Kultur als Praxis: Eine Einführung in die Philosophie Ernst Cassirers 9783050047591, 9783050038704

Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine Einführung in den systematischen Teil des Werkes in das, was über die Buch

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German Pages 224 [215] Year 2003

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Kultur als Praxis: Eine Einführung in die Philosophie Ernst Cassirers
 9783050047591, 9783050038704

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Birgit Recki

Kultur als Praxis

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen

philosophischen Forschung

¿.

Sonderband Ö

Birgit Recki

Kultur als Praxis Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen

£&>

H^pgf Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

ISBN 3-05-003870-5 © Akademie

Verlag GmbH, Berlin 2004

Das eingesetzte

Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Lektorat: Mischka Dammascnke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Julia Brauch Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Printed in the Federal

Republic of Germany

Langensalza

Il faut cultiver notre jardin. Voltaire

Inhaltsverzeichnis

Vorwort.

11

A. Eine Kritik der Kultur

I.

Kultur als Problem. 19 1. Probleme mit dem Begriff der Kultur. 19 2. Probleme mit der Kultur und Opposition gegen den Rousseauismus.26

II. Ernst Cassirers Philosophie der Kultur: Der symboltheoretische Ansatz.30 1. 2. 3. 4. 5.

Repräsentation: Ein weiter Begriff des Symbolischen. Die Vielfalt der symbolischen Formen. Die „Freiheit des geistigen Tuns": Kultur als Befreiung.

30 35 38 Ein Urteil über Cassirer. 41 Eine Handvoll offener Probleme. 43

B. Die erkenntnistheoretische

Grundlegung und

die Elemente der Kultur I.

Geist und Bewußtsein. Zur Grundlegung der Kultur in den

Leistungen des Subjekts.53

1. Symbolisierung als Versinnlichung von Bedeutung.53 2. Geist das bildende Prinzip im Subjekt.57 3. Die „Urfunktion der Repräsentation" -

Bewußtsein als natürliche Symbolik.59 4. Wozu Symbole? Eine pragmatische Theorie der Bedeutung.64 -

II. Die Rolle der 1.

Sprache im System der symbolischen Formen.67

Begriff und Problem der Sprache.67

INHALTSVERZEICHNIS

8 2. 3. 4.

III.

Sprache als exemplarisch und als grundlegend: „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" (1932). 69 Cassirers Theorie der radikalen Metapher: „Sprache und Mythos" (1925). 74 Bedeutung ohne Sprache?. 80

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos.

84

1. Der Mythos als Mutterboden der Kultur. 2. ,1m Anfang war': Der Mythos als Ursprungserzählung. 3. „Mythos" als mythisches Denken. 4. Physiognomische Wahrnehmung, Dominanz des Gefühls, Macht der Bilder. 5. Die Dialektik des mythischen Bewußtseins Mythos und Religion. 6. Der Mythos archaischer Ursprung oder aktuelle Gegenwart?. 7. Der Mythos des Staates ein ganz anderer Begriff des Mythos?.

84 86 90

-

-

91 96 99 102

-

IV.

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie.

Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant. 109 1. 2. 3. 4.

Umrisse einer Theorie der Kunst. Goethe: Das Leben in der Kunst. Kant: Lebensgefühl und ästhetischer Primat der Natur. Kleines Postskriptum zur exemplarischen Bedeutung der Kunst.

111

116 120 124

C. Persönliches Ethos, Moral und Politik: Eine Philosophie der symbolischen Normen? I.

Die Kultur der Humanität. Ernst Cassirer als Bürger und als Philosoph. 129 1. Der Rektor. 2. Der Philosoph und seine Position. 3. Kampf der Giganten: Ein Streitgespräch. 4. War Cassirer ein Neukantianer? Oder: Transzendentaler Idealismus als Kulturphilosophie. 5. Zwei Reden zur politischen Philosophie: Der liberale Denker. 6. Geistesgegenwart und Konsequenz: Die Entscheidung 1933.

129 131 133 136 145 148

II. Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat des Praktischen keine Ethik schreiben konnte. 151 1. Auch eine

ungeschriebene Ethik

151

9 2. Das

Handlungsproblem in der Philosophie der neueren Zeit

Kantianismus in der Ethik. 154 3. Systematische Ansätze zu einer praktischen Grundlegung. 159 -

4. Exakte Mutmaßungen zum Umfang eines Grundbegriffs: Läßt sich die Moral als eine „symbolische Form" begreifen?. 162 5. Kultur als Befreiung: Die ethische Besetzung der Kultur. 164 6. Noch einmal: Zurück zu Kant!. 168

III. Das Ethos der Freiheit. Ernst Cassirers ungeschriebene Ethik und ihre Postulatenlehre. 172 1. Georg Simmel: Die „Tragödie der Kultur". 2. „...Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß!". 3. Ethische Implikationen des Kulturbegriffs: Eine Postulatenlehre zur Befestigung der praktischen Zuversicht. 4. Transzendentale Theorie der Gesellschaft. Ein Exkurs über die methodische Übertragbarkeit eines fruchtbaren Theorems. 5. Die Moral von der Geschieht'Eine Philosophie der symbolischen Normen?. 6. Aporie oder Beschluß.

172 175

178 182 184 186

IV. Der Tod, die Kultur, die Moral. Ernst Cassirer und Martin Heidegger in der Kontroverse. 189 Ernst Cassirer Freiheit durch Kultur. Martin Heideggers „Humanismus [von] seltsamer Art". „...und sich ängstende Freiheit zum Tode". Ernst Cassirer: Das endliche Wesen, das seine Endlichkeit weiß. Die subjektphilosophische Moral von der Geschieht'.

189 192 199 205 208

Siglenverzeichnis.

210

Literaturverzeichnis.

211

1. 2. 3. 4. 5.

-

Schriften von Ernst Cassirer. 212 Schriften anderer Autoren. 214

Personenregister.

221

Vorwort

Lange Zeit gehörte das philosophische Werk Ernst Cassirers zu den großen, aber unbekannten Territorien auf der philosophischen Landkarte des 20. Jahrhunderts. Cassirer hatte Deutschland im März 1933 verlassen, und er war nicht zurückgekehrt. Zu den Folgen der Emigration gehört nicht allein die unglückliche Editionslage seines Werkes es hat keine Gesamtausgabe letzter Hand gegeben -, sondern auch der Umstand, daß bei der Formierung der Schulen und Richtungen in der deutschen Nachkriegsphilosophie ein Sachwalter seines systematischen Beitrags fehlte. So hat sein Werk, in vielen Einleitungen geisteswissenschaftlicher Studien mit pflichtschuldigem Pauschalverweis zitiert, nicht die Rezeption und Resonanz gefunden, die ihm sachlich gebührte: Stand der aus dem Marburger Neukantianismus hervorgegangene Wissenschaftstheoretiker und Philosophiehistoriker ebenso wie der „Kulturphilosoph" und Sprachphilosoph Cassirer hierzulande schon aus rezeptionspragmatischen Gründen im Schatten von Heidegger, Wittgenstein und der Frankfurter Schule, so erschwerte zudem der aus verschiedenen systematischen Motiven gespeiste Vorbehalt gegen die „Kulturphilosophie" die angemessene Würdigung seines Werkes. In den letzten Jahren hat sich die Situation geändert. Insbesondere seit dem 50. Todestag Cassirers im Jahre 1995 beginnt sich die Bedeutung seines Lebenswerks herumzusprechen. Ist es zum einen das in der analytischen Philosophy of mind wiedererstarkende Interesse an repräsentationalistischen Theorien des Bewußtseins, das die Aufmerksamkeit auf den wohl konsequentesten symboltheoretischen Systemansatz in der Nachfolge des Kantischen Kritizismus lenkt, so begünstigt auf der anderen Seite die Wiedergewinnung der fundamentalanthropologischen Fragestellung die Zuwendung zu einer Philosophie der Kultur, die sich gegen jeden Substantialismus als Funktionstheorie vom „Wesen" des Menschen versteht. Und nicht zuletzt ist es die kulturwissenschaftliche Revision des Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften im vergange-

SieheTeilC, Kap.IV. Siehe Teil A, Kap. 1, 1.

VORWORT

12 nen

Jahrzehnt, welche die Neugierde auf einen im 20. Jahrhundert einzigartigen Beitrag

der Kulturwissenschaften weckt. Ernst Cassirer war einer der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts. Er hat sich seinen Namen nicht allein als Philosoph gemacht, sondern auch als Ideenhistoriker der Geistes- und Naturwissenschaften. Er war ebensosehr Erkenntnistheoretiker wie Wissenschaftsphilosoph mit engem Kontakt zur modernen Naturwissenschaft über Nikolaus von Kues, Descartes, Leibniz, Kant und Goethe hat er genauso kenntnisreich geschrieben wie über Galilei, Newton und Einstein. Sein philosophischer Ansatz bietet methodische Anknüpfungspunkte für den Sprachtheoretiker wie den Kunsthistoriker, den Religionswissenschaftler, den Psychologen und den Politologen. Zu dieser praktizierten Vielfalt, insbesondere zu seiner ständigen Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen paßt es auch, daß Cassirer mit seinem Werk von Grund auf die defaitistisch eingeschliffene Rede von den zwei Kulturen bestritten hat. Sein systematisches Werk ist eine bedeutungstheoretisch grundierte Philosophie der Kultur, die sich zugleich als Anthropologie in grundlegender Absicht versteht. Angesichts der Breite und der Vielfalt dieses reichen Gesamtwerkes wäre es völlig verfehlt, eine Monographie mit dem Anspruch auf Vollständigkeit geben zu wollen. Die vorliegende Arbeit ist weit entfernt von solcher Prätention. Sie versteht sich als eine Einführung in den systematischen Teil des Werkes in das, was über die Buchdeckelgrenzen des gleichnamigen Serienwerkes hinaus als Cassirers Philosophie der symbolischen Formen bezeichnet werden darf. Die Betonung soll dabei auf dem unbestimmten Artikel liegen: Es ist eine Weise des grundlegenden Verständnisses, die hier präsentiert wird. Sie steht im Verhältnis von Variation und Ergänzung zu den bereits vorliegenden zur

Grundlegung

-

-

Diese Belebung des Interesses an Cassirers systematischem Beitrag findet inzwischen ihren Rückhalt in der Verbesserung der Editionslage: Mit dem Projekt der Hamburger Ausgabe (ECW) von Cassirers zu Lebzeiten veröffentlichtem Werk (unter meiner Leitung seit 1997) soll in 25 Bänden der Ersatz geleistet werden für die fehlende Ausgabe letzter Hand, und der vergleichbar reiche Nachlaß wird in einer komplementären Edition (seit Anfang der neunziger Jahre an der Humboldt-Universität Berlin) erschlossen. In der chronologisch konzipierten Hamburger Ausgabe ist jetzt, im Herbst 2003, mit dem Erscheinen von Band 16 mehr als die Hälfte des Werkumfangs erreicht. Verfügbar ist in der neuen, heutigen textphilologischen Standards genügenden Ausgabe inzwischen nicht allein die Philosophie der symbolischen Formen (ECW, Bd. 11; 12; 13); durch die sukzessive Zusammenstellung der zahlreichen Aufsätze aus ihrem zeitlichen Umfeld ist zudem auch der systematische Umfang dieser Philosophie der Kultur einer genealogischen Erschließung verfügbar gemacht. Es ist davon auszugehen, daß die von italienischen Cassirer-Interpreten schon 1995 optimistisch beschworene „Cassirer-Renaissance" nunmehr nachhaltig einsetzt; siehe Massimo Ferrari, La Cassirer-Renaissance in Europa, in: Studi Kantiani VII, 1994, 111-139.

13 in Cassirers Werk; zugleich beansprucht sie aber insofern, etwas Neues eine und Alternative zu bieten, als sie den Primat des Praktischen, unter dem Cassirers Kulturphilosophie steht, ernst nimmt und zum Leitfaden der Interpretation macht. Es ist zu zeigen, daß nach Cassirers an die große idealistische Philosophie anknüpfender bedeutungstheoretisch grundierter Konzeption schon die „theoretischen" Aspekte menschlichen Weltverstehens allein durch den Charakter freier und produktiver Tätigkeit, der Verwandlung von Gegebenem in ein anderes Medium, zu begreifen sind. Zieht sich menschliche Produktivität derart wie der rote Faden von den elementaren bis zu den höchst komplexen Leistungen durch die Kultur, so ist damit zugleich die Kontinuität zwischen theoretischem und im engeren Sinne praktischem Weltverhältnis behauptet. Im Zentrum des Interesses steht daraufhin die Rekonstruktion der in der Sekundärliteratur bisher kaum bearbeiteten praktischen Philosophie Cassirers, die von ihm nie ausgeführt worden, sondern in zahlreichen Elementen in das gesamte Werk eingelassen ist. Cassirers Denken zeichnet sich aus durch eine hohe ethische Appetenz; geprägt durch die Kantische Einsicht in den Primat des Praktischen ist es selbst im Ansatz praktisch. Von daher ist es auffällig, daß er keine eigene Ethik geschrieben hat. Was in der vorliegenden Arbeit zutage gefördert werden soll, ist seine ungeschriebene Ethik, mit deren Rekonstruktion ich mich in den zurückliegenden Jahren im Zusammenhang der Arbeit an der Hamburger Ausgabe vorwiegend beschäftigt habe. Auf eine Darstellung der theoretischen Philosophie Cassirers, auch auf die der wissenschaftlichen Erkenntnis als einer symbolischen Form, habe ich mit Blick auf die vorliegenden Beiträge zu diesem Bereich in der Cassirer-Forschung zugunsten des praktischen

Einführungen

Schwerpunktes gänzlich verzichtet. Der Arbeit liegt neben der Vorlesung,

die ich im Winter 2001/2002 unter dem Titel „Der Geist der Kultur. Ernst Cassirer in Hamburg" gehalten habe, eine Reihe von Aufsätzen zugrunde, die für den Zweck der Buchproduktion um wichtige Aspekte ergänzt

Siehe Andreas Graeser, Ernst Cassirer, München 1994; Heinz Paetzold, Ernst Cassirer Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995; ders., Emst Cassirer zur Einführung, 2., überarbeitete Auflage, Hamburg 2002. Siehe Teil A, Kap. II.; Teil B. Siehe TeilC (ab S. 127). Siehe auch dazu die genannten Einführungen (Anm. 4) und im einzelnen die Arbeiten von KarlNorbert Jhmig, Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des „Erlanger Programms", Hamburg 1997; Enno Rudolph/Ion O. Stamatescu (Hg.), Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997; die Beiträge in: Science in Context, Vol. 12 Nr.4, Winter 1999 (Ernst Cassirer), hg. von John Michael Krois, Cambridge 1999; Christiane Schmitz-Rigal, Die Kunst offenen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, Hamburg 2002. -

VORWORT

14

und teils ausgewertet, teils in überarbeiteter und korrigierter Fassung in eine systematisch aufbauende, geschlossene Form gebracht worden sind. Ich möchte den Gesprächspartnern danken, die meine Arbeit an der Philosophie Cassirers als Lehrer, als Kollegen, als Studierende begleitet, angeregt und gefördert haben. Angefangen hat alles damit, daß mich Hans Blumenberg bei meinen Studien zu Walter Benjamins Begriff der Aura eines Kunstwerks auf die Einschlägigkeit der mythischen Vorstellung von Raum und Zeit aufmerksam machte, die Cassirer im zweiten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt. Der Lektüre, zu der mich dieser Hinweis und Blumenbergs Vorlesung über Ernst Cassirer im Sommer 1982 motivierten, verdanke ich die erste Bekanntschaft mit dem systematischen Hauptwerk. Die Teilnehmer an meinen Vorlesungen zur Kulturphilosophie am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg in den Jahren 1994 bis 1997 haben mich mit ihren Fragen und Einwänden zunehmend in dem Gedanken bestärkt, daß es sich lohnen könnte, über Cassirers Kulturtheorie weiter zu forschen. Besonderer Dank gilt dem verehrten Kollegen Ernst Wolfgang Orth (Trier), dem ich aus Lektüre und Gespräch entscheidende Anstöße verdanke. Den späteren Hamburger Kollegen Wolfgang Bartuschat, Dorothea Frede und Ulrich Steinvorth danke ich für ihre kritischen und konstruktiven Fragen zu meinem Bewerbungsvortrag am 24. Oktober 1996 über „Ethos und Kultur. Ernst Cassirers ungeschriebene Ethik". Ich danke John Michael Krois (Humboldt-Universität, Berlin) für viele hilfreiche Hinweise und die freundliche Bereitschaft zu Gespräch und Auseinandersetzung; Barbara Naumann (Zürich) für die gute und schöne Erfahrung der Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Tagung im Hamburger Warburg-Haus über Cassirer und Goethe im Goethe-Jahr 1999, in deren Kontext ich mein Verständnis vertiefen konnte; Jeffrey Andrew Barash (Amiens), der mir als Ernst-Cassirer-Gastprofessor am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg im Sommer 2002 mit seiner Vorlesung über Ernst Cassirer und die Idee einer politischen Mythologie wertvolle Hinweise zur Differenzierung des Mythos-Begriffs gegeben hat. Für Einladungen zu Vorträgen, mit denen ich zwischen 1997 und 2002 meine CassirerInterpretation zur Diskussion stellen konnte, danke ich Josef Früchtl (Münster), Enno Rudolph (Luzern), Gerhard Schweppenhäuser und Jörg H. Gleiter (Weimar), Joachim Track (Neuendettelsau), Detlef Horster (Hannover), Günter Figal (Freiburg) und Damir Barbarie (Zagreb), Helmut Holzhey, Ursula Renz und Peter Merz-Benz (Zürich), Roger Stephenson (Glasgow), Ralf Konersmann (Kiel) und Wolfram Hogrebe (Bonn), Ludwig Nagl und Eva Waniek (Wien). Meinem Mann, Volker Gerhardt (Humboldt-Universität, Berlin), verdanke ich schließlich eine Evidenz im Augenblick. Als ich ihn bei unserem Abendessen zur Feier Q

-

-

Siehe die Liste der zugrunde liegenden Texte, ab S. 211. Vgl. Birgit Recki, Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst,

Würzburg 1988, 51-54.

15

meines Rufes an die Universität Hamburg 1997 in meinen Plan einweihte, die Arbeit an der Hamburger Ausgabe mit eigener Arbeit an Ernst Cassirers ungeschriebener Ethik zu verbinden, prägte er für die neue Konstellation eines Klassikers und seiner Interpretin nicht nur den Ausdruck Waterkantianismus, sondern kommentierte mein Vorhaben Was auch mit der Bemerkung: „Also: Eine Philosophie der symbolischen Normen!" sich so glücklich formulieren ließ, müßte sich auch realisieren lassen, dachte ich. Dieser Gedanke hat mich motiviert. Der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius (Hamburg) danke ich sehr herzlich für die großzügige Gewährung des Druckkostenzuschusses zu dem vorliegenden Buch. -

Birgit Recki

Die Formulierung, die ich mir gern Teil C.

Hamburg, im Herbst 2003

zu

eigen

mache

(vgl. 125ff.),

betrifft die

Kap. I

bis IV im

A. Eine Kritik der Kultur

I.

Kultur als Problem

„Siehst Du den Stern da oben? Unter dem liegt die Autostraße, und die

bringt uns nach Hause." Clark Gable zu Marilyn Monroe in John Hustons „Nicht gesellschaftsfähig "/„Misfits "

1. Probleme mit dem

Begriff der Kultur

Die theoretische Beschäftigung mit der Kultur stößt gleichermaßen in der Philosophie wie in den Sozialwissenschaften immer wieder auf gut eingespielte Ablehnungsreflexe. Über deren Motive sich zu verständigen, ist sinnvoll, da sie zwar nicht sachlich berechtigt, aber auf Ambiguitäten und Differenzen in der Sache bezogen und damit bezeichnend sind. Obwohl sich seit der Antike, seit Piatons Mythos des Protagoras, der rote Faden einer ebenso häufig kritischen wie affirmativen Erörterung der Kultur verfolgen läßt, ist die Kulturphilosophie wie übrigens die Ästhetik eine relativ junge Disziplin. Bis heute steht sie unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Ähnlich wie das Interesse an Fragen der Ästhetik auch gute 300 Jahre nach dem Ursprung der Disziplin aus den großen Fragen der Erkenntnistheorie und der Metaphysik immer wieder aufs neue gegen das Vorurteil verteidigt werden muß, man bewegte sich damit in der Domäne des Luxus und der Moden, steht auch die Kulturphilosophie notorisch in dem Verdacht einer Bindestrich-Disziplin, die sich mit dem Spezialinteresse an vergleichbar luxurierenden Phänomenen beschäftigte. Dieser bis heute wirksame Vorbehalt findet sein Motiv vor allem in der Mehrdeutigkeit des Kulturbegriffs. Auf den ersten Blick hat der Begriff verschiedene Bedeutungen: Kultur wird ebenso 1. im Kollektivsingular als die grundlegende, in alle menschlichen Tätigkeiten ausdifferenzierte Funktion der Lebensgestaltung und damit als Inbegriff poietisch-praktischer Selbstauslegung begriffen wie 2. als der spezifische Bereich der Artikulation verfeinerter geistiger, vorwiegend ästhetischer Ansprüche auf Kreativität, Kommunikation und Unterhaltung, die sich in den hochkulturellen Medien und künstlerischen Spitzenprodukten vergegenständlichen; und es ist zu beobachten, daß die unreflektierte Identifikation dieses spezifischen Begriffs von -

-

Eine Kritik der Kultur

20

verfeinerter intellektueller und ästhetischer Kultur mit dem Gegenstand der Kulturphilosophie die Disziplin in den Verdacht bringt, sie habe es mit Allotria und Adiaphora zu tun.

Es ist aufschlußreich, wie nahe sich in der Verzeichnung des Kulturbegriffs in der zeitgenössischen Philosophie etwa die Antipoden Heidegger und Adorno sind. Für das hochkulturell-spezialistische Mißverständnis der Kulturphilosophie als einer feinsinnigen Spezialdisziplin hat Theodor W. Adorno mit seinem gegen Georg Simmel gerichteten Verdikt über die Metaphysik mit dem Silbergriffel die Metapher geprägt. Die Polemik im Umgang mit dem Kulturbegriff findet aber einen zusätzlichen Anhaltspunkt im ideologiekritischen Vorbehalt gegen die als konservativ beargwöhnte Tendenz der anthropologischen Ansätze zu einer Theorie der Kultur im ersteren Sinne. Die elabo-

rierte

Kulturphilosophie im Sinne des grundlegenden Begriffs von Kultur als des menschlicher Lebensgestaltung hat sich immer schon als Anthropologie

mentes

Elever-

standen und traut sich von daher zu, etwas über den Menschen zu sagen, das wie auch in der bloßen Geschichtlichkeit nicht aufgeht. In immer geschichtlich vermittelt Frankfurt war man demgegenüber an Gesellschaft als dem Inbegriff der Wandlungsfähigkeit des Menschen interessiert. Wenn in diesem Zusammenhang von Kultur die Rede ist, dann geht es um deren spezifischen Begriff, und Kulturkritik ist als das spezialisierte Unternehmen der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Bereich verstanden. Gleichermaßen stilbildend für den Vorbehalt gegen die Kultur ist der ganz anders gerichtete Vorwurf, den Martin Heidegger in der Davoser Disputation 1929 dem „Kulturphilosophen" Ernst Cassirer entgegengehalten hat: Die Kultur markiere den „faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt". Von Interesse ist hier zunächst, daß der Kritiker, der so spricht, sich zutrauen muß, das Invariante des menschlichen Daseins das Eigentliche des Menschen unter völligem Absehen von den Leistungen der Kultur zu bestimmen, die auf diese Weise, selbst wenn ihr Begriff als grundlegend verstanden sein sollte, nach Art der verzichtbaren ornamentalen Beigabe abgewertet wird. Im Leben in der Kultur verbinden sich nach Heideggers Ansatz Ablenkung vom eigenen Dasein und der Charakter der trügerischen Versicherung." -

-

-

-

Siehe Theodor W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1955. Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, in: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), vierte, erw. Auflage, Frankfurt/M. 1973, 246-268, hier: 263. Siehe auch in Teil C die Kap. 1,4 und IV. Zum Syndrom von Heideggers Kulturfeindschaft siehe die Analyse bei Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn / Berlin 1991, 102-110. -

21

KULTUR ALS PROBLEM

folgenden noch deutlich werden, inwiefern Heideggers Bonmot vom „faulen Aspekt" des Menschen den Ansatz Cassirers wie auch Plessners und Gehlens von Grund auf verfehlt. Hier geht es zunächst darum, daß seine Bewertung und die Einschätzung Adornos je für sich und in ihrer Gemeinsamkeit exemplarisch sind. Über die darin zutagetretende Verwischung der Perspektiven hinaus ist eine zusätzliche Komplizierung darin zu sehen, daß Kultur 3. in den relativierenden Plural tritt, wenn die Individualisierung des universalen Kulturkonzepts (1.) in seine einzelnen geographischen und historisch-nationalen Ausprägungsformen gemeint ist (die Kultur des AbendEs wird im

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-

landes, die lateinamerikanische Kultur usw.). In mehr als nur einer Hinsicht scheint somit der Kulturbegriff zu oszillieren. Es sieht so aus, als befänden sich der universalistische Anspruch des Kollektivsingulars Kultur und die Tatsachen der Spezialisierung kultureller Ansprüche wie der Vielfalt von Kulturen im Widerstreit, und als hätten wir es mit ganz verschiedenen Kulturbegriffen zu tun. Doch das sieht nur so aus. Genauer besehen betrifft diese Mehrdeutigkeit kein Problem der Äquivokation, sondern der Spezifikation: Der Begriff der Kultur umfaßt verschiedene Dimensionen. Generell bezeichnet er das menschliche Selbstverständnis unter dem Aspekt besser: unter allen Aspekten der Gestaltung; er ist der „Inbegriff der von Menschen produzierten und reproduzierten menschlichen Lebenswelt"4 oder „jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fäder und Gewohnheiten". Die Buntheit damit benannten higkeiten Ingredientien ist nur scheinbar einer vermeidbaren begrifflichen Diffusion geschuldet, in Wahrheit verweist sie auf die Komplexität der Sache. Kultur ist in der Definition als alles „das, was die Menschen aus sich und ihrer Welt machen und was sie dabei denken und prima facie angemessen erfaßt. Unreflektiert wie bei den Skeptikern gegen die Kulturphilosophie die Ablehnung durch voreilig vereinseitigende Identifikation bleibt somit auch die Anerkennung des grundlegenden Kulturbegriffs aufkosten einer Abwertung des spezifischen, die sich an eine Differenz bindet, ohne auf die Gemeinsamkeit selbst des Differenten zu achten. Ist die Differenzierung in den grundlegenden und den spezifischen Kulturbegriff erst einmal begriffen, so kann dessen konzeptuelle Integration in den ersteren nicht ausbleiben. Im Großen wie im Kleinen artikuliert sich in allen Verwendungen des Ausdrucks, bei jedem Grad an Konkretion und Spezifikation des Kulturbegriffs der Anspruch des Menschen, etwas aus den vorgefundenen Bedingungen und aus sich selbst zu machen. -

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sprechen",6

Herbert Schnädelbach, „Kultur", in: Ekkehard Martens /Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 2, Reinbek 1991, 517. Edward Burnett Tylor, Primitive Culture, London 1871, 1. Reinhard Maurer, Art. „Kultur", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, 823.

Eine Kritik

22

der

Kultur

Kultur umfaßt immer schon eine Vielheit der Leistungen und Methoden. In den verschiedenen Kulturen realisiert sich im historischen Maßstab der Menschheit, was allgemein für den Menschen Kultur ist; und in den anspruchsvollen Spielräumen der Gestaltung, im Hochgeistigen und Feinsinnigen, wird ihr Gestaltungscharakter exemplarisch und reflexiv. Damit sind ins einzelne gehende Aufgaben der Theoriebildung formuliert, die auch nur im einzelnen angemessen bearbeitet werden können. Aber am Begriff müssen wir deshalb nicht gleich irre werden. Die Leistung der Kultur ist in der tätigen, genauer in der produktiven Vermittlung des Weltbezuges zu sehen. Kultur steht damit von Grund auf in einer anthropologischen Dimension.9 Sie steht damit aber auch im begrifflichen Kontrast zur Natur als dem Gegebenen, das in unseren Handlungszusammenhängen zwar als notwendig vorausgesetzt, aber nur begrenzt disponibel ist. Schon die begriffsgeschichtliche Ableitung vom lateinischen Substantiv „cultura" für Ackerbau, Anbau, Pflege bietet die Möglichkeit der Vergewisserung, daß das menschliche Herstellen und Handeln immer auf das bereits Gegebene, in letzter Instanz Unverfügbare bezogen ist: Das Land muß da sein, damit ein Acker daraus gemacht werden kann. Alle Kultur impliziert unabdingbar ein Naturverhältnis, das mit zunehmender kultureller Differenzierung jedoch nicht allein schlechthin vorausgesetzt ist, sondern reflexiv eingeholt werden kann. Wem diese Einsichten selbstverständlich sind, der braucht sich mit ihnen nicht lange aufzuhalten und hat um so bessere Voraussetzungen für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den

Im Blick auf die damit als konstitutiv zur Geltung gebrachte Vielfalt der Gestaltungsebenen ist auch die auf die Trennung zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften bezogene Rede von den zwei Kulturen immer schon überholt; siehe Charles P. Snow, Die zwei Kulturen (1959), in: H. Kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, München 1987. Es ist aussichtsreich, die damit gemeinte Kultur durch den Begriff des Geistes als „vieldimensionale[n| Gestaltungsprozeß im Zwischenreich der Symbolismen" bzw. als „Interaktionsgeschehen zwischen dem Bewußtsein und den (bewußtseinstranszendenten) Symbolismen" näher zu bestimmen; so Oswald Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997, 32; 68. Wenn wir dies nach einer längeren Zeit des ideologiekritischen Verdachtes gegen jegliche Anthropologie für erinnerungswürdig halten, so ist damit noch keine Nötigung zu einer bestimmten Anthropologie präjudiziert. Überfällig scheint mir neben der verspäteten Aufnahme von Cassirers Beitrag auch die Auseinandersetzung mit Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. von Günter Dux, Odo Marquardt und Elisabeth Ströker, Frankfurt/M. 1981; siehe Hans-Peter Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bandl: Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin 1999; Band II: Der dritte Weg philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001; ders., Das Spiel zwischen Leibsein und Körperhaben Plessners Philosophische Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2/2000, 289-317. -

Kultur als Problem

23

Problemen der Kultur. Es ist immerhin zu konzedieren, daß sie gelegentlich in Vergessenheit zu geraten drohen. Zu den konstitutiven Schwierigkeiten mit dem Kulturbegriff gehört aber auch die Differenz von Kultur und Gesellschaft. Dabei hat die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft im menschlichen Selbstverständnis die gleiche Funktion wie jene von Natur und Kultur: Gemeint ist in beiden Fällen der Charakter der Prägung durch die eigene und ihre eigene Sphäre begründende Gattungsaktivität, die im Vergleich mit dem bloß Vorgefundenen, Naturbelassenen den Aspekt des Artifiziellen hat. Innerhalb des großen Funktionszusammenhanges, in dem eins ins andere greift, bezeichnen die Aspekte der gesellschaftlichen und der kulturellen Tätigkeit eine perspektivische und funktional bestimmte Unterscheidung. Im Blick auf die Rolle der Arbeitsteilung kann man sich klarmachen, daß es Gesellschaft ohne Kultur und Kultur ohne Gesellschaft nicht geben kann. Doch auf der Basis der gemeinsamen Abgrenzung von der Natur (physis thesis) kommt hierin mit einer handlungstheoretischen Gleichursprünglichkeit zugleich eine Differenzierung zum Tragen: Die Gesellschaft bezeichnet den Aspekt der freien Vereinigung zur gemeinsamen Bewältigung des Lebens und damit den vollzugsorientierten kommunikativen Charakter der Schaffung eigener Verhältnisse, die Kultur den Aspekt der Hervorbringungen, der objektiven Leistungen der Werke, die aus dieser kollektiven Lebensbewältigung hervorgehen. Gemeint ist die Aristotelische Unterscheidung zwischen praxis und poiesis, von auf gemeinsame Lebensführung bezogenem Handeln und produktbezogenem Herstellen. Das Augenmerk ist nach diesen ersten Vergewisserungen zu Begriff und Sache der Kultur hier jedoch auf eine weitere Eigentümlichkeit zu richten, die ebenfalls zum Vorbehalt gegen die theoretische Erschließung der Kultur beiträgt und die sich unmittelbar aus deren Ursprung im tätigen Selbstbezug des Menschen ergibt. Gemeint ist jene andere, oft beanstandete handlungstheoretisch-praktische Unscharfe des Kulturbegriffs, die sich in der Unmöglichkeit bemerkbar macht, die Theorie der Kultur als rein deskriptives Unternehmen ohne Einmischung evaluativer und normativer Besetzungen zu betreiben. Es ist davon auszugehen, daß für das Selbstverständnis des Menschen normative Ansprüche konstitutiv sind. In dem gleichen Sinn, in dem wir in generalisierender Perspektive nicht sagen können, was wir sind, ohne dabei über das zu sprechen, was wir sein wollen und sein sollen, gehört es auch zu unserem Begriff von Kultur, daß diese -

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Siehe die eingehendere Darstellung in Birgit Recki, „Kulturphilosophie/Kultur", in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Band 2, Hamburg 1999, 1093-1102. Siehe Birgit Recki, Art. „Werk", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004. Siehe Hannah Arendt, Vita activa oder Vom

tätigen Leben, München

1981.

Eine Kritik der Kultur

24

nicht gleichgültig sein kann. Die Maxime der konsequenten Denkungsart vorausgesetzt, können wir sie nicht beschreiben, ohne uns zugleich grundsätzlich affirmativ zu ihrem Bestand zu verhalten. Daß wir sie im einzelnen unter Umständen heftig kritisieren, stellt keinen Widerspruch zu dieser Affirmation im Ganzen dar, sondern setzt sie voraus und bestätigt sie: Nur wo der Aspekt des Seinsollens insgesamt außer Frage steht, besteht überhaupt die Verbindlichkeit, auf Grund derer sich jeder einzelne seiner Aspekte ernsthaft unter dem Gesichtspunkt des So-oder-anders-sein-Sollens betrachten läßt. Wenn wir nach Beispielen für diese normative Besetzung der Kultur suchen, so werden wir sie in der glücklichen Identifikation ebenso häufig finden wie in der scheiternden oder verwehrten: Wir haben die Möglichkeit, stolz zu sein auf Errungenschaften der Menschheit als solche, ganz gleich ob diese historisch und regional aus dem antiken Griechenland oder aus der Neuen Welt kommen. Umgekehrt empfinden wir Scham und Empörung, die beiden wichtigsten Gefühle der moralischen Abgrenzung, angesichts großer Roheiten, Gemeinheiten und Verbrechen, die unter den Bedingungen der Kultur möglich sind ja, wir bekunden überdies unser intuitives Vertrauen in deren historischen Fortschritt durch die Entgeisterung darüber, daß „dies" in einer hochentwickelten Kultur noch möglich ist. Und ein Beispiel, dem im Negativen besonderer Aufschlußwert zukommt: Selbst angesichts solcher Zerstörung menschlicher Werke, die durch Naturkatastrophen bedingt ist, verspüren wir in unserer Hilflosigkeit das Bedürfnis, irgendwem einen Vorwurf zu machen. Wir können die sinnlose Zerstörung menschlicher Lebenszusammenhänge und Leistungen noch nicht einmal dort als einfache Tatsache hinnehmen, wo niemand dafür verantwortlich zu machen ist. Daß das Erdbeben von Lissabon 1755 für die Aufklärer in Europa zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Möglichkeit einer Theodizee geführt hat,14 markiert von daher etwas, das womöglich auf lange Sicht viel wichtiger ist als die Verwerfungen im theologisch orientierten Bewußtsein. Es markiert wie die anderen Beispiele, daß Kultur keine bloße Tatsache ist, die sich im Blick gleichsam von außen notieren ließe. Jedenfalls ist sie es nicht für uns, um deren Sache es geht, wenn von Kultur die Rede ist. Kultur ist von vornherein evaluativ und von daher auch mit normativem Anspruch besetzt. uns

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14

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Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, 57 ff. Vgl. The Lisbon earthquake of 1755 British accounts, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Judite Nozes, Lissabon 1990; Wolfgang Breidert (Hg.), Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994; Susan Neiman, Evil in Modern Thought. An Alternative History of Philosophy, -

Princeton 2002. Georg Simmel hat für den Charakter emphatischer Bewertung, für den normativen Sinn des Kulturbegriffs ein einfaches anschauliches Beispiel gegeben, um zu illustrieren, daß die Struktur der Zwecktätigkeit menschlicher Handlungen allein den spezifischen Sinn kultureller Leistungen

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Kultur als Problem

Weil es für uns als kulturellen Wesen keinen kulturfreien Aspekt gibt, teilt sich ihr, sie zum Gegenstand unserer Betrachtung wird, ebender Anspruch mit, den wir in unserem Selbstverständnis vorfinden. Kultur ist damit keine bloße Tatsache, sondern zugleich eine Idee, genauer eine Idee der praktischen Vernunft. Auf dieser durch das Medium des praktischen Selbstbewußtseins bedingten ethischen Affinität der Kultur beruht es auch, daß das methodische Kernproblem aller Moral, das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit, sich in der Beziehung des Menschen zur Kultur als seiner Lebenswelt geradezu exemplifiziert in einer Beziehung, die sich immer nur in der Spannung zwischen dem Bewußtsein des Eigenen und des Fremden austragen läßt. Von daher ist eine aktuell naheliegende Verwechslung zu vermeiden: Die in der Auseinandersetzung mit der Pluralität der Kulturen gewonnene Einsicht in deren prinzipielle Gleichwertigkeit ist nicht zu identifizieren mit einer rein deskriptiven Einstellung zum Faktum der Kultur als solchem. Kultur ist, indem sie das grundlegende Element der Entfaltung der menschlichen Natur ist, das poietische Medium der Erhaltung, Gestaltung und Steigerung des Lebens, und sie ist ebendarin das Medium der Realisierung von Ansprüchen, die nicht aufgehen in der Partikularität des im einzelnen Bezweckten sondern sich auf die Verfassung des Ganzen und unsere Stellung in und zu ihm erstrecken. Da Kultur die tätige Selbstauslegung des Menschen ist, für dessen Selbstverständnis normative Ansprüche konstitutiv sind, projizieren wir den evaluativnormativeri Charakter des humanen Selbstverständnisses unweigerlich auf das Kulturverständnis. Wenn philosophische Theorien sich von einzelwissenschaftlichen darin unterscheiden, daß in ihnen das Subjekt des Nachdenkens immer auch sein Verhältnis zum Gegenstand und dessen wie die eigene Stellung im Ganzen reflektiert, ist die Frage, wie eine wertneutrale philosophische Theorie der Kultur möglich sein sollte und ob sie wünschenswert wäre. Es hat daraufhin ganz den Anschein, daß wir in einem philosophischen Begriff der Kultur, welcher deren Bindung an das praktische Selbstverständnis angemessen artikulieren wollte, beständig gegen eines der bestgehüteten Dogmen der neuzeitlichen Ethik verstoßen müßten: gegen das Verbot des Fehlschlusses, daß das, wo

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noch nicht trifft: Wenn ein Junge dem anderen ein Bein stellt und ihn zum Stolpern bringt, dann erfüllt dieser Vorgang zwar den Begriff einer zweckgerichteten Tätigkeit: einer Handlung; doch wir haben Schwierigkeiten, diese Handlung als einen Beitrag zur Kultur zu subsumieren (vgl. Georg Simmel, Vom Wesen der Kultur (1908), in: ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarete Susman hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, 87). Simmel bringt auf diese Weise das poietische Moment, das produktiv auf den Werkcharakter ausgerichtete Moment des Handelns, zur Geltung, und er hat im selben Zuge alles Destruktive aus dem Begriff der Kultur verwiesen. Daß dies nicht das letzte Wort seiner kulturphilosophischen Position sein kann, macht das später entwickelte Theorem von der Tragödie der Kultur deutlich; siehe Teil C, Kap. III.

Eine Kritik der Kultur

26

was ist, auch sein soll. Zum Glück ist dieser Verstoß einigermaßen harmlos, weil er sich bereits auf der reflektierten Ebene des Selbstverhältnisses abspielt weil sich mit anderen Worten die implizite Stellungnahme für das Seinsollen nicht auf naturales Sein, sondern auf bereits vermittelte, „zweite" Natur als eine solche Wirklichkeit bezieht, in die der Anspruch des Sollens als wesentliche Seinsbedingung schon eingegangen ist. Die These, die damit mehr als nur angedeutet ist, lautet: Evaluative und normative Elemente in Begriff und Theorie der Kultur sind kein Defekt der Theoriebildung, sondern unvermeidbar; sie ergeben sich aus der konstitutiven Projektion unseres im wesentlichen poietisch-praktischen Selbstverständnisses auf die Kultur als das Medium unserer poietisch-praktischen Selbstauslegung. Auf die Kultur als das Medium dessen, was wir aus uns machen, fällt damit die Frage, die wir immer stellen, wenn wir etwas machen: die Frage nach dem Wert und den Regeln unseres Handelns. Wir haben es somit in der Kultur stets mit unserem eigenen, immer auch normativ besetzten Selbstbegriff zu tun haben, in dem unser Freiheitsverständnis und der damit verbundene Verantwortungscharakter impliziert ist. Die sich daraus ableitende Praktizität der Stellungnahme innerhalb unserer Theorien von uns selbst loswerden zu wollen, kann nur zur ideologischen Zurichtung unserer theoretischen Begriffe führen. Wohl aber läßt sie sich als solche theoretisch einholen und steht zur Disposition der begrifflichen Differenzierung, die ihrerseits ein Element der praktischen Einstellung sein kann. -

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2. Probleme mit der Kultur und Rousseauismus

Opposition gegen den

Die moderne Kulturphilosophie hat ihren Ursprung in der Kulturkritik als einer Kritik an der Entfremdung und Enteignung der ursprünglichen Natur des Menschen, und der Argwohn gegen das Eigentum ist von Anfang an ihr Element.

„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bür-

gerlichen Gesellschaft." markante wie theoretisch anspruchsvolle Wort stammt aus der Feder eines der radikalsten und inkonsequentesten Gegner der bürgerlichen Gesellschaft, den wir kennen: Es stammt von Jean-Jacques Rousseau. Es ist der erste Satz des zweiten Teils Dieses

so

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Eingehendere historische Darstellung und systematische Konsequenzen dieses Gedankens siehe in Birgit Recki, Die Idee der Kultur. Über praktisches Selbstverständnis im Kontext, in: XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, 2002, Bonn (Vorträge und Kolloquien), hg. von Wolfram Hogrebe und Jochen Bromand, Berlin 2003.

Kultur

als

27

Problem

im Discours über die Ungleichheit zwischen den Menschen von 1755. Wir kennen keinen erbitterteren Kritiker der Kultur als Rousseau, der in seinem Degout an den verselbständigten Herrschaftsformen der aristokratischen Gesellschaft und an der perfiden Doppelbödigkeit der überfeinerten mondänen Lebensformen im vorrevolutionären Frankreich an einigen Stellen seines Werkes so weit geht, die ganze Kultur am liebsten über den Haufen werfen zu wollen. Wenn das nur ginge. Wie wir wissen, konnte der Theoretiker, in dessen radikaler Kritik die moderne Philosophie der Kultur ihren Ursprung nimmt, auch das theoretische Versprechen des zitierten Satzes nicht einlösen. Es gelingt ihm im Zuge seiner fundamentalistisch moralisierenden Kulturkritik schon nicht, den Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft in der ersten Landnahme wirklich zu begründen, sondern er kann sich in seiner idealtypisierenden Genealogie letztlich nicht entscheiden, ob wir deren Wurzel im Privateigentum zu sehen haben oder in der Arbeitsteilung oder in der gesellschaftlichen Dynamik der wechselseitigen Anerkennung, durch die der Gegensatz von Sein und Schein in die ursprüngliche Einfalt der Welt einbricht. Diese Unsicherheit hat jedoch etwas sehr Redliches und Sachhaltiges, denn wir haben in der Tat Grund zu der Annahme, daß Kultur von Anfang an komplex ist und sich selbst in der stark vereinfachenden Perspektive der Ursprungsfrage nicht auf einen einzigen Faktor zurückführen läßt. Rousseau hat denn auch ein deutliches Bewußtsein von dem prekären Charakter seines Unternehmens. Ebenso wie er weiß, daß der suggestiv beschworene Naturzustand des Menschen eine Konstruktion ist, die er sich ausdrücklich zum Zweck der Kritik zurechtmacht, ebenso wie er in dem Wurzelgeflecht der Kultur letztlich nicht überzeugend den einen Ursprungsfaktor namhaft machen kann, ebenso schreckt er dann auch zurück vor der Konsequenz, die kritische Zeitgenossen aus seiner Kulturkritik sofort he20 rausgelesen haben: Es gibt für uns theoretisch wie praktisch keinen Weg, an den natürlichen Zustand des Menschen heranzukommen. Wir haben es immer schon mit kultivierter Natur zu tun. Weil wir uns aber nicht abschaffen können, kann es nach seiner Einsicht auch jenes Zurück zur Natur nicht geben, das seine Leser ihm nicht ganz ohne Anhaltspunkte in den Mund gelegt haben. Was es im günstigen Fall geben kann, -

-

Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung unter den

über den

Menschen, in: Schriften, Bd. 1, hg.

Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit Henning Ritter, Frankfurt/M. 1988, 165-302,

von

Zitat: 230. Dieses Leitmotiv der Gesellschafts- und Kulturkritik Rousseaus betont zu Recht Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt/M. 1993, 12 ff; 39 ff. Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit, a.a.O., 191-194. Exemplarisch die Reaktion Voltaires, der nach der Lektüre in maliziös ausgespieltem Widerwillen äußert: „Man bekommt Lust, auf allen vieren zu kriechen!" Siehe Rousseaus Reflexion auf diese und ähnliche Reaktionen im 2. Discours Über den Ursprung der Ungleichheit, a.a.O., 28 Iff. -

Eine Kritik der Kultur

28

sind solche Formen der Vermittlung, in denen sich etwas von dem verwirklichen läßt, was für uns kulturelle Menschen die Idee der Natur repräsentiert: Lebendigkeit, Ur21 sprünglichkeit, Einfachheit, Selbstgenügsamkeit, Transparenz, Freiheit und Güte. Und so finden wir unseren Autor schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines zweiten Discours, wie er seinen Tribut zahlt an die Einsicht in die Unhintergehbarkeit der gesellschaftlichen und damit der kulturellen Existenz. Wir finden ihn bei der Arbeit an einer tragfähigen Begründung der Gesellschaft, bei der Begründung einer vertragstheoretischen Legitimation politischer Herrschaft und einer Gesellschaft, die dem einzelnen seine Freiheit und seine Gleichheit mit allen anderen läßt, während sie zugleich sein Leben und sein Eigentum schützt. Den Tribut dieser Konzessionen zu zahlen, wird ihm allerdings sauer. Immer wieder können wir in den folgenden Jahrzehnten beobachten, daß er im Grunde bei dem tiefen Verdacht gegen alle kulturelle Vermittlung und Verfeinerung bleibt, an den die Rousseauismen bis in unsere Tage denn auch im22 mer wieder auf tragische Weise anzuknüpfen suchen. Lassen wir die Frage auf sich beruhen, wieviel Anhaltspunkt die rousseauistische Konsequenz im Werk Rousseaus wirklich findet. Halten wir uns an besser gesicherte Einsichten. Eine davon soll im folgenden dargestellt werden: Es dürfte schwerlich irgendwo eine entschiedenere, eine besser begründete und gründlichere kulturphilosophische Gegenposition zum Rousseauismus zu finden sein als in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Cassirer, der in mehreren sehr lesenswerten, von kenntnisreichem und konstruktivem Verständnis zeugenden Essays in Rousseau vor al23 lern den Moral- und Rechtsphilosophen stark gemacht hat, hat dabei die Idealgegnerschaft seines Ansatzes im Blick auf das grundlegende Kulturverständnis auch selbst offenbar immer mitreflektiert. So haben wir etwa den Bericht von einem Abend im Hamburger Institut für Umweltforschung in den späten zwanziger Jahren, an dem der -

So zieht sich seit dem 1. Discours von 1750 bis in die Schrift Über den Gesellschaftsvertrag und in den Erziehungsroman Emile (1762) wie ein roter Faden der differenzierenden Kulturkritik die Gegenüberstellung .Sparta gegen Athen'. In derselben Absicht hält Rousseau auch immer wieder die schlichte und sittliche Lebensform der zeitgenössischen Landbevölkerung dem verderbten Lebenswandel der Großstädter entgegen; so etwa das Lob der Walliser in der Neuen Heloise, das leuchtende Beispiel der bastelnden Bergbewohner bei Neufchâtel im Brief an d'Alembert über das Schauspiel (Jean-Jacques Rousseau, Schriften, Bd. 1, hg. von Henning Ritter, a.a.O., 333-474, hier: 394ff), dort auch die Apotheose der ländlich-sittlichen Volksfeste unter freiem Himmel, bei deren Schilderung wiederum die Vorstellung der „Feste Lakedämoniens" das Modell 22 23

abgeben (462^t74). Für eine emphatische Würdigung siehe Dieter Sturma, Jean-Jacques Rousseau, München 2001. Ernst Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau (1932), in: ders., Robert Damton, Jean Starobinski, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt/M. 1989; siehe auch die Aufsätze über Kant und Rousseau (1939) und über Rousseau (1939) in: ders., Rousseau, Kant, Goethe, hg. von Rainer Bast, Hamburg 1991.

29

Kultur als Problem

Leiter des Instituts, der Verhaltensbiologe Jakob von Uexküll einen Vortrag über „Das Duftfeld des Hundes" gehalten hatte. Das Thema des Beitrags war die Markierung des Reviers durch Duftmarken, und Uexküll legte dar, wie alles innerhalb seines Duftfeldes gleichsam zum Eigentum des Hundes wird. Cassirer, dem der Vortrag wichtige Einsichten vermittelt hatte, eröffnete die Diskussion mit der Bemerkung: „Rousseau hat gesagt, den man

erschlagen

genügt

ersten

Menschen, der einen Zaun zog und sagte, das ist mein, hätte wir, daß das nicht

müssen. Nach dem Vortrag von Professor v. Uexküll wissen 24 hätte. Man hätte den ersten Hund erschlagen müssen."

Zitiert nach John Michael Krois, Ernst Cassirer 1874-1945, in: Wissenschaftler. Ernst Cassirer, Bruno Snell, Siegfried Landshut,

Hamburgische Lebensbilder. Hamburg 1994, 23.

Die

II. Ernst Cassirers Philosophie der Kultur: Der symboltheoretische Ansatz

1.

Repräsentation: Ein weiter Begriff des Symbolischen

Wir merken gleich: Hier spricht nicht nur ein Mann mit Sinn für Ironie hier spricht auch ein Theoretiker in anthropologischer Perspektive. Aber nicht nur diese markante Anekdote, sondern vor allem die durch das gesamte Werk immer wieder erneuerte Reflexion auf die Unhintergehbarkeit und auf die immer nur in hilflosen Hilfskonstruktionen überhaupt ermeßbare Leistung der Kultur, macht deutlich, daß es nach Cassirers -

Einsicht die nackte und bloße Natürlichkeit, die Unmittelbarkeit, die Freiheit von aller Vermittlung, auf die es der Rousseauismus seit Rousseau immer wieder sehnsüchtig abgesehen hat, schlechterdings nicht geben kann. Und daß sie hier liegt der entscheidende Punkt des Gegensatzes gegen Rousseau und seine Erben auch in keiner denkbaren Hinsicht wünschenswert wäre. Denn Freiheit vorausgesetzt wir verstehen unter dem Begriff das, was wir normalerweise darunter verstehen kann es nach Cassirers Einsicht gerade nur in der Vermittlung geben; nur die Vermittlung durch alle möglichen Formen der vergegenständlichenden Aneignung gewährt uns mit der Distanz von den Zusammenhängen, in denen wir sind, zugleich die Verfügung, ohne die ein Spielraum der Reflexion und damit ein Handlungsspielraum nicht möglich wäre. Ohne Kultur wären wir keineswegs frei, sondern wir wären nichts: nichts, womit wir etwas anfangen könnten nichts, das uns irgendetwas bedeuten könnte. Damit ist die Pointe dieser Kulturphilosophie, die sich selbst als eine bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen auslegt, zunächst ganz bewußt in ein Paradox gefaßt. Das bedarf der Erläuterung. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine symboltheoretisch ausgelegte Fundamentalanthropologie gegeben. Der Mensch hat seine Wirklichkeit in der Kultur als der Sphäre werkhafter Objektivationen aller Art. Der ontologische Status dieser Werke ist angemessen nicht durch ihren dinglichen Charakter zu bestimmen, sondern allein durch die in ihnen realisierte Bedeutung. In ihrer Realisierung wirken poiesis und praxis in fließendem Übergang zusammen: Durch sie machen wir uns unsere Welt, in-

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31

Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

selbst machen. Diese Konzeption stellt darin eine Erweiterung Bewußtseinsphilosophie dar, daß sie die kategoriale Erzeugung der Gegenstände unserer Erfahrung als integrales Element der Kultur und diese nach dem als Universum vielfältiger selbsterzeugter VerMuster der kategorialen Erzeugung mittlungen, als System der Repräsentation thematisiert. Im Rahmen der Frage nach dem Repräsentationalismus idealistischer Systementwürfe darf die Theorie Ernst Cassirers insofern als exemplarisch gelten, als dieser mit den Mitteln einer symboltheoretischen Fundierung hier zu einer seiner radikalsten und konsequentesten Formen gebracht worden ist. Exemplarischen Aufschlußwert dürfte dabei aber auch der Nachweis haben, daß in dieser bis ins letzte als System der Repräsentation ausgelegten Bewußtseinsphilosophie das Bewußtsein allein mit dem äußeren Gegenhalt seiner Gestaltungen begreifbar ist, die Funktion der Repräsentation mithin immer schon auf das andere des Bewußtseins zu beziehen ist. Nach Cassirers tragender Einsicht ist die Kultur, die in der Reflexivität des menschlichen Bewußtseins gründet, alles, was wir, so wie wir nun einmal sind, überhaupt haben können; sie ist die ganze Wirklichkeit des Menschen. Denn der Mensch ist das Wesen, für das alles von der einfachen Wahrnehmung bis zu den höchstentwickelten Werken mit in letzter Instanz selbsterzeugtem Sinn verbunden ist: Der Mensch ist das animal symbolicum, das symbolmächtige Wesen. Und „Kultur" meint nichts anderes als den Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch Symbolisie-

dem wir etwas

aus uns

idealistischer

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rung. In diesem Verständnis schon sind zwei auffällige und bemerkenswerte Eigenheiten enthalten: Cassirer vertritt in erklärter Absicht einen denkbar weiten Begriff von Symbolisierung und von dem, was ein Symbol ist; und er kann eben darauf einen aufs Grundsätzliche und aufs Ganze gehenden, weiten Begriff von der Kultur gründen. Die Beschränkung des Kulturbegriffs auf das, was in den Konzertsälen, in den Museen und Galerien, auf den Bühnen, in den Hochschulen, zwischen Buchdeckeln und in den Feuilletons stattfindet, mit anderen Worten: die Beschränkung des Kulturbegriffs auf die Spitzenprodukte der Hochkultur findet in diesem theoretischen Ansatz keinen Rückhalt sie könnte allenfalls als methodische Konzentration auf exemplarische Fälle von Kultur gerechtfertigt werden. Und diese Weite des Kulturbegriffs, die alles umfaßt, was der Mensch im Laufe seiner Geschichte aus den vorgefundenen Verhältnissen und aus sich selbst macht, hat ihre methodische Grundlage in der Weite des Symbolbegriffs. Im Unterschied zu einem spezifischen Begriff des Symbolischen im Sinne etwa der metaphorischen Sprachfunktion legt Cassirer Wert darauf, „ein [...] [allgemeineres" -

Ernst Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of human Culture (1944); zitiert nach der deutschen Übersetzung Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (im folgenden zitiert als „VM"), Frankfurt/M. 1990, 51.

Eine Kritik der Kultur

32

Verständnis zugrundezulegen, nämlich „den Ausdruck eines .Geistigen' durch sinnliche ,Zeichen' und ,Bilder', in seiner weitesten Bedeutung". Symbolisierung faßt er ganz generell als die Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem (vgl. 80 f.), das Symbol ist der Ort (und der Akt) dieser Vermittlung, die sich in den unterschiedlichsten Materialien oder Medien abspielen kann in artikuliertem Laut, in Bildern, in materiellen Dingen, in Ritualen, Zeremonien und Techniken, überhaupt in Handlungen aller Art, in Institutionen, in Formeln. Symbolisierung ist damit nichts Seltenes und Spezielles, das in abgehobenen Bereichen hier und dort einmal stattfände. Sie ist vielmehr die durchgängige Vermittlung unserer Welt. Was auch immer wir mit Sinn und Verstand tun, wir bewegen uns in Symbolen. Nach Cassirers Grundsatzerklärung kann dieser weite Symbolbegriff zu einem „systematischen Zentrum" werden, „auf das alle Grunddisziplinen der Philosophie [...] in gleicher Weise hinzielen",' und nicht nur die Grunddisziplinen der Philosophie, so darf man ergänzen. Denn der Ansatz unterscheidet sich in diesem elementaren Symbolbegriff ganz entschieden von jedem spezifischen, z. B. kunsthistorischen oder literaturwissenschaftlichen Verständnis und ist gerade dadurch interdisziplinär für jedes spezifische Verständnis anschlußfähig. Wie weit der Begriff des Symbolischen in dieser Theorie gefaßt wird, das wird an einem Grenzpunkt jeder möglichen philosophischen Reflexion deutlich: Cassirer erklärt das Leib-Seele-Verhältnis zum aussagekräftigen Modell aller Symbolisierung: -

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„Das Verhältnis

von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert"

Als entscheidende Leistung der Symbolisierung darf man im Ausgang von diesem Modellfall jede Verkörperung ansprechen. Wenn wir zunächst sagen konnten, daß die Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem die Leistung des Symbols ist, dann können wir daraufhin ebenso gut formulieren: Der Begriff des Symbols meint die Verkörperung von Sinn:

Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921), in: ECW 16, 78. Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Symbol, Technik, Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois unter Mitwirkung von Josef M. Werle, Hamburg 1985,1. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13 (im folgenden zitiert als „PhsFIII"), 113. Zum Verständnis von Cassirers Theorie des Symbolischen siehe Graeser, Ernst Cassirer, a.a.O., 28-50 und 142-158. Treffend ist die Rede vom „Zeichen ohne Abbreviatur" bei Enno Rudolph, -

33

Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

Nimmt man hinzu, daß nach Cassirers Verständnis schon unser Bewußtsein symbolisch funktioniert,6 dann kann auch deutlicher werden, wie es zu verstehen ist, daß sich die symbolische Selbsttätigkeit des Menschen als des animal symbolicum von der elementaren Wahrnehmung bis zu den höchstentwickelten Werken durchhält. Schon alles sinnlich Wahrgenommene ist nach dieser Bestimmung „als ,sinnliches' Erlebnis immer schon Träger eines Sinnes" (PhsFIII, 228), das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen. Nehmen wir zur Veranschaulichung dieses generellen Anspruchs ein einfaches alltägliches Beispiel: Wer macht sich beim Aufschlagen einer Zeitung schon klar, daß er nichts anderes vor sich hat als eine bestimmte regelmäßige Verteilung von Druckerschwärze auf einem Blatt Papier? Für unsere sinnorientierte Wahrnehmung ist das Blatt auf der Stelle, ohne mühsame gedankliche Transferleistung, voller Information und nicht voller Druckerschwärze! Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll -

wahrgenommen. Cassirers Symbolbegriff und mit ihm sein ganzer Ansatz hätte demnach den grundlegenden Sinn, uns klarzumachen, daß für uns im Prinzip alles zum Träger von Bedeutung werden kann, ja eigentlich: werden muß. Wann immer etwas sinnlich Gegebenes durch die Verknüpfung mit einem „geistigen Bedeutungsgehalt" zum Zeichen wird, haben wir es bei dieser konkreten Einheit von Sinnlichem und Geistigem mit einem Symbol zu tun. Ein Symbol liegt demnach in jeder Art von „,Sinnerfüllung' des Sinnlichen" (PhsFIII, 105) in jeder Versinnlichung von Sinn. Auf diesem Symbolbegriff baut Cassirer seine Theorie der Kultur auf. Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen legt er in den zwanziger Jahren den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die sich nicht als eine spezielle BindestrichDisziplin, als die Theorie eines ganz besonderen Bereichs menschlicher Interessen (der Hochkultur) versteht, sondern als allgemeine philosophische Anthropologie. Cassirer -

Ernst Cassirer im Kontext.

Kulturphilosophie

zwischen

Metaphysik

und

Historismus, Tübingen

2003, 104 u.ö. Siehe die Ausführungen zur „natürlichen Symbolik" des Bewußtseins im Unterschied zur „künstlichen Symbolik" des äußeren Zeichengebrauchs in Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923), ECW 11 (im folgenden zitiert als „PhsFI"), 25-39; siehe Teil B, Kap. I, 3. Einige Interpreten legen eine Unterscheidung zwischen dem kulturphilosophischen und dem anthropologischen Teil des Werkes von Cassirer nahe, indem sie insbesondere mit Blick auf den Essay on Man von einer „anthropologischen Erweiterung der Kulturphilosophie" in seinem Spätwerk sprechen (so Paetzold, Ernst Cassirer Von Marburg nach New York, a.a.O., 191 ff.) bzw. von der „in seinem Essay on Man vollzogenen anthropologischen Revision seiner Kulturphilosophie" (so Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, a.a.O., 240). Im Blick auf die Sache findet die Annahme, daß erst der „späte [... | der anthropologische Cassirer" (ebd.) gewesen wäre, keinen -

-

Eine Kritik

34

der

Kultur

hat diesen grundsätzlichen Anspruch nirgends anschaulicher vorgetragen, als wenn er rückblickend sein Unternehmen in methodische Analogie zu jenem Gleichnis bringt, mit dem vor fast 2500 Jahren Piaton den Status seiner Politeia zu verdeutlichen sucht: Um das Wesen des Menschen zu verstehen, bedarf es der Übertragung in ein verdeutlichendes Medium. Wie der Staat nach Piaton der großgeschriebene und darin besser zu entziffernde Mensch ist,8 so ist es nach Cassirer die gesamte Kultur (VM, 103 f.). Wir müssen lernen, die Großbuchstaben der Kultur in ihren verschiedenen Bereichen zu lesen, wenn wir etwas über das Wesen des Menschen ermitteln wollen. Wir können nach diesem Ansatz nur dann überhaupt begreifen, was der Mensch ist, wenn wir an seinem Wirken nachvollziehen, was er tut. Und was der Mensch tut, wie er wirkt, wie er sich in verschiedenen Medien der Gestaltung auswirkt, läßt sich in allem als Symboltätigkeit begreifen, als Gestaltung und Verstehen von Bedeutung. Der Mensch ist das animal symbolicum. In diesem methodischen Ansatz ist aber auch schon eine wichtige theoretische Einsicht zur Geltung gebracht: Dieses Wesen des Menschen hat nichts Ominöses, es ist nichts Statisches, keine geheime Substanz, die wir da entdecken könnten das Wesen des Menschen ist vielmehr rein funktionell bestimmt. Es ist nichts anderes als das, was in den menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt: in allem, was der Mensch aus den vorgefundenen Verhältnissen und damit aus sich selbst macht. Und -

Anhalt. Der

Essay on Man ist geplant und durchgeführt als eine konzise Gesamtdarstellung seiner

der symbolischen Formen für das amerikanische Publikum; diese Philosophie der Kultur wird von ihrem Autor von Anfang an als eine Theorie der gesamten menschlichen Wirklichkeit begriffen, die auf die Frage, was der Mensch sei, keinen Rest neben der historischen und systematischen Darstellung seiner Kulturleistung gelten läßt. Unabhängig davon, wann das Projekt einer den ganzen Menschen erfassenden Theorie der Kultur zum erstenmal mit dem Ausdruck „Anthropologie" beschrieben und ausdrücklich auf die Frage „Was ist der Mensch?" bezogen wird, ist daher mit Ernst Wolfgang Orth und Oswald Schwemmer davon auszugehen, daß Cassirers Kulturphilosophie und Anthropologie als ein und dasselbe Projekt zu begreifen sind: „Für Cassirer ist die philosophische Anthropologie immer schon Kulturphilosophie, weil das, was den Menschen definiert nämlich sein Geist -, in der Gestaltung und Verwendung der kulturellen Symbolismen besteht." (Schwemmer, Ernst Cassirer, a.a.O., 31, Anm. 45) So schließt denn auch Cassirers „Fundierung des .Seins' im ,Tun' [...] eine anthropologische Grundaussage mit ein, nach der wir unsere geistige Identität erst in unserem wirkenden Handeln erreichen." (a.a.O., 28) Vgl. Ernst Wolfgang Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996, 73; 126; 173 f.; 197; 213; 225 ff. Nur wenn Kulturphilosophie als die bloße Bindestrich-Disziplin im von Cassirer abgelehnten Sinne des partikularen Kulturbegriffs begriffen werden soll, hätte die anthropologische Erweiterung oder Wende seiner Kulturphilosophie zur Anthropologie erst noch vollzogen werden

Philosophie

-

-

-

müssen.

Piaton, Politeia / Der Staat, in: Werke in acht von Günther Eigler, Darmstadt 1971, 368d.

Bänden. Griechisch und

Deutsch, Vierter Band, hg.

Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

35

ist somit auch etwas, das andauernd in Aktion und damit im Wandel begriffen ist. Insofern ist von vornherein klar, daß nach diesem Ansatz das anthropologische Erkenntnisinteresse der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Menschen nicht im Wege stehen muß.

es

2. Die Vielfalt der

symbolischen Formen

Mit diesem grundsätzlichen und ganz allgemeinen Ansatz wäre jedoch wenig gewonnen Verständnis der Komplexität und Differenzierung, in der uns die Kultur immer schon vorkommt, wenn ihm nicht von Anfang an auch ein Konzept der ganzen funktionalen Vielfalt kultureller Formen beigegeben wäre. Mit der inneren Einheit zugleich die Vielfalt der Kultur zu begreifen, ist aber der Anspruch, den sich Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen gestellt hat. Ihm geht es ebensosehr darum, daß sich die Bewußtseinstätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückführen läßt, sondern sich in einer Pluralität von Gestaltungsweisen auslegt wie um die Einsicht, daß diese Pluralität nicht in einer chaotischen und beliebigen Unendlichkeit, sondern in einem gegliederten, irgendwie systematischen Zusammenhang besteht. Kultur ist demnach niemals Monokultur, sondern prägt sich aus in einer Vielfalt von Gestaltungsbereichen, aber sie ist auch kein beliebig auftürmbares Aggregat, sondern ein System von Gestaltungsweisen. Daß das Wahrgenommene augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen wird, ist demnach die eine von zwei komplementären Einsichten: Ebenso wichtig ist, daß es auch immer schon in spezifischer Weise und das heißt auf verschiedene Weisen als sinnvoll wahrgenommen wird. Cassirer macht diesen Gedanken wiederholt an der Wahrnehmung eines Linienzuges deutlich. Dieselbe gleichmäßig geschwungene Linie kann, so führt Cassirer aus, eine „künstlerische Bedeutsamkeit" als ästhetisches Ornament haben, sie kann aber auch magisches Zeichen und damit „Träger einer mythisch-religiösen Bedeutung" sein, und sie kann schließlich ebensogut die graphische Darstellung für einen „rein logisch-begrifflichen Daß wir dieses Beispiel für das Argument der Vielfalt Strukturzusammenhang" von Sinnperspektiven verstanden haben, können wir uns klar machen, indem wir weitere Varianten ergänzen: Für den Soziologen kann die Linie die graphische Darstellung eines bestimmten Auf und Ab im Wahlverhalten der Bürger sein, für den kunsthistorisch Gebildeten die Hogarth'sche Schönheitslinie, für den reinen Ästhetiker, etwa eizum

-

geben.9

Cassirer, Das Symbolproblem, a.a.O., 6f.

Cassirer exemplifiziert mit dieser dreifachen Zuordnung der Linie auch zugleich sein Schema von Ausdruck, Darstellung und reiner Bedeutung drei symbolischen Funktionen, die nach seiner Option in allen Kulturformen durchlaufen werden -

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(9 ff).

Eine Kritik der Kultur

36

abstrakten Expressionisten wie Kandinsky, der Ausdruck eines Lebensgefühls, und vieles andere mehr. Je nach dem Bezugspunkt wird hier ein ganz unterschiedlicher Sinn wahrgenommen aber immer wird das Sinnliche sofort als sinnvoll wahrgenommen. Was man sich gerade an diesem Beispiel eines gleichbleibenden Wahrnehmungsgegenstandes und seiner Bestimmung in unterschiedlichen Sinnperspektiven besonders nachhaltig klarmachen kann, ist ein Gedanke, auf den Cassirer in seinem Verständnis des Menschen und seiner Kultur den allergrößten Wert legt: daß mit jeder solcher spezifischen Dimension der Wahrnehmung eine Aktivität, und zwar der Selektion und der Ordnung im Gegebenen, einhergehen muß eine gestaltende Aktivität des Bewußtseins. Auf diese Weise ist auch einzusehen, daß der Begriff der Symbolisierung von Grund auf und mit voller Absicht zwischen einer hermeneutischen und einer pragmatischen Konzeption schillert, also: zwischen dem Charakter des Verstehens von Vorgefundenem und des ursprünglich praktischen Hervorbringens. Kultur vollzieht sich in allen ihren Aspekten immer zugleich als Sinnverstehen und als Erzeugung von Sinn. Denn schon jedes Verstehen von Bedeutung ist in einem grundlegenden Sinn auch ihre Hervorbringung, so daß der Charakter der Hervorbringung und Gestaltung nach diesem Verständnis nicht allein der Produktion von Werken vorbehalten ist. Selbst die scheinbar bloße Reproduktion eines Zeichens hat „eine ursprüngliche und autonome Leistung nen

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-

Voraussetzung" (PhsFI, 21). Cassirer nennt die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, also solche, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet oder einer eigenständigen Methode gleichsam institutionalisieren, „symbolische Formen". Und er definiert: zur

„Unter einer .symbolischen Form' soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen Zeichen innerlich zugeeignet wird."

geknüpft

und die-

sem

Diese terminologische Prägung, die sich von unserem alltäglichen Sprachgebrauch ein Stück weit entfernt, verdient besondere Beachtung: Als symbolische Form wird nicht der einzelne Bedeutungsträger bezeichnet, also etwa das Kreuz, das Herz, der Anker an der Halskette. Wenn der Kunsthistoriker Erwin Panofsky in den zwanziger Jahren Cassirer ein Stückchen Seife schenkt und dazu forsch dichtet:

Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 79.

Wilhelm von Humboldt hatte in seiner der Kantischen Vernunftkritik ausgehenden Sprachphilosophie Wert darauf gelegt, daß die Sprache mehr als energeia denn als ergon zu begreifen sei mithin als eine lebendige Kraft, die sich im Prozeß verwirklicht. Im Begriff der geistigen Energie überträgt Cassirer einen der Grundbegriffe seines sprachphilosophischen Kronzeugen und damit sowohl die Einsicht in den Ursprung im Bewußtsein des Subjekts wie auch in den lebendigen Prozeßcharakter von der Sprache auf die gesamte Kultur (siehe PhsFI, IXf.; 98-106; siehe auch Ernst Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt (1932/33; im folgenden zitiert als „SAG"), in: ders., Symbol, -

von

-

Technik, Sprache, a.a.O., 121-151).

Ernst Cassirers Philosophie

der

37

Kultur

„Deines Geistes Reife Tat mir arg Beschmutztem Wohl Nimm, drum, diese Goetheseife teils als Form, teils als Symbol", dann ist das vielleicht ein ganz netter Witz, aber wir verstehen auch, wieso sich Cassirer geärgert hat. „Teils als Form, teils als Symbol": So kann man von symbolischen Formen, wenn man etwas von dem Begriff und dem Ansatz verstanden hat, nicht sprechen. Die symbolische Form ist die geistige Energie. Cassirer verbindet in diesem Begriff ausdrücklich zwei Momente: den tätigen Prozeß der Formung und sein gegenständliches Resultat. Er sagt: „Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der natura naturata' und der .natura naturans' geprägt hat, so muss die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der .forma formons' und der .forma formata' unterscheiden. Das beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus."

Das

Wechselspiel

zwischen

„Werden des Geistes und das Werden der Kultur" geschieht demnach im unabläs-

der forma formons durch die forma formata. Das Zusammenwirken der beiden Momente in ihrem Wechselspiel soll der Begriff der symbolischen Form ebenso zum Ausdruck bringen wie die Tatsache, daß sich diese Formierung von Wirklichkeit durch Symbolisierung in regelmäßigen Weisen vollzieht. Cassirer spricht auch von „Energien des Bildens",1' durch die es zur Symbolisierung kommt, und zwar: Jede Energie des Geistes". Wir entnehmen dieser Formulierung, daß es verschiedene geistige Energien gibt. Wieviele gibt es? Unzählig viele? Oder ein zählbares Bündel? Um eine mögliche Unscharfe an Cassirers Bestimmung ihre unbeabsichtigte Tendenz zu einer unendlichen Anzahl von unter Umständen singulären „symbolischen Formen" zu beheben, muß man eine Präzisierung hinzunehmen, die Cassirer erst spät explizit angebracht hat, die aber in seinem Ansatz von Anfang an wirksam ist: ,,[E]s ist ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können."14 Auf diese Weise konkretisiert sich das Verständnis, daß es sich nämlich bei den symbolischen

sigen Durchgang

-

-

Den Hinweis auf dieses Gedicht verdanke ich Karen Michels, Kunsthistorisches Seminar der Universität Hamburg, die dazu schreibt: „erzählt von Hugo Buchthal, wieder überliefert von John Krois, der es seinerseits von Yehuda Elkana hat, der eine entsprechende handschriftliche Notiz von Gombrich dazu besitzt. ,Gombrich schrieb das Gedicht auf aus dem Gedächtnis, als ihn Elkana einmal danach fragte.'" Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, in: Nachgelassene Manuskripte und Texte (im folgenden zitiert als ECN 1), 18. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 104. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1946), 2. Auflage, Zürich/München 1978, 49.

Eine Kritik der Kultur

38

Formen um regelmäßige, typische Weisen des Verstehens soll solche Weisen des Verstehens, durch die sich ein Kultur konstituiert.

Bedeutsamkeit handeln eigenständiger Bereich der

von

-

„Symbolische

Formen sind

nun

Typen menschlich-geistigen

also verschiedene

Weltverste-

hens, die sich je nach ,Medium' unterscheiden. Sie haben alle gemein, daß sie menschlicher Entwurf sind, daß ihnen die eine geistige Aktivität zugrunde liegt, die sich allerdings in verschiedenen Dimensionen manifestieren kann."

3. Die „Freiheit des geistigen Tuns": Kultur als Befreiung Beispiele symbolischer Formen meistens den Mythos (oder präziser: das mythische Denken), die Religion, die Sprache, die Kunst und die Wissenschaft und erläutert, daß sich in ihnen allen „das Grundphänomen" ausprägt, Er nennt als

unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durch-

„daß

dringt.

Konsequent

zur

ist in alledem der Kantische Gedanke der Kopernikain allen solchen Bereichen einer zu Werken verselbständigten

Geltung gebracht

nischen Wende: daß

uns

eigene Spontaneität,

Bedeutung

unsere

Wenn

aufmerksam liest,

man

so

wird

man

unsere

hier,

geistige Selbsttätigkeit entgegentritt.

an

einer der frühesten Stellen,

an

denen

Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a.a.O., 6. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 175; Hervorh. B.R. Der Aufsatz über Form und Technik (Ernst Cassirer, Form und Technik (1930), in: ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois unter Mitwirkung von Josef M. Werle, Hamburg 1985, 39-91) läßt zweifelsfrei erkennen, daß Cassirer auch die Technik, obwohl sie in den programmatischen Aufzählungen nicht vorkommt, als eine symbolische Form begreift; die Inhaltsgliederung des Essay on Man legt nahe, daß er später auch die Geschichte als symbolische Form begreifen will (siehe dazu affirmativ John Michael Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/London 1987; differenzierend Rainer A. Bast, Problem, Geschichte, Form. Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei -

Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000. Hänel kommt dagegen zu der Auffassung, daß Cassirer weder eine Geschichtsphilosophie hat noch die Geschichte als eine symbolische Form begreift: Michael Hänel, Ernst Cassirer: Geschichtsphilosophie und Kulturphilosophie (Vortrag Berlin 15.3.2003; unv. Ms.) Die Studie über Axel Hägerström (1939) läßt ein entsprechendes Verständnis des Rechtes erkennen, und für die Moral enthält die vorliegende Arbeit eine eingehendere Untersuchung der Möglichkeit, sie als symbolische Form zu begreifen; siehe Teil C, -

Kap. II, 4.

Ernst Cassirers Philosophie

der

39

Kultur

Cassirer seinen grundlegenden Terminus der symbolischen Form verwendet, aber auch schon das theoretische Leitmotiv dieser Philosophie der Kultur erkennen: Die symbolische Leistung ist auf die Freiheit, und zwar auf die Freiheit des tätigen Geistes, also des Bewußtseins bezogen: Cassirer spricht in diesem Sinn auch von der „freien Tätigkeit" des Bewußtseins, vom „Tun des Geistes" und vom „Grundprinzip freien Bildens" lauter Einschärfungen seines theoretischen Grundsatzes, daß das Verhältnis des Bewußtseins zum Äußeren in einer Aktivität, einer im weitesten Sinne gestaltenden Leistung besteht, daß das, was wir unsere Wirklichkeit nennen, sich bereits dieser Leistung verdankt und: daß dies immer eine Form der Freiheit ist. Darin ist auch die letzte Antauf die wort auf die Frage zu sehen, mit der Cassirer in seinem ganzen Werk ringt der Ein Einheit von Kultur. entscheiFrage des systematischen Zusammenhangs, also: dender Punkt bei der Einlösung des damit verbundenen Anspruchs ist zunächst einmal die prinzipielle Vorgabe, daß die Einheit der Kultur, die er damit behauptet, keine substantielle, sondern eine funktionale Einheit sei. Daran kann man sich klarmachen, wonach zu suchen ist: Nicht nach einem fixierbaren gemeinsamen Inhalt, der ein für allemal feststünde, sondern nach einem gemeinsamen formalen Vollzug, genauer: einer gemeinsamen Leistung denn so, als „Leistung im Kontext", darf man „Funktion" übersetzen. Und Cassirer spricht immer wieder aus, was sich bereits in der Rückführung aller Kultur, aller symbolischen Formung auf die Aktivität des Bewußtseins, auf das freie Bilden des Geistes ankündigt: Die gemeinsame Funktion aller symbolischen Formen, also: aller Kultur ist in der Befreiung zu sehen. Jede kulturelle Form verdankt sich, so Cassirer, einer „ursprüngliche^] Tat des Geistes": In allen äußert sich „die Freiheit des geistigen Tuns" (PhsFI, 41). Genauer sind die kulturellen Formen als Formen der Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck zu verstehen (PhsFI, 10), Formen der Befreiung von der Befangenheit im bloß Sinnlichen durch die geistige Aktivität und Produktivität der Sinngebung. Mit anderen Worten: Alle Kultur ist Form der Freiheit. Kultur ist der „Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen" (VM, 345). Die gesamte Kultur wird auf diese Weise als das vielgestaltige Projekt der menschlichen Selbstbestimmung ausgewiesen. Soviele Formen des menschlichen Sinns, soviele Formen der Freiheit und der Selbstverwirklichung. In diesem elementaren Bezug auf Freiheit ist sicher etwas Wesentliches über den Menschen auf den Begriff gebracht über den Menschen und seine Chance, mehr zu sein als bloß irgendein sterbliches Lebewesen. Zugleich wird die grundsätzliche Bewertung der gesamten menschlichen Kultur unverkennbar: Es ist gut, daß dies geschieht, sagt der Theoretiker indirekt. Hier, -

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17

A.a.O., 177.

Eine Kritik

40

der

Kultur

in der positiven Stellungnahme wird somit auch deutlich, daß bei Cassirer die gesamte Kultur Gegenstand einer ethischen Bewertung ist. Denjenigen, die an einer Philosophie der symbolischen Formen und überhaupt an einer Philosophie der Kultur beargwöhnen, sie hätte es ja stets nur mit den Vermittlungen, mit den artiflziellen Aspekten des Menschen zu tun und bekäme sein wahres Wesen, sein eigentliches Sein und die Unmittelbarkeit der Wirklichkeit nicht zu Gesicht, hält Cassirer mit großer Überzeugungskraft im ausdauernden Blick auf die Formen der Kultur, die er im einzelnen in ihrer Geschichte und in ihrer aktuellen Leistung untersucht, entgegen: Es ist ein zwar zarter und durchsichtiger, aber nichstdestoweniger ein unzerreißbarer Schleier, der uns durch die Aktivität unserer Symbolisierungen aller 19 Art umgibt. Hinter diese Aktivität können wir prinzipiell nicht zurück, ja wir können genaugenommen noch nicht einmal hinter sie zurückfragen, denn schon was sich da überhaupt finden ließe, bliebe stets nur zugänglich in sprachlich artikulierten Gedanken und damit in einer symbolischen Form. Das wahre Wesen des Menschen besteht denn auch nicht in irgendeiner nackten Natürlichkeit oder Ursprünglichkeit, sondern darin, daß er als sinnerzeugendes Wesen Kultur hat, und entsprechend ist unsere Wirklichkeit immer nur die, die wir uns in einem elementaren Sinne selber machen. In praktischer Perspektive ausgelegt, hat diese Einsicht sicher ihre zwei Seiten: Zum einen sehen wir uns im Großen und Ganzen ebenso wie im einzelnen unter einen nicht nachlassenden Anspruch gestellt, gleichsam einen strukturellen Leistungsdruck, den wir als konstitutiv zu begreifen haben. Der methodische Leitsatz aller Ethik ist auf diese Theorie der durchgängigen Produktivität menschlichen Lebens direkt anzuwenden: Hie Rhodos, hie salta. Dies hier ist unsere Kultur, und in ihren Formen vollzieht sich unser gesamtes sinnvolles Leben; also haben wir uns Mühe zu geben in dem, was wir ohnehin -

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-

Nach der Einschätzung von Habermas „war Cassirer der Meinung, daß die Philosophie der symbolischen Formen als solche einen moralisch-praktischen Gehalt hat, der die Ausarbeitung einer eigenständigen Ethik erübrigt. Aber diesen Gehalt gibt diese Philosophie erst preis,|...| wenn man dabei den Prozeß der Zivilisation zugleich humanistisch, nämlich als Bewegung der Zivilisierung versteht." (Jürgen Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg, in: ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt/M. 1997, 9^40, Zitat: 36 f.) Siehe in diesem Sinne bereits Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a.a.O., 23; 217; 222f. Unentschieden in dieser Frage ist Enno Rudolph. Zwar lobt er an Cassirer dessen „Stärke, den Kulturbegriff moralisch neutral zu halten" (Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, a.a.O., 262); dabei bleibt aber offen, was es dann heißen könnte, daß dieser eine „optimistische Variante des Kulturbegriffs" vertrete (259). Ich kann der Einschätzung von Orth und Habermas mit Blick auf die Textbefunde nur zustimmen; zur Frage nach Cassirers impliziter Ethik siehe eingehender in TeilC die Kapitel II, III und IV. Siehe PhsFI, 48f. -

-

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19

Ernst Cassirers Philosophie

der

Kultur

41

Sicher setzen wir uns mit einer solchen auf praktische Konsequenzen dränEinsicht unter Druck. genden Es gibt aber zum anderen wohl auf die lange Sicht eines vernünftigen Selbstverständnisses nichts Ermutigenderes und Motivierenderes als die Einsicht, daß einem nichts anderes übrigbleibt. Wer sollte uns die Bemühung um unser Leben, um unsere Kultur, um uns selbst denn auch abnehmen? Die Mühe müssen wir uns schon selbst machen, und in dem Maße, in dem wir dies einsehen, werden wir es auch tun. tun müssen.

4. Ein Urteil über Cassirer Über den Denker, dem wir den damit umrissenen, wohl umfassendsten Systementwurf dieses Jahrhunderts zu einer philosophischen Anthropologie verdanken, den Autor der

Philosophie

symbolischen Formen läßt sich kaum ein bezeichnenderes Fehlurteil denken, als jenes, das wir seit kurzem aus Adornos spitzer Feder kennen: Ernst Cassirer 20 wäre „völlig vertrottelt". Aus solch hämischer Abwertung dürfte vor allem der geschichtsphilosophische Vorder

behalt des radikalen Gesellschaftskritikers gegen den vermeintlich naiven Aufklärer und Transzendentalphilosophen sprechen. Aber in diesem Urteil kommt mehr zum Ausdruck. Was Adorno mit seinem ausgeprägten Stilempfinden vor allem innerviert, ist ein Zug im Denken und Schreiben des anderen, der an der schleppenden Rezeption von dessen Werk bis in die jüngste Gegenwart keinen geringen Anteil haben dürfte: Cassirer, der seinen eigenen systematischen Ansatz ganz und gar in die Auseinandersetzung mit der alteuropäischen Ideengeschichte einarbeitet, ist über weite Strecken ein langweiliger Autor. So hat er bereits zu Lebzeiten auf sein Publikum gewirkt. Am Ende der Davoser Disputation von 1929, jenes philosophischen Kampfes der Giganten zwischen zwei systematischen Denkern, die sich als Exponenten gleichsam der alten Welt und des Aufbruchs zu neuen Horizonten gegenübertreten, hat es ein studentisches Kabarett gegeben. Von dieser wenig sublimen Bewältigungsform des soeben Erlebten, in welcher der spätere Tugend-Bollnow die Rolle Martin Heideggers und der heute für seine feinfühlige ethische Rücksichtnahme im Angesicht des anderen gerühmte Levinas den Part Ernst Cassirers gespielt haben, gibt es verschiedene Kolportagen. Einer zufolge soll Levinas die Cassirer-Figur durch den Satz dargestellt haben: „Ich bin versöhnlich ge-

Brief an Max Horkheimer vom 13. Mai 1935, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 15: Briefwechsel 1913-1936, Frankfurt/M. 1995, 350. Erst seit kurzem kann man von einer Cassirer-Renaissance in Europa sprechen, wie Ferrari, La Cassirer-Renaissance, a.a.O.

42

Eine Kritik

der

Kultur

stimmt." Ein anderer Berichterstatter erinnert sich an die wiederholte Formel: „Humboldt Kultur. Humboldt Kultur",23 die ebenfalls Cassirer karikieren sollte. Beide Versionen sind höchst glaubwürdig. Sie stimmen in dem Detail überein, daß der Bühnen-Cassirer aus einer üppigen Mähne reichlich Mehl verstreut haben soll. Die angeborene Grauhaarigkeit aller bloßen Gelehrsamkeit, über die sich schon der jugendbewegte Friedrich Nietzsche in seiner Streitschrift für einen lebendigen Umgang mit der Vergangenheit beklagt hatte, schien den Jüngeren in Ernst Cassirer verkörpert. Die Studenten, die der Disputation gefolgt waren, standen ganz auf der Seite Heideggers mit seiner zeitgemäßen Radikalität; sie hatten Cassirer erlebt als einen, dem gleichsam schon der Kalk aus dem vorzeitig weißgewordenen Kopf zu rieseln drohte. Und es ist etwas daran. Der Gelehrte Cassirer verfügt über eine viel zu große historische Bildung, als daß er etwa in Originalität einen nennenswerten Zweck sehen könnte. Er setzt nicht auf Pointen, sondern auf Einsichten; er läßt sich lieber einen Effekt als eine historische Quelle entgehen und er ist nicht radikal, sondern konziliant. Seine Texte sind deshalb unzeitgemäß: Sie sind geformt durch den langen Atem eingehender Interpretation und gründlicher Auseinandersetzung. In der Methode macht sich so wie in der sachlichen Orientierung die Überzeugung von humanistischen Idealen geltend: Ernst Cassirer ist sich viel zu deutlich dessen bewußt, was wir an unserer Kultur haben und was wir mit ihr aufgeben würden, als daß er sie und sei es nur versuchsweise in den extremen Gedankenexperimenten einer fundamentalistischen Kritik oder wohl gar eines Aufbruchs im Zeichen von destruktiv vermittelter Ursprünglichkeit aufs Spiel setzen würde. Mit seinen intellektuellen Tugenden der Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit ist er prädestiniert zum umsichtigen Bewahrer der humanistischen Tradition. Das bringt es mit sich, daß die Lektüre seiner Texte auf ihre Weise ein ähnlich langwieriges Unternehmen ist wie die Forschungsarbeit, die in ihnen zur Darstellung kommt. Und doch ist seine Philosophie in den sachlichen Perspektiven weit davon entfernt, langweilig zu sein; sie gehört vielmehr zu den spannendsten Entwicklungen dieses Jahrhunderts, sie ist bei aller Solidität ihrer Fundamente, bei aller Umsicht und gediegenen Gelehrsamkeit herausfordernd gerade auch in ihren ungelösten Fragen, in ihren -

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So berichtet es Karlfried Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: Hans-Jürg Braun/ Helmuth Holzhey /Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, 300. Demselben Bericht zufolge hat Bollnow dem Objekt seiner Darstellung den Satz in den Mund gelegt: „Interpretari heißt eine Sache auf den Kopf stellen."

(ebd.) So erzählt es Jacob Taubes (Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, 141), dem es Emanuel Levinas erzählt hat. Es ist die „historische Bildung", die Nietzsche als „eine Art angeborener Grauhaarigkeit" bezeichnet, in: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: KSA 1, 243-334, aa. O., Zitat: 303.

43

Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

aufschlußreichen Brüchen und Lücken. Auf der Grundlage dieser Theorie, die dazu

getan ist, naueres

uns

sagen

offengelassen

an-

weniger verstehen zu lassen, haben wir gute Chancen, Gekönnen, wenn wir selbst dort weitermachen, wo Cassirer die Fragen

eher mehr als zu

hat.

25

5. Eine Handvoll offener Probleme anschlußfähig und vielversprechend dieser Ansatz im Grundsätzlichen ist, es sind systematische Probleme damit verbunden, unter denen das Fehlen einer methodisch abgesetzten Ethik nicht das geringste ist. Es sei hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf die auffälligsten hingewiesen. a) In der Philosophie der symbolischen Formen, die in drei Bänden 1923, 1925 und 1929 erschienen ist, nennt Cassirer als solche Formen menschlicher Kulturerzeugung ausdrücklich die Sprache, Mythos und Religion, die Wissenschaft und häufig, wenn er ihr auch keine eigene Abhandlung widmet, die Kunst. Wenn er 1944 im Essay on Man statt einer Übersetzung seines Hauptwerkes ins Englische eine konzise Gesamtdarstellung seiner Grundgedanken gibt, dann tritt die Kunst deutlicher als eine eigenständige Form der Deutung von Wirklichkeit hervor, und die Geschichte tritt neu hinzu. Es gibt einen Aufsatz, in dem Cassirer überdies auch die Technik als eine symbolische Form behandelt. Es stellt sich also, so kann man resümieren, im Gang dieser Theorie, in dem Cassirer den Begriff der Kultur im System der kulturellen Symbolismen zugleich systematisch und historisch-genealogisch entwickelt, heraus: Die Kultur besteht in den Bereichen der Sprache, des Mythos und der Religion, der Wissenschaft, der Kunst, der Geschichte, der Technik. Die Frage, die sich hier stellt: Wie kommt Cassirer an diese Systematik? Ist sie vollständig? Versteht sie sich von selbst? Läßt sich methodisch sicherstellen, daß dieser Kanon keine Zufallssammlung darstellt, die durch beliebige Neuerwerbungen ergänzt werden kann, sondern ein System? Gesetzt den Fall, wir seien darin einig, daß die genannten Formen es sind, die den Zusammenhang der Kultur ausSo

In den Arbeiten Susanne K. Langers ist, insbesondere in ihrer Ausdifferenzierung von Typen der Symbolisierung, der Versuch einer solchen Weiterführung zu sehen; siehe Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Hamburg 1965; Rolf Lachmann, Susanne K. Langer, München 2000. Nelson Goodmans pauschaler Bezug auf Cassirers Symboltheorie, der in den letzten Jahren gelegentlich erwähnt wird, kommt zwar als Beispiel für partielle Kompatibilität, nicht aber als systematische Weiterführung in Betracht; siehe Teil B, Kap. III, 1, 92 Anm. 13. Siehe TeilC, Kap. II bis IV. Ernst Cassirer, Form und Technik (1930), in: ders., Symbol, Technik, Sprache, a.a.O., 39-91. -

Eine Kritik der Kultur

44

machen, einschließlich derer, die wir in

unseren

Problematisierungen

erst

meinen,

an-

mahnen zu müssen also Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte, Technik als die von Cassirer genannten und vielleicht Moral und Recht noch dazu: Wie wüßten wir, daß es dabei auch bleibt oder umgekehrt, daß es noch zu weiteren Bildungen symbolischer Formen gekommen wäre? Können wir ausschließen oder müssen wir damit rechnen, daß das bekannte System der symbolischen Formen noch erweitert wird? Woran könnten wir erkennen, daß etwa vor unseren Augen eine neue symbolische Form im Entstehen begriffen ist? Das Problem läuft erkennbar auf eine einfachere Frage an Cassirers systematischen Ansatz hinaus: Woran erkennen wir überhaupt eine symbolische Form? Es ist auch zu fassen als das Problem der Grundlegung. Cassirer benennt zwar im spekulativen Blick die gemeinsame Funktion aller symbolischen Formen als die Befreiung vom sinnlichen Eindruck zum artikulierten sinnvollen Ausdruck, und er gibt im Begriff der symbolischen Prägnanz das Funktionsprinzip der symbolischen Formung an: Das Wahrgenommene muß als etwas, d. h. als bedeutsam realisiert werden. Doch er gibt nicht das Bildungsprinzip der symbolischen Formen an d.h., es gibt keinen Erklärungsansatz dazu, wie es zu einer symbolischen Form kommt. Daher besteht eine grundsätzliche Unsicherheit im Hinblick auf die kulturphilosophische Systematik. Und deshalb hat es auch immer wieder Irritationen in der Art von Adhoc-Behauptungen über neue symbolische Formen gegeben. Den berühmtesten Fall stellt Erwin Panofskys großer Essay über Die Perspektive als symbolische Form dar. Legt man hier 1. Panofskys Thema als die Zentralperspektive als Darstellungskonstrukt und 2. die oben zitierte Bestimmung Cassirers an, es sei ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie aufjeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können, dann wird augenblicklich klar, daß es sich nur um ein Mißverständnis handeln kann: Denn es gibt nach Cassirers Verständnis rein gedankliche Gegenstände, die sich als solche nicht zentralperspektivisch darstellen lassen. Das gleiche gilt etwa für die Vermutung, die DNA sei eine neue symbolische Form, und für die in einer Examensklausur geäußerte These, der Terrorismus sei eine symbolische Form. So absurd solche Behauptungen auch im einzelnen sein mögen, sie treffen einen dunklen Punkt in Cassirers Werk. Daß er selbst auch ohne Angabe einer Bildungsregel für symbolische Formen so treffsicher das Spektrum zusammenbekommt, liegt natürlich daran, daß er als Theoretiker die symbolischen Formen nicht erst erfinden muß, sondern sie in der Kultur, in der er lebt und Erfahrungen macht, bereits als ausdifferenziertes System vorfindet. In diesem schlichten Hinweis mag ein Argument zur Entlastung gesehen werden: Denn da die Philosophie kein Ort der Erfindung ist, sondern ein explikatives und rekonstruktives Unternehmen, in dem wir uns klar machen wollen, wie -

-

Erwin Panofsky, Die Perspektive als symbolische Form, in: von Fritz Saxl (Vorträge 1924-1925), Leipzig/Berlin 1927.

Vorträge der Bibliothek Warburg, hg.

Ernst Cassirers Philosophie

der

45

Kultur

was ist, und wir darin zu verstehen sind, sollte man vom Philosophen auch nicht erwarten, daß er sich in methodischer Hinsicht aufführt, als hätte er seine Gegenstände gleichsam erst zu erfinden. Daher dürfte es legitim sein, vom Vorhandenen auszugehen, es aus der Erfahrung aufzugreifen, zu explizieren und zu reflektieren. So könnte man versuchen, Cassirer gegen den Vorwurf der mangelnden prinzipiellen Grundlegung der Kulturformen zu verteidigen. Es bleibt aber zu erwägen, ob dieses Argument das letzte Wort haben kann. Es ist nicht nur legitim, sondern auch zu verlangen, daß die philosophische Reflexion an der Erfahrung ansetzt das heißt hier, bei den kulturellen Formen, die es gibt. Aber da es auch darum gehen muß, ihren Zusammen-

das,

-

hang zu rekonstruieren und auf das Ganze zu reflektieren, werden wir uns mit der intuitiv verfahrenden semi-empirischen Methode Cassirers in letzter Instanz nicht zufriedengeben können zumal er sie selbst als eine Transzendentalphilosophie, somit als -

Grundlegung

aus

apriorischen Prinzipien begreift.

b) Es dürfte diese methodische Schwierigkeit sein, an dem auch das Problem der Ortlosigkeit derjenigen Leistung hängt, die mit dieser Theorie erbracht wird: Die Philosophie begreift Cassirer nicht als eine symbolische Form. Dabei liegt der Gedanke, sie als eine solche zu fassen, deshalb nahe, weil wir, indem wir Philosophie treiben, be-

ständig Sinn in sinnvollen Gestalten hervorbringen. Indem wir über Probleme nachdenken, Fragen stellen, Antworten ausprobieren, Begriffe klären, Argumente erwägen, Begründungen geben, auf Zusammenhänge reflektieren, knüpfen wir einen geistigen Bedeutungsgehalt an konkrete sinnliche Zeichen. Wenn Cassirer die Philosophie nicht als symbolische Form behandelt: Übersieht er dann schlicht das Medium seiner eigenen Produktivität oder liegt darin eine bewußte Entscheidung, für die sich argumentieren ließe? Im Blick auf den Charakter philosophischer Werke haben wir vor allem zu sehen, daß sie stets sprachlich artikuliert sind; darüber hinaus, daß die Philosophie, sofern sie unter den akademischen Bedingungen als Studium und als professionelle Lehre und Forschung betrieben wird, eine Wissenschaft ist. Hier könnte bereits die Antwort liegen: Cassirer würde die Philosophie in der Wechselbezüglichkeit von Sprache und Wissenschaft verorten und insofern in ihr keine eigenständige symbolische Form sehen. Die Frage ist nur, ob dies überzeugen kann. In Frage steht nicht, daß die Philosophie eine Wissenschaft ist wohl aber, ob sie darin aufgeht. Wenn Cassirer in ihr „nicht nur -

-

eine bestimmte Art des Wissens von der Welt, sondern auch das Gewissen der mensch29 liehen Kultur" sieht, finden wir uns an die Kantische Bestimmung der Philosophie durch den Doppelcharakter von Wissenschaft und Weisheit erinnert.30 Wir hätten es Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt 1992, 27. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), Akademie-Ausgabe Bd. V, 163; ders., Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796), Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 421.

46

Eine Kritik der Kultur

demnach mit einer Wissenschaft zu tun, die in ihrem Anspruch auf moralische Orientierung zugleich über den bloßen Charakter einer Wissenschaft hinausgeht einer Wissenschaft, zu deren Kompetenz es ausdrücklich gehören soll, zu bewerten und durch Wertaussagen praktische Orientierung für das Leben der Menschen zu geben. Wie bemerkenswert dies ist, dürfte allein daran klar werden, daß eine solche Wissenschaft aus dem Selbstverständnis der Wissenschaften ein glattes Unding wäre. Von den Wissenschaften, die sich durch ihre je eigenen Gegenstände und Methoden auszeichnen, unterscheidet sich die Philosophie zudem dadurch, daß nicht von vornherein feststeht, was ein philosophisches Thema, ein philosophischer Gegenstand ist. Im Prinzip kann alles zu einem Problem der Philosophie werden; es kommt allein darauf an, daß wir es mit der methodischen Gründlichkeit und in der Absicht auf allgemeingültige begriffliche Bestimmung behandeln, die das Charakteristikum philosophischer Theoriebildung ist. Nicht die Ausrichtung auf die bloße Objektivität der Objekte in irgendeinem vorgegebenen Bereich, sondern deren Bestimmung in einem Ganzen, das selbst niemals Objekt im strengen Sinne sein kann, sondern spekulativ erschlossen werden muß, und die reflexive Integration des Subjekts in diesen begriffenen Zusammenhang macht den Charakter von Philosophie aus. Wir können diese Eigenart philosophischen Denkens auch so ausdrücken: Philosophie ist letztlich Metaphysik. Cassirer hat dem Rechnung getragen durch späte Überlegungen zur „Metaphysik der symbolischen Formen". Dort findet sich z. B. die rätselhafte Formulierung, die Philosophie sei „zugleich Kritik u. Erfüllung der symbolischen Formen" (ECN, 265) die immerhin eines ganz klar erkennen läßt: sein Bewußtsein vom methodischen Sonderstatus der -

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Philosophie. c) Ein mindestens ebenso großes Problem ist das der impliziten, sich in der Architektonik der symbolischen Formen penetrant bemerkbar machenden Geschichtsphilosophie, die Cassirer nirgends explizit problematisiert und austrägt. Da die gemeinsame Funktion der symbolischen Formen die Befreiung durch Artikulation ist, anders gesagt: die Vergrößerung des Handlungsspielraums durch den Distanzgewinn, der sich nach außen wie nach innen durch die Abstraktion in der symbolischen Verobjektivierung erzielen läßt, versteht es sich auch von selbst, daß mehr Distanz und mehr Handlungsspielraum besser ist als weniger. Daraus ergibt sich der Fortschrittsvektor, mit dem Cassirer die Dynamik der symbolischen Formen nach Maßgabe ihrer Bindung an das sinnliche Medium und ihres Abstraktionsgrades versieht, so daß sich die Kultur aus dem Mutterboden des Mythos entwickelt in Religion, Kunst und Wissenschaft eine Entwicklung, die ebenso zwangsläufig als Fortschritt aufzufassen ist, wie diese Auffassung ohne zusätzliche Differenzierung dem Programm der prinzipiell gleichwertigen -

Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

47

der Kulturformen widerstreiten würde.' Eine grundsätzliche Reflexion auf den Fortschritt an Rationalität, den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, und vor allem eine Problematisierung zum Verhältnis von Fortschritt zwischen den symbolischen Formen und ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigkeit, suchen wir bei Cassirer vergebens. Dieser Mangel springt schon an jenem Stufenschema des symbolischen Ausdrucks ins Auge, den Cassirer in der Monographie über Die Sprache entwickelt und dessen Geltung er für alle symbolischen Formen behauptet: Cassirer schildert dort die „dreifache Stufenfolge" von mimischem, analogischem und rein symbolischem Ausdruck (PhsFI, 133-146) ein Funktionsschema, das die Weisen und die Stufen der Bindung an das Sinnliche bzw. der Verselbständigung vom sinnlichen Medium, oder umgekehrt das Durchlaufen von Graden der Abstraktion systematisieren soll. Das Problem besteht freilich darin, daß in diesem geistigen Entwicklungsschema nicht nur geschichtsphilosophisch drei Stufen der Entwicklung zunehmender Verfügung durch Abstraktion, sondern auch systematisch drei Elemente des funktionalen Aufbaus der Sprache(n) gesehen werden sollen. Wie ist das möglich? Später hat Cassirer dieses Schema durch ein anderes ersetzt: Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung nennt er dann die drei Grade oder Phasen der Abstraktion in der Entwicklung der symbolischen Formen. Viele Interpreten gehen davon aus, daß die beiden Schemata miteinander kongruieren. Daß dies nicht zutrifft, zeigt sich spätestens in Cassirers Theorie der Kunst. Denn Cassirer legt Wert darauf, daß die symbolische Form der Kunst überhaupt erst einsetzt, wenn die Phase der mimischen Artikulation im Sinne des ersten Schemas bereits überwunden ist, und er bestimmt die Eigenart der Kunst durch ihre gelungene Vermittlung zwischen Ausdruck und Darstellung im Sinne des zweiten. Die je ersten

Mannigfaltigkeit

-

Das Problem eines solchen geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens liegt in der Untersteleiner wie absichtsvollen Bewegung von Rationalität in der Geschichte. Es manifestiert sich erkenntnistheoretisch und ontologisch in dem Objektivismus, mit dem der Urteilende beansprucht, die Tendenz der Geschichte zu kennen, in der objektivistischen Urteilssicherheit, mit der auf dieser Basis Vorformen, Aufstiegsbewegungen, Gipfelpunkte und Phasen des Niedergangs festgestellt werden können und in seiner Affinität zu einer Theologie. Die Geschichte muß entweder selbst als ein sich absichtsvoll auf ein Ziel bewegendes Übersubjekt oder als das Medium eines göttlichen Willens begriffen werden, den wir zudem kennen können. Es ist die Frage, ob wir uns dies 170 Jahre nach Hegels Tod wirklich zutrauen. Es gibt ein geschichtsphilosophisches Modell des Fortschritts, das sich diesem Einwand zu stellen weiß: das Kantische, das seine Besonderheit in dem Eingeständnis hat, daß wir nicht anders können, als in der Kategorie des Fortschritts zu denken, weil wir Hoffnung nötig haben. Kant, der sich auf dieser Basis zutraut, ein Ziel der Geschichte anzugeben, hat das reflektierte Methodenbewußtsein, daß es eine Projektion unseres Selbst Verständnisses auf das Ganze der Geschichte ist, die uns das Fortschrittsdenken möglich macht, und daß es von daher eine Arbeitshypothese ist, derer wir uns damit bedienen. Ernst Cassirer, Das Symbolproblem, a.a.O., 1-38; hier: 9ff.

lung

-

-

-

48

Eine Kritik

der

Kultur

Stufen der beiden Schemata, mimische Artikulation und Ausdruck, können von daher nicht dasselbe bezeichnen. d) Im engen Anschluß an das Problem des geschichtsphilosophischen Denkens stellt sich schließlich eine weitere, mit Blick auf die Sache brisantere Frage: Wie steht diese Philosophie der Kultur zum Problem der Widerspruchsdynamik, der Konflikte und Krisen in der Kultur? Im Blick auf die Rede von der Kultur als dem Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen, auf die Fundierung des gesamten Prozesses der symbolischen Formung im Freiheitsbegriff und die damit verbundene ethische Bewertung der Kultur könnte der Eindruck entstehen, daß sich Cassirer die Kultur ausschließlich als etwas schlechthin Positives denkt. Daß sie ebenso auch Konflikte und Krisen enthält, scheint in seiner Theorie nicht vorgesehen zu sein. 1946 heißt es im Myth of the State: „Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die |sic!| wir sie einst hielten. [...] Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und

unsere

soziale

Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können."'

Cassirer hat als Zeitgenosse die Erfahrung einer der größten Krisen gemacht, an welche die zivilisierte Menschheit sich erinnern kann, und wir können sehen, daß er in seiner eigenen theoretischen Arbeit eingehend und eindringlich darauf reagiert hat. Aber anders, als der programmatische Umriß seiner Theorie nahelegt, hat er auch das Zeug, um den Krisen der Kultur begrifflich Rechnung zu tragen. Das Konfliktpotential der Kultur findet zwar keine eingehende Darstellung, aber es fällt konzeptuell keineswegs aus dem Horizont dieser Theorie heraus. Auffällig ist, daß Cassirer von Anfang an in der Grundlegung des Kulturbegriffs ein Bewußtsein vom Konfliktpotential innerhalb der Kultur erkennen läßt: Es entspringt nach seinem Erklärungsansatz in der arbeitsteiligen Vielfalt der kulturellen Formen, deren Eigendynamik eine Dynamik des Widerspruchs impliziert. Cassirer spricht von der Tendenz jeder kulturellen Form, einen absoluten Geltungsanspruch zu erheben: Jeder einzelnen wohnt der Anspruch inne, alles nach ihrem Prinzip einzurichten, alles gleichDamit ist nicht das einzige Konsistenzproblem der beiden Schemata bezeichnet; so ist etwa Cassirers Anspruch, daß nicht allein die Sprache, deren Theorie er zum Anlaß nimmt, die Stufenfolge von mimischem, analogischem und rein symbolischem Ausdruck zu entwickeln, sondern alle symbolischen Formen die Entwicklung durchlaufen, schon auf den ersten Blick zu bezweifeln: Was wäre das mimische, was das analogische Stadium der Wissenschaft? Wie ist es vorzustellen, daß das mythische Bewußtsein sich zu rein symbolischem Ausdruck entwickelt? Aufgrund dieser offenkundigen Inkonsistenzen in der basalen Anlage bin ich zu der Auffassung gekommen, daß es sich bei dem Schema um eine Adhoc-Konstruktion handelt und lasse es in meiner Darstellung von Cassirers Ansatz im folgenden auf sich beruhen. Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 389. -

Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

49

zumachen, so daß die Pluralität der Kulturformen immer ein fragiles Gleichgewicht darstellt, auf dessen Erhaltung ihrerseits, so dürfen wir folgern, kulturelle Bemühungen verwenden sind. Im ersten Teil der Philosophie der symbolischen Formen heißt es dazu in einer markanten terminologischen Prägung, die das Bewußtsein vom Gewicht des Problems erkennen läßt: zu

zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des Kulturbegriffs" (PhsFI, 11 ; Hervorh. B.R.)

„Aus diesem Streben

Essay on Man ergänzt dieses Konzept des „Kampfes zwischen gegensätzlichen Kräften" (VM, 337) durch die konfliktträchtige Dialektik von Tradition und Innovation im Prozeß der Kultur (VM, 339 ff). Cassirer gibt damit die Begriffe an die Hand, deren sachliche Bedeutung eingehenderer Darstellung bedürfte.35 Der

35

Fortführung dazu Ernst Wolfgang Orth, Goethe als Therapeutikum. Zu Ernst Cassirers Pathologie der symbolischen Formen, in: Barbara Naumann / Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Hamburg 2002, Siehe in

137-156.

B. Die erkenntnistheoretische Grundlegung und die Elemente der Kultur

I.

1.

Geist und Bewußtsein. Zur Grundlegung der Kultur in den Leistungen des Subjekts

Symbolisierung als Versinnlichung von Bedeutung

In seinen grundsätzlichen Reflexionen betont Cassirer immer wieder zu Recht, daß sein Ansatz idealistisch, seine Theorie eine Transzendentalphilosophie sei. Der Rekurs auf Kant tritt im methodischen Anschluß an die Kopernikanische „Drehung" ebenso wie in der erklärten Absicht einer Transformation der Kritik der Vernunft in eine Kritik der Kultur programmatisch zutage (PhsFI, 9fi). Dieser Kritik der Kultur aber gibt Cassirer die realistische Pointe einer Theorie der menschlichen Welt, deren kategorialer Aufbau sich immer schon konkret in Formen sinnhafter Gestaltung von gegebenem Material und zugleich in kommunikativer Korrespondenz mit anderen vollzieht.2 Das Funktionsprinzip der Verkörperung von Sinn in einem sinnlichen Medium, das nach Cassirer in den vielfältigen Formen der Kultur wirksam ist, sucht er generell im Begriff des Symbols und der symbolischen Form zu fassen.

PhsFI, Einleitung und Problemstellung, 1—49. Siehe dazu vor allem Ernst Cassirer, Die „Tragödie der Kultur", in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaft. Fünf Studien (1942), Darmstadt 1977, 103-127. Die genaueren Erkenntnisse, die -

mit der Veröffentlichung des Nachlasses zum geplanten vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen möglich geworden sind, insbesondere das Theorem der „Basisphänomene", sollten in der Frage der systematischen Ausrichtung der Theorie nicht überschätzt werden. Auch sie ändern nichts daran, daß dies die realistische Pointe einer Transzendentalphilosophie Kantischer Prägung ist. Cassirer übernimmt den Begriff der Basisphänomene von Goethe ganz offensichtlich in geschmeidiger metaphorischer Anwendung auf die Aspekte der selbstbewußten, produktiven und kommunikativen Existenz des Menschen in der Kultur, die ihn immer schon interessiert haben; und er bewegt sich mit diesem Motiv seines Spätwerks, das übrigens eine explikative Variante dessen darstellt, was im Theorem der symbolischen Prägnanz (s. u.) bereits Ende der zwanziger Jahre gesagt ist, keineswegs etwa in die Richtung jenes Heideggerschen Programms des Denkens ausschließlich in den ursprünglichen Bezogenheiten realistischer Ganzheiten, durch das die methodische Grundlegung und die analytischen Unterscheidungen der frühen zwanziger Jahre preisgegeben wären. Cassirers Denken vollzieht sich durchweg nicht im Duktus von Revisionen, sondern von Integrationen und explikativen Anreicherungen. Siehe ECN 1, 123ff.; dazu Schwemmer, Ernst Cassirer, a.a.O., 197-219. -

Die Elemente der Kultur

54

„Unter einer .symbolischen Form' soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen sem Zeichen innerlich zugeeignet wird."'

geknüpft

und die-

Den Kern dieser Definition der symbolischen Form bildet die Bestimmung des Symbols als Verknüpfung eines geistigen Bedeutungsgehalts mit einem sinnlichen Zeichen. In der Exposition seines Grundbegriffes spricht Cassirer ausdrücklich vom „Ausdruck eines ,Geistigen' durch sinnliche .Zeichen' und ,Bilder', in seiner weitesten Bedeutung". Auffällig ist neben der beabsichtigten Weite des Symbolbegriffs, der auf diese Weise zum „systematischen Zentrum" nicht nur aller „Grunddisziplinen der sondern auch aller Einzelwissenschaften qualifiziert werden soll, die terminologische Prägung: Versteht Cassirer das Symbol als jeden einzelnen Fall von ,„Sinnerfüllung'

Philosophie",5

des Sinnlichen", damit von „Besonderung und Verkörperung" (PhsFIII, 105), so sollen als „symbolische Formen" nicht die einzelnen Bedeutungsträger angesprochen werden, sondern regelmäßig wirkende, typische Weisen der Symbolisierung, „Energien des Bildens" oder eben: ,,Energie[n] des Geistes". Dem gesamten funktionstheoretischen Duktus seines Denkens ist zu entnehmen, daß Cassirer nicht wie die mißverständliche Rede von der Verknüpfung eines geistigen Bedeutungsgehaltes mit einem Zeichen nahelegen könnte davon ausgeht, daß Zeichen auch schon vor dieser Relation in der Welt vorkommen; zum Zeichen wird das sinnlich Gegebene in der als symbolisch begriffenen Relation mit dem Geistigen. Ebensowenig ist davon auszugehen, daß es Geist außerhalb einer solchen Verbindung mit dem Sinnlichen gewissermaßen freischwebend sonst noch irgendwie gibt. Der Geist zeigt sich vielmehr in der Welt, und zwar darin, daß uns alles bedeutsam alles voller Symbole ist. Eine symbolische Form ist eine als geistige Kraft zu denkende typische Weise der Symbolisierung. Wir wissen, daß der Begriff der Energie, so wie Cassirer ihn versteht, aus Humboldts vom Kantischen Spontaneitätsbegriff geprägter Bestimmung der Sprache als energeia, als „Tätigkeit" und „Arbeit des Geistes" genommen ist. Was ist dann aber, nach dieser definitorischen Implikation des Geistbegriffs in dem der Energie bei seinem Kronzeugen, für Cassirer eine Energie des Geistes! Er spricht von den symbolischen Formen als von geistigen Formen (PhsFI, IX) oder „geistigen Grundfunktionen" (PhsFI, XI), er -

-

-

-

-

-

Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O. (ECW 16), 79. A.a.O., 78. Zum Begriffsgebrauch von „Zeichen" und „Symbol" siehe

z. B. PhsFI, 39-41. SpäAbgrenzung von Zeichen als mechanischen Operatoren in einer stationären und starren Markierungsrelation und Symbolen als den beweglichen, variablen, allseitig verknüpften Trägern von Bedeutung in einem tendenziell ubiquitären System; siehe VM, 57 f. Cassirer, Das Symbolproblem, a.a.O., 1. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 104. Wilhelm von Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk, in: ders., Schriften zur Sprache, Stuttgart

ter

bemüht sich Cassirer

1973, 36 f.

um

eine

-

Geist und Bewusstsein

55

spricht von der „Form

des ,Geistes'", die das Leben als bewußtes und gestaltetes Leben annimmt (PhsFI, 49). Jede kulturelle Gestaltung beruht für ihn auf einer „ursprünglichein] Tat des Geistes" (PhsFI, 9), und es überrascht angesichts seiner materialreichen historischen und systematischen Darstellung der symbolischen Formen nicht, daß er grundsätzlich auf „eine philosophische Systematik des Geistes" aus ist (PhsFI, 12). Abgesehen davon, daß in ihnen explikative Variationen auf den Begriff der Spontaneität als Selbsttätigkeit zu sehen sind, lassen diese und ähnliche Bestimmungen wie auch die Auffächerung in die Vielfalt der symbolischen Formen Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft ebenso starke methodische Analogien zu Hegel vermuten wie Gemeinsamkeiten mit dem Kantischen Ansatz. Auf Hegels Phänomenologie des Geistes bezieht sich Cassirer ausdrücklich und affirmativ, wo er das ganze Gebiet des g kulturellen Geistes skizziert. Wenngleich er als Kronzeugen für seinen Symbolbegriff wiederholt Heinrich Hertz anführt, so scheint sich Cassirer sogar mit seiner Bestimmung des Symbols als sinnlichen Bedeutungsträger an Hegels Reflexion auf den Doppelcharakter von „Sinn" zu orientieren. -

-

,,,Sinn' nämlich ist dies wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal aber heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Und so bezieht sich der Sinn einerseits auf das unmittelbar Äußerliche der Existenz, andererseits auf das innere Wesen derselben. Eine sinnvolle Betrachtung nun scheidet die beiden Seinicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriffauf." ten

An diese

Anweisung, die beiden Seiten nicht etwa zu scheiden, sondern die für ein bedeutungsfähiges Wesen unhintergehbare Konkretion von Sinnlichkeit und Sinn zur Geltung zu bringen, hält sich Cassirer mit seiner Theorie der kulturellen Symbolismen in ihrer Einheit von „geistigem Bedeutungsgehalt" und „sinnlichem Zeichen". Es ist vor allem der Begriff der symbolischen Prägnanz, der zweifelsfrei Cassirers systematische Beispiel: „Die Sprache, der Mythos, die theoretische Erkenntnis: sie alle werden hier als Grundgestalten des .objektiven Geistes' genommen" (PhsFIII, 54). Doch über alle ausdrückliZum

chen Hinweise in dieser und ähnlichen Stellen hinausgehend verdient Cassirers Verhältnis zu Hegel eingehendere Untersuchung: Es ist vorderhand nicht klar, ob eine durchgehende Ambivalenz oder eine spätere Änderung der Einstellung darin zu sehen ist, daß er seinen Kronzeugen einer Phänomenologie des Geistes in den Schriften zur praktischen Philosophie der vierziger Jahre als den totalitären Denker schlechthin versteht; siehe Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 321-388; ders., Albert Schweitzer as critic of 19'h- century ethics, in: Albert Schweitzer Jubilee Book, hg. von A.A. Roback, Cambridge, Mass., 1945, 241-257. Siehe z.B. PhsFI, 3f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, 173; Hervorh. von mir. -

9

Die Elemente der Kultur

56

Einsicht

daß die spontane Einheit von Sinnlichkeit und Sinn in die stets konkrete und spezifische Prägung des Sinnes

belegt,

bol(verstehen)

jedem Sym-

impliziert."

„Unter .symbolischer Prägnanz' soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches' Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn' in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt." (PhsFIII, 231) Cassirer erläutert den damit eingeführten Begriff von den „verschiedenen Modalitäten der Sinngebung" (PhsFIII, 230) durch die „Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes" (PhsFIII, 231) Er hat diesen Gedanken des konstruktiven Sehens-ais (bzw. generell des Wahrnehmens-als), den der Begriff der symbolischen Prägnanz tragen soll, wiederholt durch

Beispiel eines gleichmäßig geschwungenen Linienzuges illustriert, den wir instaneiner bestimmten Bedeutungsperspektive zuordnen als ästhetisches Ornament einer ,,künstlerische[n] Bedeutsamkeit", als magisches Zeichen einer „mythisch-religiöals graphisches Diagramm einem „rein logisch-begrifflichen sen Bedeutung", 12 Strukturzusammenhang". Es ist leicht zu sehen, daß hier zwei komplementäre Aspekte des spontanen Habens von Bedeutung intendiert sind: Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen, und es wird immer schon in spezifiund damit auf verschiedene mögliche Weisen scher Weise als sinnvoll wahrgenommen. Die Form-Materie-Einheit des symbolischen Repräsentationalismus und die welthafte Pluralität des in ihm fundierten Wirklichkeitsverständnisses haben ihr systematisches Zentrum gleichermaßen im Begriff der symbolischen Prägnanz. Der systematische Anspruch des Theorems liegt in der Insistenz auf der realistischen Verfassung von Wirklichkeit, der ursprünglichen Einheit des Bedeutungskontextes von Wirklichkeit in der verstehenden Konstitution. Cassirer bringt diese theoretische Intention auf den gleichsam lebendigen Rhythmus der Komplementarität von „Darstellendem" und „Dargestelltem" auch in der Rede vom „eigentlichen Pulsschlag des Bewußtseins" zur das tan

-

-

-

Geltung (PhsFIII, 232). Was ist aber in der Formel von der „Energie des Geistes" mit diesem Geist, über dessen Eigensinn im Verhältnis zum bloßen, biologisch faßbaren Leben Cassirer mit großem Aufwand reflektiert,13 eigentlich gemeint?

Siehe die einleuchtende 12 13

Interpretation

dieses zentralen

Begriffes

bei Schwemmer, Ernst Cassirer,

a.a.O., Kap. II. Cassirer, Das Symbolproblem, a.a.O., 6f.; vgl. auch PhsFIII, 228ff. Siehe exemplarisch PhsFIII, 40ff.

57

Geist und Bewusstsein

2. Geist

-

das bildende

Prinzip im Subjekt

Es gibt Zitatfehler, die insofern den Aufschlußwert einer Freudschen Fehlleistung haben, als sie unvermerkt den systematischen Ansatz des Interpreten zum Tragen bringen.

Ein solcher Zitatfehler findet sich in dem posthum veröffentlichten vierten Band des großen Werkes über Das Erkenntnisproblem. Im Kapitel über die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der modernen Biologie, die nach Cassirers Einsicht mit Kant beginnt, bezieht er sich auf die schöne Stelle in der Kritik der Urteilskraft, in der Kant Geist in ästhetischer Bedeutung als „das belebende Princip im Gemüthe" bestimmt. Cassirer zitiert die Stelle so: „Kant hat erklärt, daß Geist in ästhetischer Bedeutung das .bildende Prinzip im Gemüte' sei."

Was will

mehr? Gewiß ist es schade, daß damit eine von Kants Pointen zum Zusammenhang von Kunst und Leben ausgerechnet dort verspielt wird, wo sein Verdienst um eine Theorie des Lebendigen angemessen gewürdigt werden soll. Möglich ist dies allein dadurch, daß sich das starke theoretische Eigeninteresse des Interpreten in den Vordergrund drängt. So finden wir hier in der für Cassirers gesamtes Werk größten Kürze und Prägnanz niedergelegt, von welcher Bestimmung er in seiner Philosophie der symbolischen Formen in dem immer wieder bemühten, niemals definierten, sondern stets nur in aufschlußreichen Reflexionen verwendeten Begriff des Geistes Geist ist das bildende Prinzip im Gemüte, und wir dürfen sinngemäß in freier Variation der Formulierung sagen: Geist ist das bildende Prinzip in jenem Subjekt, in dem der Kulturprozeß seinen Ursprung hat, und das heißt im Prinzip in jedem Subjekt. Und eine „Energie des Geistes" Cassirers Erläuterung der symbolischen Form wäre dann die im Sinne eines Typus bestimmte Tätigkeit, in der dieses bildende Prinzip sich auslegt. Aus der Zeit nach dem dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen, also Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, kennen wir seit kurzem ein Fragment über Geist und Leben, in dem Cassirer inmitten ausgiebiger Auseinandersetzungen mit Henri Bergson, Ludwig Klages und Georg Simmel auch den eigenen Begriff und die eigene Theorie markiert wiederum in einer ganz kurzen Bestimmung: Der Geist, von dessen „konkreten Gebilde[n]" seine Philosophie der symbolischen Formen handelt, ist ihm demnach „Wille zur Gestaltung", seine Absicht die „Formung der Welt" (ECN 1, man

ausgeht.16

-

-

-

Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe, Bd. V, 313 (Hervorh. B.R.; im folgenden zitiert als „KdU"). Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932), ECW5, 165 (Hervorh. B.R.). Siehe dazu Ernst Wolfgang Orth, Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a.a.O., 100-128.

58

Die Elemente der Kultur

zu einiger Zufriedenheit mit unserem .tiefenpsychologisch' einem Zitierfehler gewonnenen Befund denn die Hervorhebung eines Willens zur Gestaltung und zur Formung bestätigt den Begriff eines bildenden Prinzips im Subjekt. Mit dem Begriff eines bildenden Prinzips im Subjekt ist im Sinne der Kantischen Vermögenslehre immer an die intelligente Leistung im Sinne einer Funktion gedacht. So hat sich Cassirer in einem anderen späten Text auch selbst expliziert:

27). Wir haben hier Anlaß aus

-

„Der Begriff .Geist' ist korrekt; aber wir dürfen ihn nicht als Name einer Substanz gebrauchen für ein Ding ,quod in se est et in se concipitur'. Wir sollten ihn in einem funktionellen Sinne gebrauchen als einen umfassenden Namen für alle jene Funktionen, die die Welt der menschli-

-

chen Kultur konstituieren und aufbauen."

Ein Vorzug dieses Begriffs eines bildenden Prinzips im Subjekt liegt aber gerade darin, daß er durch die selbstverständliche Implikation eines Stoffes, in dem zu bilden ist, beide systematische Intentionen zu tragen vermag, um die es Cassirer in seiner transzendentalen Theorie der Kultur zu tun ist: den Ursprung des gesamten Geschehens im Vermögen des Subjekts ebenso zu betonen wie seine Dynamik als Artikulation in einem äußeren Medium. „Denn", so heißt es im Nachlaß resümierend zu den drei Teilen der Philosophie der symbolischen Formen, „all diese verschiedenen Formen und Richtungen der Kultur begegnen und durchdringen sich doch immer wieder in der schöpferischen Subjektivität selbst." Nur auf den ersten Blick erweitert Cassirer den Kantischen Idealismus durch diesen Gedanken der unabdingbaren Verkörperung des geistigen Gehalts in einem sinnlichen Medium: Dies ist ein bloß vermeintliches Desiderat der kritischen Transzendentalphilosophie; es ist vielmehr bereits bei dem, für den jedenfalls alle Erkenntnis zwei Quellen haben muß und der sich die Mühe machte, den Sinn seines Gedankens durch eine Widerlegung des (absoluten) Idealismus zu verdeutlichen, die ganze Zeit unterstellt. Kant unternimmt schließlich seinen großen Versuch einer methodischen Sicherung des Erkenntnismöglichen in der Absicht, dadurch auch die „Hirngespinste" der rationalistischen Metaphysik aus der Welt zu schaffen: Gedanken ohne Inhalt sollten endlich als leer vermieden werden können. Cassirer bereichert den empirischen Realismus des Ernst Cassirer, Strukturalismus in der modernen Linguistik, in: ders., Geist und Leben. Schriften den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, 317-348, Zitat: 337. ECN 1, 7. Wenn Schwemmer den Geist als den ,,vieldimensionale[n] Gestaltungsprozeß im Zwischenreich der Symbolismen" (32) bestimmt und als „Interaktionsgeschehen zwischen dem Bewußtsein und den (bewußtseinstranszendenten) Symbolismen" (68), wenn er ferner „geistiges Leben" als „symbolisch artikuliertes Bewußtseinsleben" faßt (113), so ist damit die denkbar größte Nähe zu Cassirer bezeichnet; siehe Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen, a.a.O. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III (im folgenden zitiert als ,,KrV), 75. zu

Geist und Bewusstsein

59

transzendentalen Idealismus denn auch allein darin, daß er die Notwendigkeit der Versinnlichung des Geistigen im Gedanken der werkhaften Poiesis kultureller Bedeutungssphären deutlicher machen kann, als dies Kant offenbar für die Erfahrungswirklichkeit des Erkennens gelungen ist.

3. Die „Urfunktion der Repräsentation" als natürliche Symbolik

-

Bewußtsein

Durch diese Themenverschiebung, durch die Wendung der Blickrichtung auf die Investitionen von Geist in den symbolischen Formen der Kultur, wird die darin unterstellte Funktion des subjektiven Bewußtseins bei Cassirer selbst keineswegs zu jenem „Proteus der Philosophie" (PhsFIII, 53), den er mit Blick auf den „unablässigen Bedeutungswandel" dieses Konzepts im Durchgang durch die philosophischen Disziplinen feststellt. Der Bewußtseinsbegriff bleibt ihm vielmehr immer noch analytisch isolierbar jedenfalls bis zu einem weit fortgeschrittenen Punkt der Reflexion, an dem sich zwangsläufig der Bezug auf das sinnlich Gegebene aufdrängt und von dem in diesem Beitrag zu sprechen ist. Wiederum nur auf den ersten Blick entfernt sich Cassirer in der näheren Erläuterung der konstitutiven Formen dieses Bewußtseins vom Kantischen Ausgangspunkt, indem er in der eigenen Systematik nicht ausdrücklich und ausführlich von der Funktionskomplementarität von reinen Formen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) und Verstandeskategorien (Quantität, Qualität, Modalität, Relation) spricht, sondern Raum, Zeit und Zahl als die elementaren Subjektleistungen in den verschiedenen Symbolismen durchdekliniert: Es ist Kant selbst, der sich im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft zutraut, das zuvor in der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Analytik Ermittelte in diesen drei Konstituentien zu kondensieren: -

„Das reine Bild aller Größen (quantorum)

vor dem äußern Sinne ist der Raum, aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt die Zeit. Das reine Schema der Größe aber (quantitatis) als eines Begriffs des Verstandes ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die successive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefaßt. Also ist die Zahl nichts anders als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge." (KrV, 137)

Wieso derart für das Verständnis des Schemas eine Reduzierung der Kategorien auf die Funktion der Quantität ausreicht, bedürfte bereits bei Kant einer eingehenderen Erläuterung, die auch Cassirer nicht gibt (PhsFIII, Raum, Zeit und Zahl, 279-302).

60

Die Elemente der Kultur

Im Anschluß an diese Zusammenfassung kann Cassirer die Entwicklungsgeschichte des 21 kulturellen Bewußtseins anhand der Konstituentien Raum, Zeit und Zahl skizzieren. Aufschlußreich für den inneren Zusammenhang seiner Theorie ist aber ferner, daß für ihn bereits diese reine Bewußtseinsfunktion nicht anders als in symboltheoretischer Terminologie konstruierbar ist. Cassirer bemüht sich im Begreifen des Zusammenhangs von Bewußtsein und Welt insofern um weitestgehende systematische Einheitlichkeit, als er jenes selbst in seiner wesentlich symbolischen Verfassung darstellt. Cassirer entfaltet seine Reflexion auf das Bewußtsein als „Grundfunktion des Bedeutens" im Zusammenhang seiner Monographie über Die Sprache. Es ist keine beliebige Entscheidung, daß der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen der Sprache gewidmet ist: Die Sprache ist für Cassirer der elementare Fall aller symbolischen Formung. Wie sich dies letztlich zu seiner geschichtsphilosophischen Vorgabe vom Mythos als dem gemeinsamen Mutterboden der kulturellen Symbolismen ver22 hält, bleibt unerörtert und ist nur auf dem Wege selbständiger systematischer Extrapolation zu ermitteln. Jedenfalls aber lassen sich die grundlegenden Begriffe und Fragen dieser symboltheoretischen Kulturkonzeption offensichtlich an der Sprache am 21 besten einführen. So kann auch die Verhältnisbestimmung, die Cassirer dem Zusammenhang von Bewußtsein und Sprachgebrauch gibt, exemplarisch für die Stellung des Bewußtseins in allen symbolischen Formen stehen. Für die Entfaltung der Theorie des Zusammenhanges von Sprache und Bewußtsein, die Cassirer neben einer materialreichen Genealogie der sprachlichen Ausdrucksformen im ersten Buch der Philosophie der symbolischen Formen gibt, ist es aber erforderlich, das Bewußtsein vorab als solches zu analysieren. Zunächst sieht es so aus, als ginge es nur darum, das „Wunder" der Repräsentation (PhsFI, 25), das in aller Sprache begegnet, auf eine solide Verständnisgrundlage zu stellen: Durch die „Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes" (PhsFI, 33). Durch die „allgemeinsten Funktion des Trennens und Verknüpfens" (PhsFI, 18) im Medium lautlicher Ausdrücke erheben wir uns, so Cassirer, in der Sprache über die bloße Unmittelbarkeit der sinnlichen Eindrücke und kommen zu allgemeinen Bedeutungen. Dies soll durch eine erkenntnistheoretische Reflexion der Bewußtseinsfunktion begrünSiehe PhsFI, 147-212; Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925; im folgenden zitiert als „PhsF II"), ECW 12, 98-180. Siehe vor allem Ernst Cassirer, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (1925), in: ECW 16, 227-311 (im folgenden zitiert als „SM"); hier: 266. Der Aufsatz ist insofern von zentraler Bedeutung, als er einen Versuch der Fundierung aller symbolischen Formen im Prinzip der Metapher als poietischer Übertragung enthält, auf den Cassirer danach nie wieder zurückgekommen ist. Siehe Teil B, Kap. II. So noch zuletzt im Essay on Man, siehe VM, 52-71; 171-211; siehe die genauere Überlegung zum fundierenden Status der Sprache in Teil B, Kap. II. -

61

Geist und Bewusstsein

det werden, deren Befund in einer Theorie des Bewußtseins als sentation besteht:

grundlegender Reprä-

es z.B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer rein kann dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundwerden geistigen Bedeutung funktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert [...] wird."

„Daß ein Sinnlich-Einzelnes, wie

-

(PhsFI, 39f.) In dieser Reflexion zeigt sich vor allem anderen, daß die Rede von der Unmittelbarkeit sinnlicher Eindrücke, deren Chaos sich erst durch die sprachliche Setzung lichte (vgl. PhsFI, 18), nur provisorischen Sinn hat. Vergleichbar dem Kantischen Begriff der Dinge, wie sie an sich selbst betrachtet wären, bezeichnet sie eine Grenze des Erkennens. Das Haben von Eindrücken ist immer schon Funktion des Bewußtseins, und schon mit Blick auf dessen vermittelnde Leistung kann von Unmittelbarkeit nicht die Rede sein. Für Cassirer hat das erkennende Bewußtsein, in dem er mit Kant den apriorischen Ursprung aller Gestaltung von Sinn annimmt, selbst wie er es ausdrückt: schon „vor der Setzung des einzelnen Zeichens", also schon vor aller Gestaltung in äußerer Artikulation den Charakter eines systemischen Verweisungszusammenhanges, in dem ein Element seinen Sinn allein durch die Stellung zu anderen bekommt. Bewußtsein ist, wie er klarmacht, insofern von vornherein eine Weise der Repräsentation, als in ihm ein Element nur im Kontext mitgedachter anderer überhaupt seine Bestimmung haben kann: -

-

zum Wesen des Bewußtseins selbst, daß in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird." (PhsFI, 29)

„Es gehört

In diesem Sinne verweist eines immer zugleich auf anderes, in dessen Kontext es allein dadurch auszumachen ist, daß es darin seine Stelle hat. Bewußtsein funktioniert mit anderen Worten nicht anders als ein System der als interne Relationen verstandenen Repräsentation. Schon hier wird ständig das einzelne Moment in seinen Kontext als eines Verweisungszusammenhanges gestellt, indem es nur im Kontext mit anderen einzelnen Momenten als etwas realisierbar ist. Dieses „Grundverhältnis der .Repräsentation' oder der .Intention'" ist nach Cassirers Einsicht „die Bedingung der Möglichkeit aller Gegenstandserkenntnis" (PhsFIII, 225) damit aber auch, so dürfen wir ergänzen, die Bedingung der Möglichkeit aller symbolischen Formen. Wenn es im dritten Band heißt: „So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen, an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber -

-

62

Die Elemente der Kultur

trennt"

(PhsFIII, 105),

so

ist damit die

Komplexität

dieser internen

Verweisung

ge-

meint, ohne welche die vermittelnde Leistung des Bewußtseins nicht möglich wäre. Am Beispiel des Bewußtseins von Raum und Zeit (PhsFI, 25f.; 31-34), die insofern keine beliebig austauschbaren, sondern grundlegende Beispiele sind, als jede Gegenstandserkenntnis in Raum und Zeit erfolgt, erläutert Cassirer die „Urfunktion der Re-

präsentation" (PhsFI, 32): daß die elementare Relationalität des Bewußtseins bereits Repräsentation ist. Es ist keine einzelne Stelle in Raum oder Zeit bestimmbar ohne die Kontrastfolie der umgebenden Stellen: „Wie wir im einfachen .Jetzt' der Zeit zugleich das Früher und Später, also die Grundrichtungen des zeitlichen Fortgangs, ausgedrückt fanden, so setzen wir in jedem ,Hier' schon ein ,Da' und ein .Dort'. Die einzelne Stelle ist nicht vor dem Stellensystem, sondern nur im Hinblick auf dasselbe und in korrelativer Beziehung zu ihm gegeben." (PhsFI, 34) Auf diese Weise ist der Begriff des Bewußtseins als .„natürliche' Symbolik" (PhsFI, 39) zu verstehen. Von ihr unterscheidet er die „künstliche Symbolik" des willkürlichen Zeichengebrauchs, mit der diejenige Entäußerung und Fixierung von Sinn bezeichnet ist, um die es im Rahmen einer Philosophie der symbolischen Formen als Symbol und symbolische Form geht. Cassirer klärt durch diese Analyse des Bewußtseins als internen Verweisungszusammenhang auch am Charakter der Symbolisierung etwas, das vorher noch nicht gesagt worden ist. Doch es lohnt hier durchaus, noch einmal einen Blick zurück auf seine Bestimmung des Symbols zu werfen. Denn zu der bisher gegebenen Erläuterung ist geltend zu machen, daß der Begriff eines internen Repräsentationsgeschehens noch nicht ganz den Begriff des Symbolischen erfüllt, den Cassirer in seiner Definition einer symbolischen Form zugrundelegt. Es war die Verknüpfung eines geistigen Bedeutungsgehalts mit einem konkreten sinnlichen Zeichen, was den Begriff der Symbolisierung auszeichnen sollte. Wo wäre nun in der Bestimmung des Bewußtseins das Geistige, wo das Sinnliche? Soweit wir sehen, haben wir bei jenem analytischen Präparat von Bewußtsein, wie es als „natürliche Symbolik" noch vor dem willkürlichen Gebrauch äußerer Zeichen angetroffen werden soll, zwar Geistiges, aber kein Sinnliches. Ist angesichts der Bestimmung der Verknüpfung eines geistigen Bedeutungsgehalts mit einem konkreten sinnlichen Zeichen die Rede von der „natürlichen Symbolik" des Bewußtseins zu rechtfertigen? Die Frage ist, ob sich angesichts dieser gänzlich von konkreten Gedankeninhalten bereinigten, nur der transzendentalen Analyse zugänglichen „Grundfunktion des Bedeutens" denn überhaupt zwischen Sinnlichkeit und Sinn als geistigem Bedeutungsgehalt unterscheiden läßt, wie es die Anwendung des Begriffs Symbolik verlangt. Verfängt sich Cassirer mit dieser terminologischen Entscheidung nicht vielmehr in den Suggestionen einer verselbständigten Systematik? Zu klären ist, worin ge-

-

Siehe dazu

beispielhaft Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 80 f.

Geist und Bewusstsein

63

in der Relationalität des Raum- und Zeitbewußtseins die Versinnlichung von Geistigem besteht: Was wäre hier das Sinnliche, was der Sinn? Nur um den Preis der einigermaßen abstrakten Bedeutung, den die Kantische Rede von der Form reiner Sinnlichkeit mit sich bringt, ist etwa die einzelne Raum- oder Zeitstelle als das Sinnliche, ihre Verweisung auf die jeweils mitgesetzten anderen, ihr räumlicher oder zeitlicher Kontext, als das Geistige zu verstehen. Raum und Zeit haben nicht die Sinnlichkeit gestalteter Materialität, die in der Rede vom konkreten sinnlichen Zeichen gemeint ist. Nicht die Verknüpfung von Formen der reinen Sinnlichkeit durch eine geistige Funktion, sondern die Verknüpfung von geistigem Bedeutungsgehalt mit einem konkreten sinnlichen Zeichen macht laut Cassirer den Charakter des Symbols aus. Wenn wir in diesem vollen Sinne mit Cassirer vom symbolischen Charakter des Bewußtseins sprechen wollen, dann müssen wir bereits Gebrauch machen von der Voraussetzung, daß jene an Raum und Zeit erläuterte interne Relationalität ihrerseits immer nur im sinnlich Gegebenen des konkreten Eindrucks wahrgenommen wird. Daß auf diesen Zusammenhang bereits im vollen Umfang der Begriff des Symbolischen angewendet wird, ist nur dann zu rechtfertigen, wenn wir zugleich annehmen, daß genau diese „natürliche Symbolik" immer schon auf dem Weg ist zur Äußerung in sinnlichen Zeichen, so daß die Versinnlichung des geistigen Prozesses als der notwendige Übergang ins äußere Medium mitgedacht und diesem Bewußtseinsvollzug schon begrifflich zugerechnet werden darf. Genau dies ist, wie wir Cassirers Theorie des Geistes in der Kultur entnehmen, seine Auffassung. Wir kommen damit in der zunächst mitvollzogenen Bemühung, die Bewußtseinsleistung in der „Urfunktion der Repräsentation" zu begreifen, infolge der bloßen Anweisung durch den Leitbegriff an den Punkt, an dem die realistische Pointe dieser Transzendentalphilosophie greift: daß es die hier analytisch isolierten Funktionen der räumlichen und zeitlichen Bestimmung niemals anders als im Bezug auf die konkrete Materialität der Gegenstände der Erfahrung gibt. Der einfachste Hinweis und die Lösung der Schwierigkeit mit dem Begriff des Bewußtseins als natürlicher Symbolik ist mithin darin zu sehen, daß das Präparat eines Bewußtseins als solchen hier an seine „natürliche", von der Theorie grundsätzlich reflektierte Grenze stößt: Bewußtsein ist als solches immer nur in der Realisierung von Gegenständlichkeit und insofern bezogen auf die Materialität des Sinnlichen. Wenn es in der Beschreibung der natürlichen Symbolik des Bewußtseins überhaupt im reinen Präparat des Raum- und Zeitbewußtseins so aussieht, als mißachte Cassirer diese Einsicht, die festzuhalten er ansonsten beansprucht, so dürfte dies weniger die Widerrufung grundsätzlich dokumentierter Einsichten als vielmehr die Ausblendung des Problems in der perspektivischen Konzentration auf eine spezifische Frage darstellen. nau

Die Elemente der Kultur

64

Es ist nicht mehr als eine systematische Implikation im Begriff der symbolischen Prägnanz, die in der Frage nach der Berechtigung der Rede von der „natürlichen Symbolik" des Bewußtseins zur Geltung zu bringen ist: daß die damit behauptete Funktionseinheit von Sinnlichkeit und Sinn in der Konkretion des als bedeutungsvoll wahrgenommenen Eindrucks gleichermaßen in der Umkehrrichtung mit Blick auf das wahrnehmende Bewußtsein gilt: Ebenso wie das sinnlich Gegebene immer schon als (in be-

stimmter Weise) sinnvoll realisiert wird, so sind wie immer auch analytisch isolierbar die Sinnelemente, etwa die konstitutiven Formen von Raum und Zeit, immer nur im Bezug auf sinnlich Gegebenes anzutreffen, also konkret. Die Rede von der „natürlichen Symbolik" des Bewußtseins wird somit einsichtig als Abbreviatur, in der eine entscheidende theoretische Absicht dieses Ansatzes mitgedacht werden muß: der Verweis auf das Gegebene, auf welches jede Leistung des Bewußtseins bezogen ist. Dadurch, daß selbst schon vor aller medialen Artikulation eine Symbolik qua „Grundfunktion des Bedeutens" wirksam sei, soll zweifelsfrei gemacht werden, wie solide das Fundament dieser bedeutungstheoretisch angelegten Kulturkonzeption ist. Symbolisierung wie ist das möglich? Frei nach der Kantischen Anweisung zum Verständnis des Status von Moral „Weder im Himmel noch auf der Erde", sondern: in Gedanken hat die Moralität ihr Fundament antwortet der Transzendentalphilosoph auch auf diese Frage: Die Symbole fallen weder vom Himmel, noch entspringen sie der Erde. Sie sind vielmehr eine Leistung des Gedankens; ihr Auftreten ist bereits strukturell präformiert in der basalen Funktion des Bewußtseins. Die Kultur ist damit angelegt in der elementaren Synthesis des menschlichen Bewußtseins, und nur dadurch ist der Mensch eigentlich als animal symbolicum ausgewiesen. -

-

-

-

-

Symbole? Eine pragmatische Theorie der Bedeutung

4. Wozu

Doch es sieht ganz so aus, als zöge sich Cassirer gerade dadurch, daß er es besonders gut machen will, ein Problem zu: In seiner Bemühung um systematische Stringenz begibt er sich in ein Dilemma zwischen Konsistenz und Plausibilität. Wenn bereits das Bewußtsein selbst symbolisch verfaßt und mit dieser Verfassung, wie zu zeigen war, seine funktionale Situation in der äußeren Welt immer schon angezeigt ist, wie soll dann eigentlich noch die Notwendigkeit des Übergangs zur Symbolik des äußeren Zeichengebrauchs einleuchten durch mehr Symbolik, verschärfte Symbolik, deutlichere -

Die Philosophie der symbolischen Formen enthält die denkbar stärkste talistische Kulturkritik des Rousseauismus, siehe Teil A, Kap. I, 2.

Absage

an

die fundamen-

65

Geist und Bewusstsein

Symbolik? Was wird durch den willkürlichen Zeichengebrauch der „künstlichen Symbolik" eigentlich zusätzlich geleistet, was nicht durch die „natürliche Symbolik" des Bewußtseins, die sich per se immer nur im konkreten Gegenstandsbezug realisiert, auch schon gewährt wäre (PhsF I, 39 f.)? Wozu künstliche Symbole? Trotz ihrer unprätentiösen Kürze ist Cassirers sprachphilosophischen Überlegungen eine ausdrückliche Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit des Übergangs von Repräsentation im Bewußtsein als natürlicher und Repräsentation in willkürlichen Zeichen als künstlicher Symbolik zu entnehmen: Das Bewußtsein macht in der äußeren Artikulation, wie Cassirer unauffällig, aber höchst bezeichnend sagt: „Gebrauch" von Zeichen(-systemen) (PhsFI, 41; Hervorh. B.R.)! „Der Gebrauch des Zeichens aber befreit diese Potentialität erst zur wahrhaften Aktualität." In diesem Zusammenhang ist dabei völlig fraglos, daß mit dem Übergang vom symbolischen Prozeß, als welcher der relationale und repräsentative Verweisungszusammenhang des Bewußtseins zu begreifen sein soll, in die Fixierung durch den artifiziellen Zeichengebrauch das Hervorgehen der Sprache aus dem natürlichen Vollzug des Bewußtseins gemeint ist. Und es reicht zur Erläuterung dieses Hinweises hier nicht, es ist für das damit schon Angedeutete längst nicht mehr spezifisch und prägnant genug, wenn Cassirer offenbar als Verstärkung des aktivischen Charakters solchen Gebrauchens sofort wieder mit dem Blick -

-

auf das Ganze seiner systematischen Absicht davon spricht, daß Sprache keine bloße „Nachahmung" des Wahrgenommenen leiste, sondern spontane, eigenständige, durch selbständige Abstraktion bewirkte „Sinngebung" sei. Das ist zwar einsichtig und richtig: Durch die Sprache erzeugen wir die Bedeutung, den Sinn und damit unsere Welt: so ist es Überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaos der sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzunehmen beginnt." (PhsFI,

„Und

41) Aber wichtiger ist, zunächst einmal bei der Andeutung zu bleiben, die durch die Hinweise auf den „Gebrauch" von Zeichen gegeben ist. Worum geht es? Wozu Symbole, wozu

Sprache?

Im sprachlichen Zeichengebrauch wird eine Bedeutung „fixiert" (PhsFI, 40), damit auf eine gewisse Dauer gestellt und in Distanz gerückt und in dieser Objektivierung verfügbar gemacht. Der Gegenstand rückt in die Ferne und wird gerade durch diese Distanzierung als Gegenstand überhaupt erst disponibel. Es geht um Verfügung, um die „Gewalt", die das Bewußtsein über seine Eindrücke im artikulierten Ausdruck hat (PhsFI, 40), und die verobjektivierende Distanzierung der Eindrücke durch die repräsentative Vermittlung, für die es eines materialen Mediums bedarf, ist das Mittel zu die-

PhsFI, 43. Cassirer sagt auch ausdrücklich, „die .natürliche' Symbolik, die wir im Grundcharakter des Bewußtseins selbst angelegt fanden", werde im Zeichengebrauch „auf der einen Seite benutzt und festgehalten", auf der anderen Seite „überboten und verfeinert" (PhsFI, 40).

Die Elemente der Kultur

66

Cassirer vertritt somit eine pragmatische Theorie der Sprache: Die Funktion von Sprache ist offenbar nur im Kontext einer Erfahrung verständlich, die das Element praktischer Zwecksetzung immer schon enthält. Er führt die Notwendigkeit einer „künstlichen Symbolik", also des gesamten äußeren Symbolgebrauchs, um den es im Begriff der „Symbolik" vorrangig geht, auf den pragmatischen Funktionssinn des Bewußtseins als der Instanz der Verfügung zurück. Mit seiner Gebrauchstheorie der Sprache geht unweigerlich eine Gebrauchstheorie des Bewußtseins einher, weil das Bewußtsein selbst auf jene Verfügung aus ist, die im willkürlichen Zeichengebrauch möglich wird. Was auf diese Weise deutlicher hervortritt, ist ein weiterer, wohl der nachhaltigste Aspekt des Kantischen Erbes: wie diese Theorie auch in ihren erkenntnistheoretischen Grundlegungen bereits unter dem Primat des Praktischen steht. Schon in seiner KantInterpretation von 1916 hatte Cassirer die handlungstheoretische Unscharfe, die Verknüpfung28 von Spontaneität und Autonomie im Begriff der Freiheit, als angemessen akzeptiert. „Die Autonomie bedeutet jene Bindung der theoretischen wie der sittlichen Vernunft, in der diese sich selbst als des Bindenden bewußt wird," heißt es zwei Jahre 29 später in der großen Kant-Monographie. Wie Kant auch die Synthesis der Erkenntnis in gewissem Sinn als einen Akt der Freiheit begreift, zu dessen Charakterisierung Cassirer den praktischen Begriff der Autonomie heranzieht, so macht er selbst den Begriff der praktischen Selbstbestimmung in der Anwendung auf jede kulturelle Leistung zum Passepartout für das Verständnis aller Manifestationen menschlicher Aktivität: Jede kulturelle Gestaltung beruht auf einer „ursprünglichefn] Tat des Geistes" (PhsFI, 9), die Kultur ist insgesamt als der „Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen" zu begreifen (VM, 345). Der praktische Grundbegriff wird ubiquitär und oszilliert hier in sachhaltiger Unscharfe zwischen theoretischen und praktischen Akten der Bestimmung wie zwischen poiesis und praxis. Die fundamentale Praktizität seiner kulturphilosophischen Konzeption, die das Motiv dieses Defizits bildet, wird nirgends deutlicher als in seiner erkenntnistheoretischen Grundlegung einer Theorie des Bedes wußtseins als Instanz praktisch motivierten Distanzgewinns durch Zeichengebrauch. sem

Zweck.

-

Ausführlicher dazu SAG 121-160. Cassirer differenziert seine Theorie der Sprache als der „Gestaltung der Eindrücke zu Vorstellungen" (PhsFI, 147), in welcher sich die Sinngebung als selbständiger Akt des Aufbaus einer Welt vollzieht, durch die „dreifache Stufenfolge" von mimischem, analogischem und rein symbolischem Ausdruck (PhsFI, 137). Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), ECW7, 160; 166f.; 169. Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918), ECW 8 (im folgenden zitiert als „KLL"), 235. -

II. Die Rolle der Sprache im symbolischen Formen

System der

„...mich dünkt, der Mensch würde (so wie das sprachlose Thier

in der äußern Welt wie in einem dunkeln betäubenden WellenMeere schwimmt) ebenfalls sich in den vollgestirnten Himmel der äußeren Anschauungen dumpf verlieren, wenn er das verworrene Leuchten nicht durch Sprache in Sternbilder abtheilte und sich durch diese das Ganze in Theile für das Bewußtsein auflösete."

Jean Paul

„Da hast du recht, Thomas!" rief sie. Sie sprang sogar empor dabei und wies ihm mit ausgestreckter Hand gerade ins Gesicht hinein. Ihr Gesicht war rot. Sie blieb in einer kriegerischen Haltung stehen, mit der einen Hand den Stuhl erfaßt, gestikulierte mit der anderen und hielt eine Rede, eine leidenschaftlich bewegte Rede, die unaufhaltsam hervorsprudelte. Der Konsul betrachtete sie erstaunt. Kaum, daß sie sich Zeit ließ, Atem zu schöpfen, so brausten und brodelten schon wieder neue Worte hervor. Ja, sie fand Worte, sie drückte alles aus, was sich während dieser Jahre an Widerwillen in ihr gesammelt hatte; ein bißchen ungeordnet und verworren, aber sie drückte es aus. Es war eine Explosion, ein Ausbruch voll verzweifelter Ehrlichkeit. Hier entlud sich etwas, gegen das es keinen Widerstand gab, etwas Elementares, worüber nicht mehr zu streiten war." Thomas Mann, „Buddenbrooks"

1.

Begriff und Problem der Sprache

Im Rahmen seiner großen Anthropologie entwickelt Cassirer eine Theorie der Sprache, mit der er an die Einsichten der Sprachphilosophie seit dem Platonischen Kratylos anknüpft. Nicht ein origineller Begriff der Sprache ist dabei sein Ziel wie sollte es das sein, da doch die Philosophie nach der Überzeugung, die er mit dem größten Teil der Philosophen teilt, kein Ort der Erfindung, sondern der erschließenden Explikation des menschlichen Selbstverständnisses und Weltverhältnisses ist? Für die Philosophie der Sprache heißt dies, daß er hier nicht origineller und innovativer sein will und muß als -

Die Elemente der Kultur

68

Kleist mit seinem Essay von 1800 Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und die drei großen H. Insbesondere kann er auf den Einsichten des Kantianers Wilhelm von Humboldt aufbauen: Die Sprache ist ihm im ersten phänomenologischen Zugriff das energetische „System von Lautzeichen" (PhsFI, 16); ihre Eigenart hat sie darin, daß sie gemäß der Aristotelischen Unterscheidung, die Humboldt aufnimmt, mehr energeia ist als ergon mehr geistige Tätigkeit als Werk und selbst als ergon die Spur und den Impetus geistiger Tätigkeit vermittelt; ihre Funktion hat sie im Ausdruck und in der Mitteilung von Gedanken. Soweit der Begriff der Sprache, wie ihn Humboldt entwickelt hat. Auch die Terminologie des Symbolischen, die Cassirers Ansatz charakterisiert, fügt solchem Reflexionswissen über die Sprache in der Sache nichts Neues hinzu. Denn die Pointe von Cassirers absichtsvoll weitem Begriff des Symbols liegt auf der Hand: Er betont in der Bestimmung der symbolischen Form, und das heißt ganz allgemein in allen Formen der Kultur, das Funktionsprinzip der Repräsentation als Verkörperung von Sinn in einem sinnlichen Medium, die Funktion jeglicher Versinnlichung von Sinn.2 Eine dieser typischen Weisen der Formung zur Wirklichkeit ist Cassirers programmatischer Konzeption zufolge die Sprache. Im folgenden soll es vor allem darum gehen, ob diese Überleitung von der allgemeinen Programmatik der Philosophie der symbolischen Formen in die darin enthaltene Sprachphilosophie eine angemessene Einordnung der Sprache in die Kultur enthält: Ist die Sprache, wie der unbestimmte Artikel unprätentiös nahelegt, nicht mehr als eine kulturelle Form unter allen anderen? Ebenso wie der Symbolbegriff dem Verständnis -

-

auffällig, daß Cassirer seine Sprachphilosophie auf der Grundlage einer (überwiegend doppelten) Vermittlung durch Texte entwickelt: Seine Untersuchung bezieht sich systematisch wie historisch auf Dokumente einer Schriftkultur der Sprache. Beispiele aus schriftlosen Sprachen wie aus denen, die es zur Entwicklung einer Schrift gebracht haben, bezieht er unterschiedslos aus den geschriebenen Beiträgen der Sprachforschung. Liegt hier ein Problem? Mit Rücksicht darauf, daß zwar die natürlichen Schriftsprachen immer auch Lautsprache, nicht aber umgekehrt alle gesprochenen Sprachen auch Schriftsprache (gewesen) sind, daß in der lautlichen Artikulation mithin die gemeinsame Funktion aller Sprache zu sehen ist, ist zu bezweifeln, daß im Verhältnis von textbezogener Forschungsmethode und Ansatz bei der Sprache als einem System von Lautzeichen ein Widerspruch oder ein blinder Fleck seines sprachphilosophischen Ansatzes zu sehen ist. Es ist zu konzedieren, daß eine Untersuchung dessen, was in einer Sprache durch die Ausbildung von Schrift geschieht, wünschenswert wäre. Doch wie wäre sie möglich? Es dürfte auch so sein, daß durch Cassirers Grundlegungsgedanken der Verfügung durch Distanzgewinn in der Verobjektivierung (siehe die Ausführungen im Abschnitt „Sprache als exemplarisch und als grundlegend", ab S. 69), in der er die ratio essendi aller symbolischen Formung sieht, auch das begriffliche Instrument zum Verständnis einer kontinuierlichen Entwicklung der Schrift aus der Sprache zu seEs ist

hen ist. Siehe oben Teil A,

Kap. II und Teil B, Kap. I.

Die Rolle der Sprache

69

Sprache nichts Neues hinzufügt, gibt er Sprache von anderen symbolischen Formen;

auch nicht die

spezifische

Differenz der er expliziert nur die ihnen allen gemeinsame Funktion. Der Ausdruck des Gedankens im artikulierten Laut stellt eine Weise der Symbolisierung unter anderen dar. Mehr Aufschluß ist durch den Begriff der symbolischen Form nicht zu haben. Durch ihre Einordnung in das System der symbolischen Formen ist also kein neuer Begriff der Sprache gewonnen. Wohl aber entwickelt Cassirer eine Theorie der Sprache, durch welche deren Ort und Wert im Ganzen menschlicher Leistungen bestimmt werden soll. Wir finden diese Theorie in der Monographie über Die Sprache von 1923, dem ersten Teil der Kulturphilosophie, in den beiden großen Aufsätzen über Sprache und Mythos von 1925 und Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt von 1932, außerdem in den der Sprache gewidmeten Kapiteln des Essay on Man von 1944. Diesen zuletzt genannten kürzeren Texten entnehmen wir Cassirers Theorie der Sprache sogar in dichterer, konziserer und prägnanterer Form, weil es in jener Monographie auch noch um die grundsätzliche Einführung in die Philosophie der symbolischen Formen und in eingehenden Rekonstruktionen um die Bestandsaufnahme der Tradition sprachphilosophischen Denkens geht. In der Zuwendung zu diesen Texten ist im folgenden anhand einer Skizze dieser Theorie der Sprache in ihren wesentlichen Zügen vor allem die bereits angeschnittene Frage zu erörtern, die wir mit dem bestimmten Artikel als das Problem der Sprache bei Ernst Cassirer ansprechen dürfen, weil es das systematische Problem seiner Sprachphilosophie ist: Begreift Cassirer die Sprache in letzter Instanz als eine unter anderen systematisch gleichwertigen symbolischen Formen, oder schreibt er ihr im System der kulturellen Symbolismen einen ausgezeichneten Status zu? Es wird sich zudem zeigen, daß die Frage nach dem ausgezeichneten Status der Sprache auf jene andere hinausläuft, die am Grunde nahezu aller Ansätze der modernen Sprachphilosophie steht: Gibt es ein Denken ohne Sprache? In einer Symboltheorie wie der Theorie der symbolischen Formen nimmt sie die Form an: Gibt es Bedeutung ohne Sprache? der

2.

Sprache als exemplarisch und als grundlegend: „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" (1932)

Wenn Cassirer in der Monographie über Die

Sprache sagt:

„Die Sprache steht in einem Brennpunkt des geistigen Seins, in dem sich Strahlen ganz

schiedenartiger Herkunft ausgehen" (PhsFI, 121),

vereinen und

von

ver-

dem Richtlinien nach allen Gebieten des Geistes

70

Die Elemente der Kultur

Sprache kommt eine besondere Stellung im geProzeß des Geistes samten zu, als den Cassirer die Kultur begreift. verobjektivierten Zum einen zählt er in seinen häufig wiederholten Grundsatzerklärungen einfach auf: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft dies ist das Spektrum der kulturellen Symbolismen. Überall dort, wo er das Programm seiner Anthropologie beschreibt, legt er offenbar Wert auf die von hierarchischen Ableitungen freie Vielfalt der Kultur. Zum anderen aber widmet er sich der Sprache von vornherein mit dem Anspruch, an ihr etwas Grundsätzliches zur Kultur überhaupt und damit über alle Formen der Funktion menschlichen Geistes auszumachen. Die Sprache ist insofern stets als eine symbolische Form unter anderen gefaßt, aber doch nicht bloß als eine unter anderen. Scheint sie im systematischen Kontext der anderen Kulturformen von vornherein den Part des primus inter pares einzunehmen, so bleibt es nicht zuletzt im Hinblick auf die geschichtsphilosophische Konstruktion geistigen Fortschritts, die Cassirer mit seinem Kulturbegriff verbindet, zutiefst dunkel, wie sie eigentlich einzuschätzen ist. So veranschaulicht Cassirer seine Theorie der Sprache als der „Gestaltung der Eindrücke zu Vorstellungen" (PhsFI, 147), in welcher sich die Sinngebung als selbständiger Akt des Aufbaus einer Welt vollzieht, in der Monographie über Die Sprache durch die „dreifache Stufenfolge" von mimischem, analogischem und rein symbolischem Ausdruck (PhsFI, 137). Ein Problem ergibt sich freilich daraus, daß in diesem geistigen Entwicklungsschema nicht nur geschichtsphilosophisch drei Stufen der Entwicklung zunehmender Verfügung durch Abstraktion, sondern auch systematisch drei Elemente des funktionalen Aufbaus der Sprache(n) gesehen werden sollen. Das Schema bringt zudem das weitere Problem mit sich, daß es für die Sprache, in deren theoretischer Explikation es doch entwickelt wird, nicht durchzuführen ist: Nach Cassirers Einschätzung ist die Sprache aufgrund ihrer konstitutiven Bindung an die sinnliche Artikulation der höchsten Abstraktionsstufe der Symbolisierung im rein symbolischen Ausdruck nicht dann wird daran soviel deutlich: Der

-

fähig. Doch dies bezeichnet nur eines der Probleme, die Cassirer in seiner Theorie der Sprache offen läßt. Sehen wir uns nun vor allem das bereits formulierte grundlegende Problem seiner Sprachphilosophie genauer an. Daß Ernst Cassirer seine ursprünglich auf mehr als drei Bände geplante Kulturphilosophie mit dem Buch über Die Sprache beginnt, ist keine beliebige Entscheidung. Auch daß er den Begriff einer Energie des Geistes, durch den er seine Prägung der symbolischen Form erläutert, der Humboldtschen Definition der Sprache als einer energeia entnimmt, läßt die maßgebende Rolle sprachphilosophischer Einsichten für die Theorie der Kultur überhaupt vermuten. Insbesondere die in der Einleitung zum ersten Teil gegebene Theorie des Zusammenhangs von Bewußtsein und Sprache scheint deutlich zu machen, daß die Sprache das Weltver3

Siehe oben Teil A,

Kap. II, 5.

71

Die Rolle der Sprache

hältnis des Menschen grundlegend bestimmt. In der Retrospektive auf das Gesamtwerk, in der Perspektive des Essay on Man, fällt die systematische Sonderstellung der Sprache womöglich sogar noch auffälliger ins Auge: Wie ist es zu verstehen, daß sie hier auf zwei systematischen Ebenen der Problemgliederung zu stehen kommt: nicht nur im materialen Teil des Buches, bei der Behandlung der einzelnen Bereiche der Kultur, sondern auch schon im einführenden Teil des Buches, in dem die generelle symboltheoretische Grundlegung der Kultur gegeben wird? Wie ist es möglich, daß Cassirer seine elementaren Bestimmungen der Kultur als System der Symbolprozesse ohne weiteres am Beispiel der Sprache einführen kann? Offenbar kann er sie nur am Beispiel der Sprache ohne systematische Einbuße einführen. „Ohne ein komplexes Symbolsystem kann relationales Denken gar nicht entstehen, geschweige denn zur Entfaltung gelangen," heißt es allgemein zur Charakterisierung der reflexiven Beweglichkeit in Symbolsystemen (VM, 66 f.). Im Duktus von Cassirers Überlegung sieht es so aus, daß dieses Moment der Reflexivität wie überhaupt alle wesentlichen Momente der symbolischen Formung, ihre Ubiquität und Variabilität, ihr Charakter von systemischer Vernetzung und damit ihre Universalität, im Blick auf die Leistung der Sprache besser als durch andere Beispiele dargestellt werden können. Jedes Ding hat einen Namen: Am Beispiel der Sprache wird exemplarisch, was Kultur ist weil sich an ihrem beweglichen, lückenlosen und grenzenlosen System exemplifizieren läßt, wie die Welt für uns durch Leistungen der Symbolerzeugung und des Symbolverstehens vernetzt ist. Wenn die Sprache derart für die Erläuterung der symbolischen Formen als exemplarisch anzusehen ist, heißt dies auch, daß sie als grundlegend für das Verständnis von Kultur aufzufassen ist? In der deutlichsten und am stärksten generalisierenden Weise hat Cassirer die Einschätzung des grundlegenden Charakters der Sprache in dem Aufsatz Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt behauptet. Die Sprache ist darin bestimmt als das unhintergehbare „Mittel der Gegenstandsbildung" (SAG, 126) und damit als unverzichtbares Medium jenes Distanzgewinns durch Verobjektivierung, ohne den es keinen selbstbestimmten Umgang, keine geistige Aneignung, keine Verfügung über die Dinge und keine Orientierung geben kann. Im gleichen Zuge, wie unsere sprachliche Artikulation derart die Gegenstandswelt aufbaut, in der wir uns qualifiziert bewegen können, baut sie dabei uns selbst als artikulierbare Instanz aller Erfahrung auf. Cassirer sagt: -

„|A|lle Selbstbeobachtung, auch alles Wissen

von unseren eigenen inneren Zuständen ist weit Bewußtsein kommt, durch die Sprache bedingt und durch sie gewöhnlich vermittelt. Nicht nur das Denken ist, wie Piaton es genannt hat, ein .Gespräch der Seele mit

mehr, als

es uns

zum

Ernst Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt (1932/33), in: ders., Symbol, Technik, Sprache, a.a.O., im folgenden zitiert als „SAG".

72

Die Elemente der Kultur sich selbst', sondern bis in die Schicht der Wahrnehmung und Anschauung, ja bis in die Tiefe des Gefühls reicht diese Verbundenheit und diese unlösliche Verschmolzenheit mit der Sprache zurück." (SAG, 125)

Insbesondere für den Bereich des praktischen Selbstbewußtseins macht Cassirer hier von dieser weit über die Belange der Objekterkenntnis hinausgehenden Einsicht Gebrauch, indem er die Sprache zum einen als Mittel der elementaren Affektkontrolle im Dienst der Selbstbestimmung und damit als Medium der Selbstbeherrschung erkennt, zum anderen den mit dem Spracherwerb verbundenen Impetus, richtig zu sprechen, als den Ursprung des Bewußtseins von Normativität begreift. Den Dimensionen der objektiven und der subjektiven Formierungsaspekte, den Leistungen der sprachlichen Artikulation für den Aufbau der Gegenstandswelt wie der inneren Welt fügt er schließlich die der intersubjektiven Leistung der Sprache für den Aufbau der sozialen Welt hinzu. Nicht allein als „Mittel der Gegenstandsbildung" und als „spezifisches Mittel der ,Menschwerdung'" (SAG, 148) begreift Cassirer damit die Sprache. Seine erkenntnistheoretischen Untersuchungen laufen darauf hinaus, daß es ohne Sprache überhaupt keine Wirklichkeit gibt im Sinne jenes Wirkungszusammenhanges, in dem wir uns selbst befinden und der uns etwas bedeutet -, weil diese Wirklichkeit als Kontext der Gegenstandsbildung, als systematisches Korrelat unseres Verstehens sich der Leistung der „geistigen Einheitsbildung" (SAG, 130) verdankt, die in sprachlichen Begriffen erfolgt, also: im Denken. Daß es kein Denken ohne Sprache gibt, ist die Zuspitzung des Gedankens von der Sprache als dem unhintergehbaren Mittel der Gegenstandsbildung, mit der sich Cassirer auf den fragmentarischen Essay von Heinrich von Kleist Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden bezieht. Die These, die Kleist hier illustrieren will, setzt er selbst in Analogie zu der treuherzigen Volksweisheit, daß der Appetit beim Essen komme: Die Idee kommt beim Sprechen („l'appétit vient en mangeant" „l'idée vient en parlant"). Es geht hier um jene Dialektik der Artikulation, die Cassirer insgesamt für die Funktion der Symbole geltend macht: Sie leisten eine Darstellung, ohne daß durch diese Darstellung dem Darzustellenden etwas verlorengeht oder hinzugefügt wird, sondern vielmehr so, daß das Dargestellte in der Darstellung allererst seine Realität erhält. Symbole sind insofern selbst Zeichen ohne Abbreviatur] So stellt es Kleist in seinem Essay über die Gleichursprünglichkeit von Sprechen und Denken dar: Der Gedanke ist noch gar nicht, wenn wir anfangen zu sprechen, sondern er bildet sich erst im Vollzug seiner sprachlichen Artikulation er wird beim Reden allmählich verfertigt. -

-

Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1800), in: ders., Das Erdbeben in Chili [...] und andere Prosastücke, Stuttgart 1961, 48-55. A.a.O., 48. Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, a.a.O., 104 u. ö.

73

Die Rolle der Sprache

„Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemütsakte(n) für eins und das andere,

kongruieren." Cassirer spricht mit Bezug auf diese Quintessenz von einem „Grundverhältnis zwischen Denken und Sprechen" (SAG, 150), und er resümiert: „Die Dynamik des Denkens und die Dynamik des Sprechens gehen mit einander Hand in Hand; zwischen beiden Prozessen findet ein ständiger Kräfteaustausch statt. Der gesamte Kreislauf des seelisch-geistigen Geschehens ist auf diesen Austausch von ihm her stets aufs neue in Bewegung gesetzt." (SAG 151)

Diese

angewiesen

und wird

metaphorische Rede,

daß der gesamte Kreislauf des seelisch-geistigen Geschehens auf diesen Austausch angewiesen sei und von ihm her stets aufs neue in Bewegung gesetzt werde, darf wohl so verstanden werden, daß dies Grundverhältnis zwischen Denken und Sprechen und damit die Sprache als solche konstitutiven Anteil hat an jeder anderen, nichtsprachlichen Symbolisierung. Nicht allein die dingliche, sondern jegliche, auch die abstrakte Gegenstandsbestimmung gewinnen wir demnach durch sprachliche Artikulation. Wenn Gegenständlichkeit in diesem Sinne die kognitive Basalfunktion aller spezifischen Bestimmung von Bedeutung ist, wäre die Sprache damit als grundlegend für alle andere kulturelle Leistung behauptet. Ihre Tiefendimension erhält diese Bestimmung der Sprache durch die Theorie des Bewußtseins als natürlicher Symbolik, die Cassirer im ersten Teil der Philosophie der symbolischen Formen skizziert. Für unsere Fragestellung ist daran bezeichnend, daß und wie er diesen konstitutiven Zusammenhang gänzlich akernativlos im Rahmen seines Buches über Die Sprache entwickelt. Wir finden hierin nur eine Verstärkung der systematischen Entscheidung, die auch bereits aus dem Theorem der Sprachfunktion für die elementare Vergegenständlichung hervorgeht: Die Sprache ist als die grundlegende Form der Symbolisierung zu

begreifen.'

x

9 10

Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken, a.a.O., 52. Siehe Teil B, Kap.I, 3. So auch Thomas Göller, Ernst Cassirers kritische Sprachphilosophie. lität, Würzburg 1986, 47 ff.

Darstellung, Kritik,

Aktua-

74

Die Elemente

der

Kultur

3. Cassirers Theorie der radikalen Metapher: „Sprache und Mythos" (1925) Das aber macht die Grenzziehung zwischen Sprache und den anderen symbolischen Formen problematisch. Denn daß die Sprache als grundlegend zu begreifen ist, kann wohl kaum heißen, sie im Sinne säuberlich trennbarer zeitlicher Phasen als die historisch erste Form der symbolischen Weltkonstitution aufzufassen, der dann die anderen Formen eine nach der anderen folgten. Auf die Sprache würde so verstanden der Mythos folgen, auf den Mythos die Religion und die Kunst, und danach die Wissenschaft. Und wo wäre die Sprache im mythischen Denken, in der Kunst, in der Wissenschaft?

Noch nicht vorhanden oder überwunden? Daß dies ebensowenig die angemessene Interpretationsthese zur impliziten Geschichtsphilosophie Cassirers sein kann wie es eine systematisch sinnvolle These wäre, können schon auf den ersten Blick einige Indizien nahebringen. Was der Mythos, oder wie es Cassirer im Titel seines Buches angemessener sagt: was das mythische Denken als kulturelle Form eigentlich ist, wissen wir in erster Linie aus den großen literarischen Dokumenten der Völker. Aus Ursprungserzählungen, Kosmogonien, Götter- und Heldensagen ist jene Weltanschauung zu entnehmen, die Cassirer charakterisiert durch das Hervorgehen aller Bedeutung aus der Einheit des Gefühls, das intuitive Band der Allsympathie und das Fehlen jeglicher Reflexionsdistanz, durch die Dominanz des magischen Ritus vor der Trennung von Theorie und Praxis, durch die unreflektierte Macht der Bilder über das Bewußtsein, durch die elementare Scheidung aller räumlichen und zeitlichen Verhältnisse in der Entgegensetzung des Heiligen und des Profanen. Wir kennen dies aus literarischen Zeugnissen, durch die auch die erhaltenen Darstellungen im bildnerischen Medium erst zum Sprechen zu bringen sind. Es kann also nicht um einen Begriff des Mythos gehen, in dem die Sprache als noch nicht vorhanden oder als überwunden verabschiedet wäre. Umgekehrt ist auch für die bei Cassirer gelegentlich begegnende Bestimmung des Mythos als des Mutterbodens der Kultur aus dieser Vergewisserung eine hilfreiche Klärung zu gewinnen: Sie ist nicht so auszulegen, daß der Mythos eine Monokultur hätte darstellen können. Der Mythos ist per se nicht als sprachlos zu denken. Das mythische Denken ist auf andere Medien der Artikulation angewiesen, deren vorrangiges offenkundig auch bereits die Sprache ist. Die grundlegende Funktion der Sprache, von der im Blick auf einige deutlich auf der programmati-

Siehe Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), ECW 12; ders., Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (1925), in: ECW 16, 227-311 (im folgenden zitiert als „SM"); ders., VM, 116-170; ders., Der Mythus des Staates, a. a. O, 7-69.

75

Die Rolle der Sprache

sehen Ebene der Theorie zutage tretende konzeptionelle Entscheidungen zu sprechen wäre, ist so aufzufassen, daß die Sprache im Mythos als jener anderen symbolischen Form, deren basalen Charakter Cassirer herausstreicht, aufgehoben sein muß. Cassirer hat sich in diesem Sinne schon früh geäußert. So heißt es in dem Aufsatz über Goethe und die mathematische Physik 1921: „Wie verhält sich etwa die charakteristische Form des sprachlichen Denkens und des sprachlichen Begriffs zur Form des wissenschaftlichen Begriffs und der wissenschaftlichen Erkenntnis? (...) Welches ist die Rolle, die die Sprache im Aufbau und in der Ausgestaltung des Mythos und der mythischen Weltansicht spielt? Auf alle diese Fragen läßt sich offenbar keine zureichende Antwort erteilen, solange wir rein innerhalb des sprachlichen Kreises stehenbleiben; sondern hier müssen wir ein umfassendes Bezugssystem, einen Inbegriff der geistigen Grundfunktionen überhaupt, voraussetzen, in welchem wie der Sprache, so auch jedem andern Einzelglied sein idealer Ort bestimmt werden muß. Da das .Wirkliche' für uns, gemäß der idealistischen Einsicht, nicht anders als in diesen Funktionen zu erfassen ¡st, da Sprache und Mythos, Kunst und Religion, da mathematisch-exakte und empirisch-beschreibende Erkenntnis für uns nur gleichsam verschiedene symbolische Formen sind, in denen wir die entscheidende Synthese von Geist und Welt vollziehen: so gibt es für uns .Wahrheit' nur insofern, als wir jede dieser Formen in ihrer charakteristischen Eigenart begreifen und uns zugleich die Wechselbezüglichkeit vergegenwärtigen, in welcher sie mit allen andern zusammenhängt." Für das Verständnis der kulturellen Systematik liegt es nahe, solche Verhältnisbestimmungen auch wiederum exemplarisch aufzufassen, und zwar 1. insgesamt für das Verhältnis der Sprache zu den anderen symbolischen Formen und 2. in einem weiteren Sinne überhaupt für das Verhältnis von symbolischen Formen untereinander. Nicht nur der Begriff der symbolischen Formen, im Begriff ihrer „Wechselbezüglichkeit" auch das methodische Bewußtsein von der Schwierigkeit ihrer Trennung voneinander, ist hier schon zwei Jahre vor dem Erscheinen des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen ausgeprägt. Die säuberliche Aufzählung der symbolischen Formen Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte wäre demnach als eine Folge von idealtypisierenden analytischen Trennungen in einem interdependenten Funktionszusammenhang zu begreifen. Wir müssen diese Trennungen machen, wenn wir etwas begreifen wollen weil wir über einen funktionalen Komplex eines nach dem anderen sagen müssen. In dieser beiläufigen Feststellung ist übrigens weniger eine theoretische Einsicht über die Sprache als vielmehr über das Zeitschema des Bewußtseins enthalten. Es ist Cassirer selbst, der in einem anderen Kontext auf diese elementare Notwendigkeit hinweist, indem er sagt: „Aller geistige Inhalt ist für uns notwendig an die Form des Bewußtseins -

Ernst Cassirer, Goethe und die mathematische

Physik, in: ders., Idee und Gestalt, ECW 9, 303.

Die Elemente der Kultur

76

und somit an die Form der Zeit gebunden." Das aber heißt auch: Man muß eines nach dem anderen sagen, und das kann man nur in der zeitweiligen Konzentration auf analytische Präparate. Läßt sich hinausgehend über diese Klärungen zur Leistung der Sprache für die Fixierung des Bewußtseinsinhaltes und zur elementaren Beteiligung an den anderen symbolischen Formen aber auch ihre spezifische Differenz zu anderen symbolischen Formen erklären? „Die Sprache ist ihrem Wesen nach metaphorisch" heißt es im Versuch über den Menschen (VM, 171). Eine Erläuterung dieses irritierenden Satzes sucht man im Text vergebens; sie findet sich allein in der Theorie der radikalen Metapher, die Cassirer in dem Aufsatz über Sprache und Mythos von 1925 skizziert. Er plagt sich hier in genealogischer Perspektive mit der Verhältnisbestimmung dieser beiden symbolischen Formen Sprache und Mythos und sucht die „enge Verflochtenheit des mythischen und des sprachlichen Denkens" (SM, 295) zu durchdringen. Wenn man auch, wie er es ausdrücklich tut, den Mythos als den „gemeinsamen Mutterboden" begreift, von dem sich die anderen symbolischen Formen „erst ganz allmählich" loslösen (SM, 266), bedarf es dann doch einer eingehenderen Anstrengung, um den Einsatz der Sprache genauer zu bestimmen. Denn nicht allein die „beherrschende Stellung des Wortes" in allen Kosmogonien, sondern vor allem schon der methodische Primat der mythischen Ursprungserzählung bei der Bemühung um das Verständnis des mythischen Denkens und der mythischen Lebensform, also die bereits erwähnte Tatsache, daß das Syndrom des mythischen Denkens primär auf dem Weg über die sprachliche Darstellung im Mythos als narrativer Form zugänglich ist spricht dafür, daß die Sprache ihrerseits bereits vorausgesetzt ist für die Konstitution der mythischen Welt. Was hier wie eine Unsicherheit in der Frage nach dem genealogischen Vorrang des Mythos oder der Sprache beim Aufbau der Kultur aussieht, betrifft abermals das Problem, das grundsätzlich bereits in dem Aufsatz über Goethe und die mathematische Physik bedacht wird: als Interdependenz und Interferenz, als funktionale Verschränkung und Überlagerung der sym-

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bolischen Formen. Es ist diese Einsicht, die Cassirer nötigt, eine „gemeinsame Wurzel" von Mythos und Sprache in den Blick zu nehmen und die ihm erlaubt, ihre „letzte Gemeinsamkeit in der Funktion des Gestaltens" zu fassen (SM, 299; Hervorh. B.R.): Diese Gemeinsamkeit aber, im Blick auf die sich dann nur noch eine „wechselseitige [...] Bedingtheit" von Sprache und Mythos feststellen läßt (SM, 302), sieht er in der „Form des metaphorischen Denkens" (SM, 299; Hervorh. B.R.).

Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 80. Die Spannung dieser Zeitlichkeit des Bewußtseins zu dem mit ihm gesetzten Anspruch auf dauerhafte Geltung seiner Leistungen bezeichnet Cassirer als die „Antinomie [... | des Bewußtseins", (a.a.O., 81 ). -

77

Die Rolle der Sprache

gewinnt diese Bestimmung im Anschluß an die Unterscheidung zweier Begriffe von Metapher: Erstens in einer Definition, in der wir unschwer den geläufigen Begriff der Metapher erkennen, „als de[n] bewußte[n] Ersatz der Bezeichnung für einen Vorstellungsinhalt durch den Namen eines anderen Inhaltes" aufgrund einer Analogie (SM, 301 ).14 Diese gibt die „Umschreibung eines Ausdrucks durch einen anderen" (SM, 302) und leistet insofern eine „echte .Übertragung'" (SM, 301). Zweitens entwickelt er den Begriff von derjenigen „wahrhaft ,radikale[n]' Metapher [...], die eine Bedingung der Sprachbildung sowie eine Bedingung der mythischen Begriffsbildung selbst ist. In der Tat erfordert schon die primitivste sprachliche Äußerung die Umsetzung eines bestimmten Anschauungs- oder Gefühlsgehaltes in den Laut, also in ein diesem Inhalt selbst fremdes, ja disparates Medium". Cassirer resümiert: „Hier findet nicht nur eine Übertragung, sondern eine echte metabasis eis alio genos statt" (SM, 302) eine „Darstellung seelischer Regungen und Erregungen in bestimmten objektiven Bildungen und Cassirer

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Gebilden" (SM, 303).

Begriff der „radikalen Metapher" meint somit jegliche „Umsetzung [...] in ein fremdes [...] [...] Medium" (SM, 302). Die raffinierte Pointe dieses Bezuges auf einen gänzlich unspezifischen Übertragungsvorgang wird erst deutlich, wenn Cassirer dieses „eigentliche Grundprinzip der sprachlichen sowohl wie der mythischen ,Metapher'" erläutert: „das Prinzip, das man gewöhnlich als den Grundsatz des ,Pars pro toto' ausspricht" (SM, 305). Mit Bezug auf die Sprache betont Cassirer ausdrücklich, „daß diese Funktion" des pars-pro-toto „keinen Teil der Sprache ausmacht, sondern daß sie sich über das Ganze des Sprechens erstreckt und dieses Ganze kennzeichnet" (SM, 308). Gemeint ist damit nämlich die „Grundform der sprachlichen Begriffsbildung". In der ursprünglichen Merkmalssetzung, in dem was Cassirer in seiner Theorie des Begriffs als den Akt der Bestimmung von Eigenschaften der generalisierenden Abstraktion noch Der

In Cassirers gesamter Sprachphilosophie sucht man nach prägnanten Ansätzen zu einer Theorie der Metapher in diesem engeren Sinne vergebens. Dabei haben wir im Blick auf die Systematik der Phasen und Funktionen von Symbolisierung, die er zur Konzeptualisierung der funktionalen Einheit in der kulturellen Vielfalt zugrundelegt und in dem Band über Die Sprache ausführlich exemplifiziert (vgl. PhsFI, Kap.II, 133ff.), den Eindruck, daß in seine Sprachphilosophie unausdrücklich eine Theorie der Metapher eingelassen ist. Wir zögern nur, ob wir deren Zuordnung zur mimisch(-mimetischen) Phase und zur Ausdrucksfunktion oder eher zur analogischen Phase und Es ist auffällig, daß zur Darstellungsfunktion der Sprache favorisieren. Beides wäre möglich. die bisherigen Arbeiten über Cassirers Sprachphilosophie dieser Frage und dem Defizit einer Theorie der Metapher keine Beachtung geschenkt haben; weder bei Jens-Peter Peters, Cassirer, Kant und Sprache. Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen", Frankfurt/M. u.a. 1982, noch bei Göller, Ernst Cassirers kritische Sprachphilosophie, a.a.O., noch bei Dominic Kaegi, Ernst Cassirer, in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Piaton bis Noam Chomsky, hg. -

von

Tilman Borsche, München 1996, 347-363, findet sich ein Hinweis.

Die Elemente der Kultur

78

vorausordnet, ist demnach bereits eine metaphorische Operation, besser: die metaphorische Operation der pars-pro-toto-Repräsentation zu sehen. „Die Gleichheit des im Wort Moments läßt alle sonstige Heterogenität der Anschauungsinhalte mehr und bringt sie zuletzt ganz zum Verschwinden. Auch hier setzt mehr zurücktreten und sich somit der Teil an die Stelle des Ganzen, ja er wird und ist das Ganze." (SM, 308) In dieser Setzung von Merkmalen durch die Begriffsbildung haben wir somit nach Cassirer den fundamentalen metaphorischen Vorgang zu sehen, „die Form des metaphorischen Denkens" (SM, 299), und damit etwas, das selbst nicht genuin sprachlich ist, sondern eine der „konsumtiven Bedingungen" der Sprache. Man hat sich nur klarzumachen, wie die Bestimmung der Umsetzung in ein fremdes Medium und die der pars-pro-

festgehaltenen

toto-Setzung den Begriff der Metapher zusammenhalten, nämlich als der Prozeß-Aspekt und der Resultat-Aspekt derselben geistigen Operation, um die damit entwickelte These zusammenfassen zu können: Die sprachliche Begriffsbildung ist als Setzung eines pars-pro-toto und als Umsetzung in ein fremdes Medium als solche metaphorisch. Doch in der „Form des metaphorischen Denkens" ist ausdrücklich nicht nur eine Bedingung der Sprache benannt. Sprache, Mythos und wie Cassirer andeutet Kunst teilen sich in die Gemeinsamkeit dieses metaphorischen Ursprungs.15 Nicht allein der sprachliche Ausdruck, auch das Bild, dessen Dominanz die Eigenart des mythischen Denkens ausmacht ja: jede Weise der Gestaltung erfüllt die von Cassirer im Begriff der radikalen Metapher gemeinte Funktion der Umsetzung in ein fremdes Medium. Wenn wir die Erläuterung der in jedem Fall übertragenden Artikulation richtig verstehen, dann dürfte aber auch die Ablösung des Mythos durch die Wissenschaft an der radikalen metaphorischen Funktion, die in jeder Begriffsbildung wirksam ist, nichts ändern. Die Bestimmungen der Übertragung in ein fremdes Medium und des pars-pro-toto treffen nämlich jede Zeichensetzung als Sinnerfüllung des Sinnlichen. Durch den Hinweis auf die Funktion der radikalen Metapher ist demnach aber zugleich mit dem Ursprung der Sprache und des Mythos auch der Ursprung jeder anderen kulturellen Gestaltung bezeichnet. Nehmen wir Cassirers Erläuterung dieser konstitutiven Bedingung derart als exemplarisch und übertragen wir sie folglich auf alle symbolischen Formen, dann wird die anthropologische Tragweite dieses Erklärungsansatzes kenntlich: Die radikale Metapher steht ganz allgemein für die elementare Aktivität, die allen symbolischen Formen zugrunde liegt. Das gesuchte Prinzip der Kultur, dem Cassirer in der Frage nach der Einheit der symbolischen Formen bis zuletzt immer wieder nachgeht, wäre demnach die radikale Metapher. Hier liegt zuletzt das Geheimnis der immer wieder programmatisch beschworenen Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck, der -

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16

Zum Verhältnis der symbolischen Formen siehe auch Siehe VM, 113 ff.; 336ff.

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PhsFII, 305 f.

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Die Rolle der Sprache

79 17

sich in der sinnbildenden Tätigkeit des Menschen vollziehe: Es muß ganz generell eine Übertragung in ein fremdes Medium stattfinden, durch welche das spontane Sinnerleben in der Distanzierung zugleich auf Dauer und zur Verfügung gestellt wird. Wir sehen den überzeugten Aufklärer Cassirer hier in unmittelbarer Nähe zu Fried19 rieh Nietzsches „aesthetischer Metaphysik", denn es ist tatsächlich derselbe elementare Begriff der Übertragung in ein anderes Medium, den Nietzsche im Anschluß an Gustav Gerber in der unveröffentlichten kleinen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne entwickelt hat. Zur Erläuterung jenes Triebes zur Metapher20 bildung, in dem Nietzsche den „Fundamentaltrieb des Menschen" sieht, heißt es dort: zuerst übertragen in ein Bild! einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal hinein in eine ganz andere und neue."

„Ein Nervenreiz

Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten

erste

Zwar kommt als spiritus rector für die Einsicht, daß alle Sprache metaphorisch ist, zunächst Herder in Betracht. In der wirkungsmächtigen Abhandlung über den Ursprung 22 der Sprache stellt er die metaphorische Funktion der Sprache, die um so offensichtlicher ist, „je älter und ursprünglicher" eine Sprache ist (AUS, 45), in den Kontext seiner 17 18

Vgl. einige Stellen für viele in PhsFI, 18; 40f.; VM, 339. In der Sache bezieht sich die radikale Metapher die Umsetzung von Bewußtseinsinhalten in ein fremdes Medium auf den Vorgang, den Cassirer später im Begriff der symbolischen Prägnanz zu fassen sucht: „Unter .symbolischer Prägnanz' soll [...] die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches' Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen Sinn in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt." (PhsFIII, 231) Es ist leicht zu sehen, daß damit zwei komplementäre Aspekte des spontanen Habens von Bedeutung intendiert sind: Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen, und es wird immer schon in spezifischer Weise und damit auf verschiedene mögliche Weisen als sinnvoll wahrgenommen (siehe oben Teil A, Kap. II, 1 und Teil B, Kap. I, 1. Während die Umset-

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19

zung in ein fremdes Medium die Produktion von Sinn in einem sinnlichen Medium thematisiert, betont die symbolische Prägnanz den komplementären Aspekt: die (produktive) Wahrnehmung des Sinns in einem sinnlichen Medium. Daß Cassirer auf die Theorie der radikalen Metapher nach Sprache und Mythos von 1925 nie wieder zurückgekommen ist, könnte daher seinen Grund darin haben, daß spätestens 1929 im dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen ein Begriff eigener terminologischer Prägung für denselben Sachverhalt entwickelt war. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), in: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (im folgenden zitiert als „KSA")

1,9-156, Zitat: 43. Ders., Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), in: KSA 1, 873-890, Zitat: 21 22

887.

A.a.O., 879. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1771); in: Johann Gottfried Herders Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, Hamburg 1960 et pass., 1-87 (im fol-

genden zitiert als „AUS").

Die Elemente der Kultur

80

Anthropologie des Mängelwesens (AUS, 19f.; 28): Mit der Erklärung durch die „Analogie der Sinne" (AUS, 45) und die „Übertragungen aus Gefühl in Gefühl" (AUS, 46) bezieht er die Metapher zuletzt auf die „Armut der menschlichen Seele" und auf ihren 23 „Drang [...], sich ausdrücken zu wollen" (ebd.). Doch was sich durch den naheliegen-

den Rekurs auf Herder nicht erklärt und den Blick auf Nietzsche lenkt, ist die Übertragung des Metaphernkonzepts auf jede mediale Gestaltung, die Cassirer mit der Theorie der radikalen Metapher verfolgt. Mit Nietzsches Intention, durch einen entgrenzten Begriff der Metapher die allem zugrundeliegende Kreativität des Menschen zu bezeichnen, hat Cassirers systematische Intention, durch einen entgrenzten Begriff der Metapher die funktionale Einheit der Kultur in der spontanen und produktiven Tätigkeit zu kennzeichnen, eine ganz verblüffende Ähnlichkeit. Nicht das Spezifikum der Kunst hat Cassirer für die Grundlegung seiner Kulturtheorie im Sinn und damit keine Artisten-Metaphysik, aber in einem Ansatz, dem in der methodischen Nachfolge der Kopernikanischen Wende jede menschliche Wirklichkeit sich einer produktiven Tat des Geistes verdankt durchaus so etwas wie eine Produzenten-Metaphysik, die nach dem Modell konstruiert ist, das zunächst als Spezifikum der Sprache gewonnen wird. -

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4.

Bedeutung ohne Sprache?

So interessant diese Entdeckung auch sein mag im Hinblick auf unsere Frage sind wir augenscheinlich nach dieser Reflexion wieder so klug wie zuvor. Denn nach der Erhellung des Funktionszusammenhanges von Bewußtsein und Sprache, aufgrund derer es so aussieht, als sei die exklusive Grundlegungsfunktion der Sprache für die Kultur sichergestellt, führt uns die Frage nach dem spezifischen Charakter der Sprache im Unterschied zu anderen symbolischen Formen auf eine Funktion, die sie mit jeder kulturellen Form teilt, und die spezifischen Differenzen verschwimmen wieder. Die Durchdringung des Sprachproblems anhand von Cassirers Reflexionen scheint in eine Antinomie zu führen. Dabei liegt die Brisanz des Problems darin, daß die Fragen nach dem grundlegenden Beitrag der Sprache und nach ihrer spezifischen Differenz in der trennscharfen Abgrenzung von anderen symbolischen Formen auf jene andere Frage hinauslaufen: Gibt es Bedeutung ohne Sprache? Im Kapitel über das Bewußtsein als natürliche Symbolik im -

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Cassirer bezieht sich wiederholt emphatisch auf Herder, so in Freiheit und Form, a.a.O., 115-135; PhsFI, 93ff; siehe auch SM, 299f. Dabei nimmt sich mit Blick auf den Fundamentalismus der Metapher, den er hier selbst zu entwickeln im Begriff ist, die wenig prägnante Erwähnung von Herders mythischer Sprachauffassung wie eine Unterbestimmung aus. Siehe z.B. PhsFI, 6 ff; 41 ff.

81

Die Rolle der Sprache

der symbolischen Formen konnte zwar festgestellt werden, daß der Übergang von der natürlichen Symbolik des Bewußtseinsvollzuges in den artifiziellen Zeichengebrauch nicht allein wie eine natürliche Folge des Bewußtseinsvollzuges selbst dargestellt, sondern auch ganz selbstverständlich auf den artifiziellen Zeichengebrauch der Sprache bezogen war. Ob dieser Übergang mit Notwendigkeit in die Form der Sprache erfolgt das ist hier die Frage. Daß das Bewußtsein nur im Gebrauch künstlicher Symbole das leistet, was es soll, vermag mit Blick auf deren Gebrauchsvorzug der Verfügung durch Distanzgewinn, also mit Blick auf die Unverzichtbarkeit der Vergegenständlichung für den pragmatischen Vollzugssinn des Bewußtseins selber zu überzeugen. Aber ist es notwendig sprachliche Symbolik, in der dieser Sinn gesichert werden muß? Müssen wir mit Blick auf die von Cassirer betonte Macht der Bilder über das mythische Denken und insbesondere angesichts der ausdrücklichen systematischen Gleichstellung von Sprache und Mythos in dem Aufsatz, der die Theorie der radikalen Metapher entwickelt, nicht annehmen, daß das Bild eine ebenso ursprüngliche Umsetzung von Bewußtseinsvollzügen in ein fremdes Medium ist wie das Wort? Es sieht über weite Strecken so aus, als fände sich bei Cassirer auf die Frage, ob es Bedeutung ohne Sprache gäbe, keine ausdrückliche Antwort. So eng er in seiner gesamten Exposition sprachlicher Elementarfunktionen vom Aufbau der Gegenstandswelt über den Aufbau der Phantasiewelt, die Stiftung des sozialen Zusammenhangs bis zum Ursprung von Selbstbeherrschung und von Normativität den Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen auch sieht in letzter Instanz scheint er so vorsichtig zu bleiben, wie es schon Kleist war, der in seinem Essay schließlich nicht Über die allmähliche 25 Verfertigung der Gedanken durch das Reden, sondern beim Reden spricht. Den letzten radikalen Schritt in der Behauptung, daß es Denken nur in der Sprache gäbe, tut Cassirer nicht. Er tut ihn ebensowenig, wie ihn Wittgenstein am Ende des Tractatus getan hat. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Wir sollten beachten, was auch hier die Sprache verrät: Wovon darüber was meint denn das? Von vielen Interpreten unbemerkt wird in diesen Formulierungen durch das kommentarlos eröffnete Bewußtsein vom Unsagbaren eine Differenz des Sagbaren und des immerhin Denkbaren für möglich gehalten: Es gibt Gedanken ohne Sprache. Während Wittgenersten Teil der

Philosophie

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Kleist stellt dem allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden im übrigen eine andere Form gegenüber: „Etwas ganz anderes ist es wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist." (A.a.O., 52) Diese Art zu denken bringt nach seiner Darlegung die Gefahr der Starrheil: und Schwerfälligkeit bei der Bemühung um Artikulation mit sich, während der Vorzug der allmählichen Verfertigung von Gedanken beim Reden in der größeren Lebendigkeit und Intensität liegt (siehe 52ff.). Cassirer läßt in seiner Auseinandersetzung mit Kleists Essay diese Alternative völlig außer acht und nährt damit die Annahme, daß es für ihn kein Denken ohne -

Sprechen gebe. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Schriften, Frankfurt/M. 1960, 83.

Die Elemente der Kultur

82

der Stelle dieser Einsicht zum Mystischen neigt, ist Cassirer die theoretisch exterritoriale Ausflucht verschlossen, daß sich für den menschlichen Geist irgend etwas, was und wie es auch sei, einfach zeige. Für ihn hätte sich an dieser Stelle zunächst die Einsicht zu konkretisieren, daß es außer der Sprache andere symbolische Formen gibt. So darf außer dem Mythos oder in ihm, wenn wir die Interferenzen der symbolischen Formen in Rechnung stellen die Kunst als Medium symbolischer Darstellung als gleichermaßen ursprüngliche Artikulation von Bewußtseinsvollzügen, von Gedanken, aufgefaßt werden wie die Sprache: Die Kunst zeigt etwas, sie sagt es nicht, und in ebendiesem metaphorischen Sinne „sagt" sie, wie die Cassirer-Schülerin Susanne Langer es formuliert hat, „das Unsagbare". Die Kunst ist insofern auch keine Übersetzung und kein Ersatz sprachlicher Darstellungsleistungen, sie leistet etwas ganz Eigenes und ist in diesem Sinne eine selbständige, durch 28 keine andere symbolische Form ersetzbare Ergänzung. Doch darin liegt deshalb keine befriedigende Antwort, weil mit den mythischen Bildern ebensowenig wie mit den Werken der Kunst in der Frage nach der Bedeutung keine letzten Instanzen erreicht sind. Die Bilder und die Werke stellen zwar bereits in unterschiedlicher Weise und in verschiedenem Maße geformte Gegenstände vor, doch sie treten uns ihrerseits wieder als sinnliche Eindrücke entgegen, angesichts derer sich die Frage nach ihrer Bedeutung stellt. Es ist vor allem der Begriff der symbolischen Prägnanz, auf den wir hier zurückkommen müssen und auf den wir uns bei exakten Mutmaßungen exakt in dem Sinne von Folgerungen oder Extrapolationen, die im Einklang und in größtmöglicher Nähe zum systematischen Ansatz bleiben über Cassirers systematische Entscheidung schließlich stützen dürfen: Daß wir alles Sinnliche, das wir wahrnehmen, uno actu als etwas wahrnehmen, berechtigt zwar nicht zu der These, daß alles Wahrgenommene selbst bereits sprachlich verfaßt wäre, wohl aber zu der These, daß es in der Realisierung seiner Bedeutung auf Sprache angelegt und angewiesen ist.29 In diesem Sinne spricht Cassirer im Zuge der Schilderung in seinem Aufsatz von 1932 an einer bezeichnenden Stelle von ihrer Bedeutung für den „Aufbau des Bewußtseins" (SAG, 143), und markiert damit nicht allein die häufig betonte Entsprechung in der Entwicklung von Weltbegriffen und Selbstbegriff durch die sprachliche Artikulation. Dies Quid-pro-quo leuchtet auch als Konkretisierung des Kantisch-Humboldtschen Programms einer Transzendentalphilosophie unmittelbar ein, der die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und die Bedingungen der Möglichkeit der Gestein

an

-

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„Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, tatus, a.a.O., 82). Siehe Teil B, Kap. IV.

es

hatte dies unter den Begriff der Bedeutsamkeit Schriften (GS) 7, 232 ff; ders., GS6, 319.

Dilthey

ist das

gefaßt:

Mystische" (Wittgenstein, TracWilhelm

Dilthey,

Gesammelte

83

Die Rolle der Sprache

genstände dahin,

den

Erfahrung eins sein müssen. Auf diese Weise tendiert bei Cassirer alles Bewußtseinsvollzug des Denkens als Realisierung von Bedeutung an die

von

Sprache zu binden. auf die Interdependenz und Interferenz, als funktionale Verschränkung und Überlagerung der symbolischen Formen, nicht nur auf die „Wechselbezüglichkeit" der symbolischen Formen hat Cassirer bereits in Goethe und die mathematische Physik reflektiert. Er bekräftigt den hier skizzierten Gedanken in einer Zusammenfassung, in welcher die Wirkung der Sprache in den immer wieder genannten symbolischen Formen aufgeführt und derart mit dem Ineinander der symbolischen Formen zugleich die grundlegende Funktion der Sprache in ihnen allen angezeigt ist: Nicht

nur

„Was z. B. die Sprache ist und leistet: das tritt erst ganz hervor, wenn wir diese Leistung nicht auf einen bestimmten Einzelbezirk des Geistigen beschränkt, sondern wenn wir sie als durchwirkend durch alle geistigen Gebiete denken. Es muß gezeigt werden, was die Sprache für das primitive Denken und für das .natürliche Weltbild' und was sie für die exakte wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet es muß zur Darstellung kommen, wie sie als integrierender Faktor in die Welt der Dichtung eingeht und deren Grundbestand wesentlich mitbestimmt und wie sie in ihr mit den neuen Möglichkeiten des Ausdrucks auch einen neuen Ausdruckssinn gewinnt." -

30 31

Cassirer, Goethe und die mathematische Physik, a.a.O., 303. A.a.O., 304.

III.

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte

man

ihn nicht

unergründlich nennen?"

Thomas Mann, Die Geschichten Jaakobs

„Der liebe Gott steckt im Detail."

Aby Warburg

1. Der Mythos als Mutterboden der Kultur „Historisch finden wir keine große Kultur, die nicht

von mythischen Elementen beherrscht und durchtränkt wäre." Der Mythos ist von daher als ein integrales Moment aller Kultur zu begreifen. Ja, mehr noch: Für Ernst Cassirer ist er das integrale Element der Kultur, dem er deshalb auch vor und nach dem Erscheinen des zweiten Teils (Das mythische Denken) der Philosophie der symbolischen Formen 1925 eine Reihe von umfangreicheren Arbeiten gewidmet hat. Wir finden seine Theorie des Mythos außer in dieser Monographie in den Aufsätzen über Die Begriffsform im mythischen Denken von 1922 und über Sprache und Mythos von 1925, in der Studie über Dingwahrnehmung von Ausdruckswahrnehmung eine der fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften von 1942, außerdem im Essay on Man von 1944 und in der posthum veröffentlichten Monographie Der Mythus des Staates von 1946. Der Mythos ist, wie Cassirer immer wieder hervorhebt, der „Mutterboden" der Kultur. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung um Sprache und Mythos, die im vorigen Kapitel geschildert ist, formuliert er auch ein Gesetz, „das für alle symbolischen Formen in gleicher Weise gilt und das ihre Entwicklung wesentlich bestimmt": -

„Sie alle treten nicht sogleich als gesonderte, für sich seiende und für sich erkennbare Gestaltungen hervor, sondern sie lösen sich erst ganz allmählich von dem gemeinsamen Mutterboden des Mythos los. [...] Das theoretische, das praktische und das ästhetische Bewußtsein, die Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O.,9f. Siehe oben Kap. II, 3, Anm. 12; vgl. Andrea Poma, Il mito nella filosofía délie forme simboliche die Ernst Cassirer, Turin 1981.

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

85

Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und die des Staates: sie alle sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-religiösen Bewußtsein." (SM, 266)

Diese Stelle ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend. Zum ersten erkennen wir nach den vorangegangenen Problematisierungen auch hier wieder, daß die Schwierigkeit der klaren und deutlichen Abgrenzung der einzelnen symbolischen Formen Cassirer selbst beschäftigt und daß er an einer Antwort auf diese Frage arbeitet. Die Metapher vom „Mutterboden des Mythos" (offenbar ein genitivus subjectivus), die uns die Vorstellung eines ursprünglichen, fruchtbaren und nährenden Mediums der kulturellen Entwicklung nahelegt, in dem deren Differenzierungen angelegt sind wie Keime in einem Boden, ist eine Antwort. Zum zweiten macht der weitere Verlauf der Formulierung aber auf ein spezifisches Problem aufmerksam, das Cassirers Arbeit am Mythos durchgehend begleitet: das Problem der trennscharfen Abgrenzung von Mythos und Religion, das hier in der unscheinbaren Formulierung von der ursprünglichen Bindung aller anderen symbolischen Formen „im mythisch-religiösen Bewußtsein" aufscheint. Zum dritten aber steckt in dieser Initialbestimmung des Mythos als Mutterboden aller Kultur bereits das ganze Dilemma des Begriffs vom Mythos, den Cassirer im zweiten Teil der Philosophie der symbolischen Formen und in der Folge entwickelt. Denn in ihr ist eine systematische auf Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit aller symbolischen Formen ebenso wie eine geschichtsphilosophische Auffassung des Mythos zu sehen, und die geschichtsphilosophische Auffassung droht der systematischen immer wieder in die Quere zu kommen. In eine einfache Frage gefaßt: Ist der Mythos eine symbolische Form unter anderen, die in jeder Kultur und in jedem Entwicklungsstadium ihrer internen Vielfalt anzutreffen ist, oder ist er etwas historisch Frühes und Vergangenes, etwas Archaisches, auf dessen Überwindung die weitere Kulturentwicklung ausgeht? Im Medium metaphorischer Anschaulichkeit macht dies weniger Probleme als in der methodischen Bemühung um eine konsistente Theorie. Wir brauchen nur das Potential des Bildes vom Mutterboden auszuschöpfen, um zu sehen, daß damit nicht allein die Vorstellung von Keimen nahegelegt ist, die im fruchtbaren Element des Bodens bereits enthalten sind und sich aus ihm zu selbständigen Pflanzen entwickeln können, sondern auch die Vorstellung, daß dieser Boden auch nach der vollständigen Entwicklung der in ihm enthaltenen Keime weiterhin die nährende Grundlage der Gewächse bleibt, die aus ihm hervorgegangen sind. Auch ein ausgewachsener Baum ist ohne Verwurzelung in seinem Boden nicht denkbar Baum und Boden müssen deshalb sogar gleichzeitig bestehen. Das suggestive Bild verbindet auf diese Weise das geschichtsphilosophische Konzept vom Mythos als der ursprünglichen, historisch frühesten Form der Kultur mit dem seiner Permanenz und Gleichzeitigkeit auch bei fortgeschrittener Kulturentwicklung. Es ist keine Frage, daß dies Probleme aufwirft, deren Charakter und Ausmaß schlagartig klar wird, wenn wir nur sehen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis in ihrer -

86

Die Elemente der Kultur

nach Dominanz strebenden Rationalität der homogenen Messung, der Quantifizierung, der kausalen Erklärung, der Abstraktion durch begriffliche Verallgemeinerung und der reflexiven Verfügbarkeit ihres konstruktiven Charakters auf eine Welterklärung hinausläuft, die sich jedenfalls mit den Zügen des mythischen Weltbildes nicht vereinbaren läßt. Wir haben hier von daher nicht nur ein Verhältnis konkurrierender Modelle von aufs Ganze gehenden Ansätzen des Verstehens zu konstatieren, sondern uns auch Rechenschaft darüber zu geben, daß die Entwicklung der Wissenschaft auf die Überwindung des mythischen Weltbildes zielt. Wenn man sieht, welche Funktion die wissenschaftliche Erkenntnis hat und welcher Anspruch deshalb mit ihr einhergeht, dann liegt es nahe, analog zu Freuds Programm: Wo Es war, soll Ich werden, für Cassirers Theorie der Kultur zu formulieren: Wo Mythos war, soll Wissenschaft werden. Was könnte dann im Zeitalter der Wissenschaft das mythische Denken noch anderes sein als eine nostal-

gische Erinnerung? Cassirer leistet bei der Untersuchung des Mythos wie im Falle jeder anderen symbolischen Form eine umfangreiche historische Aufarbeitung des Stoffes, weil er der methodischen Überzeugung ist, daß man die Manifestationen des menschlichen Geistes in ihren wesentlichen Zügen nur verstehen kann, indem man sie durch ihre geschichtlichen Entwicklungen verfolgt. Bei dieser Darstellung sehen wir uns über weite Strecken hinweg in dem Eindruck bestärkt, daß es hier nur eine historische Aufarbeitung des Stoffes geben könne: Die Dokumente des mythischen Bewußtseins sind entweder archaischer, frühhistorischer und spätestens antiker Herkunft, oder sie stammen von Eingeborenenstämmen, deren Entwicklungsstufe jener aus den archaischen oder frühhistorischen Quellen bekannten entspricht. Läßt sich auf der Grundlage dieser Befunde die Behauptung von der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit aller symbolischen Formen mit Blick auf den Mythos für eine elaborierte, historisch entwickelte Kultur aufrechterhalten? Betrifft nicht Cassirers Begriff und Theorie des Mythos ausschließlich eine bestimmte anfängliche Phase der Kultur? Wir werden auch auf diese Frage zurückkommen.

2. ,1m Anfang war': Der Mythos als Zunächst aber

Ursprungserzählung

klären: Was ist der Mythos? Cassirer folgt methodisch den altAnsätzen der Bemühung um eine Mythologie, indem er von der Etyphilologischen mologie des griechischen Begriffs mythos ausgeht: Die tragende und prägende Bedeutung des Begriffs meint „eine Erzählung oder ein System von Erzählungen, von

gilt es zu

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

87

Geschichten, die die Taten der Götter und die Abenteuer der heroischen Vorfahren

er-

zählten."3 „Der Mythos muß, wenngleich auch ihm echte gedankliche Abstraktionskraft eigen sein kann, seine

Darstellung

des

Ursprungs

der

Dinge

im wesentlichen in die Form der

Erzählung

fas-

sen.

Cassirer nennt die „babylonische, indische, ägyptische [und die] griechische" gibt solche Erzählungen, die sich nicht allein auf die Taten und die Genealogie der Götter, sondern insgesamt auf die ersten und letzten Dinge, auf die großen Fragen der Menschheit, auf den Ursprung von allem, was war und ist, beziehen: Schöpfungsgeschichten, Kosmogonien, Erklärungen wie die Übel, das Böse, der Tod in die Welt kamen. Nach Cassirers eigener Auffassung handelt die „mythische Darstellung [...] [v]on dem, was niemals ist, sondern immer ,wird', von dem, was nicht, gleich den Gebilden der logischen und der mathematischen Erkenntnis, in identischer Bestimmtheit verharrt, sondern von Moment zu Moment als ein anderes erscheint". Den Vergleichspunkt gibt für diese Bestimmung das wissenschaftliche Denken ab. Vergleichen wir hingegen die mythische mit der historischen Erzählung, so läßt sich in Abwandlung von Cassirers Opposition mit gleichem Recht auch sagen, der Mythos handele im Unterschied zur historischen Geschichte von dem, was niemals war, sondern immer ist. Es geht mit anderen Worten um das Einholen einer ewigen Wahrheit um Erzählung mit universalem Geltungsanspruch. Wenn das Märchen durch die Anfangsformel „Es war einmal" charakterisiert ist, dann läßt sich die Funktion des Mythos verstehen durch die Formel „Im Anfang war", durch die eine Ursprungsbestimmung und damit allerdings zugleich etwas bleibend Gültiges bezeichnet sein soll. Darin liegt tatsächlich ein sicheres Erkennungszeichen: Wo immer eine Erzählung sich auf das Dunkel des Ursprungs und seine prägende Kraft bezieht, so daß man sie mit dieser Formel beginnen könnte, da haben wir es mit einem Mythos zu tun. In allen Hochkulturen

-

es

-

-

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht."

Wir kennen alle die Genesis des Ersten Buches Mose; wir wissen alle, wie es danach Schritt für Schritt weitergeht bei der Schöpfung der Welt, und wie der Schöpfer nach jeder wichtigen Leistung: Trennung von Licht und Finsternis, Trennung von Himmel und Wasser, von Wasser und Land, Erschaffung der Pflanzen, der Gestirne, der Tiere Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 35. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Piaton (1925), in: ECW 16, 313^t67,Zitat:321. Ernst Cassirer, Zur „Philosophie der Mythologie" (1924), in: ECW 16, 165-195, Zitat: 167; Hervorh. B.R.

Die Elemente der Kultur

88

und schließlich des Menschen, zurücktritt und sieht, daß es gut ist: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut." Nach dieser Bekräftigung, daß es im Prinzip gut so ist, wie es ist, besteht dann zwangsläufig erhöhter Bedarf an Erklärung, wie denn das Böse in eine Welt gekommen ist, die doch ursprünglich gut war, und dies leistet die Erzählung von der Verführung der Menschen durch ein Tier, das listiger war „als alle Tiere auf dem Felde" die Erzählung vom Sündenfall. Seitdem die Menschen gegen das Gebot des Gottes auf die Einflüsterung der Schlange gehört haben, so erfahren wir, ist es vorbei mit der paradiesischen Sorglosigkeit: Mit der Erkenntnis kommt die Scham auf, die Differenz und Feindschaft zwischen den Geschlechtern, die Mühsal eines Lebens in Arbeit, die Schmerzen der Geburt und die Angst vor dem Tod.6 Keinen Schöpfungsmythos, wohl aber einen Mythos, der den Ursprung der existentiellen Übel, mit denen die Menschen geschlagen sind und zugleich das göttliche Gegenmittel erklären soll, läßt Piaton seinen Aristophanes im Symposion erzählen. Es ist die Geschichte von den vierbeinigen Kugelwesen, die sich in ihrer Stärke anmaßten, sich gegen die Götter zu erheben, und die Zeus zur Strafe in zwei Hälften zerschnitt, -

„wie

wenn man Früchte zerschneidet, um sie einzumachen, oder wenn sie Eier mit Haaren zerschneiden. Sobald er aber einen zerschnitten hatte, befahl er dem Apollon, ihm das Gesicht und den halben Hals herumzudrehen nach dem Schnitte hin, damit der Mensch, seine Zerschnittenheit vor Augen habend, sittsamer würde, und das übrige befahl er ihm auch zu heilen. Dieser also drehte ihm das Gesicht herum, zog ihm die Haut von allen Seiten über das, was wir jetzt den Bauch nennen, herüber, und, wie wenn man einen Beutel zusammenzieht, faßte er es in eine Mündung zusammen und band sie mitten auf dem Bauche ab, was wir jetzt den Nabel nennen. Die übrigen Runzeln glättete er meistenteils aus [...], und nur wenige ließ er stehen um den Bauch und Nabel zum Denkzeichen des alten Unfalls. Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner andern Hälfte

I...I."7

So wäre die Liebe in die Welt gekommen als eine ursprüngliche Gegenbewegung gegen das Leiden an der Entzweiung, die sich die Menschen auch hier als Strafe für einen Sündenfall, den Frevel gegen die Götter zugezogen haben. Diese Erzählung hat wesentliche Züge des Mythos, aber sie hat diese Züge, indem sich ihr Autor so kunstreich und raffiniert der Mittel des Mythos als literarischer Ausdrucksform zu bedienen wußte. Den Mythen, die Piaton den Protagonisten seiner Dialoge in den Mund legt, fehlt, wie Cassirer grundsätzlich festgestellt hat, -

-

-

„einer der wesentlichsten Grundzüge der echten Mythen. Piaton schuf sie in vollständig freiem Geist; er stand nicht unter ihrer Macht, er dirigierte sie nach seinen eigenen Zwecken: den Siehe die Säkularisierung der Geschichte durch den Aufklärer Immanuel Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), Akademie-Ausgabe, Bd. 8, 107-123. Piaton, Symposion / Das Gastmahl, in: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, Dritter Band, hg. von Günther Eigler, Darmstadt 1974, 190e-191b.

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos Zwecken des dialektischen und ethischen Denkens. Echter Mythus besitzt diese philosophische Freiheit nicht; denn die Bilder, in denen er lebt, sind nicht bekannt als Bilder. Sie werden nicht als Symbole, sondern als Realitäten betrachtet."

s

Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 66.

89

Die Elemente der Kultur

90

3.

„Mythos" als mythisches Denken

Mit dieser unreflektierten Macht der Bilder ist bereits ein wichtiges Merkmal des Mythos festgestellt, und zwar zunächst des Mythos im Sinne der großen Ursprungserzählung. Doch wir können damit sogleich zu jenem umfassenderen Umfang des Begriffs vom Mythos übergehen, der für diese gesamte Kulturphilosophie charakteristisch ist. Cassirer erweitert den Geltungsbereich seines kulturphilosophischen Grundbegriffs selbst ausdrücklich mit Blick auf die Tatsache, daß es viele Völker gebe,

„bei denen wir keine entwickelte Mythologie finden, keine Erzählungen

von Taten der Götter Dennoch zeigen diese Völker alle die wohlbekannten Charakteristika einer Lebensform, die tief durchdrungen und vollständig bestimmt ist von mythologischen Motiven. Aber diese Motive finden ihren Ausdruck nicht so sehr in bestimmten Gedanken oder Ideen |wir dürfen ergänzen: also auch nicht in literarischen Zeugnissen, B.R.) als in Handlungen. Deutlich überwiegt der Faktor der Handlung den der Theorie."

[...].

Es ist dieser umfänglichere Begriff des Mythos, des Mythos als der gesamten Einstellung des Bewußtseins im Sinne einer Weltanschauung, deren Elemente Cassirer den Mythen der Völker und den Beiträgen der großen mythologischen Forschungsbeiträge entnimmt. Der zweite Teil der Philosophie der symbolischen Formen trägt den aufschlußreichen Titel Das mythische Denken. Cassirer differenziert an diesem Denken

den Mythos als Anschauungsform, als Denkform und als Lebensform. Und die Lektüre des Buches ergibt den Befund, daß die Ausdrücke „Mythos", „mythisches Denken", „mythische Lebensform" gleichbedeutend gebraucht werden. Gemeint ist eine alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdringende Form des Verstehens, die mit ihrer eigenen Ordnung, z. B. ihren eigenen Verfahren der Klassifikation und der Bildung von gedanklichen Beziehungen auch eine eigene Logik hat. Cassirer legt großen Wert auf die Einsicht, daß der Mythos nicht, wie es rationalistische Positionen geltend machen wollen, das chaotische Gewühl und Gefuchtel mit ungeordneten und unsinnigen, aus der Furcht und dem demütigenden Gefühl der absoluten Abhängigkeit von höheren Mächten entsprungenen Vorstellungen ist, sondern eine genuine Weltanschauung, deren Eigenart zwar zwangsläufig erst in der abgrenzenden Gegenüberstellung mit wissenschaftlicher Rationalität zu erfassen ist, um deren angemessene Erfassung und Würdigung wir uns aber trotzdem bemühen können. Die oben zitierte Stelle, in der es um den Unterschied echter Mythen von den Kunstmythen geht, die wir in Platonischen Dialogen finden, hat durchaus etwas Exemplarisches. Da hieß es: „Piaton schuf sie in vollständig freiem Geist; er stand nicht unter ihrer Macht [...] Echter Mythus besitzt diese philosophische Freiheit nicht." In ähnlicher Weise nimmt Cassirer in seiner gesamten Theorie des Mythos im Vergleich mit dem wissenschaftliA.a.O, 35.

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

91

chen Denken immer wieder seine Bestimmungen durch Negation vor, und der Befund scheint dann zu sein, daß der Mythos eine bestimmte Form von Rationalität, nämlich die, aus deren Perspektive wir als Exponenten einer wissenschaftlich geprägten Kultur Mythenforschung betreiben, noch nicht hat, daß er zu einer bestimmten Freiheit durch Reflexionsdistanz noch nicht gefunden hat. Cassirer läßt ein deutliches Bewußtsein von dem damit verbundenen methodischen Problem der möglichen Verzeichnung und Verwerfung des Mythos erkennen, wenn er sagt: „Seiner Bedeutung und seinem Wesen nach ist der Mythos nicht-theoretisch. Er widersetzt

Grundkategorien unseres Denkens und fordert sie geradezu heraus. Seine Logik denn eine solche besitzt ist nicht kommensurabel mit unseren Auffassungen von empirischer oder wissenschaftlicher Wahrheit." (VM, 118) sich den

-

wenn er

-

An dieser und ähnlichen Äußerungen zeichnet sich schon ab, daß das Verständnis des Mythos nicht dabei verbleiben kann, ihn als einen defizitären Modus der Rationalität einzuordnen. Es muß darum gehen, ein angemessenes Verständnis von dieser inkommensurablen Form des Weltverhältnisses zu entwickeln. Wenn er auch noch nicht die Freiheit der wissenschaftlichen Begriffsbildung und der philosophischen Reflexion hat, so liegt doch im mythischen Denken eine erste Form jener Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck, durch die Cassirer alle kulturellen Formen ausgezeichnet sieht: eine Übertragung in ein fremdes Medium und damit eine Objektivierung, die Distanz ermöglicht.

Physiognomische Wahrnehmung, Dominanz des

4.

Gefühls, Macht der Bilder Der

Mythos ist eine Form des Verstehens, die auf „einer ganz bestimmten Wahrnehmungsweise" beruht (VM, 122), deren spezifische Differenz Cassirer darin sieht, daß sie in erster Linie nicht auf objektive, sondern auf physiognomische Merkmale geht:10 „Die Welt des Mythos ist dramatisch

eine Welt des Handelns, der Kräfte, der widerstreitenden Mächte. In jeder Naturerscheinung sieht der Mythos den Zusammenprall dieser Mächte. Die mythische Wahrnehmung ist stets in dieser Weise emotional gefärbt. Alles Sichtbare und Spürbare ist von einer besonderen Atmosphäre umgeben einer Atmosphäre von Freude oder Trauer, von Furcht, Erregung, Jubel oder Niedergeschlagenheit." (VM, 123) -

-

Siehe dazu eingehend Ernst Cassirer, Dingwahrnehmung und Zur Logik der Kulturwissenschaften a.a.O., 34-55.

Ausdruckswahrnehmung,

in: ders.,

92

Die Elemente der Kultur

An einer anderen Stelle heißt

tellektuellen Prozessen; führlicher:

er

es

sproßt

grundsätzlicher: „Mythus hervor

aus

entsteht nicht allein aus intiefen menschlichen Gefühlen" und aus-

„Das wirkliche Substrat des Mythos ist kein Gedanken-, sondern ein Gefühlssubstrat. Der Mythos und die primitive Religion sind in sich keineswegs vollständig inkohärent, sie sind nicht ohne jeden Sinn und jede Vernunft. Ihre Kohärenz heit des Fühlens als auf logischen Regeln." (VM, 129)

allerdings

beruht eher auf einer Ein-

und dabei positive Bemühen wir uns also um eine elementare Bestimmung des allem haben wir ihn nach dieser so als eine vor Mythos, Schilderung gefühlsgetragene Form des Verstehens zu begreifen. In der physiognomischen Wahrnehmung tritt dem Menschen in einem unverstellten und unbegriffenen Anthropomorphismus eine ausdrucksvolle Welt entgegen, und das heißt zunächst nichts anderes als eine beseelte Welt, die durchgängig von seinesgleichen bevölkert ist und an der er deshalb unmittelbaren emotionalen Anteil nimmt. Wesentlich ist für Cassirer dabei aber, daß das Verhältnis zu den Gefühlen nicht das eines bloßen passiven Ausgesetztseins, sondern bereits durch produktive Verarbeitung, durch Umwandlung bestimmt ist. „Mythus kann nicht als bloßes Gefühl bezeichnet werden, weil er Ausdruck des Gefühls ist" mit dieser Differenzierung ist der wesentlich aktivisch transformierende und produktive Charakter des Mythos angesprochen. Indem er aber fortfährt: „Der Ausdruck eines Fühlens ist nicht das Fühlen selbst er ist Gefühl in Bild gewandelt" (VM, 60), hat er zugleich mit der Benennung des Mediums, in dem sich das mythische Bewußtsein artikuliert, auch die Grenze der dabei erreichbaren Freiheit abgesteckt: Die unreflektierte Macht der Bilder über das Bewußtsein ist ein Aspekt jener emotionalen Anteilnahme, in der Cassirer das wesentliche Merkmal der mythischen Lebensform sieht. Zu diesem Mangel an Reflexionsdistanz gehört es zum einen, daß das Bild für die Sache selbst, für die Realität genommen wird: Es gibt keine Realitätsdifferenz der Bilder; zum anderen gehört dazu die Ununterscheidbarkeit des Traumes vom wachen Bewußtseinszustand. „Religion und Mythus geben uns eine Einheit des Fühlens",12 ein „allgemeines Lebensgefühl" (VM, 131), das Cassirer auch als ein „Band der .Sympathie'" charakterisiert.13 Die Naturauffassung des mythischen Bewußtseins ist wie die Auffassung von -

-

-

-

12

Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 60. A.a.O., 53. A.a.O., 54. Diese Bestimmung enthält einen entscheidenden Hinweis auf den systematischen

Typus dieser Theorie. Sicher ist Cassirers symboltheoretische Grundlegung der Kultur in Teilen kompatibel mit semiotischen Ansätzen. Doch es ist auffällig, daß gegenüber dem blanken Kognitivismus, zu dem die semiotischen Ansätze Goodmanschen Typus tendieren, Cassirers Ansatz ein überlegenes Potential enthält. Anders als jene ist Cassirer nicht auf das Programm der vollständigen Entschlüsselung von distinkten Zeichen(-relationen) und damit auf ein technisches Verständnis vom Umgang mit Sinn festzulegen: Mit seiner Theorie des mythischen Denkens gibt er ein -

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

93

der Gesellschaft „weder rein theoretisch noch rein praktisch; sie ist sympathetisch." (VM, 131) Dieses sympathetische Band erstreckt sich aber gleichermaßen wie auf die Natur, etwa auf die Annahme von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Menschen und Tieren, auch auf die

gesellschaftlichen Beziehungen.

„Wenn ein Dayakdorf zur Jagd im Dschungel ausgezogen ist, dürfen die, die zurückgeblieben sind, mit ihren Händen weder Oel noch Wasser berühren; denn wenn sie es täten, würden die

Jäger alle „butterfingerig"

und die Beute würde durch ihre Hände

gleiten.

Dies ist kein kausa-

les, sondern ein gefühlsmäßiges Band. Was hier zählt, sind nicht die empirischen Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen, sondern die Intensität und Tiefe, mit der menschliche Be-

ziehungen gefühlt sind." Daß der Primitive, wie Cassirer ihn häufig nennt, sich verbunden weiß mit der gesamten Welt, ist auch die Basis der magischen Praktiken, durch welche die mythische Lebensform sich auszeichnet und die sich in erster Linie auf die Herstellung der Beziehung zu den Ahnen bezieht. Was sich an diesem zentralen Sinn der magischen Praktiken zeigen läßt, zielt ins Zentrum von Cassirers systematischer Intention: Mit ihnen läßt sich das Bild des passiv an die Macht überwältigender Kräfte ausgelieferten Menschen leugnen, das die Mythen- und Religionsforscher der Vergangenheit gezeichnet haben. „Der Glaube an die Magie ist eine der frühesten und das erwachende Selbstvertrauen des Menschen äußert."

merkwürdigsten Formen,

in denen sich

(VM, 145)

Mit der

Rehabilitierung des mythischen Denkens gibt sich Cassirer in seiner Theorie Mythos alle erdenkliche Mühe. Eines seiner Ziele ist es, in der historischen und systematischen Beschäftigung mit dem Mythos zu zeigen, daß auch im mythischen Denken bereits eine Form der Rationalität im Umgang des Menschen mit seiner Wirklichkeit zu sehen ist. Er betont zwar programmatisch, daß er mit seiner Philosophie der symbolischen Formen als einer Theorie der produktiven und verständigen Gestaltung des

der Wirklichkeit die Transformation der „Kritik der Vernunft" in die „Kritik der Kul-

exemplarisches Kabinettstückchen

für das Verständnis von etwas, das sich zwar verstehen läßt und dabei wie alles Bedeutsame Affinität zum sprachlichen Ausdruck hat, aber nicht im Sinne einer vollständigen Entschlüsselung von Zeichen, sondern im Sinne einer empathischen Annäherung und Teilhabe: Der Mythos ist wesentlich durch ein Lebensgefühl bestimmt, und nur wer dieses Lebensgefühl teilt, versteht wirklich, was es mit allem, was dort begegnet, auf sich hat. Darin scheint mir ein behutsameres und schmiegsameres Konzept des Verstehens enthalten zu sein, als uns bisher jede Semiotik vorgeführt hat. Daß diese Symboltheorie nicht auf Zeichentheorie reduzierbar ist, läßt sich grundsätzlich auch Cassirers Anspruch auf das Leib-Seele-Verhältnis als ursprünglichem Paradigma einer symbolischen Relation entnehmen: Verkörperung, nicht Bezeichnung, ist das Verfahren der Symbolisierung (siehe oben TeilA, Kap. II, 1, 32). Obwohl es demnach Weisen der Symbolisierung gibt, die sich durch zeichentheoretische Verfahren entschlüsseln lassen, steht Cassirers symboltheoretischer Ansatz der phänomenologischen Wahrnehmung auf der einen Seite, dem hermeneutischen Verstehen auf der anderen näher. A.a.O., 54. -

-

Die Elemente der Kultur

94 tur" leisten wolle

(PhsFI, 9). Gemeint ist natürlich das Kantische Projekt der Vernunft-

kritik in drei Teilen: Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft oder, wie wir im Blick auf die Sache formulieren dürfen: Kritik der Erkenntnis, Kritik des Handelns und Kritik des reinen Gefühls. Wenn Cassirer die Kritik der Vernunft durch die Kritik der Kultur ersetzen will, dann heißt das aber nicht, daß die Kultur mit Vernunft nichts zu tun und daß deswegen auch der Kulturtheoretiker nichts mehr mit der Vernunft im Sinn hätte. Es bedeutet lediglich, daß der methodische Zugang über die Vernunft einen zu eingeschränkten Ausschnitt aus dem Spektrum des menschlichen Verhaltens thematisiert. Nicht um Verdrängung des Vernunftanspruchs durch die Kultur geht es, sondern um die Erweiterung des Vernunftanspruchs zur ganzen Vielfalt der kulturellen Wirklichkeit. Es gibt Formen der menschlichen Sinnaktivität, deren Spezifikum nicht damit getroffen ist, daß wir sie als vernünftig qualifizieren ohne daß sie deshalb aber notwendig im Gegensatz zur Vernunft stünden. Alle Phantasietätigkeit gehört dazu, alle Kunst, die Sprache und: der Mythos. Wieviel trotz der Bemühung, das Spezifikum aller menschlichen Aktivitäten, aller kreativen Verhaltensweisen, aller sinnstiftenden Leistungen genauer zu fassen, der Mythos gleichwohl mit Vernunft zu tun haben soll, das läßt sich an Cassirers engagierter Bekämpfung der Vorurteile erkennen, die dem mythischen Denken in der aufgeklärten Moderne, insbesondere von Wissenschaftlern und Philosophen entgegengebracht werden. Nach Cassirers Verständnis ist der Mythos nicht das ganz Andere der Vernunft, er ist nicht das schlechthin Irrationale, das Erzeugnis einer im Unsinn blühenden Phantasie; er ist ein ganzheitlicher, aus dem Gefühl entspringender, deshalb aber nicht weniger methodischer und kohärenter Zugriff des Verstehens, wie es die Wissenschaft mit dem ihr eigenen Weltbild ist. Cassirer spricht ausdrücklich von der „Einheit des Fühlens" (VM, 129), die dem Mythos zugrunde liege und die seine Artikulationen strukturiert und wir können dieser Beschreibung umgekehrt auch die Einschätzung entnehmen, daß menschliches Gefühl ebenso wie Verstand auch über eine strukturierende weltbildende Kraft verfügen. Damit ist zwar der dürftige Rationalismus gebrochen, der nichts anderes als den rechnenden und messenden Verstand und seine Betätigungsfelder anerkennen will aber es ist nicht gesagt, daß dies nicht in einem umfänglicheren auf die Erzeugung einer sinnhaften und sinnvollen Welt bezogenen Verständnis vernünftig wäre. Die erste, elementare Differenzierung, die das mythische Denken aus der Einheit des Gefühls hervorbringt, ist die Scheidung aller räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge nach dem Gegensatz zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Nach Cassirer ist dies vor allem die Funktion des Tabus, das sich in allen archaischen Zuständen der Kultur findet und das sich in eine unabsehbare und dynamische Vielfalt von Berührungsverboten ausdifferenzieren kann. Entwickeltere und komplexere Formen der Gliederung von Raum und Zeit, von natürlichen wie gesellschaftlichen Verhältnissen, von -

-

-

-

-

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

95

Menschen, Tieren und Dingen sind in den Formen des Totemismus anzutreffen. So z.B. in der totemistischen Gliederung, die die Ethnologen bei den Zuñis in Neu Mexiko gefunden haben und die wie es sich bei allen totemistischen Gliederungen beobachten läßt die ganze Welt erfaßt: -

-

„Dem Norden gehört die Luft, dem Süden das Feuer, dem Osten die Erde, dem Westen das Wasser an; der Norden ist die Heimat des Winters, der Süden des Sommers, der Osten Heimat des Herbstes, der Westen die des Frühlings usf. [...] Der Krieg und der Krieger gehören dem Norden, die Jagd und der Jäger dem Westen, die Medizin und Agrikultur dem Süden, die Ma-

gie und Religion dem Osten zu." Solche Einteilungen lassen sich auf alles und jedes erweitern, und sie begründen nicht allein ein theoretisches Weltverhältnis, sondern viel mehr noch ein System von Praktiken und Ritualen, von Geboten und Verboten, mit dem häufig magische Handlungsvorstellungen verknüpft sind und dabei immer auch ein Selbstverständnis. Der Mythos ist eine Form des Verstehens aus der Einheit des Gefühls heraus. Er ist eine Form des Bewußtseins, die durch die Macht der Bilder über die Gefühle bestimmt ist, in der deshalb auch eine Erlebnisidentität von Bild und Sache ebenso wie von Name und Sache herrscht.16 Gegenüber dieser durchdringenden Präsenz des Bewußtseinsinhaltes gibt es keine Reflexionsdistanz. An den differenzierten und komplexen Formen des mythischen Denkens können wir uns aber klarmachen, daß dies keineswegs allein ein Defizit darstellt: Das mythische Bewußtsein schafft eine sinnhafte Welt und damit ein umfassendes System der Orientierung. Mit anderen Worten: Der Mythos leistet wie jede andere Form der Kultur das, was die Menschen brauchen, um einen verläßlichen Handlungsrahmen zu haben: Er leistet den systematischen Zusammenhang, den Zusammenhalt einer Welt. Gleichwohl machen Cassirers Schilderungen und Reflexionen deutlich, daß es eine gleichsam natürliche Tendenz zur Überwindung des mythischen Denkens durch andere Formen der Sinnorganisation gibt. Den Schlüssel zum Verständnis dieser Fortschrittsdynamik bietet das Leitmotiv dieser Philosophie der kulturellen Lebensformen: Das Telos aller Kultur ist die Verfügung der Menschen über ihre Verhältnisse durch den Distanzgewinn der Abstraktion. Dies ist, wie wir gesehen haben, bereits der Funktionssinn der Verobjektivierung in jeder Gegenstandsbildung, hier hat die Sprache als Mittel der Welterzeugung ihre durchdringende Funktion. Und der Gedanke, daß mehr Distanz besser ist als weniger, liegt von daher nahe, denn die verobjektivierende Distanz steht

II, 102. Vgl. Ernst Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken (1922), in: ECW 16, 3-73, hier: 26ff. Vgl.: „Der Name ist, mythisch genommen, niemals ein bloß konventionelles Zeichen für ein Ding, sondern ein realer Teil desselben und ein Teil, der nach dem mythisch-magischen Grundsatz des .Pars-pro-toto' das Ganze nicht nur vertritt, sondern wirklich .ist'." (A.a.O., 24f.) PhsF

-

Die Elemente der Kultur

96 im Dienst der

über anderes und über sich selbst: Je effektiver diese Verfübesser. So etwa hat man den Gedanken zu fassen, mit dem Cassirer den gung ist, um so nachdrücklich betonten Sinnzusammenhang des Mythos als einen letztlich doch verbesserungsbedürftigen Sinnzusammenhang und damit den zwangsläufigen Übergang des Mythos in andere, höhere Entwicklungsstufen rekonstruiert.

Verfügung

5. Die Dialektik des mythischen Bewußtseins Mythos und Religion

-

Dabei geht es um die Eigendynamik, die Cassirer dem Mythos zuspricht unter dem Titel einer Dialektik des mythischen Bewußtseins. Gemeint ist damit, daß das Bewußtsein im „Aufbau der mythischen Bilderwelt" auch schon über diese hinausdrängt (PhsF II, 277). Mit dieser dialektischen, d.h. dynamischen und spannungsreichen Einheit von Aufbau einer mythischen Bilderwelt und gleichsinnigem Hinausdrängen über sie ist das erste der eingangs skizzierten Probleme bezeichnet: Cassirer unterscheidet Mythos und Religion als symbolische Formen, aber es gelingt ihm nicht, diese Unterscheidung auch wirklich trennscharf durchzuführen. Mythos und Religion sind auch in einem gemeinsamen Sockel des bildlichen Weltverhältnisses aneinander gebunden. Vor allem heißt dies, daß sie sich nicht an ihren Inhalten unterscheiden lassen. „Der Inhalt des religiösen Bewußtseins läßt sich, je weiter wir ihn bis zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen suchen, um so weniger von dem des mythischen Bewußtseins scheiden." (PhsF II, 279)

Die Religion, in der Cassirer eine symbolische Form erkennt, zeichnet sich nicht durch andere Inhalte, sondern durch eine andere Form des Gegenstandsverhältnisses aus: durch ein Bewußtsein von der Differenz zwischen Bild und Sache wie zwischen Name und Sache und damit durch ein reflektiertes Verhältnis zur „mythischen Bildwelt", deren Inhalte sie im einzelnen durchaus teilen mag (ebd.) Dieser reflektierte Umgang mit den Bildern ist das eigentliche Kriterium der Religion. Dem alttestamentarischen Bilderverbot kommt hier besonderer Aufschlußwert zu, deshalb zieht Cassirer es als exemplarisch zur Erläuterung heran und sagt: „Das Verbot des Bilderdienstes, das Verbot, sich ein Abbild oder Gleichnis zu machen von dem, was oben im Himmel oder auf der Erde unten oder was im Wasser unter der Erde ist, erhält daher im prophetischen Bewußtsein einen ganz neuen Sinn und eine ganz neue Kraft: Es wird geradezu zum Konstituens ebendieses Bewußtseins selbst. Es ist, als würde jetzt mit einem Schlage eine Kluft aufgerissen, die das unreflektierte, das ,naive' mythische Bewußtsein nicht kennt." (PhsF II, 281)

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

97

Sicher muß nicht immer und überall das Bewußtsein von der Bildlichkeit der Bilder die negative Form eines Verbotes annehmen worauf es hier ankommt, ist allein die Differenz, die damit in die Welt kommt und die in der Kohärenz der psychischen Dynamik zum Ausgangspunkt einer ganzen Folge von Differenzen wird. -

„Die Religion vollzieht den Schritt, der dem Mythos als solchem fremd ist: Indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben". (PhsFII, 280) -

Wenn klar

welcher gravierende Einschnitt damit bezeichnet sein soll, daß durch diesen Gewinn an Reflexion der Zeichencharakter der Symbole als solcher bewußt wird, dann wird auch verständlich, daß Cassirer diesen signifikanten Übergang als „ein neues Verhältnis zum Ganzen der .Wirklichkeit', zur Gesamtheit des empirischen Daseins" begreift. Durch das Verhältnis zu den Dingen, zu den Bildern, überhaupt zu den Zeichen, das die Religion eröffnet, wird eine „neue Idealität", eine „neue geistige .Dimension'" erschlossen (PhsFII, 280). Im Ausgang von diesem grundsätzlichen Gewinn an geistiger Distinktion im reflektierten Umgang ist es auch nachzuvollziehen, daß das religiöse im Unterschied zum mythischen Denken sich der Individualität des Subjekts wie der ihm gegenüberstehenden Objekte bewußt ist. So ist nach Cassirer der Glaube an die „Sympathie des Ganzen" nicht nur das Merkmal mythischen Denkens, sondern auch „eines der solidesten Fundamente der Religion selbst. Die religiöse Sympathie ist freilich von anderer Art als die mythische und magische. Sie schafft Raum für ein neues Gefühl, das Gefühl der Individualität." (VM, 150 f.) Dies bezieht sich, wie in allen Fällen symbolischer Formung, gleichursprünglich auf das Gegenstandsbewußtsein wie auf das Selbstbewußtsein, und es kommt zu einem stetigen Austausch der dabei gewonnenen Positionen. So entspricht einem Individuum, das von sich weiß, die Vorstellung einer ihrerseits individuierten Gottheit.

geworden ist,

„Eine der was man

ren."

ersten und

das

Heilige,

(VM, 152)

wichtigsten Funktionen der höheren Religionen bestand darin, in dem, das Sakrale, das Göttliche nannte, solche personalen Elemente aufzuspü-

wird diese Differenz zum Mythos „in den großen monotheistischen Religio(VM, 156). Aber auch die griechische Götterwelt, wie sie bei Homer geschildert ist, zeigt obwohl sie keine monotheistische Religion darstellt, bereits wichtige Züge einer individuierenden Weltauffassung. Der höhere Grad an Abstraktion, der mit den monotheistischen Religionen erreicht ist, zeigt sich überdies an zwei ursprünglichen Errungenschaften eines rationalen Welt- und Selbstverständnisses: an der Formierung des moralischen Bewußtseins und dem Gewinn eines rationalen Naturverhältnisses. Zum ersten Punkt sagt Cassirer:

Prägnant nen"

-

Die Elemente der Kultur

98

„Diese Religionen sind Ausfluß moralischer Kräfte; sie konzentrieren sich auf einen einzigen Punkt, auf das Problem von Gut und Böse." (VM, 156) „Die Form einer universalen ethischen Sympathie trägt in der monotheistischen Religion den

Sieg davon über das primitive digen." (VM, 159) Zum zweiten hält

Gefühl für die natürliche oder

magische

Solidarität des Leben-

mit dem Band der Allsympathie der rationalen statt von der emotionalen durchschlungen ist, „wird jetzt [insofern] Seite her erfaßt", als sie „als die Sphäre von Gesetz und Gesetzmäßigkeit" erscheint (VM, 157). Es ist dieses Moment, an dem deutlich wird, daß auf dem Wege zum rationalen Weltbild der wissenschaftlichen Erkenntnis die Ablösung der Religion vom Mythos einen entscheidenden Schritt darstellt. So einsichtig es ist zu betonen, daß durch dies reflektierte Differenzbewußtsein eine neue Stufe der geistigen Entwicklung, eine neue Form der Kultur erreicht ist, so auffällig ist aber auch, daß hier keine strenge Demarkationslinie, keine eindeutig verlaufende Epochenschwelle und erst recht keine klar einander gegenüberstehenden Kulturbereiche behauptet werden können. Cassirer sagt: „In der Entwicklung der menschlichen Kultur können wir keinen Punkt angeben, an dem der Mythos endet und die Religion anfangt." Und er sagt auch: „Von Anfang an ist der Mythos potentielle Religion. Es ist keine Krise im Denken und keine Gefühlsrevolution die von einer Stufe zur nächsten führt." er

fest: Die Natur, die im

Mythos

von

(VM, 139) So läßt sich das Kriterium der Unterscheidung von Mythos und Religion zwar angeben, doch es liegt in einer Bestimmung, die nicht zu deutlich getrennten Bereichen der Erfahrung führt, sondern zur Wahrnehmung und Anerkennung fließender Übergänge und zweideutiger Situationen nötigt: Es liegt im Bewußtsein vom Zeichencharakter der Bilder, somit im Bewußtsein der Unterscheidung von Bild und Sache und damit auch von Subjekt und Objekt des Erlebens, das im religiösen Weltverhältnis ausgeprägt wird, während das mythische durch jenes Lebensgefühl ungebrochener Einheit charakterisiert ist. Mythos und Religion unterscheiden sich nicht durch verschiedene Inhalte, sondern durch unterschiedene Einstellungen des Bewußtseins zu den Bildern und Zeichen, die durch das Bewußtsein der Differenz von Bild und Sache diese Inhalte vermitteln zeichnet sich das religiöse Bewußtsein vor dem mythischen aus, das in der Identifikation von Bild und Sache von der Macht der Bilder besessen ist. Der damit bezeichnete Unterschied, der alles in allem in der zunehmenden Reflexionsdistanz des Menschen im Verhältnis zu seiner eigenen Welt der Bedeutungen besteht, läßt sich nicht punktgenau festmachen. -

Zum Verhältnis von Mythos und Religion in der Philosophie der symbolischen Formen siehe Thomas Stark, Symbol, Bedeutung, Transzendenz. Der Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Würzburg 1997.

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

6. Der Mythos

Gegenwart?

-

99

archaischer Ursprung oder aktuelle

Mit Blick auf Cassirers historische Aufarbeitung solcher mythischer Bestände wie des Tabusystems und des Totemismus und ihrer einzelnen magischen Praktiken in archaischen Kulturen, auch mit Blick auf die Auseinandersetzung mit der mythischen Form der Gliederung von Raum und Zeit entlang der als substantiell gedachten Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen dürfen wir zwar den Eindruck haben, daß es sich in allen solchen Weisen des Fühlens und des Denkens wie der tätigen Gestaltung der sozialen Welt um archaische Stadien der menschlichen Kultur handelt. Und es ist evident, daß die in ihnen zum Ausdruck kommende Stellung des Menschen in der Welt in einer Folge von Errungenschaften zunehmender Distanz, Rationalität und Verfügung überwunden wird. Wir dürfen zunächst soviel festhalten, daß auf dem Wege zum rationalen Weltbild der wissenschaftlichen Erkenntnis die Ablösung der Religion vom Mythos einen entscheidenden Schritt darstellt, daß in diesem Sinne die Religion das mythische Denken ablöst. Der in ihr gewonnene Distanzgewinn wird aber in einem weiteren Schritt erst von der Kunst vollendet, weil sich, so seine Begründung, in ihr das Bewußtsein von der Differenz der Bilder zur vollkommenen Kompetenz der Verfügung über sie entwickelt. „Denn ebendies bezeichnet die Grundrichtung des Ästhetischen, daß hier das Bild rein als solches anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt

aufzugeben

braucht. Der

Mythos sieht

im Bilde immer

zugleich ein

Stück substantieller

Wirklichkeit, einen Teil der Dingwelt selbst, der mit gleichen oder höheren Kräften wie diese ausgestattet ist. Die religiöse Auffassung strebt von dieser ersten magischen Ansicht zu immer reinerer Vergeistigung fort. Und doch sieht auch sie sich immer wieder an einen Punkt geführt, dem die Frage nach ihrem Sinn- und Wahrheitsgehalt in die Frage nach der Wirklichkeit ihrer Gegenstände umschlägt, an dem sich, hart und schroff, das Problem der .Existenz' vor ihr aufrichtet. Das ästhetische Bewußtsein erst läßt dieses Problem wahrhaft hinter sich. Indem es sich von Anfang an der reinen Betrachtung' überläßt, indem es die Form des Schauens im Unterschied und Gegensatz zu allen Formen des Wissens ausbildet, gewinnen nunmehr die Bilder, die in diesem Verhalten des Bewußtseins entworfen werden, erst eine rein immanente Bedeutsamkeit." (PhsF II, 305 f.) an

So hätten wir demnach entsprechend dieser Verhältnisbestimmung am Ende des zweiTeils der Philosophie der symbolischen Formen in einer ersten Skizze eine historische Entwicklungsfolge von Mythos, Religion und Kunst, und wir wissen überdies, daß die Wissenschaft als methodische Organisation theoretischer Erkenntnis eine weitere Stufe des Fortschritts in der rationalen Verfügung über die vorgefundenen Verhältnisse außen wie innen darstellt. Mythos und Religion unterscheiden sich durch unterschiedene Einstellungen des Bewußtseins zu den Bildern und Zeichen, die diese Inhalte vermitteln durch das Beten

-

Die Elemente der Kultur

100

wußtsein der Differenz von Bild und Sache zeichnet sich das religiöse Bewußtsein vor dem mythischen aus, das in der Identifikation von Bild und Sache von der Macht der Bilder besessen ist. Es kann weder mit zufriedenstellender Klarheit festgestellt werden, wann sich dies historisch zum erstenmal ereignet hat, noch handelt es sich überhaupt in letzter Instanz um eine historische Bestimmung. Es handelt sich vielmehr um eine jener typischen funktionalen /nso/ern-Bestimmungen, die wir umgangssprachlich in Formulierungen ausdrücken können wie: „Mythos ist, wenn ..." und demgegenüber: „Religion ist, wenn ...". So mag es durchaus sein, daß sich in den Vollzugsformen, den Denkweisen wie den rituellen Praktiken mitten in einer monotheistischen Religion Formen mythischen Denkens finden. Wo immer im religiösen Ritus etwas wie die Oblate und den Wein nicht als symbolisch, sondern als leibhaftig oder buchstäblich genommen wird, haben wir es nach Cassirers Unterscheidung mit mythischem Denken zu tun. Ebenso können wir uns klarmachen, daß auch in der fortgeschrittenen modernen Kultur „immer noch" mythische Aspekte des Weltverständnisses und des Selbstverhältnisses wirksam sind daß wir mitten in einer säkularen, wissenschaftlich geprägten Zivilisation, also selbst dort, wo die Dominanz der Religion zurückgedrängt ist von der Herrschaft der Wissenschaft über das durchschnittliche Bewußtsein, Formen des mythischen Bewußtseins finden. Wo wir in unserer emotionalen Bewertung eines Namens nicht davon absehen können, daß wir einmal jemand kannten, der so hieß und ein unsympathischer Mensch da erleben wir war, wo wir derart emotional den Namen mit der Sache identifizieren das Bewußtsein in der Einstellung, die Cassirer als das mythische Denken charakterisiert. Wer einmal in den Fernsehnachrichten die empörten Teilnehmer an Demonstrationen gesehen hat, wie sie mit wutverzerrten Gesichtern eine Strohpuppe oder eine Fahne verbrennen und den dargestellten Politiker oder die gemeinte Nation damit treffen wollen; wer schon einmal den Drang verspürt hat, zu allen Gelegenheiten, bei denen etwas auf dem Spiel steht, eine ganz bestimmte Brosche anzulegen, weil sie, als man sie geschenkt bekam, mit dem Wunsch besprochen wurde, sie solle Glück bringen; wer im Kino den Punkt aus den Augen verliert, an dem der fiktive Charakter des Films einsichtig ist, wer sich also der Suggestivkraft der Bilder überläßt, um dann taumelnd unter völligem Verlust des Zeitbewußtseins und mit dichtbeschneitem Blick den Zuschauerraum zu verlassen18 der weiß, daß es magische Praktiken und andere Formen mythischen Denkens in der wissenschaftlichen Welt -

-

-

-

gibt.1

-

Birgit Recki, Überwältigung und Reflexion. Der Film zwischen Mythos und Kunst, in: Ludwig Nagl /Eva Waniek (Hg.), Filmdenken, Wien 2004 (in Vorbereitung). Wer sich hier ein wenig Zeit zum Beobachten nimmt, wird zahllose Beispiele mythischen Denkens in der modernen Welt finden. So treten beim jährlichen Palio-Turnier in Siena die StadtSiehe dazu

viertel

unter

den Zeichen einer Art

von

Totemtieren

auf, und viele Kinderbücher stellen Tiere als

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

Im

Essay

on

Man findet sich dazu die

101

folgende systematisch verallgemeinernde

Fest-

stellung: „Im Lichte der Wissenschaft soll die mythische Wahrnehmung verblassen. Aber das bedeutet nicht, daß die Eindrücke unserer physiognomischen Wahrnehmung als solche getilgt oder vernichtet würden. Sie haben zwar ihren objektiven Wert, ihren Wert für eine Kosmologie eingebüßt, aber ihr anthropologischer Wert bleibt erhalten. In unserer Welt können wir sie nicht leugnen, und wir können nicht auf sie verzichten; sie behalten ihren Platz und ihre Bedeutung. Im gesellschaftlichen Leben, im täglichen Umgang mit Menschen können wir diese Eindrücke nicht auslöschen." (VM 124) Es wird

Formulierungen offensichtlich, daß dies über den Charakter einer bloßen deskriptiven oder auch resignativen Bestandsaufnahme hinausgeht. Es gibt keine markantere Behauptung der systematischen Gleichzeitigkeit mythischen und wissenschaftlichen und damit im spezifischen Sinne modernen Denkens als diese, in der Cassirer ausdrücklich sagt, daß wir auf die Aspekte des mythischen Denkens nicht verzichten können, und daß sie ihren Platz und ihre Bedeutung behalten. Neben der Bedeutung der Astrologie bei der Formierung des wissenschaftlichen Weltverständnisses an

diesen

-

-

würdigt,20

in der Renaissance, die Cassirer ausdrücklich dürfte es kaum ein scharfsinnials für solche welches Cassirer im Essay on Man geres Beispiel Aufhebung geben das, die mit Bezug auf mythische Ursprungserzählung ganz nebenbei im Kapitel über die

Sprache gibt: „Der Mythos kennt keine andere Erklärungsweise als den Rückgriff auf eine ferne Vergangenheit und die Ableitung des gegenwärtigen Weltzustandes aus diesem uranfanglichen Zustand. Es ist jedoch überraschend und paradox, zu beobachten, daß dieselbe Tendenz im philosophischen Denken noch immer dominiert. Jahrhundertelang war hier die Frage nach dem System der Sprache von der Frage nach ihrer Herkunft überschattet. Man hielt es für ausgemacht, daß, sobald die Entstehungsfrage geklärt wäre, auch alle anderen Probleme mit einem Schlage gelöst sein würden." (VM, 184)

Cassirer, der dies Mitte der vierziger Jahre schrieb und damals noch nicht wissen konnte, wie sehr bald eine Richtung des philosophischen Denkens Karriere machen sollte, der es überhaupt nicht mehr um die (ebensosehr historische wie mythische) Frage nach der Herkunft, sondern nur noch um das aktuelle Funktionieren der Arguund selbst in Kommentaren zu älteren Texten um das immergleiche Schauspiel ihres Kollabierens gehen sollte, hat historisch völlig recht: Jahrhundertelang waren Theorien der Sprache wesentlich Sprachursprungstheorien. Und es ist ihm auch darin zuzustimmen, daß darin nach unserer erkenntnistheoretischen Einsicht in die Differenz mente

Protagonisten

immer noch

so

dar, wie

es

Cassirer

vom

Glauben der Malaien berichtet (PhsFII,

210). Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: ECW 14, 114-142; vgl. auch ders., Die Begriffsform im mythischen Denken, a.a.O., 29ff.

Ernst

Die Elemente der Kultur

102

Geltung keineswegs etwas Zwingendes liegt. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, daß Cassirer die über lange Zeit ungebrochene Orientierung an der Ursprungs- und Herkunftsfrage als ein mythisches Relikt aufzufassen geneigt ist und auf diese Weise ein Beispiel gibt für das aktuelle Nachwirken oder Fortbestehen des mythischen Denkens. Die Pointe mit Blick auf dieses Beispiel und ähnliche andere scheint in seiner ausdrücklichen Rede von der Dialektik des mythischen Bewußtseins bereits artikuliert zu sein: Wir haben nicht schlichtweg von einer Ablösung oder Überwindung des Mythos durch die anderen symbolischen Formen, sondern von seiner Aufhebung auszugehen und dabei die dreifache Bedeutung im Sinn zu behalten, die dieser Begriff in der Hegeischen Dialektik hat: Etwas aufheben heißt nicht nur, es negieren im Sinne einer Vernichtung (tollere), sondern auch es bewahren (conservare), indem man es auf ein höheres Entwicklungsniveau hebt (elevare). Die eingangs festgestellte Ambivalenz und Spannung zwischen dem geschichtsphilosophischen Aspekt der Theorie des Mythos und der Behauptung von Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit aller symbolischen Formen läßt sich damit nicht als eine in einer genaueren Konzeption behebbare Ungenauigkeit von Cassirers Denken begreifen, sondern als eine Ambivalenz und Spannung in der Sache selbst im Geist der Kultur. Die Frage ist daraufhin natürlich, ob sich der behauptete „anthropologische Wert" des Mythischen im Vergleich mit dem Wert größerer Verfügung durch fortschreitenden Distanzgewinn aufseiten der Kunst um so mehr noch aufseiten der Wissenschaft denn von

Genese und

-

auch genauer beschreiben läßt.

21

-

7. Der Mythos des Staates

Mythos?

-

-

ein ganz anderer Begriff des

Zunächst aber

gilt es ein anderes, gewichtigeres Beispiel ins Auge zu fassen, das Cassirer in der Folge seines Werkes für die Aktualität des Mythos gibt und von dem sich nicht wie im Fall der mitten im wissenschaftlichen Denken aufgehobenen Ursprungsund Herkunftsfragen sagen ließe, daß es sich um ein scharfsinniges Beispiel handelt weil es uns jede Freude am Scharfsinn verderben könnte. Die Rede ist vom Mythos des Staates, den Cassirer in dem gleichnamigen 1946 veröffentlichten Werk seiner letzten Lebensjahre analysiert hat. Damit stehen wir zugleich vor einem weiteren Problem seiner Theorie des Mythos. In welchem Verhältnis stehen die bis hierher gewonnenen po-

-

Das Modell dieser Beschreibung ist in den wenigen, aber bezeichnenden Bestimmungen die Cassirer zum Verhältnis von Kunst und wissenschaftlichem Denken gibt und die als risches Beispiel heranzuziehen sind; siehe unten Kap. IV, 1, 111.

zu

sehen,

exempla-

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

103

Bestimmungen zum mythischen Bewußtsein mitsamt der programmatischen Versicherung von der gleichzeitigen Aktualität aller symbolischen Formen zu dem kritischen Zungenschlag, den Cassirer dem Begriff des Mythos erteilt, indem er die nationalsozialistische Herrschaft, deren Einrichtung er 1933 als Zeitgenosse erleben mußte, unter den Begriff vom Mythos des Staates faßt? Nicht wenige Leser haben vermutet, daß hier ein ganz anderer Begriff des Mythos vorliegt, als ihn Cassirer in seinen Schriften der zwanziger Jahre im Zuge der Ausarbeitung der Philosophie der symbolisitiven

schen Formen entwickelt hat. Um das mögliche Problem dieser terminologischen Entscheidung anzugehen, durch die das Instrumentarium der nationalsozialistischen Ideologie und Herrschaftsform als eine Form des mythischen Bewußtseins begriffen werden soll, müssen wir uns nur vergegenwärtigen, daß Cassirer sich über den inhumanen und gefährlichen Charakter dieser Herrschaftsform völlig im klaren war. Dies ist nicht erst zu einem Zeitpunkt, als sich der Charakter des deutschen Faschismus im Zweiten Weltkrieg und im Völkermord an den Juden bereits offen zu erkennen gegeben hatte dem Buch vom Mythos des Staates zu entnehmen, sondern im Falle Cassirers sehen wir zudem etwas in jener Zeit sehr Seltenes: einen wachsamen, scharfsichtigen und in jeder Hinsicht kompromißlos kritischen Zeitgenossen, der sich von Anfang an seit dem Januar 1933 nicht der geringsten Illusion darüber hingab, worauf diese Herrschaft hinauslaufen würde. Die Cassirers hatten beide schon seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Eindrücke vom antisemitischen und nationalsozialistischen Klima in der Stadt und in der Universität Hamburg gesammelt. So berichtet Toni Cassirer in ihren Erinnerungen davon, wie sie Ende der zwanziger Jahre beim Spaziergang mit ihrem zu Besuch nach Hamburg gekommenen Vater auf dem Grundstück hinter dem Haus in der Blumenstraße 26 von einem Nachbarn angepöbelt worden war, man sähe ihr und dem Herrn an, daß sie nicht 22 hierher, sondern nach Palästina gehörten. Dieser Nachbar war ein gutsituierter Bürger in Hamburgs vornehmem Stadtteil Winterhude. Ernst Cassirers Kollegenkreis war in der Zeit der Weimarer Republik nicht allein in der für ganz Deutschland repräsentativen Weise konservativ, deutschnational und antidemokratisch gesonnen, es gab auch Nationalsozialisten und vor allem: viele Mitläufer unter den Professoren. Ernst Cassirers Engagement in der politischen Philosophie für Die Idee der republikanischen Verfassung so der Titel der großen Rede, die er am 11. August 1928 bei der Verfassungsfeier des Hamburgischen Senats gehalten hat -, sein philosophischer Einsatz für die Idee des bürgerlich-demokratischen, auf die Menschenrechte gegründeten Rechtsstaates, bildet eine der wenigen Ausnahmen inmitten einer Population von Gelehrten und Wissenschaftlern, für die es die Regel war, den demokratischen Parlamentarismus als eine dem deutschen Geist fremde und schädliche, von außen imponierte, mo-

-

-

-

-

-

-

Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer,

Hamburg 2003,

131.

Die Elemente der Kultur

104

dische Verfallsform zu verachten und zu bekämpfen. 1928 war das Klima in der Universität immerhin noch so, daß Cassirer auch aufgrund seiner Rede zur Verfassungsidee zum Rektor des Amtsjahres 1929/30 gewählt werden konnte. Die universitäre Verfassungsfeier des Jahres 1930 konnte der Rektor Cassirer aber nur mit erheblicher diplomatischer List durchsetzen. Und als er nach der Wahl von 1933 in seiner unerschrockenen Geistesgegenwart den Entschluß faßte, Deutschland mit seiner Familie ohne weitere Verzögerung zu verlassen, da stand er in seinem Kollegium ganz allein, und es regte sich kein bemerkenswerter Protest oder Widerstand. So ist es den allermeisten gegangen, die damals mitten in der Kultur mit einemmal feststellen mußten, daß sie im entscheidenden Augenblick ganz allein dastanden. Unvergleichlich und dadurch beispielhaft ist aber am Fall Cassirers der frühe Zeitpunkt und die Kompromißlosigkeit der Gewißheit, daß Deutschland in die Katastrophe steuerte. Ernst und Toni Cassirer in ihrer realistischen Beurteilung der Lage verließen Hamburg am 12. März 1933. Wir dürfen festhalten: Für Cassirer bestand kein Zweifel daran, daß die nationalsozialistische Herrschaft, ihr Staat und ihre Ideologie, eine Regression war, eine Regression der Kultur in die Barbarei und ins Verbrechen. Ganz deutlich wird dies am Ende des Buches vom Mythos des Staates, wenn er bekennt, daß die totalitäre Herrschaft ihm die Zerbrechlichkeit der Kultur vor Augen geführt hat die Angewiesenheit der Kultur auf unablässige moralische Wachsamkeit und kämpferische Verteidigungsbereitschaft: die Herausforderung, die von der Kultur an den kultivierten Menschen ergeht, sich auf ihren Errungenschaften nicht auszuruhen, sondern sich zu ihrer Bewahrung tätig und in eigener Verantwortung einzusetzen. Diese elementare Einsicht, die wir als das normative Element allen Kulturbewußtseins für konstitutiv ansehen dürfen, hat sich Cassirer -

Michael Hänel, Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitan Philosopher. The Case of Ernst Cassirer, in: Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the United States, hg. von Larry Eugene Jones, New York/Oxford 2001, 119-140.

Vgl.

Von der verbreiteten gegenteiligen Einstellung zur Machtübernahme der Nationalsozialisten hat Hannah Arendt aus ihrer intellektuellen Subkultur der dreißiger Jahre im Fernsehinterview mit Günter Gauß berichtet. Man dachte nicht im Ernst daran, so der Tenor, daß es diese Formen annehmen würde, auch „weil es ja gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war". Hannah Arendt hat diese Einschätzung sogar halbwegs geteilt, sie hatte aber von ihrer Würde als Mensch und Bürger eine zu hohe Überzeugung, als daß sie bereit gewesen wäre, in einem Deutschland unter Hitlers Herrschaft „sozusagen als Staatsbürger zweiter Klasse herumzulaufen"; siehe Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964), in: Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, München 1996, 44—70, Zitate: 59; 48. Siehe zu diesen Zusammenhängen ausführlicher Teil C, Kap. I.

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

105

in der Auseinandersetzung mit der Herrschaft zwischen 1933 und 1945 mit besonderem Nachdruck bestätigt. Es ist aber dieser barbarische Zerstörungsschlag gegen die Kultur, den Cassirer im Begriff des Mythos zusammenfaßt: Er spricht vom Mythos des Staates als vom zentralen ideologischen Charakteristikum der nationalsozialistischen Herrschaft, nachdem wir von ihm bis dahin nur wissen, daß nicht allein alle Kultur aus dem Mutterboden des Mythos hervorgeht, sondern auch, daß in aller selbst entwickelten, fortgeschrittenen Kultur mythische Elemente fortleben und unverzichtbar sind. Wie paßt das zusammen? Sollte der Mutterboden der Kultur etwas Faschistoides haben? Hier drängt sich die Frage auf, ob sich hier womöglich ein ganz anderer Begriff des Mythos einschleicht, als der, den wir zuvor kennengelernt haben. Oder haben wir an dieser Verwendung des Mythosbegriffs vom Ende her anzunehmen, daß Cassirer sich von der Behauptung der systematischen Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit der symbolischen Form des Mythos schließlich doch distanziert? Gibt es mit anderen Worten entweder einen Bruch in seinem Begriff vom Mythos oder eine Unsicherheit in seiner geschichtsphilosophischen Konzeption vom Status des mythischen Denkens oder beides? Wenn wir auf die Elemente seiner ideologiekritischen Analyse im Myth of the State sehen, auf seine Kritik an Theorien des totalitären Staates, an der Romantik und ihren antiaufklärerischen Tendenzen, an Lehren von Heldenverehrung und Rassenideologie, finden wir manches Moment der Vergleichbarkeit mit dem, was Cassirer als mythische Lebensform theoretisch grundlegend als Teil aller Kultur beschrieben hat. Am Nationalsozialismus betont er die Depotenzierung des Individuums und vor allem der individuellen Verantwortung für das Handeln durch alle Tendenzen der Lehre, das Individuum in das Kollektiv, das Volk, die Rasse zu absorbieren und dadurch konzeptuell zu -

exkulpieren: „Wir haben erfahren, daß der moderne Mensch

trotz seiner Ruhelosigkeit, oder vielleicht gerade wegen seiner Ruhelosigkeit, den Stand des unzivilisierten Lebens nicht wirklich überwunden hat. |... ] Von allen traurigen Erfahrungen der letzten zwölf Jahre ist diese vielleicht die furchtbarste. Sie mag mit der des Odysseus auf der Insel der Kirke verglichen werden. Aber sie ist noch ärger. Kirke hatte die Gefährten des Odysseus in verschiedene Tiergestalten verwandelt. Aber hier sind es Menschen, Menschen von Erziehung und Intelligenz, ehrenhafte und aufrechte Menschen, die plötzlich die plötzlich das höchste menschliche Privileg aufgeben. Sie haben aufgehört, freie und persönlich handelnde Menschen zu sein. Indem sie dieselben vorgeschriebenen Riten vollziehen, beginnen sie, auf die gleiche Weise zu fühlen, zu denken und zu sprechen. Ihre Gesten sind lebhaft und heftig; aber dies ist bloß ein künstliches, ein Scheinleben. Tatsächlich werden sie durch eine äußere Kraft in Bewegung gesetzt. Sie handeln wie Marionetten in einem Puppenspiel und sie wissen nicht einmal, daß die Fäden dieses Spiels und des -

Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 388f; siehe die Auseinandersetzung mit dem tragischen Kulturbegriff in Teil C, Kap. III.

Die Elemente der Kultur

106 individuellen und sozialen Lebens des Menschen „27 gezogen werden.

ganzen rern

von nun an von

den politischen Fuh-

Diese großangelegte fatale Tendenz, die gleichermaßen an der Dominanz der Gemeinschaft wie an der Hingabe an einen omnipotenten Führer orientiert ist, läuft schließlich darauf hinaus, daß niemand etwas gewußt hat und keiner es gewesen ist. Eines ihrer Mittel ist die Überflutung des öffentlichen Bewußtseins durch Bilder (sowohl im wörtlichen Sinne aller möglichen visuellen Inszenierungen wie in der Sprache, die nach Cassirers Diagnose ihre bezeichnende und benennende Funktion für die Erkenntnis zugunsten enthusiasmierender, auf Stimmungserzeugung angelegter Propagandafunktionen

verliert).

Doch offensichtlich ist die Pointe von Cassirers kritischer Analyse noch gar nicht in der bloßen Sammlung mythischer Elemente zu sehen. Aber dies ist bloß ein künstliches, ein Scheinleben: Das Entscheidende an dieser Formulierung ist, daß der Mythos, von dem hier die Rede ist, nichts Authentisches ist, sondern etwas Veranstaltetes: Es ist kein echter Mythos, kein genuines und echtes Element mythischen Bewußtseins, sondern ein nicht allein auf dem Boden oder im Medium der modernen Kultur entstandener, sondern mit ihren fortgeschrittensten technischen Mitteln forcierter „Mythos" ein Kunstmythos, eine suggestive Inszenierung mythischer Elemente, deren Gelingen allerdings nicht erklärbar wäre, wenn nicht das Bewußtsein auch im Zeitalter der Dominanz von Wissenschaft und Technik „immer noch" zu der Einstellung fähig wäre, durch die Cassirer den Mythos als Anschauungsform und als Denkform beschreibt. Diesen Charakter des Veranstalteten und damit der Ideologie muß man ebenso berücksichtigen wie die Unterstellung einer systematisch fortwirkenden anschlußfähigen Einstellung, um zu sehen, daß Cassirer hier zu seiner positiven Einschätzung des Mythos nicht in Distanz geht, sondern im Rekurs auf die Elemente des mythischen Bewußtseins gleichsam einen zweigestrichenen Begriff des Mythos vorstellt. Wir dürfen in Cassirers Theorie des Mythos zwar insofern eine exemplarische Einlösung der These von der Gleichzeitigkeit aller symbolischen Formen sehen, als sie im positiven Sinne die Aktualität des Begriffs vom mythischen Bewußtsein und damit die ausdrücklich behauptete Gegenwart des Mythos in der modernen Gesellschaft belegt. Die Vermutung, die sich angesichts derjenigen Aktualität des Mythos, wie sie nach Cassirers terminologischer Entscheidung im Weltbild der nationalsozialistischen Herrschaft vorliegt, auf den ersten Blick aufdrängt, daß es eine gravierende Inkonsistenz in Cassirers Begriff des Mythos gäbe, da sich mit der Verwerfung dieser Form des Denkens, der Weltanschauung und der auf sie gegründeten Praxis die neutral deskriptive Einstellung zu einem konstitutiven Element menschlicher Kultur und die positive Anerkennung, die er ihm im Aufbau seiner Theorie entgegenbringt, gerade nicht aufrechter-

A.a.O., 373 (Hervorh. B.R.).

Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos

107

halten läßt, konnte bei genauerer Bestimmung der spezifischen Differenz des faschistischen Mythos vom Staat entkräftet werden. Argumentationsresistenz und Abstraktionsverweigerung, Besessenheit von der archaischen Macht der Bilder und Erosion des Bewußtseins von Individualität samt seiner praktischen Konsequenz im Bewußtsein individueller Verantwortlichkeit: das hatten wir als theoretische Charakterisierung des Zustands im öffentlichen Bewußtsein unter der Herrschaft des Faschismus gefunden. Es sind lauter Aspekte, die uns aus Cassirers Theorie des Mythos bekannt vorkommen müssen, mit denen hier aber dezidiert keine neutrale oder positive Bewertung als von unverzichtbaren Elementen der Kultur einhergeht. Das Beurteilungskriterium, auf das es hier offenbar ankommt, liegt in dem Unterschied, den es dabei macht, ob die geistige Reflexionsdistanz im Umgang mit den Bildern, die Fähigkeit zu rationaler Argumentation und das Bewußtsein von Individualität mit allen seinen Konsequenzen noch nicht erreicht sind oder ob sie, nachdem man sie bereits erreicht hatte, wieder preisgegeben werden womöglich sogar in dem Glauben, auf diese Weise unnötigen Ballast abwerfen zu können. Der moderne Mythos des Staates will das bereits entwickelte, auf Wissenschaft und Technik eingestellte und rechtsstaatlich geschützte Individuum unter allerlei archaischem Geraune von Blut und Boden und inszeniertem Massengetöse der Allmacht eines Kollektivs oder eines Führers absorbieren, als handelte es sich um Mächte eines unvordenklichen Schicksals. Er ist als inszenierte Veranstaltung regressiv und inauthentisch. Diese Antwort hat ganz erstaunliche Ähnlichkeit mit dem, was Theodor W. Adorno vor gut fünfzig Jahren als „Thesen gegen den Okkultismus" entwickelt und in Verbindung mit Tendenzen des Faschismus gebracht hat: „Die verschleierte Unheilstendenz der Gesellschaft narrt ihre Opfer in falscher Offenbarung, im halluzinierten Phänomen", 28 lautet eine seiner Beschreibungen, und daß die Herzen der Menschen sich würgend in die Vorwelt zurückkrampfen, stellt einen Aspekt der Diagnose des regressiven Bewußt29 seins dar, die in der theoretischen Aussage gipfelt: „Die zweite Mythologie ist unwah30 rer als die erste." Die Gemeinsamkeiten zwischen Cassirer und Adorno in der Kritik des mythischen Bewußtseins wären sicherlich, gerade auf der Grundlage ihrer offenkundigen rationalitätstheoretischen Differenz in den Einschätzungen des Mythos,31 ein lohnendes Thema für genauere Untersuchungen. Im gegenwärtigen Kontext ist es von vorrangiger Bedeutung, daß in Cassirers Entwicklung kein Bruch und keine Inkonsistenz, sondern eine -

Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1951 u.ö., 321. Vgl. a.a.O., 319. A.a.O., 322. Siehe Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M.

Die Elemente der Kultur

108

reflektierte Variation im Begriff des Mythos geschieht. Zur Unterstreichung des Kontinuitätsmomentes ist zu sagen, daß die fatale ideologische Veranstaltung des Mythos nicht möglich wäre, wenn nicht, wie Cassirer noch im Essay on Man betont, mythische Momente des Erlebens und Denkens in der modernen Welt weiterhin ihren Ort hätten und unverzichtbar wären. Dies ist vielleicht ein etwas anders gelagerter Aspekt einer Dialektik des mythischen Bewußtseins. -

-

IV.

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie.

Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant

Cassirer hat ebensowenig eine Ästhetik wie eine Ethik geschrieben, aber es ist auffällig, daß ethische und ästhetische Elemente gleichermaßen ihren Anteil haben an seiner symboltheoretischen Konzeption der Kultur. Kultur ist nach seinem Begriff in jeder denkbaren Vielfalt ihrer Ausprägungen durch die freie Tätigkeit des Geistes gegründet, sie ist Form der Freiheit, und zwar lebendige Form: Nach dem dynamischen und historischen Verständnis, das Cassirer von ihr entwickelt, besteht sie im fortgesetzten Prozeß der Befreiung durch die symbolische Artikulation. In dieser wird nach Cassirers Einsicht mit der Funktion der Objektivierung allererst jene Distanz gewonnen, die Verfügung nach innen wie nach außen möglich macht und damit Handlungsspielräume eröffnet. In diesem grundlegend praktischen Verständnis der Kultur aus Freiheit, die Cassirer im Anschluß an Kant als Spontaneität und als Autonomie liegt die ethische Affinität seiner Kulturkonzeption begründet. Dabei ist dieses praktisch gebunden an ein poietisches Verständnis: Cassirer begreift die Tätigkeit in allen symbolischen Prozessen, unabhängig davon, ob ihr Schwerpunkt im einzelnen Fall auf dem Verstehen oder auf der Erzeugung von Bedeutung liegt, als Akt der hervorbringenden Gestaltung. Von den einfachsten Vorgängen der Wahrnehmung bis in die komplexesten Leistungen tatsächlicher Verfertigung ist eine Synthesis wirksam, die in einem grundlegenden Sinne als produktiv gedacht werden muß. Zum Paradigma der geistigen Leistung wird damit das Werk. Wir können angesichts dieses gestaltenden und produktiven Momentes der befreienden Artikulationstätigkeit von einer handlungstheoretischen Komplexion im Kulturverständnis sprechen: In Cassirers Grundlegung der Kultur als System der Symbolisierung vereinigen sich offenbar die Elemente von praxis und poiesis. In dem poietischen Element, das auf den Werkcharakter der Kultur hinausgeht, dürfen wir aber auch ein traditionell ästhetisches Element aufgehoben sehen zumal es keine Schwie-

begreift,2

-

Womöglich läßt diese Gemeinsamkeit eine strukturelle Schwäche seines symboltheoretischen Ansatzes erkennen die Schwierigkeit im Umgang mit den Formen der Bewertung denn Ethik und Ästhetik beschäftigen sich nicht allein mit den komplementären Weisen humaner Tätigkeit praxis und poiesis -, sondern zugleich mit den komplementären Weisen menschlicher Bewertung. Siehe unten Teil C, Kap. II. Siehe die eingehende Explikation dieser poietischen Grundlegung bei Schwemmer, Ernst Cassi-

-

-

2 3

rer,

a.a.O., Kap. I

und II.

Die Elemente der Kultur

110

bereiten dürfte, an dieser hervorbringend-gestaltenden Werkaktivität den Anteil eines immer auch sinnlichen Wohlgefallens und damit die elementare Funktion der

rigkeit

aisthesis zur Geltung zu bringen. Über dieses ästhetische Element aller kulturellen Leistung hinausgehend tritt uns die Kunst im Rahmen einer systematischen Zusammenschau in auffälliger Weise als symbolische Form entgegen. Der Mythos, von dem Cassirer sagt, er sei der gemeinsame Mutterboden der kulturellen Symbolismen (vgl. SM, 266), darf als die grundlegende, die Sprache als die elementare und die Kunst als die exemplarische symbolische Form angesprochen werden. In ihr bringt Cassirer nicht nur wiederholt das Wesen symbolischer Gestaltung auf den Punkt, indem er etwa die Einheit von Physisch-Materiellem und Ideellem, die für alle Formen der Kultur konstitutiv ist, am ontologischen Problem des Kunstwerks erläutert.5 Mit ähnlich generalisierendem Anspruch exemplifiziert er in der Auseinandersetzung mit der naiven Mimesiskonzeption der Kunst sein Argument Solche gegen eine jede Widerspiegelungstheorie der geistigen Produktivität Kunst für die diskursive Entfaltung der Beobachtungen zum exemplarischen Status der aufmerken: lassen Formen der Gelingt es Cassirer, neben symbolischen Philosophie dem genus proximum aller Kulturformen auch, die differentia specifica der Kunst herauszuarbeiten? Nach Cassirer gibt uns die Kunst durch ihre Weise der Gestaltung und damit der Sublimierung in der Form „ein Mittel der Selbstbefreiung und gewährt uns so eine innere Freiheit, die wir anders nicht erlangen können." (VM, 230) Dieses Fazit, zu dem er in der konzisen Gesamtrevision des Essay on Man kommt, gibt eher zu Zweifeln Anlaß. Denn vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daß nach seinem Ansatz die gesamte Kultur das Unternehmen der Selbstbefreiung ist (VM, 345), dann stellt sich die Frage, von welcher symbolischen Form sich dies nicht mit demselben Recht sagen

überhaupt.6

ließe. Gerade

angesichts

wert, ob in Cassirers

einer solchen

systematischem

ist es womöglich einer Ansatz bei der Freiheit der Gestaltung

Bestimmung

Spekulation ob also in -

beliebige Entscheidung, daß der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen (1923) der Sprache gewidmet ist. Offenbar lassen sich die grundlegenden Fragen und Begriffe dieser symboltheoretischen Philosophie der Kultur an der Sprache am besten einführen. Das zeigt sich auch immer wieder in den Aufsätzen der zwanziger Jahre und noch im Essay on Man (1944), in dessen Aufbau die Sprache bezeichnenderweise an zwei Systemstellen vorkommt: in der Explikation des Ansatzes und im Kapitel über die symbolische Form der Sprache des materialen Hauptteiles. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie Es ist keine

(VM), Teil I: Was ist der Mensch? III. Von der tierischen „Reaktion" „Antwort", 52-71 ; Teil II: Mensch und Kultur, VIII. Sprache, 171-211). Siehe Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., 43.

der Kultur

zur

menschlichen

Zum Beispiel in Ernst Cassirer, Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Piatons Dialogen (1924), ECW 16, 135-163.

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

111

der Tatsache, daß mit der Praktizität als generalisierter Handlungsfreiheit zugleich die Poietizität als ubiquitäre Gestaltungstendenz die funktionale Grundkonzeption der Kultur insgesamt bestimmt wohl der Grund zu sehen sei, daß er ebensowenig wie eine Ethik eine methodisch und sachlich selbständige Ästhetik geschrieben hat. Doch dies mag vorerst auf sich beruhen, weil sich in seinem Werk nicht nur der systematische Ansatz bei der gestaltenden Hervorbringung findet, der dazu angetan sein könnte, die spezifische Differenz und Selbständigkeit der Kunst zu absorbieren: Es finden sich auch sachhaltige Ansätze, Elemente, Passagen und Abschnitte, ganze Kapitel, die Cassirer deutlich auf dem Weg zu seiner Ästhetik zeigen. -

1. Umrisse einer Theorie der Kunst Anders als die Moral, die er in den programmatischen Reflexionen der Philosophie der symbolischen Formen durchweg gar nicht erwähnt, führt Cassirer die Kunst dort ständig im Munde. Und er knüpft damit an ein im Rahmen seiner großen geisteswissenschaftlichen Studien schon früh entwickeltes Interesse an Problemen der Ästhetik an. Dem Autor von Freiheit und Form (1916), von Individuum und Kosmos (1927) und der großen Monographie zur Philosophie der Aufklärung (1932) braucht man die Bedeutung der Ästhetik nicht erst nahezubringen. Cassirer ist von vornherein nicht in der Gefahr, sie als das harmlose Hobby verspielter Schöngeister oder als Domäne des Luxus und der Moden zu verkennen. Durch seine lebendige Aneignung der Tradition weiß und verstärkt noch seit der Renaissance durcher, daß die Ästhetik seit der Antike weg ein Ort der Artikulation eines humanen Selbstverständnisses gewesen ist. Zwei der großen Menschheitsfragen haben ihren Ort immer wieder auf dem Boden der Ästhetik gehabt: die im weitesten Sinne erkenntnistheoretische Frage nach dem Anteil der Sinnlichkeit an unseren Erfahrungen, die sich auf die ästhetische Wahrnehmung und das ästhetische Gefühl bezieht und die gleichermaßen praktische wie metaphysische Frage nach dem Status und Wert des von Menschen Gestalteten im Ganzen der Welt, die sich exemplarisch an der Kunst erörtern läßt. Cassirer hat diese Bedeutung der Ästhetik klar gesehen. Ihm verdanken wir die epochale Interpretationsthese, die uns darüber aufklärt, wieso gerade das Zeitalter der Aufklärung zugleich die Zeit gewesen ist, in der die Ästhetik die bisher wohl folgenreichste Hochkonjunktur erlebt hat: Es ist das Interesse an den Leistungen und Grenzen der menschlichen Vernunft, das überall systematisch die Frage nach dem Status von Sinnlichkeit und Gefühl als Element, -

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Siehe Martina Hinsch, Die kunstästhetische Würzburg 2001.

Perspektive

in Ernst Cassirers

Kulturphilosophie,

Die Elemente der Kultur

112

oder Widerpart in ganz neuer Weise herausfordert. Vor allem das Bewußtsein von der konstitutiven Differenz der menschlichen Bedingungen zu einem jeden denkbaren Absoluten, so Cassirer, schärft mit dem Sinn für die Stellung des Mensehen in der Welt auch die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Sinnlichkeit. Ferner verdanken wir Cassirer die in der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Ästhetik zunächst ebenfalls als Interpretationsthese entwickelte Einsicht, daß die menschliche Freiheit sich immer nur im Rahmen von Gestaltung als konkreter begrenzender Formgebung verwirklicht. Doch nicht nur seine gelehrten Abhandlungen zur Philosophiegeschichte, auch ungezählte Bemerkungen und Reflexionen in eigener Absicht belegen, daß Cassirer einen genuinen Zugang zu den Fragen der Ästhetik hatte.1 In einigen Aufsätzen der zwanziger Jahre hat Cassirer die Kunst in einer Weise, die bis heute der systematischen Erörterung harrt, bereits in sein Schema der symbolischen Funktionen einzuordnen versucht, im Übergang nämlich zwischen Ausdruck und Darüberhinaus verdient im insbesondere das Kapitel über die Kunst Essay on Man eingehendere Beachtung, denn hier treten die Konturen einer Theorie hervor, die erstens gegenüber jeglichem Nachahmungsmodell von Kunst den Charakter spontaner und eigenständiger Hervorbringung, den Charakter der authentischen Entdeckung betont (VM, 220 f.), und die zweitens bei aller Abgrenzung gegen eine bloß kognitivistische Auffassung auf der anderen Seite ebenso darauf besteht, daß Kunst nicht nur „Ausdruck mächtiger Gefühle"

Komplement

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Darstellung."

Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932), ECW 15, 7. Kap. Siehe dazu den Artikel „Ästhetik, ästhetisch" des letzten Hamburger Assistenten Cassirers, Joachim Ritter, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 555-580. -

Cassirer, Freiheit und Form, a.a.O. Siehe den Artikel von Enno Rudolph, Cassirer, in: Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. von Julian Nida-Rümelin und Monika Betzier, Stuttgart 1998, 157-164. Cassirer, Das Symbolproblem, a.a.O., 17 ff. Im Aufsatz über Form und Technik (1930) spricht Cassirer von der Einheit von „Gestalt" und „Ausdruck" (Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, a.a.O., 39-91, hier: 84). Hier liegt ein Indiz dafür, daß sein Schema von Ausdruck, Darstellung und reiner Bedeutung nicht problemlos abgebildet werden kann auf das Schema von mimischem, analogischem und symbolischem Ausdruck, das Cassirer in PhsFI vertritt und das in Analogie zu Goethes einfacher Nachahmung, Manier und Stil gebildet ist: Mit Bezug auf dieses Schema sagt Cassirer nämlich, „eine künstlerische Form im eigentlichen Sinne entsteht erst dort, wo die Anschauung sich von jeder Gebundenheit im bloßen Eindruck gelöst, wo sie sich zum reinen Ausdruck befreit hat. Schon die erste Phase künstlerischer Gestaltung ist daher von jeder Art der „Nachahmung" streng geschieden." (Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., ECW 16, 75-104, Zitat: 86) Im Essay on Man heißt es dann mit Blick auf Kunstwerke von exemplarischer Größe, sie seien „weder rein darstellend noch rein expressiv. Sie sind in einem neuen, tieferen Sinne symbolisch." (VM, 225) -

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„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

113

ist (VM, 226). In diesem Zusammenhang kommt der Betonung der Form besonderes und neues Gewicht zu. So wichtig auch der Bezug auf die Gefühle ist, er ist nicht das einzig Wichtige: Das Kunstwerk hat auch ein „Element von Rationalität", und das ist näher zu bestimmen als „die Rationalität der Form" (VM, 257). Im Rekurs auf die Form wird der Charakter der produktiven Umwandlung, genauer des Gestaltwandels faßbar, damit auch der Sublimation ursprünglicher Impulse: „Unseren Leidenschaften eine ästhetische Form zu verleihen heißt, sie so zu verwandeln, daß sie ohne Zwang wirksam werden können. Im Werk des Künstlers ist die Macht der Leidenschaft zu einer bildenden, formenden Kraft geworden." (VM, 229) Bei dem „Selektionsprozeß" der künstlerischen Wahrnehmung, der dazu erforderlich ist, kommt es zugleich auf den produktiven „Prozeß der Objektivierung" an (VM, 224 f.), und damit wird auch die Bindung an das Werk als entscheidendes Kriterium von Cassirers Ästhetik deutlich. „Eine Geste ist ebensowenig ein Kunstwerk, wie jede Interjektion eine Sprachhandlung ist" (VM, 219). In Cassirers Theorie der Kunst steht somit in spezifischer und prägnanter Fassung der Werkbegriff im Zentrum, um den sich seine Theorie der kulturellen Symbolismen dreht; er wird hier aber zugleich als der vorläufige Einstand einer Perspektive reflektiert, die immer nur im Kontext der fortlaufenden Aktivität des Sinnverstehens und des Hervorbringens von Sinn zu begreifen ist. Man darf Cassirers Ästhetik von daher als eine rezeptionsästhetisch reflektierte Werkästhetik bezeichnen. Und dabei wäre sie in einem grundlegenden, nicht an dogmatische Schulzuordnungen gebundenen Sinne eine hermeneutische Ästhetik, denn die Kunst ist für Cassirer eine spezifische, im Medium der Anschauungen, der sinnlichen Formen gegebene „Deutung von Wirklichkeit" (VM, 226). Cassirer hält auch hier seine Bestimmungen bewußt in der Schwebe, so daß sie auf die produktive wie die rezeptive Seite der Kunst gleichermaßen zutreffen: „Wenn Kunst Vergnügen ist, dann Vergnügen nicht

an Dingen, sondern an Formen. Freude an Formen ist etwas ganz anderes als Freude an Dingen oder Sinneseindrücken. Formen prägen sich nicht umstandslos unserer Wahrnehmung ein; wir müssen sie hervorbringen, um ihre Schönheit zu empfinden." (VM, 245)

Hier wird deutlich, daß „Hervorbringung" ganz in der Konsequenz des transzendentalen Aktivismus Kantischer Provenienz für Cassirer auch die Aktivität des Sinnverstehens meint. Unbeschadet der unterschiedlichen Terminologie zeigt Cassirers ungeschriebene Ästhetik auffällige Gemeinsamkeiten mit der Kunsttheorie von John Dewey, für den das Kunstwerk nicht nur „Form des Lebens" ist, sondern schließlich auch: „Zeichen für ein vereintes Kollektivleben" also in einer auf die gesellschaftliche Existenz reflektierenden Weise -, ein Symbol des Sittlichguten (John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980, 97). Siehe dazu auch Birgit Recki, Die Form des Lebens. John Dewey über ästhetische Erfahrung, in: Ästhetische Reflexion und kommunikative Vernunft, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Bad Homburg 1993, 132-150. -

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114

Die Elemente der Kultur

Mit dem Hinweis auf die Freude, das Vergnügen, die expressive Geste, die Leidenschaften und die mächtigen Gefühle, die im Kunstwerk gestaltet werden, indem sie in der Einheit mit dem Anspruch auf Entdeckung und Verstehen auftreten, bereitet Cassirer seine entscheidende Bestimmung vor: „Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit" (VM, 221). Wie sie dies sein kann, indem sie zugleich jenen den umittelbaren Eindruck und die unmittelbare Regung sublimierenden, jenen distanzierenden und verobjektivierenden Zug hat, in der ihre Gemeinsamkeit mit der Befreiungsdynamik aller symbolischen Formen zu sehen ist, bleibt in einer genaueren Explikation zu klären.15 Daß sie es im Fortschrittsgeschehen zunehmender Verfügung durch Abstraktion sein kann, bildet die systematische Einsatzstelle jener schon bei Cassirer erkennbaren Tendenz zu einer Kompensationstheorie der ästhetischen Erfahrung, zu jenem umgedrehten Hegelianismus, mit der die folgenden Generationen Schule machen sollten.17 Cassirer erläutert diesen Aspekt der Wirkung von Kunst in emphatischer Weise durch die besondere Anmutung von Lebendigkeit, die er dem Kunstwerk als wesentlich zuschreibt. „[Djas ganze Spektrum menschlicher Emotionen", das die Kunst anspricht (oder auslöst), indem sie es thematisiert (VM, 230), „[ajile diese Kontraste" unserer Gefühlsreaktionen „verschmelzen" in der ästhetischen Erfahrung „zu einem unteilbaren Ganzen", und dadurch erleben wir „die Bewegung und das Vibrieren unserer ganzen Existenz." (VM, 231) Diese Wirkung beschreibt Cassirer mit einer terminologischen Neuschöpfung im gesuchten Unterschied von „Emotion" mit dem Begriff der „,Motion' Bewegung" (VM, 230): Die Kunst bewegt uns durch die Dynamik der äs-

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13 14

Siehe auch dazu Dewey, Kunst als Erfahrung, a.a.O., z.B. 113; 123; 155; 228; 376. zum Charakter von „Verdichtung", ,,wahrhafte[r] Welt-Entdeckung", von „Offenbarung" durch Entfaltung und Begrenzung auch ECN 1, 76 f. An einer erläuterungsbedürftigen Stelle im Essay on Man bestimmt Cassirer die rätselhafte Rede vom neuen, tieferen Sinn des symbolischen Charakters von Kunst (vgl. VM, 225) durch den Hinweis auf die „Immanenz" dieser Symbolik. Die folgende Erläuterung ist bemerkenswert: „Der wirkliche Gegenstand der Kunst" ist demnach „in bestimmten fundamentalen Strukturelementen in Linien, Zeichnung, in architektonischen, musikaliunserer sinnlichen Erfahrung zu suchen schen Formen" (242; Hervorh. B.R.). Demnach scheint die spezifische Leistung der Kunst, mithin auch ihre spezifische Differenz zu anderen symbolischen Formen, in der Reflexivität zu liegen, durch die uns hier unsere eigene produktive Tätigkeit im Medium formaler Gestaltung bewußt werden kann. Als diese Leistung der Reflexivität könnte auch das Ineinander von Abstraktion und Intensivierung zu erklären sein. Siehe diesen Gedanken am exemplarischen Fall der Lyrik in SM, 311. So Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Geseilschaft (1963), in: ders., Subjektivität, Frankfurt/M. 1974, 141-163; 172-190; Odo Marquard, Aesthetica Zur Kritik siehe Birgit und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn ua 1989. Recki, Kunst, Ästhetik, Wissenschaft: Gespannte Verhältnisse, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Heft 48/1, Jg. 2003, 85-97.

Vgl.

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17

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„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

115

Erfahrung, in der wir eine Intensivierung unserer Gefühle bei gleichzeitiger Selbstbefreiung erleben, und sie bewegt uns ganz. Der Hinweis auf die „Empfänglichkeit für das dynamische Leben von Formen", die sich in einem „dynamischen Prozeß in uns selbst" realisiert (VM, 232), die Betonung der Kunst als des Bereichs der „lebenden Formen" (VM, 233), verstärken diese Emphase auf Leben und Lebendigkeit, die sich so in keiner anderen Analyse einer symbolischen Form bei Cassirer sonst findet:18 Für die ständige Cassirer ist die Kunst „der dynamische Prozeß des Lebens selbst Schwingung zwischen einander entgegengesetzten Polen, zwischen Freude und Leid, Hoffnung und Furcht, Jubel und Verzweiflung." (VM, 229) Es findet sich bereits in

thetischen

-

dem Aufsatz

Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum von 1930 eine Vorbedieser reitung Bestimmung im emphatischen Bezug der Kunst auf Leben und Lebendigkeit, an dem man sehen kann, daß ihn der Gedanke von der Lebendigkeit der Kunst durchweg beschäftigt hat: Hier sagt Cassirer von der Kunst, sie leiste die „belebende Abteilung" des Geschehens, indem sie „individuelle Gebilde" erzeuge und darin dem „Grundprinzip des Lebens" treu bleibe. Wo Cassirer den der Kunst spezifischen Symbolisierungsmodus im Übergang zwischen Ausdruck und Darstellung verortet, da agiert er, so groß die Probleme sind, vor die uns diese Zuordnung stellt, ganz auf dem Boden seiner eigenen Systematik und Terminologie. Die Betonung der Lebendigkeit als Leistung der Kunst fällt dagegen aus dem Rahmen. Hier liegt die Frage nahe, wie er auf diese Bestimmung kommt. Bei dem Autor, der in seiner rätselhaften Gewinnung der sogenannten Basisphänomene aus Goethes Maximen 391-393 das Leben, das Erleben und das Werk(hafte) schließlich zu -

Nur auf den ersten Blick kann es so wirken, als wäre der Mythos bei Cassirer ebenso sehr durch die Lebendigkeit bestimmt wie die Kunst. Die Bestimmung erfolgt hier nicht im selben Sinne: Wenn Cassirer in der Analyse des Mythos als Lebensform die „Eigenart des mythischen Lebensgefühls" betont (PhsFII, 192; vgl. VM, 129; 131), dann besagt dies nicht, daß die Gegenstände des mythischen Denkens den Eindruck von Lebendigkeit im prägnanten und von anderen Anmutungen von Gegenständlichkeit spezifisch unterschiedenen Sinne vermittelten. Gemeint ist vielmehr jene Totalität des Mythos, die Cassirer auch durch die „sympathetische" Lebensauffassung (VM, 131 ff.) oder die „Sympathie des Ganzen" beschreibt (VM, 150) -jene Ganzheitlichkeit des Zusammenhangs von allem und jedem, die durch den intuitiven, von begrifflichen Bestimmungen und Unterscheidungen freien Zugang zur Welt bedingt ist. In diesem Sinne ist der Mythos bei Cassirer „als ursprüngliche .Lebensform'" begriffen (ECN 1, 19; vgl. 65). Erst aus diesem „Mutterboden" gehen durch zunehmende Differenzierungen die anderen symbolischen Formen hervor. Zum Begriff des Lebens bei Cassirer siehe Christian Möckel, Das Ausdrucksphänomen als Grundphänomen des Lebendigen überhaupt in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Philosophischer Literaturanzeiger Bd. 56, Heft 3, Juli-September 2003, 283-296. Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, a.a.O., 101. Insofern ist auch der ästhetische Raum wie der mythische ein „Lebensraum" (105), wie dieser von „intensivsten Ausdruckswerten" erfüllt (106).

-

Die Elemente der Kultur

116

den Grundbestimmungen im Verständnis des Kulturprozesses erklärt, liegt weniges so nahe wie die Erwartung, daß sich in diesem Gedanken ein Element des Goethischen Einflusses bemerkbar macht. Tatsächlich erwähnt ihn Cassirer in seinem Aufsatz über den Raum ausdrücklich. Goethe, und zwar der Dichter Goethe in noch höherem Maße als Goethe, der Naturforscher, ist überhaupt einer der wichtigsten Kronzeugen, manche finden: der wichtigste von allen für Cassirers gesamtes Denken. Auch von daher kann kein Zweifel bestehen, daß Cassirer Sinn für die Kunst und einen Zugang zur Ästhetik hatte, denn auch seine unermüdliche, von identifikatorischer Sympathie getragene Aus21 einandersetzung mit Goethe, deren Spuren wir in diesem wie in vielen anderen Texten finden, gehört zu den Motiven seines ästhetischen Denkens.

2. Goethe: Das Leben in der Kunst In seinem Tag- und Jahresheft von 1803 schildert Goethe „ein anmuthiges der letzten Ausstellung der Vereinigung Weimarischer Kunstfreunde:

Ereigniß"

von

„Unter den Schätzen der Galerie

zu Cassel verdient die Charitas, von Leonardo da Vinci, die Aufmerksamkeit der Künstler und Liebhaber im höchsten Grad. Herr Riepenhausen hatte den schönen Kopf dieser Figur, in Aquarellfarben, trefflich copirt, zur Ausstellung eingesandt. Die süße Traurigkeit des Mundes, das Schmachtende der Augen, die sanfte, gleichsam bittende Neigung des Hauptes, selbst der gedämpfte Farbenton des Originalbildes waren durchaus rein und gut nachgeahmt. Die größte Zahl derer, welche die Ausstellung besuchten, haben diesen Kopf mit vielem Vergnügen gesehen; ja derselbe muß einen Kunstliebhaber im höchsten Grade angezogen haben, indem wir die unverkennbaren Spuren eines herzlichen Kusses von angenehmen Lippen, auf dem Glase, da wo es den Mund bedeckt, aufgedrückt fanden."

Das Liebenswürdige am „Facsimile eines solchen Kusses" findet Goethe in den besonderen Umständen seiner Entstehung: Es war die winterliche Kälte im Ausstellungsraum,

Siehe Johann

Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke in 18 Bänden (im folgenden zitiert als „SW" [mit Bandzahl|), 9, 543; Ernst Cassirer, Über Basisphänomene, in: ders., Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a.a.O., 123 ff.; siehe die erhellende Interpretation bei Schwemmer, Ernst Cassirer, a.a.O., Kap. IV. Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen, 197-219; bes. 198-205. Toni Cassirer berichtet in der Biographie ihres Mannes, daß sie bei einem Besuch im Weimarer Goethehaus 1905 von den unablässigen Blicken des Portiers irritiert gewesen sei und auf die Frage, warum er denn ihren Mann so anstarre, die Antwort erhalten habe: ,„...als der Herr hereinkam, glaubte ich im ersten Augenblick, der Alte wäre vielleicht wiedergekommen er sieht ihm ja so ähnlich.' Ernst war damals 31 Jahre alt; aber der Vergleich schmeichelte ihm so, daß er glücklich lachend Goethes Wohnhaus verließ." (Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, -

a.a.O., 87)

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie durch welche der erstarren können.

warme

Hauch der

begeisterten

117

Reaktion

zur

dauerhaften

Spur

hatte

„Dieß Ereigniß geschah früh bei ungeheizten Zimmern: der Sehnsüchtige hauchte das kalte Glas an, drückte den Kuß in seinen eignen Hauch, der alsdann erstarrend sich consolidirte." Hätte sie sich nicht zugetragen Goethe hätte diese Geschichte erfinden müssen. Die gleichsam ironische Dialektik der Naturprozesse, die sich hier in der Koinzidenz von ,eignem Hauch' und .Consolidierung', im idealen Ausgleich von Kälte und Hitze an der schönen Darstellung des schönen menschlichen Gesichts entfaltet die Art, wie hier das gelungene Kunstwerk durch den lebendigen Eindruck den Betrachter nicht allein belebt, sondern selbst zu unwillkürlicher produktiver Steigerung animiert: es ist keine Anekdote vorstellbar, in der Goethe eine bessere Veranschaulichung seiner Sicht des Zusammenhangs von Kunst und Leben hätte finden können. Es ist Goethe, der immer wieder auf die Analogie der Kunst mit der schaffenden Natur zurückkommt und auf diese Weise in jener ihr eigenes Prinzip schöpferischer Tätigkeit zur ratio essendi ihrer Autonomie erklären kann. 1772 in seinem Verriß von Sulzers Schrift über Die schönen Künste, sieht er in der Kunst das „Widerspiel" zur Widerspruchsdynamik der Natur: ,,[S]ie entspringt aus den Bemühungen des Individuums sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten".25 Dies ist nur auf den ersten Blick mißverständlich, so als wäre hier ein der ganzen Art nach gegensätzliches Prinzip zur Natur benannt die Kunst kann aber den Anspruch, der damit einhergeht, nach Goethes Einsicht letztlich nicht erfüllen, wenn sie den Menschen gleichsam in einen schützenden Bezirk komfortabler Sonderbedingungen einschließt und ausgrenzt, sondern nur, wenn sie ihn zu mitwirkendem Genießen befähigt (29 f.). Damit ist schon angedeutet, daß in der Kunst kein der Natur gegensätzliches, sondern ein im Einklang -

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Johann Wolfgang von Goethe, Tag- und Jahreshefte, Weimarer Ausgabe, 35. Band, 1892, 166, 167. Deshalb greift sie wohl auch Thomas Mann aus der ganzen Fülle des Materials auf, um den Gastgeber am Frauenplan zu charakterisieren, in: Lotte in Weimar, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden (Frankfurter Ausgabe), hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M. 1982, 381 ff.; hier: 382. Ich danke Carolin Fischer (Berlin) und Chris Rauseo (Berlin), die meiner bloßen Erinnerung an die Stelle durch den Hinweis auf Thomas Manns Lotte in Weimar auf die Sprünge geholfen haben, und Elke Dreisbach (Goethe-Wörterbuch, Hamburg), mit deren freundlicher Hilfe die Stelle bei Goethe ausfindig gemacht werden konnte. Schärf hält das „metaphysische Fundament" von Goethes dichterischer Praxis darin für konstant, daß „die Dialektik von Kunst und Natur für Goethes Denken fundamental" ist; er sieht im Naturthema einen „konstanten Metatext" des gesamten Werkes (Christian Schärf, Goethes Ästhetik. Eine Genealogie der Schrift, Stuttgart/Weimar 1994, 76 f.). Johann Wolfgang von Goethe, Die schönen Künste (Rezension zu J.G. Sulzer), SW 13, 26-32, Zitat: 29. -

Die Elemente der Kultur

118

mit ihr wirkendes Prinzip angenommen wird. Dies ist freilich noch ganz aus der Perspektive des schaffenden Künstlers gesagt Goethe lehnt hier den rezeptionsästhetischen Zugang zur Kunst entschieden ab und betont: -

,,[U]m den Künstler allein ist es zu tun, daß der keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner Kunst, daß, in sein Instrument versunken, er mit allen seinen Empfindungen und Kräften da lebt."(SW 13,31) Daß der Künstler, dessen Kräfte nach Goethes Forderung durch „lebendige Theorie" (SW 13, 32) allenfalls gestärkt werden sollen Gleiches durch Gleiches -, ganz in der Kunst lebt, macht hier die Lebendigkeit der Kunst aus. Wie wir wissen, wird es bei dieser ausschließlichen Konzentration auf den Künstler nicht bleiben, im Zuge seiner Entwicklung wird Goethe ein Vierteljahrhundert später (1798) den wahren Liebhaber, den er schon früh dem bloßen Kenner entgegensetzt und gelten läßt, durch die Fähigkeit gekennzeichnet finden, sich in der aktiven Anteilnahme „zum Künstler [zu] erheben". Es liegt in der Konsequenz des Gedankens, der dieser Entwicklung zugrundeliegt, daß die Analogie von Kunst und Natur sich eindeutig über das gemeinsame Prinzip der tätigen und schöpferischen Lebendigkeit einspielt, ganz im Sinne der Verschiebung des Nachahmungsmotivs von der natura naturata zur natura naturans, in der sich so gut wie alle modernen Künstler, sofern sie nur reflektieren, mit Goethe einig sind. Auf der Grundlage nämlich der Einsicht, wie alle physische und geistige Lebensformen ebensoviele Formen desselben vielfältigen Naturgeschehens sind, kann Goethe formulieren: -

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-

-

„Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes, und in diesem Sinne auch ein Werk der Natur." (SW 13, 180) Es ist zur selben Zeit und aus demselben Grunde, daß er in seinem Beitrag zum Laokoon-Streit die Analogie von Kunstwerk und Naturwerk in beider Unausschöpflichkeit für den Verstand bemerkt. Die Laokoongruppe lobt er dabei als beispielhafte Plastik, insofern es in ihr gelungen sei, uns durch die Fixierung der bewegten Handlung in einem vorübergehenden Moment gewissermaßen „den ganzen Marmor in Bewegung sehen" zu lassen. Das Kunstwerk wirkt auf diese Weise wie „ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblick da sie gegen das Ufer anströmt." Was ist dieser Eindruck von Bewegung aber anderes als ein Analogon des Lebens, und eben durch diese 27 Qualität „wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein."

Ders., Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch. Propyläen 1.1, 1798, SW 13, 181. Johann Wolfgang von Goethe, Über Laokoon, in: SW 13, 161-174, Zitat: 166.

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

119

Die emphatische Beziehung zu Shakespeare entspringt aus derselben Motivlage. Es ist Goethe, der in Shakespeare ,,eine[n] wahren Naturfrommen" sieht und an ihm lobt, wie er ,,[d]urchs lebendige Wort" wirke (SW 14, 757), so daß wir durch ihn „die Wahrheit des Lebens" erfahren „und wissen nicht wie". „Shakespeares Dichtungen sind ein großer belebter Jahrmarkt", schwärmt Goethe (SW 14, 758) und lobt seine eigenwilligen Entscheidungen als das, „was seine Werke so lebendig macht" (SW 14, 759). Ins Grundsätzliche gewendet, sieht er aufgrund solcher Einsichten „das ewig fortdauernde Leben des menschlichen Tuns und Handelns" schließlich in der (bildenden) Kunst als einem „Symbol" Für den, der das schöpferische Prinzip der Natur in allen Lebensäußerungen wiedererkennt, fällt der menschliche Geist bei aller Eigendynamik des Widerstandes und bei allem Eigensinn der Bedeutung nicht aus der Natur heraus. „Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist," hatte es bereits 1773 in dem Aufsatz Von deutscher Baukunst geheißen. Im Rückblick auf sein eigenes Leben und Schaffen rät Goethe seinen potentiellen Nachfolgern, sie mögen nur aussprechen, „was lebt und fortwirkt, unter welcherlei Gestalt es auch sein möge" -

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repräsentiert.29

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„fragt euch

bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte, und ob dies Erlebte euch gefördert habe. [...] Man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe sich bei Gelegenheiten; denn da beweist sichs im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren."

Der

nur

' Rat, den Goethe als alter Mann den jungen Dichtern gibt," resümiert gleich einer

poetologischen Bilanz die Einsicht in den Ursprung der Kunst im Leben und der Lebendigkeit in der Kunst, deren vielfältige Variationen und Differenzierungen wir im Blick auf das gesamte Werk finden. In den Begriffen von Leben und Lebendigkeit, ja: in der Betonung der Lebendigkeit als normativen Grundbegriff seiner schließlich rezeptionsästhetisch durchlässigen Kunsttheorie sind die tragenden Konzepte von Goethes ästhetischem Denken zu sehen. Zugleich sind damit die Elemente jener Genieästhetik bezeichnet, in der Goethes Auffassung von der Kunst kulminiert. Es ist der Begriff des Genies, gefaßt als jene „produktiv fortwirkende Kraft" zur Hervorbringung -

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Ders., Shakespeare und kein Ende, 1815, in: SW 14, 763. Ders., Antik und Modern, in: Über Kunst und Altertum, 2.1, 1818, in: SW 13, 841; siehe Barbara Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998. Ders., Von deutscher Baukunst, in: SW 13, 16-26, Zitat: 24. Ders., Ein Wort für junge Dichter, in: SW 14, 399f; Cassirer datiert diese Schrift, die hier abgedruckt wird zwischen Texten vom Ende der zwanziger Jahre und 1832, auf das „Ende seines Lebens".

Die Elemente der Kultur

120 von

Gott und der Natur sich zeigen können", der bei Goethe wie bei für die stärksten Formen der „bildenden Natur" im Menschen steht.

Werken, „die

vor

-

Kant -

3. Kant:

Lebensgefühl und ästhetischer Primat der Natur

Es wäre trotzdem

in der

der ästhetischen Lebendigkeit allein einen Der Gedanke findet sich parallel auch schon bei originalen Anteil Goethes zu vermuten. Kant, der im ersten Paragraphen seiner Kritik der Urteilskraft das ästhetische Urteil auf das Lebensgefühl des Subjekts bezieht. Es ist nichts anderes als die intelligible Geschichte dieses Lebensgefühls, die uns Kant in der Analyse des ästhetischen Geschmacksurteils erzählt. Denn dieses ästhetische Urteil beruht auf einer freien Reflexion zwischen Einbildungskraft und Verstand und besteht in dem Gefühl des Schönen, das den Effekt dieses freien Spiels darstellt. Es ist die im freien Spiel lustvoll erlebte Zweckmäßigkeit, mit der die Erkenntniskräfte zusammenwirken, auch ohne auf den Zweck der Erkenntnis abgestellt zu sein. Auf keine andere Weise als im Medium dieser verselbständigten Funktionslust, die Kant als das Gefühl des Schönen bezeichnet, ist der Mensch zu dieser selbstreflexiven Einsicht in der Lage; auf keine andere Weise wird ihm evident, daß er als vernünftiges Wesen in die Welt passe. Denn es ist dieses Gefühl des Schönen, in dem sich uns mit dem Bewußtsein unserer eigenen zweckmäßigen Verfassung unweigerlich die Spekulation auf eine zweckmäßige Natur eröffnet, und das Kant als „Lebensgefühl" anspricht (KdU, 204)." Es hat etwas Verblüffendes, wie viele Interpreten diesen deutlichen Bezug der apriorischen Konstruktion des ästhetischen Urteils auf das Lebensgefühl übersehen. Die Analytik des Schönen kann noch so deutlich herausstellen, daß die spielerisch-reflexive Verknüpfung von Vorstellungen, die Kant im Begriff des ästhetischen Urteils anspricht, sich in nichts anderem artikuliert als in einem Gefühl das Vorurteil über den Kantischen Ansatz als einer Kritik der Vernunft, ja wir dürfen annehmen, das geheime Vor-

voreilig,

Betonung

-

Anders als Kant, der das Genie allein in der Kunst am Werke sieht, erkennt Goethe es in den großen Geistern aller Bereiche der Gestaltung und hebt außer Shakespeare auch Napoleon und Luther hervor. (Gespräch mit Eckermann vom 11. März 1828) Schiller erweist sich nicht allein darin als einer der ersten Kantianer, daß er die Analyse des freien Spiels der Erkenntniskräfte in seiner anthropologischen Konzeption als „Spieltrieb" zu instantiiein Aufnahme des § 59 der ren sucht; für ihn ist auch die Schönheit als „lebende Gestalt" und Kritik der Urteilskraft als „Freiheit in der Erscheinung" zu begreifen (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Aufgrund dieser Affinität bezieht sich der Befund zum ästhetischen Begriff der Lebendigkeit auch auf Schiller; siehe Susanne Mayer, Cassirers Analyse von Schillers philosophischer Weltansicht, in: Enno Rudolph / Bernd-Olaf Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 281-295. -

-

-

121

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

urteil gegen die Vernunft läßt es offenbar nicht zu, die Frage nach dem allgemeinen Geltungsanspruch ästhetischer Urteile in dem Kontext wahrzunehmen, in den Kant sie stellt: im Kontext der Lebendigkeit im Selbstgenuß, durch die nach seiner spekulativen Konsequenz der Mensch vom zweckmäßigen Zusammenwirken seiner eigenen Erkenntniskräfte auf die zweckmäßige Verfassung der Natur zu schließen berechtigt ist. Spätestens in diesem Kontext drängt sich die Einsicht auf, die generell freilich schon der funktionstheoretische Ansatz Kants nahelegt: daß die Vernunft, von der die Kritik handelt, etwas mit Lebendigkeit zu tun hat. In der dritten Kritik, in der Kant systematisch auf dem Weg über die Ästhetik nach dem Zusammenhang von Vernunft und Natur fragt, wird diese Einsicht prägnant. Die Lebendigkeit als ästhetische Kategorie und der systematische Primat der Natur in Kants Ästhetik finden ihre Bestätigung nicht allein in konkreten Präferenzen wie Kants Favorisierung der „bis zur Üppigkeit verschwenderischejn] Natur", etwa des Urwaldes gegen den in steifer Regelmäßigkeit angelegten Pfeffergarten (KdU, 243), oder in der Empfindlichkeit gegen die geschäftstüchtige List des Gastwirts, der „seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit" hintergeht, daß er im Gebüsch einen „muthwilligen Burschen" versteckt, welcher den Gesang der Nachtigall „ganz der Natur ähnlich nachzumachen" versteht. Kant resümiert diese Erfahrung: -

-

„Es muß Natur sein, oder

von uns dafür gehalten werden, damit wir solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können" (KdU, 302).

an

dem Schönen als einem

exemplarischen Beispiele tragen auch schon die generelle Bestimmung, daß das gelungene Kunstwerk wie Natur wirken müsse: „Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns Diese

bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht" (KdU, 306), heißt es in der wechselseitigen Erhellung des natürlichen Lebens durch das Modell künstlerischer Poiesis und der Kunst durch das derart bereits künstlerisch aufgewertete organische Leben. Von hier aus kann auch deutlich werden, wie Kants Theorie der Kunst sich in den systematischen Zusammenhang seiner Ästhetik der Natur einfügt. „Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüte", sagt Kant in den Passagen der Deduktion, die der Kunst gewidmet sind (KdU, 313). Das Genie, jenes keinesfalls ganz andere, sondern exemplarische Subjekt, das über die Fähigkeit verfügt, seinen Werken nicht nur artige und gefällige Form, sondern solchen belebenden Geist mitzuteilen, bestätigt den Primat der Natur selbst in der Kunst. Es wird vor allem als Instanz der natür-

Siehe Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität Vernunft bei Kant, Frankfurt/M. 2001.

von

ästhetischem Gefühl und

praktischer

Die Elemente der Kultur

122

liehen Lebendigkeit im Vernunftsubjekt begriffen: Im Genie gibt die Natur der Kunst die Regel (vgl. KdU, 307). Cassirer gehört zu den wenigen Kant-Interpreten, die den damit abgerundeten Zusammenhang der Kunst mit dem Leben von Anfang an betonen. Das Kapitel über die Kritik der Urteilskraft in seinem Kant-Buch von 1918 zeigt ihn vorrangig an der systematischen Problemstellung des Buches interessiert: Es ist der Aufschlußwert der ästhetischen Einstellung für die teleologische Frage, es ist mit anderen Worten der Zusammenhang der Ästhetik mit der erweiterten Theorie der Natur als dem nexus finalis des Lebendigen, dem Cassirer die Bemühungen seiner Explikation und Interpretation unter-

stellt.35

stellt er auch den Bezug des ästhetischen Urteils auf das heraus: Zustand betrifft freilich ausschließlich das Subästhetische „Der Lebensgefühl und sein Lebensgefühl", referiert er (KLL, 306) und interpretiert daraufhin frei, jekt aber angemessen, daß das Kunstwerk „gleichsam mit einem Schlage jene Einheit der Stimmung" herstelle, „die für uns der vermittelte Ausdruck für die Einheit unseres Ich, für unser konkretes Lebens- und Selbstgefühl ist" (KLL, 305). Wie stark der Kantische Begriff des Lebensgefühls bei ihm verfangen hat, das machen vor allem seine freien Variationen zum „künstlerische[nj Gefühl" als „Ichgefühl" wie als „allgemeines Weltund Lebensgefühl" kenntlich und nicht zuletzt seine eigene Prägung vom „Kunstgefühl" (KLL, 307). In alldem geht es um die lebendige Wirkung des ästhetischen Eindrucks auf die Stimmung und das Affektleben des Betrachters wie des Schaffenden. In der tragenden Einsicht der Kritik der Urteilskraft dürfen wir daher eine Quelle der BeIn diesem

Zusammenhang

stimmung von der Lebendigkeit der Kunst bei dem Ästhetiker Cassirer sehen.36 Und wir dürfen den Überlegungen dieses Zusammenhanges noch eine weitere Konsequenz entnehmen: Daß Cassirer am Kantischen Begriff des Lebens vor allem die Wirksamkeit von der Einheit in die Vielheit, vom Ganzen in die Teile hervorhebt, begünstigt die Vermutung, daß er auch in seiner eigenen Betonung der Lebendigkeit des Kunstwerks

KLL, 267ff. Für ihn ist es „|d|as Problem der individuellen Formung des Wirklichen, das im Mittelpunkte der „Kritik der Urteilskraft" steht." (KLL, 276) Zur Frage der generellen methodischen Orientierung an Kants dritter Kritik siehe Ernst Wolfgang Orth, Die Bedeutung der .Kritik der Urteilskraft' für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a.a.O., 176-189. Es ist bemerkenswert, wie Cassirer im Blick auf Kants Analyse der ästhetischen Reflexion die sachliche Verbindung zu Goethe herstellt: „Einem solchen freien Spiel der Gemütskräfte, auf dem nach Kant jedes große Kunstwerk beruht, sehen wir auch im Aufbau von Goethes Naturansicht zu. |...| Ein einziges großes Gefühl: das dynamische Lebensgefühl Goethes, durchdringt das Ganze." Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Vierter Band, ECW 5, 166. -

123

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

organologischen Paradigma treu bleibt, dessen Begriff die Kritik der ideologischen Urteilskraft in der noch für die gegenwärtige Biologie maßgeblichen Formulierung gibt.' Nun wissen wir, daß Goethe, der mit dem Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft übereinstimmte und mit der Ausführung im einzelnen Mühe hatte, von der Lektüre der Kritik der Urteilskraft geradezu begeistert war. Er verdankt diesem Werk, wie er selbst es ausdrückt, „eine höchst frohe Lebensepoche". „Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen nebeneinandergestellt, Kunst und Naturerzeugnisse eins behandelt wie das andere, ästhetische und teleologische Urteils-

dem

kraft erleuchteten sich wechselsweise", heißt es an der berühmten Stelle über die Einwirkung der neuern Philosophie [...] das innere Leben der Kunst so wie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche deutlich ausgesprochen [...] Mich freute, daß Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander verwandt seien, indem beide sich derselben Urteilskraft unterwerfen".' Im Gedanken der zweckmäßigen Natur, in der sich die Einheit von Vernunft und Leben ausmachen lasse, und ihrer Erschließung über das Lebensgefühl, wie es sich in der ästhetischen Einstellung darstellt, fand Goethe ebenso wie natürlich im Anspruch auf die Autonomie des Ästhetischen eine eigene Absicht philosophisch legitimiert. Cassirer zitiert den größten Teil der hier gegebenen Stelle ohne Quellenangabe in seinem Kant-Buch. Durch dieses Detail können wir uns klar machen, daß wir auch den KantInterpreten und den Goethe-Enthusiasten, den Kantianer und den Goethianer Cassirer, dessen Arbeit an Freiheit und Form in dieselbe Zeit fällt wie die editorische Annäherung an das Kantische Gesamtwerk, hier nicht in einer systematischen Zwickmühle seiner tragenden historischen Einflüsse sehen. Womöglich verträgt und verdient es noch weitere sachhaltige Explikation, daß Cassirer das Kant-Buch von 1918 mit dem Hinweis auf Goethe beginnen konnte. Daß wir darin nicht notwendig das Anzeichen eines ironischen oder tragischen Zwiespalts zu sehen haben, dürfte einer eigenwilligen Entscheidung im Kontext der Kritik an Axel Hägerström zu entnehmen sein. Wenn es dort um den Unterschied zwischen solchen psychischen Bindungen, wie sie in Zuständen der Angst, des Gehemmtseins usw. erlebt werden, und der Verbindlichkeit geht, derer wir uns im Bewußtsein von Pflicht inne-

-

Meines Erachtens ist es in diesem Sinne zu verstehen, wenn Cassirer sagt: „Die Wissenschaft gibt uns Ordnung im Denken; die Moral gibt uns Ordnung im Handeln; die Kunst gibt uns Ordnung in der Auffassung der sichtbaren, greifbaren und hörbaren Erscheinungen." (VM, 257) Vgl. KdU, 372f. Zur Einschätzung von Kants dritter Kritik für die erkenntnistheoretische Grundlegung der modernen Biologie siehe ECW 5, 137 ff. Zitiert nach Jens Kulenkampff, Materialien zur Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M. 1974, 230f.

KLL, 263.

Die Elemente der Kultur

124

werden, dann erläutert Cassirer zugleich mit dem begrifflichen Charakter auch den innerlichen Ursprung der Pflicht, ihre Begründung in einem Selbstverhältnis: Verpflichtung ist ein aktives Sich-Binden. Es ist das Kantische Verständnis von Pflicht, das damit expliziert ist, und wir erwarten an dieser Stelle ein passendes Kant-Zitat. Doch Cassirer gibt ein Goethe-Zitat (Maximen und Reflexionen Nr. 829): „,Pflicht' so hat Goethe einmal prägnant und charakteristisch definiert -: ,wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.'" Der Ethiker Cassirer findet das Kantische Moralverständnis durch Goethe angemessen vertreten. Als Ästhetiker, im Hinblick also etwa auf seine Bestimmung der Kunst durch die Steigerung von Lebendigkeit, kann er offenbar in derselben Weise ohne jede Gewaltsamkeit Goethianer und Kantianer zugleich sein. -

4. Kleines Postskriptum der Kunst

zur

exemplarischen Bedeutung

dem die Erkenntniskräfte im Prinzip ebenso zweckmäßig zusammenwirken müssen, wie es in jenem ästhetischen Reflexionsurteil, das Kant als ein freies Spiel bezeichnet, prägnant wird, spüren wir nach einer überraschenden Reflexion in der Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft An einem

logischen Urteil,

zu

„keine merkliche Lust mehr: aber sie ist gewiß

zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählig mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt und nicht mehr besonders bemerkt worden." (KdU, 187)

Dies seltsame Verhältnis von Prägnanz und funktionaler Vermischung ließe sich auch für Cassirers Kulturkonzeption geltend machen: In der alltäglichen Teilnahme am Kulturprozeß spüren wir keine merkliche Befreiung mehr; dazu ist es oft vor allem aufgrund der allseitigen Kleinarbeit zu anstrengend, Kultur zu haben. Blicken wir aber noch einmal auf Cassirers Bestimmung der Kultur als Befreiung und investieren wir nur ein wenig konstruktive Imagination in die Situation des selbständigen Artikulierens, des Sich-Hervorwühlens aus der Befangenheit im bloß Unmittelbaren des Eindrucks zur Formung des Ausdrucks, das Cassirer an verschiedenen Stellen so nachdrücklich als das motivationale Ding an sich der kulturellen Aktivität heranzieht: Dann können wir es uns kaum anders vorstellen, als daß da eine Lust am Werke ist. Unbefriedigend muß freilich die Auskunft sein, sie sei gewiß zu ihrer Zeit -

-

Cassirer, Axel Hägerström. Eine Studie 1939, 107 f. A.a.O., 108.

zur

schwedischen

Philosophie

der

Gegenwart, Göteborg

„Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie

125

gewesen. Wir möchten sie gerne aktuell haben. Wenn wir genau beobachten, dann finden wir sie aber auch stets zu ihrer Zeit, in der Emphase des Schaffens. Es gehört zu den Leistungen der Kunst, die Cassirer als ihre Intensivierung der Wirklichkeit begreift, daß sie uns in der Reflexion auf die konkrete Gestalt eines menschlichen Produkts auf die Produktivität aufmerksam macht, die in aller menschlichen Tätigkeit überhaupt steckt. Und sie tut dies im produktiven Nachvollzug des Verstehens. Es zu merken, kann nur heißen, Gefallen daran zu finden: Intensivierung durch Bewußtwerdung. Es ist dieses Moment, in dem die Kunst zur Instanz der Rückgewinnung unserer ansonsten oft kaum noch merklichen Lust an der Kultur werden kann. Dies könnte gemeint sein, wenn Cassirer behauptet, die Kunst gewähre uns „eine innere Freiheit, die wir anders nicht erlangen können." (VM, 230) -

C. Persönliches Ethos, Moral und Politik: Eine Philosophie der symbolischen Normen?

I.

Die Kultur der Humanität. Ernst Cassirer als Bürger und als Philosoph

1. Der Rektor Als der

Philosoph Ernst Cassirer am 7. November 1929 in dem üblichen Festakt zur Amtsübergabe in der Musikhalle in das Amt des Rektors der Hamburgischen Universität eingeführt wurde, da hatte er zwar eine beeindruckende Wahlmehrheit des Senats hinter sich, und die Sympathie der städtischen Öffentlichkeit schlug ihm entgegen, aber es gab auch studentischen Protest. Aufschlußreich ist hier der Auszug aus dem Protokoll des Universitätssenats vom 13. Dezember 1929, der sich mit den Vorgängen beim festlichen Rektoratswechsel beschäftigt der ersten Sitzung nach Einführung des neuen Rektors Ernst Cassirer: -

„Der Rektor berichtet zunächst darüber, daß in der Sitzung der Hochschulbehörde vom 12. November 1929 Herr Landahl die Tatsache zur Sprache gebracht habe, daß eine Anzahl far-

bentragender Korporationen bei der Rektoratsübergabe nicht chargiert hätte. Er sei von dieser Tatsache seinerzeit durch den Syndikus unterrichtet worden und habe sich sofort auf den Standpunkt gestellt der übrigens durch Stück 8 des Korporationsrechts bestätigt werde daß das Chargieren ein Recht der Korporationen sei, hingegen das Unterlassen des Chargierens keine Disziplinar-Widrigkeit, wenn auch vielleicht die Verletzung einer Konventionairegel, d.h. eine Unhöflichkeit darstelle. Er habe den Syndikus ausdrücklich gebeten, von jedem Druck zum Chargieren und jeder Maßnahme zur Bestrafung abzusehen, da es ihm widerstrebe, in dieser Richtung einen Zwang auszuüben, er auch glaube, daß mit der Studentenschaft wichtigere Dinge zu verhandeln seien, als diese verhältnismäßig untergeordnete Frage des Zeremoniells. Er wolle übrigens nicht unerwähnt lassen, daß verschiedene Herren des Lehrkörpers seinen Standpunkt nicht teilten, vielmehr das Verhalten der nicht-chargierenden Verbindungen als eine Kränkung des gesamten Lehrkörpers auffaßten und daher ein Einschreiten wünschten. Er habe auch diesen Herren seinen eben erwähnten Standpunkt auseinandergesetzt. Endlich sei noch hervorzuheben, daß die Tumerschaft ,Niedersachsen' durch ihren Vorstand ihm persönlich und schriftlich Aufklärung dahin gegeben hätte, daß das Nicht-Chargieren dieser Verbindung auf der irrtümlichen Meinung beruht habe, es bestehe noch eine Bindung an einen inzwischen aufgehobenen Beschluß. Herr Sieveking glaubt, daß der Rektor großzügig und klug gehandelt hat und daß ihm der Dank des Universitätssenats gebührt. Herr Much mißbilligt als alter Korpsstudent das Verhalten der nicht-chargierenden Verbindungen aufs schärfste und bittet zu erwägen, ob nicht doch, wenn auch vielleicht kein disziplinarisches Einschreiten, so doch eine ausdrückliche Stellungnahme seitens des Senats erwünscht sei. -

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-

Persönliches Ethos, Moral und Politik

130

Nachdem der Syndikus noch kurz über die Rechtslage berichtet hat, spricht Herr Sudek dem Rektor nochmals den Dank aus; eine besondere Beschlußfassung wird nirgends gewünscht."

Worum

farbentragenden studentischen Verbindungen hatten nicht hatten ihre Festuniformen nicht angelegt und auf diese sie heißt, Weise zum Ausdruck gebracht, daß die Übergabe des Amtes an Ernst Cassirer für sie kein Anlaß zum Feiern war. Wieso nicht, das wird im folgenden noch deutlich werden. Damals, gute zehn Jahre nach der Gründung der Universität, war die Anzahl der Studenten gerade auf 3201 angewachsen. Vor allem aber sehen wir auf einen Blick, welche Statur der neue Rektor abgibt: Bereitschaft zur Entdramatisierung, Großzügigkeit, Toleranz, Urteilskraft. Einige seiner Kollegen sind empört über den Affront. Der Rektor reagiert gelassen als der Aufklärer von liberalem Geist, als der er sich in seinem Werk und Wirken insgesamt zu erkennen gegeben hat als Philosoph und Bürger. ging „chargiert"

es?

Einige

der

das

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Dokument aus dem Staatsarchiv Hamburg (StA HH), Universität I A 170.7 Heft9. Ich danke Herrn Dr. Hans Wilhelm Eckardt vom Staatsarchiv Hamburg für die umsichtige und freundliche Beratung und Kooperation beim Aktenstudium. Mein besonderer Dank für wichtige Hinweise gilt Herrn Eckart Krause, Bibliothek für Hamburgische Universitätsgeschichte. Als Tag der offiziellen Einweihung der Hamburgischen Universität ist der 10.5.1919 festgehalten. Zur Bestimmung des Termins der Jahresfeier siehe Hans Wilhelm Eckardt, Akademische Feiern als Selbstdarstellung der Hamburger Universität im „Dritten Reich", in: Eckart Krause / Ludwig Huber / Holger Fischer (Hg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich". Die Hamburger Universität 1933-1945, Berlin /Hamburg 1991, Bandl, 179-200, hier: 180. Die Hamburgische Universität war zwar eine Gründung im Geiste eines bürgerlich aufgeklärten, demokratisch selbstbewußten Bildungsideals, und sie hat es vermocht, eine bemerkenswerte Anzahl gediegener und origineller Wissenschaftler an sich zu binden. Doch die Entwicklung der Wissenschaften ebenso wie die bildungs- und hochschulpolitische Entwicklung an der Hamburger Universität läßt sich bei aller begründeten Insistenz auf der Autonomie der Forschung auch als Dokument der politischen Zeitläufte lesen. Alle Höhen und Tiefen insbesondere der Weimarer Republik und des Dritten Reiches bilden sich in dieser Universitätsgeschichte ab. Siehe Werner von Meile, Dreißig Jahre Hamburger Wissenschaft 1891-1921. Zwei Bände, Hamburg 1923 und 1924; siehe auch die konzise Darstellung der Universitätsgeschichte bei Barbara Vogel, 75 Jahre Universität Hamburg, in: Demokratie braucht Bildung Bildung braucht Demokratie. 75 Jahre Uni HOB VHS Volksbühne Hamburg, mit einer Einführung von S. Jendrowiak, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 1994, 27-50; John Michael Krois /Gerhard Lohse /Rainer Nicolaysen, Die Wissenschaftler. Ernst Cassirer Bruno Snell Siegfried Landshut. Hamburgische Lebensbilder in Darstellungen und Selbstzeugnissen, hg. vom Verein für Hamburgische Geschichte, Band 8, Hamburg 1994; Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität (Ausstellungskatalog), hg. von Angela Bottin unter Mitarbeit von Rainer Nicolaysen, Hamburg 1991. -

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131

Die Kultur der Humanität

2. Der Philosoph und seine Position Die Grundlagen seines Werkes sind bereits gelegt, die wichtigsten Interessen seines Denkens zeichnen sich bereits ab, als gut einen Monat nach der offiziellen Gründung der Hamburgischen Universität am 18. Juni 1919 der Senat der Stadt den Philosophen Ernst Cassirer zum ordentlichen Professor ernennt. Nach 13 produktiven Jahren als Privatdozent in Berlin, nach ertragreichen Studien zur Erkenntnistheorie, zur Wissenschaftstheorie und zur Ideengeschichte, ist mit dem Wechsel nach Hamburg der Aufbruch in sein selbständiges Philosophieren markiert, das ganz im Zeichen der Frage nach der Kultur als der funktionalen Wesensbestimmung des Menschen steht: In dem Jahrzehnt von 1920 bis 1930 entwickelt Cassirer von Anfang an bei exzessiver Nutzung der beispiellosen Kulturhistorischen Bibliothek Warburg und in intensivem Austausch mit ihrem Gründer seine Philosophie der symbolischen Formen, die sich als x

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StA HH Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten 1.146, Bd. 1. Siehe Martin Warnke: Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm, in: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London, hg. von Michael Diers, Hamburg 1993, 29-34. Toni Cassirer berichtet in ihren Erinnerungen nicht nur, welchen starken Eindruck die nach dem Prinzip der guten Nachbarschaft geordnete und vorwiegend dem Nachleben der Antike gewidmete Bibliothek auf ihren Mann gemacht hat; sie erzählt auch, in welchem Maße er privilegierter Nutzer dieser „Fundgrube" war: „Jeden Sommer, wenn wir auf Reisen gingen, ließ |der Bibliotheksleiter Fritz) Saxl die angesammelten Bände in Waschkörben von unserem Haus abholen. Es waren immer einige hundert Bände." (Toni Cassirer, Mein Leben, a.a.O., 125 ff; Zitate 127; 128) Cassirer hat die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in seinem Werk wiederholt ausdrücklich erwähnt, so in ders., Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 75.; PhsFII, XV. Siehe die Spuren, die Cassirer im Tagebuch der KBW hinterlassen hat, in: Aby Warburg, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl), hg. von Karen Michels und Charlotte Schoell-Glass (Aby Warburg Gesammelte Schriften, Bd. VII), Berlin 2001. Wenn Blumenberg Cassirers Hauptwerk gleichsam als die Theorie zur Bibliothek begreift (Siehe Hans Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 163-172; hier: 165), dann will er mit der extravaganten Gewichtung, die in diesem Urteil zum Ausdruck kommt, wohl kaum einen der bemerkenswertesten anthropologischen Systementwürfe dieses Jahrhunderts schmälern, sondern eher umgekehrt aus der Perspektive abendländischer Gelehrsamkeit seine Einschätzung des unüberbietbaren kulturellen Wertes von Bibliotheken zu erkennen geben. Siehe dazu komplementär die Einschätzung bei Peter Fischer-Appelt, Zum Gedenken an Ernst Cassirer. Ansprache zur Eröffnung der Wissenschaftlichen Tagung „Symbolische Formen" anläßlich des 100. Geburtstages von Ernst Cassirer am 20. Oktober 1974, hg. von der Pressestelle der Universität Hamburg, 1975, 10; vgl. die ausführliche Reflexion bei Massimo Ferrari, Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie, Hamburg 2003, Achtes Kapitel: Eine „gefährliche" Bibliothek, 207-247. -

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Persönliches Ethos, Moral und Politik

132

eine bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen versteht. Die Vielfalt der Kultur zu begreifen, im Blick auf die Geschichte wie auf jede Aktualität: Das ist der Anspruch, den sich Cassirer damit gestellt hat. Ihm geht es dabei ebensosehr darum, daß sich die Tätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückführen läßt, sondern sich in einer Pluralität von Hervorbringungen auslegt wie um die Einsicht, daß diese Pluralität nicht in einer chaotischen und beliebigen Unendlichkeit, sondern in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang besteht. Eine der Pointen seiner Theorie, die Cassirer als Zeitgenossen unserer heutigen Fragen qualifiziert, liegt darin, daß er im Grunde schon das Problem der Kulturen begreiflich macht, indem er diejenige Pluralität zu ermessen sucht, die im Kollektivsingular Kultur immer schon wirksam ist und ohne daß er sich dabei von der Frage nach der Einheit in dieser Vielheit abbringen läßt. Er nennt als Beispiele symbolischer Formen meistens die mythisch-religiöse Welt, die Sprache, die Kunst und die Wissenschaft und erläutert, daß sich in ihnen allen „das Grundphänomen" ausprägt, „daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien TäWenn man aufmerksam liest, so tigkeit des Ausdrucks verknüpft und wird man schon hier, an einer der frühesten Stellen, an denen Cassirer seinen grundlegenden Terminus erläutert, das praktische Leitmotiv dieser Philosophie der Kultur erkennen: Die symbolische Leistung ist auf die Freiheit, und zwar auf die Freiheit des tätigen Geistes bezogen: Cassirer spricht vom „Tun des Geistes", von der „freien Tätigkeit" des Bewußtseins und vom „Grundprinzip freien Bildens"6 lauter Einschärfungen seines Grundsatzes, daß das Verhältnis des Bewußtseins zum Äußeren in einer im weitesten Sinne gestaltenden Leistung besteht, daß das, was wir unsere Wirklichkeit nennen, sich bereits dieser Leistung verdankt und: daß dies immer schon eine Form der Freiheit ist. -

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durchdringt."5

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Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., 79. A.a.O., 81.

133

Die Kultur der Humanität

3.

Kampf der Giganten: Ein Streitgespräch

Es ist dieser Begriff von Kultur, und es ist vor allem die mit ihm verbundene Humanität, die Ernst Cassirer in der epochalen Davoser Disputation mit Martin Heidegger zu verteidigen suchte, welche im April 1929 in die Zeit des Rektorats fällt. In diesem philosophischen Streitgespräch, das die beiden Dozenten zum Abschluß eines gemeinsam geleiteten Ferienkurses für ein mit studentischen Schlachtenbummlern gut durchmischtes sportliches Bildungspublikum führten, ging es nur vordergründig um das Verhältnis zu Kant. Heidegger war hier, wie auch schon in seinem zwei Jahre zuvor veröffentlichten Werk Sein und Zeit als Herausforderer der Bewußtseinsphilosophie

die damals vor allem vom akademisch dominierenden Neukantianismus aus dessen Schulzusammenhang Cassirer hervorgegangen war. Doch die Frage, ob Kant als Denker der endlichen Vernunft nicht im Grunde der Kronzeuge für Heideggers Fundamentalontologie sei, führt rasch in eine tiefere praktische Dimension der Auseinandersetzung, deren Stichwörter sind: Kultur, Angst, Kampf, Humanismus. Wenn es Heidegger letztlich darum geht, „daß die Philosophie die Aufgabe hat, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals" (Davos, 263), dann ist das nur unter anderem eine maliziöse Spitze gegen das Arbeitsgebiet des Gegners: Für den rousseauistischen Fundamentalisten haftet der Kultur der parfümierte Geruch des allzu Komfortablen an. In dieser Alternative zwischen der Konfrontation mit der Härte des Schicksals der „Nichtigkeit" des menschlichen Daseins, wie es auch heißt (ebd.) und dem bloß parasitären Partizipieren an der Kultur überspringt Heidegger gerade das, worum es Cassirer geht: die produktive Aktivität, die den Kern seines grundlegend gefaßten Kulturbegriffs bildet. Heidegger will nicht nur im Hinblick auf die philosophischen Grundlegungsfragen „den Boden zu einem Abgrund machen", er will den Menschen radikal der Angst des nackten Daseins ausliefern, um ihn zu exponieren für die Transzendenz im Augenblick, und es sollte sich nur allzu rasch und deutlich zeigen, daß ihn dieses ästhetisierend-dezisionistische Element seines Denkens anfällig machte für die Faszination des revolutionären Aufbruchs im Jahre 1933.

aufgetreten, vertreten

wurde,

-

-

Der Hochschulkurs fand vom 16. März bis 6. April 1929 statt. Siehe das Protokoll der abschließenden Disputation in Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, vierte, erweiterte Auflage, Frankfurt/M. 1973, 246-268 (im folgenden zitiert als „Davos"); vgl. auch den Bericht von Toni, die das Streitgespräch fälschlich auf das Jahr 1931 datiert, in: Toni Cassirer, Mein Leben, a.a.O., 187ff; die Materialien bei Guido Schneeberger, Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken, Bern 1962 und die Darstellung von Ferrari, Ernst Cassirer, a.a.O., Neuntes Kapitel: Davos 1929, 249-282.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

134

Für den Kantianer Cassirer ist die Angst keine Grundbefindlichkeit des eigentlichen Daseins, in der das Nadelöhr des sinnvollen Lebens zu sehen wäre, sondern ein bloßer Affekt, und für ihn gibt es auch keine solche Augenblicksfaszination. Er, der den Sinn der Kultur geradezu in der Befreiung des Menschen von Angst und anderen Nöten sieht, weiß zugleich, daß es auch für den Willen zur Veränderung mit den großen Ausbrüchen und Aufbrüchen niemals getan ist, sondern nur mit der reformerischen Arbeit in den Institutionen der Kultur, auf die sich der Anspruch auf Freiheit stützen und verlassen muß. Mit Blick auf den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung, die Frage nach der systematisch angemessenen Lesart Kants, ist es zum Gegenstand kritischer Nachfragen geworden, wieso Cassirer Heideggers plakativen Vorwurf des Neukantianismus und damit des philosophisch Obsoleten nicht offensiver im Sinne der damals bereits vollzogenen Transformation seines Ansatzes zurückgewiesen habe: Habermas etwa spricht im Sinne der von Krois nahegelegten Lesart von der „semiotischen Wende der Kantischen Transzendentalphilosophie" und schätzt die an Humboldt anknüpfende sprachphilosophische Grundlegung der Kultur systematisch so ein, daß sie „die Architektonik der Bewußtseinsphilosophie im ganzen" Doch zum einen ist dies offenbar nicht Cassirers programmatisches Selbstverständnis, und Habermas sieht auch selbst, daß dieser „eine erkenntnistheoretische Blickrichtung beibehält], indem er die sprachliche Welterschließung nach dem Muster der transzendentalen Konstituierung von Gegenständen möglicher Erfahrung interpretiert"; zum anderen dürften andere Motive der Zurückhaltung in der Auseinandersetzung mit Heidegger wirksam gewesen sein. Im Blick auf Cassirers Person und Ethos leuchtet die Einschätzung ein, daß es die Loyalität gegen seinen von Heidegger ausdrücklich als Neukantianer angegriffenen akademischen Lehrer Hermann Cohen gewesen sei, was Cassirer davon abgehalten habe, 13 sich ausdrücklich vom Neukantianismus zu distanzieren. Es würde allerdings eine suggestive Verzeichnung darstellen, wenn man aus dieser moralisch motivierten Rücksichtnahme auf den verehrten Lehrer, der zur Zeit der Davoser Disputation gerade weithin sichtbar zum Objekt einer antijüdischen Pressekampagne gemacht worden war, o

-

-

sprenge.10

Zur Frage nach der ethischen Position Cassirers, die aus seinem Davoser Beitrag hervorgeht, siehe eingehender Teil C, Kap. IV. Habermas, Die befreiende Kraft, a.a.O., 22. A.a.O., 25. Siehe dazu die Textbefunde in Teil B, Kap. I und II. A.a.O., 26. So John Michael Krois, Warum fand keine Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger statt?, in: Dominic Kaegi /Enno Rudolph (Hg.), Cassirer Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, 234-246. -

Die Kultur der Humanität

135

kurzerhand eine politische Rücksichtnahme (oder politische Einschüchterung) machen wollte und damit einen Begriff ins Spiel brächte, mit dem die Konnotation der diplomatischen Anpassung einhergeht.

Siehe Erinnerungen an Ernst Cassirer. Raymond Klibansky im Gespräch mit Thomas Göller, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie Jg. 1999 Heft 2, 275-288, hier: 282 f.; vgl. auch 281.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

136

4. War Cassirer ein Neukantianer? Oder: Transzendentaler Idealismus als Kulturphilosophie wo immer jene .Geschichte der reinen Vernunft' geschrieben werden wird, deren Umriß Kant im letzten Abschnitt der Vernunftkritik zu zeichnen versucht hat, da wird sie vor allem der Epoche gedenken müssen, die die Autonomie der Vernunft zuerst entdeckt und die sie leidenschaftlich verfochten, die sie auf allen Gebieten des geistigen Seins zur Geltung und Anerkennung gebracht hat."

„[...]

Ernst Cassirer, Die

Philosophie der Aufklärung,

1932

Der Blick auf die Davoser Disputation macht auf ein Problem aufmerksam, das die Cassirerforschung bis heute beschäftigt und polarisiert: das Problem des Neukantianismus. In wenigen Punkten ist die Auseinandersetzung stärker von der Strategie des plakativen Reizwortes bestimmt als in der Frage nach Cassirers Verhältnis zum Neukantianismus eine Tatsache, die nicht zum wenigsten durch ungenaue Kenntnis und -

oberflächliche Mißverständnisse genährt wird. Wer sich auf den Neukantianismus einläßt, betritt ein weites Feld. Die philosophischen Nachschlagewerke unterscheiden bis zu sieben Varianten (so der Überweg / Österreich) außer den beiden einflußreichsten Richtungen, der als logizistisch eingeordneten Marburger Schule von Hermann Cohen und Paul Natorp und der werttheoretisch ausgerichteten Südwestdeutschen Schule von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert auch noch eine physiologische Richtung, zu der Friedrich Albert Lange mit seiner einflußreichen Geschichte des Materialismus und Hermann Helmholtz gehören, eine metaphysische Richtung bei Otto Liebmann und Johannes Volkelt, eine realistische (Alois Riehl), eine relativistische (Georg Simmel) und eine psychologische Richtung: Fries, Leonard Nelson). Einige Interpreten sind so großzügig, auch Martin Heidegger und Nicolai Hartmann noch mit dazuzurechnen. Wer sich auf den Neukantianismus einläßt, betritt aber nicht nur ein weites, sondern auch ein weitgehend brachliegendes Feld. Der Neukantianismus stellt nicht nur die erste Historisierungsbewegung der Moderne dar, das Vorbild gleichsam für die im 19. Jahrhundert einbrechenden Neologis-

Zur Abhilfe siehe z. B. Hans-Ludwig Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979; Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart 1982; Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1986; Helmut Holzhey, Der Neukantianismus, in: Philosophie im 20. Jahrhundert. Erster Band: Phänomenologie, Hermeneutik, Existenzphilosophie und Kritische Theorie, hg. von A. Hügli und P. Lübcke, Hamburg 1992, 19-54; Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, hg. von Ernst Wolfgang Orth und Helmut Holzhey; Manfred Pascher, Einführung in den Neukantianismus, München 1997.

137

Die Kultur der Humanität

deren Erträge in der Gegenwart, wenn überhaupt, dann fast ausnahmslos nur noch historisch rezipiert werden. So fruchtbar und weitverzweigt die Ansätze der Neukantianer sich bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erwiesen haben, so einflußreich die Richtung im Kaiserreich in der akademischen Philosophie gewesen ist heute sind selbst die wichtigeren Arbeiten der großen Neukantianer nur noch wenigen Spezialisten der Philosophie- oder Wissenschaftsgeschichtsschreibung ein Begriff. In der Theorie des Rechts ist Hans Kelsen noch im Gespräch, in den letzten Jahren begegnet im Zusammenhang radikaler Tierschutzrechte gelegentlich der Name Leonard Nelson, und in der theoriebildenden Soziologie findet man hier und dort einen Hinweis auf die transzendentale Gesellschaftstheorie Georg Simmeis aber der Neukantianismus scheint ganz allgemein das zu sein, was die Neukantianer bei ihrem Aufbruch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in dem spekulativen Geschichtsphilosophen Hegel gesehen hatten: ein toter Hund. Wenn man heute nicht mehr wie Ernst Cassirer in der Davoser Disputation mit Heidegger sagen kann, der Neukantianismus sei „der Sündenbock der neueren Philosophie" (Davos, 246), dann liegt das allein daran, daß ihn niemand mehr kennt. Genau besehen ist es noch schlimmer: Er gehört zu den Ansätzen und Richtungen des philosophischen Denkens, die kaum noch jemand kennt, weil alle ,immer schon' irgendwie über sie Bescheid wissen. Die sprachanalytischen Richtungen und die Hermeneutik, die Phänomenologie, die Fundamentalanthropologien, die kritische Theorie der Gesellschaft: so unterschiedlich, ja so gegensätzlich sie ihre Ansätze begründen und ihre kritischen Abgrenzungen akzentuieren sie sind sich untereinander und mit allen anderen mindestens darin einig, daß der Neukantianismus als apriorischer Kritizismus für sie jedenfalls diese völlig antiquierte Bewußtseins- oder Subjektphilosophie ist. Das unproduktive, weil als Leseverbot wirkende Vorurteil läßt sich aber durchaus noch staffeln. Ist der Neukantianismus in diesem Sinne vorab als Idealismus bestimmt, so ist es überdies für viele eine ausgemachte Sache, daß er nicht nur ein Rationalismus, sondern auch ein bloßer Kognitivismus ist. Demnach wäre es das Erkennungszeichen der Neukantianer, Kant wesentlich als Erkenntnistheoretiker zu lesen und im Anschluß daran systematisch die ganze Vielfalt der Weisen menschlichen Weltverhältnisses auf das Paradigma der bloßen Verstandesrationalität zu reduzieren. Und diese Zuspitzung läßt sich noch aufgipfeln durch die Engführung der Erkenntnistheorie in Wissenschaftstheorie. Dies jedenfalls ist das wirkungsmächtige Verständnis, das Heidegger in der Davoser Disputation Cassirer entgegengehalten hat: men, sondern

zugleich eine,

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„Ich verstehe unter Neukantianismus die Auffassung der Kritik der reinen Vernunft, die den Teil der reinen Vernunft, der bis zur transzendentalen Dialektik führt, erklärt als Theorie der Erkenntnis mit Bezug auf die Naturwissenschaft." (Davos, 247)

Persönliches Ethos, Moral und Politik

138

Daß eine solche selektive Vorgabe problematisch ist, versteht sich von selbst, da sie das Verdikt der Enge und Einseitigkeit der Kant-Interpretation ohne Rücksicht auf die thematische Breite eines Interpreten von dem einzigen Kriterium der Lesart der theoretischen Philosophie abhängig macht: Selbst Interpreten, die Kants theoretische Philosophie dermaßen wissenschaftstheoretisch zuspitzen wollen, müssen sich aber dadurch das umfängliche Verständnis des in drei Kritiken entfalteten vernunftkritischen Ansatzes nicht per se verbaut haben. Heidegger hat mit seiner Beschreibung die Kant-Interpretationen von Hermann Cohen und von Paul Natorp im Sinn und auch nur diejenigen, die sich auf die Kritik der reinen Vernunft beziehen. Schon hier ist ein enger Begriff vom Neukantianismus geltend gemacht, mit dem weder die Kant-Interpretationen zu den beiden weiteren Kantischen Kritiken noch auch die an Kant anknüpfenden systematischen Leistungen der beiden Marburger Schulgründer, geschweige denn die Verzweigung des Kantischen Einflusses in den eigenständigen Positionen der anderen Neukantianer berücksichtigt werden. Nicht einmal Hermann Cohen und Paul Natorp sind trotz ihrer starken kognitivistischen und logizistischen Tendenz diese Abziehbilder von epistemologischen Neukantianern gewesen. Ernst Cassirer schließlich ist davon so unbetroffen wie von dem Vorwurf des erkenntnistheoretischen Monismus überhaupt. Schließlich endet sein Werk weder 1907 mit dem zweiten Band des Erkenntnisproblems noch 1910 mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff, sondern in gewissem Sinne beginnt es damit erst. Im zweiten Jahrzehnt vollzieht Cassirer das, was wir seine kulturhistorische Wende nennen können, und dabei legt er nach der anfänglichen Konzentration auf die epochale Leistung Kants in der theoretischen Philosophie schon 1916 in Freiheit und Form eine alles andere als erkenntnistheoretische oder wissenschaftstheoretische Kant-Interpretation vor.16 Sie findet 1918 in der großen, den gesamten systematischen Umfang des Kantischen Denkens umfassenden Monographie Kants Leben und Lehre ihre Fortsetzung und Ergänzung. Mit der geisteswissenschaftlichen Fragestellung in Freiheit und Form kündigt sich aber auch die Grundlegung der systematischen Kulturphilosophie an, die dann in den zwanziger und dreißiger Jahren entfaltet wird. Mit der Transformation der Kritik der Vernunft in eine Kritik der Kultur, die er in der Philosophie der symbolischen Formen geben will, steht nun Cassirer im weiten Feld des Neukantianismus keineswegs ohne Vorläufer da. Insbesondere in der südwestdeutschen Schule bei Windelband und Rickert hatte es im Anschluß an Diltheys Abgrenzung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften bereits eine markante Zuwendung zur Kultur und zu kulturtheoretischen Fragen gegeben. Die damit verbundene Unterscheidung von Verstehen und Erklären hatte Wilhelm Windelband durch den Unter-

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Cassirer, Freiheit und Form, a.a.O. (ECW7), Drittes Kapitel: Die Freiheitsidee des kritischen Idealismus, 149-180.

139

Die Kultur der Humanität

schied der „ideographischen" als historisch-individualisierenden Sätzen der Kulturwissenschaften und der „nomothetisehen" als gesetzmäßig generalisierenden Sätze der Naturwissenschaften expliziert. Beide Denkformen haben nach Windelband und Rickert ihre vorwissenschaftliche Verankerung als Einstellungen in der Lebenspraxis. Das Interesse an der Kultur, die als das geschichtliche Element der stets individuellen Wertschöpfung begriffen wird, steht hier letztlich im Dienst der Bestimmung von Philosophie als der Disziplin, die es im Unterschied zu allen empirischen Einzelwissenschaften mit der wertorientierten Weltanschauung zu tun hat. Kultur ist demnach, wie es bei Windelband heißt: „die Gesamtheit dessen, was das menschliche Bewußtsein vermöge seiner vernünftigen Bestimmtheit aus dem Gegebenen herausarbeitet", oder wie Rickert sagt: „Inbegriff der Güter, die wir um ihrer Werte willen Obwohl sich derart ein sachlicher Bezug auf die Kultur, womöglich bereits eine kulturphilosophische Wende ausmachen läßt, ist Wilhelm Perpeet zuzustimmen, der diese Richtung als „formale Kulturphilosophie" einordnet: Im Zentrum steht bei Dilthey wie bei Rickert das Interesse an Methodenfragen der Abgrenzung wissenschaftlicher (und philosophischer) Geltungsansprüche. Wenn der „Erkenntnis-Cassirer", wie man den aus Marburg kommenden jungen Privatdozenten in Berlin genannt hatte, sich im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts der Geistesgeschichte zuwendet, wenn er die Transformation der Vernunftkritik einleitet mit einer Reihe von geistesgeschichtlichen Studien, in denen entschieden die Werke der Dichtung ebenso ernst genommen werden wie die der Philosophie, der Naturwissenschaften und der politischen Theorie, dann tut er damit mehr als bloß die Konsequenz zu ziehen aus einer Tendenz, die sich in den Arbeiten einflußreicher Neukantianer bereits angekündigt hat. Er hat eine methodisch reflektierte „materiale Kulturphilosophie" vorgelegt. Es ist eine Frage, die die gegenwärtige Auseinandersetzung beschäftigt, ob er darin Neukantianer geblieben ist. Wenn Heidegger in der Davoser Disputation 1929 den szientistischen Interpretationsansatz als das spezifisch Neukantianische auffaßt, daß die Kritik der reinen Vernunft als eine wissenschaftstheoretische Erkenntniskritik, als die theoretische Grundlegung der modernen Naturwissenschaft aufgefaßt werde, dann trifft er damit Cassirer offenbar nicht: Dieser hatte zwar in seiner seit 1906 vorgelegten großen Geschichte des Erkenntnisproblems das enge Wechselspiel der philosophischen Erkenntnistheorien seit Niko-

pflegen".18

Wilhelm Windelband, Präludien (1883) Bd. I/II; Tübingen 1924 (9. Heinrich Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein

Auflage), 287. geschichtsphilosophischer

Ver-

such, Tübingen 1924, 7. Wilhelm Perpeet, „Kultur, Kulturphilosophie", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976, Sp. 1309-1324, hier: 1314-1318. Bezogen vor allem auf Ernst Cassirer, Descartes' Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis (1899) in: ECW1, Seiten; ders., Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906 et passim), ECW 2-5.

Persönliches

140

Ethos, Moral und Politik

laus von Kues mit den sachlichen und methodischen Fortschritten der modernen Naturwissenschaften und der Mathematik betont und im historischen Material die These ausgebreitet, daß diese Verbindung eine funktionale Einheit darstellt, er hatte sich in der Theorie der Begriffsbildung, die er in Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 unternimmt, auf das Beispiel der Mathematik und der Naturwissenschaften bezogen, doch 1929 hat sich sein systematisches Interesse längst auf den ganzen Horizont der Kultur gerichtet. Wenn er programmatisch von einer Transformation der Kritik der Vernunft in Kritik der Kultur spricht (PhsFI, 9), dann weiß er, wie bereits die Monographie über Kants Leben und Lehre von 1918 dokumentiert, daß Kant keinen Monismus der theoretischen Vernunft, sondern die Dreigliedrigkeit des Vernunftsystems vertritt. Und er legt eine Interpretation der Kritik der reinen Vernunft vor, an der Heideggers Kritik am Neukantianismus jedenfalls keinen Anhaltspunkt finden würde: In der großen Monographie, mit der er 1918 seine Edition des Kantischen Werkes abrundet, läßt er erkennen, daß er ebenso wie seine Marburger Lehrer und die Südwestdeutsche Schule den ganzen Kant berücksichtigen und zum Kronzeugen aktueller systematischer Bemühungen machen will und vor allem: den Kant, der selbst noch seine Erkenntniskritik unter den Primat des Praktischen stellt. Heinrich Rickert hat im Kant-Jahr 1924 Kant als Philosophen der modernen Kultur auszuweisen versucht, indem er die drei großen Grundlegungen zum System des vernünftigen Selbst- und Weltverhältnisses als Ausdruck der Einsicht in die funktionale Arbeitsteiligkeit des Subjekts begreift, auf welche sich die Arbeitsteiligkeit der Kultur methodisch begründen läßt. Mit der Dreigliedrigkeit seiner kritischen Erörterung wirklichkeitskonstituierender Vernunftfunktionen habe Kant „als erster Denker in Europa die allgemeinen theoretischen Grundlagen geschaffen, die wissenschaftliche Antworten auf spezifisch moderne Kulturprobleme überhaupt möglich machen", denn „sein Denken, wie es sich in seinen drei großen Kritiken darstellt, ist in dem Sinne kritisch, d. h. scheidend und Grenzen ziehend gewesen, daß es dadurch im Prinzip dem Prozeß der Verselbständigung und Differenzierung der Kultur entspricht, wie er sich seit dem Beginn der Neuzeit faktisch vollzogen, aber in der Philosophie vor Kant noch keinen theoretischen Ausdruck gefunden hatte." Mit diesem Ansatz war Rickert schon nicht mehr originell. Seine These von der Entsprechung zwischen der Kantischen Vernunftsyste-

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-

Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, a.a.O., 141. Wie

man sieht, hat die These von Kant als dem Philosophen der modernen Kultur nichts mit dessen Begriff von Kultur zu tun, den er in Abgrenzung von Rousseau in den kleinen geschichtsphilosophischen Schriften der achtziger Jahre und in den §§ 82-84 der Kritik der ideologischen Urteilskraft entwickelt. Siehe dazu Wolfgang Bartuschat, Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit, in: Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. von Helmut Bracker und Fritz Wefelmeyer, Frankfurt/M. 1984, 69-93; Recki, Die Idee der Kultur, a.a.O.

141

Die Kultur der Humanität

matik und der arbeitsteiligen Gliederung der modernen Kultur findet ihr ungleich radikaleres Vorbild bei Windelband. Mit Rekurs auf „Kants unsterbliche Leistung die in des der des Kernstücks synthetischen Bewußtseins", Vergewisserung Entdeckung von Kants transzendentalem Idealismus: daß ,,[d]ie Welt, die wir erleben," im Sinne der kategorialen Erzeugung immer schon „unsre Tat" ist, hatte Windelband 1910 in seinem Aufsatz Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus die für mehr als eine Richtung des Neukantianismus zur fruchtbaren Arbeitshypothese gewordene Einsicht in die Affinität des transzendentalen Idealismus zur Philosophie der Kultur ratifiziert. Er tut dies in unüberbietbar radikaler Weise, indem er „das System des Kritizismus als eine umfassende Kulturphilosophie charakterisiert" (Ktl, 281; Hervorh. B.R.). Zur Begrün-

dung sagt er: „Denn

unter Kultur verstehen wir schließlich doch nichts anderes, als die Gesamtheit dessen, das menschliche Bewußtsein vermöge seiner vernünftigen Bestimmtheit aus dem Gegebenen herausarbeitet: und den Springpunkt der Transszendentalphilosophie bildete Kants Einsicht, daß schon in dem, was wir als gegeben hinzunehmen gewöhnt sind, sobald es als allgemeingiltige Erfahrung sich darstellt, eine Synthesis nach den Gesetzen des .Bewußtseins überhaupt', nach übergreifenden, sachlich giltigen Vernunftformen vorliegt." (Ktl, 287) was

Für die These

von der Entsprechung zwischen Vernunftkritizismus und Kulist tur(philosophie) für Windelband wie schon für Rickert die Dreigliedrigkeit der systematischen Erörterung entscheidend: „daß als Ergebnis der Kritik überall der Aufweis der Vernunftgründe für die großen Gebilde der Kultur heraussprang, aus der Kritik der reinen Vernunft die Grundstruktur der Wissenschaft, [...] aus der Kritik der praktischen Vernunft und der darauf gebauten Metaphysik der Sitten das Reich der Vernunftzwecke in Moral und Recht, aus der Kritik der Urteilskraft das Wesen der Kunst und der ästhetischen Lebensgestaltung" (Ktl, 281 f.), darf nach der mit dieser Argumentation verbundenen Intention als exemplarisch dafür genommen werden, daß die Theorie die funktionale Vielfalt der Kultur aus Prinzipien und in ihrer Einheit zu konstruieren vermag:

„Diese Vernunfttätigkeit aber, die als Wissenschaft eine Neuschöpfung der Welt aus dem Gesetz des Intellekts bedeutet, ist von genau derselben Struktur, wie alles praktische und ästhetische Verhalten des Kulturmenschen. Darum liegt hier die sachliche Einheit des transscendentalen Idealismus als der Kulturphilosophie: und nur in dem Sinne sollte in ihr von einem Primat der praktischen Vernunft gesprochen werden, als die Erzeugung der Gegenstände aus dem Gesetz des Bewußtseins in keinem Gebiete so selbstverständlich und auch dem alltäglichen Bewußtsein so geläufig ist wie in diesem." (Ktl, 287; Hervorh. B.R.)

Wilhelm Windelband,

a.a.O., (im folgenden danke ich Christian

Kulturphilosophie zitiert als „Ktl").

Krijnen.

-

und transzendentaler Idealismus, in: ders., Präludien, Für den Hinweis auf die Einschlägigkeit der Präludien

Persönliches Ethos, Moral und Politik

142

Wo sich Rickert jedoch darauf beschränkt, daß die Gliederung in die drei großen Kritiken dem Prozeß der Verselbständigung und Differenzierung der Kultur entspricht, da treibt Windelband die Sache methodisch auf die Spitze, indem er sagt: „In dem Bewußtsein der schöpferischen Synthesis ist die Kultur zur Selbsterkenntnis denn sie ist ihrem innersten Wesen nach nichts anderes." (Ktl, 289)

gelangt:

Durch die entsprechende Anknüpfung Hermann Cohens an Kants dreigliedriges System hatte Cassirer diesen Gedanken bereits früh rezipiert und in der eingehenden Auseinandersetzung mit dem Kantischen Werk auf seine Weise dem eigenen systematischen Werk zugrunde gelegt. Im sechsten Kapitel über Die Kritik der Urteilskraft heißt es im Kommentar zu den Diversifizierungen der Einstellungen, die das vernünftige Subjekt -

theoretisch, praktisch, ästhetisch

zur

Wirklichkeit einnimmt:

-

„So weitet sich der Begriff der ,Vernunft', wie das achtzehnte Jahrhundert ihn entwickelt hatte, für Kant zu dem tieferen Begriff der .Spontaneität' des Bewußtseins: Aber dieser er-

schöpft sich ihm in keiner seinstätigkeit". (KLL, 311)

noch

so

vollendeten einzelnen

Bewußtseinsleistung

und Bewußt-

Diese Stelle ist auch für das Selbstverständnis des systematisch orientierten Interpreten auf dem Wege zu seiner eigenen Kritik der Kultur bezeichnend: Cassirer, dem sich in seiner Transformation der Vernunftkritik in Kulturkritik der Vernunftbegriff des 18. Jahrhunderts grundlegend zum Begriff der Spontaneität des Bewußtseins erweitert und zwar im Konzept der Energien des Geistes, in denen er den Ursprung der kulturellen Symbolismen ausmacht -, stellt darin offenkundig den Anspruch, an Kant anzuschließen. Die Philosophie der symbolischen Formen ist bei aller realistischen Tendenz eine Konstitutionstheorie aller Bereiche der Wirklichkeit. Mit dem Hinweis auf die sukzessive Kontexterweiterung der Kopernikanischen Wende faßt Cassirer schon in der Kant-Interpretation, nicht erst im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen, jenen methodischen Ansatz zur systematischen Vielfalt, von dem ausgehen kann, wer an der konstitutiven Pluralität der Kultur interessiert ist.

-

Der Gedanke findet sich, wenn auch in weniger ausführlicher Form, schon 1881 in Windelbands Vortrag „Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie", in: Präludien, a.a.O., 112-146. Schon hier ist es die Dreigliedrigkeit der Kantischen Vemunftkritik „er wies die Wissenschaft in ihre Schranken und proklamierte die Selbständigkeit des moralischen und des ästhetischen Urteils" (121 f.) -, in der die Kantische Philosophie dem „veränderten Verhältnisse der Kulturtätigkeiten zum erstenmal einen völlig adäquaten Ausdruck gibt" (120f.); zur Einschätzung von der epochalen Bedeutung dieser systematischen Dreiteilung für den Begriff von Philosophie als der „Wissenschaft von den notwendigen und allgemeingiltigen Wertbestimmungen" siehe auch ders., Was ist Philosophie? (1882) in: Präludien, a.a.O., 1-54, hier: 24ff.; Zitat: 26. Friedman vertritt die Einschätzung, daß der Neukantianismus bei Cassirer durch die Würdigung archaischer, nicht markant vernunftbetonter Kulturformen überwunden werde d. h. durch die gleichwertige Akzeptanz der Ausdruckskategorie in der Analyse des mythischen Bewußtseins. -

-

143

Die Kultur der Humanität

Wir sehen hier aber soviel: Cassirer, dem sich in seiner Transformation der Vernunftkritik in Kulturkritik der Vernunftbegriff des 18. Jahrhunderts zum tieferen Begriff der Spontaneität des Bewußtseins erweitert und zwar im Konzept der Energien des Geistes, in denen er den Ursprung der kulturellen Symbolismen ausmacht -, stellt darin offenkundig den Anspruch, an Kant anzuschließen. Die Philosophie der symbolischen Formen ist bei aller realistischen Tendenz eine Konstitutionstheorie aller Bereiche der Wirklichkeit. Wir finden in ihrer Durchführung auch nicht nur den Anspruch, die Funktionen der Kultur auf die Leistungen des Bewußtseins zurückzuführen, wir finden die durchgehaltene Anwendung von Kategorien spezifischer Gegenständlichkeit, mit denen Cassirer freilich nicht die Kantische Kategorientafel, sondern generell den Apriorismus der Konstitution bestätigt. Von einigem Aufschlußwert ist deshalb, daß Cassirer in der Folge seiner dann in den zwanziger Jahren durchgeführten Kulturtheorie wiederholt in den programmatischen Teilen darauf hinweist, es handle sich bei diesem Systementwurf um einen transzendentalen Idealismus, mit dem die Kopernikanische Wende bestätigt und weiter als in der Dreigliedrigkeit der Kantischen Vernunftarchitektonik ausdifferenziert werde. 1921 in dem Aufsatz über Goethe und die mathematische Physik heißt es dann von Kants methodischer Grundlegung aller Erfahrung in den -

apriorischen Bedingungen

ihrer

Möglichkeit:

„Der Begriff des Transzendentalen selbst hat sich damit wieder aus der ausschließlichen Beziehung zur Theorie, und insbesondere zu Newtons mathematischer Naturwissenschaft, herausgelöst. Er wird überall dort anwendbar, wo es sich überhaupt um Formen geistiger Gesetzlichkeit handelt, aus denen sich eine objektive Auffassung der .Wirklichkeit' ergibt. [...] Denn

die .kopernikanische Drehung', von der Kant ausging, erstreckt sich ihrer wesentlichen Grundabsicht nach nicht lediglich auf die Gesamtheit der reinen Erkenntnisfunktionen. Überall, wo eine schöpferische Tätigkeit des Geistes vorliegt, aus der eine bestimmte Seinsgestaltung hervorgeht, läßt sich fragen, ob in der Untersuchung und Analyse dieses Sachverhalts mit diesem ,Sein' begonnen oder ob auf das Tun selbst, als das eigentlich Ursprüngliche, zurückgegangen werden soll. Für Kant sind es wesentlich drei große Grund- und Hauptformen, in denen er diese Spontaneität des Geistigen im allgemeinen beschlossen und erschöpft sieht: Der Autonomie des Logischen, die sich zum Begriff der Natur und der Naturerkenntnis entfaltet, steht die Autonomie des Sittlichen, die sich im Gedanken der Freiheit gründet, gegenüber, und beide vermitteln und versöhnen sich miteinander im Bereich der Kunst und der künstlerischen Selbsttätigkeit. Auch diese Dreiteilung erschöpft indessen nicht den gesamten Inbegriff der geistigen Energien und enthält nicht alle seine charakteristischen Gliederungen und BesondeDie

besticht

zwar durch die Evidenz des Hinweises, daß es dafür bei Kant keine sie Doch greift für das Verständnis von Cassirers Theorie zu kurz, da sich die Entsprechung gebe. Frage nach Cassirers Kantianismus bei genauerer Untersuchung gar nicht auf der Ebene der akzeptierten Inhalte beantworten läßt: Zu beachten ist die Methode der Analyse. Dazu gehört, daß Cassirer die Kantischen Kategorien von Raum, Zeit und Zahl durchgehend auch im Fall des vom Ausdrucksphänomen bestimmten mythischen Bewußtseins zur Konstruktion der symbolischen Formen heranzieht; siehe Michael Friedman, A parting of the ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago 2000.

Einschätzung

-

-

Persönliches Ethos, Moral und Politik

144 rungen. Wir brauchen,

um

dies

zu

zeigen, nur auf die Welt der Sprache, als bezeichnendes und

prägnantes Beispiel, zu verweisen." Es ist bemerkenswert, daß Cassirer hier den Begriff der symbolischen Form in der Bestimmung der „geistigen Energie" schon hat. In der Skizze zum „Versuch eines Überblicks über alle Mittel und Wege, vermöge deren sich uns die Wirklichkeit überhaupt zu einem bedeutungs- und sinnvollen Ganzen, zu einem ,geistigen Kosmos' gestaltet", ist bereits das Programm, in der bevorzugten Nennung der der Aufbau seiner der Formen zu erkennen. Philosophie symbolischen Dieses Programm der historischen wie der systematischen Arbeit an der Vielfalt geistiger Tätigkeit enthält ein wichtiges Argument gegen alle, die sich aus dem Neukantianismus und aus Cassirers Kantianismus eine Vogelscheuche machen wollen. Ein weiteres, womöglich wichtigeres, ist mit Blick auf den Primat des Praktischen zu gewinnen, der wie in Windelbands Bestimmung des transzendentalen Idealismus als Kulturphilosophie in der Anknüpfung an Kants transzendentalen Aktivismus regelmäßig, und so auch bei Cassirer wiederzuerkennen ist. Es ist dieser Aspekt, auf den die hier vorgetragene Interpretation in den vorangegangenen Kapiteln in der Konzentration auf die Eigenart der kulturphilosophischen Grundlegung Cassirers, in den folgenden durch die Zuspitzung auf die implizite Ethik in dieser Kulturphilosophie besonderen Wert legt. Daß darin auch eine Eigenart des Neukantianismus erkennbar wird, die den abgestandenen Vorwurf des Szientismus entkräftet, soll dabei ein willkommener Nebeneffekt sein.

Sprache26

-

-

25 26

Cassirer, Goethe und die mathematische Physik, a.a.O., 302 f. Vgl. bes. a.a.O., 304.

Die Kultur der Humanität

5. Zwei Reden Denker

zur

145

politischen Philosophie: Der liberale

Es kann nicht überraschen, daß ein Denker, der den Begriff der Freiheit als produktive menschliche Selbstbestimmung seiner gesamten Theorie der Wirklichkeit zugrunde legt, auf Freiheit auch im engeren politischen Verständnis Wert legt. Wir finden in Cassirer denn auch insofern einen gänzlich untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur unter anderem auch in in der Haltung des liberalen Aufklärers mit den Problemen der politischen Theorie auseinandergesetzt hat: Er war zugleich ein wachsamer politischer Zeitgenosse von großer Geistesgegenwart und Urteilskraft. Einen ausgeprägten weltbürgerlichen Sinn für das universale politische Element der Kultur zeigt bereits der Autor von Freiheit und Form, der sich 1916 mitten im Ersten Weltkrieg als Europäer exponiert, indem er zwar Studien zur deutschen Geistesgeschichte vorlegt, diese aber ausdrücklich in Kontinuität mit dem italienischen und französischen Denken seit der Renaissance sieht. Diesen politischen Impetus zur Erinnerung und Bestärkung einer europäischen Kultur verfolgt Cassirer dann auch ausdrücklich in einem kleinen, aber bedeutsamen Text, der mit der Geschichte der Universität und der Stadt Hamburg aufs engste verbunden -

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ist. Es ist die Rede, die er auf Einladung des Hamburger Senates am 11. August 1928 Feier des Jahrestags der deutschen Verfassung im Hamburger Rathaus gehalten hat: Die Idee der republikanischen Verfassung. Dieses Ereignis führt zugleich in das Jahr, in dem sich einmal zeigen konnte, wieviel der Philosoph Cassirer dem Senat und der Universität wert war. Im Sommersemester 1928 hatte Cassirer einen Ruf an die Universität Frankfurt erhalten und war angesichts eines sehr attraktiven Angebotes ernsthaft ins Überlegen gekommen. Da fühlte sich Aby Warburg genötigt, öffentlich einzugreifen und schrieb am 23. Juni 1928 den legendären Artikel im „Hamburger Fremdenblatt" Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf eine nachdrückliche seines Werkes und eine bewegende Würdigung der Einheit von Person Anerkennung 27 und Werk. Cassirer führte Bleibeverhandlungen. Das Protokoll der Zusagen vom 25. Juli 1928 gehört zu den reinen Freuden jedes loyalen Lesers beim Studium dieser Personalakte, und es sei jedem zur Lektüre empfohlen, der unter den gegenwärtigen Bedingungen der Geldknappheit in ähnlichen Verhandlungen steht.28 Er führte Bleibeverzur

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Ein Exemplar des von Warburg selbst veranstalteten Sonderabdrucks aus dem Hamburger Fremdenblatt Nr. 173 findet sich in StA HH Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten IV 146. StA HH Hochschulwesen Personalakten 1 146, Bd. 3. -

Persönliches Ethos, Moral und Politik

146

handlungen, in denen es ihm gelang, seine Bezüge um alles in allem mehr als fünfzig Prozent anzuheben, und er blieb. Vielleicht ist die launige Bemerkung, die Bürgermeister Dr. Petersen gut ein Jahr später beim festlichen Abendessen im Überseeclub machte einen Tag nach der feierlichen Amtsübernahme des Rektors Cassirer auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Verabschiedet wurde an diesem Abend der abgetretene Rektor Sieveking, Ökonom; begrüßt als neuer Rektor der Philosoph Cassirer. Der Bürgermeister „meinte scherzhaft, daß man die Wirtschaft wohl philosophisch betreiben könne, ob aber auch 29 die Philosophie wirtschaftlich, das wage er nicht zu entscheiden." Auch dies ein Indiz, wie gründlich sich die Zustände in der Universität seither geändert haben, denn die Kollegen an den Philosophischen Seminaren der Bundesrepublik würden aus der gegenwärtigen Erfahrung diese Frage mit Sicherheit umgekehrt beantworten. Doch zurück in den Sommer 1928. Noch in die Zeit dieser Verhandlungen fällt am 23. Juni die Einladung des Senators Paul de Chapeaurouge an Cassirer, die Rede bei der in diesem Jahr zu veranstaltenden Verfassungsfeier zu halten, verbunden mit dem Ausdruck der aufrichtigen Hoffnung, der so geehrte Adressat möge seine „großen anerkannten Gaben unserer jungen Universität als einer ihrer führenden Gelehrten weiter erhalten." Cassies rer lehnt die Einladung zunächst ab mit dem Hinweis auf die knappe Zeit, die ihm ' Rede hat eine der Würde des auszuarbeiten," mache, unmöglich Tages angemessene und dann seine Veranstalter keineswegs durch eine sich aber doch noch bitten lassen Rede enttäuscht, die der Würde des Tages nicht angemessen gewesen wäre. „Ich schwöre Treue der Reichsverfassung" hatte der neuberufene Professor Cassirer am 17. Oktober 1919 vor dem Präses der Oberschulbehörde bekräftigt. „Ich schwöre Gehorsam der hamburgischen Verfassung" am 28.5.1921 vor dem Präses der Hoch32 schulbehörde Senator Dr. Petersen, dem späteren Bürgermeister.' Die Verfassungsrede vom August 1928 läßt erkennen, daß dies keine leeren Formeln waren. Sie ist ausdrücklich gegen die völkischen und antidemokratischen Bewegungen jener Zeit gerichtet, die in der Demokratie eine westliche Verirrung sehen wollen, welche dem deutschen Nationalwesen fremd wäre. Cassirer zeigt hier durch die ideengeschichtliche Genealogie des modernen Verfassungsgedankens und der damit verbundenen Idee vom unveräußerlichen Naturrecht des Individuums, daß es deutsche Philosophen waren -

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Art. „Zwischen den Rektoren",

Hamburger Correspondent Nr. 526 A vom 9.11.1929, StA HH, A.753. „Im übrigen fand der Bürgermeister gute und dankbare Worte für den scheidenden Rektor Prof. Dr. Sieveking, der als Hamburger uns besonders nahestehe. Und er grüßte mit gleicher Herzlichkeit den neuen Rektor Prof. Dr. Cassierer |sic!|, von dem man einmal sagen werde, er sei ein Rektor gerade so, als ob er auch Hamburger wäre." StA HH Hochschulwesen Dozenten- und Personalakten 1.146, Bd. 1 (Schrifstück 42). Zeitschriftenausschnittsammlung

-

Brief vom 27.6.1928, a.a.O., Schriftstück 43. StA HH Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten I 146, Bd. 1.

147

Die Kultur der Humanität

Leibniz und Wolff, die mit der Idee der Freiheit und der gleichen Rechte in maßgeblicher Weise die Befreiungsbewegungen des 18. Jahrhunderts in Amerika und in Frankreich beeinflußt haben, mit denen sich der kritische Kant im Zuge der Entfaltung seiner bis heute maßgebenden politischen Theorie wiederum auseinandersetzte. Auf diese Weise sucht Cassirer mitten in der Krise der Weimarer Republik den Nachweis vom Ursprung des modernen Verfassungsgedankens in der deutschen idealistischen Philosophie zu führen: allen

voran

„[...] daß die Idee der republikanischen Verfassung als solche im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, daß sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte der idealistischen Philosophie, genährt worden ist". Die als

grundlegende Werbung für den Verfassungsgedanken mit Naturwüchsigkeit im deutschen Denken angesetzte Verteidigung

dem

Argument ihrer mündet aber in eine subtile Überbietungspointe: Ein wesentliches Merkmal des deutschen Denkens, das auf diese Weise in Kontinuität mit dem der anderen europäischen Nationen gerückt wird, wäre demnach gerade der allen Nationalismus übersteigende universalistische Impetus der hier entwickelten Ideen. Erkennbar sucht Cassirer damit den politischen Gegner zwingend in die Pflicht der Demokratie zu nehmen, vor allem aber gibt er sich damit selbst als Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen: Und auf diese Weise artikuliert er sich in einer Zeit, in der der Verfassungsgedanke und mit ihm der Parlamentarismus in der Krise steckten, nachdrücklich als ein vom europäischen Gedanken durchdrungener Verfassungsdemokrat. Es gehört zu den ermutigenden Aspekten in der Geschichte der Hamburger Universität, daß sie den Redner, der sich in düsteren Zeiten so exponiert hatte, ein Jahr später zu ihrem Rektor machte. Das Protokoll der Vollversammlung zur Wahl des Rektors für das Amtsjahr 1929/30 am Sonnabend, den 6. Juli 1929 hält ein Wahlergebnis fest, das die gelegentlich anzutreffende Behauptung, die Wahl Cassirers zum Rektor sei umstritten gewesen, nicht belegt. Umstritten war dann aber die Verfassungsfeier der Universität, für die Cassirer als Rektor im Sommer 1930 sorgte die erste und einzige, die es an der Hamburgischen Universität überhaupt gegeben hat. Möglich war sie als Kompromiß, indem man sie verband mit der Feier zur Befreiung des Rheinlandes, und es hat um die Verbindung -

Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, in: Zum Gedenken an Ernst Cassirer (1874—1945). Ansprachen auf der Akademischen Gedenkfeier am 11. Mai 1999 (= Hamburger Universitätsreden. Neue Folge 1), Hamburg 1999, 34-51; hier: 49. Laut Auszug aus dem Protokoll dieser Vollversammlung waren „46 Herren anwesend". Für Cassirer stimmten 35, für Mendelssohn Bartholdy, Thilenius, Kestner und Weygandt gab es je eine Stimme, es wurden sechs weiße Zettel abgegeben (StA HH Universität IC 10.1, Bd. 1). Ernst

148

Persönliches Ethos, Moral und Politik

und Gewichtung der beiden Anlässe ein heftiges Ringen im Akademischen Senat und insbesondere mit der Studentenschaft gegeben, eine Auseinandersetzung, die durch die Presse aufgegriffen und weitergeführt wurde. Es ist das diplomatische Verdienst Cassirers, daß die Feier schließlich am 22.7.1930 stattfand. Er selbst hielt die Rede über Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte. Im Anschluß an eine konzise historische Darstellung der Staatstheorien von Grotius und Leibniz über Fichte, Herder, die Romantik und Hegel appelliert er auch hier wieder an die Einsicht in die Notwendigkeit einer einigenden Gesetzgebung und lobt die Weimarer Verfassung als ein „Werk der Not", durch das bei allen Mängeln im einzelnen „das deutsche Volk in den Zeiten des furchtbarsten Druckes und der höchsten Gefahr seine 37 innere Fassung bewahrt habe". Dem Plädoyer für die Freiheit im Staat, das er ausführlich in der Rede des Vorjahres begründet hatte, stellt er hier komplementär die Ermahnung zur Freiheit der Wissenschaft an die Seite: eine Ermahnung insofern, als er, sicher in Anspielung auf die um die Verfassungsfeier geführte ideologische Auseinandersetzung, an die Bedingung erinnert, auf der diese Freiheit beruht: Die Universitäten dürfen keine Stätten des politischen Kampfes werden. Der Beitrag der Universität zum gesellschaftlichen Leben liegt allein in der Erkenntnis und im Verstehen.38 IC

6.

Geistesgegenwart und Konsequenz: Die Entscheidung 1933

Es sei damit hier, zum Auftakt der Auseinandersetzung mit Cassirers praktischer Philosophie, ein Eindruck von den Beiträgen zur politischen Philosophie gegeben, die in seine Hamburger Zeit und damit zugleich in die Zeit der Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen fallen. Zu ergänzen wären für ein vollständiges Bild neben manchem Detail die größeren Beiträge aus der Zeit nach der Emigration.39 Die hier vertretene Position ist allerdings exemplarisch: Wir erkennen bereits in dieser kleinen Skizze eine konstante Orientierung. Wo der Philosoph Ernst Cassirer sich als politischer Siehe die Auszüge aus den Protokollen des Universitätssenats, die Briefe der studentischen Gruppen und die Pressekommentare in StA HH Universität I A 170.8.2. Ernst Cassirer, Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte, in: Zum Gedenken an Ernst Cassirer, a.a.O., 52-72. A.a.O., 70. A.a.O., 71 f. Siehe insbesondere ders., Axel Hägerström a.a.O.; ders., The Myth of the State (1946), deutsch: Der Mythus des Staates, a.a.O.; siehe dazu Dirk Henry Lüddecke, Staat Mythos Politik. Überlegungen zum politischen Denken Ernst Cassirers, 2003. -

-

Die Kultur der Humanität

149

Philosoph und Zeitgenosse äußert, da geschieht dies stets in der Absicht, einen Beitrag zur Sicherung der Freiheit des einzelnen in einer freiheitlichen Verfassung des Ganzen zu leisten. Doch obwohl er in der Rede zur Verfassungsfeier 1930 Konsequenz in der Freiheit der Wissenschaft einfordert, sehen wir auch, daß diese Gedanken für ihn keine bloße Theorie sind. Es gibt, um es mit einem von Goethe übernommenen Lieblingsausdruck Cassirers zu sagen, einen „prägnanten Punkt" in der Biographie dieses Denkers, an dem sich zweifelsfrei erweist, daß diese Position der politischen Philosophie getragen ist von einem vitalen und jederzeit praktischen Sinn für die politischen Verhältnisse, von einer wachsamen Urteilskraft, an der wir den Philosophen als selbstbewußten

Bürger erkennen. Die Rede ist von der geistesgegenwärtigen Einsicht, mit der Cassirer Abschied nahm von seiner Universität und der Stadt Hamburg. Nach dem Sieg der Nationalsozialisten im Januar 1933 gab es für Ernst und Toni Cassirer, die den Antisemitismus im universitären und im städtischen Alltag der zwanziger Jahre erfahren hatten, kein Zögern in der Frage, was zu tun war. Sie verließen Hamburg am 12. März 1933 und waren so schon etwa einen Monat außer Landes, als am 7. April das Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft trat. Ebenfalls vom Jahresbeginn 1933 berichtet Toni Cassirer, daß Ernst angesichts einer Verordnung Hitlers „Recht ist, was dem Führer dient" gesagt habe: „Wenn morgen nicht alle Rechtsgelehrten Deutschlands sich wie ein Mann erheben und gegen diesen Paragraphen protestieren, ist Deutschland verloren." Es erhob sich bekanntlich keine einzige Stimme.41 Bereits am 5. April ersuchte Cassirer den Rektor um die Aufhebung aller Verpflichtungen bis zu einer allgemeinen Regelung. In einem Brief an den Hochschuldezernenten heißt es dazu am 27. April: „Ich denke von der Bedeutung und Würde des akademischen Lehramtes zu hoch, als daß ich dieses Amt ausüben könnte zu einer Zeit, in der mir, als Juden, die Mitarbeit an der deutschen Kulturarbeit bestritten oder in der sie mir, durch gesetzliche Maßnahmen, in irgendeiner Hinsicht geschmälert oder verkürzt wird." Bereits

am 27. Juli 1933 wurde Cassirer mit Wirkung zum 1. November in den Ruhestand versetzt. Der weitere Gang der Geschichte ist schnell umrissen: Nach Stationen in der Schweiz und in England gingen die Cassirers nach Schweden, wo Ernst an der Uni-

Siehe Toni Cassirer, Mein Leben, a.a.O., 194—198; Klibansky erzählt davon (siehe 198) abweichend in seinen Erinnerungen, er sei es gewesen, der Cassirer davon überzeugt habe, daß er Deutschland verlassen müsse (Raymond Klibansky, Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux, Frankfurt/M. 2001, 49). Toni Cassirer, Mein Leben, a.a.O., 195. Vgl. a.a.O., 199. A.a.O., 207 f.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

150

wurde. 1939 wurde ihm die schwedische auf die deutsche. Nach seiner Emeritieverzichtete er rung in Göteborg nahm er Einladungen auf Gastprofessuren in den USA an, zuletzt in New York, wo er im April 1945 starb. Der junge Friedrich Nietzsche hat in seinem Überdruß am lähmenden Geist des Historismus drei Typen von Historie unterschieden und als legitime Formen historischen Bewußtseins herausgestellt: die archivarische Geschichtsbetrachtung, mit der wir uns in sorgsamer Pflege unserer eigenen Wurzeln zu versichern suchen, die monumentalische Geschichtsbetrachtung, durch die wir uns im Blick auf einstige Größe mit Mut und Zuversicht für unsere eigenen großen Ansprüche wappnen und die kritische Geschichtsbetrachtung, durch die wir uns in dem Bewußtsein bestärken, daß das Vergangene nichts Besseres verdient als durch eine bessere Zukunft korrigiert und entkräftet zu werden. Obwohl Cassirers große Studien zur Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaft ebenso wie die materialreichen historischen Teile seiner Philosophie der symbolischen Formen nach Nietzsches Typologie eher der archivarischen Geschichtsbetrachtung zuzuordnen wären, und obwohl der Blick auf seine akademische Laufbahn in der Weimarer Republik vor allem zur kritischen Geschichtsbetrachtung nötigt, möchte man angesichts der Größe und Bedeutung des philosophischen Werkes, das er hinterlassen hat, und angesichts des Beispiels, das er gegeben hat, zum Verteidiger einer monumentalischen Geschichtsauffassung werden; im Blick auf die Person, die in diesem Lebenswerk wie an dem Wendepunkt ihrer Biographie im Januar 1933 erkennbar wird, haben wir jedenfalls die Chance, uns zu praktischer Zuversicht ermutigt zu sehen: In finsteren Zeiten hat Cassirer mit seiner geistesgegenwärtigen und urteilssicheren Reaktion ein Beispiel gegeben. Das Große war einmal möglich... eine Professur Staatsbürgerschaft verliehen, und

versität

Göteborg

Friedrich Nietzsche,

angeboten

Unzeitgemässe Betrachtungen II, a.a.O., (KSA 1), 243-334.

II. Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat des Praktischen keine Ethik schreiben konnte

1. Auch eine

ungeschriebene Ethik

Von Albert Schweitzer kennen wir den Vorwurf eines schweren Versagens an die Philosophen: In ihrem Versäumnis, eine nennenswerte Ethik zu entwickeln, hätten sie die Katastrophen unserer Kultur im 20. Jahrhundert mitzuverantworten.1 So schmeichelhaft und herausfordernd die hohe Erwartung an die Philosophie auch sein mag, die sich in Verwerfungen dieser Art zu erkennen gibt es dürfte außer Frage stehen, daß ihre diagnostische Pointe einer Prüfung nicht standhält. Daß Theorien nicht schlechthin ursächlich sind für die politische Praxis und ihre moralischen Verfehlungen, ist nicht zuletzt eine der Einsichten, die Ernst Cassirer im Durchgang durch die Ideengeschichte des politischen Denkens im Myth of the State exemplifiziert. Äußert sich zum einen ein übertriebener Anspruch in der Vorstellung, die Theorie könnte verantwortlich sein für Kriege und Völkermorde und hätte die Schuld auf sich zu nehmen, wo ihr nicht gelinge, sie zu verhindern, so ist zum anderen jedoch festzuhalten, daß philosophische Theorie einen Beitrag leistet zur Moral. Auch wenn wir uns darin einig sind, ihr wesentlich eine konstruktive und explikative begriffliche Leistung zuzuschreiben, so hat sie in der Explikation des menschlichen Selbstverständnisses und Weltverhältnisses auch dessen normatives Element wahrzunehmen. Wenigstens die begriffliche Artikulation der moralischen Selbstbeziehung, mit der Klärung ihrer Ansprüche, aber auch deren anspornende Bestätigung dürfen wir von der Theorie als dem Medium der Selbstvergewisserung in der Tat erwarten. Moralphilosophie, Ethik gehört somit zum Pensum einer jeden Theorie, die sich den Menschen und seine Welt zum Thema macht. Auf der Folie dieser Einsicht kann verständlich werden, wie Cassirer in seiner eingehenden Darstellung von Schweitzers Kritik an der Philosophie des 19. Jahrhunderts zu einer ganz einvernehmlichen Einschätzung von der antihumanistischen und demorali-

war das Versagen der Philosophie", heißt es im 1. Kapitel (Die Schuld der Niedergang der Kultur) bei Albert Schweitzer, Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kulturphilosophie (Erster Teil), München 1923; 2. Auflage 1946, 3. Den Hinweis verdanke ich Ulrich Hoyer, Münster (Brief vom 15.11.1996). Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O.

„Das Entscheidende

Philosophie

an

dem

-

Persönliches Ethos, Moral und Politik

152

sierenden Tendenz dieses Denkens kommen kann." Um so bemerkenswerter ist es, daß Schweitzers Vorwurf vom Versäumnis in der Ethik auf den ersten Blick ein Defizit auch seines Interpreten betrifft. Denn Ernst Cassirer hat keine Ethik geschrieben. Wie in geheimer Absprache kommt sein Werk darin freilich mit der Kulturphilosophie, wie sie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt wird, aber auch mit ganz anderen Richtungen, ja sogar mit extrem widerstreitenden Philosophien überein. Zu nennen sind etwa die beiden feindlichen Lehren der jüngeren deutschen Gegenwartsphilosophie, Heideggers Fundamentalontologie und Adornos kritische Theorie der Gesellschaft, die sich mit ihrer beider erklärtem Gegner, der Kulturphilosophie, in den Mangel an moralphilosophischer Ausdrücklichkeit teilen. Allein dieser Hinweis kann zwar das Blickfeld erweitern, aber nicht den Vorwurf eines Mangels ausräumen. Defiziente Verhaltensweisen sind in der philosophischen Ethik ebensowenig wie in der alltäglichen Moral durch die Strategie des schlechten Gegenbeispiels zu entschuldigen. Was man Heidegger und Adorno jedoch zugestehen mag, die ethische Dimension des gesamten Ansatzes, ist für den fortgeschrittensten der kulturphilosophischen Entwürfe ebenfalls wiederholt geltend gemacht worden für Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Wenn Cassirer 1944 im Essay on Man statt einer Übersetzung seines Hauptwerkes ins Englische mit einer kürzeren Zusammenfassung zugleich eine aktualisierte Fassung seiner Grundgedanken gibt, dann tritt die Kunst deutlicher als eine eigenständige Form der Deutung von Wirklichkeit hervor, und die Geschichte kommt neu hinzu. Überhaupt -

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Cassirer, Albert Schweitzer

as critic, a.a.O. Es ist spannend zu verfolgen, wie Cassirer ihm bei Argument behilflich ist und es prägnanter und einsichtig zu machen sucht, indem er die pauschale Kritik am 19. Jahrhundert auf dessen einflußreichsten Denker anwendet: auf Hegel. In Hegels Hypostase des objektiven Geistes gegen den subjektiven, in seinem Primat der Sittlichkeit vor der Moralität sieht Cassirer die Gefahr einer „unlimited spiritual devotion to the interests of the community" (a.a.O., 254), einer „apotheosis of the historical process as a whole", deren schlimmster Effekt die Korruption der persönlichen Moral (a.a.O., 255) sei; vgl. die gleichlautende Kritik in: Mythus des Staates, a.a.O., 321-388. Ganz ähnlich wie er hier Heideggers Existentialontologie, insbesondere seiner Vorstellung vom Geworfensein des Individuums in das Sein eine wegbereitende Rolle für das moderne totalitäre Denken vorwirft (a.a.O., 383 f.), bestätigt er damit im Grunde Schweitzers radikale Kritik, die Philosophie des 19. Jahrhunderts habe durch ihren demoralisierenden Effekt den moralischen Quietismus gegenüber der totalitären Herrschaft des 20. Jahrhunderts begünstigt (vgl. Cassirer, Albert Schweitzer as critic, a.a.O., 257; ders., Der Mythus des Staates, a.a.O., 387). Siehe Carl Friedrich Gethmann, Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit; und Gerold Prauss, Heidegger und die Praktische Philosophie, beide in: Heidegger und die praktische Philosophie, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt/M. 1988, 140-176; 177-190. Siehe auch Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993.

seinem

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Kultur ohne Moral?

153

konzise Gesamtdarstellung von 1944 dem Autor Gelegenheit zu einigen Revisionen. Auf eine dringend erforderliche Ergänzung wartet man jedoch vergebens. Sie betrifft das moralphilosophische Defizit dieses Systementwurfs. Weder in der Fassung der zwanziger noch der vierziger Jahre behandelt der Autor unter den symbolischen Formen ausdrücklich die Moral oder wenigstens das Recht. Hier liegt ein schwerer Mangel, der sich in der perspektivischen Doppelung eines kulturphilosophischen und eines anthropologischen Aspekts mehr als bloß tautologisch verdeutlichen läßt: Die Moral ist das zentrale Medium der menschlichen Selbstverständigung, weil sie die Möglichkeit der Orientierung im Handeln durch normative Bewertung trägt. Was der Mensch ist, wird man niemals vollständig beschrieben haben, wenn man seinen Vorstellungen von dem, was er sein will und sein soll, nicht Rechnung trägt. Mindestens die Spannung zwischen diesem Sein und jenem Sollen ist es, die sich im Handeln austrägt und die Vorstellung vom Sollen im System der praktischen Bewertungen, die man mit dem Begriff der Moral identifizieren darf. Aber auch was eine Kultur ist, muß der Theorie entgleiten, welche die Moral als das kulturelle Subsystem der Normen und Werte übergeht. Daß eine Kultur ohne Moral undenkbar ist, kann man sich an vielen einzelnen Beispielen für die Notwendigkeit einsichtiger Bewertung in praktischer Perspektive klar machen; sie alle kulminieren in der extremen, aufs Ganze gehenden Konsequenz, daß einer solchen Kultur jede Basis für die Stellungnahmen entzogen wäre, die sie im einzelnen wie im Ganzen für ihren Fortbestand nötig hat. Was Cassirer als Zeitgenosse der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Herrschaft erlebt hat, dürfte das geeignete Anschauungsmaterial für diese Einsicht vermitteln. Solche Einsichten sind Cassirer denn auch theoretisch ebensowenig fremd geblieben wie existentiell. Mangelnden Sinn für das Ethische und Politische wird man schon dem Autor von Freiheit und Form nicht nachsagen können, der sich 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, gegen die ideologische Polarisierung von tiefer deutscher Kultur und oberflächlicher westlicher Zivilisation ausdrücklich als Europäer exponiert, indem er die geistesgeschichtliche Kontinuität des deutschen, italienischen und französischen Denkens seit der Renaissance aufweist. Der Ordinarius und Rektor Cassirer setzt sich als Gelehrter wie als liberaler Zeitgenosse mit dem Problem der Weimarer Republik auseinander und ergreift dabei auch moralische Partei.

gibt die

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Persönliches Ethos, Moral und Politik

154

2. Das

Handlungsproblem in der Philosophie der

neueren

Zeit

-

Kantianismus in der Ethik

Auf die um so näherliegende Beanstandung, daß eine selbständige Moralphilosophie im Werk Cassirers fehlt, sind aber zunächst zwei differenzierende Gegenargumente geltend zu machen. Zum einen findet sich eine Reihe historisch interpretierender Schriften, die sich mit den Problemen der praktischen Philosophie auseinandersetzen, etwa die Arbeiten zu Descartes,5 Rousseau6 und Kant,7 zur Philosophie der Renaissance und der Es und vor allem über den schwedischen Philosophen Axel ist offensichtlich, daß sich in diesen Schriften ein kenntnisreicher Gelehrter zum Handlungsproblem in der Philosophie der neueren Zeit äußert: Ebenso wie der „Erkenntnis-Cassirer" sich in der theoretischen Philosophie hervorragend auskennt, so haben wir es auch in der praktischen Philosophie mit einem begriffsstarken und urteilsfähigen Interpreten und Kritiker zu tun. Wenngleich Cassirer in diesen Schriften erkennbar auch in systematischer Absicht wesentliche Einsichten eines rationalen Moralverständnisses in Erinnerung ruft, so bleibt doch darauf zu bestehen, daß diese Beiträge eine eigene Lösung des Problems und insbesondere eine überzeugende Integration in den methodischen und terminologischen Rahmen der eigenen Theorie schuldig bleiben. Es ist in diesem Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen, daß dem Kant-Interpreten und Kantianer Cassirer im Rahmen seines geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens die Unüberbietbarkeit der Kantischen Moralkonzeption vor Augen gestanden hat. Demnach hätte er sich deshalb nicht an eine eigene Ethik gewagt, weil ihm völlig klar gewesen sein mußte, daß diese in den Grundzügen nichts anderes hätte enthalten können, als was uns Kant vermacht hat. Wie wir uns angesichts seiner programmatischen Reflexionen klarmachen können, ist Cassirer in der Tat in wesentlichen Zügen seines Denkens Kantianer geblieben. Der bezeichnende Anspruch einer Trans-

Hägerström.1

Aufklärung9

-

Persönlichkeit Wirkung (1939), hg. von Rainer A. Bast, 1995. Hamburg Ders., Das Problem Jean-Jacques Rousseau, a.a.O. Ders., Kants Leben und Lehre, a.a.O. (KLL). Ders., Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaisssance a.a.O., (ECW 14), Kap. 3: Freiheit und Notwendigkeit in der Philosophie der Renaissance. Ders., Die Philosophie der Aufklärung, a.a.O. (ECW 15). Ders., Axel Hägerström, a.a.O., Drittes und Viertes Kapitel. Ernst Wolfgang Orth hat darauf wiederholt in überzeugender Weise hingewiesen und zugleich die systematische Stelle markiert, an der Cassirer den Kantischen Ansatz selbständig weiterführt; siehe Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a.a.O., 28-39; 79f.; 107ff; 123 ff.; Ernst

Cassirer, Descartes. Lehre

-

-

155

Kultur ohne Moral?

formation der Vernunftkritik in Kritik der Kultur, die Verbindlichkeit, die für den methodischen Ansatz seines Werkes die Kopernikanische „Drehung" behalten hat, die ex-

plizite Auszeichnung talen Idealismus

Philosophie

der

der

symbolischen

Formen als einen transzenden-

(PhsFI, 1^49), die durchgehende Geltung der Kategorien des produkti-

Denkens,1 bezeugen

die Kantianische Folie seiner Theorie an charakteristischen Elementen der erkenntniskritischen Methode. Ein entsprechend starker Einfluß Kants läßt sich auch für die Moralphilosophie an mehr als nur einem Beispiel zeigen: 1. In dem großen Aufsatz von 1932 wird uns Rousseau als der vom Primat des Praktischen durchdrungene Enthusiast der natürlichen Güte, der Freiheit und der Würde jedes Menschen nahegebracht eben ganz der Rousseau, den Kant Mitte der sechziger Jahre auf der leidenschaftlichen Suche nach dem Prinzip der Moralität auf eine Stufe mit Newton stellt und dessen Bemühung konsequent auf die Begründung einer gesetzlichen Ordnung zielt, in der die ursprüngliche Würde des Menschen durch die Sicherung von gleicher Freiheit repräsentiert ist. Wie Cassirer das Erkenntnisproblem im historischen Ausgang von Cusanus gleichsam als dem Proto-Transzendentalkritiker durch die Jahrhunderte hindurch ganz auf den geschichtsphilosophischen Gipfel in der Kantischen Vernunftkritik angelegt hatte, so liest er Rousseau weniger als den Grünven

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-

-

Zu Cassirers früher Zeit siehe auch Massimo Ferrari, II giovane CassiMarburgo, Milano 1988. Zur Beschränkung auf die kategorialen Aprioris von Raum, Zeit und Zahl in der ausdrücklichen Anknüpfung an den Kantischen Schematismus siehe Teil B, Kap. I. Wie durchdrungen Cassirers Denken von den Motiven des Kantischen Ansatzes ist, dürfte kaum irgendwo prägnanter werden als an einer Stelle in dem großen Kapitel Zur Pathologie des Symbolbewußtseins, in dem sich Cassirer die Mühe einer eingehenden Auseinandersetzung mit klinischen Defiziten der Symbolisierung gibt (Aphasie, Agnosie, Apraxie), weil sich an ihnen via negationis deutlich vorführen läßt, daß die selbständige Relationenbildung die Grundfunktion des Bewußtseins ist. Wo es um die Unfähigkeit zur „räumlichen .Projektion'" geht, heißt es resümierend, der Pathologie dränge sich hier eine Unterscheidung auf, die in der Kantischen Erläuterung des Schematismus eine Rolle spielt, nämlich „zwischen dem Bild als einem .Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft' und dem Schema sinnlicher Begriffe als einem .Monogramm der reinen Einbildungskraft apriori'" (PhsFIII, 286). Worunter die Patienten der besprochenen Form von Agnosie letztlich leiden, wäre demnach ein Defekt am transzendentalen Subjekt: Im Empirischen stehen die Funktionen zu Gebote, es gebricht allein an der Schemabildung. Nichts scheint Cassirer näher zu liegen als die Formulierung seiner ,Diagnose' in Begriffen der Kantischen Subjektanalyse! „Rousseau hat mich zurecht gebracht" (Immanuel Kant, Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", neu hg. und kommentiert von Marie Rischmüller, Hamburg 1991, 38); siehe dazu Recki, Ästhetik der Sitten, a.a.O., 26-32. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4

134; 176-189; 203-213.

rer e

la scuola di

-

Bände (1906; 1907; 1920; 1950), a.a.O. (ECW 2-5).

Persönliches Ethos, Moral und Politik

156

denn als ethischen Vorläufer Kants. Es ist der Gedanke und Würde eines Freiheit von der jeden Menschen, der für ihn wie schon für Kant über die Größe dieses Denkers entscheidet. 2. Auch das Verständnis, das Cassirer in den der praktischen Philosophie gewidmeten Kapiteln seines Buch über Descartes von 1939 für dessen Auffassung des Verhältnisses von Wille und Verstand ebenso wie für dessen Betonung von Freiheit als Autonomie zeigt, läßt nicht nur die Zustimmung des Interpreten zu seinem Autor erkennen, sondern spitzt die geschilderte Position grosso modo schon auf die Kantische zu. Insbesondere was Descartes in den Passions de l'âme zur selbstdisziplinierten Verfügung über die Leidenschaften sagt, kehrt bei Kant mutatis mutandis als das große Thema der Subsumtion von Neigungen unter die richtige Maxime wieder, und Cassirer sieht den Zusammenhang. Cassirer selbst plädiert dafür, die reflektierte Persönlichkeit der schwedischen Königin Christina „nicht lediglich nach ihren Handlungen, sondern eben nach ihren Maximen [zu] beurteilen"; er liest auch Descartes seine praktische Philo17 sophie als einen „Idealismus der Freiheit" -als einen Vorläufer Kants. 3. Insbesondere aber die Studie über Axel Hägerström von 1939, die von den Inter18 preten als Cassirers „Hauptschrift zur Ethik" verstanden wird, zeigt in aller Deutlichkeit, daß er sich über die Eigenart des Praktischen im klaren ist. Gegen eine emotivistische Lehre von der Relativität aller moralischen Bewertungen, die mit dem Anspruch vorgetragen wird, eine wissenschaftliche Ethik könnte als Lehre über die Moral nur deskriptiv sein, behauptet Cassirer hier die Möglichkeit der Objektivität moralischen Urteilens. Mit leichter Hand verbindet er einen phänomenologischen Ansatz beim moralischen Bewußtsein mit der Kantianischen Insistenz auf Rationalität und prinzipielle Einsichten und macht dabei vor allem zweierlei geltend: Erstens erfordert jede moralische Stellungnahme einen Akt der Reflexion, in den auch begriffliche Momente der Er-

dungsvater aller Rousseauismen

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Ders., Descartes, a.a.O., 216f. In diesem Zusammenhang gibt er im Kapitel über „Descartes und Königin Christina von Schweden" auch für das ethische Denken einen Entwicklungsaufriß, der bei aller selektiven Konzentration auf das 16. und 17. Jahrhundert in der Anlage und Argumentationsabsicht jenen geschichtsphilosophischen Rekonstruktionen gleicht, wie er sie im Falle von Sprache, Mythos und wissenschaftlicher Erkenntnis jedesmal zur geistesgeschichtlichen Gewinnung einer symbolischen Form anstellt. Diese Fortschrittsgeschichte gleichsam der symbolischen Form „Moral" von Montaigne über Charron und Pascal bis zu Descartes und Corneille findet in einer mit Sokrates einsetzenden kompatiblen Skizze im Axel Hägerström eine Ergänzung. Neben den ausdrücklichen Darlegungen in den kleinen Schriften zur politischen Philosophie (siehe oben Kap. I, 5) begünstigt auch die darin zutage tretende geschichtsphilosophische Tendenz die Annahme, daß der ethische Universalismus Kants in der Moralphilosophie ebenso wie in der Begründung der Menschenrechte für Cassirers Einsicht unüberbietbar ist. John Michael Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, in: Braun u.a. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie, a.a.O., 30. -

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157

Kultur ohne Moral?

kenntnis eingeschlossen sind, so daß der Rekurs auf das indiskutable Gefühl hier nur zu einer Unterbestimmung führen kann; nicht bloß Gefühle, sondern auch Gedanken kommen in moralischen Urteilen zum Ausdruck. Man könnte etwa nicht erklären, was es heißt, jemandem etwas zu verbieten, wenn das moralische Bewußtsein nicht auf Regeln ausginge. Zweitens besteht der Objektivitätsanspruch des moralischen Urteilens auch keineswegs in der Behauptung einer spezifischen nachweisbaren Gegenständlichkeit, sondern in dem Anspruch der konsistenten und widerspruchsfreien Verknüpfung rationaler Einsichten zu einem Zusammenhang nachvollziehbarer und vertretbarer Orientierung im Handeln. Das Kriterium für Objektivität auch im Praktischen ist nach Cassirer „Einheit und Universalität". Die Argumentation gegen Hägerströms einseitige Konzentration auf das Nachwirken des Mythos im Recht legt überdies die Extrapolation nahe, daß Cassirer auch in Fragen der Moral gegen die Variante des Reduktionismus in einer genealogischen Ideologiekritik à la façon de Nietzsche etwas aufzubringen hätte. Sowohl gegen Hägerströms Reduktion der Moral (moralische Urteile nichts als gefühlsmäßige Bewertungen) wie gegen seine Reduktion des Rechts (das Recht nichts als eine Transformation archaischen 20 Aberglaubens) besteht er darauf, daß man zwischen Genese und Geltung streng zu unterscheiden habe. Mit souveräner Kenntnis auch der moralphilosophischen Geistesgeschichte und in umsichtiger Argumentation verteidigt Cassirer hier die Option einer Moralphilosophie als einer mehr als bloß deskriptiven und relativistischen Sichtung moralischer Systeme. Er expliziert dabei einige Errungenschaften der abendländischen, insbesondere der humanistischen Tradition; er legt zum Beispiel Wert darauf, beides zu ' erwähnen: daß die Praxis in ihrem Ursprung aus dem Willen etwas Genuines ist und daß in die praktische Reflexion erkenntnisanaloge Akte der Subsumtion sowie Erkenntnisse selbst einbezogen sind. Er verficht auf diese Weise den Charakter begrifflicher -

-

Cassirer, Axel Hägerström, a.a.O., 78. In der Dürftigkeit von Cassirers rechtsphilosophischen Überlegungen wiederholt sich das Problem des ethischen Defizits: Die wesentlichen Einsichten sind in der Schrift über Hägerström und in der Verfassungsrede von 1928 zu finden: 1. Systematisch vertritt Cassirer eine naturrechtliche und kontraktualistische Position mit Rekurs auf die Kantische Fassung der Vertragstheorie (der Vertrag als Idee), die er mit dem Hinweis auf den elementaren Akt des Versprechens als eines in die Zukunft gerichteten Willensaktes verbindet und damit zugleich sprachphilosophisch funwert auf er an historisch die 2. diert; legt Erinnerung die Tradition der Lehre vom Naturrecht als Vernunftrecht bei Leibniz und Grotius, den Einfluß auf Blackstone (England), die Wirkung von dort auf Amerika (Philadelphia 1776), und von dort auf die französische Revolution. Darin sieht Cassirer den wesentlichen Strang der Idee von den allgemeinen Menschenrechten, deren philosophische Begründung durch Kant maßgeblich wird. Der Wille ist nach seiner Bestimmung „eine bestimmte Grundrichtung des Bewusstseins: die Richtung auf ein Nicht-Gegebenes, Zukünftiges, erst zu Verwirklichendes"; gekennzeichnet durch eine „Intention" (Cassirer, Axel Hägerström, a.a.O., 108). -

Persönliches Ethos, Moral und Politik

158

Einsicht und konsistenter, allgemein mitteilbarer Entscheidung auch der praktischen Vernunft. Dies sind hilfreiche Zurechtweisungen, wo in Vergessenheit zu geraten droht, 22 was sich von selbst versteht. Und den Beispielen für Cassirers Kantianismus in den grundlegenden Fragen der praktischen Philosophie ließe sich im einzelnen noch manches hinzufügen. Die Einschätzung, Cassirer sei Kantianer geblieben und habe sich auch in Fragen der praktischen Philosophie als solcher zu erkennen gegeben, findet sich insbesondere auch mit Blick auf seine Beiträge zur politischen Philosophie bestätigt: Die Begründung der Menschenrechte und des liberalen Verfassungsstaates macht Cassirer im weithin antirepublikanischen Klima der Weimarer Zeit als den eigentlichen Beitrag der deutschen Philosophie zum politischen Denken geltend. Im Hinblick auf das systematische Defizit seiner eigenen Theorie bleibt dieser Befund jedoch steril: Es ist nicht zu sehen, wie daraus ein Rechtfertigungsargument für die thematische Vernachlässigung der Moral im Kontext einer Philosophie der symbolischen Formen gewonnen werden kann. Cassirer hat sich auch in anderen Teilen des Systems kultureller Symbolismen von der Überzeugungskraft des Kantischen Gedankens nicht an der Durchführung seines Ansatzes hindern lassen, sondern jenen für diese fruchtbar gemacht. Dasselbe wäre auch in der Frage der praktischen Philosophie möglich, ja vor allem: Es wäre weiterhin nötig gewesen. Denn Cassirer entwickelt seinen transzendentalen Idealismus als eine symboltheoretische Philosophie der Kultur, und im Interesse an der Konsistenz der Theorie wäre eine gleichermaßen symboltheoretische wie kulturphilosophische Reformulierung selbst der Kantischen Moralkonzeption zu fordern. '

22

23

So Vischers zum Bonmot gewordene, natürlich ihrerseits mit starkem normativem Appell durchdrungene Bestimmung der Moral, in: Friedrich Theodor Vischer, Auch einer (1878), Frankfurt/M.

1987,25. Siehe oben Teil C,

Kap. I, 5.

159

Kultur ohne Moral?

3.

Systematische Ansätze zu einer praktischen Grundlegung

Nun läßt sich zunächst auch in systematischer Hinsicht noch das eine oder andere Element eines methodischen Problembewußtseins von der praktischen Verfassung des kulturellen Menschen hinzufügen. In der Perspektive einer Grundlegung des Freiheitsverständnisses ist nicht allein die Argumentation zur Unterbestimmung von Freiheit durch die Offenheit der bloßen Indétermination im physikalischen Sinne vielversprechend.24 Von großem sachlichem Interesse für eine philosophische Ethik ist aber nicht 25

Beitrag von Anfang der dreißiger Jahre, in dem Cassirer die grundlegenden Analysen zum Zusammenhang von Sprache und Bewußtsein, die er im ersten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen über die Sprache in der Konzentration auf den kognitiven Aspekt, also auf Vorgänge der Wahrnehmung und der Erkenntnis vorgetragen hatte, nunmehr erweitert um den Aspekt des praktischen Selbstverhältnisses. zuletzt der

Es sind

zwei, insbesondere in der Absicht einer Rekonstruktion des moralischen Bewußtseins, bemerkenswerte Thesen, die er hier in aller Kürze präsentiert. Die erste: Nicht nur beim Zustandekommen von Erkenntnis, sondern auch bei der Willensbildung erfüllt die

sprachliche Artikulation die konstitutive Funktion der verobjektivierenden Distanzierung und ermöglicht damit erst die Klärung und die Verfügung über unsere Vorstellungen und Zustände derer wir nicht nur im Prozeß der Erkenntnis, sondern gerade auch im Prozeß der handelnden Selbstbestimmung bedürfen. Die zweite: In der stets intersubjektiv, also: sozial vermittelten Erfahrung des Anspruchs, richtig zu sprechen, macht der Mensch die erste und grundlegende Bekanntschaft mit dem, was eine Norm ist und wie wichtig es einem keineswegs bloß durch das Zwangsmoment äußerer Anpassung, sondern aus eigenem spontanem Impuls ist, ihr zu entsprechen. Normativität überhaupt und damit das strukturelle Element der Moral, ist auf diese Weise sprachlich und damit eben genuin subjektiv wie intersubjektiv vermittelt. Die Aufzählung solcher zum Teil elementarer, dabei aber in den unterschiedlichsten sachlichen Zusammenhängen versprengter Ansätze zur begrifflichen Integration der praktischen Vernunft ließen sich noch um manches Detail erweitern. Aber soviel Kenntnis von der Eigenart des Praktischen diese Klärungen auch zeigen es handelt sich um theoretische Vergewisserungen von ganz generellem und abstraktivem Cha-

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Ernst Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ders., Zur modernen Physik, Darmstadt 1980. Ders., Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, a.a.O. (SAG). Die beiden hier vorgetragenen Thesen gehören in den Kontext dessen, was einige Interpreten den linguistic turn in der Moralphilosophie Cassirers genannt haben: Siehe vor allem Krois, Cassirer, a.a.O., 156.

160

Persönliches Ethos, Moral und Politik

rakter. Cassirer führt die Elemente einer moralphilosophischen Grundlegung an. Er stellt die gleichermaßen sprach- wie handlungstheoretischen Bedingungen einer in Recht und Moral benötigten Normativität heraus. Auf dem so bereiteten Boden könnte er nun beginnen, seine Ethik zu schreiben, mit der die Moral zuletzt auch als Element einer Philosophie der symbolischen Formen einzuordnen und zu den anderen symbolischen Formen ins Verhältnis zu setzen wäre. Einer für mehr als einen Cassirer-Interpreten plausiblen Meinung ist mit Blick auf das Ausbleiben eben dieses Pensums entschieden zu widersprechen: Man unterschätzt die Einsichten, die der Autor der Schrift über Kants Leben und Werk bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte, wenn man hier, in den dreißiger Jahren, erst seine „Wende zur Ethik" sieht ebenso wie man die Gelegenheitsarbeit über Axel Hägerström, die im schwedischen Exil ersichtlich aus Urbanität geschrieben ist, überschätzt, wenn man hier gar Cassirers eigene Ethik vermutet.28 Diese eigene Ethik hat er nie geschrieben. Doch wichtiger als die Einschätzung des Buches über Hägerström dürfte freilich sein, was systematisch aus der hier geleisteten Kritik und Grundlegung folgt. Und da ist entscheidend, daß Cassirer die Moral auch im folgenden nicht als eine symbolische 29 Form aufgreift. Ja, er kommt auf diese vielversprechenden Überlegungen überhaupt nicht mehr zurück, so daß man paradoxerweise die Schrift über Hägerström tatsächlich als seine „Hauptschrift zur Ethik" begreifen muß. Die Frage ist: Warum kommt er später nicht auf die Einsichten seiner vielversprechenden Grundlegung zurück? Die Revi-

So Paetzold, Von Marburg nach New York, a.a.O., 157 ff.; Paetzold schließt sich damit in den Grundzügen der Auffassung von Krois an, siehe nächste Anmerkung. Die Schwerpunkte der eingehenden Rekonstruktion der ethischen und rechtsphilosophischen Elemente in Cassirers Werk, wie sie Krois in seiner großen Monographie vorgelegt hat (Krois, Cassirer, a.a.O., IV. Morality and Law, 142-171), liegen neben der Darstellung der Entwicklung des moralischen Elements in den symbolischen Formen des Mythos, der Religion und der philosophischen Wissenschaft auf dem universalen Geltungsanspruch moralischer Bewertung, den Cassirer gegen Hägerströms emotivistische Version des ethischen Relativismus verteidigt; auf Cassirers Adaptation des Naturrechtsgedankens und seiner Vorstellung vom Menschenrecht auf Personalität; schließlich auf der sprachphilosophischen Wende seines im Grunde Kantianischen Moraldenkens. Krois' aufs Ganze gehende Eingangsthese, „the ethical point of view" wäre für Cassirer „a symbolic form" (a.a.O., 142), wird durch seine eingehende und im einzelnen überzeugende Interpretation gerade nicht belegt, die systematische Schwierigkeit, die einer solchen Auffassung bei Cassirer entgegensteht, eher überspielt: Dabei enthält Krois' Darstellung der ethischen Implikate in Mythos, Religion und (wissenschaftlichem) philosophischem Denken (a.a.O., 144-152) in denen mit Cassirer ebensoviele symbolische Formen zu sehen sind -, geradezu ein Argument gegen seine These, da sie das Problem erkennen läßt, das darin besteht, daß die Moral im Rahmen dieses Ansatzes zum einen als normatives Moment der Orientierung in den anderen symbolischen Formen begriffen ist und zum anderen als genuine symbolische Form zu begreifen wäre. -

161

Kultur ohne Moral?

sion der Philosophie der symbolischen Formen von 1944 hätte die Gelegenheit geboten, ähnlich wie der Kunst nun in der ultimativen Fassung auch der Moral und dem Recht ein eigenes Kapitel zu widmen. Es fehlt aber nicht nur ein solches Kapitel es fehlt jeder Hinweis darauf, daß die Frage der praktischen Selbstbestimmung jemals von selbständigem Interesse gewesen wäre. In der Vorrede zu der Schrift über Hägerström hatte Cassirer es als einen Gewinn der Auseinandersetzung hervorgehoben, daß sie ihm die -

Gelegenheit gegeben habe, zu fassen und sie auf neue Gebiete anzuwenden. So ist meine Gesamtauffassung der ethischen und rechtsphilosophischen Probleme hier viel ausführlicher behandelt, als es in meinen früheren Schriften, die vor allem der theoreti30 sehen Philosophie galten, geschehen ist."

„meine eigene Grundanschauung [... ] schärfer

schlägt das, was mit diesem Eingeständnis bestätigt ist, im folgenden nicht mehr zu Buche? Auf diese Frage findet sich in den Texten keine Antwort. Angesichts der offenkundigen Vernachlässigung der Moral in systematischer Hinsicht bleibt dem Interpreten deshalb gar nichts anderes übrig, als mit einer eigenen Hypothese und einer eigenen Rekonstruktion beizuspringen. Jedenfalls ist man auf eigene Vermutungen angewiesen, die sich natürlich so eng wie möglich an die Gedanken und die geistige Physiognomie Cassirers halten sollten. Um beim letzteren Gesichtspunkt zu beginnen: Womöglich macht sich in dieser auffälligen Vermeidung nichts Geringeres bemerkbar als die Persönlichkeit eines Denkers, der in allem mit großbürgerlicher Generosität um angemessenes Verständnis bemüht ist. Cassirer war, wie in anderem Zusammenhang zurecht betont 31 worden ist: vor allem konziliant. Nicht nur das Destruktive und das Revolutionäre, auch die Aufdringlichkeit der strengen Verwerfung, die im Prinzip als Folge jeder moralischen Bewertung in Kauf genommen werden muß, war ihm fremd: Man urteilt nicht ohne Not über andere! Wann aber sind wir je wirklich in dieser Not? Freilich wäre es unangemessen, wollte man einen schwachen Zug eines Denkens von so starkem systematischem Anspruch aus einem Charakterzug erklären. Daß in der systematischen Lücke an der Stelle der Philosophie der symbolischen Formen, wo die Form der praktischen Selbstbestimmung hingehört, die schulbedingte Einseitigkeit eines auf das Erkenntnisproblem beschränkten Neukantianismus zum Tragen käme, ist ebenfalls ausgeschlossen. Der radikale Perspektivenwechsel von aller bloß kognitiven zur praktischen Einstellung auf das Handeln dürfte für denjenigen, der den Reflexionsperspektivismus in Kants dritter Antinomie genau kannte und der von der erweiterten Sicht auf die Natur in der dritten Kritik einen entscheidenden methodischen Impuls zur Diversifizierung des Wirklichkeitsbegriffs empfangen hat, kein ProWarum

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-

Cassirer, Axel Hägerström, a.a.O., 7. Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität, a.a.O., 18.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

162

dargestellt haben: Schon mit dem Programm seiner Kulturphilosophie hat der ehemalige „Erkenntnis-Cassirer" den entscheidenden Schritt zur Überwindung eines

blem

bloß wissenschaftstheoretischen oder erkenntnistheoretischen Neukantianismus getan, und er setzt diesen Weg mit der theoretischen Entfaltung einer Pluralität der Kulturformen als Weisen des Sinnverstehens konsequent ins Werk: Die Philosophie der symbolischen Formen ist die transzendentale Theorie der Erzeugung von Bedeutungen nach verschiedenen Parametern; der Perspektivenwechsel, die Änderung der Einstellung ist 32 geradezu ihr konstitutives Element.

Mutmaßungen zum Umfang eines Grundbegriffs: Läßt sich die Moral als eine „symbolische Form" begreifen?

4. Exakte

Liegt die Schwierigkeit womöglich im konzeptuellen Ansatz, nämlich im Begriff des Symbols oder der symbolischen Form selbst begründet? Wir vergegenwärtigen noch einmal die zentrale Bestimmung: Eine symbolische Form ist nach Cassirer „jede Energie des Geistes [...], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird."33 Hier scheint sich in der Tat eine Schwierigkeit anzukündigen, denn worin besteht schließlich das konkret Sinnliche eines moralischen Urteils, das Ausdruck eines Gedankens ist: Wie versinnlicht sich Moral? Die Vermutung, daß auch diese Anthropologie ähnlich wie Georg Simmeis Kulturtheorie den kulturellen Wert an das Kriterium der objektivierten Form bindet, findet sich nicht zuletzt bestätigt durch die argumentative Tendenz des Materials zum geplanten 4. Band der Philosophie der symbolischen Formen: Hier geht es auch um die zentrale Stellung des Werkbegriffs für die Kultur.35 Kann die Moral womöglich aufgrund der ergologischen Orientierung dieses Kulturverständnisses keine symbolische Form sein: weil in der Moral anders als in Kunst und Wissenschaft nichts Bleibendes hervorgebracht wird? Hier könnte des Rätsels Lösung liegen, wenn nicht im Blick auf einige andere kulturelle Formen des Ausdrucks derselbe Einwand ihre Aufnahme ins System der symbolischen Formen auch schon hätte verbieten müs-

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Wie unzureichend überhaupt das geläufige Raster der Zuordnung zum Neukantianismus ist, läßt sich im übrigen schon daran ermessen, daß bereits Cassirers Marburger Lehrer Hermann Cohen eine Ethik, eine Ästhetik und eine Kulturphilosophie! hatte; siehe dazu Teil B, Kap. IV. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O. (ECW 16), 79. Siehe beispielhaft Georg Simmel, Vom Wesen der Kultur (1908), in: ders., Brücke und Tür, a.a.O., 86-94, bes. 89f. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a.a.O. (ECN 1). -

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163

Kultur ohne Moral?

Humboldt die Sprache eher als eine energeia denn als ein ergon versteht und sie dennoch als die elementare symbolische Form begreift, dürfte der dynamische, der flüchtige, immaterielle Charakter des moralischen Urteilens und somit die Schwierigkeit, Moral dingfest zu machen, kein Hindernis gewesen sein. Vor allem aber zeigt auch ein zweiter Blick auf das moralische Urteil, daß hier kein ernsthafter Grund zur Sorge gegeben ist: Das moralische Urteil manifestiert sich im Handeln und für den, der das Leib-Seele-Verhältnis zum ersten „Vorbild und Musterbild" aller Symbolisierung erklärt,' muß sich zumindest ein analoges Verständnis der Handlung als einer Einheit von Sensiblem und Intelligiblem aufgedrängt haben. Hier ist ein Inneres zwar nicht in einem Körper, wohl aber in der Äußerung als physische Bewegung in Raum und Zeit bestimmt und jedenfalls an einen Körper gebunden. Man muß auch noch nicht einmal mühsam extrapolieren, um zu sehen, daß genau dies Cassirers Verständnis entspricht. Die ausdrückliche Bestätigung, daß der Begriff des Symbolischen als solcher keinen Ausschluß des Moralischen impliziert, findet sich in seiner Rede aus Anlaß der Verfassungsfeier von 1928. Wenn er hier den Nachweis zu führen sucht, „daß die Idee der republikanischen Verfassung als solche im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, daß sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte 37 der idealistischen Philosophie, genährt worden ist", dann kommt er zwangsläufig auf Kant als Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu sprechen. Von größtem Interesse ist dabei für unser Problem, wie Cassirer Kant in seinem praktischen Ansatz charakterisiert: als einen symbolischen Denkerl Kants hoffnungsvollen Kommentar zur französischen Revolution im Streit der Fakultäten, auch wenn „der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck" nicht auf Anhieb erreicht werde und „die Revolution oder Reform der Verfassung" fürs erste fehlschlüge, so vergesse sich ein solches Phänomen in der Menschengeschichte doch nicht mehr, „weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat", erläutert Cassirer mit den Worsen:

Für

den, der im Anschluß

an

-

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ten:

„In diesen Sätzen stellt sich aufs reinste und klarste jene Art der symbolischen Betrachtung dar, die den Ethiker, die den philosophischen Idealisten Kant kennzeichnet."

PhsFIII, 113; siehe das vollständige Zitat oben, S. 20. Dieses „sinnerfüllte Ganze", das an Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz erinnert, erschließt sich durch das, was er das „,Urphänomen' des Ausdrucks" nennt (PhsFIII, 112). Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, a.a.O., 49.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

164

Anstatt nach dem Resultat, dem faktischen Erfolg, frage er nach der geistigen Haltung, die sich in der Handlung ausdrückt er fragt, so Cassirer wörtlich: nach der „Form des 38 Gesetzes, unter das sie sich stellt, und das sie in sich zu verkörpern sucht." Mit anderen Worten: Cassirer begreift damit ganz im Sinne seines Begriffs von der symbolischen Form die Handlung als Symbol, als die sinnliche Verkörperung eines geistigen Gehalts. Deutlicher kann es nicht werden: An einer systematischen Fußangel im Begriff des Symbolischen liegt es nicht, daß die Moral nicht genannt und nicht abge-

handelt wird. Moral wäre auf der theoretischen bolische Form explizierbar.

Grundlage Cassirers prinzipiell

als sym-

5. Kultur als Befreiung: Die ethische Besetzung der Kultur denn dann liegt, daß Cassirers nachdrücklich betontes Interesse am Moralisch-Praktischen nicht mehr zu Buche schlägt, kann es, nachdem damit die naheliegenden systematischen Hinderungsgründe durchgespielt und ausgeschlossen sind, nur noch eine Antwort geben: Weil dieses Interesse immer schon auf eine Weise zu Buche geschlagen hat, die eine angemessene systematische Würdigung in der Folge unmöglich zu machen scheint. Der Impuls zur praktischen Selbstbestimmung nämlich findet sich in der großen Kulturanthropologie von Anfang an so begriffen, daß freilich das Moment ihrer normativen Orientierung begrifflich im Vagen bleiben muß. Es gilt somit zu verstehen, daß und wie Cassirers gesamte Kulturphilosophie praktisch fundiert und ethisch bedeutsam ist. In der Tat ist die fundamentale Praktizität seiner kulturphilosophischen Konzeption unübersehbar. Der pragmatische ebenso wie der hermeneutische Sinn seiner Rekonstruktion der menschlichen Welt in den symbolialles dreht sich um den zentralen Begriff der praktischen Selbstbeschen Formen stimmung: so macht er selbst den Begriff der praktischen Selbstbestimmung in der Anwendung auf jede kulturelle Leistung zum Passepartout für das Verständnis aller Manifestationen menschlicher Aktivität. Der praktische Grundbegriff wird ubiquitär, und er oszilliert hier in sachhaltiger Unscharfe zwischen theoretischen und praktischen Akten der Bestimmung ebenso wie zwischen poiesis und praxis.

Auf die

Frage,

woran es

-

A.a.O., Hervorh. B.R. Siehe Orth, Von der Erkenntnistheorie

zur Kulturphilosophie, a.a.O., 23; 217; 222f. Ich kann dieAuffassung nur zustimmen und versuche daraufhin, die ethischen Elemente dieses Ansatzes explikativ deutlicher sichtbar zu machen. ser

165

Kultur ohne Moral?

Es gelingt Cassirer daraufhin offenbar gerade aufgrund der praktischen Präokkupation des gesamten Kulturverständnisses nicht, das Spezifikum der Moral wie nämlich Freiheit reflexiv zum Problem und normativ wird noch prägnant zu fassen. Zwar wird die gesamte Kultur so zum Gegenstand einer emphatischen Bewertung aber ohne daß im Rahmen dieser Theorie der kulturellen Vielfalt auch Kriterien der Unterscheidung von Arten oder von Graden der Freiheit zu Gebote stünden. Cassirer zeigt lediglich in seinen späten kulturkritischen und politischen Reflexionen, daß er über solche Kriterien verfügt er begründet sie nicht. Zweifellos vererbt sich mit der kulturtheoretisch-poietisch erweiterten Auffassung von Freiheit als Autonomie auch das Problem auf Cassirers Konzeption der Kultur, das die Kritiker immer wieder an der Kantischen (und Fichteschen) Erkenntnistheorie als einer transzendentalen Handlungstheorie beanstandet haben: Da die gesamte Welt qua Handlungszusammenhang auch immer schon unter dem spezifisch moralischen Aspekt der Verbindlichkeit, also: normativ beurteilt wird, muß sie uns auch zum Gegenstand unserer ungeteilten Verantwortung werden aber ohne daß uns das in den elementaren Handlungen, die mit dem so verstandenen Freiheitsbegriff bereits vorab bezeichnet sind, jemals im konzeptuell erforderlichen Ausmaß bewußt und damit verfügbar werden könnte. Wie schwer dieser Mangel gerade auch gemessen an den Optionen der eigenen Theorie zu nehmen ist, läßt sich daran ermessen, daß die durch Distanz gewonnene Verfügbarkeit das teleologische Ideal von Cassirers gesamter Konzeption symbolischer Formung als Befreiung durch Verobjektivierung ist. Um so mehr verlangt das theoretische System nach einer durchgeführten Moralphilosophie, die imstande wäre, die spezifische Differenz der Moral zu artikulieren und auf dieser Grundlage eine Ethik zu entwickeln. Ähnlich wie bei den Zeitgenossen Heidegger und Adorno entspricht dem Defizit der praktischen Philosophie auch bei Cassirer, daß sein gesamtes Denken ethisch imprägniert ist. Zwar äußert sich dies bei ihm nicht im Sinne einer fortwährenden Abwertung der Lebenspraxis des Menschen und der Verfassung seiner gesellschaftlichen Welt. Doch Cassirer sieht in allen menschlichen Äußerungen die Konkretisierung einer praktischen Energie: Die symbolischen Formen sind von vornherein nicht bloß Weisen -

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Siehe

exemplarisch

für viele Stellen: PhsFI, 10; 17f.; 39-44; ders., Die

Sprache

und der Aufbau,

a.a.O., bes. 126-139. So grundsätzlich auch Ernst Wolfgang Orth, Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer, in: Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, hg. von Helmut Bracken und Fritz Wefelmeyer, Frankfurt/M., 1990, 156-191, bes.: 177; 183; ders., Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart, in: ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a.a.O., 2-25, hier: 23.

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des Sinnverstehens, sondern zugleich auch der Erzeugung von Sinn. Es ist der Ansatz ausdrücklich bei der schöpferischen Spontaneität, der in allem auffällt. Und das Entscheidende: Diese Spontaneität ist in ihren artikulierten Formen nicht nur als Produktivität, sondern auch als Autonomie gefaßt, und das heißt: als Freiheit. Die kulturellen Formen sind nach Cassirer Formen der Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck (PhsFI, 10), Formen der Befreiung von der Befangenheit im bloß Sinnlichen durch die geistige Aktivität und Produktivität der Sinngebung. Jede kulturelle Form verdankt sich, so Cassirer, einer „ursprüngliche^] Tat des Geistes" (PhsFI, 9): In allen äußert sich „die Freiheit des geistigen Tuns" (PhsFI, 41). Alle Kultur ist Form der Freiheit. Kultur ist „der Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen" (VM, 345). Mit anderen Worten: Cassirers Anthropologie konkretisiert sich zur Kulturphilosophie in den Diversifizierungen einer transzendentalen Handlungstheorie oder wie es genauer zu fassen wäre: einer fundamentalen Theorie der Poiesis, in der die Unterschiede von Theorie und Praxis kurzgeschlossen sind.4 Daß der Begriff der Kultur dadurch zwischen poiesis und praxis, zwischen einer ästhetisch-technischen und einer ethischen Grundlegung schillert, macht aber nicht schlechtweg eine begriffliche Schwierigkeit im Umgang mit seinem Werk aus, sondern birgt auch ein sachhaltiges Faszinosum: Hier verschränken sich zwei Elemente des humanen Selbstverständnisses, die wahrscheinlich ohnehin nur analytisch auseinanderzuhalten sind. Sehr zum Vorteil eines angemessenen Verständnisses von Kultur, die damit vom Verdacht eines auch verzichtbaren Luxusphänomens befreit wird, indem sie von vornherein mit der ganzen Emphase des humanen Selbstverständnisses versehen ist sehr zum Schaden der moralphilosophischen Prägnanzl Denn Freiheit, wiewohl hier als Signatur eines grundlegend praktischen Selbstverständnisses unübersehbar, ist durch diese elementare Inanspruchnahme für eine poietische Grundlegung eben als moralischer Begriff nicht mehr hinreichend spezifizierbar. Nicht der geringste Effekt dieser Verwischung besteht darin, daß sich auf der Grundlage dieser Kulturphilosophie so wenig Konkretes zur Bewertung einzelner Formen der Kultur sagen läßt: Aus der pauschalen Bewertung der Kultur, die der Theoretiker in der praktischen Terminologie der Freiheit zu erkennen gibt, ist nichts abzuleiten für die Einstellung auf einzelne Kulturerzeugnisse und kulturelle Ereignisse. Gerade die Vielfalt der kulturellen Formen, das Nebeneinander von Sprache, Mythos, Religion, Geschichte, Kunst und Wissenschaft kann darin bestärken: Die Frage nach -

-

Jedes Verstehen von Bedeutung ist nach diesem Ansatz ihre Hervorbringung. Selbst die scheinbare Reproduktion hat in der Produktion eines Zeichens „eine ursprüngliche und autonome Lei-

stung

zur

Voraussetzung" (PhsFI, 21).

So bei Schwemmer, Ernst schen Formen, 212 f.

Cassirer, a.a.O., IV. Der Werkbegriff in der Metaphysik der symboli-

167

Kultur ohne Moral?

ist im Blick auf die einzelne Gestalt dort nicht zu entscheiden, wo es prinzipiell unterschiedliche Formen der Befreiung gibt. Hier spätestens wird das Fehlen eines feiner abgestimmten begrifflichen Instrumentariums unabweisbar, das mehr als bloß die pauschale Bewertung des Kulturprozesses Zwar wird die grundsätzliche Bewertung des gesamten Projekts menschlicher Kultur an diesem elementaren Bezug auf den Begriff der Freiheit unverkennbar. Hier, in der positiven Stellungnahme wird auch die ethische Besetzung der Kultur bei Cassirer immer wieder deutlich. Doch so einleuchtend und suggestiv dieser kulturtheoretische Fundamentalismus der Freiheit auf den ersten Blick ist, so gut es sich mit unsedie vorgängige Bewertung führt im ren intuitiven Stellungnahmen vereinbaren läßt ebenso wie das Schema des hervorbringenden Rahmen des theoretischen Entwurfs Handelns als solches nicht ohne weiteres zu jener bewußten Disziplin der Normierungen, die für das moralische Selbstverhältnis charakteristisch ist. Ja, sie verhindert geradezu deren systematischen Begriff. Was Cassirer seinen Vorgängern und Zeitgenossen in der Auseinandersetzung mit ihren Grundbegriffen ungezählte Male entgegenhält: Daß ein Ansatz bloß den Gattungsbegriff, aber nicht die spezifische Differenz gebe, passiert ihm hier selber. Der Grundbegriff der gesamten Kulturphilosophie ist der nämliche, den man als den Grundbegriff einer jeden Ethik zu fassen hat: Die zentrale Stelle der Moralphilosophie ist damit bereits „besetzt".

mehr oder

weniger Befreiung

ermöglicht.44

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Schwemmer geht dem Problem in der Frage nach, ob diese Grundlegung im Poietischen nicht auf einen „ästhetischen oder ästhetisierenden Relativismus" hinauslaufe und sieht die Lösung in dem Aufweis, daß Cassirer das „Maß der Wahrheit und der Sittlichkeit" (a.a.O., 216) in der Geschichte (und Tradition) sehe: Jede Neuschöpfung steht im Kontext einer Kultur und hat sich im Spannungsfeld ihrer Werte, ihrer Formen an ihren Errungenschaften zu bemessen (a.a.O., 215 f.). Anders als die in Kap. III (a.a.O., 127-195) vorgelegte Interpretation von Cassirers praktischem Ansatz, in welcher dessen im sorgfältig ausgebreiteten Textbefund deutlich auffallende Kantianische Elemente wie ein loses Ende der Theorie liegengelassen werden zugunsten der Projektion von Kategorien Charles Taylors, Alasdair Maclntyres und Schwemmers selber („moralische Ontologie", siehe a.a.O., 137 u.ö.; desgleichen: „moralischer Impuls"), durch die sich Cassirers Position wie ein reflektierter Kommunitarismus avant la lettre ausnimmt, kann sich diese Interpretation auf Anhaltspunkte in Cassirers Reflexionen stützen. Doch auch sie läßt das moralphilosophische Desiderat nur um so deutlicher werden. Zum einen verschiebt sich das Problem auf diese Weise nur von einem ästhetisierenden auf die Gefahr eines historisierenden Relativismus; zum anderen kann gerade die hier beschworene normative Macht des Historischen, wie jeder Konflikt in einer Kultur erfahrbar macht, in der Not der Orientierung auch versagen. Gerade dies aber markiert den Ort des Moralischen. -

Persönliches Ethos, Moral und Politik

168

6. Noch einmal: Zurück zu Kant! sich ein Vergleich auf, mit dem sich mehr als bloß eine Parallele aufweisen läßt. Es ist der Gedanke an Kant; an sein Programm, den Begriff von der transzendentalen, als einer absolut gedachten Freiheit in der praktischen Selbstbestimmung auszuzeichnen. Das menschliche Handeln ist demnach nicht vergleichbar der Tätigkeit eines Automaten, der sich schließlich auch selbst bewegt, nachdem er einmal den Impuls von außen bekommen hat. Es reicht Kant in seinem Freiheitsbegriff nicht, daß sich etwas selbst bewegt, es kommt darauf an, daß es sich von selbst bewegt. Freiheit muß gedacht werden als das Prinzip einer eigenen Kausalität, durch die das Subjekt ganz aus eigenem Impuls etwas anfangen kann, ja: „Freiheit eigentlich nur die Selbsttätigkeit, deren man sich bewußt ist."46 Das aber ist eine Bestimmung, die bei Kant nicht erst für das Subjekt des Handelns, sondern bereits für das Subjekt der Erkenntnis gilt. Dieser Zusammenhang ist bei Kant schon früh benannt, er wird durch den Charakter jener transzendentalen Handlungstheorie, als die er seine Theorie der Subjektivität anlegt, nur bestätigt: Auch das reine Selbstbewußtsein der transzendentalen Apperzeption ist reine Selbsttätigkeit, deutlicher: das „Ich denke" ist eine Handlung des Verstandes. Zwar kann man nicht sagen, daß Kant daraufhin das praktische Handeln gegenüber dem reinen Verstandesakt nicht hinlänglich spezifiziert hätte. Jene Handlung, die in der Bestimmung von Gegenständen durch die doppelseitige Synthesis des reinen Verstandes erfolgt und die praktische Selbstbestimmung, in die zwar auch immer ein Urteil eingewirkt ist, welches aber von vornherein auf die Verwirklichung des in ihm Begriffenen in einem äußeren Einsatz, einem praktischen Vollzug angelegt ist, sind deutlich zu unterscheiden. Vom Begriff der Freiheit selbst kann man das leider nicht sagen. So sagt Kant beispielsweise im Vorfeld der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft, in der Metaphysik Pölitz: Im Blick auf dies Problem

drängt

-

„Das Ich beweiset, daß ich selbst handele, ich bin ein Prinzip, kein Principiatum [...] Wenn ich sage: Ich denke, ich handele, usw. dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei".

vor allem Kants höchst aufschlußreiche Abgrenzung zur „Freiheit eines Bratenwenders" (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. V, 97) und eines Vaucansonschen Automaten (101).

Siehe

Ders., Refl. 4220, Akademie-Ausgabe, Bd. XVII, 462. Ders., Metaphysik Ll Kosmologie, Theologie nach Pölitz, Akademie-Ausgabe, Bd. XXVIII/1, 268 f. Die

Metaphysik Pölitz fällt wahrscheinlich in den Zeitraum

1779/80.

169

Kultur ohne Moral?

Die Stelle ist exemplarisch: In dieser Weise bleibt wie hier Ende der siebziger Jahre der Begriff der Freiheit in der gesamten kritischen Philosophie bis zuletzt ein Begriff, der für alle subjektiven Vollzüge, die theoretischen und die praktischen und schließlich auch die ästhetischen -, in gleicher Weise gilt. Der Interpret Cassirer hat diesen transzendentalen Hintersinn des Kantischen Freiheitsverständnisses deutlich gesehen. Unter dem Titel einer Analogie zwischen dem „Willensproblem" und dem „Wahrheitsproblem" weist er hin auf dies theoretisch-praktische Oszillieren, auf die grundsätzliche Praktizität auch der theoretischen Vernunftleistung, wenn er denselben Begriff von Autonomie, der für Kant als Bestimmung des reinen Willens zum Thema wird, auch schon als den „Kern der Kritik an den reinen Verstandesbegriffen" begreift, „denen Kant, in einem weiteren Sinne des Begriffs, 49 gleichfalls ,Autonomie' zuschreibt". -

„Die Autonomie des Willens und die Autonomie des Gedankens bedingen einander und weisen

wechselseitig aufeinander hin."

Was Cassirer hier deutlich sieht, ist letztlich, daß sich bei Kant zwischen und Autonomie nicht in letzter Instanz unterscheiden läßt:

Spontaneität

„So endet Kants theoretische Philosophie mit genau demselben Ergebnis, mit welchem seine ethische Lehre beginnt. Der Gedanke der Autonomie, die Forderung der Selbstgesetzgebung der Erkenntnis und des Willens bildet das Grundthema, das beide vereint und zusammenschließt. [...] Denken und Tun hängen in der reinen Spontaneität zusammen und weisen auf sie als ihre tiefste Wurzel zurück."

Es ist diese sachhaltige Unscharfe, die Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen fortführt. Wenn er also bereits mit der Lösung der Fixierung auf das Erkenntnisproblem, die sich im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in der Zuwendung zur Geistesgeschichte und zur Kulturphilosophie vollzieht, wenn er mit einer Kant-Interpretation, die frei ist von der Engführung der Erkenntnistheorie als Wissenschaftstheorie, wenn er schließlich in der Bemühung um eine realistische Theorie der menschlichen Wirklichkeit in der Philosophie der symbolischen Formen weit davon entfernt ist, ein Neu-Kantianer im Sinne der geläufigen Vorurteile zu sein: Mit der aus der kritischen Philosophie übernommenen Problematik seines Freiheitsbegriffs, der den auf theoretische und praktische Leistungen des Subjekts bezogenen transzendentalen Aktivismus aller Spontaneität umfaßt, bleibt er ein Kantianer. Offenkundig hat dessen doppelte Perspektive zwar Kant selbst nicht daran gehindert, eine praktische Philosophie und darin sogar nach der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auch noch eine Ethik zu -

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Cassirer, Freiheit und Form, a.a.O., 167. A.a.O., 160. A.a.O., 166. A.a.O., 176.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

170

entwickeln. Wohl besteht durch die Fassung schon der Erkenntnistheorie als einer transzendentalen Handlungstheorie das vielfach beanstandete und weitgehend bearbeitete Problem einer Systematik der reinen Vernunft, die theoretische von der praktischen Leistung trennscharf zu differenzieren. Immerhin aber bietet Kant mit seinem Begriff von der Moralität als dem „Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens"52 einen brauchbaren Hinweis zur begrifflichen Spezifizierung der praktischen Freiheit im Rahmen seiner vermögenstheoretischen Konzeption, indem er zu verstehen gibt, worin der Unterschied zwischen Freiheit als der Spontaneität des Erkennens und als der Selbstbestimmung des Handelns zu sehen ist: In der Moral als dem normativen Element unserer Selbstbestimmung im Handeln wird unsere Freiheit zum ausdrücklichen Problem und darin mit der Nötigung der praktischen Selbstverwirklichung zugleich reflexiv. Im Rahmen einer kulturtheoretisch ausgreifenden Philosophie der symbolischen Formen, die sich in allem immer auch um Formen menschlicher Praxis dreht, machen sich die Schwierigkeiten, diese Reflexivität auch methodisch als die spezifische Differenz eines genuinen Kulturbereichs auszuzeichnen, freilich in ganz anderer Weise geltend und verhindern eben die erforderte spezifische Fassung der Moral. An diesem Problem wird eines ganz deutlich: Die Frage nach dem moralphilosophischen Defizit in der expliziten Systematik der symbolischen Formen ist in ihrer Bedeutsamkeit keineswegs auf die Philosophie Ernst Cassirers beschränkt. Cassirers Schwierigkeiten zu thematisieren, bietet vielmehr die Möglichkeit, gleichsam wie an einem Präparat zu zeigen, was zu einer Ethik in Anerkennung der anthropologischen, kulturtheoretischen Komplexität und der moralphilosophisch erforderten Prägnanz begrifflich gebraucht wird. Ganz unabhängig davon, ob wir die hier zugrundeliegende Kategorienverschleifung als einen vermeidbaren Fehler oder im Blick auf den Charakter der Kultur als den angemessenen Ausdruck für die Eigenart des Systems ansehen, ganz unabhängig davon, ob wir uns im Ausgang oder nur in der Abwendung von Cassirer eine hinreichend spezifische Fassung der Moral zutrauen eines ist im Interesse an hermeneutischer Gerechtigkeit festzuhalten: Was eine Ethik auf der Grundlage von Cassirers Kulturphilosophie an der konsequenten begrifflichen Entwicklung hindert, ist nicht der mangelnde Sinn für das Praktische oder ein Mangel an praktischen Begriffen; es ist im Gegenteil gerade die hohe praktische Appetenz, der Ausgang von der Praktizität aller geistigen Tätigkeit,53 mit dem im Grunde alle prägnanten Äußerungen schon als Form der Selbstbestimmung begriffen sind, so daß die spezifische Differenz der moralischen Fragestellung freilich im Ansatz steckenbleibt. Die These, die in den zentralen Kapiteln dieses Buches dargelegt werden soll, ist aber, daß wir nicht allein mit Blick auf das persönliche Ethos eines weltbürgerlichen -

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Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Siehe PhsF II, 205; 235 f. und PhsF III, 44.

Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 439.

Kultur ohne Moral?

171

Gelehrten von ungewöhnlicher Urteilskraft und Integrität, sondern auch mit Blick auf die Konzeption seiner Philosophie von einer ungeschriebenen Ethik sprechen können und dies, ohne daß wir es hier nötig hätten, das geschriebene Werk geheimniskrämerisch abzuwerten. Unvermerkt findet sich nämlich in Cassirers Konzeption der Kultur ein spezifisch auf das Problem der Moral hinauslaufender Gedanke, der erkennen läßt, wie deutlich er das praktische Problem der Verantwortlichkeit für die Kultur vor Augen hat, der klarer erkennbar macht, wie seine eigene Theorie der Kultur unter dem Primat des Praktischen steht und der uns überdies eine genauere Mutmaßung erlaubt, wieso Cassirer keine Ethik geschrieben hat. -

III. Das Ethos der Freiheit. Ernst Cassirers ungeschriebene Ethik und ihre Postulatenlehre

1.

Georg Simmel: Die „Tragödie der Kultur"

nach diesem Überblick über die Ansätze zur praktischen Philosophie im gesamten Werk Cassirers und nach der Reflexion auf mögliche Gründe für das Fehlen einer durchgeführten Ethik nunmehr darum gehen muß, im engeren Sinne ethische Motive seiner Kulturphilosophie erkennbar zu machen, so ist vor allem an jene Kontroverse zu erinnern, an der sich zeigen kann, daß und wie der Begriff von Kultur für Cassirer immer schon evaluativ und normativ besetzt ist; auf diese Weise läßt sich am Beispiel seiner Einschätzung zugleich die Einsicht in die praktischen Implikationen und praktischen Konsequenzen von Theorien der Kultur exemplarisch darstellen. Die Rede ist von der virtuellen Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer über die Tragödie der Kultur: Simmeis Aufsätze zu diesem Thema stammen aus den Jahren zwischen 1912 und 1918, und Cassirer hat sich erst 1942, lange nach Simmeis Tod, ausdrücklich auf ihn zurückbezogen zu einem Zeitpunkt, da seine eigene Philosophie der Kultur bereits vorlag. Simmeis Philosophie der Kultur, wie er sie in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts entwickelt, dürfte in wesentlichen Punkten unstrittig sein. Er grenzt die Kultur gegen den natürlichen Nexus der kausalen Determination ab, er sieht ihren UrWenn

es

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sprung in der ideologischen Eigenart des menschlichen Handelns, ergänzt diese Bestimmung aber durch die Insistenz auf dem normativen Charakter unseres Kulturbe-

Philosophie des Geldes von 1900 enthält ein umfangreiches Kapitel, in dem die grundlegenden Begiffe der Kultur entwickelt werden (Georg Simmel, Philosophie des Geldes, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Gesamtausgabe Band 6, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1989, Sechstes Kapitel: Der Stil des Lebens, 591-716). In der großen Soziologie von 1908 untersucht Simmel mit den Formen der Vergesellschaftung in den Wechselwirkungen zwischen den Menschen auch die elementare kulturelle Dynamik und in einer Reihe von kulturphilosophischen Aufsätzen erweitert und vertieft er seit 1908 die dort angelegte Theorie der Kultur (Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarete Susmann hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957; ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von Michael Landmann, FrankSchon seine

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furt/M.

1968).

Das Ethos

der

173

Freiheit

griffs: Wir verbinden mit dem Begriff eine positive Bewertung, die es uns intuitiv unmöglich macht, eine destruktive Tat, auch wenn sie die Bedingung der ideologischen Intention erfüllt, als ein Element der Kultur zu begreifen. Er stellt den anthropozentrischen Fluchtpunkt aller Kultivierung heraus: Wenn wir auch unser Handeln auf alles Mögliche erstrecken, so haben wir es dabei doch immer auch mit uns selbst zu tun. ,,[N]ur der Mensch" ist für Simmel „der eigentliche Gegenstand der Kultur".' Diese ist der „Weg der Seele zu sich selbst". „Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zu entfalteten Einheit",' die Vollendung der menschlichen Seele auf dem „Umweg" über die Objekte. Damit ist ein weiteres Kriterium angesprochen, durch das auch erkennbar wird, wieso wir destruktive Akte trotz ihrer ideologischen Struktur nicht zur Kultur rechnen: Von Kultur ist nur dort zu sprechen, wo sich menschliche Zwecksetzungen auch im Werk verobjektivieren. Freilich sind es für Simmel nicht nur die von Menschen geschaffenen materiellen Dinge, „die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren", sondern neben der Kunst und der Technik auch das Recht, die Religion, die Wissenschaft und die Sitte. Indem wir den Werkcharakter der Resultate einer Tätigkeit, die letztlich der menschlichen „Seele" entspringe, betont sehen, verstehen wir auch Simmeis Theorem des Doppelaspekts von „objektiver Kultur" als dem, was in der Sachreihe der Hervorbringungen erreicht wird und „subjektiver Kultur" als dem Zustand, in den sich die Menschen durch den Kulturprozeß bringen. Daß er diese Unterscheidung ausdrücklich als eine Diskrepanz oder einen Dualismus begreift, scheint es aber zu erlauben, das KonGeorg Simmel, Vom Wesen der Kultur (1908), in:

Brücke und Tür, a.a.O., 86f. A.a.O., 88. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1912/13), in: ders., Das individuelle Gesetz, a.a.O., 195. Der Aufsatz wird im folgenden als „Tragödie" zitiert. A.a.O., 118. Simmel, Vom Wesen der Kultur, a.a.O., 90. Dies muß schon mitgedacht werden, wenn Simmel zunächst allein die Einsicht in den normativen Charakter des Kulturbegriffs am suggestiven Beispiel eines Schuljungen vorführt, der dem anderen ein Bein stellt (a.a.O., 87; vgl. oben Teil A, Kap. I, 1): Die Tat ist nicht allein verwerflich, sie -

ist auch nicht intentional auf ein Werk bezogen. Simmel, Tragödie, a.a.O., 116. All dies hat nichts Problematisches. Einzig die spekulative Dimension seines philosophischen Kulturbegriffs dürfte für den heutigen Kulturtheoretiker etwas Überraschendes haben die von Simmel behauptete Notwendigkeit einer grundlegenden Affinität dieser tätigen Intention und der Strukturen ihres anderen: Es muß eine vorgängige Entsprechung denkbar sein zwischen Natur und Kultur, wenn diese möglich sein soll (Simmel, Vom Wesen der Kultur, a.a.O., 87 ff). Das Problem ist freilich in der Sache keineswegs neu. Mit diesem Postulat ist nicht mehr gefordert als die denkbare Einheit von Naturbegriffen und Freiheitsbegriffen, deren Nachweis für Kant die systematische Nötigung zu seiner dritten Kritik ausmachte. Simmel, Tragödie, a.a.O., 122; 133; 134. -

-

174

Persönliches Ethos, Moral und Politik

fliktpotential der Kultur und damit eine für das moderne Selbstverständnis charakteristische Verunsicherung stärker zu pointieren. Es sind der Begriff der objektiven Kultur und seine Entgegensetzung zur subjektiven, die es möglich machen, auch die Eigendynamik der kulturellen Entwicklung zu fassen: ihre Verselbständigung zum Sachzwang. In seinem Aufsatz von 1912 faßt Simmel die in der Teilung und Spezialisierung der Arbeit entspringende Tendenz zur Verselbständigung der Werke gegen die Menschen ausdrücklich als die Tragödie der Kultur. Eigentlich ist alles, was der Mensch hervorbringt, eine Weise seiner Selbstentfaltung. Der arbeitsteilige Prozeß der Kultur führt aber zwangsläufig zu einer Anhäufung und Verselbständigung der Objekte gegen ihre Urheber, und damit zu einem Syndrom der Überforderung durch die eigenen Produkte. Die Menschen haben mit zunehmendem Fortschritt keine Chance mehr, sich die „objektive Kultur" zum Vorteil ihrer „subjektiven Kultur" anzueignen. Es geht daraufhin den Subjekten namentlich in der Moderne wie dem Zauberlehrling in Goethes Gedicht: Sie können die Geister, die sie selbst gerufen haben, weder beherrschen noch loswerden. Und die Klaustrophobie angesichts dessen, was einem da als geschlossene Front über den Kopf gewachsen scheint, ist der Kulturpessimismus. Von dem Problem, das mit der These von der Tragödie der Kultur berührt ist, kann uns keine kulturelle Entwicklung befreien, weil es sich selbst aus dem Wesen der kulturellen Entwicklung ergibt und mit jeder ihrer Errungenschaften reproduziert. In dieser Einsicht liegt auch der Grund, daß Simmel nicht schlicht von Schwierigkeiten oder Problemen, sondern von der „Tragödie der Kultur" spricht. „Denn als ein tragisches Verhängnis

im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine Positivität aufgebaut hat. Es ist der Begriff der Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben dadurch ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert". -

-

A.a.O., 142 f.

175

Das Ethos der Freiheit

2.

„..

.Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist

groß!" wenige Interpreten haben seither in diesem Theorem eine diagnostische und prognostische Stärke Simmeis als eines Theoretikers der Moderne gesehen. Nicht so Ernst Cassirer, der 1942 auf das Problem zurückkommt. Auch im eindringenden Nachvollzug der kulturkritischen Diagnose findet Cassirer deren begriffliche Pointe alles andere als einleuchtend und weist die tragische Auffassung der Kultur entschieden zuNicht

rück.

Auf welcher Grundlage? Verschließt Cassirer die Augen vor den Spannungen und Brüchen in unserem Kulturverhältnis? Am Grunde von Cassirers Kritik ist ersichtlich kein harmonistisches Weltbild wirksam wohl aber ein humanistisches Selbstverständnis. Cassirer sieht generell im Blick auf die Spannungen, Konflikte und Krisen der Kultur keinen guten Grund, dieses humanistische Selbstverständnis zur Disposition zu stellen. Im Gegenteil ist ihm bewußt, daß dieses seine Funktion immer schon und immer wieder allein im Hinblick auf jene Probleme zu erweisen hat. Die epistemologische Naivität des unbegriffenen naturalistischen Fehlschlusses, welcher der zeitgenössischen Kritik so gern unterläuft so als wäre eine Position des Humanismus nur so lange vertretbar, wie es die Zustände in der Welt eben zulassen -, verbietet sich durch die Einsicht in das immer schon normative Element jeden Humanismus'. Diese Einsicht, in welcher der normative Begriff der Kultur kulminiert, bildet den systematischen Hintergrund von Cassirers philosophischem Werk. Auch nach Cassirers in der Untersuchung der kulturellen Symbolismen entwickelter Einsicht gibt es ein genuin dem Prozeß der Kultivierung entspringendes Konfliktpotential: Er faßt den agonalen Charakter der Kultur ausdrücklich im Begriff der „Antinomien des Kulturbegriffs" (PhsFI, 11) und erklärt ihn aus der Eigendynamik, durch die sie die Bereiche der Kultur in ihrer Entwicklung gegeneinander verselbständigen und in Konflikt geraten. Widerstreit, Konflikt, Krise, nicht zuletzt die unausweichliche Span-

-

Es ist gelegentlich darauf hingewiesen worden, daß Simmel mit seiner These von der Tragödie der Kultur einen Beitrag zu einer Theorie der Moderne leistet; so Hartmut Scheible, Georg Simmel und die „Tragödie der Kultur", in: Neue Rundschau 91, 1980, 133-164, hier: 150f Doch angesichts eines so deutlich geschichtsphilosophischen Denkens ist der Distinktionswert dieser In-

terpretationsthese fragwürdig. Ernst Cassirer, Die „Tragödie der Kultur", in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., 103-127 (im folgenden zitiert als „TK"), bes. 105; 109. Siehe Enno Rudolph, Cassirers Rezeption des Renaissancehumanismus, in: ders., Ernst Cassirer im Kontext,

a.a.O., 98-111.

Persönliches

176

Ethos, Moral und Politik

nung zwischen Tradition und Innovation, bilden demnach die seins.

Regel

des Kulturbewußt-

14

Von diesem Befund geht Cassirer aus und kann gerade deshalb die Diagnose einer Tragödie der Kultur nicht nachvollziehen. Denn die Dramatisierung der Schwierigkeiten in der Kultur beruht auf einer falschen Ontologisierung und kommt der Verkennung einer konstitutiven Bedingung gleich, die in der Kulturleistung immer wieder aufzunehmen und zu bearbeiten ist. Folgt man seiner Argumentation, so liegt dieser Diagnose eine Hypostase zugrunde, eine Verkennung des ontologischen Problems der Kultur: Erst die mit objektivistischem Gestus dämonisierende Theorie macht sich in der Unterschätzung der elementaren Wechselwirkung, der kommunikativen Dynamik der Kultur, jener Verdinglichung schuldig, die sie den Verhältnissen als ihre Ausweglosigkeit vorhält. Für ihn offenbart sich Simmel mit seiner Exposition vor allem als ein Mystiker, weil er mit seiner tragischen Sicht eine geheime Idealvorstellung zu erkennen gibt, die nach Cassirer theoretisch haltlos ist und praktisch nur zu überspannten Erwartungen führen kann: Es sei das Ideal der Einheit von Ich und äußerer Welt, das zu jener Dämonisierung führe, mit der die Verselbständigung der Objekte gegen die Subjekte als das letzte Wort genommen wird, so als bliebe der Prozeß an irgendeiner Stelle stehen.1 Nach Cassirer haben wir diese Verselbständigung vielmehr als eine konstitutive, und das heißt hier: eine immer wieder eintretende und immer wieder zu überwindende Phase des kulturellen Prozesses zu Was Simmel als die „Tragödie der Kul-

begreifen.17

Im Essay on Man faßt Cassirer die „funktionale Einheit" des Menschen ausdrücklich in der „Koexistenz von Gegensätzen" im „doppelten Akt von Identifizierung und Abgrenzung", der in jeder kulturellen Leistung zu sehen ist und im darin entspringenden Dualismus von Tradition und Innovation (VM, 337; 338; 339). Es ist deutlich erkennbar, daß Cassirers eigene Aufnahme von Simmeis Metaphorik des Dramas eine rhetorische Strategie teils des distanzierenden Zitats (siehe in Anführungszeichen die korrigierende Rede von der „Katharsis", in: TK, 113), teils der Differenzierung zum Zweck einer umso entschiedeneren Abgrenzung in der Sache darstellt: So läßt gerade Cassirers eigene Rede vom „Drama der Kultur" (TK, 123) erkennen, wie weit er davon entfernt ist, die Kultur als ein theatralisches Ereignis konzipieren zu wollen: Drama ist die von den dramatis personis vollzogene Handlung. In dem posthum erschienenen vierten Band des Buches über Das Erkenntnisproblem verwendet Cassirer den Begriff der „Tragödie der Kultur" zur Beschreibung des Ansatzes von Jacob Burckhardt (ECW 5, 318). Was Cassirer an Simmeis Theorie beanstandet, ist auch ein Hegelianismus: die Auszeichnung des objektiven vor dem subjektiven Geist. Cassirer belegt diese Verselbständigung mit der Metapher der „harten Schale", die sich um das Individuum legt (TK, 105) und erinnert so an Max Webers Formulierung, der den wesentlichen Aspekt dieses Vorgangs, die Verselbständigung von Technik und von Institutionen im Prozeß der Rationalisierung der Moderne, mit der Metapher vom stählernen Gehäuse veranschaulicht hatte. -

-

Das Ethos

tur"

der

177

Freiheit

beschreibt, ist für Cassirer „die dialektische Struktur des Kulturbewußtseins" (TK,

105). am Ende dieses Weges steht nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das ,Du', das andere Subjekt, das dieses Werk empfangt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. Jetzt erst zeigt sich, welcher Lösung die .Tragödie der Kultur' fähig ist. Solange nicht der .Gegenspieler' zum Ich hervorgetreten ist, kann sich der Kreis nicht schließen." (TK, 110)

„Denn

Im Werk, so macht Cassirer geltend, ist schließlich nicht mehr zu sehen ist „als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat" (TK, 127) die aber immer in den kommunikativen Zusammenhang der sozialen Situation eingebunden ist; deshalb bleibt das Werk bei aller Bedeutsamkeit doch immer nur „ein Durchgangspunkt" (TK, 110)ein „Vermittler zwischen Ich und Du" (TK, 111). Cassirer, soviel wird deutlich, bestreitet somit den Dualismus zwischen objektiver und subjektiver Kultur: Mit der dreistrahligen Relation zwischen Ich, Du und Werk hebt er so zugleich die konstruktive Funktion und das kommunikative Element jedes kulturellen Werkes als integral ins Bewußtsein. Was Cassirer mit dem Hinweis auf die Dialektik und damit auf die Permanenz des Prozesses kultureller Auseinandersetzung vertritt, kommt einer positiven Arbeitshypothese gleich. Doch von dem metaphysischen Optimismus, die Kultur als eine prästabilierte Harmonie zu begreifen, ist er weit entfernt. Was er in seinen Reflexionen behauptet, ist ein praktischer Optimismus. Auch für ihn ist die Kultur -

„kein ruhiger Ablauf, sondern sie ist ein Tun, das stets von neuem einsetzen muß, und das seines Zieles niemals sicher ist. [...] Alles, was sie aufgebaut hat, droht ihr immer wieder unter den Händen

zu

zerbrechen."

(TK, 109)

Er markiert damit ausdrücklich auch in diesem späten Text den agonalen Charakter der Kultur (TK, 113), er betont generell den Charakter von „Wettstreit und Widerstreit" (TK, 123; vgl. auch 104; 113). Die systematische Konzeption einer Philosophie der Kultur findet sich in solchen Einschätzungen bestärkt durch das wache Problembewußtsein des Zeitgenossen. Ausdrücklich mit Blick auf die Katastrophe des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges greift Cassirer diese Einsicht in dem nur wenig später geschriebenen Myth of the State auf, wenn er sagt: „Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die [sie!] wir sie einst hielten. |... ] Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und

18

19

unsere

soziale

Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können."

Siehe dazu Recki, Art. „Werk", a.a.O. Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 389.

178

Persönliches Ethos, Moral und Politik

3. Ethische Implikationen des Kulturbegriffs: Eine Postulatenlehre zur Befestigung der praktischen Zuversicht Entscheidend wird dann aber, so wäre die systematische Affinität dieser Überlegungen einer ethischen Position zu verdeutlichen, wie wir uns auf diese Erschütterungen und die von ihnen ausgehende Herausforderung einstellen. Damit sind wir im Zentrum der Ausgangsfrage. Es hat bereits einen unübersehbar praktischen Sinn, „jene Verfestigung, die das Leben in den verschiedenen Formen der Kultur, in Sprache, Religion und Kunst erfährt", dabei nicht schlechthin als Gegensatz zum Ich zu stilisieren, sondern darin eine funktionale Voraussetzung seiner selbstverständlich stets graduellen Selbstverwirklichung zu sehen (vgl. TK, 108). Denn Kultur zeigt sich gerade in ihrer unablässigen Herausforderung, eben: durch die „dialektische Struktur des Kulturbewußtseins", auch als eine Krise, die stets aufs neue bewältigt werden muß. Und eine Theorie, die dies zu explizieren versteht, empfiehlt sich in der Artikulation des damit verbundenen Appells von vornherein als ein Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderung. Wir stoßen somit schon in der Akzeptanz dieser deskriptiven Bestandsaufnahme auf eine normative Implikation und damit auf ein ethisches Element. Die hier skizzierte Debatte handelt somit implizit auch von den normativen Konsequenzen einer Theorie der Gesellschaft oder der Kultur. Der Einwand, den Cassirer gegen Simmel vorbringt, bezieht sich auf die Unabsehbarkeit menschlicher Spontaneität, und er rückt mit der Frage nach dem Zusammenhang von Theorie und Praxis ein Moment der ethischen Besetzung der Kultur als solcher in den Vordergrund und damit generell den Aspekt der konstruktiven oder destruktiven praktischen Implikate von Theorie in den Blick. Die Moral von der Geschieht', die hier denkbar unprätentiös artikuliert ist und deshalb leicht übersehen werden kann: Die Akzeptanz der Krise der Kultur bekräftigt das Ethos der Freiheit. Zu verdeutlichen ist dies im Kontrast zu Simmeis Position. Auch in ihr nämlich macht sich eine ethische Besetzung der Kultur geltend, obwohl im Begriff der „Tragödie der Kultur" augenscheinlich eine Ästhetisierung der Probleme näher liegt. Georg Simmel hat einen ausgeprägten Sinn für die Besonderheit der Phänomene. Er ist der Metaphysiker mit dem ästhetischen Blick, der selbst noch im Unscheinbarsten und Kleinsten etwas Bedeutsames zu sehen versteht, der über die symbolische, die exemplarische, die metaphorische Methode der Reflexion verfügt wie kaum ein anderer. Simmel ist Ästhetiker.20 Allenthalben kommt der Reichtum der ästhetischen Reflexionsfiguren zu

-

-

-

-

Siehe Ernst Wolfgang Orth, Simmel, in: Julian Nida-Rümelin /Monika Betzier und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1998, 745-752.

(Hg.), Ästhetik

Das Ethos der Freiheit

179

nicht nur der Subtilität seines Denkens über Phänomene der im weitesten Sinne künstlerischen Gestaltung, sondern vor allem auch der Anschaulichkeit seiner Theorie der sozialen Wechselwirkungen, seiner Theorie des Lebens, seiner Kulturphilosophie zugute. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet Simmel, der uns in seiner Soziologie und in seiner Philosophie des Schauspielers mit die ersten Beiträge zur konstitutiven Funktion der Rolle für das gesellschaftliche Verhalten hinterlassen hat, einen grundlegenden Konflikt der Kultur mit dem literaturästhetischen Begriff der Tragödie belegt. Zwar geht die Kunstform der Tragödie ihrerseits zurück auf die tragische Einsicht in die Schrecknisse eines stets vom Tod bedrohten, fragilen Lebens und ist insofern mehr als bloß ästhetisch. Prägnant wird dies in der Moderne an der engen Bindung eines emphatischen Programms der Lebenskunst an21 die mit der attischen Tragödie verknüpfte tragische Einsicht bei Friedrich Nietzsche. Aber von Nietzsches in vielem so überschwenglicher „Artisten-Metaphysik" kann man im historischen Rückblick auf die Anfänge der abendländischen Kultur vor allem eines lernen: Hat sich die Tragödie einmal als sublimierende Umgangsform mit dem Tragischen entwickelt, dann liegt die Haltung des ästhetisch genießenden oder ästhetisch ergriffenen Betrachters nahe. Dies markiert eine Position, welche die Kultur als eine ihrer Möglichkeiten entwickelt und in der Funktion des produktiven Distanzgewinns auch braucht. Es ist allerdings nur eine der Möglichkeiten, nur eine der Funktionen, welche die Kultur als reflexive Instanz nötig hat. Sie allein reicht nicht aus; sie zu verabsolutieren, muß zu völlig unangemessenen Formen der Praxis führen. Sollen wir uns denn gegenüber den Problemen unserer Kultur als „standhafte Zuschauer ästhetischer Leiden" (Jean Paul) verhalten? Das damit verbundene Problem läßt sich zunächst am extremen Fall deutlich machen: Das Leben der anderen mag bis zu einem gewissen Maße als Drama zu rezipieren sein. Für das eigene Leben dürfte die dazu erforderliche Einstellung verhaltener Ergriffenheit nur in Ausnahmefällen zu realisieren sein, weil es uns hier darauf ankommen muß. Wem es auf Dauer gelänge, zum eigenen Leben auf ästhetische Distanz zu gehen, dem fehlte der Sinn für das Wesentliche. In der Dialektik von

Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1; ders., Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, a.a.O.; siehe zu Nietzsches ästhetischem Denken Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988; Günter Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999, „II. Zeit und Sein und Kunst"; Birgit Recki, „ArtistenMetaphysik" und ästhetisches Ethos. Friedrich Nietzsche über Ästhetik und Ethik, in: Falsche

Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, hg. von Andrea Kern und Ruth Sonderegger, Frankfurt/M. 2002, 262-285; Rüdiger Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, München/Wien 2000, Erstes und Viertes Kapitel.

180

Persönliches Ethos, Moral und Politik

Identität und Distanz

entspringt im Selbstverhältnis auch die Moral als das22 im Probleme entspringende Bewußtsein, daß es auf unser Handeln ankommt.

Blick auf

Die damit umschriebene Einsicht markiert die Grenze des Ästhetischen am existenziellen Ernst, der immer auch der Ernst der praktischen Stellungnahme ist. Wer sich dies am Fall der eigenen Betroffenheit, am privilegierten Grenzwert des eigenen Lebens einmal klargemacht hat, dem kann letztlich nicht zweifelhaft bleiben, wieso dies auch für den Umgang mit dem Leben der anderen nur recht und billig ist. Damit ist aber auch die Grenze beschrieben, jenseits derer der Begriff der „Tragödie der Kultur" sich als fragwürdige Hypothese erweisen muß. Dabei finden wir Simmeis ästhetisierende Betrachtung, die letztlich nur die Wahl läßt zwischen einem individualistischen Defaitismus und einem ähnlich kapriziösen Dezisionismus, geradezu grundiert durch eine normativ-ethische Präokkupation, die ihm in der Orientierung an einem starren Maßstab systematisch eine Rückzugsposition nahelegt. Es ist ja nicht wirklich so, daß sich da eine Front von Kulturgütern verselbständigte, die von den Subjekten in keiner Weise mehr angeeignet und damit nicht mehr in den lebendigen Prozeß der Kultivierung eingebracht werden könnten. Irgendeine Weise von Aufnahme und Aneignung, von Rezeption und Realisierung, findet immer statt. Dies zu betonen genügt nur offenbar nicht dem kulturkonservativen Absolutheitskriterium auf Vollständigkeit und Werktreue, das in Simmeis Position unausgesprochen mitwirkt. In Ergänzung dessen, was Cassirer über das Ideal der Einheit von Ich und äußerer Welt beanstandet hat, kommt hierin ein weiterer Aspekt jenes mystischen Objektivismus zum Tragen: Es ist das Ideal der einheitlich durchgebildeten Persönlichkeit,24 dem der Objektivismus des Festhaltens an einem vollständigen, wie kanonischen Kulturbestand entspricht, was Simmel geschichtsphilosophisch normativ argumentieren läßt. Darin droht ihm mit dem Sinn für die Plastizität des Menschen im Prozeß der Kultur auch der Sinn für die Plastizität der Kultur als Prozeß abhandenzukommen. Die Klage über deren Tragödie zeigt den unreflektierten Anspruch dessen, der alles und der und sich nicht klar macht, daß es nicht geben kann, was es objektiv richtig haben will er da verlangt. Ihm werden die Subjekte zu festgenagelten Instanzen im Zustand der Er-

starrung.

Dagegen artikuliert sich in Cassirers Auffassung von der konstitutiven Krise der Kultur mit der Einsicht in die Plastizität und den Bedeutungswandel menschlicher Hervorbringung auch das Ethos der Freiheit. Sein kulturphilosophisches Postulat von der systematischen Ansatz bei Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999. Siehe z.B. Georg Simmel, „Werde was du bist" (1915), in: ders., Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, 146 ff. So ausdrücklich bereits in Simmel, Vom Wesen der Kultur, a.a.O., 92. Siehe dazu den

Das Ethos

der

Freiheit

181

entspringenden Lebendigkeit des kulturellen Prozesses in der kommunikativen Vermittlung ergibt sich als Konsequenz der transzendentalen Einsicht in die unabdingbare Spontaneität und unabsehbare Produktivität menschlichen Agierens und Reagierens. Es erfüllt sich in der Bereitschaft zur grundsätzlichen Offenheit gegen die zwangsläufigen Partikularisierungen im Prozeß einer stets individuellen Aneignung und Ausprägung der Kultur. Ganz deutlich wird dies in Cassirers exemplarischem Verimmer wieder

neu

weis auf die Renaissance: Die Erinnerung an ihren von Grund auf ebenso emphatischen wie selbständigen Umgang mit der Antike (TK, 111 f.) soll die Einsicht vermitteln, daß das Angeeignete niemals dasselbe bleibt. Tradition und Innovation bilden die Pole des Transformationsprozesses, als der die Kultur begriffen werden muß. Jacob Burckhardt, auf dessen Renaissancestudien sich Cassirer in diesem Zusammenhang bezieht, hatte dies schon in seiner grundsätzlichen Bestimmung der höheren Kulturen durch die Fähigkeit zu Renaissancen getroffen. Nach Cassirer ist die Kultur als solche ihre eigene permanente Renaissance. Sie kann und muß dies sein, da sie vom Menschen ausgeht und durch ihn immer wieder hindurch muß: „Dieser Prozeß ist unerschöpflich; er setzt immer von neuem an." (TK, 112) Es ist auch die Einsicht, daß die (eigene) Wirklichkeit immer anders ist als die bloße sei es noch so weit vorausdurchdachte Möglichkeit, die hier bezogen auf die Wirklichkeit der anderen unterderhand die Gestalt einer ethischen Vergewisserung annimmt: Aus Achtung vor der unabsehbaren Spontaneität unserer selbst wie der anderen steht es uns weder zu, im Namen pauschaler und aufs Ganze gehender Theoreme deren Aktivität /ei/zustellen, noch steht es uns zu, die Art und Weise, in der durch diese Spontaneität kulturelle Bestände angeeignet und in der Transformation tradiert werden, im voraus abzuurteilen. Eine Fesistellung aber liegt im Begriff einer Tragödie der Kultur. '

-

-

Jacob

Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1873), Pfullingen 1949, 97.

182

Persönliches Ethos, Moral und Politik

4. Transzendentale Theorie der Gesellschaft. Ein Exkurs über die methodische Übertragbarkeit eines fruchtbaren Theorems Verwunderlich ist angesichts dieser virtuellen Kontroverse vor allem, daß Simmel nicht selbst auf den Einwand gekommen ist, den Cassirer ihm macht. Es hätte so nahe gelegen. Er ergibt sich nämlich auch aus den grundlegenden Reflexionen, die Simmel in seiner Soziologie in dem Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich? als seine transzendentale Theorie der Gesellschaft vorstellt. In Frage stehen unter diesem Titel in ausdrücklicher Analogie zu Kants transzendentaler Theorie der (Natur-)Er27 kenntnis solche „soziologischen Aprioritäten", das sind Kategorien, die „der Mensch gleichsam mitbringen muß", um „das Bewußtsein" haben zu können, „vergesellschaftet 28 und die deshalb, weil erkenntniskritisch alles für Menschen Bedeutsame zu sein" seine Grundlage im menschlichen Bewußtsein haben muß, als die Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft anzusehen sind. Als solche Kategorien des Bewußtseins von Vergesellschaftung, die sich sämtlich auf formale Aspekte des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit beziehen, behandelt Simmel offenbar ohne Anspruch auf Vollständigkeit drei transzendentale Formen des Bewußtseins von Vergesellschaftung, mit denen verschiedene Aspekte des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit angeschnitten sind: 1. den unvermeidbaren Übergang zwischen Individualität und Allgemeinheit in der sozialen Wahrnehmung: „Wir sehen den Andern in irgend einem Maße verallgemei-

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Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1992, 42-61. Siehe im selben Sinne auch die Einleitung zu Georg Simmel, Philosophische Kultur, Die Fabel vom sterbenden Bauern; oder Das Märchen von der Farbe" (1904), in: Johannes Böhringer, Karlfried Gründer (Hg.), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1976, 238. Simmel, Soziologie, a.a.O., 46. -

A.a.O., 47. Er leitet seine Überlegungen ein mit dem Hinweis, er versuche „im folgenden, einige dieser, als wirkenden Bedingungen oder Formen der Vergesellschaftung |...] als Beispiel [...] zu skizzieren" (ebd.; Hervorh. B.R.). Ebd. Was sich so ergibt, indem wir jeden Menschen „mit besonderer Folge für unser praktisches Verhalten zu ihm, als den Typus Mensch" vorstellen, „zu dem seine Individualität ihn gehören läßt" (a.a.O., 48), sind unhintergehbare „Verschleierungen der Realitätslinie durch die soziale Verallgemeinerung" (a.a.O., 50). „Dieses prinzipielle [...] Verfahren wirkt nun innerhalb der schon bestehenden Gesellschaft als das Apriori der weiteren, zwischen Individuen sich entspin-

apriorisch

-

Das Ethos

der

183

Freiheit

2. Die Individualität als das funktionale Jenseits gesellschaftlicher Beziehungen: Es kann nur deshalb alles gesellschaftlich sein, weil alles zugleich nicht nur gesellschaftlich ist. Das individuelle Leben geht nicht auf im Charakter eines Produktes der Gesell-

schaft.31

Kategorie, die für unseren Kontext interessant ist, das Apriori des „Allgemeinheitswertfs] der Individualität":' Damit ist gesagt, daß „das gesellschaftliche Leben als solches auf die Voraussetzung einer grundsätzlichen Harmonie zwischen dem Individuum und dem sozialen Ganzen gestellt" ist so daß „jedes Individuum durch seine Qualität von sich aus auf eine bestimmte Stelle innerhalb seines sozialen Milieus „daß die Individualität des Einzelnen in der Struktur der Allgehingewiesen ist"" meinheit eine Stelle findet, ja, daß diese Struktur gewissermaßen von vornherein, trotz der Unberechenbarkeit der Individualität, auf diese und ihre Leistung angelegt ist".34 Es ist die 3.

-

-

Mit diesem dritten Moment markiert Simmel eine Einsicht, die auch für den Zusammenhang der Verselbständigung der objektiven gegen die subjektive Kultur zu extrapolieren wäre. Gemeint ist nämlich damit, daß jedes Individuum in der Gesellschaft, aus der es hervorgeht, auch die ihm passende, gleichsam für es vorgesehene Stelle finden kann. Indem Simmel hier ausdrücklich von einer „prästabilierten Harmonie" spricht, geht er von der Vorstellung einer grundsätzlichen, sich in der Dynamik der bestimmenden Kräfte einer Gesellschaft stets einpendelnden Entsprechung zwischen Individuum und Allgemeinheit aus. Der extrem erläuterungsbedürftige Gedanke könnte lakonischer nicht formuliert werden. Zu rekonstruieren ist er wohl einerseits durch die theoretische Vorgabe einer Dialektik der Gesellschaft, daß es dieselben Impulse und Tendenzen sind, das heißt immer auch dieselbe Widerspruchsdynamik ist, die sich in unterschiedlichen Weisen der Konkretisierung im Zustand der Gesellschaft und im Zustand ihrer Individuen ausprägt; andererseits durch die praktische Pointe, daß in diesem Gedanken die Aktivität des sich seine Stelle unter Umständen erst erarbeitenden Subjekts vorausgesetzt ist. Doch auch damit ist allein ein Ansatz markiert, dessen Durchführung aussteht. Nimmt man die Gleichursprünglichkeit von Gesellschaft und Kultur in der menschlichen Tätigkeit ernst, so darf dieser nicht ganz einfache Gedanke grundsätzlich auf das nenden Wechselwirkungen." (a.a.O., 49) Als Beispiele nennt Simmel hier berufliches und ständisches Gruppenbewußtsein. Die Individuen gehen nicht auf in ihrer gesellschaftlichen Existenz, ihrer Funktion in einer je bestimmten „sozialen Rolle" (a.a.O., 51 f.) sie haben darüberhinaus ein „außersoziale|s| Sein" (a.a.O., 51), und dies ist gerade die Bedingung ihrer Vergesellschaftung. „Das Apriori des empirischen sozialen Lebens ist, daß das Leben nicht ganz sozial ist" (a.a.O., 53). A.a.O., 59. Ebd. A.a.O., 61. -

Persönliches Ethos, Moral und Politik

184

Verhältnis der Individuen zu jener objektiven Kultur extrapoliert werden, die so ist zu erinnern ebenso wie die Gesellschaft aus Entwicklungstendenzen entstanden ist, an denen auch die Individuen jedenfalls teilhaben. Es ist eine offene Frage, warum Simmel diese Extrapolation nicht selbst vollzogen hat. Hat er den Geltungsumfang seines Gedankens von 1908 nicht gesehen? Bilden seine soziologischen und seine kulturphilosophischen Beiträge disparate Stränge, deren systematische Integration ihrem Autor nicht zum Thema wurde? Oder formuliert er im Begriff der „Tragödie der Kultur" bewußt die Revision jener eher zuversichtlichen Implikationen seiner transzendentalen Gesellschaftstheorie? Hier bleiben Fragen offen für exaktere Mutmaßungen, als sie im Rahmen eines Beitrags über die ethischen Implikationen der virtuellen Debatte zwischen Simmel und Cassirer Platz finden können. -

-

5. Die Moral

der Geschieht' Normen?

von

symbolischen

-

Eine

Philosophie der

Quintessenz unserer Überlegungen ergibt sich jedenfalls eine Konsequenz, die sich gerade auch im Blick auf die Funktion der von Simmel ermittelten soziologischen Aprioritäten bestätigt findet: Menschliches Handeln ist durch seine Offenheit, seine Als

seine Interpretationsabhängigkeit, seine Verbindung mit unseren leitenden Gedanken immer auch das weite Feld der self-fulfilling prophecy. Geht man nur davon aus, daß das selbstbestimmte Handeln eines vernünftigen Wesens stets durchlässig ist für seine Gedanken aller Art, dann kann auch deutlich werden, daß an der theoretischen Einschätzung der Kultur als Tragödie oder als permanenter Krise praktisch durchaus etwas hängt. An diesem Punkt kann deutlich werden, wie unsere Theorien nicht allein durch unser Selbstverständnis mitbestimmt sind, sondern auch wie Kulturtheorie zur praktischen Bewältigung der Probleme in der Kultur potentiell beiträgt, indem sie mit unserem Verständnis der Probleme zugleich auch unser Selbstverständnis zu modifizieren vermag: indem sie uns begrifflich darauf gefaßt macht, was wir mit gutem Recht und einiger Zuversicht von uns erwarten können. Zu unterscheiden ist zwischen Theorien, die uns von Grund auf dazu ermutigen, unsere Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen und solchen, die dies von vornherein als eine aussichtslose Sache erscheinen lassen. Im Schlußwort zur politischen Diagnose einer von planmäßig erzeugten Mythen demoralisierten Kultur heißt es bei Cassirer: „Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein". Nun ist aber die Vorstellung von der harmonischen Einheit von Ich und Welt ihrerseits ein Mythos, dessen Effekt im Ausgang von einer Erwartung, die prinzipiell nur enttäuscht werden kann und eben so die Einschätzung der Verhältnisse als einer Tragö-

Sinnerwartung,

-

-

Das Ethos der Freiheit

185

die nach sich ziehen muß demoralisierende Effekte hat. Darin dürfte kaum die angemessene Vorbereitung auf heftige Erschütterungen liegen. Von Menschen, die weder von der Erwartung ausgehen, daß die Normalität durch Harmonie bestimmt wäre und der Konflikt den Ausnahmezustand markierte, der einem selbst womöglich erspart bliebe, die sich vielmehr auf die Normalität von Auseinandersetzung, Konflikt, Krise mit all der herausgeforderten Aktivität, Initiative und Offensive gefaßt machen, und die sich auch nicht in die Ausflucht der ästhetischen Betrachterposition hineinsteigern, ist eine größere praktische Belastbarkeit zu erwarten. In dieser größeren Belastbarkeit ist aber die angemessene Einstellung zu den Aufgaben zu sehen, die mit dem selbstbestimmten und verantwortlichen Leben in einer Kultur einhergehen: daß wir uns, auch insgeheim, nicht einbilden, es bequem haben zu können und nicht nachlassen, uns Mühe zu geben, auch nicht unter dem Vorwand, einer Tragödie beizuwohnen. Ganz unabhängig davon, ob wir den produktiven oder den rezeptiven Aspekt der aktiven Teilhabe am System der sinnvollen Hervorbringungen meinen die Mühe, die es macht, Kultur zu haben, steht außer Frage. Jede Form von Rousseauismus bestärkt im hilflosen Versuch ihrer Widerlegung die Einsicht in den konstitutiven Charakter dieser Beschwernis. Die Mühe ist bisweilen so groß, daß man geneigt ist, wie Kant zur Ergänzung seiner Moraltheorie auch zur Ergänzung einer normativen Kulturtheorie eigens nach einer Postulatenlehre zur Stärkung der praktischen Zuversicht zu verlangen. In der emphatischen Erinnerung an nichts weiter als an die praktisch-poietische Grundlegung der Kultur im Begriff der Freiheit erfüllt Cassirers Insistenz auf der Permanenz der Kultur als Krise mit ihrem impliziten Votum für die selbstverständliche Belastbarkeit des kulturellen Menschen zugleich die Funktion einer solchen Postulatenlehre zu jener Ethik der Autonomie, die er im Anschluß an Kant vertritt. Denn daß Freiheit eine vernünftige Fiktion ist, mit der wir uns am eigenen Zopf aus dem Sumpf unserer empirischen Bedingungen ziehen, weiß der Kantianer Cassirer: -

-

„Die Freiheit ist kein natürliches Erbe des Menschen. Um sie schaffen."

Wir können aber nichts schaffen, das

uns

zu

besitzen,

eine Theorie, der wir

müssen wir sie

glauben,

auszureden

versucht.

In der Kant-Interpretation entwickelt Cassirer ausdrücklich eine Einsicht, die sich bereits wie eine Antwort auf die fatalistisch ästhetisierenden Konsequenzen aus Simmeis kulturpessimistischer Diagnose anhört: „Das eben ist die eigentümliche, die spezifische Realität der Freiheitsidee, daß sie, indem sie vor der Forderung des scheinbar Unmöglichen nicht zurückschreckt, ebendamit erst den wahren Umkreis des Möglichen selbst erschließt, den der Empirist im bisher Wirklichen beschlossen glaubt." (KLL, 245) Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 376.

Persönliches Ethos, Moral und Politik

186

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, was der Kronzeuge von Cassirers Freiheitsbegriff selbst ausdrücklich zur Vorstellung einer solchen Tragödie zu sagen hat: „Eine Weile diesem Trauerspiel zuzuschauen, kann vielleicht rührend und belehrend sein; aber endlich muß doch der Vorhang fallen. Denn auf die Länge wird es zum Possenspiel; und wenn die Akteure es gleich nicht müde werden, weil sie Narren sind, so wird es doch der Zuschauer, der an einem oder dem andern Act genug hat, wenn er daraus mit Grunde abnehmen kann, daß das nie zu Ende kommende Stück ein ewiges Einerlei sei." Es ist der Kontext der geschichtsteleologischen Frage nach dem Fortschritt, in dem Kant so urteilt, also: der Kontext der Kultur, denn er selbst lokalisiert diesen Fortschritt nirgends anders als in der Perspektive der menschlichen Kultur; für ihn wäre eine „Tra-

gödie" der Kultur ein „selbst unwürdiger Anblick", weil sie

des gemeinsten, aber wohldenkenden Menschen höchst in der Handlungsperspektive nur entmutigend und demo-

ralisierend wirken könnte.

6.

Aporie oder Beschluß

Gegen

die

systematische These, die in dieser Interpretation herausgearbeitet werden sollte, liegt freilich der Einwand nahe: In dem Maße und in dem Sinne, in dem die Krise nach der hier vorgetragenen Sicht das konstitutive Element der Kultur, in dem also die

Kultur wesentlich Krise ist, hat man auch die Mühe der Bewältigung als konstitutiv und in gewissem Sinne als „immer schon" geleistet zu begreifen. Was ist daran ethisch? Nimmt nicht der Theoretiker, der den Normalzustand als Krise zu begreifen zumutet, seiner Konzeption gerade die ethische Pointe durch die Normalisierung der Krisis, durch die auch die Mühe, der Einsatz, die Anstrengung, die mit der Krise einhergehen, als das immer schon Geleistete anzusehen wäre? Ist dadurch nicht jede wirkliche Bemühung durch vorgängige Absorption ins Faktische nivelliert und entwertet? Der Einwand trägt nicht mehr, sobald wir Theorie als aufklärende Explikation unseres Selbstverständnisses in praktischer Perspektive verstehen. Indem die Mühe als das Normale ausgewiesen wird, wird der Charakter der Herausforderung, des Anspruchs, der mit aller Praxis einhergeht, und damit das immer wieder zu Leistende am immer schon Geleisteten bewußt. Entsprechend der Figur der Steigerung durch Bewußtwerdung haben wir daraufhin die Chance, effektiver, weil bewußt zu tun, was wir zu tun haben. Wir haben die Chance, zu werden, was wir sind. In anderen Worten: Wir haben es hier mit einer exemplarischen Reflexion auf das Ethos als das tragende Element unimmer schon normativen Selbstverständnisses zu tun. seres -

-

-

Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie die Praxis, Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, 273-318, Zitate: 308.

richtig sein, taugt aber nicht für

Das Ethos der Freiheit

187

Verstehen wir aber den Hinweis auf das Ethos der verantwortlichen Bemühung als eine indirekte und ganz allgemeine Antwort auf die Frage nach der Ethik, so liegt darin auch die Einsicht, daß sich darum jeder selbst stets nach besten Kräften zu bemühen habe. Cassirer scheint damit die Frage zurück in die Kompetenz jedes ernsthaft Fragenden zu stellen. Darin ist mit Sicherheit eine Pointe der Reflexion zu sehen, und der Mangel an monographischer Ausdrücklichkeit, nach dessen Gründen die vorliegende Arbeit fragt, könnte auch den formalen Sinn haben, auf diese unhintergehbare Konsequenz des Autonomiegedankens aufmerksam zu machen auf die Plastizität und Unvordenklichkeit dessen, was autonome Subjekte aus eigener Einsicht tun und lassen. Doch weder ist das, was daraufhin zu erwarten ist, so ineffabel wie das Individuum, auf das es damit unabdingbar ankommt, noch ist der Gedanke ohne ethische Präsumtionen faßbar, die sich dann aber jederzeit auch artikulieren lassen müssen. Und tatsächlich spricht Cassirer in dem nämlichen Zusammenhang, in dem er die fatale Schwächung des individuellen Moralbewußtseins unter dem Bann politischer Mythen beklagt, eben auch von der Verantwortung der Philosophie an diesem Zusammenhang." Er spricht von den „grundsätzlichen theoretischen und ethischen Ideale[n]" der von ihrem „geistigen und moralischen Mut",39 wie er davon spricht, daß die Philosophie -

Philosophie,38

nur eine bestimmte Art des Wissens 40 menschlichen Kultur sein wollte".

„nicht

von

der Welt, sondern auch das Gewissen der

Der Universalismus der Geltung alles damit Begriffenen hat sich immer wieder an seiner allgemeinen Mitteilbarkeit zu erweisen: Es muß sich grundsätzlich auf den Begriff bringen lassen. Der Anspruch auf eine philosophische Ethik bleibt mithin unwiderrufen. Hans Blumenberg hat in einem denkwürdigen, metaphorisch an Simmel anschließenden Gedankenexperiment die Kultur als Methode der „Umwege" ausgezeichnet. „Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren," heißt es in Die Sorge geht

über den

Fluß, und weiter:

„Gingen alle den kürzesten Weg, würde nur einer ankommen. Von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt gibt es nur einen kürzesten Weg, aber unendlich viele Umwege. Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämiierung der Umwege. |...| Die Umwege sind es aber, die der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens geben. Die vermeintliche ,Lebenskunst' der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei."

Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 382ff. A.a.O., 384.

A.a.O., 388. Cassirer, Der Gegenstand der Kulturwissenschaft, in: Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., 27. Hans

Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt/M. 1987,

137.

PERSÖNLICHES ETHOS, MORAL UND POLITIK

188

Metapher des Umwegs scheint auf den ersten Blick die Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Kultur zu unterlaufen42 suggeriert sie doch, es gäbe außerdem noch die Alternative des direkten Weges. Doch Blumenberg zielt auf die paradoxale Pointe, daß der „kürzeste Weg" gar nicht gangbar ist: Die Alternative läge in der „Barbarei", und Die

-

das ist nicht auszudenken. In dem Maße, in dem dies einleuchtet, werden wir kaum mehr etwas Anstößiges daran finden, uns nicht nur praktisch für den Bestand der Kultur einzusetzen, sondern in dem Bewußtsein, daß wir an ihr hängen, auch den evaluativen

und normativen Begriff in unseren Theorien von ihr anzunehmen. Dabei kommt es aber, wie hier an einem Kabinettstück kontroverser Kulturevaluation zu zeigen war, darauf an, daß die in der Theorie vertretenen Werte und Normen das praktische Selbstverhältnis angemessen zur Geltung bringen.

42

43

Metapher geht

auf Ernst Cassirer zurück: Für ihn „bedeutet die Welt des menschlichen Geiwie sie sich in der Sprache und im Werkzeuggebrauch, in der künstlerischen Darstellung und stes, in der begrifflichen Erkenntnis aufbaut, nichts anderes als die ständige, stets erweiterte und verfeinerte ,Kunst des Umwegs'." (Ernst Cassirer, „Geist" und „Leben" in der Philsophie der Gegenwart (1930), in: ders., Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Stuttgart 1993, 32-60, Zitat: 47. Blumenberg, Die Sorge, a.a.O., 137. Die

IV. Der Tod, die Kultur, die Moral. Ernst Cassirer und Martin Heidegger in der Kontroverse Wenn zwei das

gleiche

tun, ist

noch

nicht dasselbe. Ernst Cassirer und Martin Heidegger hatten sich, April 1929 in Davos miteinander debattierten, ihren Namen beide nicht durch Beiträge zur praktischen Philosophie gemacht. Beide haben auch danach keine Ethik mehr geschrieben, ebensowenig wie eine politische Philosophie oder Rechtsphilosophie. Darin ist aber keine geheime Verabredung, nicht einmal eine sachliche Übereinkunft in wesentlichen Einsichten zu sehen. Daß die Abstinenz von wenigstens monographischen Beiträgen zur praktischen Philosophie im Kontext der Werke etwas ganz Verschiedenes bedeutet, soll in der folgenden Problemskizze dargestellt werden. Der Vergleich mit dem Kontrahenten der Davoser Disputation in dem für die ethische Fragestellung zentralen Thema läßt dabei die hohe ethische Appetenz Cassirers klar hervortreten. es

lange

als sie im

-

-

1. Ernst Cassirer

-

Freiheit durch Kultur

Ernst Cassirer hat weder die Moral noch das Recht ausdrücklich in die Systematik der symbolischen Formen aufgenommen und gibt damit Anlaß zu Fragen und Zweifeln. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, daß er einen hochentwickelten Sinn für Moral und damit für das Problem der Ethik ebenso wie ein ausgeprägtes politisches Selbstverständnis gehabt hat. Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, finden sich über das gesamte reiche Werk verstreut immer wieder historische und systematische Überlegungen, denen zu entnehmen ist, wie ernst Cassirer das Problem der praktischen Philosophie nimmt. Überall sind Elemente einer Ethik sowie einer politischen Philosophie zu erkennen, deren Sinn in den Ansatz einer bedeutungstheoretisch grundierten Philosophie der Kultur zu integrieren systematisches Desiderat gewesen wäre. In dem grundlegenden Aufsatz Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt legt er 1932 eine syEs kann hier nicht um die moralische Physiognomie dieses Gelehrten gehen, um seine mirandolinische Toleranz, sein großes persönliches wie institutionelles Verantwortungsbewußtsein, seine Zivilcourage, seine Urteilskraft und seine Entschlußkraft im Augenblick der Gefahr; siehe dazu Teil C, Kap. I.

PERSÖNLICHES ETHOS, MORAL UND POLITIK

190

stematische Verbindung des sprachlichen Denkens zur Moralität dar, von der im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen noch keine Rede gewesen war, indem er in der sprachlichen Leistung zur Verobjektivierung des Weltverhältnisses zugleich den Ursprung der praktischen Willensbildung und des Bewußtseins von Normativität erkennt. Diese These von der sprachlichen Formierung des moralischen Selbstverständnisses findet ihre Ergänzung durch die Grundlegung moralischer Gegenseitigkeit im Akt des Versprechens, die Cassirer in seiner Studie über Axel Hägerström von 1939 andeutet. In diesem Beitrag, der von den Interpreten mit ambivalentem Recht als Cassirers „Hauptschrift zur Ethik" verstanden wird, zeigt sich überhaupt, wie sicher er die Eigenart des Praktischen im Blick hat." In den zur gleichen Zeit erschienenen Aufsätzen über Descartes scheint er zudem die Geschichte der ethischen Ideen in der Philosophie und Dichtung der Neuzeit weiterzuführen, deren entscheidende Passagen seit Sokrates bereits der Axel Hägerström markiert. Insbesondere in diesem Grundriß einer exemplarischen Fortschrittsgeschichte nach der Art, in der Cassirer auch die symbolischen Formen der Sprache, des Mythos und der Wissenschaft historisch dargestellt hatte, ist an der Einheit der geschichtsphilosophischen Methode ein Indiz dafür abzulesen, daß Cassirer die Moral als eine symbolische Form ansieht. Hier hätte darum eine konstruktive Interpretation ihren Ansatzpunkt. In der Sache ist für eine Auswertung seines ethischen Problembewußtseins überdies der Nachdruck bemerkenswert, den Cassirer unter dem Eindruck jener falschen Rückkehr des Mythos, als die er die Weltanschauung des Nationalsozialismus in seinem letzten großen Werk auf die gleichermaßen individualethisch wie politisch verstandene Verantwortung des Individuums legt. Dabei hatte Cassirer sich der politischen Philosophie in seiner Rede am 11. August 1928 vor der Hamburger Bürgerschaft zugewendet, wo er sich für den modernen, auf die Idee der Menschenrechte gegründe-

begreift,5

in Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, a.a.O.; siehe oben Teil C, Kap. II, 3. Siehe die eingehendere Diskussion in Cassirer, Axel Hägerström, a.a.O.; siehe oben, Teil C, Kap. II, 2 und 3. Vgl. Krois, Cassirer, a.a.O.; siehe auch ders., Problematik, Eigenart und Aktualität, a.a.O., 30. Cassirer, Descartes, a.a.O. Siehe oben Teil B, Kap. III, 7. Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 371 ff; im Kontext einer Kritik am demoralisierenden Effekt des geschichtsphilosophischen Denken Hegels verschärft er diesen Gedanken in Cassirer, Albert Schweitzer as critic, ebd. Es ist diese Insistenz, die ihr kulturphilosophisches Gegenstück im Einspruch gegen Georg Simmeis defaitistische Rede von der „Tragödie der Kultur" findet, siehe oben Teil C, Kap. III. -

-

191

Der Tod, die Kultur, die Moral

Verfassungsstaat einsetzt und das Gewicht der idealistischen deutschen Philosophie dafür in die Waagschale wirft. Im Überblick über das Spektrum seiner Ansätze zur praktischen Philosophie finden sich wesentliche für eine Ethik erforderlichen Elemente, Elemente der Begründung ebenso wie der Phänomenologie des moralischen Bewußtseins. So reich an praktischer Einsicht und Reflexion diese Beiträge im einzelnen sind charakteristisch für die ethische Position Cassirers ist aber bei alledem, daß er mit dem Ansatz seiner Philosophie der symbolischen Formen die Kultur grundlegend zum Gegenstand einer praktischen Bewertung macht. In seiner Konstruktion einer in jedem gestaltenden Akt vollzogenen Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten und verfügungskompetenten Ausdruck konzipiert Cassirer die Kultur von Grund auf als das Medium der Selbstbestimmung. Indem er sie letztlich zurückführt auf die Freiheit spontaner Akte der Hervorbringung von Bedeutung, betont er die praktisch-poietische Kontinuität von den elementaren Bewußtseinsakten bis zu den großen Werken. Darin liegt das Charakteristische seines Ansatzes. Darin liegt aber auch die Schwierigkeit, die mit dem Fehlen einer methodisch ausformulierten Moralphilosophie im System der symbolischen Formen verbunden ist. Denn irgendwo in diesem Sinnkontinuum der synchron als Form der Freiheit und diachron als Prozeß der Befreiung verstandenen Kultur wäre auch die spezifische Differenz der Moral als der methodischen Instanz der normativen Handlungsorientierung einzutragen. Am prägnantesten läßt sich das Problem an Cassirers Kant-Rezeption vor Augen führen: Er übernimmt als Kantisches Erbe die Äquivokation, durch die Freiheit gleichermaßen die Spontaneität des Verstandes wie die Autonomie der praktischen Vernunft bedeutet. Diese sachhaltige Verschleifung, auf die er bereits als Kant-Interpret in zustimmender Haltung aufmerksam gemacht hat,8 wirkt fort in seinem Begriff einer von Grund auf in allen Formen der Kultur investierten Freiheit. Damit wird aber der Grundbegriff der Ethik zum Grundbegriff der Kultur als ganzer entgrenzt. Das heißt auch: das Element der Moralphilosophie ist bereits im Grundsätzlichen „verbraucht", und es wird schwierig, die spezifische Differenz jener Freiheit noch genauer zu bestimmen, die wir meinen, wenn wir uns selbst als verantwortliche Subjekte des Handelns unter normative Ansprüche setzen und aus ihnen ableiten, was wir dürfen und was wir sollen. ten

-

Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, a.a.O.; siehe oben Kap. I, 5. Die Rede, die er ein Jahr später als Rektor der Hamburgischen Universität am 22. Juli 1930 aus Anlaß der von ihm durchgesetzten universitären Verfassungsfeier hält, bietet dazu das Gegenstück: Hier macht er deutlich, daß das notwendige Komplement der bürgerlichen Freiheit im Staat die Freiheit der Wissenschaft im autonomen Bereich der Universität ist; Cassirer, Staatsgesinnung und Staatstheorie, a.a.O. Cassirer, Freiheit und Form, a.a.O., 149-180. -

PERSÖNLICHES ETHOS, MORAL UND POLITIK

192

Wie auch immer wir mit dieser Schwierigkeit unter den Bedingungen einer bedeutungstheoretischen Philosophie der kulturellen Symbolismen umgehen könnten, der Befund darf resümiert werden: Wo sich Cassirer äußert, als Philosoph wie als politischer Zeitgenosse, da geschieht dies stets in der Absicht, einen Beitrag zum Verständnis oder zur Sicherung der Freiheit des einzelnen in einer freiheitlichen Verfassung des Ganzen zu leisten.

2. Martin Art" Der

Heideggers „Humanismus [von] seltsamer

Satz, den Martin Heidegger in der Davoser Disputation ausspricht, „daß Freiheit

ist und sein kann in der Befreiung" (Davos, 257), läßt auf den ersten Blick eine Übereinstimmung in einem wesentlichen Punkt vermuten. Aber wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Wir wissen aus der polemischen Abgrenzung gegen das zu dieser Zeit bereits ausgewiesene Arbeitsgebiet seines Gesprächspartners, daß Heidegger die Kultur als den „faulen Aspekt eines Menschen" versteht, „der bloß die Werke des Geistes benutzt" (Davos, 263). Wir wissen daher auch, daß für ihn jedenfalls nicht wie für Cassirer die Kultur als Prozeß der Befreiung in Frage kommt. In seiner Alternative zwischen der Konfrontation mit der Härte des Schicksals der „Nichtigkeit" des menschlichen Daseins, wie es auch heißt und dem bloß parasitären Partizipieren an der Kultur überspringt Heidegger gerade das, worum es Cassirer geht: die produktive Aktivität, die den Kern seines grundlegend gefaßten Kulturbegriffs bildet. Daß Heidegger offenbar außerstande ist, in der Kultur vor allem das Element der Entäußerung menschlicher Handlung, Hervorbringung, Arbeit, zu sehen, liegt ganz in der Konsequenz seines Vorbehaltes gegen alles Uneigentliche und läßt dabei eine signifikante Konzeptionsschwäche im Hinblick auf die vita activa in der Vielfalt ihrer kultivierten Formen erkennen. Eine wichtige Frage hat von daher zu sein, was Heidegger unter Freiheit versteht. Anders als im Falle Cassirers mußten bei Heidegger nicht erst die Interpreten geltend machen, seine gesamte Philosophie wäre ethisch besetzt. Er selbst ist es, der mit diesem Anspruch auftritt." Im Brief über den „Humanismus" behauptet Heidegger 1946 auf nur

-

-

Siehe dazu Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger, a.a.O. Siehe dazu umfassend Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt/M. 1991. Von Cassirer ist uns eine derartige Äußerung nicht bekannt. Er leitet vielmehr 1939 die Auseinandersetzung mit Axel Hägerström mit dem bescheidenen Hinweis ein, daß er hier nun seine Auf-

193

Der Tod, die Kultur, die Moral

nach seiner ungeschriebenen Ethik, diese sei aufgehoben in seinem ge12 samten Denken, verstanden als eine Resurrektion des Seins. Was meint er damit? Dem unbefangenen Leser muß es zunächst so vorkommen, daß es die systematischen Grundbegriffe der Daseinsanalyse in Sein und Zeit sind Zuhandenheit und Sorge, Gewissen und Schuld, Ergreifen von Möglichkeiten, Entwurf, Entschlossenheit die eine starke praktische Besetzung der gesamten menschlichen Existenz erkennen lassen.13 Versteht man diese Ausdrücke in der naheliegenden Weise, so ist die menschliche Existenz, und zwar aufgrund der Implikationen ihrer praktischen Verfassung, immer schon auf dem Weg zur moralischen Bestimmung, und es käme dann nur darauf an, diese Implikationen entsprechend prägnant herauszureflektieren, sie gewissermaßen disziplinarisch zu hypostasieren. Das ist ein methodischer Gedanke, der seine Durchführung in verschiedenen systematischen Ansätzen bereits gelohnt hat; warum nicht auch in der spezifischen Variante einer Fundamentalontologie des Daseins. Wenn es dies wäre, was Heidegger mit seiner Antwort im Sinne hat, dann läge genau darin auch eine Gemeinsamkeit mit Cassirer. Heidegger aber bestreitet eine solche Lesart und wäre sicher auch mit der methodischen Konsequenz nicht einverstanden: Die genannten Begriffe sollen diesseits der Unterscheidung von Theoretischem und Praktischem verstanden werden. Das fällt zwar schwer, und man fragt sich, wieso ein sprachlich so bewußt zu Werke gehender Denker, wenn er solche Neutralität anstrebte, nicht weniger mißverständliche Ausdrücke gewählt hat. Aber halten wir uns an seine Direktive: Heidegger will mit dem Hinweis im Brief über den „Humanismus" offenbar nicht auf die ethische Affinität der Grundbegriffe in Sein und Zeit hinaus, er erläutert vielmehr an Ort und Stelle, daß und wie in seinem Seinsverständnis die Ethik, die Ethik eines .„Humanismus' [von] seltsamer Art", auf-

die

Nachfrage

-

-

gehoben sei.14

fassung zu Fragen der praktischen Philosophie deutlicher mache, als dies in seinem bisherigen Werk geschehen sei (Cassirer, Axel Hägerström, a.a.O., 7). Martin Heidegger, Brief über den „Humanismus", in: ders., Wegmarken, Frankfurt/M. 1967, 145-194 (im folgenden zitiert als „BüH"), 183 ff. Carl Friedrich Gethmann spricht von der pragmatischen Grundlage, auf der das ontologische Problem entwickelt und den Folgerungen für die praktische Philosophie, die daraus gezogen werden, in: Gethmann-Siefert /Pöggeler (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, a.a.O.; siehe dort auch den Beitrag von Gerold Prauss. BüH, 176. Ausdrücklich betont Heidegger, „daß die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren. Insofern ist das Denken in .Sein und Zeit' gegen den Humanismus. [...] Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt." (BüH, 161) Später heißt -

es:

„Wir denken so einen .Humanismus' seltsamer Art." (BüH, 176) Dem ist zuzustimmen.

PERSÖNLICHES ETHOS, MORAL UND POLITIK

194

Im Unterschied zu der spektakulären Weise, in welcher der Humanismus jüngst wieder ins Gerede gekommen ist, ist es bei Heidegger nicht sein Begriff des Humanismus, sondern erst dessen theoretische Bewertung in Folge seiner Fundamentalontologie, der diesen in eine schwer erträgliche Schieflage bringt. Es war ein geradezu outrierter Einfall, den Humanismus zu charakterisieren als „die Vollmacht, der Jugend die Klassiker aufzuzwingen und die universale Geltung nationaler Lektüren zu behaupten." Wer nicht bloß die kanonische Funktion der „humanistischen Bildung", sondern die philosophische Position des Humanismus substantiell als die Kultur des Bücherlesens und Briefeschreibens bestimmen will, der verwechselt offenbar den Gehalt einer Idee mit den Medien, in denen sie historisch besonders günstige Bedingungen der Artikulation gefunden hat. Zu einer solchen Zuspitzung auf ein medientheoretisches Profil haben diejenigen keinen Anlaß, denen es weiterhin um die Sache geht und nicht darum, sich unter den Bedingungen der Medienöffentlichkeit durch eine kontrastscharfe These in-

machen. Das humanistische Verständnis vom Menschen, dem auch hinreichend deutlich zu entnehmen ist, daß das vom Humanismus unterstellte Wesen des Menschen gerade kein statisches, sondern im Sinne einer unendlichen Perfektibilität zu verstehen ist, findet sich bei Bovillus: teressant zu

„|Q|ui

a

catur: et

natura homo tantum erat: artis

fenore et ubérrimo proventu,

reduplicatus,

homo

vo-

homohomo."

Ernst Cassirer übersetzt: „So gewinnt er die Gaben, die er von der Natur empfangen, durch den überreichen Ertrag der Kunst und der Arbeit an sich selbst zwiefach zurück und wird zum Doppelmenschen", und er kommentiert: „Diese Worte, die man als Motto wählen könnte, um den Gesamtcharakter der Epoche zu bezeichnen, enthalten, gleichsam verdichtet, den Grundgedanken des Humanismus in sich: Geschichte und Naturbetrachtung sind diesem nur Mittel, um durch selbstbewußte geistige Ener-

gie zur Potenzierung des

Menschenwesens und Menschenwertes fortzuschreiten."

So Peter Sloterdijk in seinem Aufsatz „Regeln für den Menschenpark", der mit dieser Definition allen Ernstes meint, den Humanismus „|s|einer Substanz nach" bestimmt zu haben; DIE ZEIT, Nr. 38, 16.9.1999, 18 (Sp. 2). Das ist ein ideosynkratischer Begriff des Humanismus, aber wenn er zuträfe, dann wäre es vollends unverständlich, daß Sloterdijk die „lesefreudigen Humanismen" auf die Zeit zwischen 1789 bis 1945 datiert. In Deutschland hätte dieser Humanismus schon im Mai 1933 bei den Bücherverbrennungen sein Ende gefunden. Carolus Bovillus, De sapiente (Kap.22), in: Liber de intellectu et al., fol. 119b-148b: fol. 131 bf., zitiert nach Cassirer, Das Erkenntnisproblem. Erster Band, a.a.O., (ECW 2), 134; siehe dort auch den Zitatkontext. -

Der Tod, die Kultur, die Moral

195

Bemerkenswert bei Bovillus ist die emphatische Reduplikation des Menschen in den „homohomo"17 offenbar ein sprachliches Mittel, das Cassirer nach seiner Systematik in die Ausdrucksfunktion der Sprache einordnen müßte und problemgeschichtlich einer der Ursprungsorte des „Übermenschen". 18 Von dem hier aufgesuchten Begriff des Humanismus, der freilich nicht nur retrospektiv eine Epoche, sondern auch systematisch eine bis heute aktuelle Orientierung des Denkens bezeichnet, gehen auch Heidegger in seinem Brief über den „Humanismus" und Sartre in der kleinen Programmschrift Ist der Existentialismus ein Humanismus? aus. Wenn Sartre den Existentialismus als einen Humanismus ausweisen will, wenn Heidegger daraufhin fragt, ob das denn nötig oder wünschenswert sei, dann verstehen sie wie Cassirer unter dem Begriff prinzipiell in diesem Sinne die Position, die den Menschen wesentlich durch den hoffnungsvollen und das heißt immer auch normativen Bezug auf seine in der Vernunft liegenden besten Kräfte als ein selbstbestimmtes, der Verbesserung und somit des Fortschritts fähiges Wesen betrachtet.' Zu den Elementen des Humanismus, der durch die Befreiung der Möglichkeiten des animal rationale bestimmt sei, zählt Heidegger ausdrücklich den Anspruch auf die „Prägung der .sittlichen' Haltung, [...] Erlösung der unsterblichen Seele, [...] Entfaltung der schöpferischen Kräfte, [...] Ausbildung der Vernunft, [...] Pflege der Persönlichkeit, [...] Weckung des Gemeinsinns, [...] Züchtung des Leibes."20 Bei der Bewertung des damit beschriebenen Anspruchs beginnt der Dissens: Im Gegensatz zu Sartre und Cassirer sieht Heidegger im Humanismus einen Exponenten -

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A.a.O., 135. In Analogie zur göttlichen Dreieinigkeit überhöht Bovillus diese Duplizität sogar noch zur „trinitas": „Et non modo ad dyadem: sed et ad usque tryadem humane sapientie vis hominis numerum extendit humanitatemque propagat [...]" (zitiert nach Cassirer, Individuum und Kosmos, a.a.O. (ECW 14), 107; siehe dort auch das vollständige Zitat). Cassirer faßt den Gedanken im Sinne einer Hegeischen Synthese zusammen: „Der Mensch der ,Natur', der homo schlechthin, muß zum Menschen der .Kunst', zum homo-homo werden; aber indem diese Differenz in ihrer Notwendigkeit erkannt ist, ist sie damit auch schon überwunden. Über den beiden ersten Gestaltungen erhebt sich jetzt die letzte und höchste; die Dreieinheit des homo-homo-homo, in der der Gegensatz von Potenz und Akt, von Natur und Freiheit, von Sein und Bewußtsein, zugleich befaßt und aufgehoben ist." (ebd.) Siehe Volker Gerhardt, Art. „Übermensch", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, -

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Basel 2004. Siehe Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, (Kapitel: „Die Verspottung der Philosophie oder: Was ist Humanismus?"), Frankfurt/M. /New York 1988, 268-278. Zum Begriff des Humanismus siehe auch Birgit Recki, Kant als Humanist oder die Antinomie des Individuums (Schwerpunkt: Humanismus), in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, hg. von Günter Figal, 2. Band 2003, Tübingen 2003, 151-172. Martin Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit (1942), in: ders., Wegmarken, a.a.O., 109-144, Zitat: 142. -

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PERSÖNLICHES ETHOS, MORAL UND POLITIK

196

der seinsvergessenen Verweigerung an das von ihm emphatisch behauptete „Denken", im Grunde eine Form von Ideologie, mit der die Macht der Subjektivität über das Seiende legitimiert werden solle. Es ist bemerkenswert: Was für Horkheimer und Adorno in ihrer fundamentalistischen Vernunftkritik die Aufklärung in ihrer vermeinten Dialektik, das ist für Heidegger ganz undialektisch der Humanismus. Für Heidegger ist das Bezeichnende daran, daß der Mensch aus seinem Wesen und damit zugleich unweigerlich „aus dem Hinblick auf eine schon feststehende Auslegung der Natur, der Geschichte, der Welt, des Weltgrundes, das heißt des Seienden im Ganzen bestimmt wird." Deshalb kann er sagen: „Jeder Humanismus gründet entweder eine Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen." (BüH, 153)21 Entsprechend dieser Einschätzung macht Heidegger dann auch seine Ethik kenntlich im Sinne einer Aufhebung von Subjektivität, eines wie frommen Aufgehens des Menschen im Sein. ,,[E]thos anthropo daimon" auf der Grundlage der Entscheidung, ethos nur als „Aufenthalt, Ort des Wohnens" verstehen zu wollen und damit mehr als die Hälfte, bezeichnenderweise gerade die evaluativ und normativ tendierenden Bedeutungen wie Brauch, Gewohnheit, Sitte wegzulassen, übersetzt Heidegger diesen Satz des Heraklit in einer seiner eigenwilligen Etymologien mit ,,[D]er Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes" (BüH, 185). Was das mit Ethik zu tun hat, müßte ganz an der konditional verstandenen Bestimmung „insofern er Mensch ist" hängen und bedürfte dann der Explikation, auf die es ethisch immer schon ankommt: Welche Kriterien enthält dieses „insofern"? Aber Heidegger denkt nicht daran. Die Erläuterung, von der er sich Aufschluß über den Sinn des rätselhaften Spruches verspricht, ist die Anekdote über den sich am Backofen wärmenden Heraklit, der die ehrfürchtigschaulustigen Besucher ermutigt, sich ihm gern auch in einer solchen profanen Situation wie Heidegger sagt: in der ganzen „Dürftigkeit seines Lebens" (BüH, 186) zu nähern: „Auch hier nämlich wesen Götter an" (BüH, 185). Damit hat es sein Bewenden, und damit ist das „insofern" nicht erklärt. Auf diese Weise bekräftigt Heidegger auch im anschaulichen Medium der Anekdote seine Vorstellung, daß in jedem Werten qua Subjektivierung eine Blasphemie gegenüber dem Sein zu sehen wäre (BüH, 180) man muß nur ergänzen, paradoxerweise sogar gegenüber der Form des Seins, die das Dasein selbst ist und das, obwohl die Kritik an der bisherigen Seinsvergessenheit und die Aufforderung zum Umdenken selbst nur auf der Grundlage einer Wertung möglich ist. Für Heidegger liegt die Bestimmung der Ethik gemäß der sorgsam halbierten Grundbedeutung des Wortes ethos bereits -

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Der Humanismus beruht somit nach seiner Auffassung auf einer Festlegung des menschlichen Wesens ein Einwand gegen das humanistische Selbstverständnis, der angesichts des Entwicklungsvektors in seinen Momenten von Selbstbestimmung und Perfektibilität der Nachfrage bedarf. -

Der Tod,

die Kultur, die

Moral

197

darin, „daß sie den Aufenthalt des Menschen bedenkt", und deshalb ist „dasjenige Denken, das die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden denkt, in sich schon die ursprüngliche Ethik." (BüH, 187) wohlwollend betrachtet auf die kriterienlose Legitimation alles dessen ein Individuum bloß als solches sein und tun und lassen kann. Zu Recht ist bemerkt worden, daß man mit diesem Gedanken „alles rechtfertigen" kann, „was man rechtfertigen will. Das ,Licht des Seins' [die Anwesenheit der Götter, B.R.] scheint 22 nämlich über Gerechte wie auch über Ungerechte." Aber obwohl ein solcher Freibrief schlimm genug ist, wäre das noch wohlwollend betrachtet; denn es hat etwas Gewagtes, hier überhaupt noch von der Konzeption des Individuums auszugehen. Mit jedem prägnanten Sinn von Ethik, der mindestens einen artikulierbaren Anspruch an das eigene Tun und Lassen und damit das Interesse an der Geltung von Kriterien zu besagen hätte, wird im Brief über den „Humanismus" auch der Sinn von Individualität letztlich aufs Spiel gesetzt. Da ist zwar ständig vom Menschen die Rede, und ihm werden auf der einen Seite große Aufgaben zugewiesen. Der Mensch sei „Hirt des Seins" (BüH, 162),23 heißt es da, und wir versuchen uns daraufhin die Stellung und Rolle des Menschen im Sein am Leitfaden des Begriffs von verantwortlicher Fürsorge vorzustellen.24 Doch das geht nicht auf. Wer aus der Frömmigkeit des Seinsvernehmens in Verbindung mit dieser Bestimmung zum Hirten etwa im Sinne der Achtung vor der Natur oder der Verantwortung für die Schöpfung einen Ansatz für die heute so stark diskutierte ökologische Krise oder andere Bereiche der Angewandten Ethik zu gewinnen versuchte, der hätte sich nicht nur mit Heideggers rigoroser Abgrenzung des Menschen vom Tier herumzuschlagen er verfiele damit vor allem dem Verdikt, das Heidegger über Sartre wie über die ganze seinsvergessene Tradition verhängt, indem er ihm Verwechslung des Seins mit Seiendem vorwirft: Das Sein, das sind eben nicht die geplagten Rinder und Schafe, bedrohte Arten und Biotope, sondern „Es ,ist' Es selbst" (BüH, 162). Überdies ist diese Hüterrolle schon vor ihrer genauen intentionalen Zuordnung schwer durchzuDas läuft

-

hinaus,

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was

-

Dorothea Frede, Heideggers Tragödie Bemerkungen zur Bedeutung seiner Philosophie. Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, Jg. 17, 1999, Heft 1,33. „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins" so wiederholt und erweitert Heidegger seine Bestimmung wenig später (BüH, 172). Ist nicht ein Hirt immer zugleich auch der Herr seiner Herde? Solche Fragen drängen sich auf, aber sie führen zu nichts als zu der vorab feststehenden Auskunft, daß Heidegger es so nicht gemeint hat. Auf die Frage nach diesem Sein, nach dem Heidegger hier nicht mehr nur vom Dasein her fragen will, erfahren wir andererseits mit Anklang an die christologische Selbstaffirmationsformel: „Es ist Es selbst" (BüH, 162). Ob es nicht eine Blasphemie gegen ein so verstandenes Sein enthält, sich vorzustellen, es hätte einen Hüter überhaupt nötig, ist eine Frage, die den Theologen überlassen werden muß. -

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Persönliches Ethos, Moral und Politik

198

halten, wenn wir nur berücksichtigen, was aus der Bestimmung des Menschen im Laufe des Textes noch wird. Am Ende des Briefes erfahren wir, daß die Sprache, in der Heidegger die unhintergehbare Vermittlung des Denkens mit dem Sein und die wesentliche Aufgabe des Menschen sieht, in dem Sinne „Sprache des Seins" sei „wie die Wolken die Wolken des Himmels sind" (BüH, 194). Für das, was daraus folgt, hat der Dichter Robert Musil die mystische Formel geprägt: „Seinesgleichen geschieht". Was bliebe hier von der Verantwortung des Hütens? Oder wollen wir uns so weit versteigen, die Wolken wiederum als die Hüter des Himmels anzusehen, nur damit insgesamt eine konsequente Metaphorik herausschaut? In diesem wolkigen Gedanken Heideggers jedenfalls dürfen wir mit gleichem Recht eine religiöse Nähe zur Mystik oder auch utopische Auflösungswünsche wie eine Affinität zu zynischem Strukturfunktionalismus sehen das Handeln jedenfalls, von dem Heidegger eingangs gesagt hatte, wir bedächten sein Wesen „noch lange nicht entschieden genug", um wenige Sätze später klarzustellen, daß es ihm ausschließlich um dasjenige Handeln geht, das im Denken liegt, das Handeln ist nach diesem Verständnis nicht zu retten, und damit ist auch die Ethik verloren. Noch nicht einmal eine Ethik der Individualität, auf die Heideggers Denken in den Augen vieler Leser von Sein und Zeit hinausläuft, wäre dabei zu gewinnen. Weder ein verantwortlicher Begriff von dem, was Handeln sein könne, noch eine Theorie darüber, wie dieses Handeln sein solle, ist daraufhin im Horizont dieses Denkens noch möglich. Nach seinem erneuten und radikaleren Anlauf zum Verständnis des Seins zieht Heidegger vielmehr die Konsequenz einer ebenso verrätselnden wie halbherzigen Auflösung menschlicher Zuständigkeit in die Bedingungen dieses Seins. Die Freiheit, die er auslegt als die Haltung der Offenheit, das Sein sein zu lassen (BüH, 188), scheint allein dadurch, daß sie im wesentlichen ein Sicheinlassen auf das Seiende ist, mit Zwecksetzung und Selbstbestimmung nichts zu tun zu haben.25 -

-

Vgl.

Martin

Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Wegmarken, a.a.O., 73-97, hier:

83.

199

Der Tod, die Kultur, die Moral

3.

..

.und sich

ängstende Freiheit zum Tode

Diese Erosion des Handlungsverständnisses konnte Ernst Cassirer noch nicht kennen, als er im Schlußkapitel seines Buches vom Mythus des Staates im Kontext der eingangs erwähnten Betonung individueller Verantwortung der Philosophie Heideggers einen Anteil an der Schwächung der Kraft zum Widerstand gegen die totalitäre Herrschaft vorwarf.26 Er beruft sich dabei ausschließlich auf Sein und Zeit, auf das sich auch die Teilnehmer der Davoser Disputation zu beschränken hatten. Den Suggestionen der praktisch-pragmatischen Kategorien der Daseinsanalyse zum Trotz, die eben nach dem Willen des Autors allenfalls zweideutig sind, tut er das aber zu Recht. Denn auch hier schon finden wir die Äußerungen, in denen mit der Betonung der Einsamkeit und Freiheit des Individuums auch die Bekräftigung der individuellen Verantwortung gesehen -

-

werden kann, durch ein Daseinsverständnis konterkariert, das genau besehen jeden konsequenten Begriff von Verantwortung und von handlungstheoretisch begriffener Frei7 heit unterläuft. Gedacht ist damit nicht wie bei Cassirer an den Begriff der Geworfenheit, mit dem angesichts der praktischen Gegentendenz von Sorge und Entwurf keineswegs ein defaitistisches Daseinsverständnis besiegelt sein muß. Es geht auch nicht allein um die Art und Weise, wie Heidegger die Eindringlichkeit seiner Gewissensanalyse durch die 28 These von der zwangsläufigen Gewissenlosigkeit des Handelns konterkariert. Zu denken ist vielmehr an das absurde Handlungsverständnis in Heideggers Vorstellung, daß wir nur aus Todesangst eigentlich handeln. Heideggers Überlegungen zum Tod haben außerordentliche Beachtung gefunden. Warum eigentlich? Lassen wir die in manchem unverständlichen, ja befremdlichen Bestimmungen auf dem Wege der Todesanalyse auf sich beruhen, unter denen die von Sternberger schon früh monierte solipsistische Verzeichnung des Problems nicht einmal die gravierendste ist.29 Man könnte meinen, mit seiner Formel vom „Sein zum Tode" Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O., 382-384. Siehe dazu auch: „Der einzige adäquate Bezug zur Freiheit im Menschen ist das Sich-befreien der Freiheit im Menschen" (Davos, 257). Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1986 (16. Auflage; im folgenden zitiert als „SuZ"), § 58, 288. Daß das Sterben der anderen als ein „Ersatzthema" abgetan wird (Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 238f.), wird unnachsichtig kritisiert von Dolf Sternberger, Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie (1932/34), in: ders., Über den Tod, Frankfurt/M. 1981, 69-264. Zu den befremdlichen Emphasen Heideggers gehört auch die Betonung der unspezifischen Trivialität: „Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen" (SuZ, 240). Das hat das Sterben mit allen leiblichen Vollzügen gemeinsam. Ich kann auch nicht für einen anderen, der Durst hat, etwas trinken (ebensowenig wie das Gegenteil), und ich kann einem -

Persönliches Ethos, Moral und Politik

200

„Vorlaufen in den Tod" ginge

es Heidegger im Interesse an selbstbestimmter Bewußtsein der Endlichkeit, „um eine bewußte EinstelLebensführung um das gefaßte lung auf ein endliches Leben", zu der wesentlich gehört, aus dem Bewußtsein von der Unverfügbarkeit des Endes die grundsätzliche Bereitschaft zum Loslassen zu gewinnen. Das wäre aber zumindest eine Unterbestimmung seiner Absicht und im übrigen keineswegs neu. Selbst daß der Tod für das Dasein konstitutiv ist in dem Sinne, daß das Bewußtsein unserer beständigen Bedrohung durch das Ende uns dazu bringt, uns unserer Möglichkeiten ernsthaft und entschieden zu vergewissern, ist weder ein neuer Gedanke, noch ist es Heideggers Pointe. Es wäre nichts anderes als das sokratisch-stoische ' Memento mori, wie wir es von Seneca und neostoisch von kennen. Den Piatonikern, den Stoikern, den Aufklärern, insgesamt den Humanisten, kommt es im Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Sterbenlernen und Lebenlernen aber gerade darauf an, daß durch die Einübung in das Bewußtsein der Sterblichkeit unerschrocken auch alle Wechselfälle des Lebens ertragen werden können und sie können nur dann so souverän ertragen werden, wenn dem Tod, der als letztes Schrecknis den Fluchtpunkt aller Schicksalsschläge bildet, der Stachel genommen ist, das heißt: Wenn wir keine Angst vor ihm haben. Hier liegt der entscheidende Unterschied: Heidegger geht es überhaupt nicht darum, den Tod zu bewältigen, indem wir Formen des Umgangs finden, die es uns möglich machen, unerschrocken unser Leben zu führen. Ihm ist es im Gegenteil um die Angst vor dem Tod zu tun. Ernst Tugendhat hat sich jüngst in seinen Gedanken über den Tod voller Befremden gefragt, wieso Heidegger überhaupt davon ausgehen könne, daß alle 33 Menschen Angst vor dem Tode hätten. Es ist schlimmer: Er fordert im Namen eines

oder

vom

-

Montaigne32

-

anderen weder seine Schmerzen abnehmen noch Lust für ihn empfinden. Der Tod ist nur der extreme Fall dessen, was insgesamt die Individualität des Daseins ausmacht: Ich kann nicht für den anderen sterben, wie ich nicht für ihn leben kann. Siehe die Unterscheidung eines wahren, aber banalen Verständnisses dieser These von einem interessanten, aber falschen bei Paul Edwards, Heidegger und der Tod. Eine kritische Würdigung, Darmstadt 1985. Zu den ausgesprochenen Geschmacklosigkeiten ist die gedankliche Zumutung zu zählen, daß wir von Anbeginn unseres Lebens sterben eine These, die Heidegger so wichtig ist, daß er das faktische Eintreten des Lebensendes eigens zur Abgrenzung dieses Verständnisses von Sterben und Tod als „Ableben" bezeichnet; siehe dazu die Kritik bei Ernst Tugendhat, Gedanken über den Tod, in: Marcello Stamm (Hg.), Philosophie in synthetischer Absicht, München 1998, 487-512. So Frede, Heideggers Tragödie, a.a.O., 19. Siehe vor allem Lucius Annaeus Seneca, De tranquillitate animi /Über die Seelenruhe; ders., De brevitate vitae/Von der Kürze des Lebens, beide in ders., Philosophische Schriften (Lateinisch und Deutsch), Zweiter Band: Dialoge VII-XII, hg. von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1983. Michel de Montaigne, Philosophieren heißt sterben lernen, in: ders., Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, 45-52. Tugendhat, Gedanken über den Tod, a.a.O. -

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Der Tod,

die

Kultur,

die

Moral

201

eigentlichen Daseins, daß alle Menschen Angst vor dem Tode haben sollen. Während es den Humanisten darum geht, durch ihre Einübung in den Todesgedanken, das Sterbenlernen, das Individuum von der als irrationalen Affekt eingeschätzten Angst zu befreien, entwickelt Heidegger im Gegenteil das Postulat auf Todesangst, mit dem zugleich ein Bewertungskriterium der menschlichen Lebensführung und ein normativer Anspruch an sie

ist. Damit ist auch gesagt, daß Heidegger, der sich damit betont in die augustinisch-kierkegaardische Traditionslinie stellt, die gesamte sokratisch-stoische und aufklärerischhumanistische Tradition in dieser Frage dem Gerede des Man zuordnen würde. Der Satz „Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen" besagt genau das gleiche wie die Beanstandung, daß dieses Man in der Tendenz zur Verdrängung des Todes „das Dasein seinem eigensten unbezüglichen Seinkönnen [...] entfremdet." (SuZ, 254) Was Heidegger am alltäglichen Verhältnis zum Tod beanstandet, ist der Effekt, daß uns das verständige Gerede daran hindert, Angst zu haben. Denn für ihn ist der Tod als ,,schlechthinnige[n] Daseinsunmöglichkeit" (SuZ, 250) zugleich „eine ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins" (SuZ, 248), ja die eigenste Möglichkeit des Daseins, und das bedeutet zum einen wie die Rede vom „Sein zum Ende" daß der Tod jederzeit eintreten kann, zum anderen daß es das Bewußtsein eben davon ist, wodurch ich meines Handlungspotentials im Dasein überhaupt gewahr werde. Und der Modus, in dem sich dieses Aufmerken nach Heidegger einzig vollzieht, ist die

gegeben

-

-

Angst.34

„Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein fur... die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ¡st." (SuZ,

188)

Es ist die

Angst, die uns zur Sorge um unsere Möglichkeiten bewegt, und sie bewegt auf diese Weise allererst dazu, uns in dem, was Heidegger als „ursprünglichen Entwurf' bezeichnet, selbst zu bestimmen. Wir sehen an seiner Todesanalyse, daß die Angst nach Heidegger den einzigen Zugang zu einem sinnvollen Leben eröffnet, denn nur die Angst vor dem Tod als der eigensten und beständigen Möglichkeit der Daseinsunmöglichkeit wirft uns so radikal auf uns selbst zurück, daß wir zu jenem ursprünglichen Entwurf kommen, in dem wir die Möglichkeiten unseres Daseins ergreifen und das heißt: handeln. uns

-

„Allein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie verein-

zelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm lichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar." (SuZ, 190f.)

„Die Befindlichkeit aber, welche die ständige und schlechthinnige, Sein des Daseins (SuZ, 265 f.) ten

aufsteigende Bedrohung seiner selbst offen

zu

Eigent-

aus dem eigensten vereinzelhalten vermag, ist die Angst. "

Persönliches Ethos, Moral und Politik

202

ist nur, ob sich Angst auf Dauer stellen läßt. Warum diese Frage? Weil wir dauerhafte und verläßliche Wirkung von Angst, im Interesse unserer Handdies, eine lungsfähigkeit voraussetzen müßten, wenn sichergestellt sein sollte, daß das in ihr namhaft gemachte Motiv, das Movens zu einem reflektierten und sinnvollen Handeln, auch Die

Frage

verläßlich seine Funktion fürs Handeln erfüllt. Wenn, wie Heidegger nahelegt, zum Ergreifen der eigensten Möglichkeiten des Daseins im Entwurf nur der Weg über die Angst führt, dann müssen wir postulieren, daß wir ständig Angst zu haben hätten. Denn anders wäre nicht gewährleistet, daß wir unser Leben kontinuierlich in der geforderten Weise reflektiert und sinnvoll, selbstbestimmt führen können. Heidegger betont an vielen Stellen ausdrücklich, daß der Mensch nur in wenigen ausgezeichneten Augenblicken auf der Höhe seiner eigentlichen Möglichkeiten sein kann. Darin liegt auch das Zugeständnis, daß die Angst, die er als Grundbefindlichkeit des eigentlichen Daseins auszeichnet, einen Ausnahmezustand darstellt. Wir sehen in diesem Zusammenhang, wie sich aus seiner These von der Angst als einzigem Movens zur ernsthaften Lebensführung eine völlig verquere, eine im Vollsinn des Wortes desolate Handlungskonzeption ergibt. Daß, wie es Heidegger von der Wahrnehmung unserer höchsten Daseinsmöglichkeiten ausdrücklich sagt, die Angst höchst selten aufkommt, heißt, daß wir die überwiegende Zeit unseres Lebens nicht eigentlich handeln. Zwei mögliche Einwände gegen diese Interpretation sind zu bedenken. Zum einen mag es gegen sie sprechen, daß hier nicht unterschieden wird zwischen Angst überhaupt, von der Heidegger sagt, sie sei eine Grundbefindlichkeit des Daseins, und Todesangst. Doch darin kann auch kein berechtigter Einwand gesehen werden, weil Heidegger hier selbst keinen Unterschied macht. Im Duktus der Daseinsanalyse wird in der Tat deutlich, daß die Angst vor dem Tod erst Heideggers vorangehende Rede von der Angst, in der das Sein unheimlich werde, verständlich werden läßt. „Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf 187), heißt es bereits dort, wo die Angst als GrundMöglichkeiten sich entwirft" (SuZ, 35 befindlichkeit eingeführt wird. „Worum sich die Angst ängstet, ist das In-der-Weltsein selbst" (SuZ, 187). Wieso die Angst eine Grundbefindlichkeit des Daseins sein soll, wird erst klar in der Reflexion auf die Zwangsläufigkeit dieser Angst im ernstgenommenen Vorlauf des Daseins zum Tode so daß wir sehen müssen: Es gibt bei HeiArten nicht zwei oder Grade von degger Angst, sondern immer nur die eine, von der wir in der fortlaufenden Explikation erfahren, daß sie die Angst zum Tode ist. ,,[D]ie Angst -

An zwei Stellen der späteren Erläuterung ausdrücklich zur Todesangst (§§50-53) kann Anmerkungen mit dem Hinweis „Vgl. §40, S. 184ff." machen, a.a.O., 251 und 266.

Heidegger

203

Der Tod, die Kultur, die Moral

ist wesentlich Angst vor der Endlichkeit, der Vergänglichkeit, der Vernichtung", soviel hatte bereits Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit Sein und Zeit gesehen. Ein weiterer Einwand bezieht sich auf die praktisch-existentielle Bedeutung der Todesangst. Es mag der Vorschlag naheliegen, die Angst könnte in einem solchen Verständnis als Grundbefindlichkeit den Status eines Initiationsritus oder eines Erwekkungserlebnisses haben ihre Wirkung also auf das eigentliche Daseinsverständnis somit nach dem Modell eines Ein-für-allemal zu verstehen sein. Doch dem widerstrebt nicht nur der Sinn einer „Grundbefindlichkeit"; der Gedanke ist dem gesamten auf Eigentlichkeit ausgerichteten Ansatz dieses Denkens denkbar fremd: Das Eigentliche als das Authentische ist losgelöst vom je aktuellen Vollzug nicht zu haben; es geht daher mit dem Anspruch auf stets erneute Unmittelbarkeit einher. Für das, worum es Heidegger geht, kann es kein Surrogat, keine Vertretung, keine bloße Repräsentation in der Erinnerung, keine Institutionalisierung oder Habitualisierung geben. In Heideggers Motiv der Todesangst ist auch insofern bereits eine verkehrte Ethik angelegt, als wir in der damit verbundenen Bewertung von eigentlichem und uneigentlichem Handeln die Grundlage aller weiteren Bewertungen des Handelns sehen müssen. Alles, was nicht in der „sich ängstenden Freiheit zum Tode" (SuZ, 266) getan wird, ist damit uneigentlich, und das heißt auch: eigentlich nicht wert, daß man sich damit abgibt und Mühe gibt. Denn solche Mühe ist allemal ans Man verloren. Es ist nicht nötig, eigens aufzuzählen und im einzelnen zu belegen, wievieles an menschlichen Zwecken damit als wertlos und belanglos abgetan und der Vernachlässigung anheimgegeben ist. Das Verdikt der Uneigentlichkeit trifft nicht allein alles Konventionelle. Traditionen und Institutionen wie das Recht, deren Funktion gerade auch darin liegt, daß sie das Handeln nicht in jedem fraglichen Fall wieder an die grundstürzenden Intuitionen des Augenblicks überantworten, kann Heidegger daraufhin mit großzügiger Gebärde zur Disposition stellen. In diesem Putschismus liegt übrigens das eigentliche Skandalon der Rektoratsrede von 1933. Da heißt es: -

-

„Die Ausgestaltung jedoch des ursprünglichen Wesens der Wissenschaft verlangt ein solches an Strenge, Verantwortung und überlegener Geduld, daß dem gegenüber etwa die

Ausmaß

gewissenhafte Befolgung

oder die

eifrige Abänderung fertiger Verfahrungsweisen

kaum ins

Gewicht fallen."

Vgl. Ernst Cassirer, Heidegger und das Todesproblem, „Konvolut 184a", in: ECN1, 222-224; hier: 223. Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, Frankfurt/M. 1990, 17. Siehe zudem die selbstwiderspüchliche Auslegung des Satzes „Sich selbst das Gesetz geben, ist höchste Freiheit" also des Kantischen Autonomiegedankens durch die dogmatischen Erläuterungen, wie die damit angesprochene Studentenschaft ihre Autonomie aufzufasMit Blick auf die ungezählten Versuche einer Verharmlosung dieser Rede sen hätte (a.a.O., 15). wie den breiten Konsens, in dem die Größe von Heideggers Denken von der moralischen Ver-

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-

Persönliches Ethos, Moral und Politik

204

Dieser unscheinbare Satz enthält offenkundig die Ermutigung, daß alles auf ,die Bewegung' ankomme und nichts auf die Gesetze. Solche aktionistische Großzügigkeit führt mit Sicherheit nicht zu ausgezeichneten Daseinsmöglichkeiten, sondern ins Verhängnis. Aber nicht nur Institutionen sind auf diese Weise leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, wir selbst sind dadurch ganz entwertet. Die Fixierung auf die Angst konzentriert unser eigentliches Handlungsverständnis auf die wenigen Situationen, in denen uns diese Angst ergreift. Alles andere ist kein Gegenstand der Selbstachtung. Und mit dem Handlungsverständnis ist auch das Verständnis von Freiheit zweifelhaft: Heideggers sich ängstende Freiheit ist nur in wenigen Augenblicken; angesichts der Einsicht, daß es Menschen gibt, die womöglich nie in ihrem Leben solche Angst und die darin entspringende Größe des Entwurfs erleben, wäre sie die Freiheit ganz weniger Individuen. Für den Ethiker ist Handeln die Regel Heidegger macht aus dem Handeln eine Ausnahme. Damit ist kein Staat zu machen und auch keine Ethik. In dem damit umrissenen Horizont steht Heideggers Diktum in der Davoser Disputation, es wäre geradezu die Aufgabe der Philosophie, den Menschen radikal der Angst auszuliefern. Und hier liegt auch das Motiv für seine mehr als nur grob unhöfliche Abwertung der Kultur: Wir sollen als lauter Ablenkungsfaktoren alles verachten, was unserer Chance auf die Angst als die Durchdringung mit dem Bewußtsein der Nichtigkeit in die Quere kommt. -

-

-

fehlung seines „politischen" Abenteuers separat gehalten werden soll, ist daran zu erinnern, daß er 1936 „ohne Vorbehalt" im Gespräch mit Löwith der Einschätzung zugestimmt hat, „daß seine Parteinahme für den Nationalsozialismus im Wesen seiner Philosophie" liege „daß sein Begriff von der Geschichtlichkeit' die Grundlage für seinen politischen .Einsatz' sei" (Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, 57). Siehe zu diesem Teil von Heideggers Wirken auch Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heideg-

-

ger und seine Zeit, München 1994, 266ff.; zur Rektoratsrede ausführlich Reinhard Brandt, Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants „Streit der Fakultäten". Mit einem Anhang zu Heideggers „Rektoratsrede", Berlin 2003, Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität", 167-195. An dieser dem Ansatz inhärenten Einschätzung zeigt sich eines der größten Probleme dieses Denkens: Hier wird durchweg etwas von außen und von oben herab beurteilt, das eigentlich nur aus beurteilt werden des einzelnen Handelnden für sich selbst der jeweiligen Innenperspektive kann. -

-

Der Tod, die Kultur,

die

205

Moral

4. Ernst Cassirer: Das endliche Wesen, das seine Endlichkeit weiß Dem hat Cassirer

entgegengehalten:

„Die Philosophie hat den Menschen so weit frei werden zu lassen, so weit er nur frei werden kann. Indem sie das tut, glaube ich, befreit sie ihn allerdings in gewissem Sinne radikal von der Angst als bloßer Befindlichkeit." (Davos, 259)

hat sich in dem dritten seiner Davoser Vorträge mit Heideggers Todesgedanken auseinandergesetzt." Cassirer ordnet in seinen Überlegungen Sein und Zeit umstandslos „der modernen philos. Anthropologie" (HV, 26) zu, und er sieht richtig, daß „Heid. gesamte Erörterung auf das Todesproblem zentriert" ist: „Die Analyt. der Existenz findet hier ihren Mittelpunkt denn in Sinn u. Wesen der menschl. Existenz liegt es, daß diese Existenz ein Ende haben muss". Cassirer ist zwar voller Anerkennung für die „ganze [...] Wucht" und den „verpflichtenden Ernst", mit denen Heidegger „in reiner Einfalt und Schlichtheit" das Problem des Todes zur Geltung bringt (26 f.). Er stellt Heideggers Sicht des Todes in die Linie der christlichen Tradition, insbesondere von Luthers existentieller Dramatisierung, mit der die Todesangst des Individuums forciert wird. Aber gerade diese Sicht ist es, die ihm aufgrund ihrer Verhaftung an die bloße unsublimierte Befindlichkeit zutiefst unbefriedigend bleibt: Und

er

-

„H. hat gezeigt, wie diese Befindl. der Angst damit nur der Ausgangspunkt, der terminus

Zentralpunkt des Daseins wird. Aber wurde quo, nicht der terminus ad quem bezeichnet.

zum

a

Die Skizze dieses anscheinend nicht ausformulierten Vortrages ist Teil des Textes unter dem Titel „Heidegger-Vorlesung (Davos) März 1929" (im folgenden zitiert als „HV"), Box 42, folder 839 (94) in: Ernst Cassirer Papers. Cassirers Nachlaß in der Beinecke Rare Books and Manuscripts Library, Yale University, New Haven. Ich danke der Beinecke Library und dem Felix Meiner Verlag, Hamburg, für die Erlaubnis, aus diesem Konvolut zitieren zu dürfen. Der Nachweis der Zitate erfolgt im folgenden Text nach der von mir selbst vorgenommenen fortlaufenden Seitennumerierung, da Cassirers eigene Seitenzählung unvollständig ist. Wichtige Einsichten dieser Vortragsskizze stimmen z. T. wörtlich überein mit Formulierungen des kurzen Textes Heidegger und das Todesproblem (s.o.), der aus dem Konvolut 184a" stammt und vom Herausgeber auf „ca. 1928" datiert ist (ECN 1, 197). HV, 47. Unterstreichungen im Original wurden durch Kursivierungen ersetzt. Cassirer sieht „bei H. ganz tiefe religiöse insbesondere protestantische Motive" (HV, 49) und zitiert zur Erläuterung von Heideggers Sicht, insbesondere der radikalen Einsamkeit des Sterbens, ausführlich aus Martin Luther, Acht Sermone, erste Predigt (1523); vgl. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a.a.O., 364. -

-

-

Persönliches Ethos, Moral und Politik

206

Nicht die Angst vor dem Tode als solche sondern die Überwind[un|g dieser was für das Dasein des Menschen charakteristisch ist." (HV, 32f.)

Angst [...]

ist es,

dagegen die klassische „antik-heidnische, die eigentlich ,philosophische' Orientierung", die dem Tod in Gedanken gewachsen sein will und dies durch die Partizipation an einem Allgemeinen zu leisten sucht, die Cassirer gegen Heideggers im wesentlichen „christlich-religiöse" Sicht in Erinnerung ruft (HV, 57). Die Position der Todesbewältigung, wie wir sie bei Piaton, bei Seneca, bei Montaigne, bei den Humanisten kennen, nimmt Cassirer für seine kulturphilosophische Position in Anspruch: Ihm geht es gerade nicht um die „Angst vor dem Tode als solche, sondern die Überwind[un]g dieser Angst" (HV, 32), wie er sie in verschiedenen Varianten der idealistischen Philosophie findet. „Der Mensch ist das endliche Wesen, das seine Endlichkeit weiss" (HV, 33) und sie in diesem Wissen überwinden, jedenfalls in gewissem Sinne bewältigen kann. „Im Wissen wird die bloße Tatsächlichkeit des Todes [für Cassirer offenbar die Entsprechung zur bloßen Befindlichkeit der Angst, B.R.] überwunden" (HV, 55). In allen Formen der Bewältigung sieht Cassirer Weisen der Befreiung und damit der Transzendenz. Was Cassirer im Gespräch mit Heidegger dezidiert der Philosophie zur Aufgabe macht, ist nach seinem Ansatz aber generell die Funktion der Kultur: Befreiung, als deren zentraler Aspekt nunmehr die Befreiung von der Angst vor dem Tod erkennbar Es ist

'

-

wird. Immer wieder finden wir in Cassirers Werk den grundlegenden Hinweis darauf, daß der Sinn aller Kultur, aller Symbolisierungsleistung, darin liege, aus der Befangenheit im bloß unmittelbaren Eindruck zu befreien. Alle Kultur ist Form der Freiheit, insofern sie dem Menschen die Distanzierung und die Disposition über den unmittelbaren sinnlichen Eindruck ermöglicht und ihm damit allererst und in den unterschiedlichsten Gradabstufungen einen Handlungsspielraum eröffnet. Was es aber mit dem Leitmotiv der Befreiung und der Freiheit in Cassirers Theorie der Kultur auf sich hat, wird in dem Davoser Vortrag über den Tod mit letzter Deutlichkeit herausgestellt: Denn die Angst,

Gegen Heidegger,

und zwar gegen das Angstradikal wie gegen seine Auffassung, daß wir im Tode schon zeit unseres Lebens sterben, kann man im Grunde auch lesen, was entwickelt, wenn er die Entgrenzung des Lebens zum Tod als einen „gänzlich unbegründete^] Tragizismus" bezeichnet (Plessner, Die Stufen des Organischen, a.a.O., 205). Cassirers Deutung des Phaidon ist bemerkenswert: „Wenn auch alle dogmat. metaphysischen Unsterblichkeitsbeweise, die Piaton giebt, brüchig wären u. vor der strengen Logik verschwinden müssten |... | so würde doch dies nichts an dem eigentl. Gehalt des Werkes ändern. Denn dieser wird nicht durch die einzelnen dogmat.-metaphys. Unsterblichkeitsbeweise konstituiert, sondern durch die Gestalt des sterbenden Sokrates." (HV, 35 f.) Darüber hinausgehend siehe neuerdings Volker Gerhardt, Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, in: Berichte und Abhandlungen, Bd. 11, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (in Vorbereitung).

Vorlauf

zum

-

207

Der Tod, die Kultur, die Moral

der sich Heidegger so viel verspricht, erscheint hier als der ausgezeichnete Fall eines bloßen unmittelbaren Eindrucks, eines Affekts, von dem es gilt, sich zu befreien. Die Kultur befreit uns nicht allein schlechthin von der immer wieder beschworenen Befangenheit im bloßen sinnlichen Eindruck sie befreit uns vor allem von dem lähmenden Gedanken, der sich für ein reflektiertes Wesen als Konsequenz der Einsicht in die eigene Endlichkeit ergeben könnte. Sie befreit uns vom allfälligen Gedanken an den Tod, indem sie uns in den Werken eine Dimension des Weiterlebens eröffnet. Es ist daraufhin nur ein kleiner Schritt zu der Konsequenz, daß der Sinn der Kultur in der Überwindung des tragischen Gedankens an die Endlichkeit des Lebens liege. Cassirer spricht sie nicht aus, doch er legt sie nahe. Es ist in diesem Zusammenhang auch aufschlußreich, noch einmal einen Blick auf das Thema der gesamten Davoser Veranstaltung zu werfen. Der Titel dieses Blockseminars lautete: „Mensch und Generation". Den Bezug auf den Menschen einmal vorausgesetzt, darf man zur Verdeutlichung wohl sagen, das Thema war somit „Individuum und Gattung". Es ist schwer zu erkennen, was Heideggers Beiträge für das Verständnis dieses Verhältnisses leisten; Cassirer dagegen hat mit der Betonung der Kultur als des Objektivität und Allgemeinheit stiftenden und erhaltenden menschlichen Lebenselements immer schon auf dieses Verhältnis hingewiesen. Das Allgemeine, an dem der Mensch nach seiner Ansicht teilhat, indem er in der Kultur lebt, ist nämlich niemals bloß die überindividuelle Objektivität der Werke, es ist immer auch die Kontinuität der Gattung, die sich in diesen Manifestationen durchhält. Im Blick darauf ist eine vorzügliche Weise der Bewältigung des Todes zu gewinnen. Beide, Cassirer wie Heidegger, sind das systematische Werk zur Moral schuldig geblieben. Aber mit Blick auf die Ansätze, die Grundbegriffe und die Umrisse beider Werke können wir, auch wenn dies auf der Basis seines entgrenzten Freiheitsbegriffs schwierig geworden ist, im Fall Cassirers sagen, daß er eine Ethik hätte schreiben können und wie diese ausgesehen hätte. Für Heidegger können wir beides beim besten Willen nicht sagen. Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe wenn sie dasselbe lassen, auch nicht. von

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„Hoffnung und nicht Trost also verspricht Cassirer" Cassirers Kulturphilosophie angelegten Gedanken von

Quintessenz bringt den in „Realisierung der Idee der Menschheit" im Prozeß der Zivilisation Peter A. Schmid, Endlichkeit und Angst. Heidegger und Cassirer 1929 in Davos, in: Kaegi/Rudolph (Hg.), Cassirer Heidegger, a.a.O., 130-155; Zitat: 147. In dieser Konsequenz kommt Cassirer wie in seinem singulären Versuch von 1925, das Prinzip einem Denker nahe, dessen der Kultur in einem entgrenzten Begriff der Metapher zu sehen Motive und Ansprüche ihm aufs Ganze gesehen denkbar fremd sind: Friedrich Nietzsche; siehe oben Teil B, Kap. II, 3. auf diese

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der

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Persönliches Ethos, Moral und Politik

208

5. Die

subjektphilosophische Moral von der Geschieht'

Die Davoser Disputation geht aus von der Frage nach der angemessenen Kant-Interpretation, insbesondere vom Problem der Endlichkeit der mit der Vernunft gesetzten Perspektive. Da der Herausforderer Heidegger versucht hat, gegen alles, was man bis dahin bereits kennen kann, Cassirer als Protagonisten des Neukantianismus in die Ecke einer rein erkenntnistheoretisch-szientifischen Kant-Auslegung zu stellen, und da dies

für alle Zeiten im Protokolltext der Disputation steht, werden die Interpreten dieses Epochenereignisses nicht müde, die Verhältnisse richtigzustellen: War Cassirer zum Zeitpunkt der Begegnung in Davos noch Neukantianer? Cassirer war von Anfang an kein Neukantianer im Sinne jenes Abziehbildes einer einseitigen erkenntnistheoretischen Kant-Interpretation, auch nicht einer wissenschaftstheoretischen Beschränkung des Verständnisses der Kritik der reinen Vernunft. Er hatte überdies zum Zeitpunkt der Disputation längst den Schritt vollzogen, den er selbst griffig als Erweiterung der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur beschrieben hat und mit dem übrigens kein Abschied von der Vernunft gemeint war. Sein Verhältnis zu Kant ist komplex. Zwar bezeichnet er selbst seine Philosophie weiterhin als eine Transzendentalphilosophie, hält nachdrücklich fest an der ursprünglichen Einsicht der Kopernikanischen Wende und legt Wert darauf, jenen reflektierten idealistischen Ansatz zu vertreten und weiterzuentwickeln, der sich nach der Einfügung der Widerlegung des Idealismus in die zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ergeben hat. Entsprechend deutlich erkennt man in seiner Konstruktion von Akten geistiger Freiheit, von Taten des Geistes, wie es auch heißt, das Modell des transzendentalen Aktivismus Kants wieder. Mit der Durchführung der Kulturphilosophie als einer bedeutungstheoretisch fundierten Lehre von der Hervorbringung der menschlichen Welt ist aber ein realistisches Programm der unauflöslichen Einheit von Sinnlichkeit und Sinn, von Außen und Innen, von Subjekt und Welt verbunden, in dem ein ernsthafter Versuch zur Überwindung des erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Dualismus gesehen werden mag. Inwieweit dies eine Abkehr von Kant bezeugt, ist immer auch eine Frage der Kant-Interpretation, inder freilich die Reflexion darauf, was dessen in allem funktionstheoretische Analyse der subjektiven Vermögen denn für das damit unterstellte Weltverhältnis besagt, nicht vergessen werden darf. Cassirers Verhältnis zu Kant ist von zahlreichen Modifikationen gekennzeichnet. Es wäre zudem eine unnötig beflissene Beschwichtigung, wenn wir Heideggers Insinuation, hier einen Dinosaurier der Subjektphilosophie vor sich zu haben, mit der Versicherung außer Kraft zu setzen suchten, Cassirer habe doch Konsistenz seines eigenen Systementwurfs vorausgesetzt die Subjektphilosophie gerade hinter sich gelassen. Das nun

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Der Tod, die Kultur, die Moral

209

Er hat sie in einer Reihe von Differenzierungen erweitert. Das zeigt sich grundlegend in seiner Konzeption der Kultur als eines Systems der Und es zeigt sich ganz besonders im entscheidenden Punkt des praktischen Selbstverständnisses, handlungstheoretisch und moralphilosophisch. Er geht, wie wir seinen Reflexionen auf das Verhältnis von Willen und Einsicht, von normativen Elementen des Selbstbewußtseins, von individueller Verantwortung und von der Unhintergehbarkeit des Humanismus entnehmen dürfen, weiterhin vom verantwortlichen Subjekt des Handelns aus. Er muß auch davon ausgehen. Denn anders wäre es nicht möglich, in den individuellen wie politischen Fragen des Handelns überhaupt ein Problem zu sehen, das

hat

er

nicht.

Repräsentation.47

uns

angeht.

Vgl.

die

Beiträge

von

John Michael Krois und Massimo Ferrari in Naumann /Recki, Cassirer und

Goethe, a.a.O.; siehe vor allem Orth, Von der Erkenntnistheorie 28-39; 79ff. ; 107ff.; 123 ff.; 176-189; 203-213.

zur

Kulturphilosophie, a.a.O.,

Siglenverzeichnis

AUS:

BüH:

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an

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und Wissenschaft der

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neueren

Zeit. Erster

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Das

Erkenntnisproblem

in der

Erkenntnisproblem

in der

Philosophie

und Wissenschaft der

Philosophie

und Wissenschaft der

neueren

Zeit. Zweiter

Band, Text und Anmerkungen bearbeitet von Dagmar Vogel, Hamburg 1999 (ECW 3). —,

Das

neueren

Zeit. Dritter

Band, Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon, Hamburg 2000 (ECW 4). Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932), Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berbén und Dagmar Vogel, Hamburg 2000, (ECW 5). Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker, Hamburg 2001 (ECW 7). Kants Leben und Lehre (1918), Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berbén, Hamburg 2001 (ECW 8). .Aufsätze und kleine Schriften 1902-1921, Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon, Hamburg 2001 (ECW 9). .Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923), Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg 2001 (ECW 11). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg 2002 (ECW 12). .Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens, Hamburg 2002 (ECW 13). Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaisssance (1927), Text und Anmerkungen bearbeitet von Friederike Plaga und Claus Rosenkranz, Hamburg 2002

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Personenregister

Adorno, Theodor W., 20-21, 41, 107, 152, 165, 196 Arendt, Hannah, 23, 104 Aristoteles, 68 Augustinus, Aurelius, 201 Barash, Jeffrey Andrew, 14 Barbaric, Damir, 14 Bartuschat, Wolfgang, 14, 140 Bast, Rainer A., 38 Benjamin, Walter, 14 Bergson, Henri, 57 Blackstone, 157 Blumenberg, Hans, 14, 131, 187-88 Bollnow, Otto Friedrich, 41 Bovillus, Carolus, 194, 195 Brandt, Reinhard, 204 Buchthal, Hugo, 37 Burckhardt, Jacob, 176, 181

Cassirer, Toni, 103, 104, 131-33, 149 Chapeaurouge, Paul de, 146 Charron, 156 Christina, Königin von Schweden, 156 Cohen, Hermann, 134, 136-38, 142, 162 Corneille, Pierre, 156 Darn ton, Robert, 28

Descartes, René, 12, 139, 154, 156, 190 Dewey, John, 113 Dilthey, Wilhelm, 82, 138, 139 Dreisbach, Elke, 117 Eckardt, Hans Wilhelm, 130 Edwards, Paul, 200 Einstein, Albert, 12

Elkana, Yehuda, 37 Ferrari, Massimo, 12,41, 131, 133, 155, 209

Fichte, Johann Gottlieb, 148, 165 Figal, Günter, 14, 179, 192 Fischer, Carolin, 117 Fischer-Appelt, Peter, 131 Frede, Dorothea, 14, 197, 200 Freud, Sigmund, 86 Friedman, Michael, 142 Fries, Jakob Friedrich, 136 Früchtl, Josef, 14 Galilei, Galileo, 12 Gauß, Günter, 104 Gehlen, Arnold, 21 Gerber, Gustav, 79 Gerhardt, Volker, 14, 179, 180, 195, 206 Gethmann, Carl Friedrich, 152, 193 Gleiter, Jörg H., 14 Goethe, Johann Wolfgang von, 12, 28, 53, 75, 83, 109, 112, 115-20, 123-24, 149, 174 Göller, Thomas, 73, 77, 135 Gombrich, Ernst, 37 Goodman, Nelson, 43, 92 Graeser, Andreas, 13, 32 Großheim, Michael, 20, 192 Grotius, Hugo, 148, 157 Gründer, Karlfried, 42 Habermas, Jürgen, 40, 134 Hägerström, Axel, 38, 123, 148, 154, 156, 157, 160, 161, 190, 192, 193 Hänel, Michael, 38, 104

PERSONENREGISTER

222

Hartmann, Nicolai, 136 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 47, 55, 137, 148, 152 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 190 Heidegger, Martin, 11, 20-21, 41,42, 53, 132-39, 152, 165, 189, 192-208 Helmholtz, Hermann, 136 Heraklit, 196 Herder, Johann Gottfried, 79, 80, 148 Hertz, Heinrich, 55 Hinsch, Martina, 111 Hogrebe, Wolfram, 14 Holzhey, Helmut, 14, 136 Homer, 97 Horkheimer, Max, 107, 196 Horster, Detlef, 14 Hoyer, Ulrich, 151 Humboldt, Wilhelm von, 12, 14, 36, 42, 54,68,70,82, 134, 163

Leibniz, Gottfried Wilhelm, 12, 147, 148,

Ihmig, Karl-Norbert,

Nagl, Ludwig, 14 Napoleon, 120 Natorp, Paul, 136,

13

Kaegi, Dominic, 77 Kandinsky, Wassily, 36 Kant, Immanuel, 12, 45, 47, 53, 54, 57-59, 61, 63, 64, 66, 82,94, 109, 119-24, 133, 137-38, 140, 142-44, 147, 154-58, 161, 163, 165, 167-70, 173, 182, 185-86, 191,208-9 Kelsen, Kelsen, 137 Kierkegaard, Sören, 201 Kirke, 105

157

Levinas, Emmanuel, 41 Liebmann, Otto, 136 Lohse, Gerhard, 130 Löwith, Karl, 204 Lüddecke, Dirk Henry, 148 Luther, Martin, 120, 205 Mann, Thomas, 67, 117 Marquard, Odo, 114 Maurer, Reinhard, 21 Mayer, Susanne, 120 Meile, Werner von, 130 Merz-Benz, Peter, 14 Michels, Karen, 37

Möckel, Christian, 115 Montaigne, Michel de, 156, 200, 206 Musil, Robert, 198

138

Naumann, Barbara, 14, 119 Neiman, Susan, 24 Nelson, Leonard, 136 Newton, Isaac, 12, 143, 155 Nicolaysen, Rainer, 130 Nietzsche, Friedrich, 42, 79-80, 150, 157, 179,207 Nikolaus von Kues (Cusanus), 12, 140, 155

Klages, Ludwig, 57

Kleist, Heinrich von, 68, 72-73, 81 Klibansky, Raymond, 135, 149 Köhnke, Klaus Christian, 136 Konersmann, Ralf, 14 Krause, Eckart, 130 Krijnen, Christian, 141 Krois, John Michael, 14, 37, 38, 130, 134, 156, 159-61, 190,209 Krüger, Hans-Peter, 22 Lachmann, Rolf, 43 Lange, Friedrich Albert, 136 Langer, Susanne K., 43, 82

Odysseus, 105 Ollig, Hans-Ludwig, 136 Orth, Ernst Wolfgang, 14, 34, 40, 49, 57, 122, 154,164, 178,209 Ott, Hugo, 195 Paetzold, Heinz, 13, 33, 160 Panofsky, Erwin, 36, 44 Pascal, Blaise, 156 Paul, Jean, 67 Perpeet, Wilhelm, 139 Peters, Jens Peter, 77 Piaton, 34, 67, 71, 87- 90, 206

Plessner, Helmuth, 21, 22, 206 Poma, Andrea, 84 Prauss, Gerold, 152, 193

Protagoras,

19

Rauseo, Chris, 117 Recki, Birgit, 23, 26, 100, 113, 114, 121, 140, 155, 177, 195 Renz, Ursula, 14 Rickert, Heinrich, 136, 138-42 Riehl, Alois, 136 Ritter, Joachim, 112, 114 Rousseau, Jean-Jacques, 26-29, 133, 140, 155, 185 Rudolph, Enno, 13, 14,40,72, 112, 175

Safranski, Rüdiger, 179, 204 Sartre, Jean-Paul, 195, 197 Saxl, Fritz, 131 Schärf, Christian, 117 Scheible, Hartmut, 175 Schiller, Friedrich, 120 Schmid, Peter A., 207

Schmitz-Rigal, Christiane,

Snow, Charles P., 22 Sokrates, 156, 190,201,206 Stamatescu, Ion O., 13 Stark, Thomas, 98 Starobinski, Jean, 27, 28 Steinvorth, Ulrich, 14

Stephenson, Roger, 14 Sternberger, Dolf, 199 Sturma, Dieter, 28 Sulzer, 117 Taubes, Jacob, 42 Taylor, Charles, 167 Track, Joachim, 14 Tugendhat, Ernst, 24, 200 Tylor, Edward Burnett, 21 Uexküll, Jakob von, 29

Vinci, Leonardo da, 116 Vischer, Friedrich Theodor, 158

Vogel, Barbara, 13

Schnädelbach, Herbert, 21 Schneeberger, Guido, 133 Schweitzer, Albert, 151 Schwemmer, Oswald, 22, 34, 53, 56, 58, 109, 116, 166, 167 Sehweppenhäuser, Gerhard, 14, 152 Seneca, Lucius Annaeus, 200, 206 Shakespeare, William, 119, 120 Simmel, Georg, 20, 24, 57, 136, 162, 172-75, 178-80, 182-85, 187, 190 Sloterdijk, Peter, 194

130

Volkelt, Johannes, 136

Voltaire, (François Marie Arouet), 27 Waniek, Eva, 14 Warburg, Aby, 131, 145 Warnke, Martin, 131 Weber, Max, 176 Windelband, Wilhelm, 136, 138, 139, 140-42

Wittgenstein, Ludwig, 11,81 Wolff, Christian, 147