, Oxford: OUP 2006, S. 504–530. Dieses Argument geht zurück auf Evans, Gareth: The Varieties of Reference, Oxford: OUP 1982, S. 229. 179 ECN 5, S. 117. 180 Vgl. ebd. Zur neueren Forschung bzgl. der Wahrnehmung von Pflanzen vgl. Chamovitz, Daniel: What a plant knows. A field guide to the senses of your garden – and beyond, Oxford: Oneworld 2012. 174 175
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in dem Sinne, dass „ich auf ein anderes »Seiende[s]«, »Lebendige[s] durch Darstellung bezogen bin“, weshalb „der im reinen Ausdrucks-Erlebnis »gegebene« Hinweis auf ein Fremd-Psychisches [. . . ] seine Bestätigung, seine objektive »Bewährung« [. . . ] in dem Aufbau einer “Kulturwelt” (Sprache, Kunst . . . ) die allen ‚gemeinsam`, ein κοινόν und ξυνόν ist“, 181 findet. Die Objektivität der Kulturwelt ist eine Erkenntnis überindividueller Zusammenhänge, die im intersubjektiven Raum kulturellen Austauschs als Werk realisiert ist. Deshalb benutzt Cassirer auch den Begriff „objektiver Geist“, wenn er von Kultur spricht. Die Erzeugnisse der Kultur sind vor allem auch objektiv, weil sie an Materiellem realisiert werden und folglich „eine empirische Substantialität, die nicht mit irgend einer metaphysischen Substantialität vermengt oder verwechselt werden darf “, 182 besitzen. Cassirer hat für die Objektivität der Ausdruckswahrnehmung auch den Begriff der ‚symbolischen Prägnanz` geprägt, der sehr viel Aufschluss darüber gibt, was eine ‚symbolische Form` sein soll. 183 Die Manifestation eines Kulturobjekts liegt nicht primär in dem, was es als physisches Objekt ausmacht, sondern in seiner Form, die objektiv wahrnehmbar und intersubjektiv gestaltbar ist: „Eine andere ‚Objektivität` finden wir hier nicht und suchen wir hier nicht.“ 184
181 182 183 184
Beide Stellen ECN 5, S. 125. ECN 5, S. 126. Dazu mehr in Kapitel 6.2.1. ECN 5, S. 125.
Kapitel 3 Zur Theorie der Repräsentation Im einleitenden Teil wurde bereits angedeutet, 1 dass Cassirers Hauptwerk nicht nur insgesamt eine Phänomenologie der Wahrnehmung ist, sondern dass die in der Philosophie der symbolischen Formen enthaltene Wahrnehmungstheorie eng an eine dreigliedrige Theorie der Repräsentation gekoppelt ist. Cassirer hat den Interpreten nun gleich zwei dreistufige Schemata hinterlassen, die z.T. ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen: Im Band zur Sprache findet sich die Dreiteilung mimisch – analogisch – (rein) symbolisch, die Cassirer auch im Mythos-Band – wenn auch nicht in gleicher Ausführlichkeit – aufgreift, während im dritten Band, der Phänomenologie der Erkenntnis, die Dreiteilung Ausdruck – Darstellung – (reine) Bedeutung eingeführt wird. Aus meiner Leitthese ergibt sich, dass Cassirer sein Hauptwerk mit Erscheinen des dritten Bandes auf Grundlage seiner gereiften Wahrnehmungstheorie neu gefasst hat. Damit verbunden ist weiterhin, dass auch seine Theorie der Repräsentation erst im abschließenden Band fertig entwickelt ist, denn der interne Zusammenhang von Präsentation und Repräsentation zeigt sich erst im Theorem der symbolischen Prägnanz, von dem zuvor nicht die Rede war. 2 Es wäre demnach davon auszugehen, dass beide Schemata nicht koinzidieren und dass bei der systematischen Rekonstruktion dieser Repräsentationstheorie der Fokus auf das Modell Ausdruck – Darstellung – (reine) Bedeutung zu legen wäre. Ich stimme Birgit Recki darin zu, dass die meisten Interpreten falsch liegen in der Ansicht, dass die beiden „Schemata miteinander kongruieren“. 3 Recki argumentiert darüber hinaus aber dafür, dass beide Modelle insgesamt einer „Adhoc-Konstruktion“ 4 gleichen, die man auf sich beruhen lassen könne. Denn lehnte man die KongruenzThese ab, 5 ließe sich nur noch dafür argumentieren, dass sich die beiden Drei-Ebenen-Modelle wechselseitig durchdringen, was Recki meint ausschließen zu können, da sich z.B. das mythische Bewusstsein niemals Vgl. Kapitel 1.4.4. Vgl. Kapitel 6.2.1. 3 Recki: Kultur als Praxis, S. 47. 4 Ebd., S. 48, Anm. 33. 5 Für sie argumentieren bspw. Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 120 und Höfner, Markus: Sinn, Symbol, Religion. Theorie des Zeichens und Phänomenologie der Religion bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, S. 87 f., Anmerkung 337. 1 2
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Zur Theorie der Repräsentation
zu rein symbolischem Ausdruck entwickeln könne oder die Wissenschaft keine mimetische Phase durchlaufe. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass diese Inkonsistenz-These Reckis sich weder exegetisch noch systematisch nachweisen lässt. 6 Vielmehr sind beide Drei-Ebenen-Modelle integraler Bestandteil der Cassirerschen Repräsentations- und Wahrnehmungstheorie. Im Folgenden sollen daher beide Schemata vorgestellt und in ihrer wechselseitigen Durchdringung als konsistent nachgewiesen werden. Diesen Analysen möchte ich zur besseren Orientierung eine schematische Übersicht voranstellen, welche beide Drei-Ebenen-Modelle sowohl den symbolischen Formen als auch den zugrundeliegenden Praktiken zuordnet: Subjektives Tun
Symbolfunktion (Objektivierung)
Symbolische Formen (Formwelten)
Phase bzw. Stufe
Wahrnehmen
Ausdruck
Mythos
Mimisch
Anschauen
Darstellung
Sprache
Analogisch
Reines Denken
Reine Bedeutung
Wissenschaft
Symbolisch
3.1 Mimisch, analogisch, (rein) symbolisch Der systematische Kern der Phänomenologie der sprachlichen Form erstreckt sich über die Kapitel zwei bis fünf des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, während sich das anfängliche erste Kapitel dem Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie widmet. Im zweiten Kapitel, das die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks behandelt, leitet Cassirer die Sprache aus den Ausdrucksbewegungen her und führt dann in einem zweiten Teil dieses Kapitels erstmals das Schema ‚Mimischer, analogischer und symbolischer Ausdruck` (so der Titel des Unterkapitels) als systemisch-dialektischen Unterbau seiner Theorie ein. Die Idee dieser Konstruktion lässt sich am besten aus transzendentalgenetischer Perspektive auf die grundlegende Entzweiung von Geist und Welt exemplifizieren. Cassirer schreibt: Gleichermaßen gegen die Kongruenz- wie die Inkonsistenz-These spricht bereits der Umstand, dass Cassirer das Schema von 1923 auch 1930 noch in Form und Technik anwendet. Vgl. ECW 17, S. 169 f sowie Krois, John M.: „Ernst Cassirer's Theory of Technology and its Import for Social Philosophy“, in: Research in Philosophy and Technology (5), 1982, S. 211 f. 6
Mimisch, analogisch, (rein) symbolisch
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So scheint genetisch und sachlich in der Tat ein stetiger Übergang vom „Greifen“ zum „Begreifen“ zu führen. Das sinnlich-physische Greifen wird zum sinnlichen Deuten – aber in diesem letzteren liegt bereits der erste Ansatz zu den höheren Bedeutungsfunktionen, wie sie in der Sprache und im Denken hervortreten. Um die äußerste Spannweite dieses Gegensatzes auszumessen, könnte man sagen, daß dem sinnlichen Extrem des bloßen „Weisens“ das logische des „Beweisens“ gegenübersteht. 7
Cassirer möchte nachweisen, dass es einen natürlichen Übergang vom aktiven Orientieren lebendiger Organismen, also im Prinzip von dem, was Alva Noë unter sensorimotor skills fasst, zur basalen und genetisch betrachtet ersten sinnhaften Aneignung der Welt gibt. Das Reiz-ReaktionsGeschehen wandelt sich auf natürlichem Wege in Ausdrucksbewegungen. 8 Von solchen Vorformen der Sprache an schlägt diese Entwicklung jedoch einen Weg ein, der dem Reich der Natur enthoben ist und auf dialektischem Wege vom Imitieren natürlicher Prozesse zum abstrakten Gegenüberstellen und Wissen um diese Prozesse führt. Diese Entwicklung hat selbstverständlich idealtypischen Anspruch, sie verschränkt, wie Cassirer selbst sagt, genetische und strukturlogische Aspekte derart, dass der Fokus zwar auf der Struktur – hier: der Sprache – liegt, jedoch auch ontogenetische, phylogenetische und kulturgeschichtliche Erkenntnisse integriert werden können. Cassirer führt das Schema für die Sprache dann folgendermaßen ein: Allgemein läßt sich eine dreifache Stufenfolge aufweisen, in welcher sich dieses Heranreifen der Sprache zu ihrer eigenen Form, diese ihre innere Selbstbefreiung vollzieht. Wenn wir diese Stufen als die des mimischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Ausdrucks bezeichnen, so enthält diese Dreiteilung zunächst nicht mehr als ein abstraktes Schema – aber dieses Schema wird sich in dem Maße mit konkretem Gehalt erfüllen, als sich zeigen wird, daß es nicht nur als Prinzip der Klassifikation gegebener Spracherscheinungen dienen kann, sondern daß sich in ihm eine funktionale Gesetzlichkeit des Aufbaus der Sprache darstellt, die in anderen Gebieten, wie in dem der Kunst oder der Erkenntnis, ihr ganz bestimmtes und charakteristisches Gegenbild hat. 9
Der mimische Ausdruck in der Sprachentwicklung liegt nun exemplarisch in der Gebärdensprache vor, die eine natürliche Anlage des Menschen 7 8 9
ECW 11, S. 127. Wie dies zu denken sei, behandelt Kapitel 5 zur ‚natürlichen` Symbolik. ECW 11, S. 137.
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ist und wie die gesprochene Sprache zwar Diversität aufweist, 10 mit der sich aber trotzdem jeder Mensch an jedem Ort der Welt, dessen lokale Sprache(n) er nicht beherrscht, auszudrücken vermag. Dies ist möglich, weil hier „zwischen dem sprachlichen ‚Zeichen` und dem Anschauungsinhalt, auf den es sich bezieht, noch keine wahrhafte Spannung besteht“, 11 sondern „beide vielmehr ineinander aufzugehen und zur gegenseitigen Deckung zu gelangen bestrebt sind“. 12 Eine Entwicklung, die dann von der Gebärdensprache zur Lautsprache führt, wird durch Spannung und Differenz in Gang gesetzt. Das Prinzip des Mimischen selbst erzeugt diese nicht, denn das „Zeichen versucht, als mimisches Zeichen, in seiner Form den Inhalt unmittelbar wiederzugeben, ihn gewissermaßen in sich aufzunehmen und zu absorbieren“. 13 Wie entsteht nun aber diese Spannung, „durch die erst das charakteristische Grundphänomen des Sprechens, durch die die Trennung von Laut und Bedeutung erreicht wird“? 14 Cassirer spricht in obigem Zitat von einer „funktionalen Gesetzlichkeit“, die ich als dialektisch bezeichnet habe. Ich werde an späterer Stelle nachweisen, inwiefern hier zu Recht von Dialektik die Rede ist. 15 Momentan gilt es lediglich zu beachten, dass damit kein metaphysisches Prinzip bezeichnet ist, weil Cassirer rein pragmatisch argumentiert. Der Schritt von der mimischen zur analogischen Stufe geschieht nicht aufgrund der abstrakten Notwendigkeit einer zugrunde liegenden Logik, die man – wie Hegel es wollte – ‚wissenschaftlich` darstellen könnte, sondern im Ringen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten auf Grundlage der bereits erschlossenen geistigen Stufen: Die Sprache kann zu dieser Stufe nicht unmittelbar gelangen, sondern sie steht auch hier unter dem gleichen inneren Gesetz, das ihre gesamte Bildung und ihren Fortschritt beherrscht. Sie schafft nicht für jeden neuen Bedeutungskreis, der sich ihr erschließt, neue Mittel des Ausdrucks, sondern ihre Kraft besteht eben darin, daß sie ein bestimmtes gegebenes Material in verschiedener Weise zu gestalten, daß sie es, ohne es zunächst inhaltlich zu verändern, in den Dienst einer anderen Aufgabe zu stellen und ihm damit eine neue geistige Form aufzuprägen vermag. 16 Mehr als 7000 gesprochenen Sprachen stehen ca. 137 Gebärdensprachen (ohne Dialekte) gegenüber. Vgl. https://www . ethnologue . com / (zuletzt abgerufen am 18.02.20). 11 ECW 12, S. 277 f. 12 Ebd. 13 ECW 12, S. 278. 14 Ebd. 15 Vgl. Kapitel 3.3. 16 ECW 11, S. 169. 10
Mimisch, analogisch, (rein) symbolisch
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Die Entwicklung vom mimischen über das analogische hin zum symbolischen Verstehen spielt sich einerseits im Ideell-Normativen, also in Anlehnung an Sellars im ‚Raum der Bedeutung`, 17 ab, ist aber stets auch an materielle Ausdrucksmöglichkeiten (so z.B. bereits erschlossene Lautzeichen der stimmlichen Modulation, Schriftzeichen in Stein oder evtl. schon auf Papyrus, ästhetische Zeichen an bearbeitetem Stein oder auf Höhlenwänden, mythisch-religiöse Zeichen in Form von Bauwerken wie Stonehenge usf.) gebunden, wodurch dieser ‚Raum der Bedeutung` zugleich pragmatisch konstituiert ist. Die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten beschreibt Cassirer metaphorisch durch Bedeutungskreise oder auch konzentrische Kreise, die einem „Fluten und Rückfluten des Geistes“ 18 gleichkommen. Das Fortschreiten des Geistes unterliegt nun zwar der Logik des etablierten Schemas, also von der sinnlich fassbaren Identität von Ausdrucksmittel und dessen geistigem Gehalt bis zu deren vollständigem Auseinandertreten und der Bewusstwerdung der abstrakten reinen Bedeutung des Gehalts, verläuft aber keineswegs zwingend und geradlinig. Der Vektor des Fortschritts zeigt zwar immer von der Gebundenheit ans Sinnliche in Richtung Selbstbefreiung des Geistes vom konkret Sinnlichen, kann in verschiedenen Bereichen der Kultur jedoch in unterschiedlichen Stadien realisiert sein. Ferner erwachsen alle kulturellen Leistungen nach Cassirer dem ‚Mutterboden` des Mythos, der zugleich das Gravitationszentrum dieses Fortschrittsvektors ist. Vor diesem Hintergrund ist auch Cassirers Bestimmung der Kultur insgesamt als „the process of man's progressive self-liberation“ 19 zu lesen. 20 Cassirers klarste und umfangreichste Exemplifikation des „Rückfluten[s] des Geistes“ ist seine Analyse des Nationalsozialismus in The Myth of the State (1946), in dem er nachweist, wie nicht trotz, sondern gerade aufgrund der weit fortgeschrittenen Form der Technik der Mythos als Instrument der Regression gezielt eingesetzt wird, wodurch – selbstverständlich unter vielen weiteren geistigen und materiellen Voraussetzungen – solch ein Ich spreche bewusst nicht vom ‚Raum der Gründe`, da Cassirer mit ‚Bedeutung` Sinnhaftigkeit im weitesten Sinne und nicht lediglich den sprachlich-referentiellen Sinn von ‚Bedeutung` meint. Der Raum eines Gebens und Nehmens von Gründen, wie ihn Brandom im Anschluss an Sellars logical space of reasons rekonstruiert hat, ist daher genealogisch betrachtet zunächst zu anspruchsvoll. 18 ECW 11, S. 262. 19 ECW 23, S. 244. 20 Zur Bestimmung der daraus resultierenden ethischen Aspekte vgl. Plümacher, Martina: „Der ethische Impuls in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“, in: Fetz, Reto Luzius / Ullrich, Sebastian (Hrsg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers ‚Nachgelassenen Manuskripten und Texten`, Hamburg: Meiner 2008, S. 93–116. 17
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Zur Theorie der Repräsentation
drastischer Rückschlag von der Zivilisation in die Barbarei erst möglich wird. Erst mit der analogischen Phase bzw. Stufe kommt die volle Funktionalität der Repräsentation innerhalb dieses Modells zum Tragen. Sie tritt nicht erst im Bruch mit der mimischen Phase zu Tage, sondern schon durch Überlagerungen innerhalb des Paradigmas des Mimischen: der Gebärdensprache. Analogisch bedeutet hier, dass neue Formen analog bzw. im Rückgriff auf schon bestehende geschaffen werden und dies innerhalb des Prozesses, in dem Gebärden- und Lautsprache sich aneinander formen, geschieht. Cassirer schreibt: In der geschichtlichen Entwicklung der Sprache vollzieht sich dieser Prozeß der Ablösung nicht unvermittelt. In den Sprachen der Naturvölker läßt sich noch heute deutlich erkennen, wie in ihnen die Gebärdensprache nicht nur neben der Lautsprache stehenbleibt, sondern wie sie diese selbst, ihrer Formung nach, noch entscheidend bestimmt. Überall findet sich hier jene charakteristische Durchdringung, dergemäß die „Wortbegriffe“ dieser Sprachen nur dann ganz erfaßt und verstanden werden können, wenn man sie zugleich als mimische und als „Handbegriffe“ (manual concepts) versteht. Die Gebärde ist mit dem Wort, die Hände sind mit dem Intellekt derart verknüpft, daß sie wahrhaft einen Teil von ihm zu bilden scheinen. Auch in der Entwicklung der Kindersprache trennt sich der Laut nur ganz allmählich von der Gesamtheit der mimischen Bewegungen ab: Selbst relativ hohe Stufen derselben zeigen ihn diesem mimischen Ganzen noch völlig eingebettet. Aber sobald nun die Trennung vollzogen ist, hat die Sprache mit dem neuen Element, in dem sie sich nunmehr bewegt, auch ein neues Grundprinzip ihres Aufbaues gewonnen. In dem physischen Medium des Lautes erst entwickelt sich ihre eigentliche geistige Spontaneität. Beides bedingt sich jetzt wechselweise: Die Gliederung der Laute wird zum Mittel für die Gliederung des Gedankens, wie diese letztere sich in der Ausbildung und Formung der Laute ein immer differenzierteres und empfindlicheres Organ erschafft. 21
Cassirer behauptet, dass der analogische Ausdruck aus dem mimischen derart erwächst, dass in der Gebärdensprache durch immer feinere Differenzierungen entlang des Schemas ‚mimisch, analogisch, symbolisch` die eigentliche Bestimmung der Sprache als Bedeutungsfunktion ‚zu Bewusstsein kommt` 22 und so zuwege gebracht wird, wodurch die MöglichECW 11, S. 130. In Cassirers Terminologie ist die Sprache somit in einem ersten ‚Anlauf ` bereits symbolisch geworden, bevor sie zum Analogischen und später zum rein Symbolischen 21 22
Mimisch, analogisch, (rein) symbolisch
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keit des Übergangs zur Lautsprache entsteht. So wie das Paradigma des Mimischen die Gebärdensprache bestimmte, ist nun das Paradigma des Analogischen die Lautsprache, die selbst erneut den gesamten Prozess im Ausgang vom Mimischen durchlaufen muss. Innerhalb der Lautsprache zeigt sich daher erneut das Mimische in den anfänglichen Lautbildungen der Onomatopoesie. Da das Prinzip des Analogischen, das Bedeuten, im Rückgriff auf bereits Erschlossenes aber bereits wirksam ist, bleiben die Lautbildungen dort nicht stehen. Vielmehr bedient sich der Mensch mit diesem Ausdrucksmittel ganz neuer Möglichkeiten, die nicht mehr an das konkret Sinnlich-Anschauliche gebunden sind. Diese neue Gestaltungsfreiheit im Gebrauch der Zeichen macht den Menschen „nicht nur dazu fähig, starre Bestimmtheiten der Vorstellungsinhalte, sondern die feinsten Schwebungen und Schwankungen des Vorstellungsprozesses auszudrücken“. 23 In der Lautsprache lassen sich geistige Gehalte nicht mehr nur entlang von Wahrnehmungserfahrungen ordnen und systematisch geregelt ausdrücken, sondern entlang der Analogie der Formen von inhaltlicher Beziehung zum Laut „reine Verhältnisbestimmungen wieder[. . . ]geben“. 24 Cassirer drückt dies so aus: Auf der untersten Stufe der geistigen Skala scheinen wir uns dort zu befinden, wo die Vergleichung und Zuordnung der Objekte lediglich von irgendeiner Ähnlichkeit des sinnlichen Eindrucks, den sie hervorrufen, ausgeht. [. . . ] Das inhaltlich Verschiedenartigste kann hier zu einer „Klasse“ zusammengefaßt werden, sobald es nur irgendeine Analogie der sinnlich wahrnehmbaren Form aufweist. [. . . ] Schon einer ganz anderen Schicht der Betrachtung scheinen solche Klassenunterscheidungen anzugehören, die, statt von einer bloßen Ähnlichkeit im Inhalt der einzelnen Wahrnehmungsdinge auszugehen, auf irgendeiner Verhältnisbestimmung gegründet sind, die also die Objekte je nach ihrer Größe, ihrer Zahl, ihrer Stellung und Lage voneinander unterscheiden. 25
Der (rein) symbolische Ausdruck ist durch genau diese Verhältnisbestimmungen in der weiteren Entwicklung der Lautsprache 26 prinzipiell vorgezeichnet, kann jedoch in seiner eigentlichen Funktion – nämlich abstrakt fortzuschreiten vermag. Mit Hegel gewendet könnte man auch sagen, sie ist nicht mehr nur Substanz, sondern bereits Subjekt, was obiger ‚Bewusstwerdung` gleichkommt. 23 ECW 11, S. 131. 24 ECW 11, S. 141. 25 ECW 11, S. 270 f. 26 Cassirer diskutiert diese Entwicklung u.a. auch für die Schriftsprache sowie am mythischen Tanz und entlang der Entwicklung polytheistischer Religionen. Vgl. dazu ECW 12, S. 278 ff.
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Zur Theorie der Repräsentation
zu bedeuten – allein durch die Sprache nicht realisiert werden, obwohl die Sprache den Kreis des analogischen Ausdrucks „ständig zu erweitern und schließlich zu durchbrechen strebt“. 27 Einerseits gilt: „Je mehr der Laut dem, was er ausdrücken will, gleicht; je mehr er dieses Andere noch selbst ‚ist`, um so weniger vermag er es zu ‚bedeuten`.“ 28 Andererseits ist im Gebrauch der Sprache aus der Not aber bereits eine Tugend gemacht, denn die Vieldeutigkeit des Lautzeichens „duldet nicht, daß das Zeichen bloßes Individualzeichen bleibt; gerade sie [die Vieldeutigkeit, T.E.] ist es, die den Geist zwingt, den entscheidenden Schritt von der konkreten Funktion des ‚Bezeichnens` zur allgemeinen und allgemeingültigen Funktion der ‚Bedeutung` zu tun“. 29 Die rein symbolischen Zeichen sind nun aber wesentlich die der Mathematik. Die Zahlzeichen der Sprache sind für das, was in der Mathematik als Zahl oder Anzahl bestimmt wird, genealogisch betrachtet zwar notwendige Voraussetzung, jedoch lässt sich der geistige Gehalt von ‚Anzahl` nicht aus der Sprache herleiten, sondern muss aus Sicht des Mathematikers eigens – wie es bspw. Gottlob Frege mit dem Logizismus angestrebt hat – abgeleitet werden. Deshalb besteht „zwischen den sprachlichen und den rein intellektuellen Symbolen eine unvermeidliche Spannung und ein niemals völlig aufzuhebender Gegensatz. Wenn die Sprache den letzteren erst den Weg bereitet, so vermag sie ihrerseits diesen Weg nicht bis zu Ende zu durchmessen.“ 30 Dadurch ist das etablierte Schema aber nicht wertlos. Insbesondere Cassirers Analysen der Zahlen, wie sie sich in den symbolischen Formen Mythos, Sprache und Wissenschaft zeigen, bestätigen es vielmehr. Die mimische Auffassung der Zahlen lässt sich z.B. dadurch nachweisen, dass „der Zählakt ursprünglich an der Anschauung des Ich, Du und Er haftet und [. . . ] sich von ihr nur ganz allmählich loslöst. Die besondere Rolle, die der Dreizahl in der Sprache und im Denken aller Völker zukommt, scheint hierin ihre letzte Erklärung zu finden.“ 31 Die Unmöglichkeit der Rückführbarkeit der wissenschaftlichen Begriffe auf die sprachlichen Begriffe entwertet nicht die synthetische Kraft, die Cassirers Modell innewohnt. Vielmehr erlaubt das Schema, Rückschlüsse über die Kontinuität kultureller Entwicklung und des Zusammenspiels der symbolischen Formen zu ziehen und darüber hinaus trotz der Inkommensurabilität der geistigen Formen unter ihnen eine Einheit zu stiften. So ließe sich dann bspw. sinnvoll, wenn auch für die Praxis des Mathematikers selbst wertlos, behaupten: 27 28 29 30 31
ECW 11, S. 146. ECW 11, S. 136. ECW 11, S. 146. ECW 11, S. 184. ECW 11, S. 205.
Ausdruck, Darstellung, (reine) Bedeutung
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Auch in der Entwicklung der theoretischen Wissenschaft hat sich der Übergang von der magischen zur mathematischen Auffassung der Zahl nur ganz allmählich vollzogen. Wie die Astronomie auf die Astrologie, wie die Chemie auf die Alchimie, so geht in der Geschichte des menschlichen Denkens die Arithmetik und Algebra auf eine ältere magische Form der Zahlenlehre, auf eine Wissenschaft der Almacabala zurück. 32
Die Modi mimisch, analogisch, symbolisch sind unter dieser Perspektive nicht Stadien der kausalen Entwicklung des Zahlbegriffs, sondern Bedingungen der Möglichkeit der Repräsentation von ‚Anzahl`, wie sie sich entlang einer Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten systematisieren lassen. Da Konsistenz und Sinn dieses ersten Schemas hiermit ausreichend dargestellt sind, gehe ich im nächsten Schritt dazu über, das zweite Schema systematisch zu rechtfertigen, bevor dann in übergeordneter Perspektive das Zusammenspiel von beiden erschlossen werden kann.
3.2 Ausdruck, Darstellung, (reine) Bedeutung Cassirer hat das Konzept einer Dreigliedrigkeit der Symbolfunktion zwischen Erscheinen des zweiten und dritten Bandes seines Hauptwerks entworfen und bereits im Juni 1927 beim III. Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in Halle vorgetragen und mit Paul Hofmann, Willi Moog, Walther Schmied-Kowarzik und Alois Schardt diskutiert, woraus die Publikation Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927) entstand. Dort möchte er „ein allgemeinstes gedankliches Bezugssystem einführen, relativ zu dem wir die ‚Orientierung` jeder einzelnen symbolischen Form beschreiben und bestimmen wollen“. 33 Augenfällig ist, in welchem Kontext Cassirer diesen Gedanken einführt, nämlich gleich im Anschluss an das berühmte Linienzug-Beispiel und an seine Kritik der Husserlschen Unterscheidung von ὕλη und µορφή, entlang welcher er das Theorem der ‚symbolischen Prägnanz` entwickelt. 34 Auch diese Lehren sind in den dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen eingeflossen und wurden von Cassirer in Zur Logik des Symbolbegriffs (1938) erneut aufgenommen und im schwedischen Exil systematisch gegen die Kritik Konrad Marc-Wogaus, der in Uppsala als
32 33 34
ECW 12, S. 170. ECW 17, S. 259. Vgl. Kapitel 6.2.1.
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Zur Theorie der Repräsentation
Nachfolger von Axel Hägerström lehrte, ins Feld geführt. 35 Es ist folglich davon auszugehen, dass dieses „allgemeinste gedankliche Bezugssystem“ der Sache nach eng mit Cassirers Wahrnehmungstheorie verzahnt ist. Es ist im Theorem der symbolischen Prägnanz und anhand des LinienzugBeispiels unübertroffen präzise auf den Punkt gebracht und derart zentral, dass Cassirer auch eine Dekade später noch daran festhielt. Cassirer bedient sich zunächst der Metapher eines Koordinatensystems bei der Einführung seines Gedankens: Wie wir die Gestalt einer Raumkurve vollständig wiedergeben können, indem wir drei aufeinander senkrechte Achsen einführen und die Entfernung eines jeden Punktes der Kurve von diesen drei Hauptachsen messen – so mag es erlaubt sein, drei verschiedene Dimensionen der symbolischen Formung voneinander zu unterscheiden. 36
Es geht Cassirer im Folgenden um den Nachweis, dass sich die Symbolfunktion, die als solche wesentlich semantisch-semiotische Funktionalität aufweist, 37 in genau drei Dimensionen auffächern lässt und dadurch die Möglichkeiten symbolischer Formung in transzendentaler Hinsicht vollständig erschlossen und gerechtfertigt sind. Schon Einführung und Aufbau dieser Idee und ihr interner Zusammenhang mit den zentralen Anliegen der Symbolphilosophie sprechen gegen die Möglichkeit einer Vernachlässigung dieses Theoriestücks. Vielmehr wird durch diese Differenzierung klar, was Cassirer mit einer „Grammatik der symbolischen Funktion“ 38 meint, durch die er den philosophischen Idealismus als methodischen Idealismus auf eine ganz neue Grundlage gestellt sieht: Die Idee einer derartigen Grammatik schließt eine Erweiterung des traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus in sich. Dieser Lehrbegriff war von jeher darauf gerichtet, dem „mundus sensibilis“ einen anderen Kosmos, den „mundus intelligibilis“, gegenüberzustellen und die Grenzen beider Welten sicher zu scheiden. [. . . ] Für jene „allgemeine Charakteristik“ aber, deren Problem und Aufgabe sich jetzt im allgemeinsten Umriß vor uns hingestellt hat, ist dieser Gegensatz kein unvermittelter und ausschließender mehr. Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern 35 36 37 38
Vgl. ECW 22, S. 112–139. ECW 17, S. 259 f. Vgl. hierzu Kapitel 4.2. ECW 11, S. 17.
Ausdruck, Darstellung, (reine) Bedeutung
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sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag. 39
Die Dreigliedrigkeit der Symbolfunktion ist folglich nicht nur in Bezug auf die Semantik der Ausdrucksgestalten notwendig, sondern Fundament einer rein funktionalen Theorie der Repräsentation, welche sich zur Aufgabe macht, die althergebrachten Probleme der Metaphysik durch die wechselseitige Integration von Geist und Welt zu überwinden. (1) Die primären symbolischen Beziehungen sind im Urphänomen des Ausdrucks gegeben. Die primordiale Schicht der Wahrnehmung, die Ausdruckswahrnehmung, etabliert eine Relation zwischen Bewusstsein und Welt, die Cassirer als unmittelbare und doch objektive Zeichenhaftigkeit des Seins bezeichnet. Geist und Welt sind symbolisch aufeinander bezogen, was impliziert, dass beide in einem Verhältnis der Repräsentation zueinander stehen. Dieses ist jedoch nicht im Sinne einer Abbildoder Stellvertreterrelation zu verstehen, sondern als aktive symbolische Formung eines direkten Weltbezugs. Die primitivste Form eines geistigen Gehalts tritt dort ins Bewusstsein, „wo irgendein sinnliches Erlebnis sich für uns dadurch mit einem bestimmten Sinngehalt erfüllt, daß an ihm ein charakteristischer Ausdruckswert haftet, mit dem es gleichsam gesättigt erscheint“. 40 Der Ausdruckswert ist nun gerade kein rein subjektives Erleben, sondern zugleich objektiv in dem Sinne, dass er eine direkte ‚Äußerung` der Welt ist. Das Wahrnehmungserlebnis inkorporiert einen geistigen Gehalt, der eine gefühlsmäßige Beziehung zur Welt im Bewusstsein repräsentiert. „Denn der sinnliche Inhalt steht jetzt [. . . ] nicht mehr gleich einem stummen Bild auf einer Tafel vor uns, sondern unmittelbar in seinem objektiven Dasein [. . . ] gibt er uns Kunde von einem inneren Leben, das durch ihn hindurchscheint.“ 41 Die meisten weiteren Formen des Sinns, die Menschen sprachlich, wissenschaftlich usf. repräsentieren können, sind der Welt in dieser direkten Art und Weise jedoch nicht zu entnehmen. Der natürlichsprachliche Satz „2017 hat Tokio mehr als 9 Millionen Einwohner“ ist nichts, was sich dem Menschen derart ‚offenbart` wie das Gefühl der Wärme durch einen kräftigen Rot-Gelb-Eindruck beim Sehen, das Gefühl des Unbeständigen beim Betrachten der Brandung oder das Gefühl der Verunsicherung beim auditiven Verneh39 40 41
Ebd. Ebd. Ebd.
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men eines überfliegenden Helikopters. Gleichwohl ist dieses Ur-Ereignis sinnhafter Offenbarung Bedingung der Möglichkeit aller anderen Formen der Repräsentation und seine Inhalte in jedem Bewusstsein – auch dem wissenschaftlichen – lebendig. Die Symbolfunktion des Ausdrucks ist deshalb diejenige Orientierung des Bewusstseins zur Welt, welche diese kognitiv penetrabel erscheinen lässt und welche essentiell an die αἴσθησις gebunden ist. Ausdruck ist deshalb die dominante Symbolfunktion für die symbolischen Formen des Mythos, der Kunst und zu weiten Teilen auch noch der Sprache: „Diese Transparenz des Sinnlichen ist es, die jeder ästhetischen Anschauung als solcher innewohnt; aber sie ist keineswegs auf das Gebiet des Ästhetischen beschränkt, sondern sie gibt sich nicht minder in jedem Laut der Sprache, in allen Elementargestalten des Mythos zu erkennen.“ 42 (2) Im letzten Kapitel wurde bereits gezeigt, wie die Sprache im Ausgang von den Ausdrucksbewegungen die Phasen mimisch, analogisch, symbolisch durchschreitet und als wesentliches Merkmal das Bedeuten durch eine nach syntaktischen und grammatischen Regeln geformte Laut- und Schriftsprache hervorbringt. Sofern der Satz „2017 hat Tokio mehr als 9 Millionen Einwohner“ Bedeutung hat, 43 sofern also das Prädikat „hat 2017 mehr als 9 Millionen Einwohner“ durch ein reales Subjekt „Tokio“, das tatsächlich mehr als 9 Millionen Einwohner hat, gesättigt ist, repräsentiert dieser Satz eine Tatsache. Als solche stellt sie eine Relation zwischen einem geographisch definierten Ort und der Anzahl der dort lebenden Menschen dar. Cassirer nennt die durch die Sprache sich etablierenden symbolischen Beziehungen deshalb Darstellung. Repräsentieren in dieser Hinsicht ist durch das Auseinandertreten eines sinnlichen Zeichens und seiner Bedeutung gekennzeichnet. Während man Gebärden und Lautmalerei ihren Sinn noch unmittelbar entnehmen kann, ist der Sinn des Beispielsatzes nur durch Kenntnis der deutschen Sprache sowie grundlegende geographische Kenntnisse verständlich. Ist der Satz darüber hinaus wahr, hat er – erneut mit Frege gesprochen – Sinn und Bedeutung, wodurch Objektivität in einem anderen Sinne als zuvor formiert wird. Eine Tatsache ist intersubjektiv überprüfbar und nicht mehr wie im Ausdruck unbedingt an die Intersubjektivität des Fremdpsychischen gebunden. 44 Sie ist als Gedanke in ein Medium übersetzt, das – anders als Ebd. Ich verstehe ‚bedeuten` hier im Fregeschen Sinne so, dass damit die Anerkennung der Wahrheit dieses Satzes einhergeht. Er bedeutet also im Sinne dieser Terminologie das Wahre. 44 Vgl. hierzu Kapitel 2.3 zur Objektivität der Ausdrucksfunktion. 42 43
Ausdruck, Darstellung, (reine) Bedeutung
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z.B. in der Kunst – grundsätzlich auf Einfühlung verzichten kann. Für die Literatur und alltagssprachliche Kommunikation, in der die Tönung und Färbung des Sinns 45 eine tragende Rolle spielt, gilt dies natürlich nicht uneingeschränkt. Hinsichtlich der Schematisierung der Symbolfunktion ist der springende Punkt aber der, dass in der Sprache die Darstellungsfunktion dominant ist. Cassirer folgert in Bezug auf diese neue Form der Objektivierung: „Das ‚Ist` der Kopula ist die reinste und prägnanteste Ausprägung für diese neue Dimension der Sprache, die man – mit einem Terminus, den Bühler im Anschluß an Husserl eingeführt hat – als ihre Darstellungsfunktion bezeichnen kann.“ 46 (3) Ebenfalls im letzten Kapitel wurde bereits auf die Grenze des sprachlichen Ausdrucks hingewiesen. Die wissenschaftlichen Begriffe sind, wie Cassirer sagt, „nicht lediglich die Weiterführung der [sprachlichen, T.E.]“, 47 denn die „Allgemeinheit der sprachlichen ‚Begriffe` steht mit der Allgemeinheit der wissenschaftlichen, speziell der naturwissenschaftlichen ‚Gesetze` nicht auf derselben Linie“. 48 Im Unterschied zum Bedeuten der Darstellungsfunktion spricht Cassirer nun in Bezug auf eine dritte Dimension der Symbolfunktion von Repräsentationen in Form reiner Bedeutung und führt als Beispiel die moderne Geometrie an, „wie sie durch Pasch eingeleitet und durch Hilbert im wesentlichen vollendet worden ist“. 49 Punkte, Geraden und Ebenen sind hier vom Anschaulichen völlig losgelöst und lediglich Zeichen in Relation zu den Axiomen der Geometrie. Repräsentation liegt hier genau in dem Sinne vor, dass abstrakte Sinngehalte zueinander in Relation stehen, die keiner anschaulichen Bestimmung mehr bedürfen: „Das Zeichen im Sinne des reinen Bedeutungszeichens drückt nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloß abstrakten Zuordnung.“ 50 Das in den Zeichen und Symbolen der Wissenschaft Repräsentierte hat sich von der Sinngestaltung an Wahrnehmbarem und Anschaulichem prinzipiell vollständig gelöst, es schwebt „sozusagen im freien Äther Selbst Frege erkennt diese Phänomene an und spricht von Färbungen, Beleuchtungen, Stimmung und Luft des Sinns. Vgl. Frege, Gottlob: „Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (100,1), 1892, S. 31 und ders.: „Der Gedanke. Eine logische Untersuchung“, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus (2), 1918, S. 63. Vgl. zur ‚Hermeneutik` Freges Hogrebe, Wolfram: Echo des Nichtwissens, Berlin: Akademie Verlag 2006, S. 67–84. 46 ECW 17, S. 261. 47 ECW 13, S. 62. 48 Ebd. 49 ECW 17, S. 261. 50 Ebd. 45
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des reinen Gedankens“. 51 Raum-Zeit-Krümmungen bspw. können zwar in einer Computersimulation anschaulich gemacht werden (was auch wieder einen wahrnehmenden Betrachter voraussetzt), jedoch sind die Bedingungen der Möglichkeit der zugrunde liegenden Theorie nicht in den Funktionen der Wahrnehmung und Anschauung ohne weiteres aufzuweisen und als solche für die Theoriebildung selbst nicht direkte Voraussetzung. Sichtbar wird ein Zusammenhang ausschließlich durch eine transzendentale Reflexion, wie Cassirer sie anhand der Dreigliedrigkeit der Symbolfunktion nachgewiesen hat: Von der Sphäre der sinnlichen Empfindung zu der der Anschauung, von der Anschauung zum begrifflichen Denken und von diesem wieder zum logischen Urteil führt für die erkenntniskritische Betrachtung ein stetiger Weg. Die Erkenntniskritik ist sich, indem sie diesen Weg durchmißt, bewußt, daß die einzelnen Phasen desselben, so scharf sie in der Reflexion voneinander geschieden werden müssen, doch niemals als voneinander unabhängige, losgelöst existierende Gegebenheiten des Bewußtseins anzusehen sind. Vielmehr schließt hier nicht nur jedes komplexere Moment das einfachere, nicht nur jedes „spätere“ Moment das „frühere“ ein – sondern umgekehrt ist auch jenes in diesem vorbereitet und angelegt. Alle Bestandteile, die den Begriff der Erkenntnis konstituieren, sind wechselseitig aufeinander und auf das gemeinsame Ziel der Erkenntnis, auf den „Gegenstand“ bezogen: Die genauere Analyse vermag daher in jedem einzelnen von ihnen schon den Hinweis auf alle übrigen zu entdecken. Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung „verbindet“ sich hier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, des Urteilens und Schließens, sondern sie ist selbst schon eine solche Grundfunktion – sie enthält implizit, was dort in bewußter Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt. 52
Eine philosophische Theorie der Wahrnehmung kommt gerade deshalb nicht ohne eine differenzierte Theorie der Repräsentation aus, weil Wahrnehmung intrinsisch auf Erkenntnis bezogen ist. Dies hat nichts mit Szientismus, der dem Neukantianismus fälschlicherweise bis heute vorgeworfen wird, zu tun. Die Wahrnehmung selbst ist eine erste Form der Objektivität, die in den symbolischen Formen wesentlich drei verschiedene Wege der Objektivierung einschlägt.
51 52
Ebd. ECW 11, S. 280.
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3.3 Die Verflochtenheit der Schemata Im Folgenden geht es um den Nachweis, dass es sich bei dem Schema (I) Ausdruck, Darstellung, (reine) Bedeutung nicht um eine Neufassung bzw. Ablösung des Schemas (II) mimisch, analogisch, (rein) symbolisch handelt, sondern dass Cassirers Theorie der Repräsentation vollständig nur durch den Nachweis der Verflochtenheit beider Schemata explizierbar ist. Auffällig ist bereits, dass Cassirer im Rahmen von (I) von Dimensionen spricht, wogegen es bei (II) um Phasen resp. Stufen geht. 53 Nachdem wir Cassirer zufolge nun mit (I) einen „Plan der ideellen Orientierung, innerhalb dessen wir nun gewissermaßen die Stelle jeder symbolischen Form bezeichnen können“, 54 besitzen, müssen wir diesen auch auf (II) beziehen, denn für die symbolischen Formen ist es „bezeichnend, daß sie in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung, in den verschiedenen Stadien ihres geistigen Aufbaues, sich zu den drei Grundpolen, die wir hier auszuzeichnen versuchten, verschieden verhält“. 55 Cassirer impliziert an dieser Stelle ganz eindeutig eine wechselseitige Durchdringung der Dimensionen des Symbolischen mit den Phasen ihrer stufenmäßigen Entwicklung. Wie wäre diese Verschränkung nun anschaulich vorzustellen? In formaler Hinsicht ist bereits ein Blick auf Struktur und Aufbau der drei Bände der Symbolphilosophie hilfreich. Ausgehend von der Leitthese, dass die eigentliche Grundlegung der Kulturphilosophie erst mit dem dritten Band und der dort ausgearbeiteten Theorie der Wahrnehmung gewonnen ist, lohnt es sich, den Blick als Erstes auf dessen Inhaltsverzeichnis zu richten: Dort zeigt sich unzweideutig eine Strukturierung anhand der drei Dimensionen der Symbolfunktion. (1) Der erste Teil ist überschrieben mit ‚Ausdrucksfunktion und Ausdruckswelt` und behandelt im Wesentlichen die Theorie des Ausdrucks und der Ausdruckswahrnehmung unter Rückgriff auf Resultate des Mythos-Bandes. (2) Der zweite Teil ist überschrieben mit ‚Das Problem der Repräsentation und der Aufbau der anschaulichen Welt` und weist als zentrales Lehrstück nach, dass Sprache Dies hatte bereits Orth bemerkt, worauf auch Cornelia Richter hinweist. Letztere vertrat zunächst eine Version der Kongruenz-These, relativiert diese jedoch unter Verweis auf eine „rückläufige [. . . ], aber nicht verschwindende[. . . ] Bedeutung“ von Schema (II). Gegen eine Rückläufigkeit spräche in chronologischer Hinsicht aber auch, dass Cassirer noch 1930 in Form und Technik erneut Schema (II) ins Spiel bringt. Vgl. Orth: Von der Erkenntnistheorie, S. 121 und Richter, Cornelia: Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, S. 180 und ebd. Anmerkung 158 sowie ECW 17, S. 169 f. 54 ECW 17, S. 262. 55 Ebd. 53
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und Wahrnehmung sich im Sinne der Darstellungsfunktion aneinander formen. Die Analyse der Grundkategorien aller symbolischen Formen Raum, Zeit und Zahl werden anhand der Ergebnisse aus Band eins zwar ebenso wie die Inhalte aus Band zwei für die Ausdrucksfunktion erneut aufgegriffen, vor allem aber kommen nun neue Inhalte wie das Theorem der symbolischen Prägnanz und ein Abgleich der Theorie mit der Empirie anhand der ‚Pathologien des Symbolbewusstseins` hinzu. (3) Der dritte Teil ist überschrieben mit ‚Die Bedeutungsfunktion und der Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis` und thematisiert erstmals nach bereits über 300 Seiten das, was der Leser als den eigentlichen Inhalt der Phänomenologie der Erkenntnis erwartet, nämlich Begriffstheorie und Aufbau des wissenschaftlichen Weltbildes. Band drei der Philosophie der symbolischen Formen enthält also nicht ausschließlich die Analyse der symbolischen Form Wissenschaft, sondern reintegriert Band eins und zwei entlang des neu gewonnenen Schemas (I), das die Dimensionen des Symbolischen aufspannt. Die Stufenfolgen des Schemas (II) aus dem ersten Band müssen folglich als entwicklungslogische Matrix innerhalb dieses Modells der Wahrnehmung und der Repräsentation ihre Gültigkeit erweisen. (1) Cassirer ordnet der Ausdrucksfunktion primär die symbolische Form des Mythos zu. Vergegenwärtigen wir uns die Inhalte der ‚Phänomenologie des Mythos`, stellt sich sofort die Frage, inwiefern sich Sprache und Mythos – selbst unter idealtypischem Vorzeichen – separieren lassen, denn Cassirer analysiert den Mythos (in dieser Reihenfolge) hinsichtlich Denkform, Anschauungsform und Lebensform. Diese Analyse stützt sich wesentlich auf den Grundgegensatz heilig – profan sowie die Grundkategorien Raum, Zeit und Zahl, welche die Zeichenbildung durch Wort und Schrift voraussetzen. Auch die Handlungsebene, die Cassirer anhand der Praktiken Ritus, Kult und Opfer untersucht, setzt den Umgang mit diesen Zeichen voraus. Das Weltbild des Mythos ist trotz allem essentiell mimisch: Worthafte Ausdrucksgestalten wie Mana, Tabu, Manitu, Waka usf. sind Bilder, die einer magischen Vorstellungswelt angehören, welche keinerlei Trennung zwischen Sein und Schein, Wachsein und Traum oder irgendeine Form der Trennung von Zeichen und Bezeichnetem kennen: „Sie haben noch keine selbständige Bedeutungs- und Darstellungsfunktion, sondern sie gleichen einfachen Erregungslauten des mythischen Affekts.“ 56 Gleiches gilt für die Schriftzeichen, die ebenfalls als bildliche Zeichen ihren Anfang nehmen. Überall hier tritt ein Zeichen „für den 56
ECW 12, S. 93.
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Gegenstand selbst ein; es ersetzt ihn und steht für ihn“. 57 Mythisches Handeln ist ebenso mimisch im Sinne des Bildes und keineswegs darstellend: „Der Tänzer, der in der Maske des Gottes oder Dämons erscheint, ahmt in ihr nicht nur den Gott oder Dämon nach, sondern er nimmt seine Natur an, er wandelt sich in ihn und verschmilzt mit ihm.“ 58 Alle diese Ausdrucksgestalten dienen „der magischen Besitznahme oder der magischen Abwehr: Das Zeichen, das dem Gegenstand aufgedrückt wird, zieht ihn in den Kreis des eigenen Wirkens hinein und hält fremde Einwirkungen von ihm fern.“ 59 Dieses Ziel wird desto besser erreicht, je mehr ein Zeichen seinem Gegenstand gleicht. Die analogische Phase beginnt mit dem Aufkommen der Religionen. Diese verändern den Mythos, indem in Kult und Ritus die Differenz zwischen einem Bild und seiner Bedeutung hervortritt: Die Anbetung eines Gottes verdeutlicht eine Defizienz zwischen höherer Macht und menschlichem Dasein. Die Religion bereitet so den für das theoretische Denken prägnanten Schnitt zwischen Mythos und Logos vor, denn indem „sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ‚hinweisen`, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen“. 60 Die symbolische Phase des Mythos vollzieht sich ebenfalls in der Religion, denn besagter Riss zwischen Mensch und höherer Macht, der aus der Perspektive der Symbolphilosophie das Auseinandertreten von Zeichen und Bedeutung markiert, forciert die Aufgabe einer Kritik der Bilderwelt des Mythos. „Jede Religion sieht sich in ihrer Entwicklung an einen Punkt geführt, an welchem sie diese ‚Krisis` bestehen, an dem sie sich von ihrem mythischen Grund und Boden lösen muß.“ 61 Geschichtlich vollzieht sich diese Krisis der Religionen in ihrer Loslösung vom Mythos unterschiedlich. Die monotheistischen Religionen verdeutlichen insbesondere, dass der Religion jedoch die Mittel fehlen, diese Kritik adäquat durchzuführen, denn ihr stehen (noch) nicht die Instrumente des theoretischen Denkens zur Verfügung. Weil die Inhalte des Mythos so eng an alles Materielle geknüpft sind, erfährt das weltliche Dasein durch die Kritik der Religion am Mythos eine Abwertung: „Die Idealität des Religiösen 57 58 59 60 61
ECW 12, S. 278. ECW 12, S. 279. ECW 12, S. 278. ECW 12, S. 280. Ebd.
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setzt daher nicht nur das Ganze der mythischen Gestaltungen und Kräfte zu einem Sein niederer Ordnung herab, sondern sie richtet diese Form der Negation auch gegen die Elemente des sinnlich-natürlichen Daseins selbst.“ 62 Ähnlich wie die Sprache über sich hinausweist, die wissenschaftliche Allgemeinheit aber nicht realisieren kann, kommt der Mythos in der Religion zu sich und erzeugt aufgrund der Selbsteinsicht in die Defizienz seiner Mittel eine Krise, die nach einer neuen Form der Objektivierung verlangt. (2) Für die Sprache wurde der Weg vom Mimischen über das Analogische hin zum Symbolischen bereits im vorletzten Kapitel nachgewiesen. Schrift- und Lautsprache müssen der Darstellungsfunktion im Durchgang durch diese Phasen Bahn brechen. Dies zeigt sowohl die Analyse des Mythos als auch der Übergang vom Ausdruck in der Gebärdensprache zur Darstellung in voll entwickelten natürlichen Sprachen. Eine wechselseitige Durchdringung zeigt sich hier nicht nur im Verhältnis der Dimensionen des Symbolischen und den Stufen seiner Entwicklung, sondern auch in der Überlagerung der symbolischen Formen selbst: „Der Zusammenhang mit dem primären Ausdruckserlebnis reißt in der Sprache, wie weit sie auch in der Richtung auf die ‚Darstellung` und auf die reine logische ‚Bedeutung` fortschreiten mag, nirgends ab. Auch in ihre höchsten intellektuellen Leistungen verweben sich noch ganz bestimmte ‚Ausdruckscharaktere`.“ 63 (3) Zwei Grundeinwände Birgit Reckis gegen die Verwobenheit der Schemata (I) und (II) waren, dass das mythische Bewusstsein nicht zum symbolischen Ausdruck gelangt und dass die Wissenschaften keine mimische Phase durchlaufen. Ersteres wurde bereits widerlegt, indem gezeigt wurde, dass das Erreichen der symbolischen Phase nicht gleichbedeutend mit dem Erreichen wissenschaftlichen Denkens, geschweige denn mit der Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe ist. Letzteres kommt, wie bereits gezeigt, der Sprache nicht zu. Symbolische Phase bedeutet, dass das Bewusstsein in eine Krise geraten ist, die es mit den erreichten Ausdrucksmitteln nicht bewältigen kann. Die rein symbolische Phase ist dort ‚erreicht`, wo die Wissenschaft sich ihrer eigenen Grundlagen bewusst geworden ist. Für Cassirer geschieht dies wesentlich im Ausgang von Kant im Übergang vom Substanz- zum Funktionsdenken. Es bliebe also noch zu klären, wie eine mimische Phase des wissenschaftlichen Denkens ausse62 63
Ebd. ECW 13, S. 122.
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hen könnte. Diese Frage ist durchaus berechtigt, da die wissenschaftliche Begriffsbildung die Sprache voraussetzt und im Gegensatz zur Religion bereits ein Bruch mit den Inhalten des Mythos vollzogen sein muss. Mythos und Wissenschaft stehen essentiell in einem konfligierenden Verhältnis – in dem des logischen und praktischen Widerspruchs. 64 Cassirer drückt sich bezüglich dieser Frage aber ebenso unzweideutig aus wie zuvor: Auch für die Welt der reinen Bedeutung gilt, dass sie „als solche nicht mit einem Schlage ‚da ist`, sondern daß sie sich in einer Stufenfolge von Ansätzen erst konstituiert – daß sie eine Reihe verschiedener Sinnphasen durchläuft, ehe sie ihre eigentliche, ihre adäquate Bestimmung erreicht“. 65 Und auch den ausgemachten Widerspruch zwischen mimischem Verstehen, das Paradigma des Mythos ist, und wissenschaftlichem Denken, das rein symbolisch zu repräsentieren strebt, thematisiert Cassirer: Die folgende Phase bedeutet der früheren gegenüber nicht etwas schlechthin Fremdartiges, sondern sie ist nur die Erfüllung dessen, was in dieser bereits angedeutet und angelegt war. Auf der anderen Seite schließt indes dieses Ineinandergreifen der einzelnen Phasen ihr klares und scharfes Gegeneinander nicht aus. Denn jede neue Phase stellt eine eigentümliche und prägnante Forderung, stellt eine neue Norm und eine neue „Idee“ des Geistigen selbst auf. 66
Es wurde bereits gezeigt, dass die Phasen mimisch, analogisch, symbolisch einen Vektor darstellen, der ohne die Annahme einer essentialistischen Teleologie der Erkenntnis eine Heranbildung vom Sinnlichen zum Unanschaulichen anzeigt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung nicht geradlinig verläuft, vor Rückfällen nicht gefeit ist und in verschiedenen symbolischen Formen unterschiedlich weit ausgeprägt sein kann. Cassirer spricht nun nicht nur von Krisen der geistigen Entwicklung, sondern davon, dass in diesem Fortgang sich „ständig die geistigen Bedeutungsakzente“ 67 verschieben und wir die Richtung dieser VerschieDass es sich hierbei nicht ausschließlich um einen logischen Widerspruch handeln kann, hat treffend Guido Kreis demonstriert: „Zu einer Antinomie kann es nur dann kommen, wenn die Maßstäbe der symbolischen Form Wissenschaft an die symbolische Form Mythos angelegt werden. Antinomisch gegen die Wissenschaft verhält sich der Mythos nur für die Wissenschaft. [. . . ] Der Widerspruch, der zwischen einigen, der symbolischen Formen besteht, kann daher nicht ausschließlich ein logischer Widerspruch zwischen Urteilen sein. Er muß vielmehr als praktischer Widerspruch zwischen Handlungen verstanden werden.“ (Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 330.) 65 ECW 13, S. 369. 66 ECW 13, S. 519. 67 Ebd. 64
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Zur Theorie der Repräsentation
bung „im Prozeß der symbolischen Gestaltung in einer kurzen Formel bezeichnen [können], indem wir innerhalb derselben drei Stadien und gleichsam drei Dimensionen unterscheiden“. 68 Um die Geltung des Schemas (II) für die Wissenschaft nachzuweisen, überträgt Cassirer die Genese der sprachlichen Begriffe auf die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Begriffe, „was freilich nur mit einem gewissen methodischen Vorbehalt möglich ist“. 69 So lässt sich anhand der Begriffsbildung zeigen, dass „auch hier eine gleichsam ‚mimische` Phase am Anfang steht, daß sodann der Durchgang durch eine ‚analogische` Phase erfolgt, bis erst zuletzt die endgültige, die eigentlich symbolische Form der Begriffsbildung erreicht wird“. 70 Die mimische Phase der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung verortet Cassirer nun bei Aristoteles, in dessen Physik „sinnliche Erfahrungen, die aus der unmittelbaren Beobachtung aufgegriffen werden, logische Bestimmungen und teleologische Prinzipien und Normen noch eine relativ ungeschiedene Einheit bilden“. 71 Der Übergang zur analogischen Begriffsbildung entsteht mit Beginn der Philosophie der Neuzeit im Werk Descartes': Das neue Wahrheitskriterium, auf dem die Philosophie Descartes' sich aufbaut, zerstört die Herrschaft des Weltbildes der „substantiellen Formen“. Auf Wahrheit, auf echten Erkenntniswert hat nur Anspruch, was sich „klar und distinkt“ einsehen läßt – klare und distinkte Einsicht aber läßt sich vom Sinnlichen als solchem niemals gewinnen. So darf in die Bildung der echten Naturbegriffe der sinnliche Inhalt als solcher nicht länger eingehen. Er muß bis auf den letzten Rest getilgt und durch rein mathematische, durch Zahl- und Größenbestimmungen ersetzt werden. 72
Die hier einsetzende Mathematisierung der Erkenntnis und Etablierung des mechanizistischen Bildes der Natur führt zur Analogisierung von Erkenntnisinhalt und Anschauung, in der alle Wahrnehmungsinhalte durch Anschauungsinhalte schematisiert sind. Den ersten Schritt ins Reich der reinen Relationen, also hin zum rein Symbolischen und zur Etablierung der reinen Bedeutungsfunktion, unternimmt dann bereits Leibniz in seiner Kritik an Descartes' Physik:
68 69 70 71 72
Ebd; Hervorhebungen von mir. ECW 13, S. 525. Ebd. ECW 13, S. 526 f. ECW 13, S. 527.
Die Verflochtenheit der Schemata
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Von diesem neu gewonnenen Standpunkt aus vollzieht Leibniz an den Grundlagen des Cartesischen Natursystems eine nicht minder scharfe Kritik, als sie Descartes selbst an der Physik des Aristoteles vollzogen hatte. Wie dieser der Aristotelischen Naturerklärung vorgehalten hatte, daß sie die Schranken der sinnlichen Empfindung nicht als solche erkannt und sie nicht grundsätzlich überschritten habe, so hält Leibniz der Cartesischen Definition der Substanz entgegen, daß sie sich rein innerhalb der Grenzen des anschaulich Darstellbaren halte und daß sie damit die „Einbildungskraft“, die „Imagination“ zur Richterin über den Verstand mache. Eine wahrhafte Theorie der Natur aber könne erst erlangt werden, wenn wir gelernt haben, von beiden Schranken: den sinnlichen sowohl wie den anschaulichen, abzusehen. Von der Mechanik müssen wir zur Dynamik, von der bloßen „Anschauung“ zum Begriff der Kraft fortschreiten, welch letzterer sich nicht nur jeder Versinnlichung, sondern auch jeder unmittelbaren Veranschaulichung entzieht. 73
Im realen Verlauf der Wissenschaften über Newton und Kant bis zur Gegenwart sieht Cassirer jedoch Leibniz' philosophische Forderung durch den Begriff der Kraft zunächst wirkungslos. Der eigentliche Schritt wird erst mit Aufkommen von Relativitätstheorie und Quantenmechanik realisiert. „Denn jetzt war der wichtigste prinzipielle Schritt: der Übergang von der Physik der Materie zur reinen ‚Feldphysik` getan. Die Realität, die wir mit dem Namen des ‚Feldes` bezeichnen, läßt sich nicht mehr als ein Komplex von physischen Dingen denken, sondern sie ist der Ausdruck für einen Inbegriff physikalischer Relationen.“ 74 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Cassirer insbesondere für die symbolische Form der Wissenschaft nicht nur die Gültigkeit und Notwendigkeit beider Schemata nachweist, sondern den Gang der Dialektik der geistigen Ausdrucksmittel am Gang der Wissenschaften, wie sie sich realiter auf die Welt beziehen, aufzeigt. Und damit komme ich auf die bereits gestellte Frage zurück, inwiefern von einer Dialektik der Phasen des geistigen Fortschritts zu sprechen ist. Mit Erreichen der symbolischen Phase innerhalb der Dimension der reinen Bedeutung hat sich nämlich nicht nur die Konsistenz des angelegten Schemas abstrakt gezeigt, sondern „[d]amit hat innerhalb der Physik ein eigentümlicher dialektischer Prozeß seinen Abschluß gefunden“. 75 Cassirers Modell grundsätzlich aller möglichen Modi der Repräsentation mag abstrakt entworfen und prima 73 74 75
ECW 13, S. 529 f. ECW 13, S. 540. ECW 13, S. 542.
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Zur Theorie der Repräsentation
facie voreilig als dialektisch in seinem idealtypischen Fortgang bezeichnet sein, jedoch war Cassirer stets klar, dass es „einstweilen noch der Bewährung und der konkreten Erfüllung harrt“ und es zunächst nicht mehr als ein „Reflex [des geschichtlichen Ganges der Naturerkenntnis, T.E.] in den philosophischen Systemen“ 76 ist. Die materielle Seite dieser Dialektik zeigt sich – und dies war der clue im methodologischen Vorgehen der rekonstruktiven Analyse – in den Resultaten der Wissenschaften: Die Physik hat damit den Bereich der „Darstellung“, ja der Darstellbarkeit überhaupt endgültig verlassen, um in ein abstrakteres Reich einzutreten. Der Schematismus der Bilder ist dem Symbolismus der Prinzipien gewichen. [. . . ] Die Welt selbst stellt sich nicht mehr als ein Beisammen von Dingeinheiten, sondern als eine Ordnung von „Ereignissen“ dar. 77
3.4 Konsequenzen für ein offenes System symbolischer Formen Aus dem Vorherigen drängt sich die Frage auf, wie sich der Anspruch der Vollständigkeit dieses Modells der Wahrnehmung und Repräsentation zum Anspruch eines offenen und erweiterbaren Systems der symbolischen Formen verhält. Wie sich zeigte, geht dieses Modell von Überlagerungen und wechselseitiger Durchdringung der Symbolfunktionen und weiterhin von deren Entwicklungsphasen aus. Kennzeichnend für eine konkrete symbolische Form war der Aufweis der Dominanz einer ihr entsprechenden Symbolfunktion. Können wir hiervon ausgehend zeigen, dass auch mehrere der drei Symbolfunktionen in einer symbolischen Form gleich dominant sind, oder wäre für jede weitere symbolische Form, wie bswp. die Kunst, zu zeigen, dass genau eine dieser Funktionen in ihr dominant ist? Cassirer hat diese Frage für die symbolische Form der Kunst auf oben erwähntem Ästhetik-Kongress, als er die Dreiteilung der Symbolform erstmals öffentlich vorstellte, eigens zum Thema gemacht. Die künstlerische Praxis ist wesentlich darstellend und bleibt den Funktionen der Wahrnehmung und Anschauung grundlegend verbunden. Die Ästhetik des Suprematismus Kasimir Malewitschs bspw. speist sich wesentlich aus der Farbwahrnehmung und den Grundgegebenheiten der Anschauung. Selbst das Schwarze Quadrat (1915), das die reine Intentionalität durch Gegenstandslosigkeit zu versinnbildlichen sucht, überschreitet das Wahrnehmbare nicht. Eine moderne Installation wie The weather project 76 77
Beide Stellen ECW 13, S. 525. ECW 13, S. 542.
Konsequenzen für ein offenes System symbolischer Formen
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(2003) von Olafur Eliasson erfüllt das darstellende Moment nicht in dem Sinne wie bspw. das berühmte Selbstbild vor wirbelförmig bewegtem Hintergrund (1889) von Vincent van Gogh, ist aber eben kein Experiment des Begriffs, sondern eines der Raumwahrnehmung. „Wie weit und wie hoch die ästhetische Darstellung auch über die sinnliche Gegebenheit der Erscheinungen hinausgreift, wie sehr sie ins Ideelle [. . . ] streben mag: Sie ist und bleibt dem anschaulichen Sein verhaftet und muß sich an ihm mit klammernden Organen festhalten.“ 78 Dies gilt selbst noch für ein Werk wie Silence Score (1997) von Pierre Huyghe, das in Anlehnung an John Cages 4'33 (1952) wohl einen leeren Ausstellungsraum präsentieren sollte, diesen Gedanken aber nur durch Anbringung der Partitur Cages auf einer ansonsten weißen Wand zur Darstellung bringen kann. Hiermit ist der Übergang von der künstlerischen Praxis zur ästhetischen Theorie gewonnen, für die es schwieriger erscheint, „die Beziehungen festzustellen, die innerhalb der ästhetischen Auffassung und Gestaltung zwischen der Welt des reinen Ausdrucks und der Welt der reinen Darstellung bestehen“. 79 Cassirer zufolge schwankt die ästhetische Theorie zwischen diesen beiden Polen, in dem immer wieder versucht wird, die ästhetische Erfahrung entweder ausschließlich im Ausdruck oder in der Darstellung zu verankern: Nicht selten ist versucht worden, das Ästhetische ausschließlich oder doch vornehmlich auf den einen dieser beiden Pole zu beziehen und in ihm zu verankern. Es gibt ästhetische Systeme, die die Kunst so ganz im Emotionalen festzuhalten suchen, die sie so völlig in reinen Ausdruckserlebnissen aufgehen lassen, daß darüber das Charakteristische des ästhetischen Gegenstandes fast verloren geht – wie es andere gibt, die das Ästhetische, im strengen und eigentlichen Sinne, von der Verwurzelung im subjektiven „Gefühl“ ganz loszulösen versuchen, so daß es für sie zu nichts anderem als zu einer bestimmten Grundform der gegenständlichen Erfassung und der gegenständlichen Erkenntnis wird, die als solche auf derselben Stufe wie die theoretische Naturerkenntnis steht. 80
Die Frage, ob im Ästhetischen die Ausdrucks- oder die Darstellungsfunktion die dominante und bestimmende Symbolfunktion ist, führt Cassirer zufolge anstelle der Erkenntnis des Ästhetischen zur Zerstörung dieser Form. Dem entgegen bestimmt er das Formmotiv dieser Ausdrucksgestalt als „Aufgehen des einen im andern“, denn „das ideale Gleichgewicht, das 78 79 80
ECW 17, S. 267. Ebd. Ebd.
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Abb. 1: Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1915.
Abb. 2: Olafur Eliasson, The weather project, 2003.
127
Abb. 3: Vincent van Gogh, Selbstbild vor wirbelförmig bewegtem Hintergrund, 1889.
Abb. 4: Pierre Huyghe, Silence Score, 1997.
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Zur Theorie der Repräsentation
sich zwischen ihnen darstellt, konstituiert das ästhetische Verhalten, wie es den ästhetischen Gegenstand konstituiert“. 81 Ob man hieraus ableiten kann, dass Kunst genau dort besonders gelungen ist, wo ein Gleichgewicht zwischen subjektivem und objektivem Pol, also gewissermaßen zwischen Form und Stoff, geschaffen wurde, sei dahingestellt. 82 Für das Modell der Repräsentation ergibt sich aus dem Gesagten, dass symbolische Formen keineswegs die Dominanz nur einer Symbolfunktion voraussetzen. Als Interpretation im Anschluss hieran und im Ausgang von der Frage, warum Cassirer eigentlich in seinem Hauptwerk gerade Mythos, Sprache und Wissenschaft als symbolische Formen analysiert und diesen somit eine gewisse Dignität zuspricht, schlage ich vor, dies dahingehend zu beantworten, dass gerade in diesen drei Formen die klare Dominanz nur einer Symbolfunktion vorliegt, während andere symbolische Formen Mischformen im Dominanzverhältnis der Symbolfunktionen sind. Durch den Nachweis dieser Extreme wäre somit die Vollständigkeit des Modells der Repräsentation methodisch abgesichert. Als letztes Indiz für meine Lesart sei die symbolische Form der Technik angeführt. Diese bestimmt Cassirer als zugleich durch die Formmotive von Wissenschaft und Kunst geprägt. 83 Während das in der Technik waltende künstlerische Formmotiv nach Harmonie von Ausdruck und Darstellung strebt, führt das Formmotiv reiner Bedeutung zur Unterdrückung alles Ausdruckmäßigen im Gegenstand der Technik. Cassirer zieht für die Technik daraus die Konsequenz, dass „der Gewinn, den sie damit erreicht, immer zugleich ein Opfer in sich schließt“. 84 Dieses Opfer wiederum „bezeugt selbst eine spezifisch menschliche Kraft – eine selbständige und unentbehrliche Bekundung der ‚Humanität`“. 85 Diese Einschätzung der Technik als potentielle Kraft der Humanität mag gerade aus der Perspektive des späteren The Myth of the State (1946) und allgemein aus der Erfahrung der Schoah Widerspruch beim Leser evozieren. Cassirers Gedanke lässt sich aber dahingehend rechtfertigen, dass die Tendenz der Technik, alles Ausdrucksmäßige, also insbesondere den gefühlten Grund menschlicher Sozialität, der jegliBeide Zitate ECW 17, S. 268. Diese Selbstinterpretation gibt Cassirer drei Jahre nach Erscheinen von Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927) in Form und Technik (1930). Vgl. ECW 17, S. 178. Für eine tiefergehende Auseinandersetzung hinsichtlich dieser Problemzusammenhänge vgl. Lauschke, Marion: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg: Meiner 2007, insbesondere S. 164–181. 83 Vgl. ECW 17, S. 177. 84 ECW 17, S. 180. 85 Ebd. 81 82
Gemeinsamkeiten mit Abels Drei-Ebenen-Modell
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cher Zweckrationalität entgegensteht, auszulöschen, eine Bekundung der Humanität im Sinne der Verantwortung ist, die mit der Technik einherkommt. Gerade deshalb spricht Cassirer in diesem Zusammenhang von einer „Ethisierung der Technik“ als „eines der Zentralprobleme unserer gegenwärtigen Kultur“. 86 3.5 Gemeinsamkeiten mit dem Drei-Ebenen-Modell in Günter Abels Interpretationismus Dieses Kapitel verfolgt eine Engführung der Cassirerschen Theorie der Wahrnehmung und Repräsentation mit den „drei Ebenen und drei Hinsichten des Interpretationsbegriffs“, 87 wie sie Günter Abel in Interpretationswelten (1995) entwickelt hat und seitdem als heuristische Grundlage einer ‚Allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie` verwendet. Dazu fasse ich zunächst kurz die Ergebnisse meiner Lesart der in Cassirers Hauptwerk enthaltenen Theorie der Repräsentation zusammen. Cassirer ordnet im abschließenden Band der Philosophie der symbolischen Formen den drei Symbolfunktionen Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung die drei „Formwelten“ 88 Mythos, Sprache und Wissenschaft zu, die das transzendentale Grundgerüst des objektiven Geistes, der Kultur, ausmachen. Durch jede Symbolfunktion und in jeder symbolischen resp. geistigen Form drücken sich Objektivierungsleistungen aus, die in konstitutiver Wechselwirkung mit unseren Wahrnehmungserfahrungen stehen. 89 Diesen drei Ebenen im symbolischen Kosmos entspricht auf Subjektseite ein „Kosmos sui generis“ der „‚sinnlichen` Wahrnehmung“, 90 der sich in den drei Modi des Bewusstseins Ausdruckswahrnehmung, Anschauung und reines Denken zeigt. Ich verstehe dieses Modell insgesamt als ein Repräsentationsmodell ohne Repräsentationalismus, in dem keines der oben genannten Momente isoliert für sich auftaucht, sondern auf jeder Stufe sich Wahrnehmung und Objektivierungsleistung wechselseitig durchdringen und auf eine sinnlich-geistige Einheit, die Cassirer ‚symbolische Prägnanz` nennt, hin formen.
Beide Zitate ECW 17, S. 182. Abel, Günter: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 14. 88 ECW 13, S. 519. 89 Vgl. ECW 13, S. 158. 90 Beide Zitate ECW 13, S. 12. 86 87
130
Zur Theorie der Repräsentation
Der Interpretationismus Günter Abels kann als Ganzes an dieser Stelle selbstverständlich nicht diskutiert werden, 91 jedoch möchte ich im Folgenden grundlegende Überschneidungen in den Theoriekonzeptionen Cassirers und Abels herausstellen, die bislang in der Forschung nicht beachtet worden sind. Damit sei nicht behauptet, dass Aufgaben, Ziele und Inhalte der Symbolphilosophie und des Interpretationismus zusammenfielen, wohl aber, dass beide aufgrund augenfälliger Überschneidungen im philosophischen Anspruch insgesamt und hinsichtlich der Positionierung vieler Grundsatzfragen der theoretischen Philosophie einander ergänzen und bestätigen. In Günter Abels Drei-Ebenen-Heuristik des Interpretationsbegriffs zeichnet sich die Ebene1 durch „ursprünglich-produktive[. . . ] und sich in den kategorialisierenden Zeichenfunktionen selbst manifestierende[. . . ] konstruktbildende[. . . ] Komponenten“ 92 aus, die ich analog der Cassirerschen Ausdrucksfunktion als präsentatives, durch die produktive Einbildungskraft jedoch schon zu sinnlicher Allgemeinheit 93 geformtes Moment deute. Die Wahrnehmung auf dieser tiefsten Ebene des Modells ist so zwar präsentativ und direkt, jedoch verpflichtet uns diese Annahme in keiner Weise auf einen naiven Realismus. 94 Denn die Welt drückt sich nicht ansich im Sinne eines Essentialismus aus, sondern Sinn formiert sich hier ausschließlich derart, wie die Welt als Ausdruck erfahren werden kann, also respektive der Modalitäten der Ausdruckswahrnehmung. Mit Abel gesprochen: „In Interpretationen1 sind die Welten von der Interpretation abhängig“. 95 Die Ebene2 des Interpretationsbegriffs markiert „durch Gewohnheit verankerte[. . . ] und habituell gewordene[. . . ] Gleichförmigkeitsmuster“, 96 wie ich sie bei Cassirer in der Darstellungsfunktion angelegt sehe. Auf dieser Ebene entsteht in Cassirers Sprachgebrauch die EsWahrnehmung, welche die Welt sprachlich-analogisch anhand von DingVgl. hierzu „Symposium zu: Günter Abel: Interpretationswelten“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (44,5), 1996, S. 855–916 und dergestalt ein weiteres in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (21,3), 1996, S. 253–288. 92 Abel: Interpretationswelten, S. 14. 93 Vgl. hierzu ECW 13, S. 380 ff. 94 Die Verpflichtung auf den naiven Realismus fordern sowohl der späte Putnam als auch sämtliche disjunktivistischen resp. relationalen Theorien der Wahrnehmung. Vgl. Putnam: The Threefold Cord, S. 21 ff; Fish, William: Philosophy of Perception. A Contemporary Introduction, New York: Routledge 2010, S. 96 ff; Staudacher, Alexander: Das Problem der Wahrnehmung, Münster: Mentis 2011, S. 24 f u. 273 ff. 95 Abel, Günter: „Interpretations-Welten“, in: Philosophisches Jahrbuch (96), 1989, S. 4. 96 Abel: Interpretationswelten, S. 15. 91
Gemeinsamkeiten mit Abels Drei-Ebenen-Modell
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Eigenschafts-Relationen formt. In Abels Diktion: „[I]n Interpretationen2 finden Zuordnungen von Interpretationen und Welten statt“. 97 Als Beispiele führt Abel u.a. die natürlichen Sprachen an, was meine Lesart stützt. 98 Auf Ebene3 erfolgen schließlich „aneignende Deutungen“ 99 durch Theoriebildung, welche bei Cassirer anhand der Bedeutungsfunktion gefasst und der symbolischen Form der Wissenschaft zugeordnet sind. In Abels Modell ergibt sich hieraus, dass „in Interpretationen3 [. . . ] die Interpretationen von dem abhängig [sind], was sie interpretieren“. 100 Auch in Abels heuristischem Modell der drei Ebenen der Interpretation steht kein Moment isoliert für sich allein. Ganz im Gegenteil sind die Ebenen ‚drehtürartig` miteinander verschaltet und liegen jeglichem Zugang zu ‚Welt` schon immer im Rücken. 101 Im Umgang mit ‚Welt` ist immer eine Form der Wahrnehmung im Spiel und diese ist in Ernst Cassirers Terminologie ausgedrückt symbolisch prägnant oder in Günter Abels Worten interpretativ. Weiterhin geht Abel nicht nur von drei Ebenen der Interpretation (I), sondern auch von drei Dimensionen bzw. Hinsichten der Interpretation (II) aus: Auf jeder dieser drei Ebenen und quer durch diese hindurch lassen sich an gegebenen Interpretationssystemen drei Dimensionen unterscheiden: die im engeren Sinne auf unser sprach- und grundbegriffliches System bezogenen kategorialisierenden Komponenten wurden – vom Interpretationsgedanken her – „Interpretations-Logik“ genannt; die ins unsere Zeichenverwendung involvierten Formen der sinnlichen Anschauung und die individuellen Komponenten in der Bedeutung, der Referenz und den Erfüllungsbedingungen unserer Zeichen sowie im Urteil wurden – vom Interpretationsgedanken her – unter dem Titel der „Interpretations-Ästhetik“ zusammengefasst; die normierenden Elemente eines jeden symbolisierenden Zeichengebrauchs, die wir in diesem immer schon verstanden haben, mithin die Regularitäten der Regeln des Interpretierens, wurden –
Abel: „Interpretations-Welten“, S. 4. Vgl. Abel, Günter: „Sprache, Zeichen und Interpretation“, in: Lenk, Hans / Poser, Hans (Hrsg.): Neue Realitäten. Herausforderung der Philosophie, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 269. 99 Abel: Interpretationswelten, S. 15. 100 Abel: „Interpretations-Welten“, S. 4. 101 Vgl. Abel, Günter: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 28 ff. 97 98
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Zur Theorie der Repräsentation
vom Interpretationsgedanken her – Ethik der Interpretation oder „Interpretations-Ethik“ genannt. 102
Die Bezeichnungen Logik, Ästhetik und Ethik mögen sprachlich eigenwillig erscheinen, was aber nichts an der hier zugrunde liegenden Funktionalität dieser Heuristik ändert. Ähnlich der mimischen Phase bei Cassirer geht es bei der Logik von (II) um ein ursprüngliches Grundverhältnis bei der Kategorialisierung von Sinn. Die Ästhetik von (II) thematisiert das Anschauliche und die Bedeutung ähnlich wie die analogische Phase Cassirers. Und schließlich geht es bei der Ethik von (II) um Normierungsprozesse anhand einer Selbsttransparenz im Zeichengebrauch, was sich mit der Symbolwerdung bei Cassirer – oder auch der Subjektwerdung der Substanz bei Hegel – deckt. Die Überschneidungen dieser beiden Theorien können hier nicht weiter vertieft werden. Es geht an dieser Stelle in erster Linie um den Nachweis, dass eine starke Affinität in der Konzeption von so Grundsätzlichem wie dem Verhältnis der Wahrnehmung zu den Modi der Repräsentation in den philosophischen Entwürfen Cassirers und Abels besteht und dies, obwohl Letzterer nicht in expliziter Auseinandersetzung mit Ersterem entwickelt wurde. Hieraus ließen sich möglicherweise weitere Argumente für die Adäquatheit beider Entwürfe herleiten. Was für beide Modelle spricht, ist die beiden Theorien zugrunde liegende Pragmatik und ihr Status als Heuristik, denn gerade das, was mit Cassirer gesprochen das Aufdecken solcher Strukturen immer wieder erschwert, ist der Umstand, daß alle diese Akte des Ausdrückens, des Darstellens und des Bedeutens sich selber nicht unmittelbar gegenwärtig sind, sondern daß sie sich nirgends anders als im Ganzen ihrer Leistung sichtbar werden können. Sie sind nur, indem sie sich betätigen und indem sie in ihrer Tat von sich selbst Kunde geben. 103
Auch dieser Anspruch Cassirers deckt sich mit demjenigen Abels, der sein Drei-Ebenen-Modell weder naturalistisch im Sinne einer bottomup-Schichtung noch im Sinne einer idealistischen Ontologie versteht. Vielmehr ist dessen Anspruch transzendental und jeder in diesem Rahmen formulierte Satz „ein Satz der interpretations-transzendentalen Logik“, 104 weshalb auch die „Position der Interpretationsphilosophie geraAbel: „Interpretations-Welten“, S. 5. ECW 13, S. 114. 104 Abel, Günter: „Interpretation und Realität. Erläuterungen zur Interpretationsphilosophie“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (21,3), 1996, S. 280. 102 103
Gemeinsamkeiten mit Abels Drei-Ebenen-Modell
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dezu als ein Voll-Realismus angesehen werden“ 105 kann. Im Lichte der gegenwärtigen Wiederentdeckung des Realismus bieten Cassirers Symbolphilosophie und Abels Interpretationsphilosophie ein starkes argumentatives Repertoire, um realistische Ansprüche mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer Theorie der Repräsentation und dem damit verbundenen Gedanken der Vermittlung zu versöhnen und so letztlich der Versuchung eines naiven Realismus zu widerstehen. 106
Ebd., S. 285. Eine Vertiefung dieses Vergleichs lässt deshalb ein gewinnbringendes Forschungsdesiderat erwarten. 105 106
Kapitel 4 Zur Theorie des Ausdrucks
„alles Sinnliche ist sinnhaft alles Sinnhafte ist sinnlich“ 1
Der Begriff „Ausdruck“ ist nicht nur ein Schlüsselbegriff zum Gesamtverständnis der Philosophie der symbolischen Formen, sondern vor allem für die Wahrnehmungstheorie Cassirers. Da der vorliegende Interpretationsansatz diese Philosophie als Wahrnehmungstheorie versteht, ergibt sich somit, dass der Begriff des Ausdrucks auch für diesen Ansatz eine zentrale Rolle einnimmt. Ausgehend von einer ersten Definition werde ich im Folgenden darlegen, in welchem Zusammenhang dieser Begriff mit anderen termini technici Cassirers steht. Symbol, Zeichen, Bedeutung, Realität und Urphänomen sind solcherlei Pfeiler, die Cassirers Wahrnehmungstheorie entlang des Begriffs des Ausdrucks stützen. Weiterhin wird die Direktheit und Unmittelbarkeit der Ausdrucksfunktion diskutiert werden, um auch eine zentrale Frage gegenwärtiger Theorietypen der Wahrnehmungsphilosophie zu beantworten, die derzeit unter den Schlagwörtern ‚Natürlicher Realismus` oder ‚Direkter Realismus` firmieren. 2 4.1 Die These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes Cassirer definiert seine Verwendung des Begriffs „Ausdruck“ anhand einer für die Philosophie der symbolischen Formen einschlägigen These. Sie lautet: „Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung“. 3 Guido Kreis hat diese These treffenderweise als These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes bezeichnet. 4 Sie besagt, dass geistige Verhältnisse in der Welt nur dann vorliegen, wenn sie geäußert resp. ausgedrückt werden. Die Pointe liegt darin, dass jegliche Art von Ausdruck ausschließlich ECN 4, S. 49. Vgl. Searle, John: Seeing Things as They Are. A Theory of Perception, New York: OUP, 2015, S. 15 f sowie Putnam: The Threefold Cord, S. 15 u. 38. 3 ECW 11, S. 16. 4 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 144 f. 1 2
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Zur Theorie des Ausdrucks
mittels des sinnlich-materiellen ‚Inventars` der Welt vollzogen werden kann. Nur durch Sinnliches kann also ein nicht-sinnlicher Sinn bzw. eine „ideelle Form“ 5 in der Welt zum Ausdruck gebracht werden. Geistiges „wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren [es] sich zu [seinem] Ausdruck bedient“. 6 Die These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes ist somit zugleich Cassirers These eines methodischen Monismus: Geist und Welt stehen sich im Erkenntnisprozess nicht unversöhnbar gegenüber, sondern sind vielmehr auf Basis sinnlicher Inkorporation grundlegend verwoben. An dieser Stelle ist jedoch auch Vorsicht geboten, da Cassirer sich den Begriff „Monismus“ an keiner einzigen Stelle seines Werkes explizit zu eigen macht. Ein wertvoller Hinweis, wie Cassirer zum Problem des Dualismus von Geist und Welt hinsichtlich einer monistischen Lösung steht, findet sich aber in seinem Nachruf auf Paul Natorp von 1925. Dort schreibt Cassirer im Kontext seiner Darstellung der Inhalte von Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912): So muß der metaphysische Monismus sich in einen methodischen Monismus wandeln, der die Zweiheit der Gesichtspunkte, unter der alles „Seiende“ betrachtet werden kann, nicht ausschließt, sondern als notwendige Ergänzung fordert. „[D]ie geforderte Einheit liegt nicht vor, sei es in einem Ding aller Dinge oder einem Zweck aller Zwecke, oder einem letzten Absoluten, welches, wie der Gott des Aristoteles, irgendwie dies beides und überhaupt alles, was in den letzten Gründen des ‚Seins` wurzelt, in Einem wäre; sondern sie ist ganz schlicht und präzis zu verstehen als Einheit der Methode d. i. des Ganges, des ewigen, gesetzmäßigen Fortgangs der Erkenntnis; als Einheit von Beziehungen unter einem letzten, übergreifenden Bezug [. . . ]“ Es gibt nicht ein festes Gebiet, eine starre in sich geschlossene Sphäre der Subjektivität, der, ebenso starr und unbeweglich, die Sphäre der Objektivität gegenüberstünde. An Stelle einer solchen Scheidung von Sachwelten ist vielmehr die rein methodische Sonderung zu setzen, die die Funktion der „Objektivierung“ von der Funktion der „Subjektivierung“ trennt. 7
Cassirer übernimmt den Natorpschen Gedanken einer methodischen Korrelation von Subjektivität und Objektivität im Kapitel Subjektive und objektive Analyse des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen ECW 11, S. 16. Ebd.; Hinzufügungen von mir. 7 ECW 16, S. 209. Cassirer zitiert hier Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Tübingen: Mohr Siebeck 1912, Kap. 6, § 2. 5 6
Die These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes
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Formen unverändert. Er rechtfertigt und beansprucht für sich selbst die „Aufgabe der Psychologie“ im Sinne Natorps als „Grund und Boden, auf welchem allein eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen ihr und unserem eigenen systematischen Problem, dem Problem der Philosophie der symbolischen Formen, möglich wird.“ 8 Sollte die Durchführung solch eines methodischen Monismus gelingen, erübrigt sich für Cassirer damit die metaphysische Festlegung auf einen ontologischen Monismus oder Dualismus: „Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag.“ 9 Ob Cassirer mit dieser Strategie tatsächlich die Überwindung solch eines philosophischen Problems ersten Ranges gelingt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden, sondern erfordert eine eigene Untersuchung. Guido Kreis versucht, die Ontologie Cassirers als Beschreibungsdualismus zwischen Kausalbeziehungen (Natur) und repräsentationalen Beziehungen (Geist) zu rechtfertigen, welcher wiederum auf einem ontologischen Monismus des objektiven Geistes beruhe. Demnach gebe es (zumindest für Menschen) nichts, was nicht zugleich physisch und geistig ist. 10 Da Kreis die soziale Dimension des objektiven Geistes immer wieder hervorhebt, stellt sich aber auch die Frage, ob hiermit wirklich ein Problem der Metaphysik gelöst wird oder nicht vielmehr der Sozialontologie. Der Textbestand Cassirers jedenfalls spricht eher für eine Überwindung metaphysischer Probleme aufgrund eines methodologischen Neuansatzes zum Geist-Welt-Problem. Im Folgenden wird also ohne weitere Problematisierung der von Cassirer vorgeschlagene ‚therapeutische Ansatz` gewählt und ausschließlich danach gefragt, wie diese Erfüllung des Geistigen im Sinnlichen, d.i. die These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes, sich aufzeigen lässt.
Beide Stellen ECW 13, S. 58. ECW 11, S. 17. 10 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 300–306. „Die physische Natur wird im objektiven Geist nicht eliminiert, reduziert oder dekonstruiert, sondern in die Welt des objektiven Geistes integriert. In dieser Welt ist die physische Natur als materiale Grenze des sozialen Handelns und geistigen Gestaltens präsent: Wir können nicht alles in der Weise ausführen oder gestalten, wie wir es wollen, weil die Eigenarten des physischen Materials, an das unser Geist gebunden ist, unserem Handeln Grenzen setzen.“ (Ebd., S. 301.) 8 9
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4.2 Die Notwendigkeit der Ausdruckserlebnisse Diese Problemstellung bedenkt er auf zwei Wegen: einer (a) führt über die Zeichentheorie, ein anderer (b) über die Wahrnehmungstheorie. (a) Zunächst gilt es genauer zu klären, was Zeichen sind. Cassirer vertritt erklärtermaßen keine Stipulations- oder Aufpfropftheorie, der zufolge das irgendwie schon vorhandene Geistige durch Zeichen eingefangen und abgebildet wird. Vielmehr fallen bei Cassirer all die Dualitäten wie Zeichen und Bezeichnetes, Verstand und Sinnlichkeit, Geist und Welt, Rezeptivität und Spontaneität in die Kategorie des Sinnlichen selbst. „Im Kreis des Sinnlichen selbst muß scharf zwischen dem, was bloße ‚Reaktion`, und dem, was reine ‚Aktion` ist, zwischen dem, was der Sphäre des ‚Eindrucks`, und dem, was der Sphäre des ‚Ausdrucks` angehört, unterschieden werden.“ 11 Cassirer gibt dem originär kantischen und von sowohl Heidegger als auch Cassirer selbst wieder aufgenommenen Projekt, Rezeptivität und Spontaneität in einer gemeinsamen Wurzel, für die Kant die Einbildungskraft 12 herangezogen hatte, zusammenzuführen, 13 eine neue Wendung: Das passiv Wahrgenommene ist auch nach seiner aktiven Umbildung zum Ausdruck noch ein Sinnliches; es ist ein Zeichen, das sinnlich wahrnehmbar ist und zugleich einen nicht-sinnlichen Sinn in sich trägt. Dies ist ganz pragmatisch zu verstehen: Die Verwendung von Schriftzeichen oder das Aussprechen eines Lautes oder Satzes, aber auch das ritualhafte Verhalten ist ein Umgang mit Zeichen im weitesten Sinne. „In jedem sprachlichen ‚Zeichen`, in jedem mythischen oder künstlerischen ‚Bild` erscheint ein geistiger Gehalt [. . . ] in die Form des Sinnlichen [. . . ] umgesetzt.“ 14 Solch eine Pragmatik nimmt auch Hilary Putnam in seiner Spätphilosophie in Anspruch: „When we hear a sentence in a language we understand, we do not associate a sense with a sign design; we perceive the sense in the sign design.“ 15 Es spielt zunächst keine Rolle, ob mit Zeichen NichtPropositionales wie Bilder, Gefühle, Geschmack usf. oder Propositionales Ebd. Vgl. KrV, A 115 ff. 13 Die kantische Einbildungskraft spielt sowohl für Heidegger als auch für Cassirer eine so eminente Rolle, dass beide Denker a) dieser in ihren unterschiedlichen KantAuslegungen eine zentrale Rolle zuweisen, b) sie für ihre je eigene Philosophie fruchtbar machen und c) sich im Rahmen der Davoser Disputation zumindest über die Wichtigkeit der Rolle der Einbildungskraft einig werden. Vgl. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1991, S. 127–203 und S. 271–296 sowie ECN 17, S. 1–122. 14 ECW 11, S. 40. 15 Putnam: The Threefold Cord, S. 46. 11 12
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wie Sätze, Sachverhalte, Einstellungen usf. oder wiederum Handlungen, Rituale oder Bewegungen gemeint sind. Allen gemein ist, dass sie Formen des Ausdrucks sind, die in ihrer Gestaltung sinnlich wahrnehmbar sind. „Es tritt eine [. . . ] spezifische Aktivität des Bewußtseins auf, die sich von aller Gegebenheit der unmittelbaren Empfindung oder Wahrnehmung unterscheidet, um sich dann doch ebendieser Gegebenheit selbst als Vehikel, als Mittel des Ausdrucks zu bedienen.“ 16 Der entscheidende Punkt hier ist, dass die dem Gegebenen fremde Spontaneität des Ausdrucks sich nur im und durch eben jenes Gegebene realisieren kann und in diesem Sinne Sinnlichkeit bleibt. Günter Abel hat diese Pragmatik der Zeichen im Rahmen seiner Interpretations-, Symbol- und Zeichenphilosophie – nicht in Auseinandersetzung, aber völlig im Einklang mit Cassirer – folgendermaßen auf den Punkt gebracht: [U]nter Zeichen im weiten Sinne [sei] jedes Gebilde verstanden, daß irgendwie auffällt, als bedeutungstragend und als etwas angesehen wird, an dem und in bezug auf das es etwas zu verstehen gibt. Am deutlichsten wird dieser weite Sinn daran, daß man nach der Bedeutung der Gebilde und Vorkommnisse explizit fragen kann. So fragt man etwa, was denn diese Handbewegung Onkel Pauls, was diese rote Fläche, was dieses Geräusch, was dieser Blick, was dieser Duft, was dieses Licht am Himmel bedeutet. Dieser weite Sinn von Zeichen ist offenkundig nicht auf sprachliche oder bildliche Zeichen begrenzt. Er kann von jedem Objekt realisiert werden, sobald es in den Horizont der Aufmerksamkeit, in die Dimension der Fragen des Verstehens und der Bedeutung gerät, sobald es zum Übergang von einem bloßen Sinneseindruck zum Zeichen kommt. 17
Cassirer verwendet den Zeichenbegriff, wie bereits eingangs gezeigt (Kapitel 1.1.2), so weit, dass mitunter keine strikte Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbol möglich ist. Natürlich hat der Begriff des Symbols bei Cassirer seine terminologische Verwendung, insbesondere wenn es um die symbolischen Formen geht. Im Rahmen der Zeichentheorie jedoch verwendet Cassirer ‚Symbol` und ‚Zeichen` weitestgehend synonym, weil Bezeichnen, Symbolisieren und Bedeuten gewissermaßen „drehtürartig ECW 11, S. 40; meine Hervorhebung. Abel: Zeichen der Wirklichkeit, S. 21. Abel weist in diesem Zusammenhang zu Recht u.a. darauf hin, dass keineswegs „schlechthin alles und stets bereits Zeichen“ ist. (Ebd.) Mit Cassirer möchte man an dieser Stelle aber auch ergänzen, dass „[o]hne die Tatsache, daß sich in bestimmten Wahrnehmungserlebnissen ein Ausdruckssinn offenbart, [. . . ] das Dasein für uns stumm [bliebe].“ (ECW 13, S. 82; meine Hervorhebung.) Was uns zum Zeichen wird, steht deshalb letztlich auch nicht absolut zur Verfügung. 16 17
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verschränkte Verhältnisse“ 18 sind: Sie sind Weisen der Objektivierung, der Weltaneignung. Guido Kreis hat folglich eine semantische Theorie der Objektivität bei Cassirer ausgemacht. 19 Cassirer selbst hat diesen Sachverhalt folgendermaßen erklärt: Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, „sind“ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf. 20
Die funktionale Verwendung von Lauten, Schrift, Bildern, Riten usf. erschließt uns also ein So-oder-so-Sein der Welt hinsichtlich derjenigen Bedeutung, die sich aus der je eigentümlichen geistigen Ausrichtung erst ergibt. Es ist klar, dass die funktionell-geistige Aneignung der Welt, vom ‚Telos` der Wissenschaft aus betrachtet, zunehmend komplexer wird und sich vom Gegebenen entfernt. Zeichen bleiben zwar auf sinnlich wahrnehmbare Zeichen angewiesen, jedoch gewinnen diese sukzessive an Autonomie, je mehr sie sich vom ursprünglichen Ausdruckssinn entfernen: Hier ist das Bewußtsein, um das Ganze im Einzelnen zu erfassen, nicht mehr auf die Anregung des Einzelnen selbst, das als solches gegeben sein muß, angewiesen, sondern hier erschafft es sich selbst bestimmte konkretsinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe. Weil diese Inhalte, als selbstgeschaffene, auch ganz in der Gewalt des Bewußtseins sind, darum vermag es durch sie, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, auch alle jene Bedeutungen immer von neuem mit Freiheit „hervorzurufen“. 21
Cassirer erläutert dies anhand eines Beispiels: Indem wir z. B. eine gegebene Anschauung oder Vorstellung mit einem willkürlichen Sprachlaut verknüpfen, scheinen wir zunächst ihrem eigentlichen Inhalt nicht das geringste hinzugefügt zu haben. Und doch nimmt, schärfer betrachtet, in dieser Schaffung des Sprachzeichens auch der InDiese Idee greife ich von Günter Abel auf, der die Metapher der Drehtür an dieser Stelle für Cassirer sehr passend in Bezug auf (implizites und explizites) Wissen und Handeln erläutert: „Jedem Wissen liegen Aspekte der Lebenspraxis und des Handlungszusammenhangs bereits im Rücken“. (Abel: Zeichen der Wirklichkeit, S. 345.) 19 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 188 ff. 20 ECW 11, S. 40. 21 Ebd. 18
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halt selbst für das Bewußtsein einen neuen „Charakter“, weil eine neue Bestimmtheit, an. Seine scharfe und klare geistige „Reproduktion“ erweist sich geradezu an den Akt der sprachlichen „Produktion“ gebunden. Denn nicht dies ist die Aufgabe der Sprache, Bestimmungen und Unterschiede, die in der Vorstellung schon vorhanden sind, lediglich zu wiederholen, sondern sie als solche erst zu setzen und kenntlich zu machen. 22
Die zunehmend komplexer werdende Aneignung der Welt durch Zeichen bedeutet nun aber gerade nicht, dass uns die Welt immer abstrakter und unanschaulicher wird, gewissermaßen sinnlich abhanden kommt. Vielmehr kommt durch den Zeichengebrauch ein stabilisierendes Moment in die Welt. Zeichen schaffen Gestalten, das Chaos der Eindrücke bekommt zunehmend eine sich festigende Form. Und so ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaos der sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeiner Richtung der Zeichengebung, bildend gegenübertreten, gewinnt er für uns Form und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: Aber sie alle stimmen darin überein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Material gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren. 23
Cassirers Hauptwerk basiert folglich auf einer Zeichentheorie, deren symbolische Formen Weisen oder (wie im Zitat) Richtungen der Zeichengebung sind. Jeder Zeichengebung eignet so eine eigene Objektivierungstendenz und damit auch ein eigenes Weltbild. Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft sind Interpretationen der Welt: Die pragmatisch zu verstehende Verwendung verschiedener Zeichen(systeme) erzeugt folglich inkommensurable und sich z.T. widersprechende Interpretationswelten, jedoch beziehen sie sich alle funktional auf genau eine Welt, nämlich die, in der wir handeln und uns orientieren. Die Genealogie der Zeichenverwendung zeigt dies deutlich: Orientiert sich der geistige Gehalt anfangs noch am sinnlich Gegebenen, kommt es zu konfligierenden Weltbildern erst mit dem zunehmenden Auseinandertreten von Sinnlichem und Geistigem durch die Ausdifferenzierung der verwendeten Zeichen. Die Umbildung der Eindrücke durch ausdruckshafte Zeichen prägt das Gegebene 22 23
ECW 11, S. 40 f. ECW 11, S. 41.
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zu objektiven Gebilden, die Cassirer „Prägungen zum Sein“ 24 nennt. Er schreibt: So unterscheidet sich in der Grundfunktion der Zeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaft das geistige vom sinnlichen Bewußtsein. Hier erst tritt an die Stelle der passiven Hingegebenheit an irgendein äußeres Dasein eine selbständige Prägung, die wir ihm geben, und durch die es für uns in verschiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt. Der Mythos und die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft sind in diesem Sinne Prägungen zum Sein: Sie sind nicht einfache Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigen Bewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche als Eines und Vieles konstituiert – als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden. 25
Cassirers Zeichentheorie ist ein wichtiger Schritt innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen, um die Überwindung der Abbildtheorie zu plausibilisieren. Das menschliche Bewusstsein ist Cassirer zufolge kein Spiegel der Natur. Vielmehr prägt es aktiv unsere Sicht auf die Welt dadurch, dass es sich die Welt mittels zeichenhaft verfasster Ausdrucksgestalten aneignet. Die Lehre von den Ausdrucksgestalten ist ferner ein elementarer Schritt in Cassirers Erweiterung der Kopernikanischen Wende Kants. Durch ihre Fundierung im Sinnlichen benötigt Cassirers Theorie keine Konzeption von Dingen-an-sich und aufgrund ihrer semantischen Funktionalität stellt sich ferner auch kein Problem vieler Welten. 26 Jede Weltaneignung ist funktional durch die allen Ausdrucksweisen Einheit gebende Bedeutungsfunktion auf die eine Welt, in der wir leben, bezogen. (b) Wie wir gesehen haben, müssen sämtliche Weisen geistiger Formierung der Welt als Phänomene des Ausdrucks beschrieben werden. Die elementaren symbolischen Formen Mythos, Sprache und Wissenschaft sind Ausdrucksgestalten, die ihren Ursprung in der Umbildung vom wahrgenommenen Eindruck zum zeichenhaften resp. symbolischen Ausdruck im Ebd. Ebd. 26 Guido Kreis hat diesbezüglich mit Cassirer und gegen Goodman ein transzendentales Argument entwickelt, dem zufolge es ohne die Voraussetzung einer einheitlichen Erfahrungswelt überhaupt nicht zum Widerspruch zwischen bspw. mythischer und wissenschaftlicher Weltauffassung kommen könnte: „Widerspruch oder Konflikt ist ohne die Identität dessen, worauf sich die Sätze in der Wirklichkeit beziehen, nicht denkbar, geschweige denn feststellbar.“ (Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 431.) 24 25
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Wahrnehmungsbewusstsein haben und konfligierende mythische, sprachlich-empirische und wissenschaftliche Weltbilder produzieren. Jedes dieser Weltbilder, oder wie Cassirer sagt: jede „Weltansicht“, 27 lässt sich nun ferner auch als Korrelat „einer bestimmten Richtung der Wahrnehmung“ 28 beschreiben. Der Mythos ist bestimmt durch die Grundkategorien des Heiligen und des Profanen, während sein Kausalitätsverständnis als magisch und gattungsübergreifend beschrieben werden kann. Durch die symbolische Form Sprache erfährt die Welt eine andere Struktur, 29 die sich in Dinge und Eigenschaften sowie ein gattungsspezifisches Verständnis von Kausalität teilt. Sie bereitet das rein theoretische Weltbild, das sich in der Wissenschaft vollendet, bereits vor. Ebenso grundlegend aber wie die Tatsache, dass auch die sprachliche und wissenschaftliche, also theoretische Erschließung der Welt ein Phänomen des Ausdrucks ist, ist die Tatsache, dass diese nicht nur auf einer gemeinsamen „Richtung der Wahrnehmung“, nämlich der Dingwahrnehmung, basiert. Das Bewusstsein „‚hat` die Welt noch in einem anderen und in einem ursprünglicheren Sinne, sofern sie sich ihm als reines Ausdrucksphänomen offenbart“. 30 Ausdruckserlebnisse sind Cassirer zufolge die Elementarschicht jeder Wirklichkeitserfahrung. Das reine Ausdrucksphänomen nennt Cassirer auch das „reine Phänomen der Wahrnehmung“, 31 welches uns zu Cassirers zentraler These vom Primat der Ausdruckswahrnehmung führt: Was die Versenkung in das reine Phänomen der Wahrnehmung uns zeigt, ist jedenfalls das eine: daß die Wahrnehmung des Lebens nicht in der bloßen Dingwahrnehmung aufgeht, daß die Erfahrung des „Du“ niemals einfach in die des bloßen „Es“ aufgelöst oder auf sie, durch noch so komplexe begriffliche Vermittlungen, reduziert werden kann. Auch vom rein genetischen Gesichtspunkt aus scheint kein Zweifel zu bestehen, welcher der beiden Wahrnehmungsformen die Priorität zuzusprechen ist. Je weiECW 13, S. 68 u. 77. Den Begriff „Weltansicht“ übernimmt Cassirer selbstverständlich von Humboldt. Vgl. dazu auch Trabant, Jürgen: Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt, München: C.H. Beck 2012. 28 ECW 13, S. 68. 29 Die Möglichkeit einer An-sich-Lesart gegenüber einer Für-uns-Lesart lasse ich hier bewusst offen, sofern man dies transzendental und nicht metaphysisch auffasst. Diesen Gedanken hat Markus Gabriel im Anschluss an Wolfram Hogrebe ausbuchstabiert. Vgl. Gabriel, Markus: „Zum philosophischen Ansatz Wolfram Hogrebes“, in: Hogrebe, Wolfram: Die Wirklichkeit des Denkens, hrsg. von Jens Halfwassen und Markus Gabriel, Heidelberg: Winter 2007, S. 79–100 sowie ders.: Transcendental Ontology. Essays in German Idealism, London / New York: Continuum 2011. 30 ECW 13, S. 69. 31 Ebd. 27
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ter wir die Wahrnehmung zurückverfolgen, um so mehr gewinnt in ihr die Form des „Du“ den Vorrang vor der Form des „Es“; um so deutlicher überwiegt ihr reiner Ausdruckscharakter den Sach- und Dingcharakter. Das „Verstehen von Ausdruck“ ist wesentlich früher als das „Wissen von Dingen“. 32
Im Theorem der Ausdruckswahrnehmung lanciert Cassirer nun aber gerade keine, wie man aufgrund ihres „Du-Charakters“ vermuten könnte, Theorie des Animismus als Urform mythisch-religiösen Denkens und Anschauens. Folgerichtig kritisiert Cassirer insbesondere Edward Tylor und dessen lang anhaltenden Einfluss auf die Ethnologie, Religionsgeschichte und Entwicklungspsychologie. 33 Zum besseren Verständnis der Ausdruckswahrnehmung hilft erneut ein Blick auf Cassirers transzendentale Vorgehensweise. „Der Gang unserer Untersuchung führt uns wie allenthalben durch die Welt der Formen, durch die Region des ‚objektiven Geistes`. Von ihr aus suchen wir, durch eine rückschließende und ‚rekonstruktive` Betrachtung, den Zugang zum Bereich der ‚Subjektivität` zu gewinnen.“ 34 Die Ausdruckswahrnehmung ähnelt im Rahmen transzendentaler und subjektivitätstheoretischer Fragen dem, was Wolfram Hogrebe im Lichte einer Protosemantik als „dunkles Du“ 35 beschrieben hat: die notwendige Bedingung einer ahnenden Vertrautheit mit allem Lebendigen für jede Bezugnahme auf Objekte schlechthin. Es handelt sich hierbei um nicht-propositionale Verstehensleistungen des menschlichen Bewusstseins im Umgang mit der Welt, die nicht durch Leistungen von Begriff und Reflexion erklärt werden können, sondern diesen notwendig vorausgehen. Was Hogrebe hier immer wieder thematisiert, 36 wird von Cassirer ausführlich erläutert, wenn dieser eine „Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse“ 37 anstrebt, welche die philosophische Analyse in den Mythos als „lebendigen Mittelpunkt dieses Gebiets“ 38 führt. Die „Wurzeln“ 39 des wahrnehmenden Bewusstseins liegen Cassirer zufolge „nicht in den ‚Elementen` der Sinnesempfindung, sondern in ursprüngEbd. Vgl. ECW 12, S. 19. 34 ECW 13, S. 74. 35 Vgl. Hogrebe: Echo des Nichtwissens, S. 33 f. 36 Vgl. z.B. Hogrebe, Wolfram: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Système orphique de Iéna), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 17 oder ders.: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 110. 37 ECW 13, S. 74. 38 Ebd. 39 Ebd. 32 33
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lichen und unmittelbaren Ausdruckscharakteren“. 40 An dieser Stelle lässt sich nun auch eine Brücke zur Zeichentheorie sowie zu Cassirers Integration des Unmittelbaren, das in erkenntniskritischen Theorien bekanntlich unter Mythosverdacht steht, 41 schlagen: Ebenso wie Zeichen (im weitesten Sinne) immer sinnlich verfasst sind und sich in ihrer anfänglichen Verwendung auch konkret am sinnlich Unmittelbaren orientieren – bevor ihre Bedeutung autonom wird und sich letztlich nur noch auf andere Zeichen in ihrer funktionellen Bedeutung, also nur noch indirekt auf Unmittelbares beziehen 42 –, verliert sich auch das Bewusstsein niemals rein an die Ding- oder Sachwahrnehmung, sondern bleibt notwendig mit der Ausdruckswahrnehmung verbunden: Die konkrete Wahrnehmung löst sich von diesen Charakteren auch dort nicht völlig los, wo sie immer entschiedener und bewußter den Weg der reinen Objektivierung beschreitet. Sie geht niemals in einem bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten – wie hell oder dunkel, kalt oder warm – auf, sondern ist je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt; sie ist niemals ausschließlich auf das „Was“ des Gegenstands gerichtet, sondern erfaßt die Art seiner Gesamterscheinung – den Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden, der in dieser Erscheinung, rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen Deutung, liegt. 43
Jede Wahrnehmung ist folglich gefärbt oder gestimmt, auch für den Wissenschaftler im Rahmen einer Beobachtung im Experiment. Von dieser grundsätzlichen Gestimmtheit aus lässt sich nun auch besser verstehen, wieso Cassirer die Ausdruckswahrnehmung auch als Erfahrung des Du entgegen der Objektwahrnehmung als Erfahrung des Es bestimmt. Die Welt des Mythos ist eine lebendige und sich somit stetig ändernde Welt, die jedoch nicht nach dem Prinzip wissenschaftlicher Kausalität erfahren wird. Auf dieser Stufe ist der Mensch nicht nur durch seine je eigenen Stimmungen mit der Welt vertraut, sondern auch mit der Erfahrung, was Ebd. Sellars stellt das Problem des Unmittelbaren gewissermaßen hintan: „The something more is clearly what philosophers have in mind when they speak of [. . . ] ‚immediate experiences`. What exactly is the logical status of these [. . . ] ‚immediate experiences` is a problem which will be with us for the remainder of this argument. For the moment it is the propositional claim which concerns us.“ (Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, S. 40.) 42 Vgl. Hackenesch, Christa: Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, Hamburg: Meiner 2001, S. 118 f. 43 Ebd. 40 41
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es für Andere bedeutet, etwas zu erfahren. „Sie [die Ausdruckswahrnehmung] liegt überall dort vor, wo das ‚Sein`, das in der Wahrnehmung erfaßt wird, nicht sowohl ein Sein von Dingen als bloßen Objekten ist, sondern wo es uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt.“ 44 Die Ausdruckswahrnehmung ist unser Zugang zum Fremdpsychischen, welches uns so grundlegend vertraut ist, dass die Erfahrung von Objekten gerade die Erfahrung eines Nicht-Ich als Du vorauszusetzen scheint. Entgegen der erkenntnistheoretischen Skepsis bezüglich dieser Gewissheit betont Cassirer die Faktizität der Erfahrung des Fremdpsychischen: Wie eine solche Erfahrung von fremden Subjekten – eine Erfahrung vom „Du“ möglich ist: dies mag vielleicht als eine schwierige metaphysische oder erkenntnistheoretische Frage erscheinen. Aber diese Frage geht die reine Phänomenologie der Wahrnehmung, die es lediglich mit dem Tatbestand, mit dem quid facti, zu tun hat, nichts an und darf ihr ihren Weg nicht vorzeichnen. 45
Augenscheinlich an dieser Textstelle ist erneut Cassirers Verständnis von Phänomenologie: Ebenso wie die Fakta des objektiven Geistes an den Anfang gesetzt werden, um anschließend nach transzendental-analytischer Methode nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu fragen, wird auch für die Fragen des Bewusstseins und der Subjektivität, welche aufgrund der intrinsischen Verbundenheit von Sinnlichkeit und Sinn nur als Phänomenologie der Wahrnehmung thematisiert werden können, das quid facti an den Anfang gesetzt: Ungeachtet der erkenntnistheoretischen Aporien des Fremdpsychischen haben wir vermittelt durch uns selbst ein Verständnis vom Anderen als psychisch-lebendiges Wesen und davon abgeleitet auch erst von unbelebten Dingen. „[D]ie Dinge haben ein “Gesicht” u[nd] nur durch das “Gesicht” (physiognomisch) werden sie zu “Dingen”[.]“ 46 Der Gegenstand war immer erst Person, schwieg dann gewissermaßen zu lange und wurde letztlich zum Gegenstand. 47 ECW 13, S. 69. Ebd. 46 ECN 4, S. 189. 47 Diese Formulierung verdanke ich Wolfram Hogrebe, der sie in einer Vorlesung im Wintersemester 2006/7 zum Neukantianismus gebraucht hat. Losgelöst von Cassirer taucht diese Idee bei Hogrebe aber auch in einer zeitnahen Veröffentlichung auf: „Erst wenn das dunkle Du lange genug schweigt, gewinnt es gegenständlichen Charakter, wird das Du zum Es. Aber jedes Es kann wieder aufwachen ebenso wie ein Vulkan nach langer Zeit wieder ausbrechen kann. Dieses Aufwachen des Es ist manchmal ersehnt, manchmal befürchtet. Der eigentümliche Sachkontakt der Referenz ist also ursprünglich ein Personalbezug unter Unwissen.“ (Hogrebe, Wolfram: „Das dunkle Du“, in: ders.: 44 45
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Wie genau aber stellt Cassirer sich nun die Beseelung der Welt durch die Ausdruckswahrnehmung vor, wenn es sich auch hier nicht um eine Art ‚Aufpfropftheorie` oder animistischen Projektionsmechanismus 48 handeln soll? Cassirers Antwort ist das Gegebene, jedoch gerade nicht in empiristischer Manier: „Keineswegs besteht hier das ‚Gegebene` zunächst in einem bloß Sinnlichen, in einem Komplex von Empfindungsdaten, die erst nachträglich durch einen Akt der ‚mythischen Apperzeption` gewissermaßen beseelt und zu einem ‚Sinnhaften` gemacht werden.“ 49 Unsere Weltbilder resp. Interpretationswelten basieren auf der einen wahrnehmbaren Welt als Gegebenem, aber diese ist gerade nicht primär anhand von Objekten, Eigenschaften und Kausalität beschreib- und erfahrbar. „Die Welt hat, im ganzen wie im einzelnen, noch ein eigentümliches ‚Gesicht`, das in jedem Augenblick als Totalität erfaßbar ist, ohne daß es sich jemals in bloße allgemeine Konfigurationen, in geometrisch-objektive Linien und Umrisse, auflösen ließe.“ 50 Dieses Gegebene können wir uns, wenn auch nur im Rahmen einer idealistischen Theorie der Vermittlung, rekonstruktiv durch eine Analyse des mythischen Weltbildes und der Funktion der Ausdruckswahrnehmung erschließen, denn „[d]er Ausdruckssinn haftet [. . . ] an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfaßt und unmittelbar ‚erfahren`“. 51 Jede Form der Sinnhaftigkeit, auch in fortgeschrittenen autonomen Zeichensystemen, ist folglich, wenn auch nicht auf den Ausdruckssinn reduzibel, genealogisch mit diesem und somit der tiefsten und ursprünglichsten Schicht der Wahrnehmung verbunden.
Die Wirklichkeit des Denkens, S. 23.) Und auch vor Cassirer findet sich der Sache nach ein „dunkles Du“ schon bei Friedrich Nietzsche: „Der Substanzbegriff eine Folge des Subjekts-begriffs: nicht umgekehrt!“ (Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1885–1887, in: KSA 12, München: DTV 1999, S. 465.) 48 Stanley Cavell hat diese Vorstellung treffend als Empathie-Fehlschluss beschrieben: „This idea of knowledge may indeed have the whole process of perception [. . . ] backwards. It makes equal sense [. . . ] to suppose that the natural [. . . ] condition of human perception is of (outward) things [. . . ] as animated; so that it is the seeing of objects as objects ([. . . ] as non-animated) that is the sophisticated development. One should accordingly regard the view of others as based upon empathic projection as a case of the Empathetic Fallacy.“ (Cavell, Stanley: The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, New York: OUP, 1979, S. 441.) 49 ECW 13, S. 76. 50 Ebd. 51 Ebd.; meine Hervorhebung.
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4.3 Direktheit und Realität des Ausdruckserlebnisses Durch die Fundierung der Wahrnehmung im Ausdruckserlebnis also räumt Cassirer der Unmittelbarkeit, dem Gegebenen, im Rahmen einer Philosophie der Vermittlung einen notwendigen und weiter bestimmbaren Platz ein. Da die Analyse der sprachlich und wissenschaftlich erschlossenen Welt aus diesem Unmittelbaren notwendig ein vermitteltes Unmittelbares macht, gilt es, das Weltbild des mythisch wahrnehmenden und denkenden Menschen in den Blick zu nehmen. In diesem waltet noch kein „logische[r] Darstellungs- und Zeichensinn“, sondern „fast unumschränkt [. . . ] der reine Ausdruckssinn“. 52 Dieser lässt sich einerseits so bestimmen, dass der Mensch auf der Stufe des mythischen Bewusstseins keinen Unterschied zwischen Schein und Sein macht; das ihm Erscheinende ist alles, was es gibt. Weiterhin bestimmt Cassirer den reinen Ausdruckssinn als „physiognomische Individualität“: Jede Erscheinung im Wahrnehmungsbewusstsein weist einen eigenen „Charakter“ auf, der „die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden“ 53 trägt. Diese emotionale Sinnschicht ist jedoch keinem psychologischen Projektionsmechanismus, der auf einem Empathievermögen oder dergleichen basierte, geschuldet. Cassirer argumentiert, dass solch eine Annahme die „phänomenalen Gegebenheiten“ 54 umkehre: Durch diese müsste man „die Wahrnehmung zuvor ertöten [. . . ] um dann diesen toten ‚Stoff ` der Empfindung durch den Einfühlungsakt aufs neue zu beleben“. 55 Der Ausdruckssinn ist weder rein subjektiv noch rein objektiv, er kommt der Erscheinung direkt und unvermittelt als lebendige Wirklichkeit zu: „Als Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir als hinter der Erscheinung stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen.“ 56 Die Bestimmung der Ausdruckserlebnisse als (a) unmittelbar, (b) physiognomisch-individuell, (c) emotional und (d) direkt geht mit einer eminent realistischen Pointe einher. Die Ausdruckscharaktere verbürgen Ebd. ECW 13, S. 80. 54 ECW 13, S. 81. 55 Ebd. 56 ECW 13, S. 80. Auch in diesem Zusammenhang kann Nietzsche der Sache nach als Vorläufer von Cassirers Realismus der Ausdruckswahrnehmung gelesen werden: „Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das Thun und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet.“ (Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1887–1889, in: KSA 13, München: DTV 1999, S. 258.) 52 53
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gewissermaßen die Wirklichkeit, sie geben der Wahrnehmung „gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität“, 57 ohne die das Dasein, wie bereits oben zitiert, 58 „stumm“ bliebe. Sie liefern dasjenige präsentative Moment, das der naive, direkte oder auch natürliche Realismus im Ausgang von der Dingwahrnehmung in physikalischen Objekten verortet. Dieser Ansatz kann aber die Frage nach der Genealogie der eigenen „Bedeutungs- und Wertdifferenzen“, 59 wie sie im kausalen Denken beschlossen liegen, gar nicht beantworten. „Wirklichkeit könnte niemals aus der Wahrnehmung als bloßer Sachwahrnehmung gefolgert werden, wenn sie nicht in ihr, kraft der Ausdruckswahrnehmung, schon in irgendeiner Weise beschlossen läge und sich hier in einer durchaus eigentümlichen Weise manifestierte.“ 60 Die Ausdruckswahrnehmung ist das realistische und direkte Moment im Aufbau des Wahrnehmungsbewusstseins. 4.4 Ausdruck als Urphänomen Wie können wir aber überhaupt sicher sein, dass das Ausdrucksphänomen eine Tatsache ist, wenn das kausale Denken hier prinzipiell keine Anwendung finden kann? Cassirer antwortet darauf zunächst als Phänomenologe, wenn er den „Zugang zur Wirklichkeit“ 61 durch das „Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen ‚Verstehens`“ 62 bestimmt. Mit dem Begriff des Urphänomens geht nun aber kein Letztbegründungsanspruch einher. Vielmehr erhebt Cassirer damit einen transzendentalen Anspruch: [D]ächten wir die reinen Ausdruckserlebnisse schlechthin ausgelöscht und in ihrer Eigenheit und Besonderheit vernichtet, so wären damit auch große und weite Gebiete der „Erfahrung“ brachgelegt. Es ist kein Zweifel, daß zu ebendieser Erfahrung das Wissen nicht nur von Dingen, als physischen Gegenständen, sondern das Wissen von „fremden Subjekten“ ursprünglich gehört. 63
57 58 59 60 61 62 63
ECW 13, S. 81. Vgl. ECW 13, S. 82. ECW 13, S. 76. ECW 13, S. 82. Ebd. Ebd. ECW 13, S. 90.
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Zögen wir das Phänomen des Ausdrucks in Zweifel, entledigten wir uns gleichsam der Basis des kausalen Denkens, welches eine vermeintlich ‚gewissere` Realität als die des ausdrucksmäßigen Verstehens verspricht, denn an das „Urphänomen des Ausdrucks knüpft die Formung, wie sie sich in der Sprache, in der Kunst, im Mythos vollzieht, überall an“. 64 Ferner weist Cassirer darauf hin, dass die Gewissheit des Erlebens nicht geschlussfolgert werden kann, da sie nun einmal nicht primär Sache der Reflexion ist. „Es ist eine seltsame Vermessenheit der Theorie, es ist eine Art intellektueller Hybris, wenn sie vermeint, den eigentümlichen Gewißheitsmodus, der hier vorliegt, nicht nur aufweisen, sondern auch erzeugen zu können.“ 65 Möchte man dennoch eine philosophische Denkfigur bemühen, die dem Urphänomen des Ausdrucks am ehesten gerecht wird, müsste man in Anlehnung an Heideggers und Gadamers hermeneutischen Zirkel 66 oder Abels Zirkel der Interpretation 67 von einem Zirkel des Ausdruckserlebens sprechen. „Woher diese Tatsache selbst stammt und wie sie zu erklären ist: diese Frage kann hier nicht mehr gestellt werden; denn ihre Lösung müßte sich notwendig in einem Zirkel bewegen.“ 68 4.5 Bewusstheit und Unbewusstheit der Ausdruckserlebnisse Wie wir gesehen haben, markiert die Ausdrucksfunktion in Cassirers Subjektivitätstheorie genau diejenige Stelle, die den unmittelbaren und direkten Kontakt mit der Wirklichkeit sichert. Sie sorgt sowohl in wahrnehmungstheoretischer als auch in semantisch-semiotischer Hinsicht dafür, dass wir uns auf das Unmittelbare beziehen und nicht etwa auf Stellvertreter wie Sinnesdaten oder Ideen. Cassirer schreibt dem Urphänomen des Ausdrucks folglich eine „wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende“ 69 Funktionalität zu, die nicht nur der logischen Betrachtung der Welt, wie sie durch die Darstellungs- und reine BedeutungsfunkECW 13, S. 521. ECW 13, S. 90 f. In genau diesem Sinne ist Cassirers Philosophie auch keine Erzeugungstheorie à la Cohen mehr. Vgl. zum Begriff der Erzeugung bei Hermann Cohen: Munk, Reinier: „Der andere kritische Idealismus von Hermann Cohen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (59,2), 2011, S. 271–282. 66 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2001, S. 153 und Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999, S. 270–276. 67 Vgl. Abel, Günter: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York: de Gruyter, 1998, S. 162–184. 68 ECW 13, S. 104. 69 ECW 13, S. 91. 64 65
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tion möglich wird, sondern auch der mythisch-ästhetischen Anschauung vorausliegt. 70 Cassirer spricht in Bezug auf das Ausdrucksphänomen weiterhin vom „gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben“. 71 Diese Rede erinnert an Cassirers Charakterisierung der symbolischen Form des Mythos als „gemeinsame[r] Mutterboden“ 72 aller symbolischer Formen. Der fundierende Charakter, den Cassirer dem Ausdrucksphänomen zuspricht ist prima facie unstrittig: Alles Erleben der Subjektivität, also des subjektiven Geistes, gründet in der Ausdruckswahrnehmung; alle Weisen der Weltaneignung, also des objektiven Geistes, der Kultur gehen in funktionaler wie in diachroner Hinsicht auf den Mythos als objektives Pendant der Ausdrucksfunktion zurück. In der Cassirer-Forschung hat die eingangs zitierte Stelle jedoch für Diskussion gesorgt. Die Rede von der „gewissermaßen weltumspannende[n]“ Funktionalität der Ausdrucksfunktion erschiene in Analogie mit der Metapher des „Mutterbodens der Kultur“ unproblematisch, hätte Cassirer ihre fundierende Funktion nicht weiterhin als „sozusagen eine noch vormythische, vorlogische und vorästhetische“ 73 Relation zum Unmittelbaren, die auf diese Weise „[i]hre Sicherheit und ihre ‚Wahrheit`“ 74 ausmache, beschrieben. Guido Kreis hat an dieser Stelle zu Recht darauf hingewiesen, dass man gerne wüsste, was hier ‚sozusagen` heißt, da Cassirer nach eigenen Voraussetzungen nicht behaupten kann, dass die Ausdruckserlebnisse außerhalb des Symbolischen liegen. 75 Kreis deutet Cassirer an dieser Stelle so, dass die Präposition „vor“ auf singuläre geistige Vorkommnisse verweist, die ihren Platz als Ausdrucksphänomene innerhalb des Symbolischen haben. 76 So kohärent diese Interpretation auch entwickelt ist, hat sie meines Erachtens – zumindest als CassirerInterpretation – eine problematische Konsequenz: Kreis muss das gesamte Phänomen der Ausdruckswahrnehmung als unbewusste Erfahrung ausweisen. 77 Da es sich bei dieser Textstelle sowohl in systematischer als auch in exegetischer Hinsicht wirklich, wie Kreis schreibt, um „eine der Vgl. ebd. Ebd. 72 ECW 16, S. 266. Cassirer präzisiert weiter: „Alle Inhalte des Geistes [. . . ] sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-religiösen Bewußtsein.“ (Ebd.) Vgl. zur Metapher des Mutterbodens außerdem ECW 12, S. 1, 201 und 277. 73 ECW 13, S. 91; meine Hervorhebung. 74 Ebd. 75 Vgl. Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, S. 417 f, Anm. 11. 76 Vgl. ebd., S. 409–418. 77 Vgl. ebd., S. 416. 70 71
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heikelsten Darstellungen“ 78 Cassirers handelt, möchte ich im Folgenden (a) Kreis' Interpretation kurz rekonstruieren, (b) einige Probleme, die sich daraus ergeben, aufzeigen und schließlich (c) meine eigene Lesart der Ausdruckserlebnisse als durchaus bewusste, wenn auch nicht selbstreflexive Erfahrungen profilieren. (a) Kreis diskutiert die Frage nach dem Status der Ausdruckserlebnisse als Frage danach, ob es eine symbolfreie Wahrnehmungsschicht geben kann, und ordnet diesen Problemzusammenhang der ‚natürlichen` Symbolik zu. 79 Im Ausgang vom Problem der vielen Welten, das Cassirers symbolischer Pluralismus scheinbar aufwirft, stellt sich die Frage, welchen Platz die Idee der uninterpretierten Wirklichkeit bzw. das Unmittelbare in Cassirers Philosophie haben kann und wie man sich das Zusammenspiel mit den Ausdruckswahrnehmungen, die nach meiner Lesart den direkten und gewissermaßen natürlichen Anschluss 80 an die Realität bereitstellen, denken soll. Kreis zeigt zunächst auf, dass Cassirer kein Stufenmodell vertritt, dem zufolge die symbolischen Formen „auf die unmittelbare Wahrnehmung ‚angewendet` werden, sie ‚fixieren` und als Zeichen ‚festsetzen`“. 81 Solch ein Aufbau- und Schichtenmodell liefe Cassirers Kritik am Empirismus und der Sinnesdatentheorie sowie seinem Theorem der symbolischen Prägnanz völlig entgegen. Die Wahrnehmungserlebnisse des Ausdrucks können folglich nicht so verstanden werden, dass sie denjenigen selbstidentischen Bestand bilden, der durch differierende geistige Ausrichtungen lediglich unterschiedlich erfahren wird. Vielmehr ändert sich mit der geistigen Ausrichtung der Wahrnehmungsbestand selbst; genau das nennt Cassirer ‚symbolische Prägnanz`. Um zunächst das Problem der vielen Welten zu lösen, geht Kreis nun davon aus, dass den verschiedenen Wahrnehmungsmodi trotz allem etwas Gemeinsames zukommen müsse, das nun aber nicht als bloßes Substrat verstanden werden dürfe, und schlägt die Idee eines Übersetzungsprodukts vor. „Wir müssen einen gemeinsamen Wahrnehmungsbestandteil also als notwendige Bedingung für die Übersetzbarkeit der Beschreibungen Ebd., S. 417, Anmerkung 11. Für Kreis handelt es sich hierbei genau genommen um die Darstellung der ‚natürlichen` Symbolik. Ich komme darauf in diesem Kapitel sowie in Kapitel 5 ausführlich zurück. 79 Vgl. zur Rekonstruktion des Arguments für die Unbewusstheit der Ausdruckserlebnisse ebd., S. 409–418. 80 Ich schreibe hier bewusst ‚gewissermaßen`, da ich nicht wie Kreis der Meinung bin, dass Cassirer so generell die „Ausdruckswahrnehmungen als Fälle von ‚‚natürlicher` Symbolik`“ (ebd., S. 410 f.) behandelt. 81 Ebd., S. 411. 78
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annehmen.“ 82 Die Grundlage aller Wahrnehmungen sei also ein „symbolfreies Erlebnis“, 83 jedoch nur als „methodisches Konstrukt“. 84 Kreis argumentiert nun weiter, dass wir das Unmittelbare als methodisches Konstrukt genau deshalb einführen müssen, weil es unplausibel wäre, dass unser Geist nur Allgemeines repräsentiert; neben Bäumen im Allgemeinen könne man auch einen besonderen Baum repräsentieren. Kreis greift an dieser Stelle auf Kants Unterscheidung von repraesentationes communes und repraesentationes singulares zurück und weist Erstere der Darstellungs- und der reinen Bedeutungsfunktion, Letztere der Ausdrucksfunktion zu. Anhand dieses „technische[n] Sinn[s] von ‚Unmittelbarkeit`“ 85 möchte Kreis dem Repräsentationalismus-Vorwurf entgehen und zugleich zeigen, dass nach Cassirer nichts außerhalb des Symbolischen liegen kann: Die Funktion des Unmittelbaren liegt in der Singularität der Erfahrung als Erlebnis der Ausdruckswahrnehmung; sie ist nicht-begrifflich und soll so den Kontakt mit der Wirklichkeit sicherstellen. Ausdrucksgestalten dagegen, die durch die Darstellungs- und Bedeutungsfunktion vermittelt werden, seien sprachlich und begrifflich bestimmt, demnach Fälle von Allgemeinheit und folglich Fälle bewusster Erfahrung. Die Pointe besteht darin, daß die Ausdruckswahrnehmung zwar die Momente des unmittelbaren Kontaktes mit der uninterpretierten Wirklichkeit sind, daß wir durch sie aber gerade nicht in der Lage sind, die uninterpretierte Wirklichkeit in bewußter Weise zu erfahren. Denn sie sind unbewußte Erlebnisse. 86
(b) Folgende Probleme, die sich meiner Auffassung nach aus dieser Interpretation der Ausdruckswahrnehmung ergeben, möchte ich nun zunächst auflisten. Aus der gegenteiligen Annahme – Ausdruckswahrnehmungen sind bewusste Erlebnisse – folgt natürlich noch nicht die Lösung dieser Probleme, jedoch ist die hier vorliegende Gesamtinterpretation der Philosophie der symbolischen Formen von dem Bestreben getragen, auf all diese Fragen eine plausible Antwort zu geben. (1) Cassirer bezieht die Phänomenologie der Wahrnehmung nicht nur auf die Dingwahrnehmung, sondern ausdrücklich auch auf die Aus82 83 84 85 86
Ebd., S. 414. Ebd. Ebd. Ebd., S. 415. Ebd., S. 416.
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druckswahrnehmung. 87 Ferner spricht er von einer „Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse“. 88 Nach allem, was an dieser Stelle bereits über Cassirers Methodologie und sein Verständnis von Phänomenologie dargelegt wurde, stellt sich hier die Frage, wie man überhaupt eine, insbesondere bzgl. theoretischer Kategorien unvoreingenommene Phänomenbeschreibung liefern soll, handelte es sich im Falle der Ausdruckserlebnisse um gänzlich unbewusste Erlebnisse. Cassirer hat diesen Einwand selbst in einem anderen Kontext formuliert. In dem an unterschiedlichen Orten publizierten Vortrag 89 Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie (1937) wendet sich Cassirer bei der Diskussion des Zusammenhanges von Wahrnehmungsraum und geometrischem Raum gegen Hermann von Helmholtz' Theorie unbewusster Schlüsse, was auf den hier vorliegenden Sachverhalt restlos übertragbar ist: „Indem das Problem ins Unbewußte zurückgeschoben wird, wird es damit der schlichten phaenomenologischen Analyse entrückt: an Stelle einer Analyse des Tatbestandes erhalten wir eine Hypothese, die im besten Falle einer mittelbaren Verifikation fähig ist.“ 90 Kreis kann sich hinsichtlich des aufgespannten Problemfeldes einzig auf Cassirers transzendentale Vorgehensweise berufen, nicht aber auf eine Deskription der Phänomene. (2) Cassirer strebt die Analyse der Ausdruckswahrnehmung u.a. dadurch an, dass wir uns in den „lebendigen Mittelpunkt“ 91 mythischer Denk-, Anschauungs- und Handlungsvollzüge versetzen. Die Kategorien des Mythos umfassen beispielsweise die Auffassung mythischer Kausalität; ferner auch die Kategorien Raum, Zeit und Zahl. 92 Wie plausibel wäre es, den Menschen im Mythos als Wesen, das ausschließlich unbewusste Erfahrungen macht, zu rekonstruieren? 93 Vgl. ECW 13, S. 66 und ECW 24, S. 396. ECW 13, S. 74. 89 Vgl. hierzu Kapitel 6.2.6. 90 ECN 8, S. 157. 91 Ebd. 92 Vgl. den Abschnitt „Der Mythos als Denkform“ in ECW 12, S. 35–86. 93 An dieser Stelle könnte man einwenden, dass Mythos und Sprache überhaupt nicht säuberlich zu trennen sind und deswegen das Wahrnehmungserlebnis immer nach beiden Richtungen hin, also immer Dingwahrnehmung plus Ausdruckswahrnehmung, sich vollzieht. So könnte man versuchen, das bewusste Erleben des Menschen im Mythos zu retten. Ich lasse diesen Einwand in diachroner Hinsicht gelten, nicht jedoch in funktionaler: Die Dingwahrnehmung erreicht ihr Primat erst im Auseinandertreten von Mythos und Logos. Dem Prozess dieser Verschiebung müssten aber Grade der Bewusstwerdung entsprechen. Das Modell ‚stets unbewusste Ausdruckswahrnehmung plus bewusste Dingwahrnehmung` wird weder Cassirers Ausführungen zu den Über87 88
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(3) Cassirer behauptet, wenn auch in für ihn ungewohnt spekulativer Absicht, dass wir eine Brücke zum tierischen Bewusstsein entlang der Ausdruckswahrnehmung schlagen könnten. 94 Es ist davon auszugehen, dass Cassirer hinsichtlich dieser Überlegung in erster Linie an höher entwickelte Tiere denkt, da er meist auf die Primatenforschung Köhlers verweist. 95 Wie plausibel wäre es angesichts dessen, die Differenz zwischen Menschen und Tieren entlang der harten Unterscheidung bewusst-unbewusst, wie dies bspw. auch McDowell möchte, 96 festzumachen? Cassirer kennt ja durchaus einen kategorialen Unterschied zwischen Mensch und Tier und macht diesen in erster Linie an der Fähigkeit zur Repräsentation im Sinne der Darstellungsfunktion fest. 97 Sollte man nun sagen, dass Tiere nur Singuläres repräsentieren können und deshalb unbewusst leben? Wäre es nicht plausibler, Tieren zuzugestehen, dass sie Verständnis für Ausdruck besitzen können und in diesem Falle auch Sinnhaftes, nämlich unmittelbar Sinnhaftes, erfahren und folglich Bewusstsein, zumindest in einer Vorstufe menschlichen Bewusstseins, haben? (4) Hat man den Einwand des Repräsentationalismus, der sich, wie Cassirer auch selbst sieht, 98 unmittelbar stellt, wenn man behauptet, dass sich das Symbolische über alle Wahrnehmungsschichten erstreckt, wirklich ausgeräumt, wenn man den direkten Kontakt mit der Wirklichkeit als methodisches Konstrukt und nicht als bewusstes Erleben ausweist? Besteht Cassirers Strategie nicht vielmehr darin, die Unmittelbarkeit am Ausdruckssinn festzumachen? So ließe sich behaupten, dass menschliche Lebewesen einerseits zwar keine nicht-geistigen Erfahrungen machen, andererseits die ursprüngliche Sinnschicht, die vielleicht auch gewisse Tiere teilen, zunächst ganz der Unmittelbarkeit entspringt. Die Erfahrung bei-
gängen innerhalb einer symbolischen Form noch denen von einer symbolischen Form zu einer anderen gerecht. 94 Vgl. ECW 13, S. 72. 95 Vgl. bspw. ECW 11, S. 136, Anm. 23 und ECW 13, S. 72. Die digitale Ausgabe der Gesammelten Werke listet insgesamt 65 Fundstellen. 96 „What we share with dumb animals is perceptual sensitivity to features of the environment. We can say there are two species of that, one permeated by spontaneity and another independent of it.“ (McDowell: Mind and World, S. 69.) McDowell setzt also Spontaneität mit Sprachfähigkeit gleich. Cassirer setzt dagegen das spontane Vermögen der produktiven Einbildungskraft unterhalb der Sprache an, und zwar m.E. genau deshalb, um nicht auf eine zu starre Trennung zwischen sprachbegabten und nichtsprachbegabten Tieren festgelegt zu sein. 97 Vgl. ECW 23, S. 34 f. 98 Vgl. ECW 13, S. 51.
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spielsweise des Bedrohlichen käme demnach zustande, weil die Situation im Horizont eines Minimalsinnes genau das realiter ist: bedrohlich. (5) Kreis geht davon aus, dass Cassirer die Ausdruckswahrnehmungen als Fälle der ‚natürlichen` Symbolik behandelt, stellt jedoch abschließend fest, dass so das Problem der vielen Welten gar nicht gelöst werden kann. „Sie ist also nicht die naturgegebene, in den Ausdruckserlebnissen mitgelieferte reale Grundlage, sondern das konstruktive Ergebnis aller symbolisch vermittelten Erfahrung.“ 99 Die Einheit der Welt sei nur über die Systemkonstruktion der symbolischen Formen als Ergebnis zu retten. War Cassirers Pointe aber nicht vielmehr, dass die Symbolfunktion als Einheit von Ausdrucks-, Darstellungs- und reiner Bedeutungsfunktion sicherstellt, dass wir uns immer auf genau die eine Welt, in der wir zeichenhaft handeln, beziehen? Es ist m.E. plausibler, davon auszugehen, dass die Einheit der Welt bereits anfänglich durch die funktionale Pragmatik der Zeichenverwendung sichergestellt ist und nicht retroaktiv durch eine Systemkonstruktion gewiss ist. (6) Auch wenn Cassirer Kants logische Unterscheidung zwischen singulärer und allgemeiner Repräsentation in diesem Zusammenhang nicht explizit aufgreift, so spricht er doch zunächst von wahrer Allgemeinheit, die der Ausdrucksfunktion insgesamt zukomme. Warum sollte er an dieser Stelle also implizit noch einmal Singularität und Allgemeinheit unterscheiden? (c) Ich schlage nun vor, der aufgeworfenen Dichotomie bewusst-unbewusst weiter nachzugehen, jedoch nicht sofort im Übergang von der Ausdrucksfunktion zur Darstellungsfunktion, sondern innerhalb des Ausdrucksgeschehens. In der Philosophie der symbolischen Formen benutzt Cassirer bereits implizit eine Differenzierung, die er jedoch erst im Spätwerk explizit benennt. In der zweiten Studie der Schrift Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), die den Titel Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung trägt, führt Cassirer die Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Ausdruck ein. 100 Er schreibt: Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, S. 418. Diese Unterscheidung wird in der Sekundärliteratur so gut wie immer übersehen. Einzige mir bekannte Ausnahmen sind Hamada, Yosuke: Symbol und Gefühl. Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie, Hamburg: Meiner 2016, S. 72 f und Meuter, Norbert / Schwemmer, Oswald: „Die expressive Existenz des Menschen zwischen Natur und Kultur“, in: Gunsenheimer, Antje (Hg.): Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation, Bielefeld: Transcript 2007, 99
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Die Berufung auf die überzeugende Kraft der Ausdruckswahrnehmung reicht für sich allerdings nicht hin, um die Zweifel zu zerstreuen. Wir müssen vielmehr ein anderes Argument hinzunehmen; wir müssen an dem, was wir Ausdruck nennen, zwei verschiedene Momente unterscheiden. Einen „Ausdruck der Gemütsbewegungen“ gibt es auch in der tierischen Welt. Charles Darwin hat ihn in einem eigenen Werk eingehend studiert und beschrieben. Aber alles, was wir hier feststellen können, ist und bleibt passiver Ausdruck. Im Bereich des menschlichen Daseins und der menschlichen Kultur aber begegnet uns plötzlich ein Neues. Denn alle Kulturformen, so verschieden sie voneinander auch sein mögen, sind aktive Ausdrucksformen.
Auf Darwins Schrift The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) hatte Cassirer bereits im ersten Band seines Hauptwerkes hingewiesen und die tierischen Ausdrucksbewegungen dahingehend gekennzeichnet, dass sie „eine erste Grenzscheide der geistigen Entwicklung“ markieren. Sie stehen einerseits in der „Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens“, gehen andererseits aber über dieses hinaus, indem durch die „Hemmung und Rückwendung“ der Triebe „eine neue Bewußtheit ebendiese[r] Triebe[. . . ] erwacht“. 101 Cassirer bezeichnet das tierische Phänomen des Ausdrucks nun als passiven Ausdruck und grenzt davon den spezifisch menschlichen Ausdruck als aktiven Ausdruck ab. Ausdrücklich assoziiert Cassirer hier das Erwachen einer ersten Form des Bewusstseins resp. der Bewusstheit bereits mit dem passiven Ausdruck, zu dem auch Tiere fähig sind. Man muss dabei nicht sofort an Primaten denken, auch die unterwürfige Geste eines Hundes oder das Zähnefletschen einer Raubkatze fallen unter den Begriff des passiven Ausdrucks. Wenn Cassirer also schon beim passiven Ausdruck von Bewusstheit spricht, liegt es nicht gerade nahe, die Ausdruckswahrnehmungen des Menschen, die als symbolische Tätigkeit in den Bereich des aktiven Ausdrucks fallen, als unbewusste Erfahrungen zu qualifizieren. Vielmehr liegt es nahe, dass das menschliche Bewusstsein im Übergang vom passiven zum aktiven Ausdruck das Licht der Welt erblickt. Und tatsächlich beschreibt Cassirer diesen Übergang im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen als einen natürlichen 102 Übergang: S. 274 f. Zur Deutung der ‚natürlichen` Symbolik als passiver Ausdruck vgl. Kapitel 5.4 der vorliegenden Arbeit. 101 Alle drei Zitate ECW 11, S. 125. 102 Einen ähnlichen Gedanken verfolgt Hegel, wenn er vom „ahnungsvolle[n] [. . . ] Verhalten“ (Hegel, G. W. F.: Philosophie der Geschichte, Stuttgart: Reclam 1961, S. 334 ff.) in Bezug auf den Pan spricht, worauf Wolfram Hogrebe hingewiesen hat: „He-
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Der Sachwelt, die ihn umfängt und beherrscht, stellt der Geist eine selbständige Bildwelt entgegen – der Macht des „Eindrucks“ tritt allmählich immer deutlicher und bewußter die tätige Kraft zum „Ausdruck“ gegenüber. Aber diese Schöpfung trägt freilich selbst noch nicht den Charakter der freien geistigen Tat, sondern den Charakter der naturhaften Notwendigkeit, den Charakter eines bestimmten psychologischen „Mechanismus“ an sich. Eben weil auf dieser Stufe noch kein selbständiges und selbstbewußtes, frei in seinen Produktionen lebendes Ich vorhanden ist, sondern weil wir hier erst an der Schwelle des geistigen Prozesses stehen, der dazu bestimmt ist, „Ich“ und „Welt“ gegeneinander abzugrenzen, muß die neue Welt des Zeichens dem Bewußtsein selbst als eine durchaus „objektive“ Wirklichkeit erscheinen. 103
Wenn Cassirer an dieser Stelle von Sachwelt redet, ist freilich nicht die objektive Welt in Form von Fakten, welche nur propositional repräsentiert werden können, gemeint. Vielmehr geht es hier um das Unmittelbare, die Welt der Naturnotwendigkeit, in Abgrenzung zum Symbolischen, das Cassirer hier als Bildwelt bezeichnet und das dem Bewusstsein zunächst gleichermaßen objektiv erscheint. Das Symbolische ist zunächst deshalb bildlich, weil der noch aus dem Tierreich stammende passive Ausdruck zunächst nur nachahmende Gebärde ist. Bei höher entwickelten Tieren kommt darüber hinaus die hinweisende Gebärde hinzu, die ebenfalls auf Unmittelbares bezogen bleibt und sich „biologisch und entwicklungsgeschichtlich aus der Greifbewegung“ 104 ableitet. Es ist für Cassirer gerade die hinweisende Geste, die in der Entwicklung zur sprachlichen Deixis den Umschlag von der Mimesis zur Darstellung markiert 105 und so zum aktiven Ausdruck wird, zu dem kein Tier mehr fähig ist. 106 Auf dem Weg dorthin muss das Bild „der Sache gegenüber einen eigentümlichen Primat und Vorrang behaupten. Denn was im Gegenstand rein ausdrucksmäßig ‚ist`, das ist im Bilde nicht aufgehoben und vernichtet, sondern es tritt in gel erläutert den Ursprung der Sinnproduktion, kurz gesagt, als Umschlag des sinnlichen Reizes in einen reizenden Sinn. Dies geschieht, indem der Reiz Veranlassung einer Öffnung nach außen wird, einer fragend vernehmenden Wahrnehmungshaltung.“ (Hogrebe, Wolfram: Heinrich Heine und Europa, Erlangen / Jena: Palm und Enke 1993, S. 29.) 103 ECW 12, S. 29 f. 104 ECW 11, S. 125. 105 Vgl. ECW 11, S. 129. 106 Die Ursache hierfür sieht Michael Tomasello darin begründet, dass Tiere im Gegensatz zu Menschen ihre Intentionalität nicht teilen können. Vgl. Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 362–365.
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ihm vielmehr in gesteigertem, in potenziertem Maße hervor.“ 107 Die Welt erwacht im Ausdruck für das Bewusstsein erst zum Leben. Im passiven Ausdruck ist das Bewusstsein noch vollständig dem präsenten Unmittelbaren ausgeliefert, bereitet aber eine Verselbständigung der Bewusstseinsinhalte durch Verdichtung des Erlebten vor. „Das Bild befreit dieses Sein des Ausdrucks von allen bloß zufälligen und akzidentellen Bestimmungen und faßt es gleichsam in einem Brennpunkt zusammen.“ 108 Im aktiven Ausdruck ist so einerseits das Symbolische als Repräsentationsvermögen im weitesten Sinne angelegt, wenn auch andererseits jede Erfahrung von Ausdruck eine Erfahrung des Unmittelbaren ist; und zwar eine bewusste und präsente Erfahrung vom Unmittelbaren. Die Ausdrucksfunktion ist folglich genau deshalb „sozusagen“ vormythisch, vorlogisch und vorästhetisch, weil sie im passiven Ausdruck einen entwicklungsgeschichtlichen Vorläufer hat, der sich auch im Tierreich wiederfindet. Sie ist „weltumspannend“, weil sie genetisch und transzendental betrachtet das Sprachrohr der einen Welt ist, die wir symbolisch prinzipiell nie wieder derart repräsentieren können, wie sie sich im Antlitz der Ausdruckswahrnehmung unmittelbar präsentiert. Es bleibt abschließend zu fragen, wie es zusammengehen kann, dass sich einerseits im Ausdrucksphänomen der Realgrund der Welt als lebendige Wirklichkeit unmittelbar zeigt, wenn doch andererseits jede symbolische Tätigkeit ein Akt der Vermittlung ist. Cassirer hat sich diese Frage selbst gestellt, wenn er schreibt: „Können wir im ‚Ausdruck` eine besondere Art und Richtung des ‚Symbolischen` sehen, ohne damit seine Besonderheit, seine unvertauschbare Eigenart zu verkennen?“ 109 Er antwortet hierauf mit einer erhellenden Erläuterung der symbolischen Prägnanz: „Wir [. . . ] haben dem Symbolbegriff von Anfang an eine andere und weitere Bedeutung gegeben. Wir versuchten mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, [. . . ] in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung [. . . ] eines Sinnes darstellt.“ 110 Die Pointe liegt nun gerade darin, dass Sinnlichkeit und Sinn im Ausdruckserlebnis noch nicht entzweit sind. „Der Ausdruckssinn haftet vielmehr an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfaßt und unmittelbar ‚erfahren`.“ 111 Die Ausdruckswahrnehmung ist als Elementarschicht des Bewusstseins symbolisch prägnant und Cas107 108 109 110 111
ECW 13, S. 76. ECW 13, S. 77. ECW 13, S. 105. Ebd. ECW 13, S. 76.
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sirer spricht im abschließenden Teil des Kapitels Symbolische Prägnanz ausschließlich von bewusster Wahrnehmung. 112 Um hier von Bewusstheit zu sprechen, bedarf es nach Cassirer jedoch nicht, dass Sinnlichkeit und Sinn „schon scharf auseinandergetreten sind, daß sie in ihrer Andersheit und Gegensätzlichkeit gewußt werden. Diese Form des Wissens bezeichnet nicht den Anfang, sondern erst das Ende der Entwicklung.“ 113 Cassirer verknüpft mit den drei Symbolfunktionen anscheinend auch unterschiedliche Wissensformen. 114 4.6 Die Dialektik der Ausdruckserlebnisse Cassirers Theorie des Ausdrucks soll nun mit einer Analyse der Ausdruckswahrnehmungen im Mythos abgeschlossen werden. Im letzten Teil wurde u.a. dargestellt, in welcher Weise die Ausdruckserlebnisse mit einem natürlichen Geschehen zusammenhängen. Im Folgenden gilt es nun zu skizzieren, wie das mythische Bewusstsein derart Erfahrungen macht, dass dem Umschlag vom passiven Ausdruck zum aktiven Ausdruck, dem Umschlag vom Reich der Natur ins Reich der Kultur, letztlich ein weiterer Umschlag von der Ausdrucksfunktion zur Darstellungsfunktion folgt. Dieser nicht mehr natürliche, sondern kulturelle Prozess vollzieht sich Cassirer zufolge dialektisch, freilich aber auch gebunden an materielle Ausdrucksmodalitäten: Die einzelnen Stufen seiner Entwicklung schließen sich nicht einfach aneinander an, sondern sie treten sich vielmehr, oft in scharfer Gegensätzlichkeit, gegenüber. Der Fortgang besteht darin, daß gewisse Grundzüge, gewisse geistige Bestimmtheiten der früheren Stufen nicht nur weitergebildet und ergänzt, sondern daß sie verneint, ja daß sie schlechthin vernichtet werden. 115
Wie genau kommt es aber überhaupt zum Widerspruch der geistigen Bestimmungen? Zunächst ist es hilfreich, sich klarzumachen, wie Cassirer das ausdruckshafte Erleben auffasst. Er bestimmt dieses als „ein ErleiVgl. ECW 13, S. 232. ECW 13, S. 105. 114 Vgl. Möckel, Christian: „Symbolische Formen als Wissensformen?“, in: Endres / Favuzzi / Klattenhoff (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen, S. 23–34, der im Hinblick auf die Frage nach unterschiedlichen Wissensformen zu einem zurückhaltenderen Ergebnis kommt. 115 ECW 12, S. 275. 112 113
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den“: 116 „[A]lles Erleben [. . . ] ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen“. 117 Das menschliche Bewusstsein ist zunächst ein „Spielball zwischen all den Ausdrucksmomenten, die sich ihm an bestimmten Einzelerscheinungen darbieten und die es, plötzlich und ohne Widerstand, überfallen“. 118 Solche Ausdruckswahrnehmungen sind z.B. Stimmungen, Farben, Gefühle und Gestalten, die der Welt ihr „mythisches ‚Antlitz`“ 119 verleihen. Der Mensch erfährt die Wirklichkeit zunächst als dämonisch, denn „[u]nvermittelt kann der Eindruck des Heimischen, des Vertrauten, des Schirmenden und Schützenden in sein Gegenteil, in das Unzugängliche, das Ängstigende, Dumpf-Grausige übergehen“. 120 Obwohl der Mensch diesem Geschehen zunächst wenig entgegenzusetzen hat, bleibt es nicht beim reinen Erleben der „aus dem Nichts auftauchenden und wieder ins Nichts zergehenden mythischen Elementarerlebnisse[. . . ]“. 121 Die Einbildungskraft des menschlichen Geistes wertet zunächst und fasst dann die Erlebnisse zu Gestalten zusammen: „Der Ausdruck wird nicht nur erlebt, sondern er wird gleichsam charakterologisch gewertet. Es sind bestimmte, relativ gleichbleibende physiognomische Züge, an denen der Dämon oder Gott erkannt und von anderen unterschieden wird.“ 122 Diese ersten mythischen Gebilde „entstehen nicht als Erzeugnisse der Betrachtung [. . . ], um sich ihrer bleibenden Merkmale [. . . ] zu versichern, sondern als Ausdruck einer einmaligen, vielleicht niemals gleichartig wiederkehrenden Bewußtseinslage, aus einer momentanen Spannung oder Entspannung des Bewußtseins“. 123 Auch sind die ersten Naturgeister keinesfalls „Personifikationen allgemeiner Naturkräfte“, 124 sondern vielmehr „mythische Objektivationen einzelner Eindrücke“. 125 Ihre Macht richtet ECW 13, S. 83. Jürgen Habermas weist anhand dieser Bestimmung eine Gemeinsamkeit im Denken Aby Warburgs und Ernst Cassirers nach: „Freilich kondensiert sich nicht irgendein objektiver Anschauungsinhalt zur Bedeutung des Symbols, sondern der Erfahrungsgehalt in seiner affektiven Relevanz für ein hoffendes und leidendes, ein interessiertes und besorgtes Wesen. Das erklärt den ‚leidenschaftlichen` Charakter, den Warburg in den frühen Ausdrucksgebärden entdeckte.“ (Habermas, Jürgen: „Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg“, in: ders.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 20.) 117 Ebd. 118 ECW 13, S. 102. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 ECW 12, S. 236. 124 Ebd. 125 Ebd. 116
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Zur Theorie des Ausdrucks
sich nicht nach allgemeinen Vorstellungen über das Geschehen der Natur, sondern nach der „elementaren Gewalt“ 126 ihres Eindrucks. Um diesen gefühlten Spannungen Herr zu werden, muss das Bewusstsein seine Inhalte konstant weiterbilden oder verwerfen. Und diese Dialektik läßt sich nicht nur in der Umbildung der Inhalte des mythischen Bewußtseins aufweisen, sondern sie beherrscht auch dessen „innere Form“. Auch die Funktion des mythischen Gestaltens als solche wird durch sie ergriffen und von innen her umgewandelt. Diese Funktion kann sich nicht anders betätigen als dadurch, daß sie fortschreitend immer neue Gestalten aus sich hervorgehen läßt – als objektive Ausdrücke des inneren und des äußeren Universums, wie es sich dem Blick des Mythos darstellt. 127
Bevor der Mensch die Freiheit darstellender Inhalte durch die symbolische Form der Sprache erreicht und so ein „unterscheidungsfähiges Bewußtsein“ 128 ausbildet, hat ein „mythologischer Prozeß, der über die Köpfe der Beteiligten hinweg das splitting zwischen Subjekt und Objekt zum Resultat hat“, 129 stattgefunden. Die Entzweiung von Subjekt und Objekt ist dann auch diejenige Voraussetzung, welche die „Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes“ 130 und letztlich erst den Bruch mit dem Mythos durch den Logos möglich macht. Der Mensch lebt im Mythos zwar nicht unbewusst, aber auch nicht frei: „Diese Dynamik ist der mythologische Prozeß, nicht unsere Tat, aber auch nicht ohne uns möglich. Wir sind hier nicht die Akteure, aber auch nicht nur die Erleidenden, sondern im Sinne der griechischen Grammatik Medien dieses Geschehens.“ 131
Ebd. ECW 12, S. 275. 128 Hogrebe, Wolfram: „Sein und Emphase. Schellings Theogonie als Anthropogonie“, in: ders.: Die Wirklichkeit des Denkens, S. 41. Hogrebe rekonstruiert an dieser Stelle, wie nach Schelling der menschliche Geist in der Natur erwacht. Die sachliche Nähe zwischen Cassirers und Hogrebes Denken lässt sich leicht auch auf Schelling übertragen, den Cassirer ausführlich, insbesondere im Band zum Mythos, rezipiert. Vgl. ECW 12, S. 1–33, 205–235, 290. 129 Ebd. 130 ECW 11, S. 33. Die Entzweiung ist somit auch Voraussetzung der Fähigkeit zur Repräsentation im engeren Sinn. 131 Hogrebe: „Sein und Emphase“, S. 41. 126 127
Kapitel 5 ‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
5.1 Cassirers Versuch einer Definition Den Begriff „natürliche Symbolik“ hat Cassirer nur ein einziges Mal verwendet, und zwar im vierten Abschnitt der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen; 1 und doch hat er sich in der Cassirer-Forschung als ein terminus technicus etabliert, 2 der ein Begriffspaar mit „künstliche Symbolik“ bildet. 3 Dass die künstliche Symbolik auf die symbolischen Formen – also in erster Linie Mythos, Sprache und Wissenschaft – verweist, ist unstrittig. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang vom freien oder auch symbolischen Gebrauch der Zeichen, 4 welche die jeweilige symbolische Form prägen. Was dagegen genau mit ‚natürlicher` Symbolik gemeint ist und wie genau sie in Relation zur künstlichen steht, ist in höchstem Maße umstritten. Man ist sich zwar einig, dass es bei dieser Thematik um das Bewusstsein geht, allerdings schlägt jeder Interpret und jede Interpretin eine ‚lediglich` aus der eigenen Forschungsperspektive entwickelte und mit den anderen Interpretationen sowie der Textgrundlage letztlich unverträgliche Lesart vor. Ich möchte im Folgenden Cassirers ‚Definition` 5 der ‚natürlichen` Symbolik vorstellen, daran anschließend sechs einschlägige Positionen der Vgl. ECW 11, S. 39 ff. Vgl. Recki, Birgit: Cassirer. Grundwissen Philosophie, Stuttgart 2013, S. 114. 3 Besonders auffallend – und hierauf wurde bislang nicht hingewiesen – ist die Tatsache, dass Cassirer „‚natürlich[e]`“ in Anführungsstriche setzt, dies aber bei „künstlich[e]“ unterlässt. Einzige Ausnahme ist die Stelle, an der er die künstliche Symbolik als in Anführungsstrichen „‚willkürlich`“ im obigen Sinne von ‚frei` oder auch „symbolisch“ (dies jedoch wiederum ohne Anführungszeichen) charakterisiert. (ECW 11, S. 39.) Allein dieser Umstand deutet darauf hin, dass es sich bei der ‚natürlichen` Symbolik eher nicht um einen terminus technicus handelt, sondern um den Versuch einer Präzisierung eines anderen (elementaren) Begriffs. Ich behalte auch deshalb Cassirers Schreibweise in Anführungsstrichen im Folgenden bei. 4 Vgl. ECW 11, S. 39 f. 5 Die einleitende Diagnose spricht dafür, dass Cassirer die ‚natürliche` Symbolik definitorisch einführt. Was dagegen spricht, dass es sich hier überhaupt um eine Definition handelt, ist der Umstand, dass Cassirer auf diesen Wortlaut an keiner Stelle seines Werkes mehr zurückkommt. Die Definition bleibt daher dem ersten Anschein nach vage. Aufgelöst wird diese Spannung durch die hier profilierte Lesart der ‚natürlichen` Symbolik als passiver Ausdruck (Kapitel 5.4). 1 2
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
Sekundärliteratur diskutieren und schließlich eine – soweit möglich – ‚synthetische` Lesart profilieren. Dies soll textnah in Form eines close readings und insbesondere unter Einbeziehung des Cassirerschen Spätwerks geschehen, das bislang noch niemand zur Aufhellung der ‚natürlichen` Symbolik zu Rate gezogen hat. Schließlich soll diese auf das Ganze der Philosophie der symbolischen Formen und insbesondere auf das, was ich Cassirers naturalistischen Impetus 6 nennen möchte, bezogen werden. Mit dieser Strategie möchte ich versuchen zu vermeiden, dass dem allzu pluralistischen Deutungsangebot nur erneut ein weiteres hinzugefügt wird. Cassirer leitet die Philosophie der symbolischen Formen im ersten Band anhand seiner Methode (1), des Problems der Bedeutung und der Zeichen (2), des Problems der Repräsentation (3) und des Problems der Abbildtheorie (4) ein. 7 Der vierte Abschnitt der Einleitung, überschrieben mit „Die ideelle Bedeutung des Zeichens. – Die Überwindung der Abbildtheorie“, 8 führt gleich zu Beginn die Idee der ‚natürlichen` Symbolik an. Dort heißt es: Auf die „natürliche“ Symbolik, auf jene Darstellung des Bewußtseinsganzen, die schon in jedem einzelnen Moment und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens angelegt ist, müssen wir zurückgehen, wenn wir die künstliche Symbolik, wenn wir die „willkürlichen“ Zeichen begreifen wollen, die das Bewußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos erschafft. Die Kraft und Leistung dieser mittelbaren Zeichen bliebe ein Rätsel, wenn sie nicht in einem ursprünglichen, im Wesen des Bewußtseins selbst gegründeten geistigen Verfahren ihre letzte Wurzel hätte. 9
Erläuternd dazu, dass die ‚natürliche` Symbolik gewissermaßen die Entfaltungsbedingungen der künstlichen Symbolik, also des autonomen Zeichengebrauchs liefert, schreibt Cassirer:
Vgl. auch das Vorwort des Übersetzers zur englischen Übertragung von Zur Logik der Kulturwissenschaften, der von einem „perfectly consistent ‚idealistic naturalism`“ spricht. (Cassirer, Ernst: The Logic of the Humanities, übers. von Clarence Smith Howe, New Haven: YUP 1961, S. X.) Von einem „kritischen Naturalismus“ als Methodologie einer philosophischen Anthropologie, die sich auf Cassirer berufen kann, sprechen Meuter / Schwemmer: „Die expressive Existenz des Menschen zwischen Natur und Kultur“, S. 282 f. 7 Vgl. ECW 11, S. 1–49. 8 ECW 11, S. 39. 9 Ebd. 6
Cassirers Versuch einer Definition
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Daß ein Sinnlich-Einzelnes [. . . ] zum Träger einer rein geistigen Bedeutung werden kann – dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird. 10
Hier nimmt Cassirer erneut die Metaphern des Wurzelns und des Angelegtseins auf und präzisiert, dass die Bedeutungsfunktion schon vor dem freien Gebrauch von Zeichen, gewissermaßen vorsprachlich, im Bewusstsein angelegt sein muss, so dass man nicht in Erklärungsnot gerät, wie denn Bedeutung durch Zeichengebrauch in die Welt kommt, wenn jener diese doch schon vorauszusetzen scheint. Mit Blick auf die künstliche Symbolik und unter Bezug auf die Bewusstseinsthematik führt Cassirer weiterhin aus: Damit wird die „natürliche“ Symbolik, die wir im Grundcharakter des Bewußtseins selbst angelegt fanden, auf der einen Seite benutzt und festgehalten, während sie auf der anderen Seite überboten und verfeinert wird. Denn in dieser „natürlichen“ Symbolik war es immer ein gewisser Teilbestand des Bewußtseins, der, aus dem Ganzen herausgehoben, dennoch die Kraft behielt, ebendieses Ganze zu vertreten und es durch diese Vertretung im gewissen Sinne wiederherzustellen. Ein vorhandener Inhalt besaß die Fähigkeit, außer sich selbst zugleich ein anderes, nicht unmittelbar Gegebenes, sondern nur durch ihn Vermitteltes vorstellig zu machen. 11
Hier klingt es nun so, als sei die ‚natürliche` Symbolik so etwas wie eine natürliche Anlage des Bewusstseins, an das die geistigen Funktionen des symbolisch verfassten Bewusstseins anknüpfen und das sie in freier Gestaltung weiterentwickeln können. Kommen wir aber nun zunächst auf die verschiedenen Interpretationen dieser überschaubaren Textlage zu sprechen.
10 11
Ebd. ECW 11, S. 40.
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
5.2 Sechs Deutungsversuche der Forschungsliteratur Oswald Schwemmer deutet die ‚natürliche` Symbolik als das reine Faktum des Bewusstseins und hebt dessen Doppelcharakter des einerseits ausdrucksmäßigen Umbildens der sinnlichen Eindrücke sowie deren Einordnung in ein repräsentationales Netzwerk hervor: Die „natürliche Symbolik“ besteht darin, daß ein „Netzwerk mannigfacher Beziehungen“ zwischen den einzelnen Bewußtseinsinhalten, die als „Sonderinhalte“ oder „Teilbestand“ „aus dem Ganzen herausgehoben“ sind, gebildet wird. [. . . ] Man kann sich diesen Prozeß der „primären Formung“ dadurch verdeutlichen, daß man ihn in seinem Doppelcharakter erfaßt. Er gründet nämlich in zwei „Urphänomenen“, die ihn als zwei sich miteinander verschränkende Impulse prägen. Das eine „Urphänomen“ ist das „des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen ‚Verstehens'“. [. . . ] Aber für Cassirer ist auch die Repräsentation, das „symbolische Grundverhältnis“, „gleich dem des reinen Ausdrucks, als echtes Urphänomen anzuerkennen“. 12
Die beiden Aspekte Ausdruck und Repräsentation sind zweifelsohne zentral für die Thematik, aber Schwemmer reformuliert bzw. zitiert hier lediglich den schon bekannten Textbestand Cassirers. Was genau nun die natürlichen von den künstlichen Zeichen unterscheidet und wieso sie aneinander anschließen können, bleibt unklar. Insbesondere bleibt fraglich, ob für Cassirer alle symbolischen Verhältnisse als repräsentational im engeren Sinne zu charakterisieren sind. Ich möchte dies für nicht-propositionale Formen des Verstehens, wie sie mir im Kontext der Ausdrucksfunktion charakteristisch erscheinen, bestreiten. Vielmehr scheint mir die Idee einer ‚natürlichen` Symbolik darauf hinzuweisen, dass es präsymbolische Verhältnisse gibt, die natürlich sind und deshalb auch im Tierreich zu finden sein müssen – symbolische Verhältnisse, die menschliche und nicht-menschliche Tiere bis zu einem gewissen Grad teilen. Sebastian Ullrich unternimmt den Versuch, die Bewusstseinsleistungen der ‚natürlichen` Symbolik zu konkretisieren, indem er Raum, Zeit und Zahl als quasi-natürliche Ordnungsbegriffe des Bewusstseins ausbuchstabiert: Raum, Zeit und Zahl sind die drei Ordnungsbegriffe der natürlichen Symbolik: Alles Erleben und Gestalten spielt sich in einer räumlichen und zeitlichen Welt ab, die seriell geordnet werden kann und auch muss. 12
Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 52 f.
Sechs Deutungsversuche der Forschungsliteratur
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[. . . ] Leben erscheint grundsätzlich in raumzeitlichen Verhältnissen in irgendeiner möglichen, aber jedenfalls seriellen Ordnung. Deshalb ist jeder konkrete Lebensvollzug immer schon durch mit faktischer Notwendigkeit eintretende kategoriale Verhältnisse bzw. Formen vermittelt, folglich durch diese bestimmt als weiter bestimmtes Bilden. Leben erscheint mit faktischer Notwendigkeit in der Weiterbestimmung durch künstliche Symboliken. Erst durch solche Weiterbestimmung ist es eigentlich bestimmtes Leben. In Bestimmtheit durch die natürliche Symbolik tritt es insofern als Bestimmbarkeit (weil weiterbestimmbar) in die künstlichen Symboliken ein. [. . . ] De facto ist kein Erleben möglich, für das die natürliche Symbolik im konstitutiven, kategorialen Sinne als Bedingung der Möglichkeit hinreichend wäre. Die künstliche Symbolik, als Weiterbestimmung der natürlichen Symbolik, ist erscheinungskonstitutiv; jegliches Erleben ist immer schon durch die künstliche Symbolik vermittelt. 13
Die Stärke dieser Interpretation liegt in dem Theorem: keine Bestimmtheit (Individuation) ohne Bestimmbarkeit durch künstliche Zeichen und keine Bestimmbarkeit ohne die natürliche Bestimmtheit als weiterbestimmbar. 14 Raum, Zeit und Zahl sind bei Cassirer auch tatsächlich die Grundkategorien jeder symbolisch geformten Erfahrung, 15 und auch die Vorstellung einer unmittelbaren oder vorgeistigen Erfahrung lehnt Cassirer ab. 16 Allerdings scheint mir hier der Unterschied zwischen Natürlichkeit und Transzendentalität zu verschwimmen: Die ‚natürliche` Symbolik ist hier lediglich Bedingung der Möglichkeit der Weiterbestimmung, sozusagen die Invarianz des kulturvarianten Kategorialen. Raum, Zeit und Zahl sind somit quasi-natürliche Kategorien, alles Weitere (wie z.B. mythische und empirische Kausalität) dagegen kulturelle Kategorien bzw. eine Transzendentalität zweiter Stufe. Diese Deutung kann jedoch nicht plausibel machen, was an der ‚natürlichen` Symbolik natürlich ist und wieso geistige Prozesse an zunächst rein natürliche Prozesse anschließen können. Andreas Graeser akzentuiert die Transzendentalität der ‚natürlichen` Symbolik weniger verschachtelt, indem er sie ebenso als bewusstseinsinterne Relation auffasst und als gleichermaßen notwendig und hinreichend für das Setzen von Bestimmungen ausweist:
Ullrich, Sebastian: Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen, Hamburg: Meiner 2010, S. 113 ff. 14 Kein Zitat, sondern meine Reformulierung. 15 Vgl. ECW 11, S. 147–212; ECW 12, S. 98–180; ECW 13, S. 279–302. 16 Vgl. ECW 13, S. 66. 13
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
Die eine äußert sich darin, daß sich das Bewußtsein in und mit einem beliebigen Inhalt auf etwas bezieht, die andere darin, daß dieses Etwas mittels eines Zeichens festgehalten wird. [. . . ] Die künstliche Symbolik fußt auf der natürlichen Symbolik, und beide sind an der Gestaltung der Wirklichkeit beteiligt. In diesem Sinne heißt es vom symbolischen Verhältnis generell, es sei als Bedingung der Möglichkeit des Setzens von Bestimmungen anzuerkennen. 17
Dieser Interpretation zufolge sind ‚natürliche` und künstliche Symbolik bei jeder Zeichenverwendung und Verstehensleistung gleichermaßen im Spiel. Die ‚natürliche` Symbolik weist Graeser als die intentionale Leistung des Bewusstseins aus, die künstliche gewissermaßen als die materialisierende. Damit wird er der Textstelle gerecht, in der Cassirer davon spricht, dass die Zeichen nur fixieren, was natürlich schon als Grundfunktion des Bedeutens angelegt ist. 18 Jedoch wüsste man auch gerne, wie dieser natürliche Bezug aussieht und wieso es möglich ist, dass die Zeichen daran anknüpfen können. Auch Birgit Recki rückt das Bewusstsein ins Zentrum ihrer Analyse mit einem interessanten Verweis auf die symbolische Prägnanz. Ihre Schlussfolgerungen konfligieren meinem Verständnis nach jedoch sowohl mit einigen Textstellen Cassirers als auch mit ihrer eigenen weitergehenden Auslegung der Cassirerschen Bedeutungstheorie. 19 Sie schreibt: Es ist nicht mehr als eine systematische Implikation im Begriff der symbolischen Prägnanz, die in der Frage nach der Berechtigung der Rede von der „natürlichen Symbolik“ des Bewußtseins zur Geltung zu bringen ist: daß die damit behauptete Funktionseinheit von Sinnlichkeit und Sinn in der Umkehrrichtung mit Blick auf das wahrnehmende Bewußtsein gilt: Ebenso wie das sinnlich Gegebene immer schon als (in bestimmter Weise) sinnvoll realisiert wird, so sind – wie immer auch analytisch isolierbar – die Sinnelemente, etwa die konstitutiven Formen von Raum und Zeit, immer nur im Bezug auf sinnlich Gegebenes anzutreffen, also konkret. Die Rede von der „natürlichen Symbolik“ des Bewußtseins wird somit einsichtig als Abbreviatur, in der eine entscheidende theoretische Absicht dieses Ansatzes mitgedacht werden muß: der Verweis auf das Gegebene, auf welches jede Leistung des Bewußtseins bezogen ist. Dadurch, daß selbst schon vor aller medialen Artikulation eine Symbolik qua „Grundfunktion des Graeser, Andreas: Ernst Cassirer, München: C.H. Beck 1994, S. 142. Vgl. ECW 11, S. 39 f. 19 Recki legt Cassirers Bedeutungstheorie explizit pragmatisch aus. Vgl. Recki: Kultur als Praxis, S. 64 ff. 17
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Bedeutens“ wirksam sei, soll zweifelsfrei gemacht werden, wie solide das Fundament dieser bedeutungstheoretisch angelegten Kulturkonzeption ist. Symbolisierung – wie ist das möglich? [. . . ] Die Symbole fallen weder vom Himmel, noch entspringen sie der Erde. Sie sind vielmehr eine Leistung des Gedankens; ihr Auftreten ist bereits strukturell präformiert in der basalen Funktion des Bewußtseins. Die Kultur ist damit angelegt in der elementaren Synthesis des menschlichen Bewußtseins, und nur dadurch ist der Mensch eigentlich als animal symbolicum ausgewiesen. 20
Zu Recht weist Recki darauf hin, dass Cassirer zufolge sämtliche Bewusstseinsinhalte symbolisch prägnant sind und somit eine Einheit von Sinnlichkeit und Sinn in jedem Bewusstseinselement vorliegt. Daraus leitet sie ab, dass das Gegebene, auf das wir uns Cassirer zufolge selbstverständlich nicht als Gegebenes beziehen können, 21 bei jeder Bezugnahme auf etwas mitgedacht werden muss. Die Rede von der ‚natürlichen` Symbolik soll so als Kürzel für diesen komplexen Sachverhalt einsichtig werden. Die folgende Erklärung aber, wie Symbolisierung möglich sei, wie also genau der autonome Zeichengebrauch an die Grundfunktion des Bedeutens anschließt, erhellt die ‚natürliche` Symbolik nur bedingt vor dem Hintergrund ihrer Auslegung der symbolischen Prägnanz: die Symbole seien ein Kind des Gedankens. Gleichzeitig sollen sie weder ‚vom Himmel fallen`, also keiner metaphysischen Erklärung zugänglich sein, noch ‚der Erde entspringen`, also nicht streng genealogisch erklärbar sein. Letztere Optionen lehne ich zwar ebenfalls ab (Cassirers Philosophie ist antimetaphysisch und antireduktionistisch); aber zu sagen, die Symbole seien eine Leistung des Gedankens, ist verfänglich, da Gedanken in sprachlichen Sätzen artikuliert werden 22 und durch diese Konzeption metaphysisch gedeutet werden können. 23 Ferner lege ich auch hier zugrunde, dass Cassirers Philosophie explizit nicht-sprachliches Verstehen und nichtpropositionale Aspekte unserer Erfahrung berücksichtigt, die jedoch auch unter das Symbolische fallen. 24 Jede Erfahrung ist Cassirer zufolge durch das Symbolische geformt, aber nicht alles Symbolische ist gedanklich geformt. Ebd., S. 64. Vgl. auch Recki, Birgit: Cassirer. Grundwissen Philosophie, Stuttgart: Reclam 2013, S. 37. 21 Diesbezüglich Cassirer: „Das Paradies der Unmittelbarkeit ist diesem Denken verschlossen: Es muß [. . . ] ‚die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist`.“ (ECW 13, S. 46. [Zitat: Kleist, Marionettentheater.]) 22 Vgl. hierzu ausführlich Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 120 ff. 23 Man denke z.B. an Freges Drei-Reiche-Lehre oder Poppers Drei-Welten-Lehre. 24 Vgl. auch hierzu Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 183 ff. 20
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
Ingmar Meland hat eine Lesart vorgestellt, die ebenfalls die symbolische Prägnanz in den Mittelpunkt rückt und diesen Komplex im Lichte der erst durch den Nachlass bekannt gewordenen Basisphänomene betrachtet. Er argumentiert dafür, „that the phenomenology of knowledge and the corresponding phenomenology of perception together constitute a semiotic theory of meaning that links together artificial and natural symbolism“. 25 Meland ist – von meiner Auslegung aus betrachtet – auf der richtigen Spur, denn er untersucht die Basisphänomene als Urphänomene des Lebens in Zusammenhang mit der Formung von Bedeutungen im Wahrnehmungserlebnis und ihren repräsentationalen Beziehungen. 26 In diesem Kontext bringt er den Gedanken der Natürlichkeit anhand von Beispielen aus dem Tierreich ein: The relation between what presents itself in perception and what it represents is a symbolic relation that involves the expressive function and the function of representation at the same time: the phenomenon comes to the fore as an expression and thus functions as a representation. What does this mean? Firstly, and as to the problem at hand, not only an artificial symbolism but also a natural symbolism is involved in perception, e.g. a bird singing or a dog barking. [. . . ] It is the given phenomenon – the sound of a singing bird or a barking dog – that comes to the fore and shows up in perception as something with a meaning. 27
Ich stimme mit Meland zunächst völlig darin überein, dass bestimmte Wahrnehmungserlebnisse in ihrer Unmittelbarkeit bereits bedeutungstragend sind, insbesondere auch das Wahrnehmen des Ausdrucksverhaltens der Tiere, wie hier behandelt: das Bellen des Hundes oder das Singen des Vogels. Bestreiten möchte ich jedoch, dass in diesen Fällen der Begriff der Repräsentation überhaupt eine Rolle spielt. Cassirer hat an vielen Stellen darauf hingewiesen, dass die tierische Artikulation gerade deshalb keine Sprache ist, weil sie auch nach neuesten Erkenntnissen an keiner Meland, Ingmar: „The Doctrine of Basis Phenomena. A Phenomenological Foundation for the Philosophy of Symbolic Forms?“, in: Cassirer Studies (V/VI), Napoli: Bibliopolis 2012/3, S. 62. 26 Ebenfalls auf der richtigen Spur könnte Dominic Kaegi sein, der zwar einerseits herausstellt, dass das Innovative bei Cassirer die „Anbindung möglicher Welten an die eine wirkliche Welt der Wahrnehmung“ (Kaegi, Dominic: „Jenseits der symbolischen Formen. Zum Verhältnis von Anschauung und künstlicher Symbolik bei Ernst Cassirer“, in: Dialektik (1), Hamburg: Meiner 1995, S. 74.) sei, im Folgenden aber nicht zwischen Ding- und Ausdruckswahrnehmung unterscheidet und so letztlich vollständig Cassirers früher Wahrnehmungstheorie aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff verhaftet bleibt. 27 Meland: „The Doctrine of Basis Phenomena“, S. 44. 25
Sechs Deutungsversuche der Forschungsliteratur
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Stelle objektivierend im Sinne der Darstellungsfunktion wird. 28 Meland weitet das Phänomen der symbolischen Prägnanz zwar nicht auf Phänomene tierischer Wahrnehmungsleistungen aus, setzt jedoch für das Verständnis tierischer Artikulation zu viel voraus: „In short, whether the signs given to our senses are ‚natural` or ‚artificial`, they all have in common the double function of expression and representation at the phenomenological level.“ 29 ‚Natürliche` Symbolik wird demnach mit Zeichen aus dem Tierreich, wie bspw. einem Bienentanz, gleichgesetzt und in Anspruch genommen, dass diese für den menschlichen Betrachter symbolisch prägnant in Melands Sinne und erst deshalb durch Menschen entzifferbar sind. Ich möchte nicht bestreiten, dass die symbolische Prägnanz für das Ausdrucksverstehen menschlicher und nicht-menschlicher Tiere bereits im Spiel ist, gleichwohl aber darauf hinweisen, dass aus bereits vorgebrachten Gründen das darstellende oder repräsentierende Moment hier nicht die tragende Rolle spielt. Cassirers „nicht-anschaulicher Sinn“ ist nicht jenem engen Begriff von Repräsentation zuzuordnen, sondern bereits im vorsprachlichen Ausdruck inkorporiert. 30 Abschließend möchte ich erneut auf Kreis' Interpretation zurückkommen, der die ‚natürliche` Symbolik anhand der Frage diskutiert, ob es eine symbolfreie Wahrnehmungsschicht geben kann. 31 Ebenso wie Birgit Recki und Ingmar Meland rückt Kreis das symbolisch prägnante Wahrnehmungserlebnis und die Idee des Gegebenen resp. Unmittelbaren ins Zentrum der Auslegung. Daher ist es naheliegend – wie bereits bei Schwemmers Interpretation geschehen –, die Ausdrucksfunktion hinzuzuziehen, weil durch sie ein Verstehen unterhalb des sprachlichen Zeichengebrauchs und der eigentlich repräsentationalen Umformung der Wahrnehmung zur Anschauung resp. Dingwahrnehmung markiert ist. Von hier aus eröffnet sich dann die Frage, ob mit ‚natürlicher` Symbolik diejenige Voraussetzung gemeint sei, die den Anschluss des symbolisch Vgl. ECW 11, S. 126, 136 f (dort insb. Anm. 23) und ECW 13, S. 121 f, 381, 391. Meland, „The Doctrine of Basis Phenomena“, S. 45. 30 Ingmar Meland hat mich im persönlichen Gespräch darauf hingewiesen, dass nach Cassirer alle drei Symbolfunktionen gleichursprünglich im Sinne der Ur- oder Basisphänomene sind und der Unterschied zwischen Ausdrucks- und Dingwahrnehmung eine Frage der Dominanz zwischen diesen Funktionen ist. Außerdem beziehen Menschen das Wahrnehmen ‚natürlicher` Symbolik im Prinzip immer auf einen größeren kulturellen Kontext, z.B. durch eine wissenschaftliche Fragestellung oder das Weiterspinnen einer Vogelmelodie zu einem Musikstück. Dem stimme ich zu. Jedoch wäre es m.E. dann auch konsequent, hier einen engen und einen weiten Begriff von Repräsentation (vgl. S. 19) zu unterscheiden, um der von mir umkreisten Frage einer genealogischen Verbindung zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Ausdruck nachzugehen. 31 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 409 ff. 28 29
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
geformten Verstehens an die Unmittelbarkeit erklären kann. Zur Klärung zieht Kreis eine Stelle aus dem ersten Teil des dritten Bands der Philosophie der symbolischen Formen zur Ausdrucksfunktion heran, wo Cassirer von der „vormythische[n], vorlogische[n] und vorästhetische[n]“ 32 Sicherheit und Wahrheit der Ausdrucksfunktion spricht, wobei Kreis die „Rede vom Aufbau der Erfahrung aus den Ausdruckswahrnehmungen [. . . ] im Rahmen einer transzendentalphilosophischen Methode [als] gerechtfertigt“ 33 betrachtet: In diesem Kontext muß auch eine der heikelsten Darstellungen der „‚natürlichen Symbolik`“ gelesen werden, die Cassirer gegeben hat. An einer Stelle heißt es, daß die „reine Ausdrucksfunktion“, „als eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion, der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinandertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhetischer Anschauung vorausliegt. Ihre Sicherheit und ihre ‚Wahrheit` ist sozusagen eine noch vormythische, vorlogische und vorästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben.“ Man wüßte gerne, was genau hier „sozusagen“ heißt. Die Ausdrucksfunktion ist eine Funktion des Geistes; der Geist ist aber symbolisch organisiert. Deshalb sind die Ausdruckserlebnisse immer auch symbolisch vermittelt – das ist der Sinn des Ausdrucks „‚natürliche` Symbolik“. Daß die Ausdruckserlebnisse vor den symbolischen Formen liegen, kann dann aber nicht heißen, daß sie außerhalb liegen. Sie bilden vielmehr innerhalb aller symbolischen Formen die Menge aller singulären geistigen Vorkommnisse, also derjenigen Momente, die die Funktion des unmittelbaren Kontakts mit der Wirklichkeit übernehmen. 34
So elegant diese Interpretation auf den ersten Blick erscheinen mag, bringt sie doch einige Probleme mit sich, die im Kontext der Theorie des Ausdrucks bereits ausführlich angesprochen wurden. Es ist nicht ganz klar, ob Kreis hier der Meinung ist, dass das Bewusstsein resp. der Geist natürlich, d.h. selbstverständlich, oder einfach faktisch, symbolisch organisiert ist. Die Platzierung des Teilsatzes „das ist der Sinn des Ausdrucks ‚natürliche Symbolik`“ nach dem Verweis auf die symbolische Organisation des Geistes lässt diesen Eindruck vielleicht aufkommen. Ich gehe allerdings vielmehr davon aus, dass Kreis hier meint, dass das Natürliche der ‚natür32 33 34
ECW 13, S. 91. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 417. Ebd. Anm. 11.
Das Erwachen des Geistes aus seinen natürlichen Anlagen
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lichen` Symbolik darin liegt, dass das Gegebene oder Unmittelbare als singuläres geistiges Vorkommnis einer Ausdruckswahrnehmung innerhalb des Symbolischen als Vor-, aber nicht Außersymbolisches seinen Platz hat. Es stimmt natürlich, dass die Ausdrucksfunktion und somit die Ausdruckswahrnehmung als Teil des Bewusstseins nicht symbolfrei bzw. als symbolfreie Wahrnehmungsschicht gedacht werden kann. Gleichermaßen ist es auch konsistent, die Ausdruckserlebnisse so zu konstruieren, dass sie innerhalb der Bewusstseinsfunktionen den Platz einnehmen, der den direkten Bezug auf die „uninterpretierte Wirklichkeit“ 35 sicherstellt und somit die Repräsentationalismusfalle umgeht. Es bleibt allerdings zu fragen, ob man Cassirer gerecht wird, wenn man wie Kreis die Fälle der Ausdruckswahrnehmung als singuläre und restlos unbewusste Wahrnehmungserlebnisse rekonstruiert. 36 Im Folgenden möchte ich die Annahme, dass die Ausdrucksfunktion für lediglich Unbewusstes zuständig ist, anhand meiner eigenen Lesart der ‚natürlichen` Symbolik weiter entkräften. 5.3 Das Erwachen des Geistes aus seinen natürlichen Anlagen Sehen wir uns erneut die Anfangstextstelle 37 Cassirers zur ‚natürlichen` Symbolik an: Die ‚natürliche` Symbolik ist die Darstellung des Bewusstseinsganzen in einem einzelnen „Moment und Fragment“ 38 des Bewusstseins, das entweder (a) notwendig enthalten oder (b) mindestens angelegt ist. Es ist völlig klar, dass mit der ‚natürlichen` Symbolik nichts Außersymbolisches, sondern ein im weiten Sinne repräsentationales Verhältnis zwischen Gegebenem und Bewusstsein gemeint ist. Für das Symbolische gilt generell, dass das Ganze des Bewusstseins in jedem symbolisch prägnanten Einzelinhalt notwendig enthalten ist. Im Falle der ‚natürlichen` Symbolik scheint Cassirer aber darauf hinzudeuten, dass es auch hinreichend sein kann, wenn „die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen [. . . ] mindestens angelegt ist“. 39 Weiter wird darauf hingewiesen, dass die Ursprungsleistung des Bewusstseins – dies gehört zur weiteren Bestimmung der ‚natürlichen` Symbolik – in einem selbst gründenden geistigen Verfahren wurzelt, also gewissermaßen aus sich selbst erwächst. Ebd., S. 418. Vgl. ebd., S. 415 f. 37 Vgl. ECW 11, S. 39. 38 Ebd. 39 ECW 11, S. 39. Dies ist Cassirers deutlichste Definition des Repräsentationsbegriffs. 35 36
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
Der Umstand, dass einzelne Inhalte des Bewusstseins symbolisch prägnant sind, also sinnliche Eindrücke im Bewusstsein Träger eines geistigen Gehalts und somit Inhalt im vollen Sinne sein können, wird nun durch eben dieses sich selbst gründende geistige Verfahren näher bestimmt: Die Voraussetzung symbolisch prägnanter Inhalte liegt in der „Grundfunktion des Bedeutens“, 40 die vor der Setzung ‚willkürlicher` Zeichen auf natürliche Weise im Bewusstsein angelegt sein muss und sich aus ihrem eigenen Vermögen heraus sukzessive aufbaut. Die Grundfunktion des Bedeutens wird dann als eine „selbständige Gestaltungsweise“ 41 weiter charakterisiert, die sich des unmittelbaren Eindrucks, des Gegebenen, als „Mittel des Ausdrucks“ 42 bedient. Die Umbildung eines Eindrucks zum Ausdruck ist also eine Bewusstseinsleistung, ein geistiger – nicht aber gedanklicher – Akt. Wenn das Bewusstsein also die in ihm angelegte ‚natürliche` Symbolik „benutzt und fest[hält]“, 43 um einen sinnlichen Eindruck zum Ausdruck umzubilden, heißt das, dass ein Teilbestand des Bewusstseins auf das Ganze des Bewusstseins bezogen als Teilbestand wiederhergestellt wird. Ein individueller Eindruck wird so als auf Allgemeines bezogen vorgestellt. Dies spricht eindeutig dagegen, dass es sich im Falle der Ausdruckswahrnehmungen, wie Kreis behauptet, um singuläre unbewusste Bewusstseinselemente handelt. Damit ist aber der Sinn von Natürlichkeit im Rahmen der ‚natürlichen` Symbolik noch nicht erschöpft. Wir wissen jetzt, dass die Grundfunktion des Bedeutens vor jeder Setzung der künstlichen Symbolik auf natürliche Weise im Bewusstsein angelegt ist und für die Umbildung vom Eindruck zum Ausdruck verantwortlich ist: „So unterscheidet sich in der Grundfunktion der Zeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaft das geistige vom sinnlichen Bewußtsein.“ 44 Auch dieses Zitat spricht dafür, dass das menschliche Bewusstsein bereits mit der Aktivität der benannten Grundfunktion und nicht erst mit der Verwendung bildlicher und sprachlicher Zeichen erwacht. Meiner Lesart zufolge markiert die ‚natürliche` Symbolik genau denjenigen Punkt, an dem geistige an zunächst noch rein natürliche Prozesse innerhalb des Bewusstseins anschließen. Aber wie genau soll man sich diesen Übergang vorstellen? Und hat uns Cassirer überhaupt eine Idee davon hinterlassen? Die Überschrift des diskutierten einzigen Ka40 41 42 43 44
Ebd. ECW 11, S. 40. Ebd. Ebd. ECW 11, S. 41.
Das Erwachen des Geistes aus seinen natürlichen Anlagen
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pitels, in dem Cassirer von der ‚natürlichen` Symbolik spricht, enthält einen Hinweis auf diese Fragen: Die philosophische Überwindung der Abbildtheorie hat in der Dialektik einer jeden symbolischen Form einen Vorläufer. Diese Dialektik hat Cassirer an verschiedenen Stellen einerseits anhand der Funktionen sinnlich – anschaulich – begrifflich (später auch Ausdruck – Darstellung – Bedeutung) und zuzüglich anhand der Phasen mimisch – analogisch – symbolisch rekonstruiert. In Bezug auf die Ausdrucksfunktion als Schnittstelle im Übergang von der ‚natürlichen` zur künstlichen Symbolik bietet es sich an, den Mythos zu untersuchen, da diese symbolische Form als der paradigmatische Fall der Dominanz der Ausdrucksfunktion gilt. Nun ist es zum einen jedoch generell schwierig, die symbolischen Formen Mythos und Sprache zu separieren. 45 Cassirer behauptet an keiner Stelle, denjenigen Punkt genealogisch zu markieren, an dem die mythische Denkform noch ohne Sprache auskommt. 46 Vielmehr schlage ich vor, zunächst das zweite Kapitel des ersten Bands zur Sprache („Die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks“) hinzuzuziehen, um Hinweisen auf den Übergang von ‚natürlicher` zu künstlicher Symbolik nachzugehen. Während Cassirer zufolge die Instanzen der künstlichen Symbolik letztlich nicht als Spiegel der Realität, sondern als unterschiedlich abstrakte „Prägungen zum Sein“, die „durch die Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden“, 47 aufgefasst werden müssen, ist für die ‚natürliche` Symbolik zunächst davon auszugehen, dass zwischen sinnlichem Eindruck und geformtem Ausdruck der Genealogie nach zunächst ein Ähnlichkeitsverhältnis besteht. Dieses soll letztlich erklären, wieso die Enno Rudolph vertritt die These, dass alle symbolischen Formen letztlich Sprache sind. Vgl. dazu bspw. seinen Vortrag zu Cassirer und Rorty auf http://savoirs.ens.fr/ expose.php?id=1021 (zuletzt abgerufen am 18.02.20). Ich halte diese These in ihrer starken Form für falsch, da Cassirer eindeutig den Mythos als ‚Mutterboden` der Kultur benennt und, wie wir anhand der Ausdruckswahrnehmung für den vorliegenden Kontext sehen werden, explizit nicht-propositionale Formen des Verstehens bemüht. In einem schwächeren, rein methodologischen Sinne kann ich Rudolph dagegen zustimmen. 46 In An Essay on Man (1944) sehr deutlich: „We have no psychological evidence whatever for the fact that any animal ever crossed the borderline separating propositional from emotional language. The so-called ‚animal language` always remains entirely subjective; it expresses various states of feeling but it does not designate or describe objects. On the other hand, there is no historical evidence that man, even in the lowest stages of his culture, ever was reduced to a merely emotional language or to the language of gestures. If we wish to pursue a strictly empirical method we must exclude any such assumption as, if not quite improbable, at least dubious and hypothetical.“ (ECW 23, S. 126.) 47 Beide Zitate ebd. 45
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
künstliche Symbolik überhaupt an die ‚natürliche` Symbolik anschließen kann, und letztlich auch, wie begriffliches Verstehen aus nicht-begrifflichem Verstehen hervorgehen konnte. „Denn der intellektuelle Ausdruck vermöchte sich nicht am sinnlichen und aus dem sinnlichen entwickeln, wenn er in diesem nicht schon ursprünglich beschlossen läge“. 48 Diesen Sachverhalt möchte ich Cassirers Minimalnaturalismus nennen. 49 An dieser Stelle sei noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass es sich dabei nicht um eine Genealogie im Sinne einer Kausalgeschichte handeln kann. 50 Vielmehr ist Cassirers Methode transzendental in dem Sinne, ECW 11, S. 300. Ich wähle diese Begrifflichkeit bewusst in Kontrast zu John McDowells Anspruch eines minimalen Empirismus, der die Erfahrung als Tribunal des urteilenden Denkens verstanden wissen will. Vgl. McDowell: Mind and World, S. XII. Mit Cassirer können wir McDowell darin zustimmen, dass die Erfahrung in einem gewissen Sinne immer schon ‚geistig` durchdrungen ist, um die Rolle dieses Tribunals erfüllen zu können. Zu betonen wäre jedoch, dass ‚geistig` dann nicht ‚rational` meint; der Mensch ist kein animal rationale, sondern ein animal symbolicum. Seine Erfahrung ist, mit Cassirer gesprochen, immer schon symbolisch geformt, nicht jedoch, wie McDowell meint, immer schon begrifflich durchdrungen. McDowells Minimalempirismus speist sich aus der falschen Vorstellung eines vermeintlich intrinsischen kantischen Dualismus von sinnlich Gegebenem und spontanem Urteilen in Auseinandersetzung mit Davidsons Kritik am dritten Dogma des Empirismus (Vgl. Kapitel 6.1.1). Ein Tribunal der Erfahrung kann aber eben nicht unter Rekurs auf einen lediglich minimalen Empirismus errichtet werden, da dies eben diesen durch den Empirismus selbst konstruierten Dualismus perpetuiert und letztlich niemals erklären kann, wie es möglich sein soll, dass Anschauung und Begriff zueinander ‚passen`. Vielmehr bedarf es einer minimalnaturalistischen Sichtweise darauf, wie die kompetente Verwendung empirischer Begriffe kultur-, phylo- und ontogenetisch aus nicht-begrifflichem Verstehen möglich wird und faktisch erwächst. Genau diese Strategie Cassirers lässt die Frage des ‚Passens` von Geist und Welt hinter sich. 50 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Cassirers Kritik am verborgenen teleologischen Denken eines sich selbst missverstehenden Naturalismus in Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939): „Der Naturalismus begann mit dem Faustischen Wissensdrang und mit einer Apotheose des Wissens, das allein die Erlösung der Menschheit herbeiführen könne. Aber der Glaube, daß die Wissenschaft die menschliche Natur nicht nur erkennen könne, sondern daß sie auch dazu berufen sei, ihre Schwächen und Schäden zu heilen, schwindet um so mehr, je mehr die Denker des Naturalismus, als Historiker und Psychologen, in das Innere dieser Natur hineinblicken. [. . . ] Was uns in alledem entgegentritt, ist im Grunde eine Krise des Entwicklungsbegriffs, auf welchem die gesamte naturalistische Kulturphilosophie sich aufbaut. Der dialektische Sinn der Entwicklung, wie er sich in Hegels System darstellt, läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß alle Entwicklung auf ein einziges und höchstes Ziel gerichtet, daß sie die Verwirklichung der ‚absoluten Idee` ist. Und dieser teleologische Einschlag verschwindet keineswegs gänzlich, wenn der Entwicklungsbegriff seine idealistische Bedeutung verliert und in rein empiristisch-naturalistischer Prägung erscheint.“ (ECW 22, S. 163 f.) 48 49
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dass rekonstruktiv erschlossen wird, welche Vorbedingungen einer jeden geistigen Stufe zugrunde liegen. Der geistige Fortschritt lässt sich nicht kausal darstellen, die entscheidenden Übergänge lassen sich jedoch ihrer Genealogie nach markieren. Das Kapitel ‚Die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks` gliedert sich in die beiden Abschnitte ‚Die Sprache als Ausdrucksbewegung. – Gebärdensprache und Wortsprache` sowie ‚Mimischer, analogischer und symbolischer Ausdruck`. 51 Ich deute den mimischen Ausdruck hier als Teil der ‚natürlichen` Symbolik. Cassirer schreibt: So ist auch die mimische Bewegung eine unmittelbare Einheit des „Inneren“ und des „Äußeren“, des „Geistigen“ und „Leiblichen“, sofern sie gerade in dem, was sie direkt und sinnlich ist, ein anderes, aber in ihr selbst Gegenwärtiges, bedeutet und „besagt“. Hier findet kein bloßer „Übergang“, keine willkürliche Hinzufügung des mimischen Zeichens zu dem durch dasselbe bezeichneten Affekt statt, sondern beides, der Affekt und seine Äußerung, die innere Spannung und ihre Entladung, sind in ein und demselben zeitlich untrennbaren Akt gegeben. Jede Erregung des Inneren drückt sich, kraft eines Zusammenhangs, der sich rein physiologisch beschreiben und deuten läßt, ursprünglich in einer leiblichen Bewegung aus – und der weitere Fortgang der Entwicklung besteht nur darin, daß eine immer schärfere Differenzierung dieses Verhältnisses eintritt, indem sich mit bestimmten Erregungen bestimmte Bewegungen in immer genauerer Zuordnung verknüpfen. Freilich scheint diese Form des Ausdrucks über den bloßen „Abdruck“ des Inneren im Äußeren zunächst nicht hinauszugehen. Ein äußerer Reiz greift vom Sensiblen ins Motorische über, aber dies letztere bleibt dabei, wie es scheint, ganz innerhalb des Gebiets der bloßen mechanischen Reflexe, ohne daß sich in ihm vorerst eine höhere geistige „Spontaneität“ ankündigte. Und doch ist schon dieser Reflex das erste Anzeichen einer Aktivität, in der eine neue Form des konkreten Ichbewußtseins und des konkreten Gegenstandsbewußtseins sich aufzubauen beginnt. 52
Cassirer illustriert diesen Sachverhalt anhand von Darwins Theorie zum „Ausdruck der Gemüthsbewegungen“ 53 und weist darauf hin, dass diese
Vgl. ECW 11, S. 122–146. ECW 11, S. 124 f. 53 Vgl. Darwin, Charles: The Expression of the Emotions in Man and Animals, London: John Murray 1872. (Deutsche Übersetzung: ders.: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und bei den Thieren, Stuttgart: Koch 1872.) 51 52
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
weit über „Darwins biologische Problemstellung hinausführt“. 54 Dort deutet Darwin bspw. den Affektausdruck des Zorns als abgeschwächte Angriffsbewegung. Der sinnliche Trieb tritt aus der Unmittelbarkeit des Lebens hervor, erfährt eine Rückwendung nach innen, wodurch eine erste Form der Bewusstheit erwacht. In diesem Sinne bereitet gerade die Reaktion, die in der Ausdrucksbewegung enthalten ist, eine höhere geistige Stufe der Aktion vor. Indem die Aktion sich gleichsam aus der unmittelbaren Form des Wirkens zurückzieht, gewinnt sie damit für sich selbst einen neuen Spielraum und eine neue Freiheit; steht sie damit bereits an dem Übergang vom bloß „Pragmatischen“ zum „Theoretischen“, von dem physischen zum ideellen Tun. 55
Der mimische Ausdruck des Zorns enthält als Ausdrucksbewegung noch die physische Reaktion, aber durch den Rückzug aus dem unmittelbaren Reiz-Reaktions-Geschehen wird hier bereits eine höhere geistige Ausdrucksform vorbereitet. Eine behavioristische Beschreibung dieser Sachlage wäre nun zwar nicht falsch, jedoch bereits an dieser Stelle unvollständig. Cassirer fährt nun mit der Bestimmung der ‚natürlichen` Symbolik anhand der „charakteristischen Umbildung der Greifbewegung in die hinweisende Gebärde“ fort: Demonstrative Bezugnahme wird ihrem Ursprung nach als „Greifen in die Ferne“, in der ein „Zug von typischer, allgemein-geistiger Bedeutung verborgen liegt“, 56 gedeutet. Cassirer sieht hierin eine wichtige „entwicklungsgeschichtliche Tatsache“, 57 da selbst höchstentwickelte Tiere diesen Schritt zur Entwicklung allgemeiner Symbolisierung nicht vollziehen. Michael Tomasello weist aktuell nach, dass höhere Primaten diese Form intentionaler Gesten zwar besitzen, aber nicht teilen und deshalb auch keine Sprache ausbilden können. 58 Cassirer kennzeichnet diesen Umstand zusätzlich dadurch, dass entwicklungsgeschichtlich ein Unterschied in der ‚natürlichen` Symbolik des Bewusstseins liegen muss, der für die Ausprägung allgemein-geistiger Bedeutung entscheidend ist. Keine Erklärung schließt die andere aus. Ich möchte meine Lesart der ‚natürlichen` Symbolik mit einem weiteren Zitat aus dem zweiten Abschnitt des Kapitels unterstreichen, bevor 54 55 56 57 58
ECW 11, S. 125. Ebd. Alle drei Zitate ECW 11, S. 126. Ebd. Vgl. Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 56–67.
‚Natürliche` Symbolik als passiver Ausdruck
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ich das Spätwerk heranziehe. Cassirer hat dort sukzessive dargestellt, wie die Gebärde sich vom Nachbilden zum Bedeuten, also entlang des Schemas mimisch, analogisch, symbolisch, entwickelt und nun innerhalb des sprachlichen Bedeutens erneut diese Phasen durchläuft: Die ersten bedeutungsmäßigen Laute sind onomatopoetische, also mimetische Laute. Beim Eintritt in die analogische Phase der Sprachbildung werden erneut „gewisse Konsonanten und Konsonantengruppen als ‚natürliche Lautmetaphern` verwendet“. 59 Daß bestimmte Vokaldifferenzen und Vokalabstufungen als Ausdruck bestimmter objektiver Gradabstufungen, insbesondere zur Bezeichnung der größeren oder geringeren Entfernung eines Gegenstandes vom Sprechenden, verwendet werden, ist eine Erscheinung, die sich in den verschiedensten Sprachen und Sprachgebieten gleichartig wiederfindet. Fast durchweg bezeichnen hierbei a, o, u die weitere, e und i die geringere Entfernung. Auch die Verschiedenheit des zeitlichen Abstands wird in dieser Weise durch die Verschiedenheit der Vokale oder Vokalhöhen angedeutet. In derselben Weise werden gewisse Konsonanten und Konsonantengruppen als „natürliche Lautmetaphern“ verwendet, denen in fast allen Sprachgebieten eine gleichartige oder ähnliche Bedeutungsfunktion zukommt – wie z. B. die labialen Resonanzlaute mit auffallender Regelmäßigkeit die Richtung zum Sprechenden hin, die explosiven Zungenlaute die Richtung vom Sprechenden fort bezeichnen, so daß die ersteren als „natürlicher“ Ausdruck des „Ich“, die letzteren als natürlicher Ausdruck des „Du“ erscheinen. 60
Die ‚natürliche` Symbolik erlaubt also nicht nur überhaupt den Übergang zur künstlichen Symbolik, dies wäre eine zu schwache, formal-transzendentale Lesart, sondern präformiert die künstliche Symbolik in entscheidenden Phasen aller Symbolisierungsprozesse und hinterlässt so ihre Spuren letztlich in allen symbolischen Formen.
5.4 ‚Natürliche` Symbolik als passiver Ausdruck Abschließend möchte ich noch einmal auf die von Kreis aufgeworfene Frage zurückkommen, was Cassirer meinen könnte, wenn er von der „Sicherheit und [. . . ] ‚Wahrheit`“ der „reinen Ausdrucksfunktion“ als sozu59 60
ECW 11, S. 141. ECW 11, S. 140 f.
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
sagen „vormythische[r], vorlogische[r] und vorästhetische[r]“ 61 spricht. Kreis rückt zu Recht beide Textstellen in einen engen Zusammenhang. Wie wir im Folgenden sehen werden, hat die ‚natürliche` Symbolik ihren Grund in der Ausdrucksfunktion. Das sozusagen Natürliche an ihr liegt, wie von Kreis und mir im Einklang gedeutet, in ihrem präsymbolischen Anteil, welcher darüber hinaus das eigentliche und freie Symbolische zu einem gewissen Grad präformiert. Die diagnostizierte Spannung zwischen vorsymbolisch und außersymbolisch, die Kreis' Lesart erst motiviert, verliert vor diesem Hintergrund jedoch ihre Legitimität. Die erst im Spätwerk explizit eingeführte Unterscheidung von passivem und aktivem Ausdruck stärkt diese Annahme und plausibilisiert ferner meine These vom natürlichen Erwachen des Geistes. Das Begriffspaar „passiver Ausdruck“ und „aktiver Ausdruck“ findet sich erstmals in der fünfteiligen Abhandlung Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) und steht in einem ganz ähnlichen Kontext wie die im Band zur Sprache diskutierte Phase des mimischen Ausdrucks. Cassirer zieht in der zweiten Studie mit dem Titel Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung erneut Darwins Studie zu den Ausdrucksbewegungen heran, um den Übergang vom natürlichen Verhalten zum menschlichproduktiven Handeln begrifflich zu präzisieren: Die Berufung auf die überzeugende Kraft der Ausdruckswahrnehmung reicht für sich allerdings nicht hin, um die Zweifel zu zerstreuen. Wir müssen vielmehr ein anderes Argument hinzunehmen; wir müssen an dem, was wir Ausdruck nennen, zwei verschiedene Momente unterscheiden. Einen „Ausdruck der Gemütsbewegungen“ gibt es auch in der tierischen Welt. Charles Darwin hat ihn in einem eigenen Werk eingehend studiert und beschrieben. Aber alles, was wir hier feststellen können, ist und bleibt passiver Ausdruck. Im Bereich des menschlichen Daseins und der menschlichen Kultur aber begegnet uns plötzlich ein Neues. Denn alle Kulturformen, so verschieden sie voneinander auch sein mögen, sind aktive Ausdrucksformen. Sie sind nicht, wie die Röte der Scham, das Runzeln der Stirn, das Ballen der Faust, bloße unwillkürliche Reaktionen, sondern Aktionen. Sie sind nicht einfache Geschehnisse, die sich in uns und an uns abspielen, sondern sie sind sozusagen spezifische Energien, und durch den Einsatz dieser Energien baut sich für uns die Welt der Kultur, die Welt der Sprache, der Kunst, der Religion auf. 62
61 62
ECW 13, S. 91. ECW 24, S. 408 f.
‚Natürliche` Symbolik als passiver Ausdruck
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Indem wir den aktiven Ausdruck zum eigentlich Symbolischen, also zu den spezifisch menschlichen, künstlich-produktiven Zeichen rechnen, erledigt sich die Frage, ob die „reine Ausdrucksfunktion“ aus dem Symbolischen herausfallen kann. Cassirer verwendet seine Terminologie oftmals zugegebenermaßen sehr voraussetzungsreich. 63 So fallen einerseits die Modi Ausdrucks-, Darstellungs- und reine Bedeutungsfunktion unter den Oberbegriff der Symbolfunktion und diese wiederum gilt Cassirer als die eigentliche Bedeutungsfunktion, also nicht im Sinne reiner, nicht mehr aufs Sinnliche angewiesener Verweisungszusammenhänge, sondern als der semantisch-semiotische Garant eines einheitlichen Weltbezuges durch ausdrucksmäßige und somit symbolische Zeichen. Die ‚Sprache` und Zeichenverwendung der Tiere dagegen fällt ausschließlich unter das, was Cassirer als passiven Ausdruck bezeichnet. Vor diesem Hintergrund ist auch diejenige Stelle zu lesen, in der Cassirer darauf hinweist, dass wir wenn überhaupt über das Phänomen des Ausdrucks auf das tierische Bewusstsein und die tierische Wahrnehmung schließen können. 64 Die gestische Kommunikation höherer Lebewesen ist klar durch das Phänomen des Ausdrucks gekennzeichnet, sie kann sogar als sinnhaft-geistiges und bewusstes Phänomen beschrieben werden, jedoch verbleibt auch sie im Rahmen des passiven Ausdrucks. Die Geburt des menschlichen Geistes beginnt mit dem Wandel vom passiven zum aktiven Ausdruck. Das Ausdrucksphänomen ist deshalb ‚sozusagen` „vormythisch“ und „vorlogisch“, weil es neben dem künstlich-symbolischen Anteil eben auch noch einen natürlich-symbolischen Anteil in sich trägt, der strenggenommen nicht zum Reich des Symbolischen, des spezifisch menschlichen Bedeutens und Objektivierens gehört. Die begriffliche Präzisierung, die Kreis vorgeschlagen hat, dass das Urphänomen des Ausdrucks zwar nicht außer- aber vorsymbolischen Charakter aufweist, verliert vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen passivem und aktivem Ausdruck ihre Pointe. Die Identifizierung von ‚natürlicher` Symbolik und passivem Ausdruck sowie künstlicher Symbolik und aktivem Ausdruck wird dagegen einsichtig, wenn man erneut bedenkt, dass Cassirer zufolge die Bedeutungsfunktion aus einer natürlichen Anlage, nämlich der des Ausdrucks, erwachsen muss. Der Nachlass ist hier aufschlussreich. Vgl. Cassirer, Ernst: „Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion“, in: ECN 5, S. 105–200 und hierzu Meland: „The Doctrine of Basis Phenomena“, S. 34 f sowie Kapitel 2.3. 64 „Erst von dieser Grundauffassung aus, von der Anerkennung des nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakters der reinen Ausdruckserlebnisse, läßt sich, wenn überhaupt, eine Brücke zu den Phänomenen des tierischen Bewußtseins schlagen.“ (ECW 13, S. 72.) 63
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‚Natürliche` Symbolik – Eine Definition?
Cassirer stützt im Folgenden seine These weiter in Auseinandersetzung mit Russells Behaviorismus. Dieser behauptet, der Großteil menschlicher Rede sei eher durch passive, imitative Sprachgewohnheiten als durch aktive Denkprozesse zu erklären. Als Beispiel führt er die Situation einer Schulprüfung zweier Schüler an, die Mathematik-Aufgaben lösen sollen, und bestreitet, dass sich aus der Beobachtung der Lösungsstrategien der zwei Schüler mehr ablesen lasse, als dass sich dem einen „bloße Wortformeln“ 65 besser eingeprägt haben als dem anderen. Wie abstrus diese Generalisierung Russells ist, verdeutlicht Cassirer unter Rückgriff auf die nun etablierte Terminologie: [K]ein wirklicher Pädagoge wird bei einer Prüfung so vorgehen, daß er lediglich nach Resultaten fragt. Er wird einen Weg finden, die Selbsttätigkeit des Schülers ins Spiel zu setzen. Er wird ihm ein Problem stellen, das dem Schüler vielleicht als solches vorher nie begegnet ist, und er wird an der Art seiner Lösung erkennen, nicht nur welche Art von eingelerntem Wissen der Prüfling besitzt, sondern auch, wie er dieses Wissen zu gebrauchen versteht. Und hier schwindet der Zweifel, den auch der vielfältigste, rein passive Ausdruck nicht prinzipiell zu überwinden vermag. Es gibt sicherlich passive Rede, wie es passiven Ausdruck gibt. Sie geht über den Kreis der bloßen Sprachgewohnheit (Language Habit) nicht hinaus. Aber die echte Rede, der sinnerfüllte „Logos“‚ ist von anderer Art. Sie ist niemals rein imitativ, sondern sie ist produktiv; und erst in dieser Funktion, in dieser ihr innewohnenden Energie bewährt und beweist sie jene andere Energie, die wir mit dem Namen des „Denkens“ bezeichnen. 66
Für unseren Zusammenhang ist es hier wichtig zu sehen, dass Cassirer durchaus der Ansicht ist, dass Menschen am passiven Ausdruck partizipieren und die behavioristische Methode deshalb nicht illegitim ist. In Auseinandersetzung mit Darwin wurde aber bereits darauf hingewiesen, dass sie unvollständig ist. Die menschliche Welt weist Bedeutung auf, die sich in Form eines Objektivitätskontrastes 67 zwischen das – im Uexküllschen Sinne – Merk- und Wirknetz der Wahrnehmungswelt unserer Spezies spinnt. 68 Cassirer zitiert Russell in ECW 24, S. 409. ECW 24, S. 409 f. 67 Ich übernehme diese Terminologie von Markus Gabriel, weise im vorliegenden Kontext jedoch darauf hin, dass dieser Kontrast einen größeren Bedeutungsspielraum als nur wahr-falsch hat, nämlich einen symbolischen. Vgl. Gabriel, Markus: An den Grenzen der Erkenntnistheorie, Freiburg / München: Alber 2014, S. 45. 68 Cassirer bezog sich derart erstmals in Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt (1932) auf Uexküll, aber auch in der ersten Studie von 1942 Der Gegenstand der 65 66
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Die zweite Studie von 1942 Naturbegriffe und Kulturbegriffe führt den Unterschied zwischen passivem und aktivem Ausdruck im Kontext der Intersubjektivität der Kulturwelt an. Das Problem, dem sich Cassirer hier stellt, besteht darin, dass die intersubjektiv konstituierte „Dingwelt“ der Naturwissenschaften zwar im höchsten Grade objektiv, um diesen Preis jedoch auch „radikal entseelt“ 69 ist. Die Kultur als Ganzes sowie das Ausdrucksphänomen im Besonderen haben in dieser Welt keinen Platz. Da nun aber das wissenschaftliche Weltbild Teil der Kultur ist – und nicht umgekehrt –, muss auch die Kulturwelt intersubjektiv konstituiert sein: Aber die Form dieser Teilhabe ist eine völlig andere als in der physischen Welt. Statt sich auf denselben raumzeitlichen Kosmos von Dingen zu beziehen, finden und vereinigen sich die Subjekte in einem gemeinsamen Tun. Indem sie dieses Tun miteinander vollziehen, erkennen sie einander und wissen sie voneinander im Medium der verschiedenen Formwelten, aus denen sich die Kultur aufbaut. Den ersten und entscheidenden Schritt, den Schritt, der vom „Ich“ zum „Du“ hinüberführt, muß auch hier die Wahrnehmung tun. Aber das passive Ausdruckserlebnis genügt hierfür sowenig, wie die bloße Empfindung, die einfache „Impression“‚ zur objektiven Erkenntnis genügt. Die wahre „Synthesis“ kommt erst in jenem aktiven Austausch zustande, den wir, in typischer Form, in jeder sprachlichen „Verständigung“ vor uns sehen. Die Konstanz, deren wir hierfür bedürfen, ist nicht die von Eigenschaften oder Gesetzen, sondern von Bedeutungen. 70
Die Sprache ist hier freilich erneut die Instanz, welche der Bedeutungskonstanz zum Durchbruch verhilft. Cassirer macht aber auch sehr deutlich, dass aktiver Ausdruck schon deutlich früher beginnt, nämlich im Wahrnehmungsphänomen. Wie wir bereits wissen, ist der Menschen über die Ausdruckswahrnehmung mit dem Fremdpsychischen anderer Subjekte bekannt. Diese Brücke ist nach Cassirer Voraussetzung für gemeinsames Handeln und den Aufbau der intersubjektiven Welt der Kultur. In seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Werk An Essay on Man (1944), das von Cassirer als Zusammenfassung und Einführung in die Philosophie der symbolischen Formen für das anglophone Publikum Kulturwissenschaft und am prominentesten in An Essay on Man (1944). Vgl. ECW 18, S. 117, ECW 24, S. 379 f, ECW 23, S. 28 f sowie vertiefend Schwarz, Felix: „Cassirers Antinaturalismus des Lebens und die Biologie des animal symbolicum“, in: Endres / Favuzzi / Klattenhoff (Hrsg.), Philosophie der Kultur- und Wissensformen, S. 137–162. 69 Beide Zitate ECW 24, S. 433. 70 Ebd.
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konzipiert wurde, hinterlässt uns Cassirer einen weiteren sehr konkreten Hinweis, dass der passive Ausdruck ein natürliches Phänomen ist. Der erneute Verweis auf Darwins Buch The Expressions of the Emotions in Man and Animals liefert darüber hinaus den Beweis, dass es hier weiterhin um denselben Kontext, den einer ‚natürlichen` Symbolik, geht, denn über eben diese Verbindung wurde oben jene Identifikation von passivem Ausdruck und ‚natürlicher` Symbolik hergestellt: The most elementary human utterances do not refer to physical things nor are they merely arbitrary signs. The alternative φύσει ὂν or θέσει ὂν does not apply to them. They are „natural“, not „artificial“; but they bear no relation to the nature of external objects. They do not depend upon mere convention, upon custom or habit; they are much more deeply rooted. They are involuntary expressions of human feelings, interjections and ejaculations. [. . . ] Violent outcries – of fear, of rage, of pain or joy – are not a specific property of man. We find them everywhere in the animal world. [. . . ] And yet the interjectional theory could not reach maturity until biology itself had found a new scientific basis. [. . . ] The connection had to be grounded in a universal principle. Such a principle was provided by the theory of evolution. [. . . ] In „The Expression of the Emotions in Man and Animals“ Darwin had shown that expressive sounds or acts are dictated by certain biological needs and used according to definite biological rules. [. . . ] There remained, however, a fundamental difficulty. [. . . ] It was not the mere fact but the structure of human speech which called for an explanation. An analysis of this structure discloses a radical difference between emotional and propositional language. The two types are not on the same level. 71
Cassirer modifiziert hier erneut leicht sein Vokabular, indem er von einer natürlichen, emotionalen Sprache und einer künstlichen, propositionalen Sprache spricht. Dies ist an dieser Stelle dem Umstand geschuldet, dass der obige Sachverhalt im Kapitel zur Sprache steht. Keinesfalls steht er im Widerspruch zum bisher Gefolgerten: Mensch und Tier teilen die natürliche Anlage der Ausdrucksbewegungen, der Ausdruckswahrnehmung und des Ausdrucksverstehens in Form einer emotionalen Sprache. Diese drückt subjektive Zustände aus. Für den Menschen gilt jedoch, dass diese emotionale Sprache nicht rein passiver, sondern aktiver Ausdruck ist, denn eine erste Form der Allgemeinheit der Bedeutungsfunktion ist aus einer natürlichen Anlage heraus, aus der ‚natürlichen` Symbolik, bereits 71
ECW 23, S. 125 f.
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erwacht und erfährt eine vorläufige Vollendung in der menschlichen Sprache: der propositionalen Sprache. Mit einem Hinweis auf Cassirers letztes, zwar zu Lebzeiten abgeschlossenes, jedoch erst posthum veröffentlichtes Werk The Myth of the State (1946) möchte ich meine Lesart der ‚natürlichen` Symbolik abschließend ins Ziel bringen. Cassirer behält an dieser Stelle die Rede der emotionalen Sprache bei und erläutert nun diese selbst anhand der Terminologie aktiv vs. passiv. Auch der erneute Verweis auf Darwins Buch fehlt an dieser Stelle nicht: Here we grasp one of the most essential elements of myth. Myth does not arise solely from intellectual processes; it sprouts forth from deep human emotions. Yet on the other hand all those theories that exclusively stress the emotional element fail to see an essential point. Myth cannot be described as bare emotion because it is the expression of emotion. The expression of a feeling is not the feeling itself – it is emotion turned into an image. This very fact implies a radical change. What hitherto was dimly and vaguely felt assumes a definite shape; what was a passive state becomes an active process. To understand this transformation it is necessary to make a sharp distinction between two types of expression: between physical and symbolic expressions. Darwin has written a classical book about the expression of emotions in men and animals. We learn from this book that the fact of expression has a very broad biological basis. It is by no means a privilege of man; it extends over the whole animal world. If we ascend to the higher stages of animal life, it constantly wins in strength and variety. [. . . ] If a man answers an insult by knitting his brows or clenching his fist he acts precisely in the same way an animal does when it shows its teeth in the presence of an enemy. But, generally speaking, human responses belong to quite a different type. What distinguishes them from animal reactions is their symbolic character. In the rise and growth of human culture we can follow step by step this fundamental change of meaning. Man has discovered a new mode of expression: symbolic expression. This is the common denominator in all his cultural activities: in myth and poetry, in language, in art, in religion, and in science. 72
Diese Passage macht letztlich auch einsichtig, warum Cassirer von ‚natürlicher` Symbolik und nicht vom natürlich Symbolischen spricht. Das eigentlich Symbolische umfasst alle Sphären des menschlichen Ausdrucks, denn sie sind aktiver Ausdruck. Dem Tier dagegen eignet zwar auch eine 72
ECW 25, S. 45 f.
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Form von Symbolik – Cassirer schreibt die durch ihr Verhalten ausgedrückte Fähigkeit zur Diskrimination und somit Individuierung sogar niederen Organismen zu 73 –, jedoch gelangt weder der Bienentanz noch die Zeichensprache der Menschenaffen zum eigentlich Symbolischen; sie bleiben passiver Ausdruck und somit der ‚natürlichen` Symbolik als Ausdruck einer reinen Affektsprache verhaftet. Beim Menschen dagegen „tritt eine selbständige Gestaltungsweise [. . . ] auf, die sich von aller Gegebenheit der unmittelbaren Empfindungen oder Wahrnehmung unterscheidet, um sich dann doch ebendieser Gegebenheit selbst als Vehikel, als Mittel des Ausdrucks zu bedienen“. 74 Rückblickend wird nun klar, in welch engem Verhältnis der Sache nach der auf diesen zwei einzigen Seiten zur ‚natürlichen` Symbolik nur einmal fallende Begriff des Ausdrucks zu diesem fraglichen Begriffspaar steht. Im Phänomen des Ausdrucks „wird die ‚natürliche` Symbolik, die wir im Grundcharakter des Bewußtseins selbst angelegt fanden, auf der einen Seite benutzt und festgehalten, während sie auf der anderen Seite überboten und verfeinert wird“. 75 Das Ausdrucksphänomen wird also schon im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen – zugegebenermaßen ziemlich kompakt und voraussetzungsreich – anhand eines doppelten Aspekts beschrieben. Die „natürlichen Zeichen“ sind im Ausdrucksphänomen derart angelegt, dass sie „über dieses Sein hinaus [. . . ] eine bestimmte Bedeutung [. . . ] erlangen“; die Bedeutungsfunktion erwächst also aus der natürlichen Anlage des Ausdrucks. Im „symbolischen Zeichen“ dagegen hat die Bedeutungsfunktion das Primat übernommen, bei ihr „entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf “. 76
„They would not be able to survive if they could not discriminate, in their behavior, between what is advantageous and disadvantageous, beneficial or harmful.“ (Ebd.) 74 ECW 11, S. 40. 75 Ebd. 76 Alle Zitate ebd. 73
Kapitel 6 Aspekte einer Theorie perzeptueller Erfahrung
„Ein ‚Denken ohne Worte` kann [. . . ] freilich nicht geleugnet werden[.]“ 1
6.1 Einleitendes zur Analyse der Wahrnehmung 6.1.1 Historisch-systematische Herleitung Eine zentrale Frage der Wahrnehmungsphilosophie lautet: Was sind Wahrnehmungen und welche Rolle spielen sie für die Erkenntnis? Das Problem der Wahrnehmung 2 lässt sich jedoch auch anhand folgender Fragen weiter spezifizieren: (a) Welchen Status haben Wahrnehmungen? Sind sie Zustände, Widerfahrnisse oder eher als prozessual im Sinne von Handlungen zu charakterisieren? (b) Was sind die Objekte der Wahrnehmung? Sind dies, wie der common-sense und naturalistische Theorien der Wahrnehmung annehmen, physikalische Gegenstände oder, wie insbesondere zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts oftmals vertreten wurde, Sinnesdaten bzw. mentale Entitäten? (c) Inwiefern unterscheiden sich Wahrnehmungen von Empfindungen oder Sinnesreizen? (d) Ist die Wahrnehmung intentional? Wäre nicht die Frage nach der Gerichtetheit des Bewusstseins, die nicht nur auf Gegenständliches geht, sondern auch Gefühle, Stimmungen, Dispositionen und andere Arten nicht-gedanklicher Zustände kennt, der Frage nach der Objektität 3 voranzustellen? ECW 13, S. 280. Einen guten Überblick über die Problemstellungen analytischer Wahrnehmungstheorien bietet die Habilitationsschrift von Staudacher, Alexander: Das Problem der Wahrnehmung, Münster: Mentis 2011. Ich möchte an dieser Stelle bereits vorausschicken, dass ich es als zentrales Problem aller analytischen Theorietypen erachte, dass sie das Problem der Sinnestäuschungen zum Ausgangspunkt der Wahrnehmungsphilosophie machen. Mehr dazu in Kapitel 6.2.8. 3 Ich verwende diesen Terminus in Anlehnung an Schopenhauer als die unmittelbare Form des „Objektseyns für ein Subjekt“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, §32, S. 240.), da ich davon ausgehe, dass obige Fragestellungen diesen Gedanken in der ein oder anderen Weise präsupponieren. Dementgegen verstehe ich die Frage nach den Objekten der Wahrnehmung als die Frage nach den verschiedenen Formen 1 2
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Aspekte einer Theorie perzeptueller Erfahrung
Die analytischen Wahrnehmungstheorien arbeiten sich seit nunmehr einem Jahrhundert sowohl am eingangs gestellten Erkenntnisproblem als auch an den skizzierten Problemen der Wahrnehmung ab. Generelle Kritik an diesen Debatten möchte ich insoweit anbringen, als diese sich oftmals in der Beantwortung von Detailfragen erschöpfen und selten Ideen in den Raum gestellt werden, wie die Wahrnehmungstheorie als Ganze philosophisch neu zu fassen wäre. Dies liegt insbesondere an bereits angedeuteten stillschweigenden Voraussetzungen hinsichtlich der Objekte der Wahrnehmung, aber auch am methodischen Vorgehen, das zu eng an den Kognitionswissenschaften orientiert ist und so den Empirismus als Problem für die Wahrnehmungsphilosophie überhaupt nicht in den Blick nehmen kann. Ich möchte die These vertreten, dass es geboten ist, mit der zuerst gestellten, weiter reichenden Frage nach der Erkenntnis anzusetzen, denn sie birgt die Möglichkeit, die Weichen durch eine Anfangsreflexion so zu stellen, dass die skizzierten, für die gegenwärtige Wahrnehmungsphilosophie essentiellen Fragen in einem anderen Licht erscheinen. Die Frage nach der Wahrnehmung ist intrinsisch mit der Frage nach der Erkenntnis verknüpft, einerseits weil sich Erkenntnis nicht im luftleeren Raum abspielt. Selbst die in der Tradition so genannte apriorische Erkenntnis kommt ohne einen Bezug zur Anschauung nicht aus und diese wiederum nicht ohne vorangegangene Wahrnehmungserfahrungen. 4 Das Evidenzerlebnis des Satzes des Pythagoras setzt geometrische Anschauung voraus und diese wiederum die Vertrautheit mit Flächen in der Lebenswelt. 5 Als Paradoxie formuliert: Was der Erkenntnis als Argument gilt, von Gegenständlichkeit, für deren Gesamtheit dieses Subjekt-Objekt-Verständnis nicht notwendigerweise gilt. 4 Kant selbst vertrat die These, dass jede „figürliche Synthesis“ nicht ohne Bezug zur sinnlichen Anschauung auskommt. (KrV, B 149–151.) Selbstverständlich gilt es, mit aller Vorsicht zwischen Geltung und Genese zu unterscheiden, worauf auch Cassirer hinweist: „Indessen bildet auch für die Geometrie, wie man sieht, die ‚Anschauung` hier nur ein technisches Hilfsmittel, dessen sie sich bedient, nicht aber den Rechtsgrund, auf dem ihre Wahrheiten beruhen.“ (ECW 13, S. 494.) Um diese Einsicht zu untermauern, verweist Cassirer weiter auf UD, S. 273 ff sowie Cohen, Hermann: Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften nach ihrem Verhältnis zum kritischen Idealismus, Berlin: Dümmler 1873. 5 Ich weise erneut darauf hin, dass Kant in seinem Kritizismus davon ausgeht, dass geometrische und arithmetische Erkenntnis aus Regeln konstruiert ist. (Vgl. KrV B 39.) Wird aber bspw. zur Illustration empirische Anschauung hinzugezogen, gilt meine Behauptung und will nur so viel sagen, dass wir ohne diese Anwendung doch wahrscheinlich erst gar nicht zum Betreiben von Mathematik kämen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Koriako, Darius: Kants Philosophie der Mathematik, Hamburg: Meiner 1999, S. 269. Gottlob Frege räumt diesen Umstand im Rahmen seines logizistischen
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hat selbst keine argumentative Struktur. Die Reflexion hat eben auch nicht-reflexive Voraussetzungen. Weiterhin ist bspw. das cartesianische ‚cogito ergo sum` als Gedanke wie jede andere sprachliche Äußerung zumindest indirekt an Sinnliches, entweder als geäußerter Schall oder als geschriebene Tinte, gebunden; ganz unabhängig davon, ob wir den Satz verstehen könnten, wenn wir keine lebensweltliche Erfahrung von Existenz hätten. Aber auch in anderer Richtung gilt: Wahrnehmungsphilosophie könnten wir gar nicht betreiben, wenn wir das Interesse an unserer Sinnlichkeit nicht von vornherein mit einem Interesse an unseren Erkenntnisbedingungen verknüpften. 6 So setzt auch die Erkenntnis über Wahrnehmungen die Erkenntnis über Erkenntnis immer schon voraus. Wissen und Wahrnehmung sind also in jedweder Wahrnehmungstheorie, ob nun aus kognitionswissenschaftlichem, phänomenologischem oder erkenntnistheoretischem Interesse heraus gestellt, aufeinander bezogen. Uneinigkeit herrscht vor allem darüber, in welchem Fundierungsverhältnis Wahrnehmungen und Erkenntnis zueinander stehen. Mit Cassirer möchte ich dieses Verhältnis im Folgenden aus einer transzendentalen Perspektive heraus rekonstruieren. Wir stellen hier also die bereits behandelte Frage, wie man vom Eindruck zum Ausdruck gelangt, noch einmal genereller: Wie gelangt man von den Reizungen der Sinnesorgane zu einem Weltbild, insbesondere auch zu Theorien über die Welt, einschließlich solcher Theorien, die wieProgramms sogar für die Arithmetik ein: „Ich will hiermit gar nicht leugnen, dass wir ohne sinnliche Eindrücke dumm wie ein Brett wären und weder von Zahlen noch von sonst etwas wüssten; aber dieser psychologische Satz geht uns hier gar nichts an.“ (Frege, Gottlob: Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau: Koebner 1884, S. 115.) 6 Warum die Sinne von sich aus epistemisch gar nichts preisgeben, hat besonders eindringlich Jocelyn Benoist unter Berufung auf Charles Travis hervorgehoben. Vgl. Benoist, Jocelyn: Le bruit du sensible, Paris: Cerf 2013 und Travis, Charles: „The Silence of the Senses“, in: Mind (113, 449), 2004, S. 57–94. Benoist zieht unter Berufung auf Merleau-Ponty jedoch den verfrühten Schluss, dass man sich durch die philosophische Herangehensweise an das Problem der Wahrnehmung auf rein epistemologische anstatt phänomenologische Fragen kapriziert und dadurch die Realität der Wahrnehmung aus dem Blick verliert: „Si un philosophe a essayé de parler de la perception – et j'entends par là de la perception réelle, non du « problème philosophique de la perception » –, c'est bien [Merleau-Ponty].“ (Benoist: Le bruit du sensible, S. 12.) („Wenn überhaupt ein Philosoph versucht hat über die Wahrnehmung zu sprechen – und damit meine ich über die reale Wahrnehmung, nicht über das ‚philosophische Problem der Wahrnehmung` –, dann sicherlich [Merleau-Ponty]“; meine Übersetzung.) Mit Cassirer ist dem entgegenzusetzen, dass sich das Erkenntnisproblem und eine Phänomenologie der Wahrnehmung nicht widersprechen, sondern jene in Auseinandersetzung mit einer Phänomenologie der Erkenntnis entwickelt werden muss.
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derum diese Theoriebildung thematisieren? Obwohl hiermit eine genealogische Frage gestellt ist, kann diese Cassirer zufolge nicht rein kausalgeschichtlich from stimulus to science 7 beantwortet werden. Vielmehr ist zu erkunden, „[w]ie sich innerhalb der Erkenntnis die bloße ‚Rhapsodie [der] Wahrnehmungen` kraft bestimmter Formgesetze des Denkens zu einem System des Wissens umbildet“ und wie die „Beschaffenheit jener Formeinheit“ 8 zu bestimmen ist. Um nun eine wichtige Ursache freizulegen, aufgrund derer die gegenwärtigen Typen der analytisch geprägten Wahrnehmungsphilosophie in einer Sackgasse stecken, die ein echtes Vorankommen abseits der skizzierten enggeführten Diskurse verhindert, ist ein Blick auf die Entwicklungen und Verdienste von Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie und Sprachphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert aufschlussreich. Willard Van Orman Quine hat mit der Veröffentlichung von Two Dogmas of Empiricism (1951) erfolgreich mit zwei Vorurteilen in der zeitgenössischen Philosophie aufgeräumt und infolgedessen gleichermaßen den logischen Empirismus wie die Transzendentalphilosophie weit ins Abseits des philosophischen Mainstreams gestellt. Seine Kritik an der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen besagt, vereinfacht gefasst, dass jeder Versuch, analytische von synthetischen Wahrheiten sauber zu scheiden, zirkulär ausfällt. 9 Diese Kritik blieb zwar nicht unwidersprochen, 10 hat sich jedoch in vielerlei Hinsicht durchgesetzt. Akzeptiert man die Grundzüge dieser Kritik, entfallen damit evidentermaßen auch die Voraussetzungen für Kants Projekt einer wissenschaftlichen Metaphysik, welche die Möglichkeitsbedingungen synthetischer Urteile a priori untersucht. Es stellt sich allerdings auch die Frage, wer im zwanzigsten Jahrhundert noch solch kantische Orthodoxie vertreten hat. Und noch mehr stellt sich die Frage, ob, wie Geert Keil behauptet, die genannte Unterscheidung überhaupt „Kennzeichen aller Spielarten von Transzendentalphilosophie“ 11 ist. Wie wir bereits gesehen haben, spielt für Cassirers rekonstruktiv-transzendentale Methode die Unterscheidung zwischen analytisch und synthetisch keine Rolle. Vgl. Quine, W. V. O.: From Stimulus to Science, Cambridge (Mass.): HUP 1998. Beide Stellen ECW 12, S. 126. 9 Vgl. Quine, W. V. O.: „Two Dogmas of Empiricism“, in: From a Logical Point of View, Cambridge (Mass.): HUP 1980, S. 20–37. „Our argument is not flatly circular, but something like it. It has the form, figuratively speaking, of a closed curve in space.“ (Ebd., S. 30.) 10 Vgl. bspw. Löhrer, Guido: „Gibt es analytische Urteile?“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (1), 2002, S. 60–84. 11 Keil, Geert: Quine. Grundwissen Philosophie, Ditzingen: Reclam 2011, S. 65. 7
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Das zweite Dogma, das es laut Quine zu überwinden gilt, besteht – und diese Kritik zielt primär auf den logischen Positivismus – in der Vorstellung, dass sinnvolle Aussagen von größeren sprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten isoliert und auf unmittelbare Erfahrungen reduziert werden können. 12 Auch der von Quine hiergegen formulierte semantische Holismus hat Schule gemacht, wodurch Verifikationismus und Protokollsätze aus dem Inventar philosophischer Konzepte mit Zukunftsaussicht gestrichen wurden. Insbesondere Wilfrid Sellars schloss mit seiner Kritik am Mythos des Gegebenen konzeptuell an diese Stelle an, 13 indem er die Dichotomie von Wahrnehmen und Begründen noch radikaler als Quine, der die empiristische Vorstellung von Beobachtungssätzen letztlich nicht vollends hinter sich ließ, 14 bestritt. Infolge dieser Entwicklungen in der Semantik und Wissenschaftstheorie des letzten Jahrhunderts hat Sellars' Schüler Robert Brandom den Sprachholismus als Expressivismus in pragmatistischer Abicht zu Ende gedacht und damit erstaunlicherweise Hegel für das neue Jahrtausend rehabilitiert. 15 Weniger bekannt jedoch – und damit komme ich auch auf die Frage zurück, ob tatsächlich jegliches Verständnis von Transzendentalphilosophie nach Quine obsolet ist – ist die Tatsache, dass der Neukantianismus Cohenscher und Natorpscher, also Marburger Prägung bereits radikale Kritik am Gegebenen übte und mitunter erstaunliche Parallelen zu den Fortschritten des vermeintlich 16 in Opposition zur Transzendentalphilosophie stehenden analytischen Diskurses bestehen. 17 Das dritte Dogma des Empirismus, das Quines Schüler Donald Davidson identifizierte, setzt zunächst bei dessen Sprachtheorie an, indem Vgl. Quine: „Two Dogmas of Empiricism“, S. 37–41. Vgl. Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, S. 13–25, 32–46 und 68–79. 14 Der spätere Quine geht von Reizbedeutungen aus und nähert sich mit diesem Behaviorismus wieder den Protokollsätzen des kritisierten logischen Empirismus an. Vgl. Quine, W. V. O.: Word and Object, Cambridge, Mass.: MIT Press 1964, S. 31–35. 15 Vgl. Brandom, Robert B.: Making it Explicit, Cambridge (Mass.): HUP 1998 und ders.: Wiedererinnerter Idealismus, Berlin: Suhrkamp 2015. 16 Eine ausgewogene Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Neukantianismus und analytischer Philosophie findet sich in: Glock, Hans-Johann: „NeoKantianism and analytic philosophy“, in: De Warren, Nicolas / Staiti, Andrea (Hrsg.): New Approaches to Neo-Kantianism, Cambridge: CUP 2015, S. 59–81. 17 Vgl. Renz, Ursula: „Von Marburg nach Pittsburgh. Philosophie als Transzendentalphilosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2), Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 249–270; Kreis, Guido: „The Idea of Transcendental Analysis. Kant, Marburg Neo-Kantianism, and Strawson“, in: British Journal for the History of Philosophy (27, 2), Abingdon: Taylor & Francis 2019, S. 293–314; Endres, Tobias: „Ernst Cassirer's Influence on the Philosophy of Wilfrid Sellars“, in: Cassirer Studies (IX). Ernst Cassirer's Post-War Afterlife, Neapel: Bibliopolis (im Erscheinen). 12 13
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der Relativismus des Begriffs-Schemas, der sich aus Quines Idee der radikalen Übersetzung ergibt, bestritten wird. 18 Davidson ist der Überzeugung, dass aus der bisherigen Dogmenkritik folgt, dass überhaupt kein sinnvoller Unterschied mehr zwischen Begriffsschema und Erfahrungsinhalt behauptet werden kann. An dem mit dieser Auffassung einhergehenden wahrheitstheoretischen Kohärentismus entzündet sich dann John McDowells einflussreiche Kritik und die Rückbesinnung auf Kant in der analytischen Philosophie. 19 6.1.2 Das vierte Dogma des Empirismus Mit Cassirer möchte ich nun einen Schritt weiter gehen und ein viertes Dogma formulieren, das die hier versammelte Kritik vereinigt und die Weichen so stellt, dass der Empirismus insgesamt fallengelassen wird. Damit sollen in keiner Weise die historischen Verdienste der vorgestellten Denker der (post-)analytischen Philosophie geschmälert, sondern soll vielmehr nahegelegt werden, dass die Traditionen sich der Sache nach gar nicht so weit auseinanderentwickeln können, wenn diejenigen Gedanken, welche den Fortschritt in der Philosophie markieren, erst einmal reif und in der Welt sind. Das von Cassirer diagnostizierte Dogma steht in engem Zusammenhang mit dem Linguistic Turn und der Einsicht in die Sprachgebundenheit des Denkens. Das Problem der Wahrnehmung erscheint infolge des auf die Sprache gewendeten Kritizismus in neuem Licht: Erst weit später als dieses Problem der inneren Beziehung und der wechselseitigen Bindung zwischen Sprechen und Denken hat sich der philosophischen Selbstbesinnung das andere, damit nahe verwandte Problem: die Frage nach der Bedeutung der Sprache für den Aufbau der Wahrnehmungswelt, aufgedrängt. 20
Wir wissen an dieser Stelle bereits, dass nach Cassirer nicht nur Sprechen und Denken, sondern auch Sprechen, Denken und Wahrnehmen sich aneinander formen. Neu an dieser Stelle ist, aus welchen Gründen Vgl. Davidson, Donald: „On the Very Idea of a Conceptual Scheme“ [1974], in: The Essential Davidson, Oxford: OUP 2006, S. 196–208. 19 Vgl. McDowell, John H.: Mind and World, Cambridge (Mass.): HUP 1996 und Conant, James (Hg.): Analytic Kantianism, in: Philosophical Topics (34,1-2), Arkansas: University of Arkansas Press 2008. 20 ECW 13, S. 235. 18
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es Cassirer überhaupt nicht verwundert, sondern es ihm „durchaus verständlich“ 21 erscheint, dass sich das Problem der Wahrnehmung durch die Wende zur Sprache zu einer Seite hin verschärft, denn es „[g]ilt doch seit jeher dies als der charakteristische Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmung, daß alles Denken sich im Kreise des bloß Mittelbaren bewegt, während die Wahrnehmung eine unmittelbare Gewißheit und eine unmittelbare Wirklichkeit besitzt“. 22 Von Cassirers Theorie des Ausdrucks wissen wir bereits, wie er die Intuition, dass die Wahrnehmungen unsere Schnittstelle zur Welt ausmachen müssen, mit der These, dass auch die Wahrnehmung nur als vermittelte Unmittelbarkeit 23 in den Horizont des Symbolischen eintritt, versöhnt. Cassirer erörtert den zeitgenössischen Rückfall in den vorkritischen Realismus entlang der Idee der unmittelbaren Wahrnehmung und anhand der Auswirkung, welche die aufkeimende Sprachphilosophie auf die Begriffstheorie hat. Mit der Wende zur Sprache geht nämlich der scheinbar endgültige Siegeszug des Nominalismus einher, der zugleich auch den Realismus als metaphysische Position stärkt. „So schien ebendies der Sinn und das Ziel des Kampfes gegen den ‚Begriffsrealismus` zu sein, daß durch ihn der Weg zur echten und ursprünglichen Realität freigemacht, daß der Realismus der Wahrnehmung klar und siegreich behauptet werden konnte.“ 24 Zwar lehnt auch Cassirer den Begriffsrealismus als unhaltbare metaphysische Position ab, aber insbesondere seine systematischen Bemühungen in Substanzbegriff und Funktionsbegriff zielten ja gerade darauf ab nachzuweisen, dass die durch Aristoteles lange wirkende Abstraktions- und Abbildtheorie des Begriffs – also die Vorstellung, dass Begriffe Verallgemeinerungen von Erfahrungen aufgrund von Ähnlichkeitsrelationen sind – unhaltbar ist. Begriffe seien vielmehr als Reihen, als konstruktive Schemata im Sinne kantischer Regeln zu verstehen. Anstelle von Nominalismus in der Begriffstheorie und naivem Realismus in der Wahrnehmungstheorie müssen sich Cassirer zufolge in beiderEbd. Ebd. 23 Diese Begrifflichkeit stammt ursprünglich von Hegel, findet sich aber auch in einem eigens so genannten Kapitel bei Helmuth Plessner und ist neuerdings durch Thomas Fuchs mit Bezug zur Wahrnehmungstheorie wieder aufgegriffen worden. Vgl. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 116; Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin: De Gruyter 1975, S. 321–340; Fuchs, Thomas: „In Kontakt mit der Wirklichkeit. Wahrnehmung als Interaktion“, in: Schlette / Fuchs / Kirchner (Hrsg.): Anthropologie der Wahrnehmung, S. 109–140. 24 ECW 13, S. 235. 21 22
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lei Hinsicht kritizistische Positionen durchsetzen. 25 Ich deute Cassirer an dieser Stelle so, dass es der Dialektik des Denkens geschuldet ist, analog zur Antithese des Begriffsrealismus die Antithese zum Phänomenalismus einzunehmen und so die Wahrnehmungstheorie in ein vorkritisches Stadium zurückzuversetzen. Und genau aus dieser Entwicklung heraus formuliert Cassirer dasjenige Dogma des Empirismus, das nicht erst nach und nach verschärft werden muss, bis es den Empirismus selbst als Problem erkennt, sondern anhand der Wahrnehmungsproblematik von vornherein den Empirismus als Ganzes angreift: „Auf diesem Dogma von der Autarkie und Autonomie, von der Selbstgenügsamkeit und Selbstverständlichkeit der Wahrnehmungserkenntnis, baut sich die moderne sensualistische Psychologie auf.“ 26 Dass „sensualistische Psychologie“ an dieser Stelle als Chiffre für empiristische Wahrnehmungstheorien insgesamt gelten kann, ergibt sich exegetisch aus der Stelle, die dieses Zitat als Auftakt des Kapitels Zur Pathologie des Symbolbewußtseins einnimmt, und systematisch dadurch, dass Cassirer ihr an dieser Stelle eine Sprachphilosophie, die Kants kritischem Weg 27 folgt, um das Problem der Wahrnehmung neu zu fassen, entgegenstellt: Nichts ist vielleicht so bezeichnend für die Erweiterung und Vertiefung, die die Sprachphilosophie durch Wilhelm von Humboldt erfahren hat, als der Umstand, daß Humboldt seine Frage von Anfang an nicht lediglich an die Welt der Begriffe, sondern auch an die Wahrnehmungs- und Anschauungswelt richtet. 28
Das von Cassirer formulierte vierte Dogma scheint prima facie mit Quines zweitem Dogma identisch. Der Unterschied liegt aber genau darin, dass Cassirer seine Wahrnehmungstheorie in enger Auseinandersetzung mit den symbolischen Formen, also auch den mythischen und sprachlichen Begriffen, entwickelt und nicht wie Quine mit der Wissenschafts- und Begriffstheorie anhebt und dann, wie in Word and Object, den ZusammenDass der Kritizismus für Cassirer ein Standard ist, um überhaupt wissenschaftlich philosophieren zu können, wird besonders aus folgender Nachlass-Stelle deutlich: „So wird die Welt der Wahrnehmung zum Gegebenen, zum Selbstverständlichen: auf sie wird die philosophische Frage und das philos[ophische] Staunen nicht erstreckt. Sie ist wie sie ist und was sie ist – unabhängig von aller Bedingtheit durch andere, durch sogenannte “geistige” Prozesse, wie sie sich in der Sprache auswirken. [. . . ] Kant hat diese Voraussetzung des Sensualismus zerstört.“ (ECN 4, S. 289.) 26 ECW 13, S. 235 f; meine Hervorhebung. 27 Cassirer beansprucht dies in all der Strenge, die Kant in seinem berühmten Diktum ausgesprochen hat: „Der kritische Weg ist allein noch offen.“ (KrV, B 884.) 28 ECW 13, S. 236. 25
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hang von Wahrnehmung und Bedeutung als Reiz-Reaktions-Geschehen rekonstruiert. Dass insbesondere Quines naturalisierte Erkenntnistheorie, welche dieser als Teilgebiet der behavioristischen Psychologie begreift, den Geist des Sensualismus atmet, steht eben deshalb auch außer Frage. Cassirer folgert, dass die Wahrnehmungspsychologie nicht zum Problem der Sprachabhängigkeit der Wahrnehmung beitragen kann: 29 Daß die Psychologie der Wahrnehmung uns auf die Frage nach der Abhängigkeit der Wahrnehmungswelt von der Welt der Sprache keine sicheren Aufschlüsse zu geben vermag: dies ist aus dem ganzen Gange ihrer bisherig[en] Entwicklung verständlich. Denn gerade sie stand in besonders starkem Maße, bewusst oder unbewusst, unter der Einwirkung des sensualistischen Dogmas. 30
Schwieriger ist dies postanalytischen Theorien nachzuweisen, die lediglich noch einen Minimalempirismus behaupten. 31 Die derzeit kaum widersprochene Forderung eines direkten, natürlichen oder naiven Realismus in der Wahrnehmungstheorie wäre ein möglicher Ansatzpunkt der Kritik. 32 Im Folgenden werde ich darlegen, wie Cassirer das Dogma des Empirismus im Ausgang von der Wahrnehmungstheorie überwindet. Empirische Studien, die sich u.a. mit dem Problem der Sprachabhängigkeit beschäftigen, kommen wohl genau deshalb auch immer wieder zu dem Ergebnis, dass es im Sinne Cassirers oder McDowells keine Sprachabhängigkeit der Wahrnehmung gibt: „The content of perception provided by Gestalt-mechanisms is not subject to cognitive penetration“. (Pompe, Ulrike: Perception and Cognition. Analyzing Object Recognition, Paderborn: Mentis 2011, S. 127.) Die vermeintliche Widerlegung durch die Empirie basiert jedoch auf einem Missverständnis der philosophischen Fragestellung. Dass dem nicht so sein müsste, hebt Cassirer klar hervor: „Erst in letzter Zeit scheint hier, von Seiten der Entwicklungspsychologie, der Kindespsychologie und der Tierpsychologie, ein Fortschritt sich anzubahnen; scheint das Problem, das Humboldt gestellt hat, in seiner sachlichen wie in seiner methodischen Bedeutung schärfer erfasst zu werden.“ (ECN 4, S. 291.) 30 Cassirer, Ernst: „Über Sprache, Denken und Wahrnehmung. Vorträge, 31. Oktober und 2. November 1927 King's College, University of London“, in: ECN 4, S. 287– 311, hier: S. 288. 31 Vgl. McDowell: Mind and World, S. XII, der besagten Minimalempirismus als „the idea that experience must constitute a tribunal, mediating the way our thinking is answerable to how things are“ (ebd.) definiert. 32 Innerhalb des gegenwärtigen Trends derartiger „neuer Realismen“ unterstreicht, soweit ich sehe, einzig Markus Gabriel, dass man im Kontext der Wahrnehmungsproblematik weiterhin von Repräsentation sprechen kann (und sogar muss), ohne zugleich eine Form des Repräsentationalismus zu vertreten. Vgl. Gabriel, Markus: Propos réalistes, Paris: Vrin 2020, S. 198 f. Folgerichtig weist Gabriel darauf hin, dass der Unterschied zwischen einem Objekt und seiner Repräsentation ein rein funktionaler und eben kein 29
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6.1.3 Begriffe und ‚sinnliche Allgemeinheit` Cassirers Kritik am Empirismus geht einher mit der fundamentalen Kritik an dem vielleicht einflussreichsten Typ Wahrnehmungstheorie in der Geschichte der Philosophie und den Wissenschaften: der Sinnesdatentheorie. Dies ist einerseits verständlich, da dieser durch George Edward Moore und Bertrand Russell popularisierte Theorietyp eindeutig in der Tradition des Lockeschen Empirismus steht. 33 Andererseits beziehen Fürsprecher der Sinnesdatentheorie ihre Argumente aus der Überzeugung, dass der naive (metaphysische) Realismus falsch ist. 34 Die Widerlegung der Sinnesdatentheorie hebt bei Cassirer nun mit der problematischen Gegenüberstellung singulärer, präsenter Empfindungen und Begriffe als Instanzen repräsentativer Allgemeinheit an. Beide müssen gängigen Überzeugungen zufolge genau deshalb von unterschiedlicher Art sein, weil das Wahrgenommene sowohl nach empiristischer als auch nach rationalistischer Vorstellung die Funktion übernehmen soll, dem vermittelnden Denken Realgrund und unmittelbar verifizierender truth-maker zu sein. 35 Cassirers Kritik besagt nun, dass die Opposition von Sinnlichkeit und Allgemeinheit ein Grundirrtum ist, der die Wahrnehmungstheorie und in ihrer Folge Begriffstheorie, Erkenntnistheorie und Metaphysik in falsche Bahnen lenkt: substantieller ist. Nur aus letzterem ergäbe sich erst eine metaphysische Verdopplung der Objekte (wie in klassischen Stellvertretertheorien). Vgl. ebd., S. 204 f. John Searle und Hilary Putnam sind dagegen aufgrund ihres Festhaltens an einer kausalen Theorie der Wahrnehmung mit Cassirers Empirismus-Kritik konfrontiert. Jocelyn Benoist wiederum orientiert sich stark am philosophischen Quietismus John McDowells, der im Verdacht einer Immunisierungsstrategie steht. Der naive Realismus M. G. F. Martins ist schlicht ein metaphysischer Realismus, der die Beweislast trägt zu zeigen, dass die Abbildtheorie der Erkenntnis wahr ist. 33 Deutlich wird dieser Zusammenhang in einem von Alexander Campbell Fraser verfassten Kommentar zu Lockes Essay concerning Human Understanding (1690). Dort spricht der Autor von „sense-given data“ (S. 108), „data of experience“ (S. 112, 205, 277 u. 280), „data which are presented to the senses“ (S. 133), „finite data of sense“ (S. 146) und „data of the senses“ (S. 148). Vgl. Fraser, Alexander C.: Locke, Edinburgh: Blackwood 1890. 34 Ursprünglich wurde die Sinnesdatentheorie jedoch als neutral in Bezug auf Fragen nach (Anti-)Realismus und Bewusstseins(un)abhängigkeit vorgestellt. Vgl. Russell, Bertrand: The Problems of Philosophy, Oxford: OUP 1997, S. 12 und Moore, G.E.: Some Main Problems of Philosophy, London: Allen and Unwin 1953, S. 30. 35 Vgl. Bergmann, Gustav: „The Glory and the Misery of Ludwig Wittgenstein“, in: ders.: Logic and Reality, Madison: University of Wisconsin Press 1964, S. 225–241. „Now if S is true, there must be something that makes it true. Or, as one says, the truth of S must be grounded ontologically.“ (Ebd., S. 229.)
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Es gibt für uns kein „einzelnes“ sinnliches Datum, das nicht – wenngleich in verschiedenen Graden der Ausprägung – in solchen Verflechtungen mit anderen stünde und das nicht dadurch einer allgemeinen, wenngleich zunächst rein sinnlich-anschaulichen Ordnung eingefügt wäre. In diesem Sinne ist es ein Vorurteil, an dem nicht minder die traditionelle Theorie des „Rationalismus“ wie die des „Sensualismus“ krankt, wenn man die Sphäre der „Allgemeinheit“ erst beim Begriff, der hierbei als logischer Gattungsbegriff verstanden zu werden pflegt, beginnen läßt. 36
Entgegen diesem Dualismus von Wahrnehmung und Begriff, der den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen dem Denken zurechnet, postuliert Cassirer die Idee sinnlicher Allgemeinheit. Damit wäre zunächst zwar nicht geklärt, wie genau begriffliche Allgemeinheit an sinnliche Allgemeinheit anknüpft, jedoch müsste man – sollte diese theoretische Option durchgehalten werden können – hinterher nicht erklären, wieso Begriffliches und Nicht-Begriffliches, Geist und Welt oder auch das Reich des Normativen, der Vermittlung mit dem faktisch Unmittelbaren überhaupt zusammenstimmen können. Cassirer hält diesen Weg deshalb für plausibel, weil Wahrnehmungserfahrungen, wie ja bereits gezeigt, nicht ausschließlich für sich sprechen. Vielmehr verhält es sich so, dass „schon innerhalb der konkreten Besonderung der sinnlichen Phänomene selbst [. . . ], von einem Besonderen zum andern, bestimmte Fäden der Verknüpfung hin und her [gehen], durch die sich das Einzelne ‚zum Ganzen webt`“. 37 Selbst isoliert betrachtete Empfindungen sind auf dieses Ganze bezogen. Cassirer verdeutlicht diesen Gedankengang anhand von Farbwahrnehmungen: Werden uns zwei Farbnuancen dargeboten und werden wir aufgefordert, uns eine dritte vorzustellen, die „zwischen“ ihnen liegen soll, so sind wir imstande, ein Bild dieser mittleren Farbqualität in uns zu entwerfen, auch wenn wir diese Qualität niemals zuvor als unmittelbaren Sinneseindruck erlebt haben. Es zeigt sich hierin, daß die Mannigfaltigkeit der Eindrücke selbst eine Art von „innerer Form“ in sich schließt – eine Regel der Verknüpfung, die uns erlaubt, innerhalb dieser Mannigfaltigkeit nicht nur „Wirkliches“ an „Wirkliches“, eine aktuale Empfindung an eine andere, zu reihen, sondern auch von Wirklichem auf „Mögliches“ überzugreifen. Wir vermögen durch eine reine Leistung der „Einbildungskraft“ auch solche Stellen einer sinnlichen Gesamtheit, die die direkte
36 37
ECW 13, S. 491. Ebd.
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Erfahrung für uns leer gelassen hat, mit einem bestimmten Inhalt zu erfüllen. 38
Präsentatives und Repräsentatives stehen sich offenbar gar nicht so dichotomisch gegenüber, wie man es aus vielen klassischen Theorien der Philosophie des Geistes kennt. Vielmehr scheinen diese geistigen Funktionen im Wahrnehmungsphänomen eng miteinander verzahnt. Da mit der Rede von „Regel der Verknüpfung“ und der „Einbildungskraft“ kantisches Vokabular anklingt, halte ich es an dieser Stelle für geboten, diesen Einflüssen noch einmal genauer nachzugehen, um zu klären, inwieweit Cassirer Kants Wahrnehmungstheorie folgt und an welcher Stelle er dessen Theorie modifiziert.
6.1.4 Phänomenalismus, Phänomenologie und Dinge-an-sich Für Cassirer liegen die „Voraussetzungen für jede wahrhafte Phänomenologie der Wahrnehmung“ in einer „grundsätzliche[n] methodische[n] Korrektur“ durch ein „tieferes erkenntniskritisches wie phänomenologisches Verständnis der Wahrnehmung“. 39 Cassirers Lesart der Kritik der reinen Vernunft hebt zunächst erneut mit einem transzendentalen Argument gegen den Empirismus an: Wenn wir davon ausgehen, dass sich Wahrnehmungserlebnisse durch unterschiedlich geformte und die Wahrnehmung anleitende Sinnstrukturen von bloßen Empfindungen abheben, müssen wir aufzeigen, in welchem Verhältnis Struktur und Inhalt hier zueinander stehen. Empiristische Theorien versuchen zu zeigen, dass „das Zusammentreten und das empirische Ineinanderwachsen sinnlicher Eindrücke genügt, um diese Form, oder doch das Bild von ihr, zu erzeugen“. 40 Ein sinnkritisches Gegenargument bestünde nun darin, dass man darauf hinweist, dass man so in einen Regress verfällt, denn die Frage, ob das ‚Mosaik` der Eindrücke mit dem entworfenen ‚Bild` der Sinnstruktur übereinstimmt, stellt sich erneut auf Ebene der Struktur und erklärt sich nicht durch die sinnlichen Inhalte. Cassirer führt aber noch ein weiteres Argument an: „Nicht es selbst [das geformte Bild, T.E.] hat Gestalt und Wahrheit, sondern Wahrheit und Wirklichkeit kommt allein den substantiellen Elementen zu, aus denen es sich gleich einem Mosaik zusammenfügt.“ Die ECW 13, S. 492. Die zumeist im Kontext sprachlicher und wissenschaftlicher Begriffsbildung thematisierte Reihenbildung ist Cassirer zufolge ursprünglich eine Leistung des Zusammenspiels von Wahrnehmung und produktiver Einbildungskraft. 39 Alle drei Stellen ECW 13, S. 220. 40 ECW 13, S. 219. 38
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Ebene, auf der also überhaupt über Wahrheit und Falschheit entschieden wird, wird Cassirer zufolge so als „Scheinbild“ 41 konstruiert. Dem Empirismus liegt so betrachtet eine Art Nietzschescher Falsifikationsthese zugrunde, nach der die Wahrheit unserer sinnhaften Erfahrung auf lebensdienlichen Fiktionen beruht. 42 Entgegen dieser Theorieoption stellt Cassirer nun einen zentralen Gedanken der Kritik der reinen Vernunft heraus: Kant begreift „im Begriff der ‚transzendentalen Apperzeption` eine ‚Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung` selbst“. 43 Diese „methodische Korrektur“ 44 wird von Kant jedoch auch phänomenalistisch gewendet, wenn dieser Wahrnehmungen als „mit Empfindung begleitete Vorstellungen“ 45 und somit als Erscheinungen in der empirischen Anschauung definiert. Die Bedingungen des Erscheinenden und die Bedingungen der Wahrnehmung fallen so in eins. Die Formung der Sinnlichkeit durch die transzendentale Apperzeption ist nach Kant eine Synthesisleistung, die nicht aus den Inhalten dieser Formung stammen kann, sondern die Leistung regelgeleiteter Funktionen ist. Kant schreibt diese Leistung dem menschlichen Verstand zu. „Der Verstand ist der schlichte transzendentale Ausdruck für das Grundphänomen, daß alle Wahrnehmung, als bewußte Wahrnehmung, immer und notwendig geformte Wahrnehmung sein muß.“ 46 Wir wüssten ohne diese Form einfach nicht, wie wir Bewusstseinsinhalte als diese Inhalte lesen sollten. In Anlehnung an Kant können wir sagen, dass es gilt, die Wahrnehmung zu formen, um sie als Erfahrung lesen zu können. 47 Cassirers Lesart der Deduktion der reinen Beide Stellen ebd. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: KSA 5, München: DTV 1999, S. 18 und 24 ff, wo dieser von der Falschheit und Lebensdienlichkeit der synthetischen Urteile a priori spricht. Paradigmatisch in diesem Kontext ist weiterhin ders.: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: KSA 1, München: DTV 1999, S. 873–897. Vgl. in diesem Zusammenhang weiterhin Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Meiner: Leipzig 1911. S. 771–790; Hales, Steven D. / Welshon, Rex: Nietzsche's Perspectivism, Illinois University of Illinois Press 2000. Günter Abel hat entgegen dem affirmativen Insistieren auf Nietzsches Fiktionalismus überzeugend dargelegt, dass sich Nietzsches Fiktionen als Funktionen eines Interpretationsgeschehens deuten lassen und somit „Vernunft [. . . ] als Interpretation gefaßt und darin in ihrem metaphysischen Sinne zerstört“ wird. (Abel, Günter: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, De Gruyter: Berlin / New York 1998, S. 168.) 43 ECW 13, S. 220. Vgl. ferner KrV, B 160. 44 ECW 13, S. 220. 45 KrV, B 147. 46 ECW 13, S. 221. 47 Vgl. KrV, A 314/B 370 f sowie Prauss, Gerold: Erscheinung bei Kant, De Gruyter: Berlin 1971, S. 93–98, der sich im Rahmen der Buchstabieren-Metapher bei Kant auch auf Cassirer und Cohen bezieht. 41 42
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Verstandesbegriffe läuft auf eine Liberalisierung der Kategorien der kantischen Verstandesleistungen im Sinne einer Erweiterung hinaus, welche die Gesetze des Verstandes als symbolische Formung begreift. Kant versucht in der Deduktion zu zeigen, dass die Regeln des Verstandes die Strukturen der erkennbaren Gegenstände sind. Cassirer verschiebt den Fokus von der Erkenntnis von Gegenständen auf die Modalitäten von Gegenständlichkeit in der Wahrnehmung. Die Regeln des Verstandes verleihen der Wahrnehmung sowohl subjektive als auch objektive Bedeutung: In ersterer Hinsicht nehmen Wahrnehmungsinhalte eine Stelle im Ganzen eines Bewusstseins ein und in letzterer Hinsicht werden sie auf eine Form der Gegenständlichkeit bezogen. So treten die reinen Verstandesbegriffe, die nichts anderes als ebendiese Zuordnung des Einzelnen zum Ganzen und die verschiedenen Richtungen dieser Zuordnung ausdrücken, nicht nachträglich zur Wahrnehmung hinzu, sondern sie bilden die Konstituenzien der Wahrnehmung selbst. Diese besteht nur, sofern sie in bestimmten Formen steht. 48
Eine bestimmte Wahrnehmung ist nach Cassirer eine Erfahrung, die „in jenen charakteristischen Sinnverbänden steht, die durch die einzelnen Kategorien ausgesagt werden“. 49 Subjektiv gewendet ist die Wahrnehmung nach Cassirer so Ausdruck eines Ich; objektiv gewendet ist sie Erscheinung eines Gegenstandes der Erfahrung. 50 Mit dieser Interpretation Cassirers wird einerseits deutlich, dass mit Kant das Problem des ‚Mythos des Gegebenen` bereits überwunden ist, da Sinnlichkeit immer so viel wie „geistig beherrschte Sinnlichkeit“ bedeutet. Selbiges gilt bei Cassirer dann folgerichtig auch für die Ausdruckswahrnehmung, da zwar die „Welt der Wahrnehmung [. . . ] ihrer unmittelbaren Beschaffenheit nach noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt“, jedoch ohne geistigen Bezug eine für die Theorie nicht brauchbare Unmittelbarkeit wäre. Es handelt sich nie „um ein einfach gegebenes und vorgefundenes Sinnliches, sondern um ein System sinnlicher Mannigfaltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden“. 51
ECW 13, S. 221. ECW 13, S. 221 f. 50 Vgl. ebd. 51 Alle drei Zitate ECW 11, S. 18; meine Hervorhebung. Die Kursivsetzung verdeutlicht meine These, dass Cassirers Verständnis von Unmittelbarkeit in den Bereich der Ausdruckswahrnehmung fällt. 48 49
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Weiterhin kann Cassirer aufbauend auf dieser Grundlage zeigen, dass das bereits früh vorgebrachte Problem der Affektion bei Kant auf falschen Prämissen ruht und sich durch eine sinnkritische Reflexion auflöst. Die These von der Geformtheit der Wahrnehmung schließt, wie dargelegt, die Möglichkeit vor-sinnhafter Erfahrung aus: Da jede Wahrnehmungserfahrung „in die Formen des Bewußtseins aufgenommen und in sie gleichsam umgegossen wird, da [sie] doch nur ‚in` diesen Formen, nicht ‚vor` ihnen besteht“, 52 kann die Frage nicht mehr lauten, „wie aus bloßem bedeutungsfremden Dasein etwas wie Bedeutung ‚wird`, wie aus dem bloßen ‚Rohstoff ` der Empfindung, als etwas prinzipiell Sinnfremdem, ein Sinn hervorgeht“. 53 Das Problem der Affektion durch das Ding-an-sich ist folglich ein Scheinproblem, das sich vom kritizistischen Standpunkt aus gar nicht stellt, sondern ausgehend vom empiristisch-psychologistischen Verständnis der Wahrnehmung her fragt. 54 Cassirer hat diesen Sachverhalt ganz ähnlich im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen in Bezug zur Sprache so verdeutlicht, dass sowohl empiristische als auch rationalistische Theorien in einem „Dilemma der Methode“ 55 gefangen sind und die Probleme sich durch Korrektur der Fragestellung nach sinnkritischem Maßstab auflösen. Aufgrund ihrer Prägnanz im erörterten Kontext möchte ich diese Passage abschließend in extenso zitieren: Wir stehen hier vor einem jener Probleme, die nicht durch ein einfaches Entweder-Oder beantwortet, sondern die nur durch eine grundsätzliche kritische Berichtigung der Fragestellung selbst entschieden werden können. [. . . ] Bleibt man auf dem Boden der Abbildtheorie stehen – nimmt man somit an, daß der Zweck der Sprache in nichts anderem liegen könne als darin, bestimmte in der Vorstellung gegebene Unterschiede äußerlich zu bezeichnen –, so hat die Frage einen guten Sinn, ob es Dinge oder Tätigkeiten, Zustände oder Eigenschaften gewesen seien, die von ihr zuerst hervorgehoben worden seien. Im Grunde aber verbirgt sich in dieser Art der Fragestellung nur der alte Fehler einer unmittelbaren Verdinglichung der geistig-sprachlichen Grundkategorien. Eine Scheidung, die erst „im“ Geiste, d. h., durch die Gesamtheit seiner Funktionen erfolgt, wird als eine substantiell vorhandene und bestehende dem Ganzen dieser Funktionen ECW 13, S. 223. Ebd. 54 Prauss löst dieses Problem ähnlich durch seine Deutung der Transzendentalphilosophie als einer „nichtempirischen Theorie des Empirischen“. (Prauss, Gerold: Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn: Bouvier 1989, S. 11.) 55 ECW 11, S. 236. 52 53
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vorangestellt. Dagegen gewinnt das Problem sofort einen anderen Sinn, wenn man darauf reflektiert, daß „Dinge“ und „Zustände“, „Eigenschaften“ und „Tätigkeiten“ nicht gegebene Inhalte des Bewußtseins, sondern Weisen und Richtungen seiner Formung sind. Dann zeigt sich, daß weder die einen noch die anderen unmittelbar wahrgenommen und, gemäß dieser Wahrnehmung, sprachlich bezeichnet werden können, sondern daß nur die zunächst undifferenzierte Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke in der Richtung auf die eine oder die andere Denk- und Sprachform bestimmt werden kann. 56
6.1.5 Die Konstanzhypothese und die Objekte der Wahrnehmung Eine phänomenologische Analyse der Wahrnehmung fordert nach Cassirer, diese zunächst als ein „ungeschiedenes Ganze[s]“ anzunehmen, als ein „Gesamterlebnis“, das „in irgendeiner Weise gegliedert ist“. Er lässt keinen Zweifel daran, dass „das Phänomen der Wahrnehmung, wenn es in seiner ursprünglichen Grundgestalt, in seiner Reinheit und Unmittelbarkeit genommen wird“, trotz dieser behaupteten Unmittelbarkeit eine Struktur aufweist, diese jedoch keine „Zerfällung in disparate sinnliche Elemente in sich schließt“. 57 Sobald wir über die Struktur der Wahrnehmung nachdenken, drängt sich notwendig eine kaum hinterfragte Annahme auf, welche die Wahrnehmungsphilosophie seit jeher verfolgt: die Konstanzhypothese. Sie besagt, dass einzelne Wahrnehmungsinhalte einem zugeordneten Organ entsprechen und sich die Realität für das Bewusstsein aus diesen Inhalten zusammenfügt. Jedem besonderen Organ der Wahrnehmung wird [. . . ] je eine selbständige Welt von Wahrnehmungsinhalten zugeordnet. Dem Auge entspricht [. . . ] die Welt der Farben, dem Ohr die Welt der Töne, dem Tast- und Temperatursinn die Welt des Rauhen und Glatten, des Kalten und Warmen usf. 58
Cassirer macht darauf aufmerksam, dass diese Auffassung bereits dem „vorwissenschaftlichen Weltbild angehört“ 59 und genau dann aufkommt, wenn man die „Wahrnehmung nicht mehr in ihrem einfachen Gehalt betrachtet“, sondern sie unter den „gedanklichen Gesichtspunkt“ der Kau56 57 58 59
Ebd. Alle fünf Stellen ECW 13, S. 31. ECW 13, S. 32. Ebd.
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salanalyse stellt. „Erst dadurch, daß sie nicht lediglich nach ihrem ‚Was` erfaßt und bestimmt, sondern daß nach ihrem ‚Woher` gefragt wird, ergibt sich die Notwendigkeit ihrer Sonderung in relativ voneinander unabhängige Sinneskreise.“ 60 Die ursprüngliche Struktur der Wahrnehmung erfährt so bereits durch die Erfahrung, dass unsere Sinne irgendwie mit den Dingen der Welt in Kontakt stehen und uns gewisse Eigenschaften offenbaren, eine „kaum merkliche[. . . ] Umbildung“, die den „genetische[n] Gesichtspunkt an Stelle des rein phänomenalen“ 61 setzt. Da dieser Prozess lange vor dem Auftreten der modernen Naturwissenschaften und somit methodisch nicht abgesichert beginnt, verändern sowohl wirkliche als auch vermeintliche Kausalfaktoren unser Bild von der Wahrnehmung und ihren Leistungen seit jeher. Der Fortschritt innerhalb dieser Betrachtungsweise zeichnet sich im Auffinden aller Gesetze des „Werden[s] der Wahrnehmung“ ab, welche „als besondere empirische Gesetze nicht anders als im Rahmen der gesamten Naturerklärung gefunden und bestimmt werden“ 62 können. Daher geht jede positivistische Analyse der Wahrnehmung notwendigerweise mit einer Variante der Konstanzhypothese einher. „Der ‚Parallelismus` in der Gliederung der Reizwelt und in der Wahrnehmungs- und Empfindungswelt ergibt sich hieraus von selbst. Immer wird, im Sinne einer allgemeinen ‚Konstanzannahme`, einem bestimmten Reiz eine bestimmte Empfindung zugeordnet.“ 63 Diese Weise des kausaltheoretischen Zugangs zum Wahrnehmungsphänomen hat selbstverständlich für uns wie für Cassirer seine Berechtigung: nicht nur weil Menschen seit den Anfängen der Kultur die Welt nun mal kausal deuten und wir uns hiermit eine anthropologische Einsicht sichern, sondern weil medizinisch-technische Neuerungen – bspw. solche, die dem Zweck dienen, nicht (mehr) funktionierende Sinnesorgane künstlich zu unterstützen oder zu ersetzen – auf diese Erkenntnisse angewiesen sind. Cassirers Urteil über die Relevanz der Kausalanalyse für das eigentlich philosophische Problem der Wahrnehmung fällt trotz alledem harsch aus: Zur Anerkennung irgendwelcher im strengen Sinne „originärer“ Wesenszüge der Wahrnehmung kann es, auf dem Boden dieser Betrachtungsweise, nicht kommen: Denn eben in der getreuen Abspiegelung der Verhältnisse der „äußeren“ Welt, in ihrer „Wiedergabe“, besteht der Sinn und Gehalt der Wahrnehmung selbst. 64 60 61 62 63 64
Alle drei Stellen ECW 13, S. 31. Beide Stellen ECW 13, S. 32. Beide Stellen ECW 13, S. 64. ECW 13, S. 65. Ebd.
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Kurz gesagt: Die genetische Analyse unserer Wahrnehmungsleistungen ist erhellend und nützlich, jedoch aufgrund der Konstanzhypothese inkompatibel mit der phänomenologischen Betrachtung, durch welche tiefere Schichten der Wahrnehmung, die sich der reinen Kausaldeutung entziehen, freigelegt werden sollen. In der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften steht dieser Betrachtungsweise des „Problem[s] der Wahrnehmung“ Cassirer zufolge der „erkenntnistheoretische Gesichtspunkt“ gegenüber. Dieser fragt nach der „objektiven Bedeutung und Geltung“, nach der Leistung der Wahrnehmung, „die ihr im Ganzen der Gegenstandserkenntnis zukommt“. 65 Diese harte Gegenüberstellung von Genesis und Geltung ist, wie wir seit Nietzsches Kant-Kritik wissen, 66 theoretisch nicht durchzuhalten und von Cassirer auch nicht angestrebt. Wir hatten bereits gesehen, dass Cassirer das Herzstück der Kritik der reinen Vernunft, die Kategorienlehre, durch eine phänomenologische Herangehensweise als eine (bei Kant unvollständige) Formbildung der Wahrnehmung begreift. Kants Erscheinungslehre ist zwar insofern ‚phänomenologisch`, dass sie nicht „von den ‚Dingen` zu den ‚Phänomenen`, sondern von diesen zu jenen fort[geht]“. 67 Jedoch deckt Cassirer auch in dieser Herangehensweise ein theoretisches Vorurteil auf: Er kann zeigen, dass bei Kant die Wahrnehmung nicht in Bezug zu Konstitutionsprinzipien von Phänomenen überhaupt, sondern ausschließlich in Bezug zur Konstitution von Dingen und deren Erkenntnis gesetzt wird. Indem Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Erscheinende „ausschließlich in dieser Funktion betrachtet, stellt sich nun auch ihr die Wahrnehmung von Anfang an in einer bestimmten ‚Beleuchtung`, stellt sie sich ihr unter einem bestimmten theoretischen Gesichtspunkt dar“. 68 Kant beAlle vier Stellen ECW 13, S. 64. Vgl. dazu Pieper, Annemarie: „Wie etwas anfängt. Transzendentallogische versus genealogische Begründung“, in: Himmelmann, Beatrix (Hg.): Kant und Nietzsche im Widerstreit, De Gruyter: Berlin / New York 2005, insbesondere S. 10: „Man kann aus Nietzsches Sicht die Frage der Geltung nicht so säuberlich von der Frage nach der Genesis abtrennen, wie Kant dies unterstellt hat.“ Vgl. ferner Hogrebe, Wolfram: Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, München 1987, S. 12, der hierin eine „Wende von der ungeschichtlichen Geltung zur geltenden Geschichte“ ausmacht. Nietzsche selbst hat diese Verwobenheit von der Genese der Geltung und geltender Genese am treffendsten im Nachlass auf den Punkt gebracht: „Man kann ein Urtheil widerlegen, indem man seine Bedingtheit nachweist: damit ist die Nothwendigkeit, es zu haben, nicht abgeschafft. Die falschen Werthe sind nicht durch Gründe auszurotten: so wenig wie eine krumme Optik im Auge eines Kranken. Man muß ihre Nothwendigkeit, dazusein, begreifen: sie sind eine Folge von Ursachen, die mit Gründen nichts zu thun haben“. (Nietzsche: Nachlaß 1887–1889, in: KSA 13, München: DTV 1999, S. 515.) 67 ECW 13, S. 65. 68 Ebd. 65 66
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fragt die Leistung der Wahrnehmung in einem so strengen Sinne nach ihrer objektiven Gültigkeit, dass er damit „die Ding-Eigenschafts-Kategorie, die eine konstitutive Bedingung des theoretischen Naturbegriffs ist, schon in die reine Deskription, in die Phänomenologie der Wahrnehmung“ 69 hineinlegt. Cassirer gesteht zwar zu, dass Kant mit dieser Strategie zunächst lediglich die Struktur des transzendentalen Gegenstands, des ‚intentionalen X`, und nicht sofort die Realstruktur aller erkennbaren Gegenstände aufzuweisen versucht. Die Intentionalitätsanalyse wird so jedoch unvermerkt limitiert: Weil Kant die Objektivitätsbedingungen am Naturgegenstand des mathematisch-physikalischen Weltbildes misst, können die Objekte der Wahrnehmung lediglich in strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit intendiert werden. Kants Erkenntniskritik hat folglich ein ganz ähnliches Problem wie die reine Kausalanalyse; der erst zu bestimmende Inhalt der Wahrnehmung kann nur noch eine Form annehmen: Indem man „sich in dieser Weise auf ihn richtet, hat [man] sich schon unvermerkt nach ihm gerichtet“. 70 Was kann es nun bedeuten, dass der Bestand der Wahrnehmung im Ausgang der Unmittelbarkeit bestimmt werden soll, was ist das Analyseobjekt von Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung? Was bleibt uns noch als Analyseobjekt, nachdem diagnostiziert wurde, dass die kausalistisch-empiristische Vorgehensweise in eine repräsentationalistische Abbildtheorie führt, die Erkenntniskritik neben dem Naturobjekt nur noch praktisch gewendet die Moral sowie Urteile über ästhetische Objekte denken kann und nachdem die Dogmenkritik einsichtig gemacht hat, dass Präsentatives und Repräsentatives methodisch nicht zu trennen ist? Der Bestand der Wahrnehmung muss nach Cassirer eine Struktur aufweisen, er muss die Möglichkeit der Formgebung aufweisen. Cassirer schreibt an einer zentralen Stelle im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen: Der Versuch freilich, sie von jedem geistigen Bezug zu lösen, sie von der Gesamtheit der möglichen Bedeutungsintentionen abzuschneiden und in ihrem nackten Ansich hinzustellen – dieser Versuch erscheint von Anfang an als widersinnig und als methodisch hoffnungslos. Auch die „Sinnlichkeit“ kann niemals als ein bloß Vorgeistiges oder gar als ein schlechthin Ungeistiges gedacht werden; sondern sie selber „ist“ und besteht nur, sofern sie sich nach bestimmten Funktionen des Sinnes gliedert. 71 69 70 71
ECW 13, S. 66. ECW 13, S. 66. Ebd.
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Die phänomenologische Analyse fragt also schon wie die Erkenntniskritik nach dem objektiven Bestand und der Struktur der Wahrnehmung, jedoch nicht ausschließlich hinsichtlich der Bestimmung der Objekte des theoretisch-reflexiven Wissens. Rückbesinnend auf die eingangs gestellten Fragen möchte ich an dieser Stelle die These verteidigen, dass nach Cassirer die Objekte der Wahrnehmung durch (intentionale) Sinnstrukturen konstituiert sind. 72 Diese methodische Herangehensweise schließt keinesfalls aus, dass die Objekte der Wahrnehmung zugleich physische Objekte sind. 73 Sie schließt aber aus, dass Cassirer eine Theorie der Wahrnehmung vertritt, nach der physikalische Objekte oder Sinnesdaten eine kausale Repräsentation der Realität als Wahrnehmungsphänomen erzeugen. 74 Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, wie Wahrnehmungsbestand und Sinnstrukturen im Komplex der symbolischen Formen zusammenhängen. 6.2 Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung 6.2.1 Symbolische Prägnanz: Husserl und Meillassoux in der Kritik ‚Symbolische Prägnanz` ist unbezweifelbar der schillerndste Begriff der Philosophie der symbolischen Formen. Es ließe sich sogar mit einigem Recht behaupten, der Prägnanzbegriff habe im Gegensatz zum Symbolbegriff Etwas zurückhaltender formuliert findet sich diese These auch bei Peter Remmers: „Das, was wir in filmischen Bewegungsbildern wahrnehmen und erfahren, können wir mit Cassirer als filmische Bedeutung ansprechen. Die Bedeutung bildet gewissermaßen das ‚Objekt` der Wahrnehmung und Erfahrung.“ (Remmers, Peter: „Symbolische Form und Epistemologie filmischer Bewegungsbilder“, in: Endres / Favuzzi / Klattenhoff (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen, S. 58.) 73 Cassirer gesteht der physikalistischen Ontologie sogar ein relatives Recht zu, wenn er zur Frage nach dem ontologischen Status der Kulturobjekte schreibt: „[E]s kann keine Rede davon sein, daß wir sie als ein Andersartiges, Jenseitiges, irgendwie »Transzendentes« aus der "physischen" Welt herausheben wollten – sie haben vielmehr ihr »Dasein«, ihre raum-zeitliche Wirklichkeit lediglich an diesen physischen Dingen – Um für uns "da zu sein", müssen sie sich »verkörpern« und diese »Verkörperlichung« ist die Bedingung für ihre "Existenz" – In diesem Sinne kann man mit Recht die These des strengen »Physikalismus« durchführen: alles was überhaupt existiert, existiert als physischer Gegenstand“. (ECN 5, S. 67.) 74 Vgl. hierzu Endres, Tobias: „Was sind die Objekte der Wahrnehmung? Ernst Cassirers Antwort auf die analytische Wahrnehmungstheorie“, in: Breyer, Thiemo / Niklas, Stefan (Hrsg.): Ernst Cassirer in systematischen Beziehungen. Zur kritisch-kommunikativen Bedeutung seiner Kulturphilosophie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 40, Berlin: De Gruyter 2018, S. 25–46. 72
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Cassirers unmittelbares Wirken überdauert. Dies mag zum einen daran liegen, dass der Begriff „Prägnanz“ bereits alltagssprachliche Verwendung hat. Darüber hinaus fand er über die Gestaltpsychologie Eingang ins Werk Cassirers, welche wiederum lange Zeit und weit über Cassirer hinaus Schule gemacht hat. Der Begriff „Symbol“ dagegen wird von Cassirer in einem sehr technischen, wenn auch für die Philosophie bahnbrechenden Sinne eingeführt, der mit unserem Alltagsverständnis sowie demjenigen aus Kunst, Religion, Literatur, Film und anderen kulturellen Praktiken wenig bis nichts gemein hat. Als terminus technicus hat diese begriffliche Koppelung jedoch eine ganz einzigartige Bedeutung, die uns hilft, das Hauptanliegen der Philosophie der symbolischen Formen besser zu verstehen und uns darüber hinaus klarzumachen, welche immense Rolle die Wahrnehmungstheorie für Cassirers Projekt spielt. Bezeichnenderweise erfahren die Begriffe „Symbol“ und „symbolisch“ erst im Lichte der symbolischen Prägnanz ihre eigentliche Aufhellung: Über den Prägnanzbegriff schlüsselt sich der Symbolbegriff nämlich in einer sehr viel anschaulicheren Weise auf, als dies an definitorischer Stelle 75 geschieht. Über symbolische Prägnanz ist sehr viel geschrieben worden. Nicht nur in denjenigen Diskursen, die über Cassirers philosophische Ambition hinausgehen, 76 sondern natürlich auch in der Cassirer-Forschung 77 und in den klassischen Organen der deutschen Philosophie. 78 Da selbst ein Überblick den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde, kann an dieser Stelle keine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur wie im Kapitel zur ‚natürlichen` Symbolik angestrebt werden. Ich werde mich deswegen Vgl. Kapitel 1.1.2. Ich möchte hiermit selbstverständlich niemanden aus dem philosophischen Diskurs ausschließen, sondern auf diejenigen Debatten hinweisen, die sich nicht in erster Linie mit den klassischen Fragen der (theoretischen) Philosophie, die ich für Cassirers Denken als maßgeblich betrachte, beschäftigen, sondern sich innerhalb der Philosophie als Disziplinen (Ästhetik, Anthropologie etc.) und außerhalb dieser (Literatur-, Religions-, Bild-, Medien-, Musikwissenschaften etc.) unter anderer Fragestellung einem Verständnis des Symbolischen nähern. 77 Vgl. exemplarisch Krois: Cassirer, Symbolic Forms, and History, S. 52–62; Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 69–125; Dubach, Philipp: „Symbolische Prägnanz – Schlüsselbegriff in Ernst Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen?“, in: Rudolph, Enno / Küppers, Bernd-Olaf (Hrsg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 1995, S. 47–84. 78 Vgl. bspw. Orth, Ernst Wolfgang: „Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (1–2), 1992, S. 119–136; Möckel, Christian: „Symbolische Prägnanz. Ein phänomenologischer Begriff ? Zum Verhältnis von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Edmund Husserls Phänomenologie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (40), 1992, S. 1050–1063. 75 76
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im Folgenden eng am Textbestand, insbesondere am Kapitel ‚Symbolische Prägnanz` aus dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen sowie den Nachlass-Stellen zur symbolischen Prägnanz (ECN 4) orientieren und die Wichtigkeit dieser Konzeption für die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrnehmung und objektiver Erfahrung herausarbeiten. ‚Symbolische Prägnanz` und ‚symbolische Form` können gleichermaßen als Fachbegriffe folgender Variation eines Grundsatzes der Philosophie der symbolischen Formen gelesen werden: „Das Licht bekundet und erweist sich erst in dem Schatten, den es wirft: Das rein ‚Intelligible` hat das Sinnliche zu seinem Gegensatz, aber dieser Gegensatz bildet zugleich sein notwendiges Korrelat.“ 79 Immer geht es um den Grundsatz, dass sich Geistiges, also jede objektivierende Form der Weltaneignung und -deutung, nur im und am Sinnlichen realisieren lässt. Dies war die These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes. 80 Um nichts anderes geht es der Sache nach auch bei der symbolischen Prägnanz. Jedoch vollzieht sich genau hier die für den dritten Band charakteristische Akzentverschiebung zur Wahrnehmung. Cassirer spricht jetzt – genau dort, wo er die symbolische Prägnanz definiert – unzweideutig von Wahrnehmungserfahrungen. Im berühmt gewordenen Wortlaut heißt es: Unter „symbolischer Prägnanz“ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als „sinnliches“ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen „Sinn“ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß „perzeptive“ Gegebenheiten, denen später irgendwelche „apperzeptive“ Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger „Artikulation“ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben „im“ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der „Prägnanz“ bezeichnen. 81
Prägnanz leitet sich vom lateinischen praegnans ab, was ‚schwanger`, ‚trächtig` und ‚voll von` bzw. ‚strotzend` bedeuten kann und bildsprach79 80 81
ECW 12, S. 276. Vgl. Kapitel 4.1. ECW 13, S. 231.
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lich auf einen Inhalt verweist. Fassen wir diesen Inhalt als geistigen Gehalt, werden wir weiter auf die Adjektive ‚bedeutungsschwanger` und ‚sinnschwanger` verwiesen. Die metaphorische Verwobenheit von Geburt, geistigem Gehalt und Wahrnehmung fasst Cassirer im Begriff der Prägnanz nun derart, dass er behauptet, dass jede Wahrnehmungserfahrung schon als in die Sphäre des Geistigen hineingeboren erscheint. 82 Wir können dies terminologisch auch so fassen, dass wir sagen, die Wahrnehmung ist intentional und der Vektor 83 der Intentionalität ist genau diejenige symbolische Form, die das „Sinnganze“ ausmacht, auf das sich ein einzelnes, gegebenes Wahrnehmungserlebnis bezieht. Im Nachlass verwendet Cassirer diese Terminologie auch explizit in seiner Kritik an – dem ihm grundsätzlich erkenntnistheoretisch nahestehenden – Hans Cornelius, dem er entgegenhält, dass „auch der Wahrnehmung eine “intentionale Funktion” (in unserm Sinne eine “symbol[ische] Funktion”) zugewiesen werden“ 84 muss. Wichtig erscheint mir insbesondere Cassirers Hinweis, dass das Allgemeine dem Einzelnen nicht – wie bspw. Hegel es im Begriff der Negation fasst – einfach abstrakt gegenübersteht, sondern die auf Allgemeines gerichtete „Artikulation“ aus der „immanenten Gliederung“ der Wahrnehmung selbst erwächst. Der Gegensatz von Sinnlichkeit und Sinn existiert nur, wie weiter oben erwähnt, in Form dieser Korrelation, nicht als absoluter; und jede Ausdrucksform des Menschen existiert nur in Form dieser Korrelation. Die Art und Weise dieser Korrelation, die der spekulative Realismus überspringen möchte, beschreibt nun gerade kein metaphysisches Verhältnis zwischen Denken und Sein. Quentin Meillassoux hatte seine Kritik am sogenannten Korrelationismus dahingehend formuliert, dass das Ansich der Dinge und der Subjekte unserem Zugang zu diesen vorhergehen müsse. 85 Mit Cassirer müssen wir dem entgegenhalten, dass hier „ein anderes Grund- und Urverhältnis vor[liegt], das als rein symbolisches Verhältnis einer ganz anderen Ebene angehört, als alle jene Beziehungen, wie sie unter empirisch-realen Objekten, unter wirklichen Dingen stattfinDie Prägnanz ist den Phänomenen „der Geburtsbrief, durch den sie als aus einer bestimmten Sphaere des Sinnes “stammend” gekennzeichnet sind.“ (ECN 4, S. 83.) 83 Cassirer spricht in diesem Zusammenhang auch vom „kategorialen Index“. (ECN 4, S. 75 ff.) 84 ECN 4, S. 47. Cornelius erkennt Intentionalität als Phänomen nur für die Erinnerung an. Vgl. ebd. 85 „Par «corrélation», nous entendons l'idée suivant laquelle nous n'avons accès qu'à la corrélation de la pensée et de l'être, et jamais à l'un de ces termes pris isolément.“ (Meillassoux: Après la finitude, S. 18.) („Unter ‚Korrelation` verstehen wir die Idee, nach der wir ausschließlich Zugang zur Korrelation von Denken und Sein haben und niemals zu einem dieser Begriffe für sich genommen“; meine Übersetzung.) 82
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den“. 86 Da die Kritik des spekulativen Realismus auf eine Reduktion der symbolischen Relation zwischen Sinnlichkeit und Sinn auf eine kausalund dinghafte Bestimmung hinausläuft, bleibt gerade sie Metaphysik. Die Erkenntniskritik dagegen bemüht sich darum, die Korrelation von Sinnlichkeit und Sinn in jeder Wahrnehmungserfahrung als „Bedingung der Möglichkeit für die Setzung solcher Bestimmungen an[zu]erkennen“. 87 Der „Sachverhalt dieser Prägnanz“ 88 muss „zuletzt als eine selbständige und autonome Bestimmung anerkannt werden, ohne die es für uns weder ein ‚Objekt` noch ein ‚Subjekt`, weder eine Einheit des ‚Gegenstandes` noch eine Einheit des ‚Selbst` geben würde“. 89 Anhand dieser ‚zweiten Definition` der symbolischen Prägnanz, wie sie Cassirer hier im Kapitel zu den ‚Pathologien der Symbolfunktion` gibt, lässt sich leicht sehen, dass diese auch als Cassirers Neufassung der kantischen transzendentalen Apperzeption gelesen werden kann. 90 Ein bewusster Wahrnehmungsinhalt ist derart ‚welthaltig`, dass die Wahrnehmung selbst und formal bereits notwendig eine Einheit zwischen Subjekt und Objekt gestiftet hat, denn der Inhalt, das symbolisch Prägnante der Wahrnehmung, lässt sich „weder auf bloß reproduktive noch auf mittelbare intellektuelle Prozesse zurückführen“. 91 Die Kritik am ‚Korrelationismus` Cassirers bzw. an der kantischen Erkenntniskritik als solcher zehrt von den Vorurteilen des Repräsentationalismus, von der Idee, dass unser Verstehen der Welt diese in dem einen oder anderen Sinne – bestenfalls korrekt – abbildet. Die Differenz von Repräsentativem zu Präsentativem kann aber nicht nach Vorbild der Relation von „Bewirkte[m] zum Bewirkenden noch wie das Abbild zu seinem Urbild“ 92 gedacht werden, sondern ausschließlich wie „das Zeichen zu dem in ihm ausgedrückten Sinn“. 93 Wir können diesen Sachverhalt auch so ausdrücken, dass wir sagen, das Präsente im Wahrnehmungsphänomen ist prägnant, also gegenständlich, derart, dass es auf ein symbolisches Verhältnis, also auf ein repräsentationales System, bezogen ist. Symbolische Prägnanz bedeutet die Korrelation von Präsentation und Repräsentation. Damit ist nicht gesagt, dass die Inhalte des WahrnehECW 13, S. 271. Ebd. 88 Ebd. 89 ECW 13, S. 271 f. 90 „Perzeption u[nd] Apperzeption, Praesentation u[nd] Re praesentat[ion] sind nur verschiedene Stufen ein u[nd] desselben Bewusstseins – als sich relativ zueinander verhaltende, ja umkehrbare Stadien oder Stufen“. (ECN 4, S. 56.) 91 ECW 13, S. 271. 92 Ebd. 93 Ebd. 86 87
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mungsphänomens eine Repräsentation der Außenwelt sind, sondern dass sie intentional auf einen Kontext gerichtet sind. Der Sinn eines Wahrnehmungsinhalts ergibt sich somit erst daraus, inwiefern dieser zeichenhaft oder symbolisch wird. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch – und das ist die Pointe dieser Korrelation –, dass das Wahrnehmungsphänomen, „rein in [seiner] phänomenalen Beschaffenheit, schon von der Ordnung abhängig [ist], in der [es steht] – daß [seine] reine Erscheinungsweise durch ebendiese Ordnung bestimmt wird“. 94 Cassirer möchte „diese Wechselbestimmung dadurch zum Ausdruck [. . . ] bringen, daß wir für sie den Begriff und Terminus der ‚symbolischen Prägnanz` einführen“. 95 Cassirer illustriert seine These der symbolischen Prägnanz am Beispiel eines „optische[n] Gebilde[s]“, 96 am berühmt gewordenen LinienzugBeispiel. Stellen wir uns eine geschwungene Linie nach Art der Sinuskurve vor und deklinieren das visuelle Phänomen anhand der bekannten Symbolfunktionen durch, gelangen wir über die symbolische Prägnanz zu einem anschaulichen Verständnis der symbolischen Formen: (1) Der Linienzug „nach seinem reinen Ausdruckssinn“ ist derart räumlich 97 prägnant, dass sein „physiognomischer ‚Charakter`“ eine Stimmung ausdrückt: „Das Auf und Ab der Linien im Raume faßt eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich.“ Die Wahrnehmung offenbart ihr „stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihr unvermitteltes Abbrechen, ihre Rundung und Geschlossenheit oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte oder Weichheit“. Die Beschreibung dieser Sinndimension ist einerseits zwar unserer Subjektivität, der Erfahrung unseres eigenen Seelenlebens, entnommen, aber deshalb noch lange nicht subjektiv im Sinne von willkürlich, denn: „alles tritt an ihr selbst, als Bestimmung ihres eigenen Seins, ihrer objektiven ‚Natur`, heraus“. 98 Der Ausdruckssinn ergibt sich direkt aus der Wahrnehmung.
ECW 13, S. 230. Cassirer spricht in der Herleitung der ‚symbolischen Prägnanz` zunächst von Farbphänomenen, jedoch gilt die zitierte Bestimmung auch für das Wahrnehmungsphänomen insgesamt. 95 ECW 13, S. 230 f. 96 ECW 13, S. 228. 97 „Es ist ein Unterschied im Wert, im ›Gehalt‹ des Inhalts selbst, in welcher Richtung er praegnant wird – d. h. ob er als Ausdruck einer räumlichen Gestalt oder eines zeitlichen Verlaufs, eines Ding-Zusammenhangs – oder einer “eigenschaftlichen” Bestimmung fungiert – “. (ECN 4, S. 62.) 98 Alle Zitate ECW 13, S. 228. 94
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(2) Als „mythisches Wahrzeichen“ wird die Linie nun im Kontext des mythischen Grundgegensatzes des Heiligen und Profanen wahrgenommen, was die Linie zum Zeichen realer räumlicher Trennung macht. Dem Zeichen wohnt die Macht inne, Unbefugten den Zutritt zu bestimmten Orten zu verwehren, „es wirkt hierbei nicht nur als bloßes Zeichen, als Merkmal, an dem das Heilige erkannt wird; sondern es besitzt auch eine ihm sachlich innewohnende, eine magisch zwingende und magisch abstoßende Macht“. 99 (3) Noch anschaulicher wird die Prägnanzbildung im theoretisch-wissenschaftlichen Kontext, denn die bisherige ausdruckshafte und mythisch-sprachliche Bestimmung „tritt nun alsbald zurück und erscheint wie vernichtet und ausgelöscht, sobald wir den Linienzug in einem anderen ‚Sinne` nehmen – sobald wir ihn als mathematisches Gebilde, als geometrische Figur verstehen“. Als „Darstellungsmittel für eine allgemeine geometrische Gesetzlichkeit“ ist die wahrgenommene Gestalt nach wie vor dieselbe, aber die für die Deutung der Linie als Zeichen essentielle Prägnanzbildung im obigen Sinne „sinkt jetzt mit einem Schlage zur völligen Bedeutungslosigkeit herab – es ist wie aus dem geistigen Blickfeld geschwunden“. 100 Als mathematisches Zeichen ist die Linie zwar nach wie vor symbolisch prägnant, jedoch nicht mehr derart, wie es sich aus dem Wahrgenommenen direkt ergibt. Das Symbolische ist autonom geworden und das Sinnliche dient nunmehr der Illustration eines geistigen Gehalts, der dem reinen Denken, das die Wahrnehmung überstiegen hat, entspringt: Nicht nur die Farben und Helligkeitswerte, sondern auch die absoluten Größen, die in der Zeichnung auftreten, werden von dieser Vernichtung betroffen: Sie sind für den Linienzug als geometrische Gebilde schlechthin irrelevant. Seine geometrische Bedeutung hängt nicht von diesen Größen als solchen, sondern nur von ihren Beziehungen, von ihren Relationen und Proportionen ab. Wo uns zuvor das Auf und Ab einer Wellenlinie und in ihr das Gleichmaß einer inneren Stimmung entgegentrat – da erblicken wir jetzt die graphische Darstellung für eine trigonometrische Funktion, da haben wir eine Kurve vor uns, deren gesamter Gehalt für uns zuletzt in ihrer analytischen Formel aufgeht. Die räumliche Gestalt ist nichts anderes mehr als das Paradigma für diese Formel; sie ist nur noch die Hülle, in die sich ein an sich unanschaulicher mathematischer 99 100
Beide ECW 13, S. 229. Alle Zitate ebd.
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Gedanke kleidet. Und dieser letztere steht nicht für sich allein – sondern in ihm stellt sich eine umfassendere Gesetzlichkeit, die Gesetzlichkeit des Raumes schlechthin, dar. Jedes einzelne geometrische Gebilde ist, auf Grund dieser Gesetzlichkeit, mit der Allheit der anderen möglichen Raumgestalten verknüpft. Es gehört einem bestimmten System – einem Inbegriff von „Wahrheiten“ und „Sätzen“, von „Gründen“ und „Folgen“ – an, und dieses System bezeichnet die universelle Sinnform, durch die jede besondere geometrische Gestalt erst möglich, erst konstituiert und erst „verständlich“ wird. 101
Cassirer kann über die symbolische Prägnanz nicht nur das Konstitutionsmoment der symbolischen Formen im Wahrnehmungsphänomen gewissermaßen sichtbar machen, sondern aufzeigen, was sich aus dem Symbolischen resp. dem Begriff der Repräsentation selbst ergibt: nämlich, dass „kein Inhalt des Bewußtseins [. . . ] an sich bloß ‚präsent`, noch [dass] er an sich bloß ‚repräsentativ` [ist]; vielmehr faßt jedes aktuelle Erlebnis beide Momente in unlöslicher Einheit in sich“. 102 Für das Wahrnehmungserlebnis ergibt sich daraus „daß es in einer bestimmten Atmosphäre steht, in der es nicht nur einfach ‚ist`, sondern in welcher es gleichsam lebt und atmet“. 103 Inwiefern kann nun noch von Wahrnehmungserfahrungen gesprochen werden, wenn – wie im letzten Beispiel – das Repräsentative den intentionalen Vektor des Blicks autonom, also nicht mehr am Sinnlichen orientiert, ausrichtet? Die Sorge, dass uns über den Begriff der Repräsentation die Wahrnehmung als solche abhanden kommen könnte, ist aber unbegründet. Aus dem Blick geraten kann nämlich nur dieser Vektor, der das Wahrgenommene im Hinblick auf die Objektivität der Erfahrung ausrichtet, sodass dadurch das Wahrgenommene uns anspricht, uns etwas sagt oder aufzeigt. „Die ‚Teilhabe` an diesem Gefüge gibt der Erscheinung erst ihre objektive Wirklichkeit und ihre objektive Bestimmtheit.“ 104 Somit verhält es sich letztlich umgekehrt: Das Repräsentative, wie es durch die symbolischen Formen bestimmt ist, verdichtet das Präsente erst zur eigentlichen Erfahrung, indem es ihm eine Form gibt. 105 „Die ‚symbolische Prägnanz`, die sie gewinnt, entzieht ihr nichts von ihrer konkreten Ebd. ECW 13, S. 228. 103 ECW 13, S. 230. 104 ECW 13, S. 233. 105 Cassirer präzisiert dies im Nachlass folgendermaßen: „Für unsere Auffassung liegt das Verhältnis umgekehrt – alle Wahrnehmungsbestimmtheit ist zugleich sinnlicher u[nd] symbolischer Natur – aber das Symbolische weist nicht auf ein Reich jenseits aller 101 102
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Fülle – aber sie bildet zugleich die Gewähr dafür, daß diese Fülle nicht einfach verströmt, sondern sich zu einer festen, in sich geschlossenen Form rundet.“ 106 Dementsprechend ist objektive Erfahrung als Wahrnehmungserfahrung notwendig symbolisch prägnant. 107 Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass der Intellektualismus-Vorwurf 108 wesentliche Punkte in Cassirers Denken verfehlt und dass gerade das Konzept der symbolischen Prägnanz sich besonders dazu eignet, diesen Einwand zurückzuweisen. Im Kapitel zu den Pathologien der Symbolfunktion, das Merleau-Ponty besonders scharf attackiert, hatte Cassirer versucht nachzuweisen, dass bspw. Fälle von Apraxie darauf hindeuten, dass die physiologische Schädigung die pathologische Störung nicht restlos erklären kann, sondern dass die „Inhalte bestimmter Sinnesgebiete [. . . ] irgendwie die Kraft zu verlieren [scheinen], als reine Darmöglichen Wahrnehmung, sondern hat den Zusammenhang der Wahrnehmungswelt selbst zum Ziel, drückt diesen Zusammenhang immer vollständiger aus“. (ECN 4, S. 48.) 106 ECW 13, S. 233. 107 Olivier Feron fasst dieses Ergebnis folgendermaßen zusammen: „De cette manière, Cassirer vise à réintégrer le sensible dans l'ensemble des fonctions de mise en forme déterminante. C'est en effet au niveau le plus originaire de la perception qu'il va dépister les premiers moments de détermination formelle. Il refuse de considérer l'intentionnalité spécifique à la conscience théoretique comme étant la seule capable de détermination. Tout au contraire, la sensibilité assure un rôle majeur dans la conquête d'un univers de sens, en participant à l'action de l'ensemble de la communauté des fonctions spirituelles. La sensibilité ne se rédutit pas à un simple canal d'information, dont l'usage transparent fournirait des informations neutres, "non traitées".“ (Feron, Olivier: Finitude et sensibilité dans la philosophie d'Ernst Cassirer, Paris: Kimé 1997, S. 155.) („Auf diese Weise ist Cassirer bestrebt, das Sinnliche in das Ganze der formgebenden Funktionen zu reintegrieren. Und es ist in der Tat in der ursprünglichsten Wahrnehmungsschicht, in der er die ersten Momente formaler Bestimmung nachweisen wird. Er weigert sich, die spezifische Intentionalität des theoretischen Bewusstseins als die einzige zu betrachten, die solch einer Bestimmung fähig ist. Ganz im Gegenteil spielt die Sinnlichkeit eine wichtige Rolle bei der Eroberung des Sinn-Universums, indem sie an der Tätigkeit der Gemeinschaft aller geistiger Funktionen teilnimmt. Die Sinnlichkeit wurde nicht auf einen einfachen Informationskanal reduziert, dessen transparenter Gebrauch neutrale, ‚unmittelbare` Informationen liefern würde“; meine Übersetzung.) 108 Diesen hat Merleau-Ponty gegen Cassirer eingewandt und jüngst auch Dreyfus gegen McDowell. Die gesamte McDowell-Dreyfus-Debatte kann vor diesem Hintergrund als eine Neuauflage von Merleau-Pontys Kritik an Cassirer gelesen werden. Vgl. Dreyfus, Hubert: „Overcoming the Myth of the Mental. How Philosophers Can Profit from the Phenomenology of Everyday Expertise“, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association (79,2), 2005, S. 47–65; ders.: „The Return of the Myth of the Mental“; ders.: „Response to McDowell“ sowie McDowell, John: „What Myth?“; ders.: „Response to Dreyfus“, alle in: Inquiry (50,4), 2007, S. 338–377. Fortgesetzt wurde diese Debatte in: Schear, Joseph K. (Hrsg.): Mind, Reason, and Being-In-The-World: The McDowell-Dreyfus Debate, Abingdon: Routledge 2013.
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stellungsmittel zu fungieren“. 109 Das Phänomen, trotz uneingeschränkter Motorik nicht mehr sinnvoll mit Gegenständen umgehen zu können (ein Patient könnte bspw. versuchen seinen Finger anstelle des Schlüssels in das Schlüsselloch zu führen), deutet darauf hin, dass physische Objekte ihre Gegenständlichkeit zwar nicht materiell, aber doch in ganz elementarer Weise einbüßen können. „Ihrem Dasein und Sosein wohnt kein repräsentativer Charakter, keine gegenständliche ‚Prägnanz` mehr inne.“ 110 Cassirer bemüht sich um eine Erklärung dieser Phänomene, einmal unter Rückgriff auf die etablierte Terminologie ‚symbolische Prägnanz` (1) und einmal im Lichte der anfangs diskutierten Unterscheidung der kantischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile (2): (1) Wahrnehmungsprägnanz unterscheidet sich zunächst deutlich von Urteilen und diskursivem Wissen: „Die prägnante Wahrnehmung ‚hat` den Gegenstand, derart daß er ihr in einer seiner Erscheinungsweisen leibhaft gegenwärtig ist; das Wissen schließt von einem bestimmten Kennzeichen ‚auf ` den Gegenstand.“ 111 Die von Kurt Goldstein und Adhémar Gelb untersuchten Patienten 112 haben nach Cassirer aber nun gerade kein Problem, das sich auf diskursiver Ebene abspielt, denn „wir `haben' die `Bedeutung' in der Anschauung selbst, brauchen sie nicht erst zu ›erschliessen‹; wir haben sie ›intuitiv‹, nicht ›diskursiv‹“. 113 Die Schwierigkeit, bestimmte Bewegungen auszuführen, liegt Cassirer zufolge darin begründet, dass „sich die Wahrnehmung gleichsam von einer Erscheinung zur andern langsam und vorsichtig vorwärtstasten [muss], um schließlich die Bedeutung des Wahrgenommenen zu ermitteln“. 114 (2) Cassirer verweist auf zwei Arten der Modalität des Wahrnehmungsurteils: Beginnen wir beim Diskursiven und gleichen unsere Wahrnehmungserfahrung daran ab, bleiben wir beim problematischen, also rein möglichen Wahrnehmungsurteil stehen, was „im günstigsten Falle zu ECW 13, S. 272. Ebd. 111 ECW 13, S. 277. 112 Deren Pionierarbeit in der Neurologie wurde mit Verwundeten des Ersten Weltkriegs durchgeführt. Cassirer und Merleau-Ponty beziehen sich häufig auf denselben Fall, den Patienten Schneider, der auch heute noch zur Darstellung visueller Agnosie angeführt und zitiert wird. Zur Aktualität dieser Studien vgl. Marotta, Jonathan J. / Behrmann, Marlene: „Patient Schn. Has Goldstein and Gelb's case withstood the test of time?“, in: Neuropsychologia (42,5), 2004, S. 633–638. 113 ECN 4, S. 69. 114 ECW 13, S. 277. 109 110
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einer richtigen Kombination von Merkmalen“ 115 führt. Das Wahrgenommene wäre demnach nur „symptomatisch-anzeigend“ 116 für das Gedachte. Das assertorische Wahrnehmungsurteil ist aber ein Erfahrungsurteil im kantischen Sinne, denn „die ‚prägnante` Wahrnehmung führt stets zu einer assertorischen Setzung“ und ist deshalb „symbolisch bedeutsam“, 117 weil sie eine „Intuition des Ganzen in sich“ 118 einschließt. Als Ergebnis dieses Kapitels ist festzuhalten, dass es „auf dem Standpunkt der phänomenologischen Betrachtung so wenig einen ‚Stoff an sich` wie eine ‚Form an sich`“ 119 gibt. Und so hat Cassirer im Begriff der symbolischen Prägnanz Husserls aristotelische Unterscheidung von ὕλη und µορφή als Grundphänomene des Bewusstseins zurückgewiesen und gleichzeitig an dessen Einsicht, dass „die Sphäre des Bewußtseins mit der des ‚Sinnes` gleich[ge]setzt“ 120 werden muss, festgehalten. „[E]s gibt immer nur Gesamterlebnisse, die sich unter dem Gesichtspunkt von Stoff und Form vergleichen und ihm gemäß bestimmen und gliedern lassen.“ 121 Das Resultat des Kapitels ‚symbolische Prägnanz` hat – und dies war zu zeigen – ein Gesamtresultat der Philosophie der symbolischen Formen zum Inhalt, welches intrinsisch auf die Welt der Wahrnehmung verweist. 122 6.2.2 Wahrnehmung und Begriff: Die Invariantentheorie Man könnte nun meinen, dass das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Begriff von keinem Interesse mehr für die Wahrnehmungstheorie sei, da die Grundlagen der Symbolphilosophie und besonders deutlich das Lehrstück der symbolischen Prägnanz gezeigt haben, dass durch die grundlegende Inkorporation von Sinnlichkeit und Sinn das Problem des Zu- bzw. Aufeinanderpassens von Geist und Welt bereits im Rücken einer integrativen Theorie objektiver Wahrnehmungserfahrungen liegt. Cassirer möchte aber auch nachzeichnen, wie von „der Sphäre der sinnlichen Empfindung zu der der Anschauung, von der Anschauung zum Ebd. Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 ECW 13, S. 227. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Im Nachlass dazu sehr deutlich: „Allg[emeines] Resultat, daß vom Standpunkt der Philos[ophie] der symbol[ischen] Formen sich Sinnliches und Sinnhaftes gar nicht scheiden lässt“. (ECN 4, S. 49.) 115 116
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begrifflichen Denken und von diesem wieder zum logischen Urteil [. . . ] ein stetiger Weg“ 123 führt. Gezeigt wurde bislang, dass die Wahrnehmung einen intentionalen Vektor besitzt, entlang dessen Sinnlichkeit und Sinn aufeinander bezogen sind. Die Theorie der Repräsentation hatte die Grunddimensionen dieser Intentionalität als die drei Symbolfunktionen Ausdruck, Darstellung und Bedeutung identifiziert. Diese haben einen rein heuristischen Status bzw. sind in Cassirers Worten Urphänomene. Der Weg von der Wahrnehmung zum logischen Urteil kann nicht der einer linearen Entwicklung sein, denn Cassirer hatte ja bestritten, dass im Laufe der kulturellen Entfaltung eine Symbolfunktion die andere ablöst. Cassirer vertritt eine These, die im Rahmen der semantischen Funktionalität bereits dahingehend formuliert wurde, dass letztlich alle Symbolfunktionen wesentlich bedeuten und dass die Bedeutungsfunktion bereits im natürlichen Phänomen des passiven Ausdrucks angelegt ist. Bezogen auf die Eingangsthese, dass ein stetiger Weg von der Wahrnehmung zum logischen Urteil führt, heißt dies, dass die Funktionalität des Urteils in den Funktionen der Wahrnehmung bereits angelegt sein muss: Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung „verbindet“ sich hier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, des Urteilens und Schließens, sondern sie ist selbst schon eine solche Grundfunktion – sie enthält implizit, was dort in bewußter Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt. 124
Worin könnte nun eine Gemeinsamkeit zwischen Wahrnehmung und Begriff bestehen? Zunächst wäre zu klären, was ein Begriff ist. Cassirers Philosophie ist wesentlich durch das Funktionsdenken in Abgrenzung zum Substanzdenken gekennzeichnet. Es liegt daher nahe, im Ausgang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff, welches die Überwindung der aristotelischen Abstraktionstheorie des Begriffs zum Inhalt hat, und anknüpfend an Freges Entwicklung der modernen Prädikatenlogik Begriffe insgesamt als Funktionen aufzufassen. Ein Begriff hat demnach die Struktur F(a), besteht aus Funktion und Argumentstelle und ist wesentlich ungesättigt. 125 Begriffe kann man deshalb als ungesättigte Bedeutung eines Prädikats bezeichnen, während die Bedeutung eines gesättigten EiECW 11, S. 280. Ebd. 125 Ich lege für diesen Sachverhalt Freges Theorie der Semantik – trotz all ihrer Schwierigkeiten – zugrunde, da die Grundkonzeption für jede moderne Urteilstheorie basal ist. Vgl. Frege, Gottlob: „Funktion und Begriff “, in: ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. von Günther Patzig, Göttingen: V&R 2011, S. 1–22. 123 124
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gennamens ein konkreter Gegenstand ist. 126 Begriffe haben somit die Funktion der Bestimmung: Der Gegenstand „Mein Fernseher“ fällt als Bedeutung dieses Eigennamens unter die Begriffe „_ist flach“, „_ist eckig“, „_ist schwarz“ usf. Im logischen Sinne gilt deshalb nach Frege: „Ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist.“ 127 Fällt also tatsächlich mein Fernseher unter den Begriff „_ist eckig“, so ist realiter ausgeschlossen, dass er rund ist, vorausgesetzt natürlich, diese beiden Begriffe stehen in einem Exklusionsverhältnis. Der Begriff ist funktional betrachtet also Bestimmung eines Gegenstandes und dadurch wesentlich Selektion. Gleiches behauptet Cassirer nun von der Wahrnehmung: Auf einer solchen „Selektion“, die wir an dem von allen Seiten her sich zudrängenden Stoff der Wahrnehmung vornehmen, beruht alle Möglichkeit, ihm eine bestimmte Form und somit einen bestimmten „Gegenstand“ zu geben; beruht die Möglichkeit, die Wahrnehmung überhaupt auf ein Objekt zu beziehen. Das Gegenstandsbewußtsein der Wahrnehmung und das der wissenschaftlichen Erfahrung unterscheidet sich somit nicht prinzipiell, sondern nur graduell – sofern die Geltungsunterschiede, die in jenem bereits vorhanden und wirksam sind, in diesem in die Form der Erkenntnis erhoben, d.h. im Begriff und Urteil fixiert sind. 128
Der Nachweis, dass Wahrnehmung und Begriff im Gegenstandsbewusstsein eine Schnittmenge haben müssen, ist keinesfalls trivial für Cassirer. Ähnlich wie McDowell in Auseinandersetzung mit der Davidsonschen Hinterlassenschaft eines wahrheitstheoretischen Kohärentismus 129 ist Cassirer darauf bedacht, dass Begriffe wirklich, das heißt genau so wie die Wahrnehmung, mit der Welt in Kontakt sind. „Denn an irgendeiner Stelle muß es doch einmal zu dieser direkten Berührung zwischen dem Wissen und der Wirklichkeit kommen, wenn die Erkenntnis nicht für immer festgebannt in ihrem eigenen Kreis verharren soll.“ 130 Die Theorie dieser Berührung hat Cassirer als Invariantentheorie von Wahrnehmung und Begriff im dritten Kapitel der Monographie Ziele und
Vgl. hierzu Frege, Gottlob: „Über Begriff und Gegenstand“, in: ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. von Günther Patzig, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 47–60. 127 Frege: „Funktion und Begriff “, S. 11 (S. 15 Originalpaginierung). 128 ECW 12, S. 42 f. 129 Vgl. Davidson, Donald: „A Coherence Theory of Truth and Knowledge“, in: ders.: The Essential Davidson, Oxford: OUP 2006, S. 225–241. 130 ECW 13, S. 2. 126
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Wege der Wirklichkeitserkenntnis 131 (ca. 1936/37) ausgearbeitet. Dieses Buch sollte ursprünglich eine systematische Ergänzung zum historisch ausgerichteten vierten Band des Erkenntnisproblems (1950 Englisch; 1957 Deutsch), an dem Cassirer in den späten Dreißigerjahren arbeitete, bilden. 132 Im schwedischen Exil fand sich jedoch kein Verleger für das uns heute in druckreifer Form vorliegende Manuskript. Beide Manuskripte – der erst 1940 abgeschlossene vierte Band von Das Erkenntnisproblems in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit sowie Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis – blieben bei Cassirers Flucht in die USA 1941 in Schweden zurück. Nach dessen Tod am 13. April 1945 in New York besuchte seine Witwe Toni Cassirer Göteborg erstmalig 1946 und brachte von dort aus den gesamten Nachlass in die USA. 133 Nach ihrem Tod am 5. Januar 1961 gelang es Charles Hendel dann, den Nachlass Cassirers nach Yale zu bringen, wo er zunächst in der Sterling Library aufbewahrt wurde und sich seit 1989 im Eigentum der Beinecke Rare Book & Manuscript Library befindet. Cassirer beginnt dort mit der These, dass alle „Formen der Wirklichkeitserkenntnis – von den niedersten bis zu den höchsten, von den primitivsten bis zu den komplexesten“ 134 einen gemeinsamen Zug aufweisen. Hierbei ist nicht nur an menschliche Formen der Wirklichkeitserkenntnis zu denken, sondern auch an Wirklichkeitsbewältigung niederer Organismen und deren ‚Wissensformen`. Diese Gemeinsamkeit bestimmt Cassirer teleologisch als das Ziel, „nicht einfach im Strom des Geschehens dahinzuschwimmen, sondern aus diesem Strom bestimmte Gestaltungen herauszulösen, die in gleichartiger Weise wiederkehren“. 135 Thema dieses Sachzusammenhanges ist das philosophische Problem der Individuierung: Wo verlaufen die Grenzen von einem Gegenstand zum nächsten, wie sind Gestalten, Objekte, Oberflächen usf. voneinander abgegrenzt, und wie ist dies überhaupt möglich? Für die Form reflexiven Wissens gilt es teils als ausgemacht, dass Menschen diese Leistung weitestgehend durch begriffliche Diskrimination vollziehen. Es ist jedoch nicht plausibel, die Leistungen des Begriffs für jede Form von Gegenständlichkeit im menschlichen Der Titel ist bewusst an die Werke Hans Reichenbachs angelehnt. Vgl. ECN 2, S. 185. 132 Vgl. hierzu und zum Folgenden ECN 2, S. IX. 133 Vgl. hierzu und zum Folgenden ECN 1, S. 279–284 sowie weiterführend Giroud, Vincent: „Appendix. How the Cassirer Papers Came to Yale“, in: Hamlin, Cyrus / Krois, John Michael (Hrsg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, New Haven / London: Yale University Press 2004, S. 263–269. 134 ECN 2, S. 83. 135 Ebd. 131
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Bewusstsein anzusetzen, wie McDowell dies möchte, da hier ein (auch genetischer) Zusammenhang von Individuierung qua Wahrnehmung und Individuierung qua Begriff unterstellt wird. Deshalb ist davon auszugehen, dass nicht „nur jedem Anschauen oder Begreifen der Welt, sondern schon jeder noch so einfachen Empfindung oder Wahrnehmung [. . . ] diese Fähigkeit der Unterscheidung und Herauslösung inne[wohnt]“. 136 Die Basis hierfür verortet Cassirer im organischen Leben als solchem. Da das Überleben eines jeden Organismus die Zuordnung dessen, was die Umwelt von ihm verlangt, zu dem, was der Organismus leisten kann, voraussetzt, entstehen Regeln und Regelhaftigkeiten in der Welt. „[E]in derartiges Sich-Entsprechen und Sich-auf-einander-Einstellen wird nur dadurch möglich, daß sich eine Regel ausbildet, die bestimmte Fragen jeweilig mit bestimmten Antworten verknüpft.“ 137 Diese Regeln müssen von Organismen zunächst nur befolgt, nicht aber gewusst werden. „Aber um so höher wir in der Reihe der Lebensformen hinaufsteigen, um so mehr setzt sich auch jene andere Forderung, die Forderung der »Bewusstheit« und des Wissens durch.“ 138 Cassirer setzt hinsichtlich der Entstehung des Wissens offenbar auf einen ‚Minimalnaturalismus`, wie er schon im Rahmen der ‚natürlichen` Symbolik nachgewiesen wurde. Der Wechsel vom praktischen Weltverhältnis niederer Lebewesen zum theoretischen Weltverhältnis, wie es für den Menschen charakteristisch ist, folgt scheinbar auch evolutionären Prinzipien oder ist zumindest mit diesen kompatibel. Das Prinzip der Formbildung dagegen ist vom teleologischen Prinzip der Regelbildung angestoßen: „An die Stelle der blassen Gleichförmigkeit des Handelns tritt die Fähigkeit, in der Wahrnehmung, in der Vorstellung und zuletzt im reinen Denken bestimmte Gleichförmigkeiten herauszuheben und sie als solche zu erkennen und anzuerkennen.“ 139 Den Grund des Wissens (im weitesten Sinne) um Gleichförmigkeiten, auf dem jede Form der ‚theoretischen` resp. menschlichen Individuierung beruhen muss, sucht Cassirer in der Ausdruckswahrnehmung auf. Hier sieht man, dass jede Form von Gegenständlichkeit auf Ausdruckswerten beruht. Die Wirklichkeit kann in diesen freundlich oder feindlich, anreizend oder abstossend, lockend oder schreckhaft – und sie kann dies alles sein; sie kann das Subjekt in dieser Weise »ansprechen“, ohne daß es schon eine darstellende Sprache gibt, die an Stelle dieser reinen Ausdrucks-Charaktere feste Benennungen 136 137 138 139
Ebd. Ebd. Ebd. ECN 2, S. 83 f.
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setzt, durch welche die Gegenstände nach ihren »Prädikaten“[,] ihren objektiven Merkmalen und Eigenschaften, unterschieden werden. 140
Ausdruckswerte sind zunächst einmal ein Individuierungsprinzip anderer Art, als wir es für den Übergang zum Begriff suchen. Ihre Regelhaftigkeit ist zwar sinnlich, nicht jedoch individuierend im Sinne begrifflicher Grenzziehungen. Im Gegenteil ist es mitunter ausgesprochen schwer, die richtigen Worte für eine Vielzahl von Ausdruckswerten zu finden, da sie wesentlich gefühlt werden und z.T. durch die ‚niederen` Sinnesmodalitäten 141 wahrgenommen werden. Cassirer geht nicht von einem scharfen Schnitt zwischen der Tier- und Menschenwelt aus, wie es McDowell aus der Begriffsfähigkeit des Menschen abzuleiten sucht. Der Übergang von der Ausdrucks- zur Dingwahrnehmung muss „sich langsam und stetig aufbauen; er muss sie gewissermassen einer anderen, mehr elementaren Schicht des Daseins und des Verhaltens Schritt für Schritt abgewinnen“. 142 Im weiteren Verlauf argumentiert Cassirer für einen Sprung von der bislang empirischen Betrachtung zur transzendentalen, denn eine „deutlichere Sprache als alle Einzelbeobachtungen, die wir an Kindern, an Primitiven, an Fällen pathologisch veränderter Wahrnehmung über »urtümliche geistige Verhaltungsweisen« gewinnen können, spricht hier die Gesamtform des mythischen Denkens“. 143 Er begründet dies damit, dass für den Menschen hier Ausdrucks- und Dingwahrnehmung in eins fallen und der Mythos „den ersten Anfang und Ansatz für die Trennung, die sich künftig zwischen ihnen vollziehen wird“, 144 bildet. Es ist daher nicht so zu verstehen, dass der Mensch im Mythos der Dingwahrnehmung nicht fähig wäre; die Wahrnehmung hat immer ein doppeltes Antlitz. 145 Zwar ist die Ausdruckswahrnehmung bestimmend in der Gestaltung der mythischen Vorstellungswelt, jedoch wäre ein „Denken, das sich gänzlich ausserhalb der »Formen« von Ding und Eigenschaft, von Ursache und Wirkung hielte und für das diese Bedingungen schlechthin ausser Kraft gesetzt wären [. . . ] nicht nur ein praelogisches, sondern sozusaECN 2, S. 84. Eine Hierarchisierung der Sinnesmodalitäten wird in Kapitel 6.2.5 diskutiert. 142 ECN 2, S. 86. 143 ECN 2, S. 87. 144 Ebd. 145 „Wir müssen uns der Phänomenologie der Wahrnehmung anvertrauen und fragen, was sie uns für unser Problem zu geben hat. Wenn wir die Wahrnehmung in ihrem einfachen phänomenalen Bestand zu beschreiben suchen, so zeigt sie uns gewissermaßen ein doppeltes Antlitz. Sie enthält zwei Momente, die in ihr innig verschmolzen sind, deren keines sich aber auf das andere reduzieren läßt.“ (ECW 24, S. 396.) 140 141
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gen ein prae-empirisches“. 146 Damit meint Cassirer, dass neben der Gestaltung des Mythos entlang der Gefühlswelt die Vergegenständlichung ebenso Voraussetzung der mythischen Vorstellungswelt ist, denn „[o]hne sie gäbe es keinerlei Art des empirischen Erkennens und Wiedererkennens“. 147 Die gesuchte Regelhaftigkeit entsteht letztlich durch den praktischen Umgang mit Objekten im Ausgang einer mythisch-affektiv-ausdruckshaften Stellungnahme zu diesen sowie der Organisation der sozialen Formen im gemeinschaftlichen Zusammenleben der Menschen: Wie weit wir auch in die Urschichten menschlichen Daseins und in die primitiven Schichten des kollektiven Bewusstseins zurückzudringen streben: immer finden wir schon entwickelte Lebensformen und entwickelte Gesellschaftsformen vor, die dieses Wiedererkennen von Objekten und auf Grund desselben einen bestimmt-geregelten Umgang mit Objekten voraussetzen. Aus diesem letzteren, nicht aus irgendwelchen theoretischen Reflexionen, löst sich allmählich ein gewisser Kanon empirischer Regeln heraus. Die Gegenstände erhalten ihren Charakter als Gegenstände erst dadurch, daß sie irgendwie dem Kreise des Voraussehbaren, des innerhalb gewisser Grenzen Berechenbaren angehören. Man rechnet mit ihnen, weil und sofern man auf sie rechnen kann. So kommt es schon hier zu einer ersten »Konstantenbildung“, zu einer Setzung von DingKonstanzen, von Eigenschafts- und Vorgangskonstanzen. 148
Die empirischen Konstanten des Mythos erwachsen zuerst aus anschaulich erfahrbaren Regularitäten wie dem Tag-Nacht-Wechsel, den Jahreszeiten, Leben und Sterben sowie dem Umlauf der Gestirne, welche Cassirer als „die sich ständig wiederholenden, die eigentlich »ewigen« mythischen Urmotive“ 149 bezeichnet. Das sich hieraus aufbauende mythische Weltbild steht zwar in scharfem Kontrast zum wissenschaftlichen Weltbild, ist jedoch keinesfalls der Empirie und der formalen Logik enthoben. 150 Der Unterschied beider muss dagegen in der Konstantenbildung aufgesucht werden, die im Mythos dem Anschaulichen entspringt und an welche die diskursive Konstantenbildung anschließen kann. Im Zuge dieser Untersuchung verweist Cassirer auf das von ihm zu dieser Zeit bereits entwickelte – der Forschung jedoch erst seit Erscheinen des ersten
146 147 148 149 150
ECN 2, S. 91. Ebd. ECN 2, S. 91 f. ECN 2, S. 93. Vgl. ECN 2, S. 92.
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Nachlassbandes bekannte und dort auf 1940 datierte 151 – Begriffsinstrumentarium der Basisphänomene, die an dieser Stelle kurz erläutert werden müssen. Die Basisphänomene schließen sachlich an das an, was Cassirer zuvor in Anlehnung an Goethe Urphänomene nannte. 152 Es handelt sich dabei um drei phänomenologisch freigelegte, nicht weiter begründbare, skepsisresistente Fundamente, welche die lebendigen Erfahrungsquellen der symbolischen Formen bilden. Diese drei Basisphänomene nennt Cassirer (I) Ich, (II) Wirken und (III) Werk. Die sie thematisierende Konzeption Über Basisphänomene (ca. 1940) ist Teil des unveröffentlichten Manuskripts des vierten Bandes des Cassirerschen Hauptwerkes, das den Titel ‚Zur Metaphysik der symbolischen Formen` tragen sollte. (I) Das Ich bildet die Basis jeder Erfahrung, die Cassirer als „strömende Bewegtheit“ 153 beschreibt. Als Bewusstseinsstrom wäre es zwar nicht falsch charakterisiert, aufgrund der ideengeschichtlichen Prägung dieses Begriffs bis hinein in das Werk Husserls jedoch ‚philosophisch vorbelastet`. Cassirer meint mit dem Begriff „Ich“ hier die zunächst gefühlte Selbstoffenbarung des bewussten Lebens. Das Ich ist wesentlich leibliche Selbstwahrnehmung im Sinne der ‚großen Vernunft` Nietzsches, 154 bevor es Selbstbewusstsein wird. (II) Menschen erfahren sich aber nicht „nur »perceptiv« als von Zustand zu Zustand übergehend – sondern wir erfahren uns als wirkend und handelnd“, 155 weshalb das Wirken ein gleichursprüngliches Phänomen wie das Ich ist: Es gibt „kein Bewusstsein von Wirklichkeit ohne dieses ursprüngliche, unableitbare Bewusstsein des Wirkens“. 156 Im Wirk-Phänomen konstituiert sich als wesentliches Merkmal Intersubjektivität. Denn im Einwirken auf die Umwelt erfährt das Ich dasjenige, was seinem Wollen entgegensteht und somit „das Bewusstsein vom GegenStand“. 157 Dieser ist zunächst aber nicht im Sinne eines Es entpersonaVgl. ECN 1, S. 111–195. Einen möglichen Einfluss Carnaps auf die Konzeption der Basisphänomene diskutiert Möckel, Christian: „Cassirers ‚Basisphänomene` – eine Synthese von Goethes ‚Urphänomenen` und Carnaps ‚Basis` der Konstitutionssysteme?“, in: Cassirer Studies (III), Napoli: Bibliopolis 2010, S. 67–88. 153 ECN 1, S. 133. 154 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: KSA 4, München: DTV 1999, S. 39. 155 ECN 1, S. 134. 156 Ebd. 157 Ebd. 151 152
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lisiert, wie zuvor bereits durch das ‚dunkle Du` in der Gegenstandskonstitution geltend gemacht wurde (Kapitel 4.2). Cassirer nennt das WirkPhänomen deshalb auch Du-Phänomen: Was dem Willen entgegensteht, kann nur ein anderer Wille sein. Das Fremdpsychische erfährt im zweiten Basisphänomen also eine begriffliche, nicht aber sachliche Neufassung. Im gemeinsamen Handeln vieler (aufeinander) wirkender Ichs ist der Raum der Intersubjektivität folgendermaßen konstituiert: Das wechselseitige Einwirken der Willen aufeinander kann bei Cassirer als Kampf um Anerkennung im Hegelschen 158 und Honnethschen 159 Sinne rekonstruiert werden, 160 worüber sich schließlich das Selbstbewusstsein als „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ 161 erkennt. (III) Im Werk-Phänomen wird der Horizont des Objektiven im Sinne der Objektivierungsleistungen durch die symbolischen Formen eröffnet. Das Werk ist damit „der Anfang zu einer ganz neuen Position – zu derjenigen »Position«, die uns erst zu dem eigentlichen Wirklichkeitsbewusstsein hinführt“. 162 Das Werk wird nach Cassirer ursprünglich „als Handlung und Tat, als Wort und Schrift“ 163 geschaffen, denn diese Grundhandlungen der kulturellen Erzeugung sind bereits am ‚Mutterboden der Kultur`, dem Mythos, operativ: Kultische Handlungen und mythische Wort-, Schrift- und Bildzeichen konstituieren denjenigen kulturellen Anfang, der sich in Sprache und Wissenschaft vollendet. Das objektive Gegenstandsbewusstsein erklärt sich letztlich erst aus dem Zusammenspiel der Basisphänomene Ich, Wirken und Werk, die eine teleologische Struktur im Sinne eines Kreises offenbaren: Das Ich wird sich zwar ‚durch sich` seiner selbst gewahr, muss jedoch handeln, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Das Handeln wiederum muss sich ins Werk setzen, um das in der Intersubjektivität bereits gewonnene Gegenstandsbewusstsein im entpersonalisierten Sinne des Es zu etablieren. Deshalb kann Cassirer behaupten: „Das Werk ist das Ziel des Wirkens; aber in ihm ist das Wirken auch zu seinem Ende gelangt.“ 164 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 127–136. Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Honneth rekonstruiert den Kampf um Anerkennung ausgehend von Hegels Jenaer Frühschriften. 160 Cassirer spricht in einem Fragment zur Ethik in diesem Sinne unzweideutig von einem Wechselverhältnis gegenseitiger Anerkennung. Vgl. ECN 3, S. 196–199 und dazu ausführlich Ullrich: Symbolischer Idealismus, S. 83 f. 161 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 127. 162 ECN 1, S. 136. 163 ECN 1, S. 125. 164 ECN 1, S. 136. 158 159
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Aus der Perspektive der hier entfalteten Lesart der Philosophie der symbolischen Formen verdichtet sich in den drei Basisphänomenen die gesamte Struktur, die für das Verhältnis von Wahrnehmung und Repräsentation (Kapitel 3) in Korrelation von subjektivem und objektivem Geist dargestellt wurde, in Hinsicht auf eine Metaphysik dieser Theorie. Die Korrelationsthese von Subjektivität und Objektivität sowie die Entfaltungslogik von der Wahrnehmung bis zur begrifflich-wissenschaftlichen Repräsentation steckt in der skizzierten teleologischen Struktur vom Ich zum Werk, weshalb man diese als den von Heidegger geforderten terminus ad quo zum zuvor ausgearbeiteten terminus ad quem des Geistes auffassen kann. 165 Damit ist die Lehre von den Basisphänomenen notwendiges Korrelat zum, nicht aber Ersatz des bereits Gewonnenen. Cassirers Wahrnehmungstheorie lässt sich nicht ohne die rekonstruktive Analyse der symbolischen Formen, sozusagen rein von den Basisphänomenen her, freilegen. Diese helfen jedoch im Folgenden, die Ausbildung der Konstanten von Wahrnehmung und Begriff weiter zu erhellen. Von den Basisphänomenen her betrachtet müsste die Konstantenbildung eine Kontinuität zwischen Erfahrung, Einwirkung und Objektivierung aufweisen, um den Übergang von Wirken zu Werk im Sinne eines Ziels verständlich zu machen. „Die Dinge, die den Menschen umgeben, müssen seinem Blick [. . . ] stand halten[,] und aus dem Geschehen müssen sich ihm gewisse relativ gleichbleibende und wiederkehrende Reihen herausheben, wenn er selbst sich in gleichartiger Weise gegenüber der äusseren Welt verhalten soll.“ 166 Dem Anschluss der Begriffe an die Wahrnehmung spürt Cassirer daher im Folgenden in der Transition vom Wirk- zum Werk-Phänomen im Spiegel des Übergangs von der Du- zur Es-Wahrnehmung nach, wie dieser sich paradigmatisch in Differenz von Mythos und Logos zeigt. „Die Richtung der "Synthesis" geht in dem einen Falle auf Gestalten, in dem anderen auf Gesetze. Dort wird die Art der Gegenstände und deren Beschaffenheit durch die Ausdruckswahrnehmung, hier durch die empirische Wahrnehmung bestimmt.“ 167 „In einem gewissen Sinne könnte man auch sagen, daß Cassirer hier die Kritik Heideggers aufnimmt, die dieser in seiner Besprechung des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen und in der Davoser Disputation vorgetragen hat. Ist es doch der Haupteinwand Heideggers gegen Cassirer, daß dieser auf einem bloß übernommenen oder unterstellten ontologischen Fundament immer nur die Leistungen des menschlichen Geistes, dessen ‚terminus ad quem`, bedenkt, nicht aber auch die ursprüngliche Verfaßtheit des menschlichen Daseins, den ‚terminus ad quo` all dieser Leistungen.“ (Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 202.) 166 ECN 2, S. 92. 167 ECN 2, S. 93. 165
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Die Objekte der Du-Wahrnehmung sind hiernach Gestalten sowohl im Sinne der Ausdrucksgestalten als auch im Sinne der Gestaltpsychologie, welche von sich aus unterschiedliche Ausdruckswerte offenbaren. In dieser Ursprünglichkeit sind sie einerseits feststehend im Sinne der Übersummativität einer Melodie, des Figur-Hintergrund-Kontrastes, umrissener Formen oder allgemein: individuierter Ganzheiten. Andererseits bürden sie der Erfahrung zugleich das kontinuierliche Zusammenbrechen der mitgegebenen Stabilität durch den Affekt auf. Dessen „Dynamik lässt jene Stabilität, jene Festigkeit und Stetigkeit, wie sie für die Wahrnehmungswelt vorausgesetzt oder gefordert wird, nicht zu“. 168 Im Mythos geht eine Richtungsänderung oder Intensivierung des Gefühlsgrundes, bspw. durch das Gefühl des Unheimlichen bei Eintreten der Nacht, mit der Möglichkeit der Veränderung der gegenständlichen Anschauung einher. Ändert sich der Gefühlsgrund des Ich, „so verändert sich mit einem Schlage die gesamte Atmosphaere, in der die Gegenstände eingehüllt sind“. 169 Ein bestimmter Ort mag deshalb für den Menschen im Mythos bei Tage betretbar, bei Nacht zu meiden sein. „Wie in unserer Wahrnehmungswelt die Dinge eine andere Farbe erhalten, sobald sie in eine neue Beleuchtung rücken, so ändern in der magisch-mythischen Anschauung die Gegenstände ihr Wesen, wenn sie von einem anderen Strahl des Affekts getroffen werden.“ 170 Diese Dynamik wird erst allmählich durch die Es-Wahrnehmung zurückgedrängt. Im gemeinsamen Wirken, in den frühesten Formen der Sozialität etabliert der Mensch Regeln, um der Dynamik des Affekts Stabilität, die über die bekannte Gestalthaftigkeit hinausgeht, zu verschaffen. „Diese Grenzen halten stand und sie beweisen schon hier eine relative Festigkeit, solange der Mensch sich im Kreis des Gewohnten, im Kreise des Alltags, bewegt.“ 171 Die Objekte der Es-Wahrnehmung offenbaren dagegen im Lichte der Sprache anstatt des Affekts ihr bestimmendes Charakteristikum. Die EsWahrnehmung „setzt bestimmte Grenzen, um sie als solche festzuhalten“. 172 Das heißt nicht, dass Objekte hier durch die erstmalige Benennung ein für alle Mal feststünden, denn „jede neue Erfahrung kann eine Veränderung in der Bestimmung des Gegenstandes und der Eigenschaften, die wir ihm zuschreiben, herbeiführen“. 173 Dies kann man sich am Aspektsehen, das Wittgenstein anhand der Kippfigur eines Hasen-Enten168 169 170 171 172 173
Ebd. Ebd. ECN 2, S. 94. Ebd. Ebd. Ebd.
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Kopfes prägnant veranschaulicht hat, 174 am leichtesten verdeutlichen. Cassirers Punkt hierbei ist, dass im Gegensatz zur kaum kontrollierbaren Du-Wahrnehmung die Es-Wahrnehmung ein Gesetz der Kontinuität kennt, das der Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhanges von Wahrnehmung und Begriff ist: „Die neue Wahrnehmung dringt nicht jäh und gleichsam eruptiv hervor; sie schliesst sich an die früheren an und versucht sich mit ihnen ins Gleichgewicht zu setzen.“ 175 Das heißt, die Es-Wahrnehmung vollzieht im Aufbau des empirischen Objekts keinen Bruch mit der Ausdruckswahrnehmung, sondern etabliert ihre Grenzen in relativer Übereinstimmung mit und im Lichte eines Gleichgewichts von Grenzziehungen und -verflüchtigungen. Die Individuierung empirischer Objekte lässt sich im Ausgang des doppelten Antlitzes der Wahrnehmung als Prozess der Gleichgewichtsfindung zwischen ausdrucksmäßigem Gefühlsgrund und sprachlicher Benennung von Eigenschaften theoretisch sichtbar machen. „Aus der relativen Übereinstimmung aller dieser Wahrnehmung baut sich das Bild des empirischen Objekts auf.“ 176 Den Invarianten von Wahrnehmung und Begriff spürt Cassirer im Folgenden von wahrnehmungspsychologischer Seite nach, indem er Farb-, Raum- und Größenkonstanz auf seine Theorie der Individuierung durch die dynamisch-relative Konstanzbildung hin untersucht. Dazu fragt er, wie „Formveränderungen, die sich daraus ergeben, daß eine Figur aus der frontal-parallelen Ansicht gedreht wird, vom Auge im weiten Maße ausgeglichen [werden], so daß wir die Figur in ihrer "wahren" Form erblicken“. 177 An solch einem Beispiel sieht Cassirer das philosophische Staunen des Psychologen geweckt, denn diese ‚Wahrheit` der Wahrnehmung scheint „doch dem Tatbestand, der rein physikalisch und physiologisch betrachtet der Wahrnehmung zu Grunde liegt, geradezu zu widersprechen“. 178 Cassirer widerlegt zunächst unter Berufung auf diese elementaren Funktionen der Wahrnehmung sowie auf ein Erkenntniswert-Argument erneut Sensualismus, Sinnesdatentheorie, Abbildtheorie bzw. Repräsentationalismus: Bemäße sich der Erkenntniswert der Wahrnehmung an einer Kopie ihrer naturwissenschaftlich beschreibbaren Mechanismen, „so müsste man folgern, daß die Wahrnehmung ihr Ziel um so sicherer erreicht und daß sie ihre Erkenntnisfunktion um so vollkommener erfüllt, je strenger sie sich 174 175 176 177 178
Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (II), Abschnitt XI. ECN 2, S. 93. Ebd. ENC 2, S. 99. Ebd.
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auf ihre eigenen reinen Gegebenheiten beschränkt, ohne sie in irgend einer Weise zu vermehren oder umzugestalten“. 179 Dann verlöre aber die Idee, dass die Wahrnehmung der Erkenntnis den Weg ebnet, ihren Sinn, denn alle Wahrheit läge in der natürlichen Weltsicht von Ausdrucksund Dingwahrnehmung beschlossen und das Faktum der Wissenschaft käme nie auf den Weg. Cassirer dagegen bekräftigt: Je konsequenter die „phaenomenologische Analyse der Wahrnehmung durchgeführt wird und je mehr sie sich bemüht, ihren eigentümlichen Befund, ganz unabhängig von allen erkenntnistheoretischen Vormeinungen, aufzuweisen[,] um so mehr zeigt sich in ihr ein Zug“, 180 den er hier Zeichen-Funktion der Wahrnehmung nennt und der sachlich mit der symbolischen Prägnanz zusammenfällt. Die Wahrnehmung „erstrebt und erlangt eine bestimmte Form vom Eindruck[,] und erst in dieser Form entsteht ihr die für sie charakteristische gegenständliche Sicht“. 181 Objektivität und Formbildung sind folglich zwei Seiten einer Medaille und elementare Funktion der Wahrnehmung. Für den vorliegenden Kontext bedeutet dies, dass oben beschriebene Gleichgewichtsfindung in der dynamischen Bildung von Wahrnehmungsund Sprachkonstanten letztlich auf die Ausbildung von Invarianten abzweckt. Wahrnehmung, Sprache und Erkenntnis haben hierin also eine gemeinsame Funktion: Sie arbeiten auf Objektivität im Sinne von Invarianz hin; die relative Konstanz der etablierten Weltbilder von Mythos und Sprache weisen also von sich aus bereits über sich hinaus. Leistung und Limit der Wahrnehmung in diesem Prozess umreißt Cassirer an dieser Stelle folgendermaßen: Aus der Fülle der Wahrnehmungsbilder, wie sie uns unter den verschiedenartigsten Bedingungen der Raumperspektive und der »Beleuchtungsperspektive« gegeben sind, werden bestimmte typische Gestaltungen herausgehoben: und diese Gestaltungen sind die, die wir als die eigentlichen Repraesentanten »des« Gegenstands, als Ausdruck seiner »wirklichen« Grösse, seiner »wirklichen« Form, seiner »wirklichen« Farbe betrachten. Diese Gebilde dienen fortan als die Bezugspunkte für all unsere objektive Orientierung; in ihrer Gesamtheit bestimmen sie sozusagen die festen Grundachsen, um die sich der Wahrnehmungsprozess dreht. Die jeweiligen besonderen sinnlichen Anzeichen werden in der Richtung auf jene allgemeinen Schemata der Anzeige, wie sie in der Farbkonstanz, der 179 180 181
ECN 2, S. 97. ECN 2, S. 98. Ebd.
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Grössenkonstanz u.s.f. gegeben sind, verschoben; sie werden fortdauernd an ihnen gemessen und ihr gegenständlicher Wert bestimmt sich nach dem Resultat dieser Messung. 182
In der Formung des Wahrnehmungserlebnisses erfolgt Individuierung hiernach durch einen „relativ-konstanten“ Selektionsprozess und einen „relativvariablen“ 183 Reihenbildungsprozess. Farben bspw. erscheinen an Gegenständen je nach Beleuchtung, Hintergrund und räumlicher Nähe zu anderen farblichen Gegenständen relativ konstant und die hierzu relativ variable sprachliche Benennung „_ist noch rot“ oder „_ist schon violett“ ist lediglich in Bezug auf die Schätzung der Wahrnehmung eine Etablierung von Objektivität. „Das“ Rot oder „das“ Blau besitzt freilich in der Welt der sinnlichen Eindrücke kein Korrelat mehr, das ihm direkt entspricht; aber nichtsdestoweniger gibt es unbestimmt viele Farbeindrücke, die die Bedeutung des Rot oder Blau konkret erfüllen, die als besondere „Fälle“ dessen, was der allgemeine Name meint, aufgewiesen werden können. 184
Hieraus lassen sich Schlüsse für die Gegenwartsphilosophie ziehen: Das immer wieder in der Wahrnehmungstheorie angeführte fineness-of-grainArgument spielt Wahrnehmung und Begriff derart gegeneinander aus, dass der Wahrnehmungsbestand absolut gesetzt wird, anstatt die gemeinsame Funktionalität hinsichtlich der Dynamik von Wahrnehmung und Begriff in den Blick zu rücken. Der Propositionalismus McDowells begeht den gleichen Fehler, indem der Begriff im Sinne der Invarianten absolut gesetzt wird, ohne den Unterschied zwischen sprachlichen und wissenschaftlichen Begriffen in den Blick zu nehmen. Mit Cassirer kann der systematische Ertrag der Invariantentheorie folgendermaßen festgehalten werden: (a) Die Wahrnehmung hat „eine doppelte und auf den ersten Blick paradoxe Leistung zu vollziehen“, 185 denn sie selbst muss den sinnlichen Eindrücken eine Richtung der Gegenständlichkeit geben, die den Anforderungen unterschiedlicher Weltbilder gerecht wird. Dazu muss sie zugleich „fest und beweglich“ 186 sein. 182 183 184 185 186
ECN 2, S. 100 f. Beide Zitate ECN 2, S. 101. ECW 13, S. 493. ECN 2, S. 106. Ebd.
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(b) Sie muss zugleich ansprechbar im Sinne einer „Empfindlichkeit für jeden Wechsel der äusseren Bedingungen“ sein und in sich selbst „bei den einmal von ihr gewonnenen Grundgestalten“ 187 verharren. (c) Beide Tendenzen fordern die Etablierung eines Gleichgewichts. Als Haupteigenschaft der Wahrnehmung hebt Cassirer daher ihre elastische Beschaffenheit hervor: „Der Gegensatz zwischen Festigkeit und Beweglichkeit wird durch die ihr eigentümliche Elastizität überwunden.“ 188 (d) Der Realismus der Wahrnehmung kann nicht im Sinne einer „second naiveté“, 189 wie sie Hilary Putnam, John McDowell, Michael Martin und John Searle fordern, gewonnen werden, denn durch die Fixierungen eines Gegenstandes als bspw. rund und rot gewinnen wir „in dieser Fixierung nicht die Natur eines starren »An-Sich«, sondern sie dienen nur als Bezugspunkte in der Bewegung der Wahrnehmung selbst“. 190 Die hierüber hinausgehende Etablierung der Invarianten als Naturgesetze führt vom Thema der Wahrnehmung und dem Zusammenhang von sinnlicher und sprachlicher Individuierung weg, weil das wissenschaftliche Erkennen in Form der Physik und Mathematik des 20. und 21. Jahrhunderts sich nicht mehr an den Konstanten der Wahrnehmung und Sprache, sondern an Invarianten, die das reine Denken aufstellt, misst. 191 Aufgrund des sachlich-genetischen Zusammenhanges sei der weitere Verlauf der Invariantentheorie von Wahrnehmung und Begriff im Folgenden jedoch noch kurz zusammengefasst: (a) Der wissenschaftliche Begriff stellt ein „Ideal der Exaktheit“ 192 auf, das für die Wahrnehmung prinzipiell nicht erreichbar ist. „Die Invarianten, die für sie erreichbar sind, sind daher niemals absolute, sondern stets nur angenäherte Bestimmtheiten.“ 193 (b) Die Wahrnehmung hat zwar das „Ziel der Wirklichkeitserkenntnis“ vorgezeichnet, jedoch muss ab einem gewissen Stand der Wissenschaft „eine selbständige Methodik ausgebildet werden, durch die Beide Zitate ebd. Ebd. 189 Putnam: The Threefold Cord, S. 44. 190 ECN 2, S. 106. 191 Vgl. hierzu ausführlich Ihmig, Karl-Norbert: Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ‚Erlanger Programms`, Hamburg: Meiner 1997. 192 ECN 2, S. 107. 193 Ebd. 187 188
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(c)
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194 195 196 197 198 199
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sich die Erkenntnis von der immanenten Schranke der Wahrnehmung befreit“. 194 Dieses neue Maß muss die Sinne nicht als Vermögen der Täuschung herabwürdigen, denn es folgt einer Richtung, die „die Wahrnehmung selbst gewiesen und den sie, bis zu einem bestimmten Punkte hin, verfolgt hat“. 195 Eine höhere Allgemeinheit und strengere Notwendigkeit „kann nicht anders als auf dem Wege der mathematischen Erkenntnis befriedigt werden. Die Kategorien von Maß und Zahl sind es, die jetzt die Führung übernehmen und die uns zu einer prinzipiell neuen Weise der Konstantenbildung hinführen.“ 196 Die Wahrnehmung bleibt primärer Zugang zur Wirklichkeit und büßt auch von der Warte des wissenschaftlichen Experiments aus nichts von ihrer Dignität ein, „denn alle Messung muss an die unmittelbare Beobachtung anknüpfen und muss ihre Ergebnisse so formulieren, daß sie durch das Ablesen der Zeigerstellung an bestimmten Instrumenten nachprüfbar wird“. 197 Die Annahme, dass bspw. mit Erkenntnis der Wellenlänge von Farben diese plötzlich nicht mehr real oder an Gegenständen anzutreffen seien, beruht auf einem mentalistischen Fehlschluss. Selbst wenn sie als sekundäre Qualitäten „jetzt in die zweite Reihe“ rücken, bedeutet dies „freilich nicht, daß sie schlechthin negiert werden, daß sie aus dem Bilde der Wirklichkeit, das die theoretische Erkenntnis entwirft, einfach verschwinden“. 198 Gegenständlichkeit wird durch die konsequenteste Forderung der Invarianz zu Gesetzlichkeit und somit letztlich unanschaulich. „Die Forderung der Invarianz scheint sich nicht schärfer praezisieren zu lassen, als es in der Gestaltung der modernen Physik geschieht. Für die Naturerkenntnis reduziert sich der Begriff der »Gegenständlichkeit« zuletzt auf den der »Gesetzlichkeit«.“ 199 Die Invarianz stellt nicht in allen Wissenschaften die gleichen Forderungen auf. Die Begriffsbildung in Biologie, Mathematik und Physik unterscheidet sich nach ihrem Anspruch auf Invarianz. Hinsichtlich der Erkenntnis lässt sich aus ihm nur eine universelle Norm ableiten: „Was wir immer wieder an den verschiedenen Ausprägungen ECN 2, S. 108. Ebd. Ebd. ECN 2, S. 110. Beide Zitate ECN 2, S. 112. ECN 2, S. 119.
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des Invarianzgedankens feststellen konnten, das bewährt sich eben schliesslich – und zwar in besonders deutlicher und in unverkennbarer Weise – an ihm selbst.“ 200 6.2.3 Die Funktionen der Ausdruckswahrnehmung und die Prinzipien des Mythos Eine Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung und des Mythos hat nach dem bereits Gesagten nun die Aufgabe, die Subjektivität der Ausdruckserlebnisse in Korrelation mit den in der Wahrnehmung angelegten Objektivierungstendenzen, die sich in der mythischen Anschauung sowie Denk- und Lebensweise wiederspiegeln, freizulegen. Wahrnehmung und symbolische Form bilden Cassirer zufolge eine „Formeinheit [. . . ], die es bewirkt, daß die unendlich vielgestaltige Welt des Mythos kein bloßes Konglomerat willkürlicher Vorstellungen und beziehungsloser Einfälle ist, sondern sich zu einem charakteristischen geistigen Gebilde zusammenfaßt“. 201 Dieses geistige Gebilde können wir mit Cassirer als Weltbild 202 oder „Formwelt“ 203 bezeichnen, in dem das mythische Bewusstsein lebt. Im Gegensatz zum Weltbild des empirischen Bewusstseins lebt es „in einer Welt nicht sowohl von ‚Dingen` und deren ‚Eigenschaften` als vielmehr von mythischen Potenzen und Kräften, von Dämonen- und Göttergestalten“. 204 Dieses „mythische Vorstellen“ charakterisiert Cassirer in Anlehnung an einen Begriff der Sprachwissenschaft als „polysynthetisch“. 205 Im linguistischen Kontext bedeutet polysynthetisch, dass lexikalische und grammatische Elemente zu einem Wort verbunden werden, das einen größeren sprachlichen Komplex, in dem Subjekt, Verb und Objekt gewissermaßen inkorporiert sind, ausdrücken kann. Cassirer überträgt diesen Gedanken auf die Vorstellungswelt des Mythos dahingehend, dass in ihr „keine Sonderung einer Gesamtvorstellung in ihre einzelnen Elemente vorgenommen werde, sondern daß nur ECN 2, S. 133. ECW 12, S. 126. 202 Vgl. ECW 11, S. 257; ECW 12, S. 35, 74, 102, 121, 176, 210, 302; ECW 13, S. VIII, 6, 19, 32, 68 f, 110, 128, 131, 177, 326, 354 und 524 in der Philosophie der symbolischen Formen. 203 ECW 11, S. 150. 204 ECW 12, S. XIII. 205 Beide ECW 12, S. 57. Der Begriff stammt ursprünglich von Peter Stephen Du Ponceau und wurde durch Wilhelm von Humboldt in die Sprachwissenschaft eingeführt. Beispiele für polysynthetische Sprachen bilden u.a. die indigenen Sprachen Amerikas. 200 201
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ein einziges ungeschiedenes Ganze [sic!] der Anschauung gegeben sei, in welchem noch keinerlei ‚Dissoziation` der Einzelmomente [. . . ] stattgefunden habe“. 206 Für die Ausdruckswahrnehmung bedeutet dies, dass in ihr keine Trennung „der objektiven Wahrnehmungsmomente und der subjektiven Gefühlsmomente“ 207 vorliegt. Zwar ist es ein Merkmal der Ausdruckswahrnehmung, wie des Wahrnehmungserlebnisses insgesamt, Objektivierungsmöglichkeiten vorzubereiten, jedoch sind diese von der Subjektivität des Erlebens noch völlig ungeschieden. Die spätere scharfe Trennung von Subjekt und Objekt im theoretischen Denken steht noch an ihrem Anfang, „[d]enn die unzerlegten Inhalte und Gestaltungen der Wahrnehmung als solche bieten diesem Denken keinen Halt und Stützpunkt dar“. 208 Die Trennung von Subjekt und Objekt und die Krise des Mythos durch das Aufkommen des theoretischen Denkens vollziehen sich kulturgeschichtlich erst infolge der Entwicklung der symbolischen Form der Sprache, welche die Wahrnehmung überformt und hierdurch diese Halt- und Stützpunkte für objektiv strengere Bestimmtheit unter Absehung des Gefühlsgrundes des Erlebten bereitstellt. Die Inhalte des mythischen Bewusstseins dagegen fügen sich keiner durchgehenden und festen Ordnung, sie tragen nirgends den Charakter wahrhaft eindeutiger Bestimmtheit, sondern sie stellen vielmehr, in ihrem unmittelbaren Dasein aufgefaßt, ein schlechthin Fließendes und Flüchtiges dar, das jedem Versuch, an ihm selbst wahrhaft scharfe und genaue „Grenzen“ zu unterscheiden, widerstreitet. 209
Wir können an dieser Stelle also zwei Hauptmerkmale festhalten, die nach Cassirer das Weltbild des Mythos bestimmen: (I) Polysynthese und (II) Fluidität. Für den Aufbau des mythischen Weltbildes bedeutet dies schlichtweg, dass Alles mit Allem zusammenhängen kann, dass „eine [. . . ] Vermischung der ‚Arten` des Lebendigen und ein völliges Ineinanderfließen ihrer natürlichen und geistigen Grenzen möglich ist“. 210 Diese Flexibilität im Aufbau der Vorstellungswelt entspricht nun aber gerade nicht einer ‚Unschärfe` der Ausdruckswahrnehmung, 211 die vielmehr durch eine besondere „Schärfe charakterisiert ist, mit der alle sinnlich-konkreEbd. Ebd. 208 ECW 12, S. 39. 209 Ebd. 210 ECW 12, S. 210. 211 Diesen Einwand antizipiert Cassirer folgendermaßen: „Die Entwicklungspsychologie pflegt als Kennzeichen der ‚primitiven` Wahrnehmung deren ‚diffusen` und ‚komplexen` Charakter anzugeben. Aber auch diese ‚Diffusion`, dieser Mangel an Differenzie206 207
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ten Unterschiede, alle Differenzen der wahrnehmbaren Gestalt erfaßt“ 212 werden. An dieser Stelle wird der zuvor bereits entwickelte Gedanke zur wesentlichen Bestimmung des Wahrnehmungsphänomens deutlich: Die Wahrnehmung muss einerseits sinnliche Stabilisierungsleistungen vollbringen, um dem Menschen Orientierung zu bieten, und gleichzeitig in ihren gedanklichen Objektivierungsleistungen so flexibel sein, dass aus ihren sinnlich-anschaulichen Anlagen selbst heraus nur bedingt Anschauliches, wie das wissenschaftliche Weltbild, erwachsen kann. Diese auf den ersten Blick paradox scheinenden Anforderungen an die Wahrnehmung plausibilisiert Cassirer argumentativ in zweierlei Richtung. Zum einen, und dieses Argument kennen wir schon, 213 wäre [d]iese eigentümliche Fluidität der mythischen Welt [. . . ] nicht begreiflich, wenn schon die unmittelbare Wahrnehmung, rein als solche und vor jeder „intellektuellen“ Auffassung und Deutung, gewissermaßen zwangsläufig die Abteilung und Aufteilung der Welt in feste Klassen in sich schlösse. Wäre dies der Fall, so müßte der Mythos auf Schritt und Tritt nicht nur gegen die Gesetze der „Logik“, sondern gegen die elementaren „Tatsachen der Wahrnehmung“ verstoßen. 214
Dass die Ausdruckswahrnehmung gerade nicht die sinnlichen Differenzen anhand empirischer Gegenstände und deren Eigenschaften setzt, die eine scharfe Trennung zwischen Gattungen und Arten einforderten, bedeutet aber wiederum nicht, dass die mythische Weltsicht alogisch ist. Vielmehr muss sie „gleichviel welche spezielle Erklärung von der Bedeutung und von der Entstehung des Totemismus angenommen wird – in irgendeinem allgemeinen Zug der ‚Logik` des mythischen Denkens, in der Form und Richtung seiner Begriffs- und Klassenbildung überhaupt, begründet sein“. 215 In diesem argumentativen Vorgehen kommt sehr deutlich Cassirers korrelative Analyse von subjektivem Geist – anhand der Anforderungen an die Wahrnehmung – und objektivem Geist – anhand der ‚Logik` im rung und Gliederung, gilt nur, wenn wir an sie bereits stillschweigend einen bestimmten gedanklichen Maßstab, ebenden Maßstab der theoretischen Formung, anlegen. An sich selbst ist auch die ‚primitive` Wahrnehmung keineswegs ungegliedert oder verschwommen – nur liegen ihre Differenzen in einer ganz anderen Ebene als in derjenigen, in der sich die ‚objektive` Auffassung, die Auffassung der Wirklichkeit als eines Inbegriffs von ‚Dingen` und ‚Eigenschaften` bewegt.“ (ECW 13, S. 68.) 212 Ebd. 213 Vgl. Kapitel 1.4.2. 214 ECW 13, S. 67. 215 ECW 12, S. 210.
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Aufbau des mythischen Weltbildes – zum Vorschein. Die Wahrnehmung kann in ihrem Fundament, der Ausdruckswahrnehmung, nicht auf die Individuierung fester Genera und Klassen festgelegt sein, sonst wäre das mythische Weltbild dem Wahrnehmungsphänomen vollständig gegenläufig. Die Begriffs- und Klassenbildung des Mythos andererseits kann nicht alogisch sein, denn sonst wäre sie gar nicht als solche rekonstruierbar 216 und für den Aufbau eines Weltbildes nicht funktional. Wie aber kann Cassirer nun das Erscheinende in der Ausdruckswahrnehmung weiter charakterisieren, wenn für uns so Alltägliches wie die Diskrimination des uns Erscheinenden in Substanzen, die Träger von Eigenschaften sind, nicht unbedingt gelten soll? Cassirer spricht von „Seinsgestaltungen“, die sich unterscheiden, „ohne sich darum voneinander zu scheiden“. 217 Wie wir bereits wissen, ist Cassirer stark durch die zu seiner Zeit aufblühende Gestalttheorie geprägt, weshalb wir annehmen können, dass „Seinsgestaltungen“ erst einmal nur meint, dass in der unmittelbaren Erfahrung sich durch die Mechanismen der Wahrnehmung Strukturen vor einem Hintergrund abheben. Diese Form sinnlicher Diskrimination ist zugleich aber auch durch die ‚Logik` des mythischen Vorstellens geformt, weshalb hinsichtlich des Sinngefüges des Mythos jede Gestalt „gewissermaßen in jedem Augenblick bereit [ist], sich in eine andere, scheinbar völlig entgegengesetzte zu wandeln“. 218 Hieraus leitet Cassirer ein drittes Prinzip des Mythos ab: (III) das der Metamorphose. Der Mensch kann diesem kulturellen Prinzip zufolge in mythisch-verwandtschaftlichen Beziehungen mit Tieren und Pflanzen stehen. Sogar in Unbelebtem wie einem Stein kann sich bspw. die Seele eines Ahnen manifestieren. „Die mythische ‚Metamorphose` bindet sich an kein logisches Gesetz der ‚Identität` – noch findet sie an irgendeiner feststehenden ‚Konstanz` der Arten ihre Schranke.“ 219 Für das Wahrnehmungsphänomen bedeutet dies selbstverständlich keine ‚Unschärfe` beim Hieran zeigt sich erneut Natorps Einfluss auf Cassirers Methode, wenn jener davon spricht, dass es Aufgabe der Transzendentalphilosophie sei, den Logos jeglicher kultureller Aktivität zu rekonstruieren: „Der schöpferische Grund aber aller solchen Tat der Objektgestaltung ist das Gesetz; zuletzt jenes Urgesetz, das man noch immer verständlich genug als das des Logos, der Ratio, der Vernunft bezeichnet. Und das nun ist die zweite, die entscheidende Forderung der transzendentalen Methode: zum Faktum den Grund der „Möglichkeit“ und damit den „Rechtsgrund“ nachzuweisen, das heisst: eben den Gesetzesgrund, die Einheit des Logos, der Ratio in all solcher schaffenden Tat der Kultur aufzuzeigen und zur Reinheit herauszuarbeiten.“ (Natorp, Paul: „Kant und die Marburger Schule“, in: Kant-Studien (17), 1912, S. 197.) 217 Beide Stellen ECW 13, S. 67. 218 Ebd. 219 Ebd. 216
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Rekogniszieren von Gestalten. Doch für die Begriffsbildung und ‚Logik` dieser Vorstellungswelt bedeutet es, dass „[e]in und dasselbe Wesen [. . . ] nicht nur ständig in neue Formen über[geht], sondern es enthält und verknüpft in sich, in ein und demselben Augenblick seiner Existenz, eine Fülle verschiedener, ja entgegengesetzter Seinsgestalten“. 220 Die Identität einer Sinneinheit, sei es eine Handlung, ein Ritual, eine Seele oder eine soziale Gruppenzugehörigkeit kann folglich durch die verschiedensten „Seinsgestalten“ sinnlich fundiert werden. Der Inhalt der Wahrnehmung und die Denkweise des Mythos liegen aufgrund der beschriebenen Flexibilität nicht im vermuteten Widerstreit, sondern sind derart „völlig ineinandergewachsen – daß sie miteinander zu einer durchaus ‚konkreten` Einheit verschmelzen“. 221 Dies hat folgende Konsequenzen: (a) Das mythische Denken unterscheidet, anders als das theoretische, nicht zwischen Sein und Schein. Das klassische Problem der Wahrnehmung, das danach fragt, wie es zu verstehen sei, dass wir Träumen, Illusionen und Halluzinationen einen anderen Status als ‚echten` Wahrnehmungen zusprechen, stellt sich im Mythos nicht. „Wo nicht über den Mythos reflektiert wird, sondern wo wahrhaft in ihm gelebt wird – da gibt es noch keinen Riß zwischen der ‚eigentlichen` Wahrnehmungswirklichkeit und der Welt der mythischen ‚Phantasie`.“ 222 Die Grenzen zwischen Physischem, Psychischem und Geistigem, Organischem und Unorganischem, Wach- und Traumerlebnis sind fließend. (b) Der Mensch bewegt sich in der Unmittelbarkeit des Lebens, solange der Mythos durch das Aufkommen der Wissenschaft noch nicht in die Krise, die zum Bruch mit seinen Denkinhalten führt, gekommen ist. Diese ist nicht identisch mit der Unmittelbarkeit der Umwelt, in die ein Tier eingebunden ist, denn auch im Mythos lebt der Mensch beständig in einer geistig angeeigneten Umwelt, die wir in Anlehnung an Husserl, Schütz und Habermas als seine Lebenswelt bezeichnen können. 223 Bezeichnend für diese ist, dass die Inhalte der mythischen Vorstellungswelt eng an die Erfahrungen der Ausdruckswahrnehmung gebunden sind. „Die mythischen Gebilde tragen hier unmittelbar die Farbe der vollen, der unmittelbaren Wahrnehmung – und andererseits ist diese selbst wie eingetaucht in das Licht der mythischen 220 221 222 223
ECW 13, S. 67 f. Ebd. ECW 13, S. 68. Vgl. Kapitel 1.3.
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Gestaltung.“ 224 Heilige und profane Orte werden so bspw. mit Gefühlen der Erhabenheit, Achtung, Furcht oder aber der Gelassenheit und Vertrautheit in Verbindung gebracht und ästhetisch (bspw. durch ein Ornament) oder sprachlich derart gekennzeichnet, dass eben Heiligkeit oder Profanität zum Ausdruck gebracht wird. Zwischen solch bildlichen und lautlichen Zeichen (dem Ausdruck) und dem wahrgenommenen Eindruck besteht ein zunächst mimetisches Verhältnis. Anders als die Zeichen der Tierwelt, die Cassirer operierend nennt, ist die symbolische Aktivität menschlicher Zeichen designierend und schafft dadurch erst denjenigen Objektivations- und Zwischenraum, den wir geläufig Sinn oder Bedeutung nennen. 225 (c) Dem Menschen ist die Subjekt-Objekt-Spaltung noch nicht bewusst. Das Bewusstsein erfährt sich nicht als gegenüber der Welt erkennendes, als Subjekt, das sein Gegenüber rein objektiv deutet, bspw. als anderes Exemplar der Gattung Mensch mit einer Reihe biologischer, psychischer und moralischer Eigenschaften. Das Ausdruckserleben ist vielmehr „eine Art von Wirklichkeitserfahrung“, in der das Objektsein zweitrangig ist. „Sie liegt überall dort vor, wo das ‚Sein`, das in der Wahrnehmung erfaßt wird, nicht sowohl ein Sein von Dingen als bloßen Objekten ist, sondern wo es uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt.“ 226 Diese Form der Subjektivität ist nicht nur als Basis der Triangulation von subjektiv-intersubjektiv-objektiv 227 hinsichtlich der Bestimmung von Objekten realitätskonstitutiv, sondern es ist genaugenommen die Subjektivität des Erlebens, welche in erster Instanz Realität als lebendige Erfahrung verbürgt. Sozialität, Interaktion und das ‚dunkle Du` bilden dann die Grundlage der intersubjektiv vermittelten Vorstellungswelt des Mythos, in der alles beseelt und durch die drei Prinzipien Polysynthese, Fluidität und Metamorphose ‚logisch` bestimmt ist. Erst die langsam sich vollziehende Entwicklung der Sprache vom Mimetischen zum SymboliEbd. Diese Terminologie taucht erstmals im Spätwerk auf: „Symbols – in the proper sense of this term – cannot be reduced to mere signals. Signals and symbols belong to two different universes of discourse: a signal is a part of the physical world of being; a symbol is a part of the human world of meaning. Signals are ‚operators`; symbols are ‚designators`. Signals, even when understood and used as such, have nevertheless a sort of physical or substantial being; symbols have only a functional value.“ (ECW 23, S. 37.) 226 Beide Zitate ECW 13, S. 69. 227 Vgl. Davidson, Donald: „Three Varieties of Knowledge“, in: ders.: Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford: Clarendon 2001, S. 212 f. 224 225
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schen 228 bildet dann die Grundlage des vollständigen Auseinandertretens von Subjekt und Objekt, von Gefühlsgrund und Bestimmtheit – die Entstehung eines ‚anonymen`, gänzlich vom Subjekt unabhängigen Objekts. Diese Erfahrungsdimension, die durch die Ausdruckswahrnehmung gegeben ist, lässt sich prinzipiell nicht rein objektiv bestimmen, da sie der Geltung der Objektivität logisch-genetisch vorhergeht. Die phänomenologische Betrachtung zeigt, „daß die Wahrnehmung des Lebens nicht in der bloßen Dingwahrnehmung aufgeht, daß die Erfahrung des ‚Du` niemals einfach in die des bloßen ‚Es` aufgelöst oder auf sie, durch noch so komplexe begriffliche Vermittlungen, reduziert werden kann“. 229 Nach Cassirer ist die Objektwerdung eben nicht nur eine Frage kultureller, geschichtlicher Geltung, sondern zugleich eine genetische: Auch vom rein genetischen Gesichtspunkt aus scheint kein Zweifel zu bestehen, welcher der beiden Wahrnehmungsformen die Priorität zuzusprechen ist. Je weiter wir die Wahrnehmung zurückverfolgen, um so mehr gewinnt in ihr die Form des „Du“ den Vorrang vor der Form des „Es“; um so deutlicher überwiegt ihr reiner Ausdruckscharakter den Sachund Dingcharakter. Das „Verstehen von Ausdruck“ ist wesentlich früher als das „Wissen von Dingen“. 230
Die Analyse der Ausdruckswahrnehmung soll nun teils rekapitulierend, teils vorbereitend für die Dingwahrnehmung dahingehend abgeschlossen werden, dass erneut nach der Charakterisierung der spezifischen Wahrnehmungsinhalte gefragt wird. Es wurde gezeigt, dass nach Cassirer die primären Inhalte von Wahrnehmungserfahrungen 231 keine physikalischen Objekte sein können, da diese eine theoretische Deutung des wissenschaftlichen Weltbilds sind und somit in einer Phänomenologie der Wahrnehmung nicht den Anfang machen können. Auch kann es sich nicht um eine Komposition reiner Sinneseindrücke handeln, denn solch eine sensualistische Auffassung „verkennt nicht nur den Anteil, den die ‚höheren` geistigen Funktionen an [der Wahrnehmung, T.E.] besitzen, sondern auch die starke und triebkräftige Unterschicht, auf der sie ruht“. 232 Es ist in diesem Zusammenhang wichtig darauf hinVgl. Kapitel 3.1. ECW 13, S. 69. 230 Ebd. 231 Cassirer spricht im folgenden Zusammenhang von der „Wahrnehmungswelt“. (ECW 13, S. 73.) 232 ECW 13, S. 73. Übertragen auf die McDowell-Dreyfus-Debatte lässt sich mit Cassirer zeigen, dass beide Positionen ihren Gesamtanspruch überspannen und beiden zur 228 229
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zuweisen, dass Cassirer diesen doppelten Anspruch – kulturelle Formung und ‚natürliche` Fundierung – für alle Modi des wahrnehmenden Bewusstseins und der Repräsentation erhebt. Ausdruckswahrnehmung, Dingwahrnehmung und reines Denken unterstehen gleichsam der ‚symbolischen Apperzeption`. Keinesfalls vertritt Cassirer eine Art Stufenmodell, dem zufolge sprachliche und wissenschaftliche Anschauungsformen einer primär in anthropologischen oder psychologischen Kategorien fassbaren Ausdruckswahrnehmung aufsitzen. 233 Vielmehr verhält es sich so, dass die Formen der Wahrnehmung ineinander verschmolzen bestehen und kulturgeschichtlich in unterschiedlicher Dominanz zu Tage treten. So bestehen die primären Inhalte, die „Seinsgestalten“, des mythischen Wahrnehmungsbewusstseins in „unmittelbaren Ausdruckscharakteren“, 234 die „niemals ausschließlich auf das ‚Was` des Gegenstandes gerichtet [sind], sondern erfaßt [werden durch, T.E.] die Art seiner Gesamterscheinung“. 235 Die umrissene Lebendigkeit einer Wahrnehmungserfahrung bedeutet für das Subjekt, dass es niemals nur einen „bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten – wie hell oder dunkel, kalt oder warm“ – erfährt, sondern zugleich „auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt“ 236 ist. Von dieser Textstelle aus sind Par-
Beilegung des Konflikts zwischen Intellektualismusvorwurf und Mythos des Gegebenen das begriffliche Werkzeug fehlt. 233 Diese These scheint Martina Sauer zu vertreten. Einerseits betont sie zwar, dass es bei Cassirer nichts Außersymbolisches gibt, behauptet aber zugleich: „Für Cassirers weitere Untersuchung ist wesentlich, dass auch das begriffliche Verstehen als ‚höchste Denkform`, die uns den Weg zur Erkenntnis ebnet und die es in diesem dritten Band zu untersuchen gilt, auf eine Wahrnehmungsform zurückgehen müsse, die vor der symbolischen liege. Diese zu durchdringen, macht sich Cassirer zur Aufgabe.“ Die innere Ambivalenz dieser Deutung wird an späterer Stelle besonders deutlich: „Von Anfang an haben wir es demnach ganz im Sinne Cassirers mit einem Prozess der Symbolisierung zu tun, der bereits die ersten wahrgenommenen Bewegungen und Formen im Raum deutet. Es ist bemerkenswert, dass sich dieser Prozess jedoch nicht sogleich in der Weise vollzieht, dass das Erlebte und Erlittene konkret im Mythos, in der Sprache, in der Kunst oder in Begriffen gefasst wird, sondern zunächst in der Ausdruckswahrnehmung als Ausdruckserlebnis wirkt. [. . . ] Die Ausdruckswahrnehmung ruht demnach auf einer ‚starken und triebhaften Unterschicht` [. . . ] bzw. auf einem ‚seelisch-geistigen Grundbestand` [. . . ], die beide, wie eingangs bereits geäußert, als anthropologische Konstanten verstanden werden können; sie grenzt sich damit deutlich von darauf aufbauenden symbolischen Auslegungen des Erfahrenen ab.“ (Sauer: „Wahrnehmen von Sinn vor jeder sprachlichen oder gedanklichen Fassung?“, S. 26 und 41.) 234 ECW 13, S. 74. 235 Ebd. 236 Beide Zitate ebd; meine Hervorhebung.
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allelen zu Martin Heideggers Existenzialanalyse gezogen worden 237 und vielleicht gerade aufgrund dessen eine fehlende weitere Präzisierung der Ausdruckscharaktere – bspw. nach Vorbild der Befindlichkeit in Sein und Zeit (1927) und der Stimmungen in Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) 238 – beanstandet worden. 239 Cassirer geht dieser Gestimmtheit jedoch nicht hinsichtlich der Existenzialität des Daseins nach, sondern prüft ihre Funktionalität im Aufbau von Wahrnehmung und Objektivität. Die Beispielhaftigkeit der von Cassirer beschriebenen Ausdruckscharaktere des „Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden“ 240 werden auf genau diese Funktionalität bezogen. Cassirer schreibt an einer Stelle: „Die Wahrnehmung besitzt den Charakter der ‚Lebendigkeit` nicht aus eigenem Recht, sondern sie trägt ihn nur von einer fremden Instanz zu Lehen.“ 241 Wie ist dies aber zu verstehen, nachdem sich herausgestellt hat, dass es ein wesentliches Merkmal der Ausdruckswahrnehmung ist, Lebendigkeit als Eindruck aufzunehmen und symbolisch im Sinne des lebendigen Ausdrucks zu formen? Die Möglichkeitsbedingung der Erfahrung von Lebendigkeit verortet Cassirer im „Urphänomen des Ausdrucks“, 242 welches dem Menschen als „ausdrucksmäßige[s] ‚Verstehen[. . . ]`“ 243 sinnlicher Eindrücke gegeben ist. In den gegebenen Wahrnehmungserlebnissen „offenbart“ bzw. „manifestiert“ sich nach Cassirer ein „Ausdruckssinn“, ohne den „das Dasein für uns stumm“ bliebe. 244 Den für die Ausdruckswahrnehmung primären ‚Ausdruckssinn` bestimmt Cassirer eindeutig als „Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit“ 245 und führt damit en passant (IV) mythisch-magische Kausalität als weiteres Merkmal des Mythos ein. Diese ist einerseits scharf vom kausalen Denken, wie es für die sprachlich „Heidegger hat in seiner Diskussion der Befindlichkeit in Sein und Zeit eine berühmte Beschreibung der Stimmungen gegeben, die Cassirers antimentalistischer Intention im Theorem der Ausdruckswahrnehmung sehr nahe kommt.“ (Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 294.) 238 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, §§ 29, 30 u. 40 sowie ders.: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt. Endlichkeit. Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1985, §§ 16–38. 239 Martina Plümacher bspw. kritisiert: „Cassirers Aussagen zur Ausdruckswahrnehmung lassen Präzision vermissen. Als ein besonderer Modus des Wahrnehmens ist sie thematisch mehr umrissen denn analysiert worden.“ (Plümacher: „Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer“, S. 203.) 240 ECW 13, S. 74. 241 ECW 13, S. 81. 242 ECW 13, S. 82. 243 Ebd. 244 Vgl. ebd.; meine Hervorhebung. 245 Ebd.; meine Hervorhebung. 237
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geformte Dingwahrnehmung und das wissenschaftliche Denken gilt, 246 abzugrenzen, da dieses als Formmotiv dem denkenden resp. reflektierenden Verstehen entstammt. Jene Kausalität des Mythos ist hingegen Ausdruck eines menschlich-magischen (quasi-omnipotenten) Willens. Als solche bereitet die mythisch-magische Kausalität funktional betrachtet die theoretische Kausalität vor, geht ihr logisch-genetisch 247 voraus und ist als Funktion des „ausdrucksmäßigen ‚Verstehens`“ in der Ausdruckswahrnehmung fundiert. Cassirer erweckt dadurch Kant erneut aus einem „dogmatischen Schlummer“, 248 indem er Kants Anspruch, dass die Wahrnehmung ausnahmslos unter den Kategorien steht und somit kausal geformt ist, für die Dingwahrnehmung bekräftigt und zugleich die ursprüngliche Form der Ausdruckswahrnehmung als Funktion aller Wahrnehmung ausweist. Die Ding-an-sich-Problematik ist spätestens mit dieser Freilegung für Cassirer vom Tisch: Der Ausdruckssinn einer lebendigen Wirksamkeit ist „kein subjektives Anhängsel“ objektiver Wahrnehmungsinhalte, „sondern ebendieser Charakter ist es, der zum wesentlichen Bestand der Wahrnehmung gehört“ und „der Wahrnehmung gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität gibt – die sie erst zu einer ‚Wahrnehmung von Wirklichkeit` macht“. 249 Cassirers Deutung des kantischen Anspruchs, dass der transzendentale Idealismus mit einem empirischen Realismus einhergeht, 250 wird durch die grundlegende Differenzierung von Ausdrucks- und Dingwahrnehmung dahingehend neu gedacht, dass sich die Probleme der kantischen Erkenntnistheorie unter Beibehaltung ihrer wichtigsten Prämissen auflösen. Gleichzeitig wird am Begriff der „Wirksamkeit“ einsichtig, wie die TransIn Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937) bestimmt Cassirer Kausalität als regulatives Ideal im kantischen Sinne: „Aber das Suchen nach immer allgemeineren Gesetzen ist ein Grundzug, ein regulatives Prinzip unseres Denkens. Ebendieses regulative Prinzip, und nichts anderes, ist das, was wir das Kausalgesetz nennen.“ (ECW 19, S. 77.) 247 Cassirer präzisiert dies folgendermaßen: „In Wahrheit bedeutet, innerhalb dieses Horizontes, die Ausdruckswahrnehmung gegenüber der Dingwahrnehmung nicht nur das psychologisch Frühere, das πρότερον πρὸς ἡµᾶς, sondern sie bezeichnet auch ein echtes πρότερον τῆ φύσει. Sie hat ihre spezifische Form, ihre eigene ‚Wesenheit`, die sich nicht durch Kategorien, die für die Bestimmung ganz anderer Seins- und Sinnregionen gelten, beschreiben, geschweige durch sie ersetzen läßt.“ (ECW 13, S. 89.) 248 Prol AA 260. 249 Alle drei Zitate ECW 13, S. 81 f. 250 In Kants Worten: „Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu, die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird.“ (KrV, A 370 f.) 246
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formation der Vernunftkritik zu einer Kritik der Kultur auf einer Phänomenologie der Wahrnehmung fußt. Insbesondere aber zeigt sich hieran, dass Cassirer mit der Philosophie der symbolischen Formen keine konstruktivistische Position einnimmt, sondern an ihrer Basis, den Wahrnehmungsformen, durch und durch einen Realismus vertritt. Die von Cassirer deduzierte Lebendigkeit der Ausdruckswahrnehmung erhält ihren Rechtsgrund also nicht durch das Formmotiv theoretischer Kausalität, sondern ist als Realgrund mythisch wahrgenommener Wirkungen direkt der Wirklichkeit entlehnt. „Wirklichkeit könnte niemals aus der Wahrnehmung als bloßer Sachwahrnehmung gefolgert werden, wenn sie nicht in ihr, kraft der Ausdruckswahrnehmung, schon in irgendeiner Weise beschlossen läge und sich hier in einer durchaus eigentümlichen Weise manifestierte.“ 251 Um nun eine Vorstellung dieser ursprünglichen Form lebendiger Wirklichkeit zu bekommen, greift Cassirer auf seine Analysen der Sprache aus dem ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen zurück, denn „klarer und überzeugender als in der traditionellen Psychologie, die fast immer in ihren Beschreibungen schon durch bestimmte begriffliche Voraussetzungen geleitet und durch sie gebunden war, tritt diese Form im Spiegel der Sprache hervor“. 252 Cassirer an dieser Stelle zu folgen, ist meiner Interpretation zufolge doppelt gerechtfertigt: Einerseits behaupte ich ja, dass das Material der ersten beiden Bände sich in die mit dem dritten Band vorliegende Phänomenologie der Wahrnehmung und der Erkenntnis integrieren lassen muss. Darüber hinaus nehme ich die im Band zur Sprache dargelegte Trias mimisch – analogisch – symbolisch als diachronische Ebene einer Matrix, die sich synchronisch zugleich in Ausdruck – Darstellung – Bedeutung auffächert, in Anspruch. Die Sonderung von Mythos und Sprache als symbolische Formen bedeutet ja nicht, dass, wo im Mythos gelebt wird, es keine Sprache gibt. Vielmehr koexistieren Sprechhandlungen und mythische Lebensweise gewissermaßen friedlich, bis die Darstellungsfunktion gegen Ende der Sprachentwicklung vom Mimetischen zum Symbolischen so dominant durch ihre Objektivitätsansprüche wird, dass sich ein Bruch mit den mythischen Denkinhalten und eine Krisis des Bewusstseins abzeichnet. Mit Blick auf die Phänomenologie der Sprache zeigt sich Cassirer zufolge unmittelbar, „wie alle Wahrnehmung eines ‚Objektiven` ursprünglich von der Erfassung und Unterscheidung gewisser ‚physiognomischer` Charaktere ausgeht und wie sie mit diesen gleichsam gesättigt bleibt“. 253 251 252 253
ECW 13, S. 82. ECW 13, S. 89. ECW 13, S. 89.
Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung
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Wie eine Deutung der ‚Physiognomie` lebendiger Wahrnehmungsinhalte im ‚Spiegel der Sprache` zu verstehen sei, erläutert Cassirer am Beispiel 254 von Raum- und Bewegungswahrnehmungen und deren sprachlicher Fixierung: Die sprachliche Bezeichnung einer bestimmten Bewegung etwa birgt fast durchweg dieses Moment in sich: Statt die Form der Bewegung als solche, als Form eines objektiven raumzeitlichen Geschehens, zu beschreiben, wird vielmehr der Zustand genannt und sprachlich fixiert, von dem die betreffende Bewegung der Ausdruck ist. „‚Raschheit`, ‚Langsamkeit` und zur Not noch ‚Eckigkeit`“, so heißt es bei Klages, [. . . ] „mögen rein mathematisch verstanden werden; dagegen ‚Wucht`, ‚Hast`, ‚Gehemmtheit`, ‚Umständlichkeit`, ‚Übertriebenheit` sind ebensosehr Namen für Lebenszustände wie für Bewegungsweisen und beschreiben in Wahrheit diese durch Angabe ihrer Charaktere. 255
Hast und Gehemmtheit bezeichnen also eine Erfahrung von wirklicher Bewegung durch Begriffe, die mimetisch operieren. Das Ausdruckshafte der Bewegung bspw. eines fliehenden Tieres als eine hastige, schnelle, rasche Bewegung ist als eben solch ein Eindruck zuvor psychisch erfahren worden. Wer Bewegungsgestalten und Raumformen kennzeichnen will, findet sich unversehens in eine Kennzeichnung von Seeleneigenschaften verstrickt, Martina Sauer hat diese Beispiele Cassirers zum Paradigma der Ausdruckswahrnehmung erhoben. Ihr zufolge „gilt es zu klären, auf welche Weise Cassirer die ‚allerersten` Wahrnehmungsmomente, d.h. die Wahrnehmung von Bewegungs- und Raumformen ebenfalls als symbolisch strukturierte auslegen kann, zumal er diese nicht als sprachlich und begrifflich, sondern als affektiv wirksame Formen (Charaktere / Seeleneigenschaften) beschreibt und darüber hinaus als konstitutiv für mythische, bildliche, sprachliche und begriffliche Sinnbildungsprozesse herausstellt. Bestand haben kann dieser Ansatz nur, wenn die Wahrnehmung von ‚Seeleneigenschaften` in den Bewegungsund Raumgestalten als eine Art anthropologische Konstante eingeführt wird, als ein ‚seelisch-geistiger Grundbestand`, wie Cassirer es formuliert. Ein Schritt, den, wie sich zeigt, Cassirer zwar eröffnet, aber nicht weiter verfolgt hat.“ (Sauer: „Wahrnehmen von Sinn vor jeder sprachlichen oder gedanklichen Fassung?“, S. 7.) Dass solch eine Lesart den Grundgedanken der Philosophie der symbolischen Formen widerspricht, hat insbesondere Guido Kreis ausführlich verdeutlicht und geht auch aus der hier vorliegenden Lesart deutlich hervor. (Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 411.) Es scheint mir, dass bislang alle Interpreten große Mühe haben, bei Cassirer den Realgrund der Wahrnehmungsinhalte mit der These von der Symbolhaftigkeit aller Wahrnehmungsinhalte in Einklang zu bringen. Insbesondere die in Kapitel 5 entwickelte Lesart der ‚natürlichen` Symbolik strebt solch eine harmonisierende Deutung an. 255 ECW 13, S. 90. 254
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weil Formen und Bewegungen als Seelenerscheinungen erlebt worden sind, ehe sie aus dem Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit vom Verstande beurteilt werden, und weil die sprachliche Verlautbarung der Sachbegriffe nur durch Vermittlung von Eindruckserlebnissen stattfindet. 256
Cassirer demonstriert hier eindrucksvoll, wie er es sich vorstellt, dass die Ausdruckswahrnehmung das Sein gewissermaßen ‚zum Sprechen` bringt. Jeglicher Vergegenständlichung liegt genealogisch betrachtet ein langer Weg ausdruckshafter Umbildungen psychischer Übertragungsleistungen im Rücken. Die ursprüngliche Bildung von Sinnhaftigkeit entlang der Ausdruckswahrnehmung ist letztlich zugleich subjektiv im Sinne ihres Erlebnischarakters und objektiv in dem Sinne der ‚Welthaltigkeit` des Erlebten. Genaugenommen ist der Ausdruckssinn als ursprünglicher Inhalt der Ausdruckswahrnehmung aber weder subjektiv noch objektiv, da diese Entzweiung der Reflexion und nicht dem unmittelbaren Leben entstammt. Es bleibt zu fragen, wie viel Plausibilität die These für sich in Anspruch nehmen kann, dass der direkte Anschluss an die Realität den Inhalten der Ausdruckswahrnehmung zukommt, nachdem doch eigentlich klar ist, dass diese mit dem Aufkommen der Wissenschaft für den Menschen nicht mehr von Bedeutung sind, denn: „Das Weltbild des Mythos und das der theoretischen Erkenntnis können nicht miteinander bestehen und nicht im gleichen Denkraum nebeneinanderstehen. Beide verhalten sich vielmehr streng ausschließend zueinander: Der Anfang des einen kommt dem Ende des andern gleich.“ 257 Obwohl also das wissenschaftliche Denken einen intellektuellen Bruch mit dem Mythos vollzieht, behauptet Cassirer für alltägliche Erfahrungen in der Lebenswelt eine Kontinuität des mythischen Lebens. Ja, auch die Welt unserer unmittelbaren Erfahrung – jene Welt, in der wir alle, sofern wir außerhalb der Sphäre bewußter, kritisch-wissenschaftlicher Reflexion stehen, beständig leben und sind – enthält eine Fülle von Zügen, die sich, vom Standpunkt ebendieser Reflexion, nur als mythisch bezeichnen lassen. Insbesondere ist es der Begriff der Ursächlichkeit, der allgemeine Begriff von „Kraft“, der durch die Sphäre der mythischen AnEbd. Diese Passage gehört noch zum Klages-Zitat Cassirers. ECW 13, S. 87. Diesen vermeintlich radikalen Bruch bezieht Cassirer an dieser Stelle explizit auch auf die Wahrnehmung: „[S]o scheint umgekehrt der Anbruch des Tages, der Anbruch des wachen theoretischen Bewußtseins und der theoretischen Wahrnehmung, keinen Rückweg mehr in die Welt der mythischen Schattenbilder zu verstatten.“ (Ebd.) 256 257
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schauung des Wirkens hindurchgehen muß, ehe er sich in den mathematisch-logischen Begriff der Funktion auflöst. Und so zeigt sich überall bis in die Gestaltung unserer Wahrnehmungswelt hinein, also bis in jenes Gebiet, das wir vom naiven Standpunkt aus als die eigentliche „Wirklichkeit“ zu bezeichnen pflegen, dieses eigentümliche Fortleben mythischer Grundund Urmotive. 258
Diese Textstelle ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert: (a) Cassirer gibt hier eine konzise Beschreibung dessen, was bereits unter dem Begriff „Lebenswelt“ angerissen wurde. Sie ist die Welt vorwissenschaftlicher Erfahrung, in der wir alltäglich wahrnehmen, handeln und denken. Ein erster Hinweis auf das fortwährende Bestehen mythischer Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkweisen ist darin zu erkennen, dass Cassirer von der Welt unmittelbarer Erfahrung spricht. (b) Dieser Unmittelbarkeit stellt Cassirer die kritische Reflexion des wissenschaftlichen Denkens gegenüber und kennzeichnet dieses zusätzlich als bewusste Erfahrung. ‚Bewusstsein` bezieht sich hier auf die Reflexion und will m.E. besagen, dass sich der Mensch der Differenz zwischen wissenschaftlichem Weltbild und Alltagserfahrung bewusst ist. Dies erfordert jedoch die willentliche Einnahme ebendieses Standpunktes, welcher lediglich den Blick auf die Unmittelbarkeit ändert. Hieraus folgt nicht, dass unmittelbare Erfahrungen dem Menschen unbewusst sind und der kritisch reflektierten Erfahrung als bewusster gegenüber stünden. 259 Vielmehr erscheint diesem Denken die Lebenswelt in einigen Aspekten als mythisch. Sowohl die alltägliche, unmittelbare Erfahrung in der Lebenswelt als auch die Erfahrung des kritischen Denkens sind Formen des Bewusstseins, die sich in der Dynamik der Erfahrung auch überschneiden können. Ein alltägliches Beispiel kann diese Dynamik der unmittelbaren Erfahrung „mythischer Grund- und Urmotive“ und anschließender kritischer Distanznahme verdeutlichen: Die meisten Menschen werden die Erfahrung kennen, dass man ein unbelebtes Objekt wie bspw. eine Tischkante, nachdem man sich an ihr gestoßen hat, ‚anspricht`. Während dies für einen schmerzhaften Ausruf noch nicht unbedingt gilt, ist aber ein Satz wie „Was stehst du mir auch im Weg!“ – ob nun laut fluchend geäußert oder im inneren Monolog gedacht – klar als ECW 12, S. 17 f. Dies ist die in Kapitel 4.5 diskutierte Position von Guido Kreis, die ich zurückweise. 258 259
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ein an ein Subjekt adressierter Satz erkennbar. Die lebendige Beseeltheit der Ausdruckswahrnehmung besteht also – ohne dass wir uns dessen stets bewusst sind – fort. Allein die Distanznahme, dass es ja gar nicht sinnvoll sei, ein unbelebtes Objekt anzusprechen, führt zum Bewusstsein der Alltäglichkeit unbewusst fortwirkender Motive der symbolischen Form des Mythos. (c) Die Erfahrung unmittelbar wirkender Kräfte, für die ich den Begriff „mythisch-magische Kausalität“ in Anspruch genommen habe, ist nicht nur die Grundlage dafür, dass wir unbezweifelbar ‚welthaltige`, reale Erfahrungen machen, sondern zugleich Voraussetzung für die Analyse empirischer Ursache-Wirkungs-Prinzipien. Erst von diesem Standpunkt aus lässt sich dann zwischen Traum- und Wacherleben sowie zwischen Halluzination, Illusion und ‚echter` Wahrnehmungserfahrung unterscheiden. Die Ausdruckswahrnehmung ist folglich konstitutiv für jede bewusste Erfahrung von anderen Subjekten, Objekten und deren Wirklichkeit. Lediglich ihrer Funktion ist sich der Mensch im Alltag seiner Lebenswelt nicht bewusst, da sie nicht „unmittelbar gegenwärtig“ ist, sondern erst mit Blick auf ihre Ausdrucksgestalten sichtbar wird: Und so ist es die geistige Trias der reinen Ausdrucksfunktion, der Darstellungs- und der Bedeutungsfunktion, kraft deren uns die Anschauung einer gegliederten Wirklichkeit erst möglich wird. [. . . ] Was die Erkenntnis dieses Sachverhalts immer wieder erschwert, ist der Umstand, daß alle diese Akte des Ausdrückens, des Darstellens und des Bedeutens sich selber nicht unmittelbar gegenwärtig sind, sondern daß sie sich nirgends anders als im Ganzen ihrer Leistung sichtbar werden können. Sie sind nur, indem sie sich betätigen und indem sie in ihrer Tat von sich selbst Kunde geben. 260
In Cassirers ‚Geist-Holismus` nimmt so die Ausdruckswahrnehmung eine analog zum Mythos, den Cassirer als „Mutterboden der Kultur“ 261 bezeichnet, fundamentale Stellung ein. Sie ist nicht objektkonstitutiv im kantischen Sinne, also hinsichtlich wahrheitswertfähiger Urteile. Auch lässt sie sich nicht als kognitiver Prozess in Korrelation zu einem empirischen Substrat im Gehirn fassen. Sie verbürgt die Erfahrung von Realität, ohne diesen Begriff metaphysisch hypostasieren zu müssen. Cassirers Antiessentialismus zeigt sich im funktionalen Aufbau des menschlichen 260 261
ECW 13, S. 114. Vgl. ECW 16, S. 266 sowie ECW 12, S. 1, 201 und 277.
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Geistes zwischen Wahrnehmung und symbolischer Form. Auch in Bezug auf die Ausdruckswahrnehmung kann er so Hegels „Kreislauf von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen, und nur andererseits als vergangen erscheinen“ 262 bemühen und zugleich folgern: „Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe.“ 263 Übertragen auf die Philosophie der symbolischen Formen und die Frage, wie der intellektuelle Bruch mit den Denkinhalten des Mythos kohärent mit dem Fortbestehen der Inhalte der Ausdruckswahrnehmung zusammengebracht werden kann, bleibt mit Cassirer nur zu antworten: „Der Untergang der Inhalte des mythischen Bewußtseins bedeutet keineswegs notwendig zugleich den Untergang der geistigen Funktion, der sie entstammen.“ 264 6.2.4 Der Zusammenhang von Dingwahrnehmung, Repräsentation und Wissen Für eine Theorie der Wahrnehmung ist es wichtig zu zeigen, inwieweit die Wahrnehmungsinhalte den Glanz echter Präsenz an sich tragen. Sinnesdaten-, intentionalistische und adverbiale Theorien sind insbesondere deshalb nicht en vogue, weil ihnen der Vorwurf des Repräsentationalismus anhaftet. Gemeinsam ist diesen drei Theorietypen die Annahme, dass unser Weltzugang vermittelt, indirekt oder mediiert ist. Sinnesdaten, Urteile oder rein subjektive Phänomene sind stets bloß durch diese Instanzen repräsentierte Abbilder der Welt für ein Subjekt, nicht aber Teil der Welt selbst. Richard Rorty hat in Philosophy and the Mirror of Nature (1979) wohl am nachhaltigsten den Repräsentationalismus, also die Annahme, geistig-perzeptuelle Stellvertreter und außenweltliche Dinge stünden in einem Abbildungsverhältnis zueinander, kritisiert. 265 Seine Schüler Robert Brandom und John McDowell bemühen sich maßgeblich darum, sowohl dem von Wilfrid Sellars entlarvten Mythos des Gegebenen als auch dem Repräsentationalismus den Boden zu entziehen. Mit ihnen befindet sich die gegenwärtige postanalytische Philosophie aber auch auf dem Stand eines Hegelschen Begriffsrealismus, dem zufolge Geist und Welt gleichermaßen begrifflich strukturiert seien oder, plausibler formuECW 13, S. 88 und Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 105. 263 Ebd. 264 Ebd. 265 Vgl. Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton: PUP 1979, S. 131–311. 262
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liert, die Vorstellung einer objektiven Welt ausschließlich als begrifflich verfasste Welt denkbar ist. 266 McDowells (epistemologischer) Disjunktivismus 267 führt weiterhin zur Annahme, dass wir wahrnehmend direkt mit der Welt in Bezug stehen. Diese Position wird oftmals direkter oder natürlicher Realismus genannt. 268 Auch Hilary Putnam ist jüngst dieser Idee gefolgt und fordert unter Aufgabe seines internen Realismus eine „second naïveté“. 269 Gemeinsam ist diesen Positionen, dass sie das kantische und nachmetaphysische Denken verkehren, indem sie den konstruktiven Charakter des menschlichen Geistes bestreiten und vom Denken auf das Sein schließen. Die Ideen einer nicht-begrifflichen Welt, nicht-propositionaler Aspekte der Wahrnehmung und die Auffassung des Geistes als System symbolischer Repräsentation führen ihnen zufolge unweigerlich in den Mythos des Gegebenen, den Anti-Realismus und den Repräsentationalismus. Mit Blick auf Cassirer hat sich gezeigt, dass alldem nicht so sein muss. Im Ausdrucksphänomen liegt – wenn auch ‚symbolisch aufgehoben` – ein Moment echter Präsenz. Die Ausdruckswahrnehmung vermittelt das Unmittelbare der Welt direkt als lebendige, nicht-begriffliche Realität. Die Philosophie der symbolischen Formen ist deshalb auch als realistische Philosophie zu kennzeichnen: nicht weil sie beansprucht, einen metaphysischen oder wissenschaftlichen Realismus zu verteidigen, sondern weil alle kulturellen Ausdrucksweisen des Menschen auf unterschiedlichen Weisen der Wahrnehmung aufbauen. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Arten der Begriffsbildung in Mythos, Sprache und Wissenschaft gehen mit einer Pluralität des Weltverständnisses und der Weltbilder einher und sind somit als konstruktional im Sinne der kopernikanischen Wende Kants zu kennzeichnen. Gerade aber wegen ihrer genealogischen Verflechtung und Fundierung im Wahrnehmungsbewusstsein ist die Philosophie Cassirers keinesfalls als Konstruktivismus aufzufassen. 270 Die Vgl. McDowell: Mind and World, S. 26; Brandom, Robert: A Spirit of Trust. A Reading of Hegel's Phenomenology, Cambridge (Mass.): HUP 2019, S. 109, Anm. 1. 267 Vgl. McDowell, John H.: „Criteria, Defeasibility and Knowledge“, in: Proceedings of the British Academy (68), 1982, S. 455–479. 268 Vgl. Putnam: The Threefold Cord, S. 10. 269 Ebd., S. 44. 270 Dieser Einwand wird immer wieder gegen Cassirer vorgebracht und basiert auf einer konstruktivistischen Fehldeutung der kopernikanischen Wende, wie sie bspw. Sebastian Luft unter Rekurs auf den Vorwurf des Repräsentationalismus rekonstruiert: „Cassirer's conception of the symbol-creating spiritual energy is the antithesis of any representationalism, according to which (as Rorty claims) the human mind is the mirror of nature. In Cassirer's use of the mirror image, the opposite holds; reality is the mirror of the human mind“. (Luft, Sebastian: „The philosophy of the Marburg School. From the 266
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Frage, inwiefern kultureller Ausdruck, z.B. als wissenschaftliche Aktivität, die Realität repräsentiert und ob diese Form der Weltaneignung in ihrer Geltung völlig gleichberechtigt im Sinne eines Relativismus zu bspw. einem religiösen Weltbild steht, stellt sich streng genommen vom Standpunkt der Cassirerschen Philosophie nicht. Dies liegt einfach daran, dass Cassirer Realität bzw. Welt nicht vorab als Objektivität denkt, sondern die ‚Welthaltigkeit` im Wahrnehmungsbewusstsein fundiert sieht und von dort aus nach den unterschiedlichen Möglichkeiten von Objektivierung als Formung der Erfahrung fragt. Allen Weisen der Objektivierung ist gemeinsam, dass sie Ausdruck symbolischer Tätigkeit sind, wodurch sie sich alle durch die Symbolfunktion auf genau eine Welt, nämlich diejenige unserer Erfahrung, beziehen. Die Geltungsansprüche einer symbolischen Formwelt, sei es nun die der Kunst oder der Religion, lassen sich nicht an den Geltungsansprüchen einer anderen symbolischen Form, wie es z.B. der Szientismus für die Wissenschaft beansprucht, messen. Hinsichtlich ihrer Funktionalität, also ihrer Objektivierungstendenz, hat jede symbolische Form ihr eigenes Recht und keine das Recht auf einen absoluten Deutungsanspruch. Wohl aber gibt es ein Maß der Verbindlichkeit der zugrunde gelegten Form der Objektivität: Die Gesetze der Physik bspw. gelten in einem anderen und strengeren Sinne als die Regeln für ein gelungenes Kunstwerk. Während die Regelmäßigkeiten der Naturgesetzte sich anhand der exakten Reproduzierbarkeit im Experiment zeigen, mögen wir ein Kunstwerk eher dann als gelungen betrachten, wenn es sich unendlich oft (und somit verschieden) deuten lässt. Aus solch einer beanspruchten Relativität folgt aber noch lange kein Relativismus. Das Denken ist folglich weder eine getreue noch eine ungetreue Repräsentation einer vorgefertigt objektiven Welt-an-sich. Dies hat für Cassirer jedoch gerade nicht zur Folge, dass der Begriff der Repräsentation fallen gelassen werden kann. Vielmehr spielt er eine zentrale Rolle im Rahmen von Dingwahrnehmung und Sprache und auch im Aufbau des wissenschaftlichen Weltbildes. Cassirer nennt die Ausdruckswahrnehmung critique of scientific cognition to the philosophy of culture“, in: De Warren, Nicolas / Staiti, Andrea (Hrsg.): New Approaches to Neo-Kantianism, Cambridge: CUP 2015, S. 231.) Dies bedeutet natürlich nicht, dass Cassirer zufolge der Geist die Welt erzeugt, sondern dass die Realität gewissermaßen nur als ‚Brechungsindex`, im Spiegel der symbolischen Formen objektiv wird. „Die Wirklichkeit scheint für uns nicht anders als in der Eigenart dieser Formen faßbar zu werden; aber darin liegt zugleich, daß sie sich in ihnen ebensowohl verhüllt wie offenbart.“ (ECW 13, S. 1.) Kürzlich erst erschienen ist ferner eine ausgezeichnete Studie zum Problemzusammenhang von Symbolphilosophie und Konstruktivismus, die bestrebt ist, gewissermaßen mit Cassirer über Cassirer hinauszugehen. Vgl. Krüger, Christian: Medien der Bedeutung. Wie die Welt einen Unterschied macht, Hamburg: Meiner 2019.
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Du-Wahrnehmung, 271 weil sie die Wahrnehmungsinhalte nach Vorbild erlebter, lebendiger Subjektivität formt. Die Dingwahrnehmung nennt er analog hierzu Es-Wahrnehmung, da Sprache und Wahrnehmung sich derart aneinander formen, dass sich die Sinnstrukturen der Wahrnehmungsinhalte anhand von Objekten mit spezifischen Eigenschaften ausdifferenzieren. Subjekt und Objekt treten in diesem Stadium des Bewusstseins auseinander und die Anonymität dieser neu erschlossenen Objektivität überformt die Inhalte der Ausdruckswahrnehmung, ohne diese jedoch restlos zu tilgen. Als weitere Grundeigenschaft der Dingwahrnehmung tritt das kausale Denken hinzu, weshalb Cassirer hier vom „empirische[n] Wahrnehmungsbewußtsein“, 272 von „empirische[r] [. . . ] Erkenntnis“ 273 und vom „empirischen Wahrnehmungsraum“ 274 spricht. Durch zunehmende sprachliche Begriffsbildung verschieben sich die symbolischen Determinanten im Wahrnehmungsbewusstsein von einer affektiven auf eine kognitive Ebene und ermöglichen so die gedankliche Durchdringung der Erfahrung: Wenn die empirische und rationale Erkenntnis das Sein der Dinge in Arten und Klassen abteilt, so ist es hierbei die Form des kausalen Folgerns und Schließens, deren sie sich als Vehikel und als durchgängigen Leitfadens der Betrachtung bedient. Die Gegenstände werden in Gattungen und Arten zusammengefaßt, nicht sowohl auf Grund ihrer rein sinnlich faßbaren Ähnlichkeiten oder Unterschiede als vielmehr auf Grund ihrer ursächlichen Abhängigkeit. Wir ordnen sie nicht nach dem, als was sie sich der äußeren oder inneren Wahrnehmung geben, sondern nach der Art, in welcher sie, gemäß den Regeln unseres kausalen Denkens, „zusammengehören“. So ist z.B. die ganze Gliederung unseres empirischen Wahrnehmungsraumes durch die Regeln dieses Denkens bestimmt: Die Art, in der wir in diesem Raume die einzelnen Gestalten herausheben und sich gegeneinander absetzen lassen, die Art, in der wir ihre wechselseitige Lage und Entfernung bestimmen – dies alles geht nicht auf die einfache Empfindung, auf den materialen Inhalt der Gesichts- und Tasteindrücke, sondern auf die Form ihrer ursächlichen Zuordnung und Verknüpfung, auf Akte des kausalen Schließens zurück. 275
Vgl. bspw. ECW 13, S. 137 sowie die Studie Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung in: ECW 24, S. 391–413. 272 ECW 12, S. 42. 273 ECW 12, S. 210. 274 Ebd. 275 ECW 12, S. 210. 271
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Ein festes Bewusstsein für Empirie, also den Umstand, dass man die Erfahrung methodisch hinterfragen kann, wird erst dadurch möglich, dass die Wahrnehmung die Flexibilität besitzt, die Modalität ihrer Gegenständlichkeit umzuformen, indem sie mittels der Sprache ein System von Repräsentationen aufbaut und so den Gefühlsgrund für Realität sukzessive zurückdrängt. Die Gegenständlichkeit der Dingwahrnehmung basiert im Unterschied zum Invariantenanspruch wissenschaftlicher Begriffe auf Schätzungen, die gleichwohl einen Wahrheitsanspruch einfordern, denn „jede schlichte ‚Wahrnehmung` schließt bereits ein ‚Für-wahr-Nehmen` – also eine bestimmte Norm und einen Maßstab der Objektivität, ein. Sie ist, näher betrachtet, bereits ein Prozeß der Auswahl und der Unterscheidung“. 276 Hierin unterscheidet sie sich wesentlich von der Ausdruckswahrnehmung, weil dieser neue Maßstab des Wahren zur vollständigen Trennung von Subjekt und Objekt führt. Die Wahrnehmungsinhalte sind verdinglicht und die Erfahrung als ein Kontinuum von Sachverhalten synthetisiert. Das Bewusstsein der Repräsentation ist eine „geformte Gesamtanschauung, die als objektiv bedeutsames Ganzes, als erfüllt mit gegenständlichem ‚Sinn`, vor uns steht“. 277 Dies ist wichtig zu betonen gegenüber der Idee, dass diese Form der Gegenständlichkeit auf (unbewussten) Kausalschlüssen beruhen könne, die das Wahrgenommene gewissermaßen ‚nachträglich` umformten. Die Dingwahrnehmung ermöglicht vielmehr die Anschauung als Sinndimension von Dingen, Eigenschaften und Relationen, nach der Erfahrung sich hier konstituiert und so Wissen als Zuordnung von Wahrnehmungserfahrungen zu Sachverhalten ermöglicht. „Es bleibt auch hier nur übrig, dies symbolische Grundverhältnis, gleich dem des reinen Ausdrucks, als echtes Urphänomen anzuerkennen, das sich als konstitutives Moment in allem ‚Wissen` vom Gegenstand aufweisen läßt.“ 278 6.2.5 Die Objektivität der „Sinnenkreise“ Im Kontext der Dingwahrnehmung gelingt es Cassirer, eine phänomenologische Analyse der konkreten Sinnesorgane in ihrem Verhältnis zu den in ihnen angelegten Objektivierungsleistungen darzulegen. 279 Die in der ECW 11, S. 42. ECW 13, S. 138. 278 Ebd. 279 Dieses Theoriestück wird, soweit ich sehe, gänzlich vernachlässigt in der Forschungsliteratur. Vielmehr trifft man immer wieder auf die fälschlich angenommene 276 277
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Anschauung dominant gewordene Darstellungsfunktion muss ebenso wie die Ausdrucksfunktion ihre Funktionalität vom sinnlich Konkreten her aufbauen. Cassirer behauptet nun eine Hierarchie der Sinnesorgane, denn nicht alle Sinnesmodalitäten unterstützen die sprachlich-gegenständliche Begriffsbildung, welche auf dem Weg vom Ausdruck zur Darstellung die Wahrnehmung zur Anschauung formt, in gleichem Maße. „Vergleichen wir im Hinblick auf diesen Fortgang die einzelnen Sinnenkreise miteinander, so läßt sich in ihnen eine Art von Stufenbau feststellen.“ 280 Die Leistungen sinnlicher Diskrimination, der „anschaulichen ‚Distinktion`, 281 lassen sich entlang der Sinnesorgane in eine „Abfolge, die vom relativ Unbestimmten zu immer höheren Graden der Bestimmtheit“ 282 führt, bringen. Den Anfang des ‚Stufenbaus` machen die olfaktorische und die gustatorische Wahrnehmung. Die „einzelnen Data“ dieser „‚primitiven` Sinne“ unterscheiden sich Cassirer zufolge durch „sehr intensive[. . . ] Ausdruckswerte“, die aber „noch zu keinem wahrhaft ‚objektiven` Unterschied der einzelnen Qualitäten“ 283 führen. Geruch und Geschmack werden als ausdruckshafte Charaktere des „Anziehenden oder Abstoßenden, des Scharfen oder Milden, des Angenehmen oder Widerwärtigen, des Beruhigenden oder Aufreizenden“ 284 erfahren und unterschieden. Diese polare Gestalt von Geruch und Geschmack unterscheidet sich bereits gravierend von der Wahrnehmung einfacher Klänge und Farben, da jene in keine komplexere Ordnung eintreten. Die Reihenbildung, die „Abstufung und Ordnung, wie sie uns in anderen sinnlichen Mannigfaltigkeiten [. . . ] entgegentritt, erweist sich hier als undurchführbar“. 285 Dies wird zum Einen mit Blick auf die räumliche Diskrimination deutlich: Insbesondere Gerüche „‚haften` nicht an bestimmten Orten, sondern sie besitzen, was
Behauptung, Cassirer setze sich beinahe ausschließlich mit der visuellen Wahrnehmung auseinander: „As noted above, Cassirer's discussion of perception deals principally with vision. He has relatively little to say about other perceptual modalities and, thus, very little to say about relations between the sensuous data of distinct perceptual modalities.“ (Martell, Timothy J.: „The Structure of Perception. Ernst Cassirer's Phenomenology of Vision“, https://www.academia.edu/5196495/The_Structure_of_Perception_Ernst_ Cassirers_Phenomenology_of_Vision (zuletzt abgerufen am 18.02.20). 280 ECW 13, S. 144. 281 Ebd. 282 Ebd. 283 Alle vier Zitate ebd. 284 Ebd. 285 Ebd.
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ihre Lokalisation betrifft, eine durchgängige Vagheit, eine ‚gummiartige Dehnbarkeit`“. 286 Für den Geschmackssinn gilt dies zwar nicht in gleichem Maße, da Geschmack ja gewissermaßen am Leib aufgenommen wird und ihm aus dieser Perspektive eine Zwischenstellung zwischen olfaktorischer und Tastwahrnehmung zukommt. Andererseits spielt der Geruchssinn aber auch eine tragende Rolle für das Wahrnehmen von Geschmack. Für beide gilt die diagnostizierte Vagheit zumindest uneingeschränkt hinsichtlich der Begriffsbildung, denn im ‚Spiegel der Sprache` werden Geruch und Geschmack nur in einem begrenzten Sinne anschaulich. „Wo die Sprache bestimmte Geruchsqualitäten zu bezeichnen sucht, da sieht sie sich zumeist genötigt, den Umweg über Dingworte zu nehmen, die sie auf Grund anderer sinnlich-anschaulicher Data geprägt hat.“ 287 Kontrastierend kann man hier Farbenlehren, wie man sie von Goethe oder Küppers kennt, 288 anführen: Sprache und Farbwahrnehmung eignen einem Formprozess, der sogar – wenn auch nicht nach den Standards der exakten Wissenschaften – theoriefähig ist. Für Geschmack und Geruch mag heute zwar eine Mathematisierung dieser Sinne gelingen, 289 jedoch stellt dies keinen Einwand gegen Cassirers Stufenbau dar, denn die genetische Phänomenologie soll ja den Weg aufzeigen, wodurch solch eine Mathematisierung erst möglich wird. Und diese Vermittlung nimmt ihren Weg keinesfalls über die ‚primitiven Sinne`, denn diese ‚scheitern` schon an der Sprache: Entweder sind unsere Geruchsworte nur adjektivische Ableitungen der zugehörigen Geruchsträger (rosenhaft, kampfrig), oder sie ziehen nur den ‚eigentlichen` Geruchsträger im Vergleiche mit heran (himbeerartig, jasminähnlich). Keineswegs gelingt eine Geruchsabstraktion: aus Jasmin, Maiglöckchen, Kampfer und Milch können wir ohne weiteres die gemeinsame Farbe, nämlich ‚Weiß` herausabstrahieren, allein kein Mensch ist Ebd. Cassirer selbst zitiert hier Henning, Hans: Der Geruch. Ein Handbuch für die Gebiete der Psychologie, Physiologie, Zoologie, Botanik, Chemie, Physik, Neurologie, Ethnologie, Sprachwissenschaft, Literatur, Ästhetik und Kulturgeschichte, 2. Auflage, Johann Ambrosius Barth Verlag: Leipzig 1924, S. 275 und 278. 287 ECW 13, S. 144. 288 Vgl. Goethe, Johann W. von: Zur Farbenlehre, 2 Bd., Tübingen: Cotta 1810; Küppers, Harald: Einführung in die Farbenlehre, Köln: DuMont 2005. 289 Der lange erhoffte Durchbruch zu einem mathematischen Modell des Sehens steht wohl ebenfalls kurz bevor. Vgl. Chariker, Logan / Shapley, Robert / Young, Lai-Sang: „Orientation Selectivity from Very Sparse LGN Inputs in a Comprehensive Model of Macaque V1 Cortex“, in: Journal of Neuroscience 7, 2016, 36 (49), S. 12368–12384 sowie dies.: „Rythm and Synchrony in a Cortical Network Model“, in: Journal of Neuroscience 3, 2018, 38 (40), S. 8621–8634. 286
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imstande, analog den gemeinsamen Geruch herauszuabstrahieren, indem er auf das Gemeinsame achtet und vom Unterscheidenden absieht. 290
Die Möglichkeit einer Mathematisierung von Geruch und Geschmack ist deshalb kein Einwand gegen Cassirers Diagnose des ‚Niederen` dieser Sinnesmodalitäten, da das Allgemeine dieser Theoretisierung ja nicht diesen Sinnesmodalitäten entspringt. „So stehen wir hier noch jenseits jenes ‚ersten Allgemeinen`, von dem alle Sprachbildung und alle eigentliche Begriffsbildung ihren Ausgang nimmt.“ 291 Die taktile und haptische Wahrnehmung durch den Tastsinn nimmt wie bereits angedeutet eine Zwischenstellung in Cassirers ‚Sinnenkreis` ein. Er versucht einerseits die in der Philosophie oftmals vertretene Intuition zu verteidigen, dass die Oberflächensensibilität des Menschen den „eigentlichen ‚Wirklichkeitssinn`“ 292 ausmacht, da „dessen Phänomene den ‚tragfähigsten Realitätscharakter` haben und der daher den erkenntnistheoretischen Primat vor allen übrigen Sinnen besitze“. 293 Cassirer kritisiert an dieser Vorstellung nicht die eigentümliche Stellung, die das Tasten zwischen Riechen-Schmecken und Hören-Sehen einnimmt. Auch bestreitet er keineswegs den Realitätscharakter dieser Modalität, denn die Wahrnehmung verbürgt nach Cassirer in allen ihren Modalitäten die Realität. Vielmehr bestreitet er das erkenntnistheoretische Primat des Tastsinns, denn auf dem Weg zur Erkenntnis bleiben die Tastphänomene „in dem Sinne ‚bipolar`, daß sich in ihnen unausweichlich eine ‚subjektive`, auf den Leib bezogene Komponente mit einer anderen, die auf Dinge und dingliche Eigenschaften geht, verbindet“. 294 Der von Schopenhauer über Nietzsche bis zu Merleau-Ponty ins Zentrum ihrer Philosophie gerückte Leib mag zwar eine Sonderstellung für das Selbstverständnis des Menschen reklamieren. In der Philosophie der symbolischen Formen jedoch, die zwar vom Faktum der Kultur, aber genauso vom Faktum der Wissenschaft als ihrer höchsten Entwicklungsstufe ausgeht, steht klar die Frage nach Objektivierungsmöglichkeiten im Mittelpunkt: Cassirer fragt nach der Rolle der Wahrnehmungsmodalitäten hinsichtlich objektiver Erfahrungen im kulturellen Ausdruck. Vermittels des Leibes macht die sinnliche Diskrimination „zwischen bloß zuständlichen und rein gegenständlichen ECW 13, S. 144 f. Cassirer zitiert hier wieder Henning. ECW 13, S. 145. 292 Ebd. 293 Ebd. Cassirer bezieht sich hier auf Katz, David: „Der Aufbau der Tastwelt“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane (1. Abt., Ergänzungsband 11), Leipzig 1925, S. 255. 294 ECW 13, S. 145. 290 291
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Bestimmungen noch keinen klaren und scharfen Schnitt, sondern gibt uns die letzteren nur in der Umhüllung der ersteren“. 295 Dies bedeutet freilich nicht, dass die Darstellungsfunktion hier keine wirklichen Anknüpfungspunkte findet. Durch das reine Abtasten einer Werkbank kann man sich bei ausreichendem Hintergrundwissen ihre Funktionalität vorstellen; durch das reine Abtasten eines fremden Gesichtes kann man mittels der Vorstellungskraft Alter, Größe, Geschlecht und vielleicht noch viele weitere Details einschätzen. „Die Tendenz zur Darstellung ist somit hier unverkennbar – aber sie gelangt noch nicht zur eigentlichen Erfüllung: Der ‚objektive` Inhalt bleibt sozusagen an der Grenze des eigenen Leibes stehen, statt zum wahrhaften ‚Gegenüber` zu werden, statt in eine ideelle Ferne zu rücken“. 296 Die ‚Grenze des eigenen Leibes` bedeutet hier nicht, dass bspw. dem blinden Menschen durch die Kompensation des Sehens durch das Tasten eine Vorstellungsgrenze gesetzt ist, denn wie wir wissen kann das Zusammenspiel der anderen Sinnesmodalitäten den Verlust einer einzigen weitgehend überbrücken. Im Rahmen der Phänomenologie der Wahrnehmung kann Cassirer für diese Behauptung, wie schon im Rahmen der Geruchs- und Geschmacksanalyse gezeigt, volle Geltung beanspruchen, da er hier – zwar anders als im Kapitel über die Pathologien des Symbolbewusstseins, aber ebenso im Abgleich mit der Empirie – das Konstitutionsmoment nicht-eingeschränkter Sinnesorgane für die Objektivität prüft. Die auditive und die visuelle Wahrnehmung bezeichnet Cassirer als die höchsten und im eigentlichen Sinne erst objektiven Sinne. 297 Er begründet dies damit, dass die geforderte „Distanzierung“ 298 – dass der ‚objektive Inhalt` in die ‚ideelle Ferne` rückt – erst vermittels dieser Sinne erreicht wird. Das ‚erste Allgemeine`, die sinnliche Allgemeinheit entsteht also in dem Moment, in dem sich Sprache und Wahrnehmung durch Gehör, Mundhöhle, Zunge, Lippen und Augen symbolisch aneinander formen. Man könnte an dieser Stelle versucht sein, der visuellen Wahrnehmung ein Primat einzuräumen, da sie in paradigmatischer Weise für die Raumwahrnehmung steht, in der sich die Distanzphänomene verorten lassen. Faktisch wird ihr dieses Primat auch immer wieder zugesprochen, und zwar oft unbemerkt dadurch, dass Fälle von Illusionen und Halluzinationen so gut wie immer als visuelle Täuschungen diskutiert werden und es in gegenwärtigen Theorien der Wahrnehmung als ausgemacht gilt, dass 295 296 297 298
ECW 13, S. 145. Ebd. Vgl. ECW 13, S. 145. Ebd.
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das Problem der Illusion und Halluzination im Zentrum der Analyse zu stehen hat. Folgt man jedoch Cassirer darin, dass das eigentliche Problem im Rahmen der Begriffsbildung und Objektivierung zu rekonstruieren sei, ließe sich weit eher ein Primat des Auditiven ausmachen, da Sprache zuerst als Lautphänomen in der Welt ist. 299 Auf dem Weg zum rein symbolischen Stadium der Sprache kommt dann aber natürlich auch die Schrift ins Spiel, die wiederum primär visuell und haptisch fundiert ist. Eine weitere Hierarchisierung und Ordnung ist im Rahmen von Cassirers Analyse aber nicht nötig, obwohl selbst in „den höchsten ‚objektiven` Sinnen“ sich noch „insofern eine Art Abstufung der Darstellungsfunktion aufweisen [läßt], als nicht alle Phänomene innerhalb dieser beiden Gebiete diese Funktion in gleicher Bestimmtheit und Nachdrücklichkeit erkennen lassen“. 300 Worauf es an dieser Stelle ankam, war, den Durchbruch der Darstellungsfunktion innerhalb der Sinnlichkeit zu markieren.
Ein Primat der Schrift behauptet bekanntlich Derrida in seiner Kritik am Phonound Logozentrismus: „L'extériorité du signifiant est l'extériorité de l'écriture en général et nous tenterons de montrer plus loin qu'il n'y a pas de signe linguistique avant l'écriture. Sans cette extériorité, l'idée même de signe tombe en ruine.“ (Derrida, Jacques: De la Grammatologie, Paris: Minuit 1967, S. 26.) („Die Äußerlichkeit des Signifikanten ist die Äußerlichkeit der Schrift im Allgemeinen und wir werden weiter zeigen, dass es kein sprachliches Zeichen vor der Schrift gibt. Ohne diese Äußerlichkeit zerfällt die eigentliche Idee eines Zeichens“; meine Übersetzung.) Man könnte geneigt sein, mit oder über Cassirer hinaus eine Gleichursprünglichkeit von gesprochener und geschriebener Sprache im Sinne zweier Urphänomene zuzugestehen. Fraglich bliebe dabei jedoch aus dekonstruktivistischer Perspektive, ob Cassirers transzendentalgenetischer Ansatz verdächtig im Hinblick auf die Ursprungsfrage ist: „Parler ici d'une écriture première ne revient pas à affirmer une priorité chronologique de fait. On connaît ce débat [. . . ]. Nous essaierons de montrer plus loin pourquoi les termes et les prémisses d'un tel débat appellent la suspicion.“ (Derrida: De la Grammatologie, S. 17, Anm. 1.) („Hier von einer ersten Schrift zu sprechen bedeutet nicht, eine tatsächliche, zeitliche Priorität zu behaupten. Wir kennen diese Debatte [. . . ]. Wir werden weiter versuchen zu zeigen, warum die Begriffe und Prämissen solch einer Debatte Verdacht erregen“; meine Übersetzung.) Ein Forschungsdesiderat sei hier auf jeden Fall benannt, denn bis auf eine Ausnahme (vgl. Lofts, Steve: A ‚Repetition` of Modernity, Albany (N.Y.): Suny Press 2000) sind mir keine Untersuchungen zu Cassirer und Derrida – insbesondere nicht zum Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache – bekannt. 300 Beide Zitate ECW 13, S. 146. 299
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6.2.6 Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie: Eine Mathematisierung der Sinne? Ernst Cassirer hat in den Göteborger Jahren zeitgleich zur Ausarbeitung des vierten Bandes des Erkenntnisproblems und von Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis einen für seine Wahrnehmungstheorie bedeutsamen Aufsatz geschrieben. Anders aber als diese beiden Werke wurde er bereits zu Cassirers Lebzeiten veröffentlicht. Paul Guillaume, ein führender Gestaltpsychologe im zeitgenössischen Frankreich, übersetzte die Abhandlung als Le concept de groupe et la théorie de la perception ins Französische, wo sie 1938 im Journal de psychologie normale et pathologique der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht wurde. 301 In den Vereinigten Staaten erschien sie inhaltlich unverändert sechs Jahre später unter dem Titel The Concept of Group and the Theory of Perception in der Übersetzung Aron Gurwitschs im Journal Philosophy and Phenomenological Research. 302 Beide Artikel basieren auf dem Vortragsmanuskript Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie, das erst seit Erscheinen des achten Nachlassbandes im Jahre 2010 außerhalb des Archivs der Beinecke Rare Book and Manuscript Library zugänglich ist. 303 Hier erfährt der Leser, dass dieser besonders häufig zur Diskussion der Wahrnehmungstheorie Cassirers herangezogene Text bereits um 1937, also zeitgleich zu Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, entstanden sein muss, da Cassirer ihn im Dezember 1937 bei einer Versammlung des Kulturbundes Deutscher Juden in Wien vortrug. 304 Einer Einladung folgend wollte Cassirer den Inhalt, wohl in komprimierter Form, erneut im April 1945 im Philosophy Club der Columbia University präsentieren. 305 Dazu kam es zwar nicht mehr, jedoch geht aus der am Morgen von Cassirers Todestag verfassten siebenseitigen Einleitung zu diesem Vortrag ein interessantes Detail hervor, welches die Bedeutung der Wahrnehmungstheorie für Cassirers Denken insgesamt aufs Neue unterstreicht. Cassirer schreibt dort: Vgl. Cassirer, Ernst: „Le concept de groupe et la théorie de la perception“, in: Journal de psychologie normale et pathologique (31,4), 1938, S. 368–414. (Aufgrund der Aufnahme der englischsprachigen Fassung in Aufsätze und kleine Schriften 1941–1946 [ECW 24] nicht in Aufsätze und kleine Schriften 1936–1949 [ECW 22] enthalten.) 302 Cassirer, Ernst: „The Concept of Group and the Theory of Perception“, in: Philosophy and Phenomenological Research (5,1), 1944, S. 1–35. (Vgl. ECW 24, S. 209–250.) 303 Da keine inhaltlichen Abweichungen zu den Publikationen bestehen, lege ich im Folgenden den Nachlasstext in deutscher Sprache zugrunde. 304 Vgl. ECN 8, S. 223. 305 Vgl. ebd. 301
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When I received your kind invitation I immediately accepted it with great gratitude and I decided to avail myself of this opportunity to speak, in a circle of philosophers, about a problem that had occupied my thoughts for a very long time. As a matter of fact the subject of this paper was one of the first to arouse my philosophical interest; I began to wonder about it when still an undergraduate in philosophy. It took, however, a very long time before I found the courage to publish the results to which I had been led. [. . . ] What I can give in the following remarks is not an exhaustive treatment of the subject itself; it is rather a chapter of my intellectual autobiography – a short report of the way in which I myself became engaged in the study of the problem and of the trend of thought by which I reached my conclusion. 306
Im Œuvre Cassirers findet sich an keiner Stelle eine deutlichere Selbsteinschätzung dessen, was sein philosophisches Denken von Anfang bis Ende geleitet hat, als in diesen, von ihm am Morgen des 13. April 1945 niedergeschriebenen, allerletzten Seiten: Der Zusammenhang von Wahrnehmung und Erkenntnis ist, zumindest dieser Selbstauskunft zufolge, das zentrale Thema seiner Philosophie. Inhaltlich zeigen sich in Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie weitgehende thematische Überschneidungen zur Invariantentheorie aus dem dritten Kapitel von Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis. 307 Viele Passagen decken sich wortwörtlich, obwohl der spezifische Kontext nun nicht mehr das Verhältnis von Wahrnehmung und Begriff von einem allgemeinen Standpunkt aus, sondern im Lichte der mathematischen Gruppentheorie thematisiert, wie sie von Sophus Lie und Felix Klein Ende des 19. Jahrhunderts im Sinne der geometrischen Transformation weiterentwickelt wurde. Man kann Cassirers Ansatz hier als Bestätigung seiner zuvor entwickelten allgemeinen These, dass Wahrnehmung und Begriff – prinzipiell, nicht graduell – die gleiche Funktion erfüllen, anhand dieses Spezialfalls wissenschaftlichen Progresses in der Mathematik auffassen. Die Herangehensweise ist daher notwendig derjenigen der Invariantentheorie entgegengesetzt: Wurde zuvor der Weg von der Normativität der Ausdruckswerte und frühkultureller Formen des sozialen Zusammenlebens bis zur wissenschaftlichen Praxis und Logik des Urteils abgeschritten, sucht Cassirer nun direkt eine funktionelle Gemeinsamkeit zwischen der Transformierbarkeit aus gruppentheoretiECN 8, S. 181 f. Der Gegenstand des Vortrags ist an dieser Stelle nicht explizit benannt, aber der Kontext belegt eindeutig, dass der Gegenstand der Untersuchung der Zusammenhang von Wahrnehmung und Erkenntnis im weitest möglichen Sinne ist. 307 Vgl. Kapitel 6.2.2. 306
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scher Sichtweise und den Transformationsleistungen der Wahrnehmungskonstanten. Seine Leitthese lautet: „Dem mathematischen Begriff der "Transformierbarkeit" entspricht im Wahrnehmungsgebiet der Begriff der 'Transponierbarkeit'.“ 308 Dieser Anspruch verblüfft, denn Cassirer hält wie bereits zuvor daran fest, dass die „Wahrnehmung "schätzt" – und diese Schätzung kann über ein 'Mehr oder Weniger' nicht hinausgelangen; sie ist notwendig vage und unpraezis“. 309 Was meint Cassirer hier mit ‚Entsprechung`, wenn mathematische Begriffe und Wahrnehmungskonstanten hinsichtlich der Präzision ihrer Diskriminationsleistungen so heterogen sind? Zunächst muss geklärt werden, was ‚Transformierbarkeit` gruppentheoretisch bedeutet. 310 Die Gruppentheorie ist eine Disziplin der Algebra, die so allgemein ist, dass sie auch geometrische Sachverhalte wie Lage und Bewegung im Raum oder auch Symmetrien von Objekten umfasst. Eine Gruppe besteht aus Gruppenelementen (A, B, C, . . . ) und einer Verknüpfung (*), für die gilt, dass die Kombination zweier Elemente wieder ein Element der Gruppe ist (bspw. A * B = C). Bei einer Transformationsgruppe sind die Elemente Transformationen und die Verknüpfung deren sukzessive Ausführung. Weitere Charakteristika von Gruppen sind die Assoziativität der Operation, die Existenz eines neutralen Elements und die Existenz eines inversen Elements für jedes Element der Gruppe. Eine Transformation wiederum ist definiert als Bijektion einer Menge auf sich selbst. Hinsichtlich der Geometrie bedeutet dies nun, zu fragen, welche Eigenschaften von Gebilden einer bestimmten Mannigfaltigkeit bei der Anwendung einer Transformationsgruppe auf diese Mannigfaltigkeit gleich bleiben. Geometrische Eigenschaften drücken sich demnach in Formeln aus, die gegen eine bestimmte Transformationsgruppe invariant sind. In der Euklidischen Geometrie betrachtet man bspw. Drehung, Parallelverschiebung, Spiegelung und Skalierung und untersucht die dieser Gruppe zugrunde liegenden Invarianten. Abhängig davon, welche Transformationen man zulässt, ergeben sich aus der Gruppe unterschiedliche Invarianten. Hieraus folgt, dass sich eine geometrische Eigenschaft erst aus der Wahl einer Transformationsgruppe ergibt; ihr Fundament liegt in Regeln, nicht in der Anschauung. Die eigentliche Revolution der Geometrie durch Kleins Erlanger Programm wird aber erst durch die Anwendung gruppentheoretischer Überlegungen ECN 8, S. 167. ‚Transponierbarkeit` ist ein Begriff aus der Gestaltpsychologie: Eine Melodie bspw. ist nach Änderung der Töne um ein bestimmtes Intervall (z.B. um eine Oktave) ohne Weiteres wiedererkennbar. 309 ECN 8, S. 156. 310 Ich danke Arno Schubbach und Felix Repp für ihre sehr wertvollen Hinweise und Anmerkungen zu meiner Rekonstruktion dieser Zusammenhänge. 308
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auf die seinerzeit an Bedeutung gewinnenden nichteuklidischen Räume, also durch den Übergang von der euklidischen zur projektiven Geometrie, deutlich. Standen die nichteuklidischen Räume bei ihrer Entdeckung zunächst unverbunden nebeneinander, war es nun möglich, verschiedene Geometrien als Gruppen und Untergruppen von Transformationen und spezifischeren Transformationen zu betrachten. Was dies zur Folge hat, kann man sich folgendermaßen veranschaulichen: Ein positiv gekrümmtes Dreieck (z.B. auf einer Kugeloberfläche) oder ein negativ gekrümmtes Dreieck (z.B. auf einer Sattelfläche) weist eine größere oder kleinere Winkelsumme als 180° auf und ist trotz differierender Eigenschaften zum Dreieck im euklidischen Raum ein Dreieck. 311 Dessen Invariantenstrukturen müssen folglich komplexer sein, als es die euklidische Geometrie voraussetzt. Ein weiteres Beispiel sind Kegelschnitte, also eine Kurve, die sich als Schnittmenge einer Ebene mit einem Doppelkegel ergibt: Diese erscheinen je nach relativer Orientierung unterschiedlich. Die Konstruktion eines Kreises als Kegelschnitt zeigt, dass sich ein Kreis in eine Parabel oder Hyperbel transformieren lässt. Durch diese Operation ändert sich zwar die Anschaulichkeit einer geometrischen Eigenschaft, nicht aber ihre Invarianz. 312 Geometrische Eigenschaften gelten diesen Überlegungen zufolge also ausschließlich relativ zu einem Bezugssystem, das man zunächst wählen muss; es gibt keine invarianten Eigenschaften an-sich. Hinsichtlich der neu entdeckten Geometrien lässt sich hieran zeigen, dass Geometrien wesentlich verschiedene Invariantentheorien durch Auswahl einer oder mehrerer Transformationsgruppen sind. „In other words, the different types of geometry are embedded in each other, starting with the most restrictive ones and ending with those admitting the widest array of transformations.“ 313 Gruppentransformationen ermöglichen den Wechsel zwischen verschiedenen (projektivischen) Geometrien unter Beibehaltung der Logik ihrer Objektbestimmungen. „The notion of group, thus, functions as a motor of unity, in so far as continuous ‚transformations` on the ‚principle group of transformations` give rise to the different geometries while elucidating the way they relate to each other.“ 314 Die Neufassung der Geometrie durch die Gruppentheorie ist daher die al-
311 312 313 314
Vgl. Abb. 1. Vgl. Abb. 2. Bundgård: „Ernst Cassirer's Theory of Perception“, S. 167. Ebd. S. 168.
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Abb. 5: Kugeldreieck
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Abb. 6: Kegelschnitt
gebraische Einheitsstiftung der Geometrie und damit ein Stück weit die Loslösung der Geometrie von der Anschauung. 315 Geschichtlich betrachtet macht Cassirer im Denken Henri Poincarés die erste fruchtbare Zusammenführung von Gruppentheorie und Wahrnehmungspsychologie fest. 316 Dieser hatte die mathematischen Operationen mit den Wahrnehmungsleistungen verglichen, die trotz Positionsund Lagewechsel im Raum, der Perspektivität des Wahrnehmenden und der Abschattung der Objekte (Husserl) das Wahrnehmungsobjekt korrigieren und kompensieren. Cassirer glaubt, dass Poincaré hier einem „methodischen Grundproblem auf der Spur war“ und er zwischen mathematischem Gruppenbegriff und den Problemen der Wahrnehmungspsychologie einen „internen Zusammenhang“ aufweisen kann, der „erkenntnistheoretischer Art“ 317 sei. Dazu stellt er klar, dass es sich hierbei um keinen „ontologischen, sondern einen rein logischen Sachverhalt“ 318 handelt, und formuliert Ziel und Weg der Untersuchung folgendermaßen: Worauf unsere Betrachtung letzten Endes abzielt, ist eine bestimmte Form der Begriffsbildung klarzulegen, die ihren deutlichsten Ausdruck in bestimmten ganz abstrakten Schöpfungen der modernen Geometrie gefunden hat, um sodann zu zeigen, daß diese Form nicht auf diese Sphäre allein beschränkt ist, sondern von weit allgemeinerer Geltung und allgeDie Bedeutung dieser Zusammenhänge für Cassirers Theorie symbolischer Formen insgesamt wurde kürzlich und besonders eindringlich herausgestellt von Lassègue, Jean: Cassirer. Du transcendantal au sémiotique, Paris: Vrin 2016. 316 Vgl. ECN 8, S. 138 f. Erstmals findet diese Zusammenführung, wie Cassirer einleitend erläutert, bei Helmholtz statt, der jedoch noch nicht auf die voll entwickelte Gruppentheorie zurückgreifen konnte. 317 Alle drei Zitate ECN 8, S. 140. 318 Ebd. 315
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meinerem Gebrauch ist. Sie reicht weiter und tiefer; sie senkt, bildlich gesprochen, ihre Wurzeln bis in das Erdreich der Wahrnehmung selbst herab.
Man darf sich nicht in die Irre führen lassen und Cassirer so auffassen, als strebe er hier eine Mathematisierung der (visuellen) Sinneswahrnehmung an. 319 Die Suche nach einer vermuteten Gemeinsamkeit der Form zwischen der Objektivität der Wahrnehmung und der Objektivität der Gruppenbegriffe verfolgt, wie schon in den Schriften zuvor, das Ziel, ein „Bindeglied [. . . ] zwischen dem logischen System der geometrischen Begriffe und der Phaenomenologie der sinnlichen Wahrnehmung“ 320 herzustellen, um ihren genealogischen Zusammenhang nachzuweisen. 321 Die Transformation vom Wahrnehmungsraum über den (euklidischen) Anschauungsraum zum „System des Raumes“ 322 folgt den Repräsentationsmodi Ausdruck – Darstellung – Bedeutung. Mit dem Durchbruch der Gruppentheorie in der Geometrie ist diese in die rein symbolische Phase eingetreten: Der Begriff der Transformationsgruppe ist vielleicht der deutlichste Ausdruck dafür, worin diese Systematik besteht und worauf sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht beruht. Durch ihn wird das einzelne anschauliche Gebilde seines 'Hier' und 'Jetzt' beraubt, ohne doch seine Bestimmtheit zu verlieren. 323
Erneut stellt sich deshalb die Frage, ob die Wahrnehmung durch diese Aufgabe des hic et nunc nicht den Anschluss an die Begriffsbildung zur Bestimmung des Raums verloren hat. Cassirer bestreitet dies nicht, denn mit der Differenz der Strenge der Allgemeinheit des Systemraums zu „ihrer Diesem Missverständnis scheint die mitunter hervorragende Rekonstruktion von Peer Bundgård aufzusitzen: „In other words, the extrinsic means of spatial determinations in geometry reappears in perception as an intrinsic algorithm of vision.“ (Bundgård: „Ernst Cassirer's Theory of Perception“, S. 175.) Verwunderung weckt andererseits bereits der Auftakt des Artikels, der deshalb eine adäquate Durchdringung des Themas kaum erwarten lässt: „The primary concern of this paper is Cassirer's theory of perception. From a strictly quantitative point of view, however, Cassirer has scarcely dealt with this problem.“ (Ebd. S. 149.) 320 ECN 8, S. 141. 321 Auch das finale Urteil Bundgårds bzgl. der hier verfolgten philosophischen Absicht Cassirers könnte nicht unzutreffender ausfallen: „He, thus, constitutes the objective Geltung of the invariances, but he does neither describe nor constitute its phenomenological genesis: i.e. the way in which invariances are invariances of manifested forms.“ (Ebd. S. 179.) 322 ECN 8, S. 145. 323 Ebd. 319
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scharf geprägten Individualität droht daher auch ihr Bestand ins Nichts zu versinken“. 324 Um sein Ziel zur erreichen, kommt Cassirer erneut auf die „Tatsache der Wahrnehmungskonstanz“ 325 zu sprechen und verfolgt die Verwendung der Begriffe „Invarianz“ und „Transformation“ in der Geschichte der Wahrnehmungspsychologie. Hier ist durch die Arbeiten von Helmholtz, Hering, Katz und Bühler die Abkehr vom Repräsentationalismus bereits angestoßen: Bei keinem geht es mehr darum, dass ein Reiz ein Abbild erzeugt. Ob deren Wahrnehmungstheorien nun an einer Intellektualisierung durch eine Lehre unbewusster Schlüsse oder einer reproduktiven Gedächtnistheorie gescheitert sind, spielt für Cassirers These keine Rolle. Er sieht an dieser Stelle die Dialektik der Erkenntnis selbst im Spiel: „Die Frage, die ich in erster Linie stellen möchte, ist die, ob es ein blosser Zufall ist, daß sich hier in die reine Darlegung des psychologischen Sachverhalts ein gruppentheoretischer Begriff eingeschlichen hat?“ 326 Cassirers Annahmen zufolge ist dies kein Zufall, jedoch führt diese Synthese bspw. bei Helmholtz in eine Aporie, denn „psychologische und mathematische »Tatsachen« lassen sich niemals unmittelbar auf einander abbilden“. 327 Entgegen solch einer empiristischen Strategie gilt es, „nach bestimmten Begriffen und Prinzipien [zu] fragen, die, wenngleich in verschiedener Weise und in verschiedenen Graden der Ausprägung, sowohl für den Aufbau der Wahrnehmungswelt als für den Aufbau der geometrischen Gedankenwelt bestimmend und notwendig sind“. 328 Der Funktion der Konstantenbildung gibt Cassirer nun eine geringe, aber im Prinzip augenfällige Neuakzentuierung, indem er es auf das Prinzip der symbolischen Prägnanz bezieht: Wir beschreiben also das Verhältnis nicht zureichend, wenn wir sagen, daß durch die Wahrnehmung die konstanten Verhältnisse der Dinge einfach auf uns übertragen und in unserem Bewusstsein widergespiegelt werden. Es liegt vielmehr so, daß das Suchen nach Konstanz, die `Intention' auf bestimmte Invarianten ein eigentümlicher Grundzug der Wahrnehmung, eine ihr innewohnende Funktion ist, und daß diese Funktion die Bedingung dafür ist, daß es zur Anschauung eines objektiven Seins und zu einer objektiven Erkenntnis kommt. 329
324 325 326 327 328 329
Ebd. ECN 8, S. 146. ECN 8, S. 149. ECN 8, S. 158. Ebd. ECN 8, S. 161.
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Die Intentionalität der Wahrnehmung, ihre geistige Ausrichtung, ist als Ausrichtung auf Invarianten hiermit noch einmal allgemeiner bezeichnet, als es im Theorem der symbolischen Prägnanz hinsichtlich der Ausrichtung auf Sinnstrukturen formuliert wurde. Es widerspricht diesem hierin nicht, geht allerdings mit einer Einschränkung einher, die Cassirer selbst nicht explizit thematisiert: Die Betrachtung kann den Nachweis einer Analogie zwischen Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie auf direktem Wege ausschließlich für die Dingwahrnehmung führen, denn die Objektivität der Ausdruckscharaktere zielt nicht auf Gegenständlichkeit. 330 Sie ist deshalb aber weder als bloße Ergänzung noch als Neufassung der Cassirerschen Wahrnehmungstheorie einzuordnen. Vielmehr bestätigt sie von (zunächst) empirischer Seite her das Fundament der symbolischen Prägnanz, was darin begründet liegt, dass „die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst“ 331 ist. Gelingt dieser Nachweis über die Gruppentheorie, bestätigt sich hierin das Theorem der symbolischen Prägnanz insgesamt, denn: „Der Begriff der ›symbol[ischen] Ideation‹ tritt an Stelle des kantischen Begriffs der ›produktiven Einbildungskraft‹ – von hier aus erfährt dieser Kant[ische] Begriff erst seine volle Aufhellung!“ 332 Wie nun zeigt sich die (produktive) Einbildungskraft 333 im Gruppenbegriff und in der Wahrnehmungskonstanz? Cassirer versteht das Problem, das der Neufassung der Geometrie durch die Gruppentheorie zugrunde liegt, dahingehend, dass die Begriffe der Geometrie einerseits an die Anschauung gebunden sind, andererseits aber, wie alle mathematischen Begriffe, nach höchster Allgemeinheit streben. Die „notwendige Bindung“ an die Anschauung droht deshalb der Begriffsbildung „zur Fessel“ 334 zu werden. Die Überwindung dieses Problems führt prima facie in ein Paradox: Die Fessel der Anschauung wird gelöst und zugleich festgehalten. Cassirer begründet dies so: Cassirer thematisiert dies implizit: „Die Wahrnehmung ist kein Abbildungs- oder Spiegelungsprozess; sie ist ein Objektivierungsprozess und die charakteristische Art und Richtung ihrer Objektivierung drückt sich in ihrer Invariantenbildung aus. Durch sie kommt es zu der ersten Entgegensetzung von »Schein« und »Wirklichkeit«: Aus der erscheinenden Beleuchtung wird die »wahre« Farbe [. . . ] des Gegenstandes entwickelt und gewonnen.“ (ECN 8, S. 159.) 331 KrV, A 120. 332 ECN 4, S. 66. 333 Kant führt diese Differenzierung folgendermaßen ein: „Sofern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft“. (KrV, B 152.) 334 Beide Zitate ECN 8, S. 152. 330
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Die Antwort, die das geometrische Denken hierauf erteilt, besteht darin, daß es uns lehrt, diese Bindung selbst zu einem Akt der Freiheit zu machen. Wir können von der gegebenen Anschauung in ganz verschiedenen Richtungen fortschreiten und sie gemäss dieser Richtung des Fortschritts bestimmen – je nach der Transformationsgruppe, die wir zu Grunde legen. Und in dieser Grundlegung sind wir völlig autonom. Die Wahl einer neuen Gruppe schafft andere Invarianzen und damit andere geometrische Eigenschaften. Es ist also die Orientierung durch die jeweilige Gruppe, die den Charakter einer bestimmten Geometrie und die Art der Verknüpfung der räumlichen Gebilde in ihr bestimmt. 335
Die Suche und Bestimmung von Invarianten geometrischer Begriffe bei gleichzeitigem Wechsel der räumlichen Systeme ist möglich durch die Orientierung an Transformationsgruppen. Bezüglich der Wahrnehmungskonstanz behauptet Cassirer, „daß eine solche Orientierung, wenngleich sozusagen noch `in statu nascendi' schon in der reinen Wahrnehmungssphaere herrscht, und daß sie deren Struktur im weiten Maße bestimmt“. 336 Die Wahrnehmung geht im hic et nunc also nicht auf, sie weist über diese Unmittelbarkeit hinaus. Die Prägnanz der Wahrnehmung zeigt sich bereits von wahrnehmungspsychologischer Seite: Die phaenomenal-wahrgenommene Farbe fällt nicht mit jenem reduzierten Farberlebnis zusammen, das den Abbildungsverhältnissen auf der Netzhaut entspricht. Sie ist durch die "Beleuchtungsperspektive" bedingt und verändert, ebenso wie unser räumliches Sehen durch die Raumperspektive bedingt ist. 337
Die Wahrnehmung ist auch empirisch betrachtet immer schon mehr als bloße Präsentation, sie ist ein Prozess, der in seinem Vollzug einen „bestimmten Index“ 338 erhält, auf den sie gerichtet ist. Aber sind wir im Setzen dieses Index ähnlich frei wie bei der Wahl einer Transformationsgruppe? Hinsichtlich der symbolischen Formen als Indexe der Prägnanzbildung wurde diese Frage bereits positiv beantwortet: Je nach kulturellen Voraussetzungen sind Menschen frei, eine geschwungene Linie als Ornament, mythisch-religiöses Symbol oder Sinuskurve zu apprehendieren. Von psychologischer Seite bestätigt sich dieses Phänomen in der 335 336 337 338
ECN 8, S. 152 f. ECN 8, S. 153. Ebd. Ebd.
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Gestaltwahrnehmung. Die Figur-Grund-Wahrnehmung oder das Aspektsehen offenbaren die gesuchte Freiheit der Sicht, wie sich an Kippbildern leicht demonstrieren lässt. „Solche Freiheit der Wahl und die durch sie bedingte verschiedenartige Wahrnehmungsstruktur stellt eben das dar, was uns, gewissermassen auf einer höheren Ebene, in der geometrischen Begriffsbildung entgegentritt, die hierin das eigentliche Maximum der "Spontaneität" erreicht.“ 339 Den finalen Nachweis, dass die (produktive) Einbildungskraft gleichermaßen für das Wahrnehmungsbewusstsein wie für die Bildung von Gruppenbegriffen konstitutiv ist, führt Cassirer transzendentalphilosophisch unter Rückgriff auf das Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft. Kant nennt das Schema eines Begriffs ein „Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“. 340 Bilder selbst können diese Funktion nicht übernehmen, da sie nicht die gleiche Allgemeinheit wie Begriffe aufweisen. Aus der Anschauung beliebig vieler Dreiecke (rechtwinklig, gleichseitig usf.) ergibt sich nicht, was als Dreieck gilt. Das Verfahren des Schematisierens von Begriffen ist daher „eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft“ 341 und deshalb nicht nur für mathematische, sondern auch für empirische Begriffe erforderlich: Aus der Wahrnehmung beliebig vieler Hunde (große, kleine, gepunktete, langhaarige, dreibeinige usf.) ergibt sich nicht, was in Folgewahrnehmungen unter den Begriff „Hund“ fallen soll. Der „intendierte »Gegenstand« der Wahrnehmung“, also das Wahrnehmungsobjekt, wie es durch die Dingwahrnehmung Objektivität in Form möglicher Einbeziehung in Sachverhalte erreicht, „ist im Wahrnehmungsbewusstsein selbst niemals durch ein blosses Bild ausdrückbar, sondern [. . . ] kann wiederum nur durch eine Regel repräsentiert sein“. 342 Genau diese Form der Regelhaftigkeit – das ist Cassirers Schlussfolgerung – ermöglicht der Wahrnehmungssynthesis die Rekognition im Begriffe nach Vorbild der geregelten Selbstabbildung einer Menge durch die Transformationsgruppe: Unsere früheren Betrachtungen über den Gruppenbegriff liefern uns sofort einen Anhalt zur näheren Bestimmung dessen, was in jener `Regel', durch die erst die Allgemeinheit der geometrischen Begriffe und die der Wahrnehmungsbegriffe zu erreichen ist, enthalten und was unter ihr zu verstehen ist. Um es auf einen knappen und praecisen Ausdruck zu bringen, liesse sich geradezu sagen, daß die Regel diejenige Transformations339 340 341 342
ECN 8, S. 154 f. KrV, A 140/B 179. KrV, A 141/B 180. Beide Zitate ECN 8, S. 163.
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gruppe ist, in Bezug auf welche die Abwandlung des einzelnen Bildes betrachtet wird. 343
Cassirers Ergebnis lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass sich im Lichte von Gruppentheorie und Wahrnehmungskonstanz dasjenige erhellt, was Kant als Schematismus und „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ 344 bezeichnet hatte: die Bildung von Invarianten in Wahrnehmung und Begriff. „Jede Invariante der Wahrnehmung stellt [. . . ] ein Schema [dar], auf das hin die einzelnen sinnlichen Erfahrungen orientiert und dem gemäss sie interpretiert werden.“ 345
6.2.7 Wahrnehmung als Offenbarung Band vier der Nachgelassenen Manuskripte und Texte enthält reichhaltiges Material zur Wahrnehmungsproblematik. Dabei handelt es sich weitestgehend um Vorarbeiten zu Band drei der Philosophie der symbolischen Formen. Das Manuskript ‚Praesentation und Repraesentation` (ca. 1926/27) sollte aller Wahrscheinlichkeit nach ein neben ‚Symbolische Prägnanz` eigenständiges Kapitel zum „Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung“ bilden. 346 Cassirer bestimmt darin den Begriff der Wahrnehmung erneut auf prägnante und bislang ungewohnt holistische Weise. Die Darstellung dessen soll die Analyse des Wahrnehmungsbegriffs im Werk Cassirers abschließen, bevor zuallerletzt das Problem der Sinnestäuschungen und das Problem der Tierwahrnehmung vor dem erschlossenen Horizont diskutiert wird. Cassirer hebt zunächst beim Ausdrucksphänomen an und präzisiert, was er unter einem wahrgenommenen Ausdruckswert versteht, nämlich das „Phaenomen der immanenten Transzendenz – das Hinauswachsen, Hinausweisen jeder Wahrnehmung über sich selbst – aber nicht auf einen jenseitigen `Gegenstand' ›an sich‹, sondern auf eine Totalität, die sich unmittelbar in ihr darstellt“. 347 Diese Totalität ist das System der Repräsentation, wie es entlang der Symbolfunktionen rekonstruiert wurde und in den symbolischen Formen vorliegt. „Jede Wahrnehmung `besagt', bedeutet nicht nur sich selber, sondern eine solche Totalität – sie ist in sie gleichsam eingebettet / praegnans totius – und diese ihre `Praegnanz' ge343 344 345 346 347
Ebd. KrV, A 141/B 180 f. ECN 8, S. 176. Vgl. ECN 4, S. 335 f. ECN 4, S. 7.
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hört notwendig zu ihrem Wahrnehmungscharakter.“ 348 Der Grundfehler des Empirismus besteht hinsichtlich des Aufbaus der Repräsentationsleistungen des Geistes in dem Versuch, diese aus „Elementen, die selbst keinen `Sinn' mehr haben“ 349 rekonstruieren zu wollen. Der Fehler des Intellektualismus besteht darin, die Repräsentationsleistungen anhand reflexiver Leistungen, wie bspw. (unbewusster) Schlüsse, der Wahrnehmung aufzupfropfen. Cassirer hält dagegen, dass die Wahrnehmung als Urphänomen bereits symbolisch im Wechselverhältnis von Sinnlichkeit und Sinn geformt ist: „Wir müssen von der `Sinnpraegnanz' als Urphaenomen ausgehen“. 350 Dass die Wahrnehmung wesentlich symbolisch sei, offenbart nun gerade keinen Intellektualismus der Wahrnehmungstheorie Cassirers, sondern im Gegenteil den Nachweis der Lebensweltlichkeit jeder Wahrnehmungserfahrung: „Jedes einzelne ›Sinnfragment‹ ist augenblickl[ich] lebendige Uroffenbarung des Ganzen, insofern im Goetheschen Sinne Symbol.“ 351 Die Bestimmung der Wahrnehmung als „lebendige Uroffenbarung des Ganzen“ gilt für die gesamte Welt symbolischer Bedeutung, zeigt sich Cassirer zufolge aber am deutlichsten im ästhetischen Phänomen: Wie jeder Ton einer Melodie im Ganzen eben dieser Melodie `steht', nur in diesem Ganzen `ist', wie er nicht nur als einzelner Klang von dieser oder jener Intensität und Qualität `da ist', physisch existiert, sondern eine “Atmosphaere um sich her hat” – wie er eingebettet, eingetaucht ist in das Meer der Melodie, ihre Dynamik, ihre Rhythmik, ihr unendliches Wogen – so gilt dies von allen `sinngebenden' Momenten, selbst innerhalb des rein theoretischen Sinnes – 352
Dieser Gedanke der Übersummativität oder auch Emergenz der Wahrnehmung zeigt sich noch deutlicher darin, dass die Wahrnehmungswelt eine durch Menschen gemeinsam gestaltete und bewohnte ist: „Auch in jeder Geste, jedem Gesichtsausdruck des Menschen `sehen' wir ihn als Ganzes“. 353 Denken wir von hier aus Wahrnehmung als intersubjektiven Prozess eines sinnhaft mehrdimensionalen Ausdrucksgeschehens, zeigt sich das „Eingebettetsein dieser Geste, dieser Haltung etc. in einen Lebenszusammenhang, der unmittelbar an ihr und in ihr erscheint, sich 348 349 350 351 352 353
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. ECN 8, S. 8. Ebd.
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offenbart“. 354 Dieser symbolische Offenbarungscharakter kann der Wahrnehmung nicht abgesprochen werden, denn als nicht-bedeutende Wahrnehmung sänke sie „zur Abstraktion einer blossen Zuständlichkeit in uns zusammen“. 355 Diesen lebensweltlichen Holismus der Wahrnehmung schließt Cassirer mit einer finalen Betrachtung über den Status des gewonnenen Reflexionsproduktes ‚Wahrnehmung und die Objektivität der Erfahrung` ab: „Näher muss hier noch darauf eingegangen werden, daß die Einordnung der Wahrnehmung in verschiedene Bedeutungskreise (in die Sphaere des aesthetischen, mythischen, theoretischen oder religiösen `Sinnes') selbst erst das Produkt einer Abstraktion ist“. 356 Dieser Gedanke ist einerseits selbstverständlich, andererseits erläuterungsbedürftig. Sofern man Philosophie als ein intrinsisch nicht-empirisches, also in einem näher zu bestimmenden Sinne idealistisches Unternehmen versteht, kann das Ergebnis, ihr Material, lediglich in geschauten Reflexionszusammenhängen bestehen. Cassirer hat seine Philosophie in Zur Metaphysik der symbolischen Formen deshalb auch als „reine »Kontemplation« [. . . ] des Kosmos der reinen Formen“, als „Wissen vom reinen Sollen“ 357 bestimmt. Diese Bestimmung kann jedoch nicht für sich allein bestehen. Die symbolischen Formen entspringen der Wahrnehmung, deren Bedeutungskreise „ursprünglich [. . . ] in ihr selbst noch ganz undifferenziert ineinanderliegen“. 358 Das bedeutet: „Jede Wahrnehmung hat zugleich theoretischen, religiösen, mythischen, aesthetischen `Charakter'[.]“ 359 Die Kontemplation des symbolischen Kosmos hat den finalen Zweck, das Wahrnehmungsphänomen philosophisch dadurch adäquat zu bestimmen, dass die gewonnenen Differenzierungen nun integrativ auf einen möglichst kleinen gemeinsamen Nenner hin bestimmt werden: „Um uns ihren eigentlichen Sinn, um uns das Urphaenomen der symbol[ischen] Bedeutung deutlich zu machen, müssen wir all diese nachträglichen Scheidungen wieder aufheben – müssen wir aus der Phase der Differentiation wieder zur Integration der Wahrnehmung fortschreiten.“ 360 Die „bleibende[n] Charaktere jeder Voll-Wahrnehmung, Integralwahrnehmung selbst“ 361 werden in einem integrativen Sinne final als Offenbarung bestimmt. In ihr 354 355 356 357 358 359 360 361
Ebd. Ebd. Ebd. Beide Zitate ECN 1, S. 194. ECN 8, S. 8. Ebd. ECN 8 , S. 9. Ebd.
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zeigt sich, „daß diese integrierte und integrale Wahrnehmung gar nicht auf `Dinge' geht (als “Ursachen” unserer Empfindung, als Sachen, die die Wahrnehmung “bewirken”)[,] sondern sie ist Offenbarung eines Lebenszusammenhangs und eines Lebensganzen“. 362 Ich teile vor diesem Hintergrund weiterhin Kreis' Ergebnis, dass die Philosophie als Kontemplation des symbolischen Kosmos absoluter Geist ist, 363 möchte diesem Ergebnis aber dahingehend eine Wendung geben, dass sie dies notwendig in Bezug zum „»Erdenrest«“ 364 der Wahrnehmung ist. Damit ist die Philosophie der symbolischen Formen nicht nur die „Einheitsstiftung, die sich unser Geist selbst gibt“, 365 sondern zugleich die Offenbarung seiner lebensweltlichen Einheit. 6.2.8 Das Problem der Halluzination und Illusion: Cassirer und Merleau-Ponty Definitiv kann keine Abhandlung zur Wahrnehmungsphilosophie darauf verzichten, zum Problem der Halluzination und Illusion Stellung zu beziehen. Nicht unbeabsichtigt geschieht dies in vorliegender Arbeit zum Schluss. Der einleitende Abriss zum Forschungsstand analytischer Wahrnehmungstheorien (Kapitel 1.2) hat gezeigt, dass alle gegenwärtigen Theorieoptionen die Frage, welche Konsequenzen sich für die Erkenntnis aus der Möglichkeit der Täuschung der Sinne ergeben, an den Anfang des philosophischen Nachdenkens setzen. Dem entgegen soll hier die These vertreten werden, dass diese Weichenstellung wesentlich für die Aporien der gegenwärtigen Diskurse verantwortlich ist. Aus der bisherigen Betrachtung hat sich insbesondere gezeigt, dass jede Phänomenologie der Wahrnehmung besondere Vorsicht wahren muss, um nicht Vorurteile erkenntnistheoretischer Natur an den Anfang der Betrachtung zu setzen und so die Analyse der Phänomene in eine Sackgasse zu steuern. Um dies zu sehen, muss man nicht unbedingt Cassirer kennen. In der analytischen Wahrnehmungsphilosophie ist es heute en vogue, sich auf Merleau-Ponty zu beziehen und ergänzend zur Begriffsanalyse von ‚Phänomenologie` zu sprechen. Damit unverträglich ist aber bereits der nach wie vor fast uneingeschränkt herrschende Geist des Empirismus und das oft implizit angenommene, jedoch verkürzte Verständnis von Phänomenologie als ein 362 363 364 365
Ebd. Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 475. ECN 4, S. 107. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 475.
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Philosophieren aus der Erste-Person-Perspektive, das ferner Qualia, implizites Wissen, knowing-how usf. thematisiert. Dabei räumt die Lektüre von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung bereits viele erkenntnistheoretische Vorurteile aus. 366 Cassirers Einfluss auf dieses Werk und die sachliche Nähe beider Denker zum Stellenwert der Sinnestäuschungen legen die Hinzuziehung von Merleau-Pontys Hauptwerk an dieser Stelle nahe, weshalb im Folgenden kurz hierauf eingegangen wird: (a) Wahrnehmung und Halluzination bzw. Illusion können aus vielerlei Gründen keine strukturelle Identität aufweisen. Der augenscheinlichste Grund hierfür ist der Umstand, dass ihre Identität dazu führte, dass sie uns als diejenigen Phänomene, die sie sind, niemals bewusst würden. In Merleau-Pontys Worten: La vérité de la perception et la fausseté de l'illusion doivent être marquées en elles par quelque caractère intrinsèque, car autrement le témoignage des autres sens, de l'expérience ultérieure, ou d'autrui, qui resterait le seul critère possible, devenant à son tour incertain, nous n'aurions jamais conscience d'une perception et d'une illusion comme telles. Si tout l'être de ma perception et tout l'être de mon illusion est dans leur manière d'apparaître, il faut que la vérité qui définit l'une et la fausseté qui définit l'autre m'apparaissent aussi. Il y aura donc entre elles une différence de structure. La perception vraie sera tout simplement une vraie perception. L'illusion n'en sera pas une, la certitude devra s'étendre de la vision ou de la sensation comme pensées à la perception comme constitutive d'un objet. 367
Des Weiteren findet sich auch schon bei John Austin eine Kritik an der Fokussierung auf das Problem der Halluzination. Vgl. Austin, John L.: Sense and Sensibilia, Oxford: OUP 1962, S. 48 f. 367 Merleau-Ponty: Phénomenologie de la Perception, S. 340 f. („Die Wahrheit der Wahrnehmung und die Falschheit der Illusion müssen in ihnen selbst durch irgendeinen intrinsischen Charakter gekennzeichnet sein, weil andernfalls das Zeugnis der anderen Sinne, die zukünftige oder eine andere Erfahrung, welche als einziges Kriterium übrig blieben, ihrerseits ungewiss würden; wir würden uns niemals der Wahrnehmung oder der Illusion als solcher bewusst sein. Wenn das ganze Sein meiner Wahrnehmung und das ganze Sein meiner Illusion auf ihre Weise erscheinen, dann muss mir auch die Wahrheit, welche die eine definiert, und die Falschheit, welche die andere definiert, erscheinen. Es wird daher einen Strukturunterschied zwischen ihnen geben. Die echte Wahrnehmung wird ganz einfach eine wahre Wahrnehmung sein. Die Illusion wird dies nicht sein, die Gewissheit wird sich vom Sehen oder von der Empfindung als Gedanken über die Wahrnehmung, als konstitutiv für ein Objekt erstrecken müssen“; meine Übersetzung.) 366
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Hiergegen ließe sich einwenden, dass sie dem betroffenen Subjekt identisch erscheinen könnten und der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Halluzination oder Illusion intersubjektiv auf Grundlage der kommunizierten Innenperspektive des bspw. Halluzinierenden in Abgleich mit der Erfahrung anderer Anwesender getroffen werden kann. Dies führt sofort zum nächsten Punkt. (b) Viele von Halluzinationen oder Illusionen betroffene Personen können diese Phänomene bisweilen erkennen und von Fällen veridischer Wahrnehmung unterscheiden. Schwere Krankheiten wie die Schizophrenie können natürlich durchaus mit Halluzinationen einhergehen, welche eine Abgrenzung zu realen Wahrnehmungen für den Betroffenen situativ unmöglich machen und langfristig Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis erodieren lassen. Sie haben aber eine Entstehung und einen Verlauf hinter sich: Niemand wird mit einer Psychose geboren, und das Abklingen einer Psychose kann mit der Erkenntnis vorheriger Wahrnehmungsstörungen einhergehen. Auch Merleau-Ponty vertritt diese Ansicht: L'hallucination désintègre le réel sous nos yeux, elle lui substitue une quasi-réalité, des deux façons le phénomène hallucinatoire nous ramène aux fondements prélogiques de notre connaissance et confirma ce que l'on vient de dire sur la chose et sur le monde. Le fait capital est que les malades distinguent la plupart du temps leurs hallucinations et leurs perceptions. 368
Hieran zeigt sich bereits sehr deutlich, dass die Annahme, man müsse den Zusammenhang von Wahrnehmungs- und Wissensformen im Ausgang von der Möglichkeit von Halluzinationen konzipieren, phänomenologisch unbegründet und ein erkenntnistheoretisches Vorurteil ersten Ranges ist. (c) Halluzinationen haben zuallererst privaten Charakter. „La schizophrène ne vit plus dans le monde commun, mais dans un monde privé“. 369 Wahrnehmungserfahrungen dagegen haben, wie die vorliegende Arbeit Ebd., S. 385. („Die Halluzination spaltet das Reale vor unseren Augen, sie setzt sich an dessen Stelle eine quasi-Realität. Auf zwei Weisen führt uns das halluzinatorische Phänomen auf die vorlogischen Grundlagen unseres Wissens zurück und bekräftigt dasjenige, was wir gerade über die Sache und was wir gerade über die Welt gesagt haben. Die entscheidende Tatsache ist die, dass die Patienten meistens ihre Halluzinationen und ihre Wahrnehmungen unterscheiden“; meine Übersetzung.) 369 Ebd., S. 332. („Die Schizophrene lebt nicht mehr in einer gemeinsamen Welt, sondern in einer privaten Welt“; meine Übersetzung.) 368
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ausgehend von den Ausdruckserlebnissen zu zeigen versucht hat, öffentlichen Charakter. Ein Gegenstand der Dingwahrnehmung ist schlicht objektiv und kann prinzipiell von jedem wahrgenommen werden. Die Welt der Ausdruckserlebnisse ist intersubjektiv, weshalb das Fremdpsychische prinzipiell erfahrbar ist. Und gerade deshalb ist die Wahrnehmungswelt des Psychotischen in der Modellpsychose, ausgelöst durch psychoaktive, Pseudohalluzinationen erzeugende Substanzen wie bspw. LSD, in einigen Aspekten auch annähernd erfahrbar oder zumindest nachvollziehbar. 370 Ohne diese Entdeckung wäre sie den Therapeuten weiterhin aufgrund der Abweichung von den intersubjektiven Strukturen der alltäglichen Wahrnehmung ausschließlich in der Außenbetrachtung fassbar und somit wesentlich irrational und privat. Eben diese Differenz von privat und öffentlich, von subjektiv und intersubjektiv nutzt Merleau-Ponty, um die normale Wahrnehmungswelt von derjenigen schizophrener Patienten abzugrenzen: Le normal ne jouit pas de la subjectivité, il la fuit, il est au monde pour de bon, il a sur le temps une prise franche et naïve, tandis que l'halluciné profite de l'être au monde pour se tailler un milieu privé dans le monde commun et bute toujours sur la transcendance du temps. Au-dessous des actes exprès par lesquels je pose devant moi un objet à sa distance, dans une relation définie avec les autres objets et pourvu de caractères définis que l'on peut observer, au-dessous des perceptions proprement dites, il y a donc, pour les sous-tendre, une fonction plus profonde sans laquelle l'indice de réalité manquerait aux objets perçus, comme il manque chez le schizophrène, et par laquelle ils se mettent à compter ou à valoir pour nous. C'est le mouvement qui nous porte au-delà de la subjectivité, qui nous installe dans le monde avant toute science et toute vérification, par une sorte de « foi » ou d' « opinion primordiale »[.] 371 Bevor sich das psycholytische und später dann das psychedelische Modell zur Beschreibung von LSD-, Psilocybin- und Meskalin-Erfahrungen durchsetzte, sprach man in Bezug auf diese Substanzen von Psychotomimetika – von Substanzen also, die Psychosen nachahmen. Die diesbezüglichen Forschungen Humphry Osmonds führten durch die damals radikale These, dass psychische Krankheiten durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn verursacht würden, dann zum Aufschwung der Neurochemie in den 1950er Jahren. Vgl. Pollan, Michael: Verändere dein Bewusstsein. Was uns die neue Psychedelik-Forschung über Sucht, Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt, München: Kunstmann 2019, S. 161–181. 371 Ebd., S. 395. („Der Normale besitzt nicht die Subjektivität, er setzt sich von ihr ab, er ist wirklich in der Welt, er hat über die Zeit hinweg einen eindeutigen und naiven Halt, wohingegen der Halluzinierende derart in der Welt ist, dass er sich ein privates Umfeld in einer gemeinsamen Welt schafft und sich stets an der Transzendenz der 370
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(d) Illusionen sind (ebenso wie Pseudohalluzinationen) wesentlich als solche erkennbar und deshalb keine wirkliche Bedrohung für die Konzeption von Wahrnehmung und Wissen. Merleau-Ponty hat diesen Fall besonders scharfsinnig am Fall der Müller-Lyer-Illusion kommentiert: „Les deux segments de droite, dans l'illusion Müller-Lyer, ne sont ni égaux ni inégau, c'est dans le monde objectif que cette alternative s'impose.“ 372 Die Erfahrung beginnt beim konkreten Wahrnehmungserlebnis und in diesem Spezialfall mögen die ‚Schätzungen` der Wahrnehmung versagen. Dennoch ist dies kein Grund, Objektivität im Sinne des exakten Messens als Ausgangsforderung an die Erfahrung zu stellen. Aus dem Gesagten lässt sich eine für die Wahrnehmungsphilosophie weichenstellende Schlussfolgerung ziehen: Halluzinationen und Illusionen sollten nicht das logische Zentrum derjenigen Analyse bilden, welche die Wahrnehmung auf ihre Objektivität hin befragt. 373 Wer sich derart auf sie einlässt, dass er sie an den Anfang der Reflexion setzt, verstellt die phänomenologische Betrachtung durch erkenntnistheoretische Vorurteile skeptischer Natur, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch in ihrem erkenntnistheoretischen Anspruch falsch sind. Denn wie gezeigt wurde, sind das Problem der Wahrnehmung und das Erkenntnisproblem aufs Engste verknüpft. Abschließend bleibt zu fragen, was Cassirer zur Problematik der Sinnestäuschungen zu sagen hat. Im publizierten Werk äußert er sich nur wenige Male hierzu, und zwar ausschließlich zum Problem der Illusion. Cassirer betont, dass das Problem der Illusion im Rahmen einer holistischen Erfahrungstheorie zu behandeln ist. „Der einzelne Sinneseindruck wird nicht einfach als das, was er ist und als was er sich unmittelbar gibt, hingenommen, sondern es wird an ihn die Frage gestellt, wieweit er sich Zeit stößt. Unterhalb absichtlicher Handlungen, durch welche ich einen Gegenstand entfernt vor mich hinstelle, in einem bestimmten Verhältnis mit anderen Gegenständen, welche Merkmale haben, die man beobachten kann, unterhalb der eigentlichen Wahrnehmungen gibt es daher eine diesen zugrunde liegende, tiefere Funktion, ohne die den wahrgenommenen Objekten das Anzeichen der Realität fehlen würde – wie es bei den Schizophrenen fehlt – und durch die sie erst beginnen für uns zu zählen oder von Wert zu sein. Es ist die Bewegung, die uns über die Subjektivität hinausträgt, die uns vor aller Wissenschaft und aller Verifikation durch eine Art Glaube oder primordiales Dafürhalten in die Welt setzt“; meine Übersetzung.) 372 Ebd., S. 12. („Die zwei Strecken in der Müller-Lyer-Illusion sind weder gleich noch ungleich. Diese Alternative stellt sich erst in der objektiven Welt“; meine Übersetzung.) 373 Damit sei natürlich nicht gesagt, dass eine Phänomenologie der Wahrnehmung auf ihre Analyse verzichten soll. Vgl. hierzu die neulich erschienene, äußerst aufschlussreiche Studie von Ratcliffe, Matthew: Real Hallucinations. Psychiatric Illness, Intentionality, and the Interpersonal World, Cambridge (Mass.): MIT 2017.
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Abb. 7 Müller-Lyer-Illusion
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Abb. 8 Unmöglicher Würfel
im Ganzen der Erfahrung bewähren und gegenüber diesem Ganzen behaupten werde.“ 374 Wirklichkeit bemisst sich nicht daran, ob Täuschungen möglich sind. Vielmehr verhält es sich so, dass Illusionen, bspw. die unmöglichen Figuren im Werk M. C. Eschers, Anlass zur Prüfung ihres Realitätscharakters geben und an der Einordnung in die objektive Erfahrung im Sinne der wissenschaftlichen Erkenntnis scheitern. An der Einordnung in die Objektivität der Erfahrung im Sinne der Ausdruckserfahrung scheitern sie nicht, denn sie offenbaren sich sinnlich so, wie sie sind: paradox. Daraus lässt sich jedoch kein Widerspruch für die Gesamterfahrung, sondern im Gegenteil deren Grundaufbau und Grundfunktionen herleiten: Immer wieder erweisen sich die Konstanten unserer Erfahrung als nur relative Konstanten, die wiederum des Haltes und der Begründung in einem anderen, Festeren bedürfen. So sind die Grenzen des „Objektiven“ gegen das bloß „Subjektive“ nicht von Anfang an unverrückbar bestimmt, sondern sie bilden und bestimmen sich selbst erst im fortschreitenden Prozeß der Erfahrung und ihrer theoretischen Grundlegung. 375
Dieser Zusammenhang wird auch im Rahmen der halluzinogenen Erfahrung durch Verabreichung psychoaktiver Substanzen wie LSD, Psilocybin oder Meskalin deutlich. 376 Die Wahrnehmungskonstanten beweisen hier ECW 12, S. 38. Ebd. 376 Vgl. hierzu aktuell Hanske, Paul-Philipp / Sarreiter, Benedikt: Neues von der anderen Seite. Die Wiederentdeckung des Psychedelischen, Suhrkamp: Berlin 2015. 374 375
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geradezu ihre Relativität, indem die Wahrnehmungserfahrung ‚in Fluss` gerät und die Sinnesmodalitäten sich derart überlagern können, dass neue Synästhesien erfahrbar werden. 377 Hieraus ergeben sich aber gerade keine ontologischen Einsichten: Die Welt ist nicht ‚im Werden`, weil die Konstanten der Wahrnehmung nicht absolut sind. Vielmehr zeigt sich, dass der Sinn der Frage nach Realität sich mit der wandelbaren Verhältnisbestimmung von Subjektivität und Objektivität verschiebt: nämlich von der Erfahrung der Fluidität mythischer Erlebnisse über die Stabilität des (sprachlichen) Substanzdenkens zur Relativität von Beobachter und Beobachtung in der modernen Physik. Die psychedelische Erfahrung bedeutet eine Verschiebung in Richtung der mythischen Erfahrung. 378 Das durch die Dingwahrnehmung und das wissenschaftliche Denken zurückgedrängte Ausdruckserlebnis kehrt hier mit voller Wucht in die lebensweltlich stabilisierte Alltagserfahrung zurück und entfaltet temporär eine Dominanz, die verständlicherweise zu beeindrucken vermag. Was die psychedelische Erfahrung sicherlich nicht bedeutet, ist die Bestätigung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Wahrnehmung. 379 Denn diese befinden sich seit der Abkehr vom Substanzdenken in den Wissenschaften konzeptuell bereits jenseits des Wahrnehmbaren. Realitätssinn und Wahrnehmung fallen also nicht notwendig in eins. 380 Dass deswegen aber Die Synästhesie zwischen Farbe und Temperatur ist ein Allgemeinplatz der Erfahrung. Die Assoziation von Tonhöhe, Tonbezeichnung und Farbempfindung dagegen bleibt dem Synästheten mit (evtl.) absolutem Gehör vorbehalten (man denke an den Komponisten Alexander Skrjabin oder den Künstler Wassily Kandinsky). Psychedelika wiederum scheinen Erfahrungen, die sich im Zwischenraum dieser beiden Extrema einordnen lassen, zu ermöglichen. 378 In den Neurowissenschaften arbeitet man derzeit mit der Hypothese, dass mystische Erfahrungen unter dem Einfluss von Psychedelika mit einem Rückgang der Aktivität im Default Mode Network, einem erst 2001 vom Neurologen Marcus Raichle entdeckten Subsystem des Gehirns, korrelieren. Vgl. Pollan: Verändere dein Bewusstsein, S. 330–335. Meine These, dass die psychedelische Erfahrung die Sinnebene in Richtung Mythos statt in Richtung Wissenschaft verschiebt, steht hierzu nicht in Widerspruch. Sie liegt einfach auf einer anderen Ebene – auf der symbolischen. 379 „Heute erkannte ein Mann auf Acid, dass Materie Energie ist[.]“ (Hanske / Sarreiter: Neues von der anderen Seite, S. 11.) Mißverständnissen dieser Art begegnet man immer wieder dort, wo Menschen mit Bewusstseinsveränderung, wie auch bspw. bei der Meditation, experimentieren. 380 In diesem Sinne ließe sich auch Strawsons Verständnis von Realität deuten, wie er es in einem für die Wahrnehmungsphilosophie kanonisch gewordenen Artikel dargelegt hat: „We can say that this is how things really are so long as the relativity of this `really' is recognized as well; and, when it is recognized, the scientific account will no more conflict with the ascription to things of visual and tactile qualities than the assertion that blood is really a mainly colourless fluid conflicts with the assertion that it is bright red in colour. Of course, the scientific point of view is not, in one sense, a point of view at all. It is an 377
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auch nicht die Wahrnehmung als solche zu verwerfen sei, hat Cassirer anhand der Kippbilder deutlich auf den Punkt gebracht: Der Bezugspunkt selbst kann verschoben werden; die Art der Beziehung kann wechseln: Und jedesmal gewinnt bei einem solchen Wechsel die Erscheinung nicht nur eine andere abstrakte Bedeutung, sondern auch einen anderen konkret-anschaulichen Sinn und Gehalt. In besonders prägnanter Art tritt dieser Wandel im anschaulichen Sinn räumlicher Gestalten an den bekannten Phänomenen zutage, die man unter dem Titel der „optischen Inversion“ zusammenzufassen pflegt. Ein und derselbe optische Komplex kann bald in diesen, bald in jenen räumlichen Gegenstand umgebildet, kann jetzt als dieses, jetzt wieder als ein anderes Objekt „gesehen“ werden. In solchen Inversionen handelt es sich, wie man mit Recht betont hat, weder um Urteilstäuschungen, denen wir unterliegen, noch um bloße „Vorstellungen“, die wir uns „machen“, sondern um echte Wahrnehmungserlebnisse. 381
Die Sinnesdatentheorie, die intentionalistische Wahrnehmungstheorie und der Disjunktivismus sind dadurch in einem Zuge widerlegt: Keine(r) von ihnen kann plausibilisieren, wie die Wahrnehmungserfahrung einer Illusion weder Urteil noch Repräsentation und doch ein echtes Wahrnehmungserlebnis sein kann. Die Wahrnehmung einer Illusion ist weder Erkenntnis noch die Widerlegung der Erkenntnis par excellence. Auch sie ist möglicher Anfang der Erkenntnis. Bemerkungen Cassirers zur Halluzination, der Ununterscheidbarkeit von Täuschung und echter Wahrnehmung und dem Szenario einer daraus möglicherweise resultierenden globalen Skepsis gegenüber der Erkenntnis finden sich in den Nachlassschriften. Cassirer teilt hier die Position McDowells: Demnach wird durch die Quantifizierung der Fallibilität der Sinneswahrnehmung der Sinn von Fallibilität untergraben, weshalb die auf der Fallibilität der Sinne aufbauende Skepsis einem Fallibilitätsfehlschluss gleichkommt. 382 Cassirer macht sich zwar nicht die gleiche Mühe wie McDowell, diesen Sachverhalt aufzuzeigen, sein Scharfsinn ruft jedoch dasselbe Evidenzerlebnis wie McDowells Analyse beim Leser hervor: intellectual, not a perceptual, standpoint. We could not occupy it at all, did we not first occupy the other. But we can perfectly well occupy both at once, so long as we realize what we are doing.“ (Strawson, Peter: „Perception and its Objects“, in: Dancy, Jonathan (Hrsg.): Perceptual Knowledge, Oxford: OUP, S. 110.) 381 ECW 13, S. 178 f; meine Hervorhebung. Vgl. in diesem Zusammenhang auch folgende Nachlassstelle: „[A]ber doch ist das Sichtbare in verschiedenem Maße “mit Form durchtränkt” [. . . ] Dies erklärt die Rolle der “Illusion”[.]“ (ECN 4, S. 61.) 382 Vgl. Kapitel 2.2.3.
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„Die Sinneswahrnehmung kann trügen; es giebt Halluzinationen, Illusionen – Aus diesem Trügen-Können ist oft genug ein Trügen-Müssen gemacht worden“. 383 Weiterhin wendet Cassirer gegen die Skepsis ein, dass die Wissenschaft, anders als die Metaphysik, 384 in ihrem Vorgehen die Möglichkeit der Täuschung nicht nur einräumen, sondern grundlegen muss: Die Wissenschaft schlägt auch hier einen anderen Weg ein – Sie ist sich der “Täuschungsmöglichkeit” der sinnl[ichen] Wahrn[ehmung] voll bewusst – aber sie sucht ein Verfahren, ein Kriterium, an dem sie wahre “Wahrnehmungen” von “falschen” unterscheiden kann – sie ist sich ferner bewusst, daß es ein absolutes Kriterium hierfür nicht giebt[,] daß die Problematik zurück bleibt – (Es giebt nicht absolute Täuschung – es gibt aber Ent-Täuschung [ – ] diese Ent-Täuschung ist Wahrheit[)] 385
Die Erkenntnis des Falsifikationsprinzips ist folglich nicht mehr und nicht weniger als das wissenschaftstheoretische Bewusstwerden dessen, worauf Wissenschaft immer schon basiert. Theorien können (genealogisch betrachtet) genau deshalb falsch sein, weil der Beobachter sich täuschen kann – in kognitiver und in sinnlicher Hinsicht. Dagegen untergräbt der (metaphysische) Anspruch einer Skepsisresistenz das wissenschaftliche Denken selbst. Hiervon ausgehend möchte Cassirer skeptische Ansprüche als solche zurückweisen. Seine These lautet, dass es der „relative Charakter“ selbst ist, der die „Skepsis im Gebiet der Sinneswahrnehmung“ 386 widerlegt. Um dies zu zeigen, versucht Cassirer zu begründen, warum „niemals das Ganze der sinnl[ichen] Wahrnehmung verworfen werden“ 387 kann. Dazu muss man sich erneut klar machen, was „Objektivität bedeutet“, nämlich: „Gliederung (Wertabstufung) der sinn[lichen] Erfahrung (Wahrheit – Traum etc[.]) Halluzination“. Der Sinn von Objektivität setzt das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt und damit bereits die Hierarchisierung von wissenschaftlicher Erkenntnis, Wahrnehmungserfahrung, Traumerlebnis und Halluzination voraus. Deshalb ist es sinnlos, „die ganze Welt für einen Traum zu erklären“, denn „wir müssten dann etwas zurückbehalten, woran wir sie messen u[nd] woran
ECN 4, S. 188. An dieser Stelle sehr deutlich: „Also die Nicht-Akribie der Sinneswahrnehmung führt – metaphysisch – zur Verwerfung derselben als blosser Illusion“. (Ebd.) 385 Ebd. 386 Beide Zitate ECN 4, S. 189. 387 Ebd. 383 384
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wir ihren Wahrheitsanspruch vernichten“. 388 Cassirers Argument ist transzendental: Die ganze Welt lässt sich nicht als Schein deklarieren, denn die Möglichkeit dessen setzt die geltende Unterscheidung von Sein und Schein bereits voraus. Folglich ist eine die Sinne betreffende generalisierte Skepsis sinnlos: „Ob das Ganze der “Erfahrung” (Sinneswahrnehmung) “wahr” oder “falsch” [ist,] das ist eine falsch-gestellte, metaphysische Frage (ein “Scheinproblem” im Sinne Carnaps)“. 389 Die Betrachtungen der Sinnestäuschungen und der damit verbundenen Skepsis sollen mit zwei Bemerkungen zum Problem der Kausalität abgeschlossen werden. Das ist deshalb wichtig, weil das Problem der Illusion und der Halluzination nur aufgrund der Annahme einer kausalen Theorie der Wahrnehmung überhaupt erst formuliert werden kann. Movens für die beiden Annahmen, bei einer Halluzination liege einem Wahrnehmungsobjekt kein reales Objekt und bei einer Illusion liege dem Wahrnehmungsobjekt notwendigerweise ein Objekt andersartiger Qualität zugrunde, ist die Überzeugung, dass eine Wahrnehmung im echten Sinne ausschließlich eine durch ein physikalisches Objekt verursachte mentale Repräsentation sei. Dieser Vorstellung widerspricht Cassirer grosso modo: Für den Charakter eines Erlebnisses als “Wahrnehmungserlebnis” kann also nicht die Frage, ob das in ihm Gegebene real (als “Reiz” im Sinne der Physik) gegeben ist, entscheidend sein – denn diese Frage stellen heisst eine µετάβασις begehen, sie steht von vornherein auf einem ganz andern Blatt. [. . . ] Es muss hier streng geschieden werden zwischen dem “Wahrnehmungsreal” u[nd] dem “Wahrnehmungsintentional” [. . . ] – beide können nie zusammenfallen [. . . ] Das bloss Gegebene als solches kann nie als “Reiz” auftreten – [“]Reize sind naturwiss[schaftliche] u[nd] von der Naturwiss[enschaft] zu eruierende Tatbestände[”] [. . . ] Daher lässt sich auch nicht von einem “Wirklichkeitscharakter” des Wahrgenommenen, sondern nur von einer “Wirklichkeitssuggestion” sprechen[.] 390
Es wird nun auch ersichtlich, wieso Cassirer meist von ‚Wahrnehmungserlebnissen` spricht und nicht in terminologischer Differenzierung von objektiver Wahrnehmung vs. Täuschung. Um es kurz zu sagen: Wahrnehmungserlebnisse als genuin intentionale Phänomene unterliegen in einem gewissen Sinne keinem physikalischen Reiz. Das Wahrnehmungserlebnis baut sich nicht als Spiegel objektiver, äußerer Reize auf, sondern in Richtung Objektivität. Diese Intentionalität ist intrinsisch symbolisch 388 389 390
Alle vier Zitate ebd. Ebd. ECN 4, S. 74.
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organisiert und deshalb nicht auf Reize rückführbar. Die Forderung, einer Wahrnehmung müsse strukturell ein physikalisch messbares Objekt entsprechen, ist daher ein Kategorienfehler, weswegen die kausale Theorie der Wahrnehmung hinfällig wird. Diese Ansicht mag provozieren – ebenso wie Cassirers Schlussfolgerung, dass Wahrnehmungen letztlich „Wirklichkeitssuggestionen“ seien. Damit soll natürlich nicht die Idee der Realität verabschiedet werden, sondern erneut auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, dass Realität eine Auffassung ist, die sich erst in der Verhältnisbestimmung von Subjektivität und Objektivität im Gang der Erkenntnis ergibt. Dieser Anspruch Cassirers steht insbesondere auch nicht in Konflikt mit Merleau-Pontys Aufweis, dass Wahrnehmung und Halluzination strukturell nicht identisch sein können. Beide Denker betonen vielmehr, dass das Wahrnehmungserlebnis am Anfang steht und die Qualifizierung, ob ein Objekt wirklich in einem behaupteten Sachverhalt steht oder sich vielmehr verstellt zeigt oder gänzlich halluziniert ist, nachfolgt. Mit alldem ist ferner auch nicht gesagt, dass menschliche Wahrnehmungserlebnisse nicht das physikalische Universum, die Gesetze der Physik, Organismen, Gehirne, Spiegelneuronen usf. voraussetzen. Den Anfang der Erkenntnis – und hierin gibt sich eine Affirmation der Kopernikanischen Wende Kants zu erkennen – macht die Wahrnehmung, und zwar die „»Ausdruckswahrnehmung« als originär-geltende Funktion der Erkenntnis“. 391 Und nach alldem, was bislang gezeigt wurde, gilt: „[D]ie Welt des Ausdrucks, und damit die der Kultur, wird durch den Formbegriff, nicht durch den Kausalbegriff aufgebaut“. 392 6.2.9 Die Wahrnehmung und das Bewusstsein des Tieres Tiere haben es schwer in der Philosophie. René Descartes sprach ihnen die Vernunft ab, folgerte daraus aber nicht lediglich, dass sie nicht an der Sprache teilhaben, sondern dass sie weder fühlende noch bewusste Wesen und deshalb besser nach dem Modell eines Automaten zu verstehen seien. 393 Das hier zugrunde liegende mechanizistische Weltbild ist seit Ende des 19. Jahrhunderts freilich obsolet. Sprache dagegen kann aus philosophischer Perspektive Tieren auch weiterhin nicht zugesprochen werden, auch wenn ein genetischer Zusammenhang zwischen tieriECN 5, S. 70. ECN 5, S. 101. 393 Vgl. Descartes, René: Discours de la méthode, Leyde: Ian Maire 1637, Cinquième Partie. 391 392
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scher und menschlicher Zeichenverwendung naheliegt. Cassirer hatte den Unterschied dahingehend geltend gemacht, dass er die tierische Symbolik als operierend, die menschliche als designierend bezeichnet hatte. 394 Demzufolge ist es Tieren unmöglich, sich im Raum der Bedeutung zu bewegen und selbst Gründe (bspw. für ihr Recht auf Leben) anzuführen. Zugleich verstößt es gegen den Stand der Wissenschaft und auch gegen jede Intuition, Tieren ein Gefühlsleben und Bewusstsein abzusprechen. Letzteres ist zwar philosophisch umstritten, da hier begriffliche Uneinigkeit herrscht, aber es sollte klar sein, dass Tieren mindestens Vorformen menschlichen Bewusstseins zukommen. Vor dem Hintergrund dieses Panoramas ist es dann auch kaum verwunderlich, dass die gegenwärtige Tierethik ihre Argumente zu großen Teilen auf die Gefühlsfähigkeit von Tieren stützt. In der Wahrnehmungsphilosophie wird das tierische Bewusstsein notorisch immer dann angeführt, wenn gezeigt werden soll, dass Wahrnehmung zum großen Teil diejenige Leistung von höher entwickelten Organismen sei, die vielen Tieren, Kindern im vorsprachlichen Alter und Menschen mit entwickelten Sprach- und Rationalitätsstandards gemeinsam zukomme. Tyler Burge hat diesen Gedanken jüngst hinsichtlich der Fähigkeit objektiver Repräsentation ausführlich entwickelt und folgendermaßen für die Frage tierischer Wahrnehmung zusammengefasst: Perceptual representation that objectively represents the physical world is phylogenetically and developmentally the most primitive type of representation. I argue that human beings share representational mind, exercised in perception, with a breathtakingly wide range of animals. Representation of the physical world begins early in the phylogenetic elaboration of life. 395
Die Legitimität solcher Untersuchungen soll hier freilich nicht in Abrede gestellt werden, wohl aber die Aussicht, dass solch ein Ansatz zum philosophischen Problem der Wahrnehmung beitragen kann. Burge gesteht die wahrnehmungspsychologische Ausrichtung seiner Untersuchung freimütig zu, 396 weshalb die Frage, was das Resultat zur Wahrnehmungsphilosophie Vgl. Kapitel 6.2.3. Burge, Tyler: Origins of Objectivity, Oxford: OUP 2010, S. XI. 396 „I draw not only on philosophy but on perceptual psychology (mainly vision science), physiological sensory psychology, developmental psychology, animal psychology, ethology, and zoology to provide an account of how human sense perception of the physical world is related to sensory capacities of many other organisms[.] [. . . ] I try to get at what is constitutive, or essential, to perception, and at how perception differs 394 395
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beitragen kann, hier nachrangig ist. Der bisherige Argumentationsgang hat gezeigt, dass Cassirer unter objektiver Repräsentation etwas gänzlich anderes versteht als das, was Burge in phylogenetischer Hinsicht nachweisen bzw. Noë insgesamt fallen lassen will. Cassirer interessiert die wahrnehmungspsychologische Frage Burges auch deshalb nicht, weil er nicht glaubt, dass sich über diesen methodischen Ansatz etwas über das Bewusstsein der Tiere herausfinden ließe: Schon die Versuche, das tierische „Bewußtsein“ in irgendeiner Weise zu erfassen und zu beschreiben, haben gezeigt, daß es ein völlig verfehlter Weg wäre, wenn man jenes Ordnungsgefüge, dem sich die menschliche Wahrnehmung eingliedern läßt, in irgendeiner Weise unmittelbar auf die Welt des Tieres anzuwenden und in sie hineinzulegen versuchte. [. . . ] Und vom Standpunkt dieses Erkenntnisideals bleibt in der Tat die Welt des tierischen Bewußtseins durchaus problematisch – bleibt sie unaufweisbar, weil sie unbeweisbar ist. 397
Was meint Cassirer hier mit tierischem Bewusstsein? Das Ordnungsgefüge, von dem er sagt, es lasse sich in die menschliche Wahrnehmung eingliedern, ist dasjenige wissenschaftlicher Objektivität. Dieses muss sich beim Menschen genau deshalb in eine Phänomenologie der Wahrnehmung eingliedern lassen, weil das Faktum der Wissenschaft in der Wahrnehmungserfahrung seinen Ursprung hat. Die Objektivität der Psychophysik ist Ergebnis einer Bewusstseinsleistung, nicht aber Konstitutionsmoment des Bewusstseins. Sollten sich, wie Burge dies will, tatsächlich objektive Gemeinsamkeiten in den Wahrnehmungsleistungen von der Amöbe bis zum Menschen nachweisen lassen, ist noch nicht viel über Wahrnehmung und noch viel weniger über Bewusstsein gesagt, denn im „Wahrnehmen, im Sprechen und im Handeln lässt sich ein im gewissen Sinne primitives, unmittelbares Verhalten deutlich gegen ein anderes abgrenzen, das den Charakter des Symbolischen und Mittelbaren trägt“. 398 Das Bewusstsein ist Cassirer zufolge symbolisch organisiert, und sollte vom menschlichen Standpunkt aus, d.h. von dem hier dargelegten methodologischen Standpunkt aus, irgendein Verständnis vom tierischen from other sensory capacities that enable organisms to obtain information from their environments and use this information to adapt to their niches. Understanding this difference is the key matter. I believe that it marks the beginning of objective representation of a mind-independent world. It also marks the beginning of mind as a representational capacity that forms a distinctive topic for psychology.“ (Burge: Origins of Objectivity. S. XIII.) 397 ECW 13, S. 69 ff. 398 ECN 4, S. 294.
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Bewusstsein gewonnen werden, muss dies ebenso in symbolischer Hinsicht gelingen. Bewusstsein meint ein Ordnungsgefüge nicht naturalisierbarer Art, da die Inhalte des Bewusstseins sinnhafte, bedeutungstragende Strukturen sind. Tierisches Bewusstsein in Cassirers Sinne ist mit den Mitteln der Kausalanalyse deshalb grundsätzlich nicht beweisbar. Mit Bewusstsein ist also nicht der Umstand bezeichnet, dass Menschen und Tiere dreidimensionale Objekte im Raum gleichermaßen erkennen und manipulieren können und so im Sinne der awareness ihrer bewusst sind. Dieser Sachverhalt ist durchaus objektiv im Sinne der Psychophysik und Wahrnehmungspsychologie nachweisbar. Es lässt sich modellieren, wie bspw. eine Katze visuell wahrnimmt, nur ist darüber hinaus nichts über ihr Bewusstsein im anspruchsvolleren Sinne gesagt. Der Zugang zum tierischen Bewusstsein ist deshalb aber nicht grundsätzlich versperrt. Er bleibt notwendigerweise spekulativ, da Tiere sich uns nicht sprachlich mitteilen können. Sie müssen dies aber auch nicht, um nicht wenigstens die Intuition stark zu machen, dass Tiere andere Formen des Bewusstseins besitzen. Bewusstsein ist bei Cassirer nicht gleichbedeutend mit Selbstbewusstsein, wie im Zuge der Ausdruckstheorie, der ‚natürlichen` Symbolik und der Basisphänomene nachgewiesen wurde. 399 Er schreibt: Würden wir den Begriff des „Bewußtseins“ für die Bezeichnung der reflexiven Akte des Wissens auf der einen Seite, für die gegenständliche Anschauung auf der anderen Seite vorbehalten, so gerieten wir damit in Gefahr, nicht nur die Möglichkeit des tierischen Bewußtseins anzuzweifeln, sondern auch ein großes Gebiet und sozusagen eine ganze Provinz des menschlichen Bewußtseins zu vergessen und zu verleugnen. 400
Aus dem bisherigen Gang der Untersuchung wird sofort klar, dass Cassirer dem tierischen Bewusstsein im Ausdrucksphänomen nachspüren möchte. Damit sei behauptet, dass Tiere anspruchsvollere Wahrnehmungserfahrungen machen, als dies naturwissenschaftlich rekonstruierbar ist. Auch sie leben zu einem bestimmten Grad im Sinn: nicht im Sinne der Referenz, aber doch ‚bedeutungsvoll` auf eine näher zu charakterisierende Weise. Cassirer versucht diese Vorstellung zunächst ontogenetisch, nicht phylogenetisch plausibel zu machen. Das Kleinkind lebt nicht in einer Welt der einfachen Empfindungen, die man durch objektive Reize beschreiben könnte: 399 400
Vgl. Kapitel 4.5, 5.3 und 6.2.2. ECW 13, S. 71.
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Dies widerspricht aller Erfahrung. Nicht solche Reize beeinflussen das Verhalten des Kindes am meisten, die dem Psychologen besonders einfach erscheinen müssen, weil ihnen einfache Empfindungen entsprechen. Die ersten differenzierten Schall-Reaktionen erfolgen gegenüber der menschlichen Stimme, also auf sehr komplizierte Reize (und ‚Empfindungen`). Nicht an einfachen Farben hat der [. . . ] Säugling Interesse, sondern an menschlichen Gesichtern [. . . ] Und schon in der Mitte des ersten Lebensjahres läßt sich ein Einfluß des Gesichtsausdrucks der Eltern auf das Kind feststellen. 401
Die Entwicklung von Objektpermanenz 402 kann folglich nicht als fortschreitende Komposition eines Mosaiks aufgefasst, sondern muss von der Ausdruckswahrnehmung her gedacht werden. Cassirer interessiert nicht, dass sich im Bewusstsein von Katzen, Hunden und Kleinkindern Gegenständlichkeit im empirischen Sinne aufbaut – dies gilt ohnehin als gesichert –, sondern wie sich Gegenständlichkeit aufbaut. Er fragt: Woran zeigt sich in einem Wahrnehmungsmodus Sinn? Für den Fall des auf Gesichter reagierenden Kleinkindes wäre es plausibel anzunehmen, „daß wir sagen müssen, phänomenal war ihm wirklich das freundliche oder böse Gesicht gegeben und nicht irgendwelche Verteilung von Hell und Dunkel“. 403 Die Ausdruckscharaktere, die affektive Stellungnahme zu den Eindrücken, spielen auch für die Wahrnehmungswelt des Kleinkindes und, wie wir annehmen müssen, des Tieres eine fundamentale Rolle. „Erst von dieser Grundauffassung aus, von der Anerkennung des nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakters der reinen Ausdruckserlebnisse, läßt sich, wenn überhaupt, eine Brücke zu den Phänomenen des tierischen Bewußtseins schlagen.“ 404 Diese vielzitierte Stelle ist erläuterungsbedürftig. Wieso schränkt Cassirer sein methodisches Vorgehen durch ein „wenn überhaupt“ ein? Der Verweis auf die Ausdruckswahrnehmung als Brücke zur Tierwahrnehmung rückt das Problem tierischen Bewusstseins in den Kontext des Problems des Fremdpsychischen. Wie wir gesehen hatten, unterscheidet Cassirer nicht nur in Fragen der Objektivität zwischen subjektiv und objektiv, sondern auch im Reich der
Ebd. Cassirer zitiert hier den Gestaltpsychologen Kurt Koffka. Die durch Jean Piaget angestoßenen Experimente zeigen, dass Objektpermanenz sich zwischen dem 4. und 12. Monat entwickelt, danach aber weitere Zeit fehleranfällig im Sinne des A-nicht-B-Suchfehlers bleibt. Vgl. Ginsburg, Herbert P. / Opper, Sylvia: Piagets Theorie der geistigen Entwicklung, Stuttgart: Klett Cotta 1997, S. 83 f. 403 ECW 13, S. 71 f; meine Hervorhebung. 404 ECW 13, S. 72. 401 402
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Subjektivität. Die „eigent[liche] Sicherheit des Fremdpsychischen“ 405 erschloss sich über den aktiven Ausdruck, über den geistigen Ausdruck der Subjektivität: Schmerz, Freude, Melancholie, Trauer usf. sind einerseits in der Physiognomie eines anderen Menschen direkt wahrnehmbar und andererseits ausdrückbar in Form eines Gedichtes, Theaterstücks, Tanzes und anderen Formen intersubjektiven Handelns. Am aktiven geistigen Ausdruck hat das Tier nicht Teil, wohl aber am passiven. Es ist daher davon auszugehen, dass Tiere im Sinne der Ausdruckswahrnehmung mehr oder minder basale Stimmungen, Gefühle und Verhaltensweisen von Artgenossen, Menschen und anderen Spezies verstehen können und auf subjektive Weise in Form von Gesten bspw. der Interessebekundung an einem Spiel, der Mitteilung eines Hunger- oder Durstbedürfnisses, eines Wutausbruches usf. sich auszudrücken vermögen. Sie können es eben nur nicht intersubjektiv, was nach neuesten Erkenntnissen entwicklungsgeschichtlich darin begründet liegt, dass sie ihre Intentionalität nicht teilen können. 406 Aus der Unfähigkeit des spontanen Ausdrucks folgt nicht, dass Tiere kein Bewusstsein, kein Seelenleben haben, denn die These von der Subjektivität des tierischen Ausdrucks besagt nicht, daß alles »Seelische« notwendig zugleich geistiger Art sein müsse – daß wir also den Tieren das "Bewusstsein" absprechen müssen, weil wir ihnen das »Cogitare« nicht zuerkennen können (Descartes) – es besagt nur, daß alle andere Arten »Seelisches« zu erkennen prinzipiell problematisch bleiben, dem Irrtum ausgesetzt sind, während die eigentl[iche] Sicherheit des Fremdpsychischen sich uns im Geistigen erschliesst[.] 407
Phänomenologisch und methodologisch ist dieser Zugang hoch interessant. Es ist hiernach davon auszugehen, dass Menschen, die viel mit Tieren interagieren, diese verstehen und umgekehrt diese Tiere – wenn auch sicherlich vor einem sehr viel reduzierteren Hintergrund der Auffassung – die mit ihnen interagierenden Menschen verstehen. Hierbei ist nicht sofort an Menschenaffen wie die Gorilladame Koko oder den Schimpansen Nim zu denken, denen man symbolischen Ausdruck durch Gebärdensprache und das Verstehen der englischen Sprache beigebracht hat. Elefanten zeigen nach Verlust eines Herdenmitglieds ein Verhalten, das man legitim als Trauern beschreiben kann. Hunde können Menschen als Alphatiere akzeptieren. Der Katzenhalter kann vielleicht mit einigem 405 406 407
ECN 5, S. 121. Vgl. Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 362–365. ECN 5, S. 121.
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Aspekte einer Theorie perzeptueller Erfahrung
Recht davon ausgehen, dass sein Haustier ihn morgens nicht nur weckt, damit sein Futterbedürfnis gestillt wird, sondern dass es ein – wenn auch sehr primitives und sicher nicht konzeptuelles – Verständnis von Wachsein und Schlaf hat. Sicherlich bleibt vieles Spekulation, und Cassirer weist darauf hin, dass Sicherheit im Einblick in das tierische Bewusstsein grundsätzlich nicht zu finden ist. Die Gefahr von Überinterpretation und Projektion besteht. Deshalb bleiben alle Experimente mit zeichenverwendenden Menschenaffen auch immer massiver Skepsis ausgesetzt. Ob bspw. Koko Sprache im Sinne echter Bedeutung beherrscht oder lediglich beeindruckend konditioniert ist, ist sehr wahrscheinlich grundsätzlich nicht zu entscheiden. Was Tiere dagegen ganz gewiss nicht können, ist viel leichter gezeigt, und auch dies gibt Aufschlüsse über ihre Wahrnehmungskapazitäten und ihre Bewusstseinszustände: „Die Dinge“, so betont auch Thorndike, „sind für das Tier noch nicht die harten und festen wohldefinierten Gegenstände des menschlichen Lebens“, sondern sie liegen wie eingebettet und eingeschmolzen in bestimmte konkrete Gesamtsituationen, und es bedarf der vollen Gleichheit der letzteren, um das Tier zu einem gleichartigen Verhalten zu bewegen. 408
Was sind überhaupt Dinge für Tiere? Sicherlich können Tiere Objekte im Sinne sinnlicher Individuierung wahrnehmen und mit ihnen umgehen. Aber sie nehmen dabei nicht im Sinne objektiver Repräsentation wahr, wie Burge dies möchte. Dieser Vorgang erfordert Sprache. Stellen wir uns im Gedankenexperiment einen Schimpansen beim Tennisspiel vor: Es muss nicht einmal gezeigt werden, dass dieser die Regeln des Spiels nicht lernen kann. Nehmen wir an, der Schimpanse hat einen Aufschlag gelernt und geht morgens dieser Aktivität nach, weil er es gewohnt ist, an einem bestimmten Ort Schläger und fünfzig Bälle vorzufinden und darüber hinaus Freude an dieser Aktivität hat. Nehmen wir weiterhin an, er findet eines Morgens gerade einmal zehn Bälle, daneben jedoch einen Eimer mit vierzig Orangen. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Schimpanse nach zehn Aufschlägen seine liebgewonnene Aktivität ersatzweise mit Orangen fortführt. Eher wird er Unzufriedenheit äußern und vielleicht eine Orange essen. Die Zweckentfremdung der Orangen als Bälle ist dem Schimpansen nicht deshalb unmöglich, weil er eine Maxime kennt, nach der man mit Essen nicht spielt, sondern weil die Verwen408
ECW 13, S. 134.
Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung
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dung der Orange als Ball Repräsentation im objektiven Sinne voraussetzt. „[D]ie Einheit der Sinnrichtung, die im Vollzug der Handlung hervortritt, ist nicht auch ‚für` das Tier gegeben, ist nicht in seinem Bewußtsein in irgendeiner Weise ‚repräsentiert`. [. . . ] Vielmehr ist das Tier, das sich in einer solchen Handlungsfolge bewegt, in ihr auch wie gefangen.“ 409
ECW 13, S. 209. Vgl. in Analogie zu Cassirers Begriff der ‚Gefangenheit` auch Heideggers Begriff der ‚Benommenheit` des Tieres in Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 344–396. 409
Ergebnis und Ausblick
Ziel dieser Arbeit war es, im Rückgriff auf Ernst Cassirers gesamtes Œuvre und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Theoriebildung in der analytischen und phänomenologischen Wahrnehmungsphilosophie eine integrative Theorie perzeptueller Erfahrung zu entwickeln. Die dabei leitende Frage, in welchem Verhältnis Wahrnehmungserfahrungen zu objektiver Erfahrung stehen, führte zur Aufgabe, den Begriff der Wahrnehmung in Korrelation zum Begriff der Repräsentation neu zu fassen und systematisch zu rechtfertigen. Ergebnis ist eine philosophische Wahrnehmungstheorie, die sich in keinen der oben genannten Diskurse einordnen lässt: Cassirers Theorie der Wahrnehmung hält der Kritik, mit der sich Sinnesdatentheorie, Disjunktivismus, Intellektualismus und insbesondere Repräsentationalismus konfrontiert sehen, 1 stand – und dies gerade aufgrund der Beibehaltung des Begriffs der Repräsentation. Das Resultat mag provozieren, gerade weil Cassirer die Wahrnehmungserfahrung ausnahmslos als geistig-symbolische bestimmt und dadurch dem Intellektualismus sowie Repräsentationalismus vermeintlich die Tore öffnet. Akzeptiert man jedoch den zugrunde gelegten anspruchsvollen Begriff des Geistes, lassen sich diese Einwände vollständig zurückweisen. Die korrelative Rechtfertigung der Begriffe des subjektiven und des objektiven Geistes erschließt gerade die Möglichkeit, den Begriff der Objektivität unter sinnkritischem Vorzeichen zu entwickeln. In Anlehnung an Cassirers Diktum „Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur“ 2 lässt sich die Methodik Cassirers anhand des Diktums ‚Die Kritik der Kultur wird damit zur Kritik der Wahrnehmung` veranschaulichen: Im Spiegelbild der Kulturleistungen und der sie ermöglichenden symbolischen Formen zeigen sich die geistigen Leistungen der Wahrnehmung und Repräsentation. Den Wissens- und Verstehensformen der Welt liegen zwei Richtungen der Wahrnehmung und drei Dimensionen der Repräsentation zugrunde: Ausdrucks- und Dingwahrnehmung einerseits Die (i) intentionalisitsche Theorie, die (ii) Adverbialtheorie und der (iii) Empirismus sind an dieser Stelle bewusst ausgeklammert, denn (i) lässt sich dem Vorwurf des Repräsentationalismus zuordnen, (ii) scheitert bereits am Begriff der Objektivität und (iii) ist ein erklärter Gegner der Cassirerschen Theorie. 2 ECW 11, S. 9. 1
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Ergebnis und Ausblick
und die Symbolfunktionen Ausdruck, Darstellung und (reine) Bedeutung andererseits. Diese Erweiterung der kantischen Fragestellung, wie sich Objektivität vor dem Hintergrund der Subjektivität der Erkenntnisbedingungen rechtfertigen lässt, wurde nicht ausschließlich aus der Not einer philosophischen Krisensituation im Angesicht der rasanten Entwicklung der modernen Naturwissenschaften und des Verlusts der Einheit der Wissenschaften und damit letztlich auch des Geistes geboren. Vielmehr liegt ihr die erklärte Absicht zugrunde, dem Kritizismus auf allen Gebieten der philosophischen Disziplin zum Durchbruch zu verhelfen: Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden. 3
Dieses Ziel erreicht die Philosophie der symbolischen Formen dadurch, dass die Erkenntnistheorie zunächst Phänomenologie der Erkenntnis und diese in notwendiger Auseinandersetzung mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt wird. Damit hat Cassirer dem Phänomenalismus Kants eine phänomenologische Basis gegeben. Hierin wendet sich die Cassirersche Wahrnehmungstheorie gegen den Zeitgeist: Dem Kritizismus stehen pragmatistische und therapeutische Strömungen gegenüber, die insbesondere für die Wahrnehmungsphilosophie den naiven Realismus 4 wiederzubeleben streben. An erster Stelle seien hier die Arbeiten John McDowells und Jocelyn Benoists genannt, die gerade aufgrund ihres therapeutischen Ansatzes schwer zu widerlegen sind. Ihnen konnte auf Augenhöhe nur mit einer Gesamtrekonstruktion der theoretischen Philosophie Cassirers begegnet werden, die zwar auf einer pragmatischen Theorie der Zeichen- und Symbolverwendung beruht, aber keinesfalls danach strebt, die Komplexität philosophischer Begriffe zu reduzieren oder gar zum Verschwinden zu bringen. Ob dieser Ansatz angenommen werden wird und die ‚Cassirer-Renaissance` durch einen weiteren Schritt nach vorne die konsequente Anbindung an die Gegenwartsdiskurse des 21. Jahrhunderts erreicht, muss sich zeigen. Die Einordnung als ein gewinnbringendes Resultat für die Wahrnehmungsphilosophie wird sich
Ebd. Hierfür steht jüngst Michael Martin ein. Vgl. Martin: „The Transparancy of Experience“, S. 392–402. 3 4
Ergebnis und Ausblick
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vor allem daran bemessen, inwiefern Kritiker den Versuch einer Versöhnung zwischen symbolischer Repräsentation einerseits und Direktheit der Wahrnehmung im Ausdruckserlebnis 5 andererseits überzeugend finden.
Die Aktualität dieses Theoriestückes wird gegenwärtig vertreten bei Meuter, Norbert: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München: Wilhelm Fink 2006 sowie Breyer, Thiemo: „Soziale Wahrnehmung zwischen Erkenntnistheorie und Anthropologie“, in: Hartung, Gerald / Herrgen, Matthias (Hrsg.): Jahrbuch (4) Interdisziplinäre Anthropologie, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 141–161. 5
Hinweise zur Zitierweise
Die Werke Cassirers und Kants werden nach Vorgabe des Siglenverzeichnisses zitiert. Hierbei werden ausnahmslos alle Zitatstellen mitsamt ihrer Interpunktion unverändert übernommen, was insbesondere bei Cassirers nachgelassenen Schriften mit der Verwendung vielfacher Anführungszeichen, Striche und Klammern einhergeht. Grundsätzlich werden in doppelten Anführungszeichen ausschließlich Zitate angeführt. Einzige Ausnahme hiervon ist die metasprachliche Bezugnahme auf Begriffe (der Begriff „Symbol“), nicht jedoch, wenn diese im Genitiv stehen (der Begriff des Zeichens). Fremdwörter, Hervorhebungen, Buch- und Aufsatztitel werden kursiv gesetzt. Die Verwendung von Anführungszeichen im Sinne einer Anlehnung, Begriffsübernahme, Distanzierung o.ä. sowie das Anführen von Kapitel- und Buchüberschriften erfolgt in einfachen Anführungszeichen.
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Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe ECW ECW 2 ECW 11 ECW 12 ECW 13 ECW 16 ECW 17 ECW 18 ECW 22 ECW 23 ECW 24 ECW 25
Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Birgit Recki, 26 Bde., Hamburg: Meiner 1998– 2007. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band, Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben, 1999. Die Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, 2001. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken, Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, 2002. Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens, 2002. Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens, 2003. Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben, 2004. Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), Text und Anmerkungen bearbeitet von Ralf Becker, 2004. Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, 2006. An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, Text und Anmerkungen bearbeitet von Maureen Lukay, 2006. Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, 2007. The Myth of the State, Text und Anmerkungen bearbeitet von Maureen Lukay, 2007.
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Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte ECN
ECN 1
ECN 2 ECN 4 ECN 5 ECN 8 ECN 15 ECN 17
Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois, Oswald Schwemmer (1995–2014), hrsg. von Christian Möckel (2014 ff.), 18 Bde., Hamburg: Meiner 1995 ff. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. von John Michael Krois unter Mitwirkung von Anne Appelbaum, Rainer A. Bast, Klaus Christian Köhnke und Oswald Schwemmer, 1995. Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hrsg. von Klaus-Christian Köhnke und John Michael Krois, 1999. Über Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und „Wiener Kreis“, hrsg. von Christian Möckel, 2011. Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, hrsg. von Rüdiger Kramme unter Mitarbeit von Jörg Fingerhut, 2004. Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften. 1907–1945, hrsg. von Jörg Fingerhut, Gerald Hartung und Rüdiger Kramme, 2010. Vorlesungen und Vorträge zu Kant, hrsg. von Christian Möckel, 2016. Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901–1929, hrsg. von Jörn Bohr und Klaus-Christian Köhnke, 2014.
Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe AA
KrV A KrV B Prol
Kants gesammelte Schriften, Bd. 1–22 hrsg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff. Kritik der reinen Vernunft, KGS Bd. IV, 1. Auflage 1781, hrsg. von Benno Erdmann, Paul Menzer und Alois Höfler, 1903. Kritik der reinen Vernunft, KGS Bd. III, 2. Auflage 1787, hrsg. von Benno Erdmann, 1904. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als
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KU UD
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Abbildung 7: Müller-Lyer-Illusion, Fibonacci (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Müller-Lyer_illusion.svg), „Müller-Lyer illusion“, https:// creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode (zuletzt abgerufen am 18.02.20). Abbildung 8: Unmöglicher Würfel, 4C (https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Impossible_cube_illusion_angle.svg), „Impossible cube illusion angle“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode (zuletzt abgerufen am 18.02.20).
Personenregister
Abel, Günter 34, 48, 75, 77, 84, 129 –132, 139 f., 150, 199 Adorno, Theodor W. 64 Allison, Henry E. 70 Anscombe, Elizabeth 27 Aristoteles 18, 20, 42, 122 f., 136, 193 Armstrong, David 27 Arndt, Andreas 40 Asmuth, Christoph 23 Austin, John L. 271 Ayer, Alfred 26 Baumgärtner, Jörg 93 Behrmann, Marlene 215 Ben-Ze'ev, Aaron 56 Benoist, Jocelyn 33, 189, 196, 290 Bergmann, Gustav 196 Bergson, Henri 63 f. Bernet, Rudolf 37 Blumenberg, Hans 16 Bonaldi, Claudio 24 Bösch, Michael 38 Brandom, Robert 19, 63, 107, 191, 247 f. Braun, Hans-Jürg 41 Breyer, Thiemo 206, 291 Bundgård, Peer F. 37, 260, 262 Burge, Tyler 81, 281 f., 286 Bühler, Karl 115, 263 Cage, John 125 Carini, Lou 37 Carnap, Rudolf 223, 279 Cassirer, Toni 15, 219 Cavell, Stanley 147 Chamovitz, Daniel 101 Chariker, Logan 253 Chisholm, Roderick 27 Cohen, Hermann 16, 37, 49, 150, 188, 191, 199 Conant, James 76, 192 Cornelius, Hans 209
Coskun, Deniz 23 Crane, Tim 27 Dancy, Jonathan 277 Darwin, Charles 157, 177 f., 180, 182, 184 f. Davidson, Donald 176, 191 f., 218, 237 De Warren, Nicolas 191, 249 Deleuze, Gilles 63 Derrida, Jacques 256 Descartes, René 15, 71, 122 f., 280, 285 Dretske, Fred 28 Dreyfus, Hubert L. 34, 214, 238 Dubach, Philipp 207 Ducasse, Curt 27 Du Ponceau, Peter Stephen 232 Ehrlich, Christof 24 Einstein, Albert 16 Eliasson, Olafur 24, 125 f. Elm, Ralf 35 Endres, Tobias 23 f., 36 f., 52, 80, 160, 183, 191, 206 Escher, Maurits Cornelis 275 Evans, Gareth 79, 81, 101 Favuzzi, Pellegrino 15, 24, 36 f., 160, 183, 206 Feron, Olivier 214 Ferrari, Massimo 15, 16, 37 Fetz, Reto Luzius 107 Fichte, Johann Gottlieb 70 Figal, Günter 37 Fiorato, Pierfrancesco 15 Fish, William 130 Foss, Gunnar 37 f. Foster, John 26 Fraser, Alexander Campbell 196 Frege, Gottlob 15, 110, 114 f., 169, 188 f., 217 f. Freudiger, Jürg 92, 94 Friedmann, Tyler 38 Fuchs, Thomas 52, 193
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Personenregister
Gabriel, Gottfried 17 Gabriel, Markus 73, 143, 182, 195 Gadamer, Hans-Georg 150 Gelb, Adhémar 65, 215 Gendler, Tamar S. 101 Gethmann, Carl F. 34 Ginsburg, Herbert P. 284 Giroud, Vincent 219 Glock, Hans-Johann 191 Goethe, Johann Wolfgang von 42, 50, 65 f., 96, 223, 253, 268 Goldstein, Kurt 65, 215 Goodman, Nelson 37, 48, 142 Graeser, Andreas 167 f. Gründer, Karlfried 17 Guillaume, Paul 257 Gunsenheimer, Antje 156 Gurwitsch, Aron 257 Guyer, Paul 88
Hinton, J. M. E. 28 Hobbes, Thomas 20 Hoffmann, Thomas S. 77 Hofmann, Paul 111 Hoel, Aud S. 38 Hogrebe, Wolfram 34, 82, 87, 115, 143 f., 146, 157 f., 162, 204 Holzhey, Helmut 41 Honneth, Axel 224 Howe, Clarence S. 164 Höfner, Markus 103 Humboldt, Wilhelm von 15, 37, 143, 194 f., 232 Hume, David 61 f., 92 f., 97, 100 Husserl, Edmund 15, 33, 37 –42, 47, 52, 59, 90, 111, 115, 206 f., 216, 223, 236, 261 Huyghe, Pierre 125, 127 Ihmig, Karl-Norbert 230
Habermas, Jürgen 33, 161, 236 Hackenesch, Christa 145 Hales, Steven 199 Halfwassen, Jens 143 Hamada, Yosuke 156 Hamlin, Cyrus 219 Hanna, Robert 79 Hanske, Paul-Philipp 275 f. Hartung, Gerald 291 Hawthorne, John 101 Hägerström, Axel 112 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 19, 39 –44, 46 f., 52, 60 f., 63, 66 –70, 81, 91, 106, 109, 132, 157, 157 f, 176, 191, 193, 209, 224, 247 f. Heidegger, Martin 37, 103, 138, 145, 150, 225, 240, 287 Heine, Heinrich 158 Helling, Simon 23 Helmholtz, Hermann von 154, 261, 263 Hendel, Charles 219 Henning, Hans 253 f. Herder, Johann Gottfried 46 Hering, Ewald 263 Herrgen, Matthias 291 Heymans, Georg 55 Hilbert, David 115 Himmelmann, Beatrix 204
Jackson, Frank 26 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 70 Kaegi, Dominic 170 Kandinsky, Wassily 276 Kant, Immanuel 15, 30 –32, 34 f., 38, 48 f., 61, 63, 69 –71, 73 –95, 120, 123, 138, 142, 153, 156, 188, 190 –192, 194, 198 –201, 204 f., 235, 241, 248, 264, 266 f., 280, 290 Kasa, Eivind 37 f. Katz, David 254, 263 Keil, Geert 190 Kelly, Sean 101 Kirchner, Anna Maria 53, 193 Klages, Ludwig 243 f. Klattenhoff, Timo 24, 36 f., 160, 183, 206 Klein, Felix 258, 259 Kleist, Heinrich von 169 Koffka, Kurt 284 Koriako, Darius 188 Kotzin, Rhoda H. 93 Köhler, Wolfgang 155 Kreis, Guido 22 f., 31, 38, 42, 48, 50, 57, 74, 121, 135, 137, 140, 142, 151 –154, 156, 169, 171 –174, 179 –181, 191, 240, 243, 245, 270
Personenregister Krijnen, Christian 15 Krois, John Michael 37, 40, 59, 61, 104, 207, 219 Krüger, Christian 249 Küppers, Bernd-Olaf 207 Küppers, Harald 253 Land, Thomas 75, 78, 80 –82 Langer, Susan K. 37 Lansing, East 93 Laplace, Pierre-Simon 96 Lassègue, Jean 261 Lauschke, Marion 128 Leibniz, Gottfried Wilhelm 16, 99, 122 f. Lenk, Hans 131 Lie, Sophus 258 Locke, John 196 Lofts, Steve 64, 256 Lohmar, Dieter 92 Longueness, Béatrice 88 Löhrer, Guido 190 Luckmann, Thomas 33 Lueken, Geert-Lueke 48 Luft, Sebastian 16, 38, 51, 230 Majetschak, Stefan 77 Malewitsch, Kasimir 124, 126 Mann, Thomas 96 Marc-Wogau, Konrad 70, 111 Marotta, Jonathan 215 Martin, M. G. F. 27, 29, 196, 230, 290 Martell, Timothy J. 252 McDowell, John H. 19, 31, 35, 38, 52, 75 f., 79, 81 f., 86, 89, 92, 155, 176, 192, 195 f., 214, 218, 220 f., 229 f., 238, 247 f., 277, 290 Meillassoux, Quentin 70, 73, 206, 209 Meland, Ingmar 170 f., 181 Merleau-Ponty, Maurice 30, 34, 36 –38, 46, 52, 80, 189, 214 f., 254, 270 –274, 280 Meuter, Norbert 156, 164, 291 Michotte, Albert 37, 56 Moog, Willi 111 Moore, Charles 24 Moore, George Edward 26 f., 196 Möckel, Christian 40, 42, 52, 95, 160, 207, 223
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Munk, Reinier 150 Müller, Ernst 40 Müller-Lyer, Franz 25, 27, 274 f. Natorp, Paul 16, 37, 39, 47, 49, 51 f., 59, 70, 136 f., 191, 235 Naumann, Barbara 42 Newton, Isaac 123 Nietzsche, Friedrich 79, 147 f., 150, 199, 204, 223, 254 Nießeler, Andreas 23 Niklas, Stefan 206 Noë, Alva 27, 34, 79, 105, 282 O'Hear, Anthony 27 Opper, Sylvia 284 Orth, Ernst W. 40 –42, 46, 50, 59, 103, 117, 207 Osmond, Humphry 273 Paetzold, Heinz 60 Panofsky, Erwin 23 Parmenides 20 Pasch, Moritz 115 Patterson, Sarah 27 Patzig, Günther 217 f. Peacocke, Christopher 79 Piaget, Jean 284 Pieper, Annemarie 204 Pitcher, George 27 Platon 14, 17 f., 20 Plessner, Helmuth 193 Plümacher, Martina 37 f., 42, 107, 240 Poincaré, Henri 261 Pollan, Michael 273, 276 Poma, Andrea 41, 48, 51 f. Pompe, Ulrike 195 Popper, Karl 169 Poser, Hans 131 Prauss, Gerold 70, 199, 201 Putnam, Hilary 28, 130, 135, 138, 196, 230, 248 Pythagoras 188 Quine, W. V. O. 48, 190 –192, 194 f. Raichle, Marcus 276 Ratcliffe, Matthew 274
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Personenregister
Recki, Birgit 23, 54, 103 f., 120, 163, 168 f., 171 Reichenbach, Hans 219 Remmers, Peter 206 Renz, Ursula 191 Repp, Felix 259 Ritter, Joachim 17 Richter, Cornelia 117 Rohs, Peter 92 Rorty, Richard 19, 175, 247 f. Rosefeldt, Tobias 71, 91 Rödl, Sebastian 76, 87 –89 Rudolph, Enno 37, 175, 207 Russell, Bertrand 26, 182, 196 Sandkühler, Hans Jörg 20 Sarreiter, Benedikt 275 f. Sassen, Brigitte 92 Sauer, Martina 38, 239, 243 Saxl, Fritz 23 Schapp, Wilhelm 36 f., 39 Schardt, Alois 111 Schear, Joseph K. 214 Schelling, F. W. J. 61, 73, 162 Schilpp, Paul Arthur 27 Schleiermacher, Friedrich 117 Schlette, Magnus 52, 193 Schmied-Kowarzik, Walther 111 Schopenhauer, Arthur 71, 79, 100, 187, 254 Schubbach, Arno 15, 259 Schütz, Alfred 33, 236 Schwarz, Felix 183 Schwemmer, Oswald 24, 156, 164, 166, 171, 207, 225 Searle, John 27, 35, 135, 196, 230 Sellars, Wilfrid 31, 63, 81, 107, 145, 191, 247 Shapley, Robert 253 Simmel, Georg 24
Simon, Josef 35, 77, 90, 91 Skrjabin, Alexander 276 Snowdon, Paul F. 28 Springstübe, Darja 38 Staiti, Andrea 191, 249 Stamatescu, Ion O. 37 Staudacher, Alexander 130, 187 Strauss, Michael 56 Strawson, Peter 191, 276 f. Sturgeon, Scott 29 Thompson, Evan 27 Thorndike, Edward L. 286 Tomasello, Michael 158, 178, 285 Trabant, Jürgen 52, 143 Travis, Charles 189 Tye, Michael 101 Tylor, Edward 144 Uexküll, Jakob J. von 182 Ullrich, Sebastian 107, 166 f., 224 Usener, Hermann 46 Vaihinger, Hans 199 Van Gogh, Vincent 125, 127 Van Vliet, Muriel 39 f., 55, 57 Venturi, Robert 24 Viebrock, Lena 38 Villinger, Ingeborg 24 Warburg, Aby 16, 23, 161 Welshon, Rex 199 Wenzel, Christian Helmut 92 Wittgenstein, Ludwig 26, 31 f., 81, 147, 196, 226 f. Wunsch, Matthias 61 Wyller, Truls 92 Wyrwich, Thomas 61 Young, Lai-Sang 253