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German Pages 198 [200] Year 2019
CASSIRER-FORSCHUNGEN
CASSIRER-FORSCHUNGEN Band 13
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Reto Luzius Fetz / Sebastian Ullrich (Hg.)
Lebendige Form Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1872-8
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2008. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Schaumann, Darmstadt. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DINISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Systematische Grundbegriffe Reto Luzius Fetz (Eichstätt): Forma formata – forma formans. Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Sebastian Ullrich (Eichstätt): Der Geist als Prinzip des Bildens bei Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Mathias Gutmann (Marburg): Geist und Leben. Systematische Überlegungen zur Transformation von Redeformen . . . . . . . . . . . . . . . 57
Zweiter Teil: Praktische Philosophie Klaus Wiegerling (Stuttgart): Leib als symbolische Form und Ursprung von Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Martina Plümacher (Berlin): Der ethische Impuls in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Christian Bermes (Trier): „Das Ausdrucksproblem greift tief in das Gebiet der Ethik ein…“ Expressivität und Personalität bei Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Dritter Teil: Theoretische Philosophie Ernst Wolfgang Orth (Trier): Ernst Cassirer zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften. Ein terminologisches Problem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Ralf Becker (Kiel): Paradigmen zu einer Dramaturgie der Kultur. Cassirers Auseinandersetzung mit Simmels Kulturkritik im Licht der ,Basisphänomene‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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Inhalt
Christian Möckel (Berlin): Die Kulturwissenschaften und ihr Lebensgrund. Zu Ernst Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Verwendete Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Einleitung
Cassirer wird bekanntlich vor allem unter dem kulturtheoretischen und anthropologischen Aspekt gelesen. Besonderes Augenmerk legt jedoch Cassirer selbst in seinen nachgelassenen Manuskripten und Texten auf die Begriffe „Geist“, „Leben“ und „Form“. Diese diskutiert er in den Kontexten seiner Zeit. Im Hinblick auf den systematischen Ertrag und die aktuelle Anschlussfähigkeit seiner Überlegungen kann der Schatz, der in diesem Nachlass steckt, noch lange nicht als gehoben gelten. Die Beiträge zur Eichstätter Ernst-Cassirer-Tagung vom Herbst 2006, die im hier vorgelegten Tagungsband vereinigt sind, zeigen in aller Deutlichkeit, dass mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und insbesondere mit seinem nach wie vor nicht hinreichend erschlossenem Nachlass bedeutsame Wege für die Philosophie eröffnet sind. Um auf der Folie eines klassischen Rasters die Relevanz von Cassirers Denken deutlich zu machen, sind die Beiträge in drei Hauptteile unterteilt: Systematische Grundbegriffe, Praktische Philosophie und Theoretische Philosophie. Die Beiträge, die unter der Überschrift „Systematische Grundbegriffe“ zusammengefasst sind, diskutieren Cassirers Reflexionen bezüglich einer Grundlegung seiner Philosophie, für die er mit dem Titel „Metaphysik des Symbolischen“ ein prägnantes Label gefunden hat. Der zweite Hauptteil des Bandes beschäftigt sich mit Fragestellungen der „Praktischen Philosophie“. Diese stehen hier vor dem dritten Hauptteil, der sich der „Theoretischen Philosophie“ zuwendet, wie sie mit Cassirer konzipierbar ist, nämlich als Kulturphilosophie im spezifischen Sinne. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass in der immanenten Gedankenentwicklung und Systematik der Philosophie der symbolischen Formen ebenso wie in den Überlegungen zur Metaphysik des Symbolischen der Reflexion auf die praktischen Komponenten der Welthabe stets eine ausgezeichnete Stellung zukommt. Für Cassirer gilt mit Bezug auf das zentrale Thema der Philosophie der symbolischen Formen – dem Problem der Bedeutung – das Primat des Praktischen. Deshalb kann aber auch die „theoretische Philosophie“ nicht mehr bloß erkenntnistheoretisch oder gar nur wissenschaftstheoretisch verfahren. Jede theoretische, also in Urteilen (im engeren Sinne) gebundene „Verhaltungsweise zur Welt“ (Cas-
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Einleitung
sirer) muss dementsprechend immer als Praxis reflektiert werden. Damit wird die theoretische Philosophie im Sinne der Philosophie der symbolischen Formen zwangsläufig zu einer Kulturphilosophie. Im ersten Hauptteil des Bandes stellen entsprechend die Beiträge von Reto Luzius Fetz, Sebastian Ullrich und Mathias Gutmann zentrale Grundbegriffe der cassirerschen Philosophie erneut in den Fokus kritischer und konstruktiver Betrachtung. Fetz stellt in seinem Beitrag „Forma formata – forma formans. Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen“ in Absetzung von der Lebensphilosophie den Formbegriff als verbindendes Drittes zwischen Geist und Leben heraus. In historischen Bezugnahmen, insbesondere auf Aristoteles, aber auch auf Piagets genetischen Strukturalismus, bringt er den eminenten Gehalt der stets in Korrelation zu denkenden Begriffe der forma formata und der forma formans ans Licht. Aus diesen historisch-systematischen Betrachtungen springt ein dreistufiges cassirersches Idealprogramm heraus, das von der einzelwissenschaftlichen Forschung über die Philosophie der symbolischen Formen bis hin zu einer eigentlichen Metaphysik reicht. Ullrich nimmt demgegenüber für seine Untersuchung eine transzendentalphilosophische Position ein. In seinem Beitrag „Der Geist als Prinzip des Bildens bei Ernst Cassirer“ zeichnet er Cassirers systematische Auseinandersetzung mit Ludwig Klages, Georg Simmel und Martin Heidegger nach. Dabei reflektiert er zunächst auf den systematisch von Fichte entlehnten Begriff des Bildens, dann auf den Begriff der Form und schließlich auf den des Sinnes, um ihren inneren Zusammenhang deutlich zu machen. Damit zeigt Ullrich, wie Cassirer in seiner Metaphysik des Symbolischen die immanente Konstitution des geistigen Lebens denkt. Gutmann wählt wiederum den Weg eines historischen Vergleichs grundlegender Begrifflichkeiten, wobei er Scheler und besonders Cassirers Göttinger Zeitgenossen Josef König als Referenzautoren heranzieht. Im Aufsatz „Geist und Leben. Systematische Überlegungen zur Transformation von Redeformen“ zeichnet er zunächst in einer an biologischen Konzeptionen interessierten, sprachanalytischen Herangehensweise Inhalt und Umfang von Cassirers Lebensbegriff nach, indem er dessen Verwendungsweisen kritisch beleuchtet und systematisiert. Durch eine Gegenüberstellung der für Cassirer gewonnenen Ergebnisse mit denen von Josef König erhält der Begriff des Lebens zudem eine noch größere Klarheit und Schärfe. Cassirers im weitesten Sinne kulturphilosophische und die in diesem Horizont zu sehenden wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Überlegungen fußen wie gesagt auf dem Primat des Praktischen. Freilich ent-
Einleitung
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äußert sich gemäß der Philosophie der symbolischen Formen jeder Aktus (als Thema der praktischen Philosophie) immer schon in einem spezifischen Werk, das selbst zugleich Gegenstand theoretischer Betrachtungen ist bzw. sein kann. Dies ergibt sich, wie schon die ersten drei Beiträge des Bandes sichtbar werden lassen, aus den grundlegenden begrifflichen Korrelationen von forma formans und forma formata beziehungsweise von Geist und Bilden, Lebendigkeit und Leben. Genau deshalb sind auch die Fragestellungen der praktischen Philosophie auf eine Einbeziehung ihres jeweiligen originären Objekts angewiesen. Erst daran können letztlich Probleme der (angewandten) praktischen Philosophie im engeren Sinne von Ethik geknüpft werden. Die beiden vielleicht folgenreichsten, in ihrer Tiefe und Tragweite aber noch lange nicht erschöpften Theoriekerne von Cassirers praktischer Philosophie in diesem Sinne stellen das Problem des Leibes und das Problem der Technik dar, zwischen denen prinzipielle Fragestellungen in Hinsicht auf die Ethizität der Philosophie der symbolischen Formen zu verorten sind. Dementsprechend sind im zweiten Hauptteil des Tagungsbandes die Beiträge von Klaus Wiegerling, Martina Plümacher und Christian Bermes angeordnet. Durch die symbolischen Formen sind dem Menschen als animal symbolicum im cassirerschen Verständnis Zugänge zur Welt eröffnet: Welt (überhaupt) ist dem animal symbolicum durch sein symbolisches Universum gegeben. Darin entfaltet sich das geistige Leben des Menschen immer in konkreten, historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Vollzügen. Insofern muss sich auch und gerade die Philosophie der symbolischen Formen der Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit der dem Menschen symbolisch vermittelten Welt öffnen, wobei zu beachten ist, dass der Mensch als objektive Existenz selbst nur durch symbolische Medien erscheint. Wiegerling thematisiert in seinem Beitrag „Leib als symbolische Form und als Ursprung von Medialität“ Cassirers Leibphilosophie mit einem Blick auf aktuelle Fragestellungen ethnologischer, kulturvergleichender und insbesondere phänomenologischer Untersuchungen. Dabei übt er zugleich konstruktive Kritik an Konzeptionen der aus der Analytischen Philosophie und ihren spezialisierten Spielarten der Philosophy of Mind hervorgegangenen Neurophilosophie, die – was von ihnen selbst nicht reflektiert wird – auf ihren behavioristischen und physikalistischen Fundamenten nicht zu einer eigentlichen, anthropologisch relevanten Leibtheorie kommen. Die Leiblichkeit des Menschen ist als „Urbild und Musterbild jeder symbolischen Relation“ (Cassirer) die wesentliche Grundform des In-der-Welt-Seins des animal symbolicum im cassirerschen Verständnis. Gerade dies fordert eine Beleuchtung der ethischen
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Einleitung
Aspekte von Cassirers Philosophie heraus, was in den folgenden beiden Beiträgen des zweiten Hauptteils geschieht. Plümacher stellt in ihrem Aufsatz „Der ethische Impuls in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“ auf eine Aufklärung des Status der Moralität in Cassirers Philosophie ab. In einem ersten Teil untersucht sie, welche verschiedenen Gesichtspunkte der Moral durch die unterschiedlichen symbolischen Formen ausgeprägt und präsent gehalten werden. In einem zweiten Teil ihres Aufsatzes entwickelt Plümacher dann die These, dass die Moralität, die Cassirers Philosophie der symbolischen Formen durchzieht, in der Form dieser Philosophie selbst verankert ist. Auch Bermes vertritt in seinem Beitrag „‚Das Ausdrucksproblem greift tief in das Gebiet der Ethik ein …‘ – Expressivität und Personalität bei Cassirer“ die These, dass in Cassirers Philosophieren eine ethische Reflexion im Sinne einer Selbstartikulation zu finden ist. Bermes geht jedoch über diesen werkimmanenten Befund hinaus. Über die Erwägung phänomenologischer Einsichten, die er mit Merleau-Ponty beisteuert, und über eine kritische Aktualisierung von Kants Versuchen einer anthropologisch fundierten Ethik dringt er zu gegenwärtig diskutierten Fragestellungen der philosophischen Anthropologie und der Frage nach ihrer Stellung zu traditionellen moralphilosophischen Problemen vor. Aus den Begriffen „Geist“, „Leben“ und „Form“ lassen sich die Grundkonstanten – Cassirer spricht von „Basisphänomenen“ – des geistigen Lebens, nämlich Leib, Ethizität und Werk entwickeln. Die Pluralität an philosophischen Positionen, die dabei in den einzelnen Beiträgen des Bandes zum Ausdruck kommen, wirft nicht nur selbst ein vielseitiges, lebendiges Licht auf Cassirers Philosophieren, sondern demonstriert zugleich die große Offenheit und Anschlussfähigkeit von Cassirers Philosophie an das Denken der Gegenwart. Deshalb steht auch zu erwarten, dass mit den Mitteln der Philosophie der symbolischen Formen im Horizont der aktuellen, nicht zuletzt vom cultural turn und der nach und nach alle Lebensbereiche erfassenden Globalisierung wichtige Positionsbezüge eines in interkulturellen Dimensionen denkenden Diskurses möglich werden. Grundlegenden Aspekten der Kulturphilosophie, wie sie sich im Anschluss an solche Überlegungen ergeben, geht der dritte Hauptteil des Bandes zur „theoretischen Philosophie“ im erläuterten Sinne nach. Hier sind die Beträge von Ernst Wolfgang Orth, Ralf Becker und Christian Möckel vereint. Orth zeigt in seinem Aufsatz „Ernst Cassirer zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft. Ein terminologisches Problem?“ zunächst mit einem am Nachlass geschärften Blick auf Cassirers Bücher Essay on
Einleitung
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Man und Logik der Kulturwissenschaften in einer historischen Analyse die Ambivalenz der Cassirerschen Begrifflichkeit auf. Denn einerseits lassen sich Cassirers Theoreme mit einem Verständnis als prima philosophia lesen – was den Blickpunkten, die besonders in den Beiträgen zum ersten Hauptteil des Bandes eingenommen werden, ihre Berechtigung gibt. Andererseits können aber Cassirers Begriffe immer auch sogleich in spezifischen Fragestellungen angewandter Kulturphilosophie zum Tragen kommen – was die Öffnung der Philosophie der symbolischen Formen, wie sie im dritten Hauptteil vollzogen wird, legitimiert. Damit stellt Orths historischer Beitrag zugleich eine bedeutende Leistung zur systematischen Positionierung der Philosophie der symbolischen Formen dar. Becker untersucht in „Paradigmen zu einer Dramaturgie der Kultur. Cassirers Auseinandersetzung mit Simmels Kulturkritik im Licht der ‚Basisphänomene‘“ die komplexe Beziehung Cassirers zu seinem Berliner Lehrer. Er rekonstruiert die im Nachlass Cassirers vorliegende Diskussion von Georg Simmel und seine Abwehr von dessen Rede von einer „Tragödie der Kultur“. Den abschließenden Beitrag liefert Möckel mit „Die Kulturwissenschaften und ihr Lebensgrund. Zu Ernst Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften“. In großer Textnähe zu Cassirers Nachlass zeichnet er die begriffl ichen und terminologischen Entwicklungen nach, die Cassirers Überlegungen im Kontext seiner Metaphysik des Symbolischen und der Theorie der Basisphänomene genommen haben. Damit gelingt Möckel zugleich wiederum eine Rückbindung von Cassirers im engeren Sinne kulturphilosophischen Fragestellungen an den Begriff des Lebens. Die Beiträge der Eichstätter Ernst-Cassirer-Tagung, die in den Kapiteln zu den Systematischen Grundbegriffen, zur Praktischen und zur Theoretischen Philosophie vereinigt sind, demonstrieren und illustrieren somit die Aktualität und Anschlussfähigkeit von Ernst Cassirers Philosophie in Hinblick auf gegenwärtige systematische Hauptthemen der Philosophie. Die hier geführte und zur Fortführung anregende Diskussion der Grundbegriffe und Begründungsstrategien von Cassirers Philosophie ist als eigenständiger Beitrag zur gegenwärtigen philosophischen Debatte im Allgemeinen und zur kulturwissenschaftlichen Debatte im Besonderen zu werten. Im Kontext der Globalisierung philosophischer Fragestellungen – eine der Aufgaben für das 21. Jahrhundert – erscheint die Philosophie der symbolischen Formen zudem als ein Lösungsweg für die hoch brisanten Probleme eines interkulturell tragfähigen und annehmbaren Philosophieverständnisses – und damit eines interkulturellen, ethisch verantwortbaren Selbstverständnisses des Menschen überhaupt.
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Einleitung
Zu danken haben die Herausgeber Herrn Philipp Drieger für die Mithilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Der Maximilian Bickhoff Universitätsstiftung, der Eichstätter Universitätsgesellschaft und der Eichstätter Universitätsstiftung gilt unser Dank für die finanzielle Unterstützung der Tagung, aus der die Beiträge des vorliegenden Bandes hervorgegangen sind.
Erster Teil
Systematische Grundbegriffe
Reto Luzius Fetz
Forma formata – forma formans Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen
Die aus dem Nachlass herausgegebenen Schriften Cassirers erweitern und vervollständigen das Bild dieses so bedeutenden Philosophen in einem erheblichen Maß. Fragen, die bisher offen geblieben waren und worüber man nur Mutmaßungen anstellen konnte, finden hier ihre dezidierte Beantwortung. Insbesondere das Problem einer Letztbegründung der Philosophie der symbolischen Formen kann mit den im ersten Band versammelten „Schriften zur Metaphysik“ weitgehend als geklärt gelten. Mein Beitrag will versuchen, Cassirers „Metaphysik des Symbolischen“ sowohl historisch einzuordnen als auch systematisch auszuwerten. Ich gehe in drei Schritten vor. Zuerst verfolge ich, wie Cassirer in Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie die Bildung der symbolischen Formen mit dem Urgrund des Lebens verbindet. Dann wird die um den Fokus Leben zentrierte Metaphysik Cassirers dargelegt und in ihren historischen Bezügen interpretiert. Schließlich greife ich auf dieser Basis die Frage auf, wie sich eine im Sinne Cassirers verstandene Philosophie systematisch in das Gesamt der symbolischen Formen einfügt.
1. Cassirers Verhältnisbestimmung von „Geist“ und „Leben“ 1.1 Die Zurückführung der „symbolischen Formen“ auf den Urgrund des Lebens Ausgangspunkt von Cassirers Metaphysik des Symbolischen ist die Frage nach der Einheit der symbolischen Formen. Zum Problem werden dabei die „Spannungen“ und „Spaltungen“,1 die deren Entwicklung und Differenzierung prägen. Insbesondere geht es darum, die Einheit des Mythos mit den nachfolgenden Gestalten des Geistigen zu wahren. In der Philosophie Cassirers soll es ja nicht bloß um eine Bestandsaufnahme der symbolischen Formen als statische Größen gehen. „Sie betrifft vielmehr jene Dynamik der Sinngebung, in der und durch welche die Bil1
ECN 1, 3.
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dung und Abgrenzung bestimmter Seins- und Bedeutungssphären sich erst vollzieht.“2 Was ihr aufgegeben ist, ist damit letztlich „das Rätsel der Formwerdung als solcher“. 3 Die angesprochene Differenz charakterisiert Cassirer als jene zwischen einer „fertigen Bestimmtheit“ und dem „Prozess der Bestimmung selbst“.4 Hier können wir bereits unschwer die von Cassirer später getroffene Unterscheidung erkennen, die wir als Titel diesem Beitrag vorangestellt haben – die Unterscheidung zwischen forma formata und forma formans. Die Einheit der symbolischen Formen wird von Cassirer zunächst in dem gesucht, was er das „natürliche Weltbild“5 nennt. Was damit genau gemeint ist, wird nicht näher erklärt, doch wir dürfen wohl annehmen, dass es so etwas wie das Pendant der „Lebenswelt“ des späten Husserl ist. Was das „natürliche Weltbild“ laut Cassirer den ausdifferenzierten symbolischen Formen voraushat, ist das Ineinandergreifen, das „Konkreszieren“6 der drei Dimensionen des Symbolischen, nämlich der Ausdrucks-, der Darstellungs- und der Bedeutungsfunktion. Aber Cassirer benutzt dieses „natürliche Weltbild“ eigentlich nur, um den Perspektivenwechsel von der objektiven zur subjektiven Ansicht des Symbolischen zu vollziehen. Als „objektive Gebilde“7 betrachtet, bilden die symbolischen Formen verselbstständigte Kulturschichten, die sich nicht nur voneinander entfernt haben, sondern auch von gegenseitiger Entfremdung bedroht sind. Blicken wir hingegen auf die subjektive Seite, nämlich auf den schöpferischen Prozess selbst, in dem sie auseinander hervorgegangen sind und sich ausdifferenziert haben, dann rücken die symbolischen Formen trotz ihres Auseinanderstrebens wieder zusammen. Das Eine bei allen Differenzen der symbolischen Formen ist somit die Einheit ihres Produzierens. „Es ist dieses Hervorgehen, es ist gewissermaßen der Akt des Sich–Losreissens von dem einfachen Natur- und Lebensgrund, in dem sich das Wesen des menschlichen Geistes und sein in allen Gegensätzen mit sich selbst identisches Sein am deutlichsten bezeugt.“8 Mit dem „Natur- und Lebensgrund“ ist nun der definitive Ansatzpunkt benannt, auf den Cassirer die symbolischen Formen zurückbezieht, um zu einer „Metaphysik des Symbolischen“ vorzustoßen. Cassirer weiß, dass er mit der Dialektik von Geist und Leben einen zentralen Nerv 2 3 4 5 6 7 8
ECN 1, 4. Ebd., 4. Ebd., 4. Ebd., 5. Ebd., 6. Ebd., 7. Ebd., 7.
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der gesamten Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts getroffen hat. Anders als Rickert ist Cassirer aber nicht bereit, die vornehmlich in der Lebensphilosophie hochgespielte Entgegensetzung von Geist und Leben als eine bloße „Modeströmung“9 abzutun. In dieser polaren Spannung sieht er vielmehr Motive zum Ausdruck kommen, die „in einer Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefühls und des spezifisch modernen Kulturgefühls wurzeln“.10 Philosophisch bedeutsam ist dabei vor allem das Dominanzverhältnis, das die Antithese von „Geist“ und „Leben“ gegenüber den früheren klassischen Begriffspaaren von „Sein“ und „Werden“, „Stoff“ und „Form“ und so fort gewonnen hat. Wie wir sehen werden, löst Cassirer selbst den Gegensatz von „Leben“ und „Geist“ dadurch auf, dass er den Formbegriff als vermittelndes Drittes neu zur Geltung bringt. Um das herauszuarbeiten, müssen wir nun der Kritik folgen, die Cassirer an zwei prominenten zeitgenössischen Vertretern der Lebensphilosophie übt, nämlich an Simmel und Klages.
1.2 Cassirers Auseinandersetzung mit Simmel Cassirer hat Georg Simmel, der in Berlin zunächst sein Lehrer und dann sein Kollege war, eine hohe Wertschätzung entgegengebracht. In ihm sieht er den Repräsentanten der Lebensphilosophie, der den „zentralen Problembegriff des Lebens“ am dezidiertesten herausgearbeitet habe, dabei sich aber auch „der Grenzen jeder bloßen Lebensphilosophie bewußt“ gewesen sei.11 Was dabei Cassirer fasziniert, ist die „immanente Dialektik des Lebensbegriffs“,12 die sich in der zum Geist als dem tragischen Anderen seiner Selbst hindrängenden „Transzendenz des Lebens“13 ausspricht. Das Leben ist, mit den Worten Simmels, „begrenzte Gestaltung, die ihre Begrenztheit dauernd überschreitet“.14 Es ist, wie Cassirer das wiedergibt, „niemals anders bei sich selbst als dadurch, daß es zugleich über sich hinaus ist“15 , die Transzendenz ihm also gewissermaßen immanent ist. Geist selbst ist die „gesteigerte Gestalt“16 dieser Transzendenz, durch die das Leben sich nicht nur in sich selbst hat, sondern um sich selbst
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Ebd., 8. Ebd., 8. Ebd., 239. Ebd., 239. Ebd., 8. Ebd., 8. Ebd., 8. Ebd., 9.
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weiß.17 „Geist“ bedeutet aber vor allem das „Hinausgreifen“ des Lebens in eine prinzipiell neue Dimension, jene der „Gebilde“ mit einem „objektiven Gehalt und Sinn“18 , die dem Leben gegenüber autonom auftreten. Diese laut Simmel durch eine „Achsendrehung des Lebens“ erfolgende „Wendung zur Idee“19 ist nun der entscheidende Vorgang, mit dem Cassirer seine „Philosophie der symbolischen Formen“ in Verbindung bringt: „Die ‚Wendung zur Idee‘ erfordert überall diese Wendung zur ‚symbolischen Form‘ als Vorbedingung und als notwendigen Durchgangspunkt“. 20 Noch dezidierter spricht sich Cassirer in seinen Materialien aus: „Der Gedanke der Transzendenz des Lebens […] tritt am deutlichsten an dem Charakter der symbolischen Formen zu Tage“. 21 Mit den „symbolischen Formen“ ist nun allerdings für Cassirer nicht bloß die entscheidende Bedingung für die „Wendung zur Idee“ benannt. Sie sollen vielmehr auch den von Simmel diagnostizierten „Grundkonflikt“ zwischen Leben und Geist „vermitteln und versöhnen“, den Simmel zur „Tragödie der Kultur“ emporstilisiert hat. 22 Für Simmel tritt das „reine Abstraktum“ geistiger Formen in Widerstreit zur individuell gefüllten und bewegten „Konkretion des Lebensprozesses“. 23 Im Geistigen erscheint dieser Widerstreit als die „Kluft“ zwischen dem begrifflich reinen „Sinn“ und seinem bildhaften Ausdruck. 24 Für Cassirer ist dieser unüberbrückbare Gegensatz die Folge einer Ausblendung des Symbolischen und der Hypostasierung des „reinen Lebens“ einerseits und der „reinen Form“ andererseits. Diese beiden werden aufgrund ihrer Trennung zu „zwei metaphysischen Potenzen“. 25 Für Cassirer ist aber anstelle einer solchen nachträglichen begrifflichen „Konstruktion“ allein die „Korrelation“ von Leben und Idee das „primär-Gewisse und primär-Gegebene“. 26 „Weder bloßes Leben, noch bloße Form“, sondern vielmehr das „Werden zur Form“27 ist damit das Ursprüngliche, das Geist und Leben miteinander verbindet, statt sie zu trennen, wobei natürlich für Cassirer gerade die Ausbildung des Symbols das eigentliche Bindeglied abgibt. Mit dem „Werden zur Form“ lässt sich nun auch die Form selbst nicht 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. ebd., 10. ECN 1, 215. Ebd., 13. Ebd., 13. Ebd., 215. Ebd., 215. Ebd., 13. Ebd., 14. Ebd., 15. Ebd., 14. Ebd., 15.
Fetz · Forma formata – forma formans
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mehr bloß statisch als ein fertiges Gebilde betrachten, sondern muss dynamisch als „werdende Form“28 begriffen werden. Damit drängt sich für Cassirer jene fundamentale Unterscheidung auf, die wir in den Mittelpunkt unserer Betrachtung von Cassirers Metaphysik stellen möchten: „Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ‚natura naturata‘ und der ‚natura naturans‘ gebildet hat, so muss die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ‚forma formans‘ und der ‚forma formata‘ unterscheiden“. 29 Wir haben es also bei dieser Unterscheidung mit einer cassirerschen Neubildung zu tun, die aber in Analogie zu einem älteren Begriffspaar konstruiert ist. Sehen wir uns diese Neubildung vor ihrem historischen Hintergrund genauer an. 30 Das auf den Umwegen einer Aristoteles-Übertragung und -Paraphrase entstandene Begriffspaar natura naturans – natura naturata wird in der Scholastik für die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt aufgenommen, insofern letztere nach dem Modell eines aus Gott hervorgehenden Naturproduktes verstanden wird; zusätzlich kann es auch für das innertrinitarische Hervorgehen des Sohnes aus dem Vater stehen. Da jedoch der damit neu eingeführte Terminus naturare die zeugende und schöpferische Besonderheit des christlichen Gottes den Naturprozessen gegenüber nicht differenziert genug zum Ausdruck bringt, wird in der Hochscholastik insbesondere von Albert dem Großen, aber auch von Thomas von Aquin eine kritische Distanz zu diesem Begriffspaar eingenommen. Zu Beginn der Neuzeit wird vor allem Spinoza dieses Begriffspaar neu fassen, indem er in seinem kategorialen Gefüge von Substanz, Attributen und Modi die Gesamtheit der Modi, sofern sie in Gott sind, als seine natura naturata bezeichnet, die göttliche Substanz selbst hingegen als natura naturans; ein Neuansatz, der im Deutschen Idealismus dialektisch umgebildet und variiert wird. 31 28
Ebd., 18. Ebd., 18. 30 Oswald Schwemmer verdanke ich den Hinweis, dass das Begriffspaar forma formata – forma formans bei Cassirer nicht nur im Nachlass, sondern auch in Publikationen um 1930 vorkommt. So heißt es in FuT, ECW 17, 142: Die „Klärung“ der Technik „kann nicht gelingen, solange die Betrachtung im Kreis der technischen Werke, im Bezirk des Gewirkten und Geschaffenen, verharrt. Die Welt der Technik […] beginnt sich erst zu erschließen und ihr Geheimnis preiszugeben, wenn man auch hier von der forma formata zur forma formans, vom Gewordenen zum Prinzip des Werdens zurückgeht.“ – Auch in SAG, ECW 17, 115, schreibt Cassirer: „Wie also lässt sich die Sprache selbst psychologisch erfassen […]? Hier kann […] nur ein Rückschluß vom Geformten zum bildenden Prinzip, von der ‚forma formata‘ zur ‚forma formans‘ versucht werden.“ 31 Vgl. den Art. „Natura naturans/naturata“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Sp. 504-509. 29
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Systematische Grundbegriffe
Für die scholastische Tradition, auf die sich Cassirer bezieht, ist somit die absolute Verwendung dieser beiden Begriffe in ihrer Verteilung auf Gott und Welt, Gottvater und Gottsohn charakteristisch. Das wird bei Cassirer grundlegend anders, insofern er das Verhältnis von forma formans und forma formata innerhalb des organischen und vor allem des geistigen Lebens als ein „Wechselspiel“32 begreift. Die forma formans, die sich zur forma formata entwickelt, behält ihrerseits die Kraft, als forma formans in den Prozess weiterer Formbildungen einzugehen. Sie ist in einem potenzierten Sinn mit dem Goethewort „geprägte Form die lebend sich entwickelt“. 33 Forma formans und forma formata sind hier also relative Begriffe; was als forma formata am Ende eines Prozesses steht, bestimmt in seiner Verjüngung als forma formans den Anfang eines neuen Prozesses. Form als terminus ad quem, aber auch als notwendiger terminus a quo aller Gestaltbildungsprozesse – das ist die Idee, die über Cassirer hinaus auch für weitere Forschungsansätze wie den genetischen Strukturalismus Piagets bestimmend geworden ist, die die Entwicklung von Leben und Erkennen aneinander binden. 34 Doch zurück zu Simmel. Für Simmel soll die „Idee“ dem Leben fern sein, ja ihm feindlich gegenüberstehen, weshalb ja die „Wendung zur Idee“ nur in Form einer „Achsendrehung“ erfolgen kann. 35 „Logisch-autonomer“ und „vitaler“ Sinn sind damit entzweit.36 Anders präsentiert sich die „Wendung zur Idee“ in der Perspektive der „symbolischen Formen“. Cassirer versteht deren Ausbildung als den „Objektivationsprozeß“37 des Lebens. Objektivierung ist aber kein Bruch mit dem Vorangehenden, bedeutet keine Verfremdung, sondern ist eine neue Form dessen, was das Leben generell kennzeichnet, nämlich des Selbstbezuges. Mittels der symbolischen Formen geht das Leben so in sich zurück, dass es im eigentlichen Sinn „zu sich selbst kommt“. 38 Es ist die stärkste Selbstbehauptung des Lebens als „Wille zur Form“ und „Kraft zur Form“,39 der eigentliche Erweis seiner „unendlichen Formungsmöglichkeit“.40
32
ECN 1, 18. Ebd., 217. 34 Vgl. Jean Piaget (1974): Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen. Frankfurt, bes. 134-139; dazu Fetz (1988): Struktur und Genese. Jean Piagets Transformation der Philosophie, 210-213. 35 ECN 1, 13. 36 Ebd., 18. 37 Ebd., 215. 38 Ebd., 18. 39 Ebd., 18. 40 Ebd., 18 und 216. 33
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Die „Wendung zur Idee“, als Fortsetzung des Lebensprozesses auf einer neuen Ebene begriffen, erscheint damit bereits implizit als die Vollendung dieses Prozesses. Damit stellt sich Cassirer in einen Gegensatz zu allen romantischen Philosophien, die im Geist den „Abfall“ vom Leben erblicken. Für Cassirer ist Klages der radikalste zeitgenössische Repräsentant einer solchen Position. In der Auseinandersetzung mit ihm profiliert sich nun Cassirers Auffassung noch stärker heraus.
1.3 Die Kritik an Klages Bei Klages verhält sich der Geist dem Leben gegenüber nicht bloß wie bei Simmel als etwas Transzendentes, sondern vielmehr als das absolut Negative. Der Geist greift in das Leben als schöpferische kosmische Urpotenz wie eine außen stehende Macht ein, reißt den Menschen aus dem Strom des Lebens und macht ihn zum isolierten Einzel-Ich. Die Welt des Geistes ist die der wesenlosen Formen, die an sich ohnmächtig sind, aber das Leben unter das Joch der Begriffe zwängen und es erstarren lassen. Wenn die theoretische Vernunft Formen in abstrakter Reinheit entwickelt, so heißt das für Klages nur, dass hier das Band mit dem Kosmos vollends zerrissen wurde. Ebenso bedeutet die Autonomie der praktischen Vernunft, dass sie sich mit ihrem Formalismus der Fülle des Lebens radikal entfremdet hat. Als Instrument des Willens zur Macht schließlich kehrt sich die technische Vernunft direkt gegen die Natur und wird zur zerstörerischen „Fluchmacht“.41 Für Cassirer sind Klages’ Ausfälle und Vorwürfe die Folgen seines vereinseitigten Geistbegriffs. Klages blicke nur auf das technische Bewusstsein, das mit seinem „rechenverständigen Aneignungswillen“ auf Beherrschung und Unterjochung des Planeten abzielt.42 Mit Klages verneint auch Cassirer „die Form einer bloß technischen Zivilisation“.43 Als Korrektiv gegen eine solche Vereinseitigung wird nun die Philosophie der symbolischen Formen in ihrer Umfassendheit ins Spiel gebracht, weil gerade sie den Geist nicht wie Klages als ein „bloßes Abstraktum“ betrachtet, sondern seine „konkrete Selbstentfaltung“ in den Blick nimmt. Cassirer argumentiert weiter, unter Einbeziehung nicht bloß der theoretischen Erkenntnis, sondern auch von Sprache, Mythos, Religion und Kunst, sei Klages These von der absoluten Negativität des Geistes nicht 41 42 43
Ebd., 23-25. Ebd., 26. Ebd., 213.
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zu halten.44 Aus dieser Perspektive wird auch über Klages’ Anschauung selbst das Verdikt ausgesprochen. Insofern sie nämlich gegen die theoretisch-technische Vernunft das Ausdruckserlebnis stark macht, ja es als den einzigen wahrhaften und ursprünglichen Wirklichkeitszugang gelten lässt, steht sie selbst unkritisch im Bann des Mythos.45 Alles, was nicht dem reinen „Ausdruck“ angehört, sondern in die Sphären der „Darstellung“ und der „Bedeutung“ fällt, verblasst in ihr zum bloßen Schema, verkümmert zum wesenlosen Schatten.46 Wieder ist es der Rückgang von der forma formata auf die forma formans, mit dem Cassirer den in seinen abstrakten Gebilden erstarrten Geist Klages’ aufbricht und an den Gestaltungsprozess des Lebens zurückbindet.47 Nicht der „Wille zur Macht“ charakterisiert den Geist, sondern der Wille zur Formung, der sich in allen symbolischen Formen ausspricht und selbst nur die Fortsetzung des dem Leben eigenen Formwillens mit neuen Mitteln ist.48 Der Geist geht zwar über den Urgrund des Lebens hinaus, ohne diesem jedoch Gewalt anzutun.49 Immer wieder spricht Cassirer seine Grundüberzeugung aus, dass das Leben sich auch in seinen geistigen Formen nicht prinzipiell gegen sich selbst richten kann. „Der echte Geist ‚bewahrt‘ das Leben, auch wo er über dasselbe hinaus schreitet“. 50 Der Geist tritt zwar „dem Leben gegenüber, ohne sich doch gegen es zu kehren“. 51 Was der Geist erlangen will, ist das Sich-selbstsichtbar-Werden des Lebens, ist mit dem fichteschen Ausdruck die „Sehe“ des Lebens, 52 ist der Übergang vom „Aktionskreis“ zum „Gesichtskreis“. 53 Leben ohne Geist ist „blind-gestaltend“; erst mit dem Geist erlangt es das „Prinzip des Sehens“. 54 Und nur kraft der dem Geist eigenen Objektivierung vermag sich das Leben zu „haben“, vermag es den ihm von Grund auf eigenen Selbstbezug in einen vollen Selbstbesitz zu verwandeln. 55 Ähnlich wie schon bei Simmel verortet Cassirer auch bei Klages den Grundfehler in seiner „metaphysischen Grundkonzeption“, die von „zwei metaphysisch gegensätzlichen Instanzen: Leben und Geist“56 ausgeht. Für 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
ECN 1, 25. Vgl. ebd., 24. Ebd., 25. Ebd., 30. Vgl. ebd., 27. Ebd., 28. Ebd., 212. Ebd., 30. Ebd., 213. Ebd., 214. Ebd., 212. Ebd., 212. Ebd., 210.
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Cassirer kann es diesen Dualismus prinzipiell nicht geben, weil der Geist nur die Erscheinungsform des Lebens auf einer höheren Ebene ist. Allerdings bringt Cassirer durchaus ein Verständnis auf, warum es zu diesem Dualismus kommt. Er „ruht im Wesen des Geistes selbst“, ist sogar „eine seiner notwendigen immanenten Äußerungsformen“, insofern der Geist nur durch Objektivierung, d.h. in der Distanz zum Leben und damit in einer gewissen „Entfremdung“ von ihm sich selber „haben“ kann. 57 Aber eines ist das Verständnis dieses Konstitutionsprozesses, etwas anderes die Verfestigung des Auseinandertretens von Geist und Leben zu einem metaphysischen Dualismus. Schließlich holt Cassirer zu einem entscheidenden Schlag gegen Klages aus, indem er ihn und jede den Geist negierende Lebensphilosophie eines performativen Widerspruches überführt. Denn die Negation des Geistes zugunsten des Lebens ist selbst nicht ein Akt des Lebens, sondern des Geistes. 58 Das Werturteil, durch welches das Leben dem Geist übergeordnet wird, ist wie alles Ordnen ein „Werk des Geistes“, 59 denn nur der Geist „unterscheidet, wählt und richtet“. 60 So stellt die „Selbstverneinung“ des Geistes implizit einen „Akt der Selbstbehauptung“ dar. 61 Die Wesensfrage gegen sich selbst richten zu können, erweist sich damit als „eine Urfunktion, ja die vielleicht tiefste Funktion des Geistes selber; das Leben ist, aber es fragt nicht“. 62 Am Ende von Cassirers Auseinandersetzung mit Klages steht eine Art Selbstbekenntnis, das Bekenntnis zur theoria als dem „höchsten Wert des Daseins“, 63 wie es wohl als erster Aristoteles auf unüberbietbare Weise in den letzten Kapiteln seiner Nikomachischen Ethik64 ausgesprochen hat. Wir bleiben „gegen Klages reine ‚Theoretiker‘ – die wahre Seligkeit liegt uns nicht in dem Eins-Sein mit dem schöpferischen Lebensgrund, sondern in der noesis noeseos“. 65
57 58 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. ebd., 212. Vgl. ebd., 258. Ebd., 211. Ebd., 31. Ebd., 32. Ebd., 211. Ebd., 214. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch X, Kap. 6 ff. ECN 1, 214.
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1.4 Bilanz von Cassirers Kritik der Lebensphilosophie Cassirer, so können wir seine Kritik an der Lebensphilosophie zusammenfassen, bindet durch den Rückgang von der forma formata auf die forma formans den Geist an das Leben zurück, womit der Geist zugleich als die Fortführung des Lebens auf der neuen Ebene des Symbols begriffen werden kann. Das Geist und Leben einigende Prinzip ist somit die Form, genauer das dem Leben innewohnende Formstreben, das über die Gestalten des Organischen hinaus sich mit den symbolischen Formen das Reich des Geistigen erschafft. Diesen Zusammenhang nicht gesehen zu haben, ja seiner durch die schroffe Entgegensetzung von Geist und Leben gar nicht ansichtig werden zu können, ist der Kardinalfehler der Lebensphilosophie. „Die modernen Theorien des ‚Lebens‘“, schreibt Cassirer, „sind völlig ungenügend, weil sie am Leben nur das Negative, das bloß Naturhafte, das biologische Element herauslösen. […] Zum Geistigen, zum ‚Für sich Sein‘ kommt es nicht im blossen Leben, sondern in der Form, die das Leben sich selbst giebt – und diese ‚Form‘ erschliesst sich eben nicht im bloss vegetativ-biologischen Dasein, noch in der biologischen Entwicklung[,] sondern […] in der Schaffung der symbolischen Formen“. 66 Cassirer sieht gerade in der Philosophie der symbolischen Formen die Überwindung der lebensphilosophischen Antithetik von Geist und Leben: „Unsere Betrachtung bewegt sich ganz ausserhalb dieses Gegensatzes […], denn das ‚Symbolische‘, wie wir es fassen, ist vielmehr die eigentliche Vermittlung dieses Scheingegensatzes – es ist das wahre metaxú – das die méjexis – die Teilhabe der ‚Erscheinung‘ an der ‚Idee‘, des ‚Lebens‘ am ‚Denken‘, des ewigen Fliessens an der geprägten Form erklärt“. 67 Historisch gesehen haben laut Cassirer die Deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel „tiefer als die ‚Modernen‘“ die wahre Bedeutung des Lebens erkannt. Sie „überwinden die Antithese Leben-Denken“, indem sie das Leben erst im Geist im vollen Sinn zu sich selbst kommen lassen. 68 Über diesen von Cassirer angestellten historischen Vergleich hinaus kann man hier jedoch anmerken, dass die Integration des Geistes in das Leben Gemeingut der klassischen Metaphysik ist. Insbesondere Aristoteles hat mit seiner Dreistufung des Lebens (vegetatives, sensitives und geistiges Leben), der Fassung der Seele als eines dem Leblosen gegenüber höheren Formprinzips (anima forma corporis), der Bestimmung des geistigen Erkennens als der Befähigung zur reinen Form und der Annahme 66 67 68
ECN 1, 266. Ebd., 266. Ebd., 267.
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eines von den untersten bis zu den höchsten Lebensformen durchgehenden Gestaltungszusammenhanges Geist und Leben im Begriff der Form umfassend verschränkt. So erstaunt nicht, dass auch Cassirer andernorts die Vorbildfunktion des Aristoteles für eine adäquate Erfassung des Lebens herausstreicht 69 und bei ihm insbesondere die Idee einer von Form zu Form aufsteigenden Entwicklung vorgebildet sieht. 70 Erst Descartes hat mit seiner Trennung von Geist und Materie und der Reduktion organischer Lebewesen auf bloße Maschinen auch das Band zwischen Geist und Leben zerschnitten. Bezeichnenderweise gibt er dabei gleichzeitig den Formbegriff als umfassende und vermittelnde Kategorie auf. 71 Dass Cassirer mit seinem Insistieren auf dem allem Lebendigen eigenen „Willen zur Form“ nicht bloß der Lebensphilosophie, sondern auch dem cartesischen Dualismus eine Absage erteilt, wird dort deutlich, wo er seine Philosophie der symbolischen Formen an eine „kritisch gesinnte und kritisch fundierte Naturphilosophie“72 anzuschließen versucht und generell die „Kultur“ als ein „Reich symbolischer, also bloß signifikativer, nicht unmittelbar ‚lebendiger‘ Formen“ vom Organischen abhebt. 73
2. Cassirers Metaphysik Mit der eine umfassende Perspektive eröffnenden Zusammenschau von Geist und Leben im Begriff der Form haben wir bereits den Standpunkt eingenommen, von dem aus Cassirer seine Metaphysik entwirft. Deren Profi l gilt es nun dezidiert herauszuarbeiten, indem wir sie von jenen Positionen abgrenzen, die Cassirer explizit verwirft. Cassirers unvollendet gebliebene Abhandlung „Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen“ bietet hierfür die Basis. Cassirer rückt hier zwei sonst als disparat betrachtete Positionen zusammen, um sich von ihnen abzusetzen, nämlich den von ihm so bezeichneten dogmatischen Realismus einerseits und den Positivismus andererseits. Beiden soll trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam sein, dass sie beim Erkennen von einer schlichten „Wiedergabe“ und „Abbildung“ eines vorgegebenen „Wirklichen“ ausgehen. In der „alten Metaphysik“ sei dies das „absolute Sein der Dinge“, im Positivismus
69
Vgl. EP, ECW 5, 14 und 174. Vgl. LKW, 24 f. – Vgl. dazu umfassend Christian Möckel (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg. 71 Vgl. René Descartes (1996): Oeuvres. Hg. v. Charles Adam u. Paul Tannéry, Bd. 2, 367. 72 ECN 1, 60. 73 Ebd., 268. 70
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die „‚einfachen‘ Empfindungen“. 74 Für Cassirer hingegen kann es eine radikale Trennung zwischen einem vorgegebenen Sein und den Erkenntnisfunktionen grundsätzlich nicht geben. „Wir besitzen keinerlei ‚Sein‘ sei es metaphysischer, sei es psychologischer Art – vor dem geistigen Tun und unabhängig von ihm, sondern immer nur in und mit diesem Tun“. 75 Und die Pointe liegt für ihn natürlich darin, dass er die „Form der Bestimmtheit“, die ein Gegenstand innerhalb einer geistigen Operation gewinnt, wiederum abhängig macht von der prägenden Kraft der jeweiligen „symbolischen Form“. Im Blick auf die vorkantische Metaphysik formuliert bedeutet dies, dass ein außerhalb geistiger Operationen angesetztes „Sein“ etwas vollkommen Leeres ist, dass es innerhalb dieser Operationen aber auch kein neutrales „Sein“ geben kann, sondern nur ein symbolspezifisch differenziertes Sein, nämlich das Sein umgangssprachlicher, künstlerischer, religiöser, wissenschaftlicher Wirklichkeitserfassung. 76 Lassen wir die Frage dahingestellt, ob der Unterschied, den Cassirer hier zwischen der „alten Metaphysik“ und seiner eigenen Position konstruiert, wirklich ein so radikaler ist. Denn auch für die erstere gibt es das „Sein“ nur bezogen auf den Intellekt, und die Differenzierung des Seins gemäß den transzendentalen Bestimmungen des Wahren, Guten und Schönen weist ebenfalls auf unterschiedliche Weisen unserer Wirklichkeitsaneignung hin. 77 Bestehen bleibt sicher ein großer qualitativer Unterschied, bleibt Cassirers genuine Leistung einer erstmaligen vollumfänglichen Erfassung der Formen des Symbolischen, und auf die kommt es hier an. Ein zweiter Gesichtspunkt, unter dem Cassirer seine metaphysische Position mit den vorangegangenen kontrastiert, betrifft die Erfahrung. Gegen Kant wird die Metaphysik nicht als etwas die Erfahrung prinzipiell Transzendierendes bestimmt. Eine historische Betrachtung zeigt laut Cassirer, dass jede „wirkliche Metaphysik“ durchaus auf dem Boden der Erfahrung gewachsen ist und sich nie vollends von ihm löst, sich nicht von ihm losreißen kann, wenn sie sich als eine umfassende Wirklichkeitsaussage versteht. 78 Die Schwäche der tradierten Metaphysiken besteht jedoch in der Absolutsetzung eines bestimmten Erfahrungsmoments, in seiner Isolierung und Hypostasierung als das schlechthin Seiende. Eine solche Verabsolutierung eines Moments wird jeweils durch die Vernach74
ECN 1, 261. Ebd., 261. 76 Vgl. ebd., 261 f. 77 Vgl. Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate, q. I, a. 1; Summa theologiae, Ia pars, q. 5, a. 4; q. 16, a. 4. 78 ECN 1, 150. 75
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lässigung und Verkürzung anderer erkauft. So kann Cassirer sagen, die historischen Formen der Metaphysik hätten „nicht durch Abwendung von der Erfahrung schlechthin, sondern durch Abblendung gewisser Grundmomente von ihr“79 gefehlt. Es ist der gleiche Fehler, den Whitehead als fallacy of misplaced concreteness, als den „Trugschluss der falsch platzierten Konkretheit“ bezeichnet hat. 80 Abstrakte ontologische Begriffe von relativer Tragweite werden an die Stelle der konkreten Wirklichkeit insgesamt gesetzt, womit ihnen, wie Cassirer es ausdrückt, „kein bloß relativer, sondern ein absoluter Charakter gegeben“81 wird. Cassirer stimmt mit Whitehead auch darin überein, dass er die fundamentalen Begriffe als Relationsbegriffe konzipiert sehen will, die in einer inneren Beziehung zu anderen Begriffen stehen und ohne sie gar nicht adäquat verstanden werden können. Ausgangspunkt von Cassirers Metaphysik soll nun eine „Urtatsache“82 sein, die sich uns als das „Urphänomen“83 schlechthin zeigt. Als dieses „Absolute“ wird an Stelle eines vorgegebenen „Seins“ das „Leben“ bestimmt. Der Lebensbegriff ist dabei jener, den Cassirer in seiner Kritik der Lebensphilosophie vorgezeichnet hat. Er schließt den Geist als höchste Entwicklungsform des Lebens ebenso ein wie seinen organischen Ursprung. „Leben“ wird grundsätzlich als etwas Prozesshaftes begriffen, als eine „Bewegung“, die ständig neue Gestalten schafft, sie wieder aufhebt und umwandelt. Cassirer wird nicht müde, immer wieder von „Gestaltenzeugung und Gestaltenwandlung“84 , von „Gestaltung und Gestaltenänderung“85 zu sprechen. Anders als im physikalischen Bereich ist diese Bewegung des Lebens aber immer Selbstbewegung. Diese aristotelische Definition des Lebens greift Cassirer in der Goetheschen, von Leibniz inspirierten Formel von der „rotierenden Bewegung der Monas um sich selbst“ auf. 86 Dieser Selbstbezug, der mit dem Aufeinanderbezogensein der Teile des Organischen beginnt, vollendet sich in der von Cassirer oft zitierten noesis noeseos, der „Selbsterkenntnis der Vernunft“. 87 Diese ist nun für Cassirer nicht bloß der isolierte Akt eines abgehobenen Geistes, sondern das über die Stufen der symbolischen Formen vermit79
Ebd., 151. Vgl. Alfred North Whitehead (1925): Science and the Modern World. Cambridge, 64, 69, 72; ders. (1985): Process and Reality. Corrected Edition. New York, 7. 81 ECN 1, 151. 82 Ebd., 263. 83 Ebd., 264. 84 Ebd., 264. 85 Ebd., 264. 86 Ebd., 264, vgl. Anm. 217 d. Herausgebers, 336 f. 87 Ebd., 264. 80
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telte Zu-sich-Kommen des Lebens überhaupt. Darum kann Cassirer mit Pathos seine Metaphysik als die des „Gewahrwerdens des Lebens“ bezeichnen, die das „Zurückgehen des Lebens in seinen ‚Grund‘“ dergestalt denkt, dass das Leben mit Hegel gesprochen „in der Sphäre des Geistes aufgehoben“, die „Substanz des Lebens […] zum Subjekt geworden“ ist. 88 Subjektivität kann das Leben nur gewinnen, weil jede forma formata in einer forma formans fundiert wird. Diese Fundierung wird mit der Formel „Keine Gestalt ohne einen Prozess der Gestaltung“89 zum metaphysischen Prinzip erhoben. Es ist die gleiche Begründung von Subjektivität, die später Piaget dem Strukturalismus des frühen Foucault gegenüber geltend gemacht hat, als dieser den „Tod des Subjekts“ proklamierte. „Das Subjekt existiert“, schrieb Piaget, „weil das ‚Sein‘ der Strukturen in ihrer Strukturation besteht“.90 Auch hier also gilt: keine Struktur ohne eine Strukturation. Cassirer selbst knüpft an die klassische Differenz zwischen dem platonischen und dem aristotelischen Formbegriff an, um dem eidos die „doppelte Bestimmung“91 zu geben, deren er nach seiner Theorie bedarf. Platon ist für ihn der Repräsentant der „reinen Bedeutung“ des eidos, die paradigmatisch in den geometrischen Figuren zum Ausdruck kommt, wo das Allgemeine „seinem reinen An-Sich nach“92 erfasst wird. Bei Aristoteles hingegen ist das eidos „primär nicht das mathematische Wesen, sondern […] die organische Form“.93 Cassirers eigenes Konzept der forma formans scheint durch, wenn er die aristotelisch verstandene Form als „Totalität der Gestaltung“ beschreibt, die als „dynamische Form“ im „Werden“ erscheint und ihm seinen „Sinn“ gibt.94 Um die eben implizit behauptete Affinität zu Aristoteles gründlicher herauszuarbeiten, müssen wir nun das heranziehen, was Cassirer über die „Basisphänomene“ schreibt. Von metaphysischer Bedeutung sind diese insofern, als sie laut Cassirer „die Schlüssel zur ‚Wirklichkeit‘ sind“.95 Es handelt sich dabei in erster Linie um die Dreiheit von „IchPhaenomen“, „Wirkens-Phaenomen“ und „Werk-Phaenomen“.96 Sieht man von der spezifisch menschlichen Fassung des erstgenannten Phänomens ab, so springt sofort ins Auge, dass mit dem „Wirken“ und dem „Werk“ Momente benannt sind, die als „energeia“ und „ergon“ ihr genuin aris88 89 90 91 92 93 94 95 96
ECN 1, 238. Ebd., 209. Jean Piaget (1968): Le structuralisme, Paris, 120. ECN 1, 204. Ebd., 204. Ebd., 205. Ebd., 205. Ebd., 137. Ebd., 137.
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totelisches Pendant haben. Die schon in den Wortbildungen erkennbare Zusammengehörigkeit von „Wirklichkeit“, „Wirken“ und „Werk“ kommt dabei wohl nicht von ungefähr. Hier sei daran erinnert, dass die auf Meister Eckhart zurückgehende deutsche Wortschöpfung „Wirklichkeit“ – und Cassirer verwendet ja das Wort bewusst in Anführungszeichen – in den anderen europäischen Sprachen keine Entsprechung hat; dort spricht man statt von „Wirklichkeit“ von „réalité“, „reality“. Mit „Wirklichkeit“ wurde das scholastische actualitas wiedergegeben, das seinerseits in der Traditionslinie der aristotelischen energeia steht.97 „Wirklichkeit“, „wirken“ und „Werk“ kann also als ein, wenn nicht als das genuin aristotelische Wortgefüge betrachtet werden. Es ist der Ausdruck dafür, dass „Wirklichkeit“ im Vollsinn sich eben in einem auf ein „Werk“ abzielenden „Wirken“ zeigt. Eine solche Interpretationslinie kann nun unter Berufung auf cassirersche Aussagen weiter ausgezogen werden. So heißt es bei Cassirer: „Das Werk ist das Ziel des Wirkens; aber in ihm ist das Wirken auch zu seinem Ende gelangt – der Ausdruck telos umfasst beides“.98 Bei Aristoteles findet sich eine nahezu wörtliche Entsprechung: „Das Werk (ergon) ist Ziel (telos), die Wirklichkeit (energeia) aber ist das Werk (ergon). Daher ist auch der Name ‚Wirklichkeit‘ (energeia) von ‚Werk‘ (ergon) abgeleitet und zielt hin auf Vollendung (entelecheia).“99 Aus solchen Stellen kann man die genuin aristotelische Konzeption des Wirklichen ableiten, wonach ein „wirkliches Wesen“ (ousia) im Vollsinn eben das ist, was seine „Wirklichkeit“ (entelecheia) als „Werk“ (ergon) seines „Wirkens“ (energeia) in sich trägt. Das entspricht der Dynamik, die Cassirer beim wirkenden Ich sieht, allerdings mit dem Unterschied, dass Cassirer den Menschen sein Werk aus sich „herausstellen“ lässt,100 Aristoteles dagegen mit der entelecheia das Innebleiben des Werks akzentuiert. Aber dieser Unterschied könnte gerade auch im Hinblick auf Cassirer bedeutsam sein, weil er den Unterschied zwischen dem Naturschaffen und dem Kulturschaffen markiert. Dass Cassirer dieses Verwandtschafts- und Ergänzungsverhältnis zwischen seinem und dem aristotelischen Denken nicht gesehen hat, hängt mit der geradezu tragischen Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Substanzmetaphysik zusammen. Diese ließ die aus der Kategorienschrift stammende logische Bestimmung der Substanz als das allen Prä-
97
Vgl. den Art. „Wirklichkeit“ in Hist. Wb. d. Philos., Bd. 12, Sp. 829-846, bes. Sp. 829 f. 98 ECN 1, 136. 99 Aristoteles: Metaphysik, Buch IX, Kap. 8 1050a 21-23; vgl. auch Kap. 3, 1047a 30 f. 100 Vgl. ECN 1, 136.
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dikaten zugrunde liegende Subjekt101 dominant werden und nicht deren eigentlich metaphysische Fassung als dynamische Gestaltwerdungseinheit.102 Erst Whitehead hat in voller Schärfe diese Fehlentwicklung der aristotelischen Substanztradition erkannt und korrigiert, indem er seine actual entities nicht bloß als Prozessträger, sondern auch als Prozessresultat, als subject und superject fasste.103 Der Aufweis dieser Affinität zwischen der cassirerschen und der aristotelischen Metaphysik bezweckt nun Mehreres. Natürlich geht es nicht darum, Cassirer seiner angestammten kantischen Tradition zu entreißen und aus ihm einen Aristoteliker zu machen. Aber Cassirer setzt sich, zumindest was seinen erfahrungsbezogenen Metaphysikbegriff betrifft, ja selbst von Kant ab. Und die oben aufgewiesenen Entsprechungen lassen eindeutig eine Tendenz hin zu einer genuin aristotelischen Metaphysik erkennen, eine Tendenz, die um so aufschlussreicher ist, als Cassirer das Kulturschaffen, Aristoteles hingegen das Naturschaffen in den Mittelpunkt ihrer jeweiligen Metaphysik stellen. Der Vergleich mit der aristotelischen Metaphysik in ihrer Position als den Zweitwissenschaften übergeordnete „erste Philosophie“104 scheint mir aber auch hilfreich, um Cassirers Philosophie insgesamt differenziert zu betrachten und ihre Stellung innerhalb der symbolischen Formen zu erörtern. Das soll nun zum Schluss geschehen.
3. Die Philosophie im Gesamt der symbolischen Formen Cassirer ist als Begründer der „Philosophie der symbolischen Formen“ in die Geschichte eingegangen. Angesichts der aus dem Nachlass herausgegebenen „Metaphysik des Symbolischen“ müssen wir uns jedoch fragen, ob die Bezeichnung „Philosophie der symbolischen Formen“ wirklich alles abdeckt, was Cassirer realisiert und intendiert hat. Diese Frage ist, so scheint mir, in systematischer Hinsicht eindeutig mit Nein zu beantworten. Eine terminologische Verständigung ist angezeigt. Man kann den Terminus „Philosophie der symbolischen Formen“ in einem weiteren und einem engeren Sinn verwenden. Im weiteren Sinn kann er für den Gesamtduktus cassirerschen Denkens stehen, d.h. für die „Philosophie 101
Vgl. Aristoteles: Kategoriai, Kap. 5. Vgl. ders.: Metaphysik, Buch V, Kap. 8; Buch VII, Kap. 3 und bes. Kap. 17. 103 Vgl. Whitehead, 1985, 45, 155. – Dazu Fetz (1981): Whitehead. Prozessdenken und Substanzmetaphysik. Freiburg/München, 124 f., 209-219. 104 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch I, Kap. 2; Buch III, Kap. 1. 102
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der symbolischen Formen“ einschließlich der „Metaphysik des Symbolischen“. Im engeren Sinne genommen ist die „Philosophie der symbolischen Formen“ aber von der „Metaphysik des Symbolischen“ zu unterscheiden, denn die letztere hat einen anderen Status, ist der ersteren übergeordnet, bildet eine Metatheorie und greift mit der Bezugnahme auf das Leben überhaupt einschließlich seiner organischen Formen auch weiter aus. Um das Bild zu vervollständigen, müssen wir uns auch daran erinnern, dass Cassirer seine „Philosophie der symbolischen Formen“ an eine kritisch reflektierte „Naturphilosophie“105 anschließen will. Die „Philosophie der symbolischen Formen“ und die ihr voraus liegende „Naturphilosophie“ bauen aber ihrerseits auf Gruppen von Einzelwissenschaften auf: auf den historischen Kulturwissenschaften einerseits, auf den Bio- und Naturwissenschaften andererseits. Will die „Philosophie der symbolischen Formen“ die „Anthropogonie“106 nicht nur kultur-, sondern auch individualgeschichtlich verfolgen, ist sie zudem auf Sozialwissenschaften wie die Entwicklungspsychologie verwiesen. Alles in allem ergibt sich damit ein dreistufiges Konzept: historische Kulturwissenschaften zusammen mit der Entwicklungspsychologie als kritisch reflektierte Basis für die „Philosophie der symbolischen Formen“, Natur- und Biowissenschaften als ebensolche Basis für die „Naturphilosophie“, und schließlich über der „Naturphilosophie“ und der „Philosophie der symbolischen Formen“ die „Metaphysik des Symbolischen“, die in eins eine Metaphysik des Lebendigen und des Wirklichen überhaupt sein muss. Man erkennt unschwer, wie ein solches dreistufiges Konzept die aristotelische Idee einer den Zweitwissenschaften übergeordneten „ersten Philosophie“ unter den wissenschaftlichen Bedingungen der Moderne aufnimmt und weiterführt. Mit einem solchen Idealprogramm dessen, was Cassirer initiiert hat, wollen wir nun abschließend die Frage angehen, wie sich die Philosophie in das Gesamt der symbolischen Formen einfügt. Ist sie der Wissenschaft zuzuordnen, steht sie als reflektierendes Drittes zwischen oder über den symbolischen Formen, bildet sie vielleicht gar eine eigene symbolische Form? Cassirers „Metaphysik des Symbolischen“ ist auch deshalb so erhellend, weil er selbst hier relativ ausführlich zu dieser Frage Stellung nimmt.107 Eindeutig ist Cassirers Antwort in ihrer Ablehnung der Philosophie als einer eigenen symbolischen Form: Sie „schafft nicht eine prinzipiell
105 106 107
ECN 1, 60. Ebd., 65. Vgl. ebd., 264 f.
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neue Symbolform“,108 will „nicht an Stelle der alten Formen eine andere, höhere Form setzen“, „ein Symbol durch ein anderes ersetzen“.109 Das ist für Cassirer schon deshalb ausgeschlossen, weil es „kein besonderes Organ des philosophischen Denkens und der philosophischen ‚Wahrheit‘ außerhalb des allgemeinen Denkens“ gibt.110 Die Aufgabe der Philosophie wird dann durch die Doppelbestimmung umrissen, sie sei „zugleich Kritik u[nd] Erfüllung der symbolischen Formen“.111 „Kritik“ heißt hier gut kantisch die Wende vom äußeren Gegenstand zu seinen geistigen Aufbaubedingungen, heißt speziell das „Durchschauen“112 und „Begreifen“113 der verschiedenen symbolischen Formen in ihrem Symbolcharakter. Weniger deutlich wird, was Cassirer mit der „Erfüllung“ meint. Darunter fällt die Erkenntnis des relativen Charakters einer jeden symbolischen Form. Diese treibt das Denken über jede Einzelform hinaus und befreit es vom Zwang ihrer Bedingtheit und Begrenzung. Gleichzeitig wird ihr Beitrag im Ganzen im hegelschen Sinne „aufbewahrt“. Dabei liegt allerdings für Cassirer das Absolute gerade nicht jenseits des Symbolischen, sondern in der Gesamtleistung seiner sich differenzierenden Formen. Es ist, wie Cassirer schreibt, „immer nur das vollständige, das durchgeführte und systematisch überschaute Relative“.114 Nach dem eben Gesagten wird man die Philosophie im Sinne Cassirers als eine rekonstruktive begriffliche Arbeit der symbolischen Form des wissenschaftlichen Denkens zuordnen müssen. Das passt insofern zum oben entwickelten dreistufigen Konzept, als die Philosophie sensu Cassirer sich durchaus auf die verschiedenen Einzelwissenschaften abstützt, insbesondere auf die kulturhistorischen Wissenschaften, aber auch auf Biologie und Psychologie. Wie steht es dann mit der über jede einzelne symbolische Form hinausweisenden „Erfüllung“, die die Philosophie den symbolischen Formen insgesamt bringen soll? Einen die anderen symbolischen Formen übergreifenden und umgreifenden Status kann man schon den Einzelwissenschaften zusprechen, insofern sie – als Linguistik, Mythenforschung, Religionswissenschaft, Kunstwissenschaft usw. – den von ihnen behandelten „Gegenständen“ gegenüber den Status wissenschaftlicher Metatheorien haben. Aber erst mit der „Philosophie 108 109 110 111 112 113 114
ECN 1, 264. Ebd., 265. Ebd., 115 f. Ebd., 265. Ebd., 265. Ebd., 264. Ebd., 265.
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der symbolischen Formen“ wird das für alle Kulturleistungen konstitutive Symbolische generell, umfassend und zugleich differenziert auf den Begriff gebracht – ebenso wie nur eine kritische Naturphilosophie das Gesamt der Natur- und Biowissenschaften reflektieren kann. Mit der „Metaphysik des Symbolischen“ schließlich ist eine höchste Reflexionsund Begründungsform theoretischen Denkens erreicht, die aber, wie die Theorie der Basisphänomene zeigt, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in unserer ursprünglichsten Erfahrung fundiert sein will. Damit gewinnt die Philosophie im Sinne Cassirers definitiv einen Status, der sie in den Wissenschaften selbst als eigenständige letzte Reflexionsform über den Wissenschaften stehen lässt. Das aber war es, was Aristoteles mit seiner Metaphysik als erster Philosophie intendierte, und das ist es, was Cassirer mit seiner „Metaphysik des Symbolischen“ programmatisch unter den Bedingungen der Moderne erneuert hat. Cassirers „Metaphysik des Symbolischen“ ist weitgehend Programm geblieben, und selbst seine „Philosophie der symbolischen Formen“ stellt bei all ihrer Monumentalität ein Torso dar, bei dem vieles entworfen, aber nicht ausgeführt wurde. Das ändert jedoch nichts am paradigmatischen Charakter von Cassirers Philosophie. Sie stellt, mit Whitehead gesprochen, a lure for feeling115 dar, den Anreiz für einen wiederholten Kontakt, den gerade der Nachlass aufs Neue belohnt.
Literaturverzeichnis Descartes, René (1996): Oeuvres, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannéry, Paris, Bd. 2. Fetz, Reto Luzius (1981): Whitehead. Prozessdenken und Substanzmetaphysik, Freiburg/München. – (1988): Struktur und Genese. Jean Piagets Transformation der Philosophie, Bern. Möckel, Christian (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg. Piaget, Jean (1968): Le structuralisme, Paris. – (1974): Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, Frankfurt. Whitehead, Alfred North (1925): Science and the Modern World, Cambridge. – (1985): Process and Reality. Corrected Edition, New York.
115
Whitehead, 1985, 25, 184.
Sebastian Ullrich
Der Geist als Prinzip des Bildens bei Ernst Cassirer Einleitung Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist nicht eine auf das spezielle Phänomen der Kultur beschränkte theoretische Teildisziplin. Vielmehr handelt es sich bei dieser um einen umfassenden Ansatz im Sinne einer prima philosophia, die alle Bedeutungsnuancen1 des Begriffs der Realität in einem „komplexen System“2 begreifen soll. Es ist in diesem Systemansatz das Urphänomen des Lebens3 in seiner Totalität, das betrachtet werden muss: Durch ein Verständnis der Formen, in denen Leben überhaupt erscheint, gelangt die „philosophische Reflexion“4 zu einem Begriff davon, was objektive Realität in ihren verschiedenen Ausprägungen sein kann. „Der echte Begriff der Realität“, so Cassirer in der Einleitung zum ersten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘, „läßt sich nicht in die bloße abstrakte Seinsform hineinpressen, sondern er geht in die Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen des geistigen Lebens auf – aber eines solchen Lebens, dem selbst das Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist.“5 Realität überhaupt entdeckt sich in den symbolischen Formen. Diesen muss sich die philosophische Reflexion zuwenden, um eine Grundlegung aller Weisen von Weltbezügen – in Cassirers Worten: eine Metaphysik des Symbolischen – entwickeln zu können. Gerade in Hinblick auf die Grundlegung seiner Philosophie spielt bei Cassirer der Begriff des Geistes eine zentrale Rolle. In den nachgelassenen Notizen zur Metaphysik des Symbolischen 6 kommt Cassirer im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Verhältnis von Form und Leben im Zuge seiner Diskussion der sogenannten Lebensphilosophien zu fol-
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Zur Interpretation der Philosophie der symbolischen Formen als Theorie des Bedeutungsbegriffs vgl. Christian Bermes (1997): Philosophie der Bedeutung. Bedeutung als Bestimmung und Bestimmbarkeit. Eine Studie zu Frege, Husserl, Cassirer und Hönigswald, Würzburg, 142-181, bes. 181. 2 Vgl. PSF I, ECW 11, 27. 3 Zum Lebensbegriff in der Philosophie Ernst Cassirers vgl. Christian Möckel (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg. 4 ECN 1, 208. 5 PSF I, ECW 11, 46. 6 Vgl. ECN 1, 261 ff.
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gender Aussage: „Die modernen Theorien des ‚Lebens‘ sind völlig ungenügend, weil sie am Leben vielmehr nur das negative, das bloss Naturhafte, das biologische Element herauslösen […] Aber damit kommt man noch gar nicht zum eigentümlichen Problem des ‚Lebens‘ […] als eines geistigen Prozesses – Zum Geistigen, zum ‚Für sich Sein‘ kommt es nicht im blossen Leben, sondern in der Form, die das Leben sich selbst giebt – […] Der Begriff des ‚konkreten Geistes‘ [aber] erfährt […] erst in d[]en Symbolformen seine Realisierung“. 7 Das Leben kommt erst im Geist bzw. als geistiges zu sich selbst, der Geist konkretisiert sich in den symbolischen Formen und in diesen geht die Realität als solche auf. Um also die Wirklichkeit philosophisch durchdringen zu können, muss verstanden werden, wie es zu den symbolischen Formen und darin das Leben zu sich selbst kommt. Das Leben ist dabei „das Höchste, was wir begreifen“, 8 nämlich als das grundlegende analytische Prinzip des „symbolischen Idealismus“.9 Die Bewegung, die das Leben als Urphänomen, also im Erscheinen, darstellt, differenziert sich dabei zugleich durch die „Eigenbewegung des ‚Geistes‘ […] in einzelne spezifische Sonderbewegungen“10 aus, nämlich in die symbolischen Formen. So aber erst kommt das Leben zu sich selbst und zur Existenz. Der Begriff des Geistes erweist sich folglich als das höchste synthetische Prinzip in der Grundlegung des komplexen Systems. Dem Problem des geistigen Lebens nachgehend setzt sich Cassirer in seinen Notizen, die im Nachlass unter dem Titel „Geist und Leben“11 zusammengefasst sind, mit drei der modernen Theoretiker des Lebens auseinander: Ludwig Klages, Georg Simmel und Martin Heidegger. Diese haben allerdings mit dem „Grundgegensatz der modernen Philosophie“12 zu kämpfen: Bei Klages zeigt sich dieser in der antinomischen Gegenüberstellung von Geist und Leben, bei Simmel im ontologischen Dualismus von Form und Leben, bei Heidegger in der existentiellen Differenz von Sinn und Sorge. Indem hier Cassirers Diskussion dieser drei Denker ins Zentrum gestellt wird, soll seine eigene Konzeption des Begriffs des Geistes rekonstruiert werden. Aufschlussreich sind dabei, dies sei hier nur nebenbei bemerkt, Cassirers systematische und terminologische Bezugnahmen auf die Konzeption der Transzendentalphilosophie durch Johann Gottlieb Fichte.13 7 8 9 10 11 12 13
ECN 1, 266. Ebd., 264. Ebd., 261. Ebd., 264. Ebd., 207 ff. Ebd., 265 ff. Diese Bezüge sind in der Cassirerforschung bisher kaum gesehen worden,
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Cassirers transzendentalphilosophisch gedachter Einwand gegen Klages, Simmel und Heidegger wie gegen die gesamte zeitgenössische Philosophie und die Romantik14 macht geltend, dass der Sinn des Lebens und Seins nicht philosophisch erfasst werden kann, wenn derartige Antinomien stehen bleiben. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf Cassirers einerseits von einem wissenschaftstheoretisch verengten Neukantianismus sowie andererseits zunehmend vom Positivismus geprägtes geistiges Umfeld ist es als ein programmatischer Hinweis zu werten, wenn Cassirer schreibt: „Diesen Sinn des ‚Lebens‘ haben tiefer als die ‚Modernen‘, Fichte, Schelling, Hegel erkannt. Sie überwinden die Antithese [von Leben und Form] durch den neuen idealistischen Begriff des Geistes“.15 Aber gerade für einen derartig extensiv an historischen Positionen entlang philosophierenden Denker wie Cassirer bedeutet ein Sympathisieren mit irgendeiner Philosophie noch lange kein Philosophieren. Sich durch bloßes Konstatieren geistesgeschichtlicher Fakten behaupten zu wollen würde die philosophische Reflexion nachgerade in einen performativen Widerspruch verwickeln. Die philosophische Reflexion muss indessen als solche selber lebendiger Vollzug sein. Denn sie muss sich schließlich gemäß den Grundvoraussetzungen der Philosophie der symbolischen Formen selbst als symbolischer Ausdruck des rein geistigen Vollzugs erfassen können. Dazu müsste allerdings noch schärfer, als Cassirer dies explizit tut, zwischen der „semi-empirischen Methode“16 von Cassirers kritischer Phänomenologie und dem rein begrifflichen Verfahren der methodischen Reflexion im Modus der Metaphysik des Symbolischen unterschieden werden. Denn freilich vollzieht sich Philosophieren im strengen Sinne nur als „ideelle Befreiung vom Zwang der Symbolik“.17 Als Metaphysik des Symobgleich Cassirer schon in EP 3, ECW 4, 121-208 eine höchst affi rmative, und im Vergleich zu allem sonst, was zu seiner Zeit über Fichte geschrieben wurde, erstaunlich zutreffende Darstellung der Philosophie Fichtes vorlegte, die er erst nach dem Ableben seines Lehrers Hermann Cohen veröffentlichte, und obwohl nicht nur die Einleitung zur ‚Philosophie der symbolischen Formen‘, sondern gerade auch der erste Band des Nachlasses nicht allein (wie auch seine späten methodologischen Vorträge CPPP und CIPC in SMC, 49-63 bzw. 64-91) von einer systematischen Nähe zu Fichte und sogar von dessen Terminologie durchwebt und durchdrungen sind. 14 Z.B. ECN 1, 247. 15 Ebd., 266. – Im Hinblick auf diese Aussage und auf weitere Ausführungen zum Begriff des Geistes in den Textstellen zur Metaphysik des Symbolischen, auf die noch zurückzukommen ist, kann sicherlich ohne Übertreibung behautet werden, dass sich Cassirer mit seinem „symbolischen Idealismus“ (ECN 1, 261) bzw. „Idealismus der symbolischen Funktion“ (ECN 1, 264) bewusst und ausdrücklich in die historischsystematische Linie des Deutschen Idealismus stellt. 16 Vgl. Birgit Recki (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin, 45. 17 ECN 1, 265.
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bolischen soll das Philosophieren nämlich keine eigenständige symbolische Form im engeren Sinne darstellen, weil es als solches gerade nicht „wirklichkeits begründend – konstituierend [sic!]“18 ist. Vielmehr ist der Vollzug der philosophischen Reflexion „Kritik u. Erfüllung der symbolischen Formen“: 19 Kritik, weil er die symbolischen Formen auf ihre grundlegende Vollzugsstruktur hin durchschaut und dabei ihre Gültigkeit und Grenzen aufweist und dabei zugleich alle Aussagen über ihr Wesen und ihre Funktion begrenzt; Erfüllung, sofern es mit diesem Nachvollzug des geistigen Vollzugs durch die bloße Bewusstmachung (nicht aber Erzeugung) dieser ideellen Genesis zugleich darum geht, davon „Rechenschaft zu geben“, 20 wie es zu der anfänglich bloß faktisch aufgegriffenen, nichtreduzierbaren Pluralität der symbolischen Formen kommt. Wenn nun Cassirer den Begriff des Geistes entwickelt, indem er sich an Fremdpositionen abarbeitet und dabei zugleich den Bedeutungswandel der jeweiligen Reflexionsbegriffe festhält, der sich in diesem diskursiven Fortschreiben ergibt, dann stellt diese gleichsam dialektische Schärfung der Begriffsintension folglich weder den Prozess einer (konstitutiven) symbolischen Konstruktion, noch stellen die den Bedeutungswandel des Begriffs dokumentierenden Zwischenstufen dem Wesen des Geistes äußerliche Modifikationen dar. Vielmehr ist der in aufeinander bezogenen Reflexionsbegriffen bekundete Vollzug der philosophischen Reflexion als solcher der Nachvollzug der logisch-genetischen Phasen der sich durch seine Grundmomente entfaltenden, immanenten Eigenbewegung des Geistes. Wenn Cassirer sich mit dem hier pertinenten Begriff der logischen Genesis auch auf Hegel beruft, 21 so darf dies freilich nicht zu dem Missverständnis führen, die reflexionsbegrifflichen Zwischenstationen würden Stufen darstellen im hegelschen Sinne einer ontologisch objektiven Entfaltung des Begriffs (bzw. des Geistes bzw. der symbolischen Formen). Ganz im Gegenteil gilt auch hier, dass „jene Gliederung und Abteilung […, die] der Philosoph […] an dieses lebendige Gewebe des Geistes heranbringt, […] ihm durchaus fremd [ist]. […] Die eigentliche, die ‚konkrete‘ Wirklichkeit des Geistes besteht vielmehr […] darin, daß alle seine verschiedenen Grundmomente […] im eigentlichen Sinne ‚konkreszieren‘.“22 Das Abarbeiten an den geistesgeschichtlichen Positionen dient Cassirer also dazu, in der Nachkonstruktion der immanenten Selbstkonstruktion des geistigen Vollzugs mit der Entwicklung seiner eigenen Konzeption in 18 19 20 21 22
ECN 3, 249. ECN 1, 265. Ebd., 128. Vgl. auch FFW, ECW 17, 342. Vgl. ECN 5, 19f; ECN 1, 222. ECN 1, 6.
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kritischer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen zugleich die formal-idealistischen Voraussetzungen der Philosophie der symbolischen Formen in einem aktuellen Diskurszusammenhang verständlich und fruchtbar zu machen. Außerdem ist jedes Aufweisen zentraler Denkfiguren in weltanschaulich anders motivierten bzw. systematisch anders begründeten Positionen immer auch als zumindest indirekte Bestätigung, wenn nicht für die Richtigkeit, so doch immerhin für die Plausibilität einzelner philosophischer Theoreme zu betrachten. 23 In den hier ins Zentrum gestellten Textstellen arbeitet sich Cassirer wie gesagt an Klages, Simmel und Heidegger ab. Die Interpretation muss nun mitlaufend, gemäß der postulierten Methodologie, die Reihenfolge der Texte als nicht willkürlich erweisen: Jede dargestellte Position muss in die jeweils nächste, als sich anschließende Reflexionsstufe, gleichsam organisch überleiten. Die drei Ansätze sollen also nicht primär als Beispiele historisch aufgegriffener Denkfiguren gelesen werden, sondern müssen sich in ihrem Zusammenhang als Repräsentanten des Argumentationsverfahrens des komplexen Systems des symbolischen Idealismus dartun. In diesem Sinne zeigt sich, dass Cassirer Klages’ Mythologie des Geistes zwar ablehnt; Einigkeit besteht aber darin, ‚Ausdruck‘ als die grundlegende Kategorie der Erscheinung zu nehmen und darin ihre Bildhaftigkeit anzuerkennen. Nur ist für die Philosophie der symbolischen Formen der Ausdruck ein geistiges Phänomen, insofern nämlich in ihm das Leben immer schon im wörtlichen Sinne informiert erscheint. Damit wird die Argumentation zugleich auf einen scheinbaren Dualismus von Leben und Form getrieben, wo sich die Position von Simmel anschließt. Seine ontologischen, diesen Dualismus zugleich zementierenden Tendenzen werden vom symbolischen Idealismus verworfen. Immerhin bleibt die Polarität von Leben und Form im Lebensvollzug als dynamische Struktur stehen. Allerdings erweist sich das Leben als Vollzug, der sich als solcher notwendig in objektiven Sinnformen entäußern muss, die diesem als transzendent erscheinen. Hier geht die philosophische Reflexion in eine Position über, die in Heideggers Existenzialismus artikuliert ist. Einigkeit besteht nun darin, die Transzendenz des Gegenständlichen als dem geistigen Lebensvollzug immanent zu erkennen. Aber die existentialistische Soziologisierung (bzw. überhaupt Relativierung) jeglichen Sinnes kann von der Philosophie der symbolischen Formen nicht mitgetragen werden. An dieser Stelle mündet die Geistspe-
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Cassirer geht dabei bekanntlich in konzilianter Art auf seine literarischen Diskussionspartner so weit es geht ein und holt sie, wie man so sagt, da ab, wo sie sind, sodass es – Schwierigkeit für den Interpreten! – teilweise so scheint, als würde er sich mit entsprechenden Positionen zumindest zeitweise identifi zieren.
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kulation des symbolischen Idealismus in den Begriff des Sinns bzw. des ordo ordinans. Diese argumentative Textur ist nun detailschärfer zu zeichnen.
Klages Für Cassirer ist Klages’ „Lehre von der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ […] der deutlichste Beweis dafür, daß [dessen] gesamte Metaphysik im Ausdruckserlebnis wurzelt“. Deshalb gesteht er der klagesschen Metaphysik zu, dass sie „durchaus visionären Charakter“24 habe. Denn alles Erleben und Bewusstwerden, das gilt auch für den symbolischen Idealismus, ist in seiner fundierenden Schicht Ausdruckserleben: Ausdruck ist die „Fundamental-Kategorie des Verstehens“. 25 Nicht jedoch gesteht Cassirer dem von ihm herangezogenen Denker zu, dass dieser überhaupt im strengen Sinne philosophisch denke. Vielmehr sei „die [eben bloß vermeintliche] Philosophie von Klages selbst Mythos“. 26 Denn gemäß der Konzeption von Klages existiert das Bild bzw. „ist als dämonisches Etwas, u. als solches dringt es in den Menschen ein, überfällt ihn mit seiner dämonischen Gewalt“. 27 Der damit gekennzeichnete Erlebensmodus ist aber der des mythischen Bewusstseins bzw. des Wissens im Modus der „mythischen Präsenz“. 28 Fasst man dies als Grundsituation des Erlebens überhaupt, was allerdings „gerade nicht die ‚Form‘ des Mythos [erklären würde]“, 29 dann beansprucht man zumindest implizit eine Form der von der Philosophie der symbolischen Formen grundsätzlich überwundenen Abbildtheorie des Wissens30 – womit sich übrigens zugleich der interessante Ausblick ergibt, dass demgemäß letzten Endes auch alle empiristischen bzw. positivistischen Theorien des Wissens, vertauscht man nur den Begriff des Bildes mit dem des Sinnesdatums oder des Gegebenen, in ihrem Kern als dem mythischen Denken verhaftet aufzufassen sind. Bezüglich des Wissens im Modus der mythischen Präsenz muss festgehalten werden, dass Bild und Sache31 bzw. Bild und Wirklichkeit Wechselbegriffe sind: „[D]ie Indifferenz von ‚Bild‘ u. ‚Wirklichkeit‘ ist gerade 24
ECN 1, 207. ECN 3, 246. – Vgl. auch das Kapitel „Ausdrucksfunktion und Ausdruckswelt“ in PSF III, ECW 13, 49-117. 26 ECN 1, 208. 27 Ebd., 209. 28 Vgl. ECN 3, 210. 29 ECN 1, 208. 30 Vgl. PSF I, ECW 11, 39 ff. 31 Vgl. PSF III, ECW 13, 76. 25
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der Grundzug des Mythos“. 32 Freilich sind Bild und Wirklichkeit nicht für das mythische Wissen selbst Wechselbegriffe. Dort erscheint dieser Unterschied gar nicht als solcher. Diese Differenz zeigt sich in aller Deutlichkeit nur der philosophischen Reflexion, welche, im Gegensatz zu Klages, auch den „Mythos als Form“33 durchschaut. Soll es zu einem Wissen des Sachgehalts der Ausdruckserlebnisse im Modus gegenstandslogischen Denkens kommen, so kann dies, auch das sieht Klages richtig, nur durch „gedankliche, [durch] theoretische Vermittlung“34 geschehen. Allerdings wendet Cassirer wiederum gegen Klages ein, dass der Einsatzpunkt der intellektuellen Funktion nicht erst an den Bildern ist. Klages behauptet nämlich letztlich ein „Subjekt [des Erlebens], das sich rein leidend als tabula rasa verhält“, in das nicht nur die Bilder „eindringen“,35 sondern dem auch die, mit Klages im Sinne der „antiken Wahrnehmungslehre“36 gedachten, eÍdwla der Dinge, der intellektuellen Funktion quasi zur Weiterverarbeitung oder Überformung so vermittelt werden. Solches Denken bezeichnet Cassirer als „naiv-objektivistisch“. 37 Für den symbolischen Idealismus sind demgegenüber die Ausdruckserlebnisse, sind die Bilder selbst als solche geistige Gebilde, auch im mythischen Bewusstsein: „Die philosophische Refl exion [nämlich] enthüllt auch die ursprünglichen Ausdruckserlebnisse als ideell bedingt – als (immanentes) Tun, nicht als blosses ‚Leiden‘.“38 Der Ausdruck, so informiert Cassirer dementsprechend bereits im Kapitel über die Ausdrucksfunktion im dritten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen, „ist seinem eigentlichen Wesen nach Äußerung – und doch sind und bleiben wir mit dieser Äußerung Ort für Ort im Innern.“39 Der Gesichtspunkt dieser wesentlichen Immanenz ist es nicht zuletzt, den Cassirer gegenüber Klages einschärfen möchte. Damit erhält auch die Formel von der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ eine andere, der Bedeutung bei Klages spezifisch entgegengesetzte Bedeutung. Für beide Positionen ist die fundierende Schicht der Realität das Bild. Aber nicht die Bilder sind, wie für Klages, als Urgrund in der Wirklichkeit, sondern jede Wirklichkeit ist überhaupt nur in Bildern als geistigen Gebilden. Für Klages existieren als letzte Realität die Bilder an sich, „für uns [als Philosophierende im Geiste des symbolischen Idealis-
32 33 34 35 36 37 38 39
ECN 1, 208. Ebd., 208. Ebd., 208. Ebd., 209. Ebd., 208. Ebd., 208. Ebd., 208. PSF III, ECW 13, 105, Hervorhebung S.U.
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mus] aber gilt es einzusehen, daß kein Bild an sich ‚ist‘ ohne eine Funktion des Bildens“.40 Die Funktion des Bildens – kürzer: das Bilden – ist folglich ursprüngliche Bedingung der Möglichkeit von Realität überhaupt: Das vielgestaltige Wirkliche erscheint grundsätzlich nur durch das Bilden. Der Geist als das Prinzip des Bildens ist damit zugleich als oberstes synthetisches Prinzip des symbolischen Idealismus eingeführt. Aber freilich: Wenn Wirklichkeit nur in (geistigen) Bildern erscheint, dann kann und muss doch noch gefragt werden: Was erscheint denn da? Der Geist als solcher verbürgt nur, dass etwas erscheint. Für das Was braucht es, wie Cassirer formuliert, noch einen „schöpferischen Urgrund“,41 nämlich das Leben. Dieses erweist sich damit nicht nur faktisch als höchstes analytisches Prinzip des symbolischen Idealismus, sondern zeigt sich als vom Prinzip des Geistes her gefordert und insofern legitimiert. Denn ohne, wie Cassirer es ausdrückt, die „Berührung mit dem Lebensgrund […, mit dem] Urgrund des Lebens […] würde [der Geist] nur leere Schemen erzeugen“,42 nicht aber realitätshaltige Bilder. Unter Voraussetzung des Prinzips des Dass (dem Geist) kann in Verbund mit dem Prinzip des Was (dem Leben) nun auch das Wie des Vollzugs des Geistes als die wechselseitige Durchdringung von Geist und Leben aufgeklärt werden. Denn „das Leben, als solches, ist blind-gestaltend; […] dagegen der Geist ist das Prinzip des Sehens selber“.43 Anders formuliert: „Die völlige […] Ent-Geistung würde nicht die Wirklichkeit der Bilder zurücklassen – sondern nur das bildlose Leben“.44 Damit aber käme es gar nicht zu einem realen Leben, denn als reales kann es gemäß der hier entwickelten Voraussetzung nur in Bildern bzw. durch das Bilden erscheinen. Auf der anderen Seite würde der Geist ohne die Berührung mit dem Leben nur leere Schemen erzeugen, also sich gerade nicht in Bilder entäußern, die als solche notwendig einen Bildgehalt fordern. Denn der Geist sieht sich als solcher wiederum nur reflektiert in den Bildern. „Der Geist bekommt sich selbst nur in Sicht, sofern er ständig auf das Leben, auf den schöpferischen Urgrund ‚Rücksicht‘ nimmt“.45 „[D]ieser Rück-Blick konstituiert ihn selbst, ja er ist geradezu diese Rücksicht.“46 Die Metapher der Rücksicht ist im Sinne der Wendung des Blickstrahls zu verstehen und meint die reine Reflexionsform. 40 41 42 43 44 45 46
ECN 1, 209 Ebd., 213. Ebd., 209. Ebd., 212. Ebd., 209. Ebd., 213. Ebd., 213.
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Der Geist aktualisiert sich als „Prinzip des Sehens selber“,47 indem er sich durch das Leben in Bildern sieht. Dieser „reine Blickstrahl [des Geistes], der auf das Leben fällt, greift seine [nämlich des Lebens] Substanz nicht an – er bekommt vielmehr eben diese Substanz selbst ‚in den Blick‘ – das Leben wird“, wie Cassirer hier mit explizitem Verweis auf Fichte sagt, „‚Sehe‘“.48 Der Geist, das synthetische Prinzip, aktualisiert sich nur durch das Leben, dem analytischen Prinzip, als Sichsehen und „dies ‚Sehen‘ entfernt sich vom Leben, sofern es dasselbe ihm ‚gegenüber‘, in einer bestimmten ‚objektiven‘ Distanz haben muss – aber diese Entfremdung ist nicht: Vernichtung, sondern eben dies ist Vorrang u. Vorrecht wie auch Pflicht, Notwendigkeit, Aufgabe des Geistes“.49 In diesem Sinne formuliert Cassirer auch, dass „eben der Geist […] sich sich selbst [!] entfremden [muss], um sich selber zu ‚haben‘, er kann sich gar nicht anders als vermöge eben dieses Prozesses seiner Selbstentfremdung haben.“50 In eine Formel gebracht: Indem der Geist als Prinzip des Sehens sich durch das Leben in Bildern reflektiert, wird das Leben selbst zur Sehe, erscheint das Leben als sich sehendes Leben in ebendiesen Bildern. Das Sehen bzw. die Sehe ist insofern der Reflex des Lebens. Der Geist ist als solcher – gegenüber dem an sich blinden, aber schöpferischen Urgrund des Lebens – reine Reflexionsform. Dieses Verhältnis enthüllt sich freilich allein der philosophischen Reflexion. Denn das Bild wird von der philosophischen Reflexion als Bild erkannt, wobei die Differenz von Bildform – dem Prinzip des Sehens – und Bildgehalt – dem Leben als Sehe – selbst als bildimmanent gesehen wird. Im Mythos, um noch einmal diesen argumentativen Bogen zurück zu schlagen, herrscht dagegen die Identifizierung von Bild und Bildgehalt bzw. Ausdrucksfunktion und Ausdrucksgehalt. Nur das philosophische, nicht das mythische Denken zeigt dabei, dass das Bild auch das mythische Bewusstsein fundiert, nur hat das mythische Bewusstsein (noch) nicht den Begriff von sich selbst als Form und ist in diesem sinnlich-ausdrucksmäßigen Sinne rein anschaulich. Das heißt, es kann nicht darauf reflektieren und sieht deshalb nicht den Unterschied von Bildform und Bildgehalt, der insofern implizit bleibt und in diesem ideellen Sinne ist es dennoch immer schon Synthesis von Bildform bzw., kantisch gesprochen, Begriff und Bildgehalt bzw. Anschauung. Die philosophische Reflexion durchschaut folglich in jedem Wissen, nicht nur im Mythos, die Bildform als geistiges Gebilde (die Ausdrucks-
47 48 49 50
Ebd., 212. Ebd., 214. Ebd., 212. Ebd., 212.
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funktion) und den Bildgehalt als ein gebildetes Sein (den Ausdrucksgehalt bzw. den Ausdruckswert). Dabei muss sich die philosophische Reflexion als lebendiger Vollzug des Philosophierens selbst als ein Bilden erfassen, in dem dieses Bildverhältnis ins Bild gehoben, also reflexiv bewusst gemacht ist. Der sich dabei selbst bewusst werdende geistige Vollzug erfasst insofern in der Einsicht, dass dies die grundlegende, wenn auch nicht notwendig als solche selbst reflexiv bewusste Grundsituation jeden Erlebens ist, sich selbst als Bild bzw. Bildvollzug – als Bilden –, in welchem Bild als Bildvollzug bzw. Ausdrucksfunktion (Geist) und Bildgehalt als gebildetes Sein bzw. Ausdrucksgehalt (Leben) aufeinander bezogen sind. „Es gibt also gar nicht den Dualismus [von] Leben [und] Geist – sondern der hier aufgewiesene Dualismus ruht im Wesen des Geistes selbst, ist eine seiner notwendigen, immanenten Äusserungsformen“. 51 Der Geist als Prinzip des Bildens der Bildform setzt also nicht nur sich selbst in der Bildform ab, sondern dieser auch das Prinzip des Bildgehalts, nämlich das Leben als schöpferisches Prinzip, entgegen. Damit lässt sich zugleich Cassirers Verwendung des Terminus „Urphänomen des Lebens“ einer Klärung zuführen, denn Leben ist eben immer nur gebildetes Leben, es ist immer nur als vom Reflexionsvollzug des Geistes zu seiner Realisierung gefordertes, und als solches im geistigen Vollzugs informiert erscheinendes Leben. Entsprechend zeigt sich das Leben als immer schon in Bildform gebildetes Leben und also doch ein scheinbarer Dualismus von Form und Leben. Damit wird die Reflexion auf die von Simmel repräsentierte Position weiter getrieben.
Simmel Das Leben kann wie gesehen nur als geistiges Leben, das heißt als ursprünglich in der Reflexionsform erscheinendes Leben gedacht werden. 52 Leben selbst kann nicht, so erschließt sich von der bisher entwickelten Geistkonzeption aus, als zugrunde liegendes, unmittelbares Sein gedacht werden, sondern ist die „rotierende Bewegung der Monas um 51
ECN 1, 212. Die fundierende Schicht der Realität ist in diesem Sinne Ausdruck „des Lebens, das zur Form wird“. Vgl. Massimo Ferrari (2002): Was wären wir ohne Goethe? Motive der frühen Goetherezeption bei Ernst Cassirer. In: B. Naumann/B. Recki (Hg.) (2002): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin, 173-194, 186, auch 178: „Es ist nicht nur so, daß Leben und Werk ein einheitliches Ganzes bilden müssen, sondern auch, daß das Leben in seinem ‚inneren Prozeß‘ sich erst aufgrund der Objektivationen des Lebens, und zwar als ‚Resultat‘ erweist.“ 52
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sich selbst“. 53 Der eigentliche Zielpunkt des entsprechenden Ausdrucksprozesses sind dann die symbolischen Formen im engeren Sinne. Hier ist Cassirers kritischer Anknüpfungspunkt an Simmels Lehre von der „Transzendenz des Lebens“. 54 Allerdings wendet Cassirer bei aller gesehenen Nähe zu Simmel55 gegen diesen ein, dass „es […] nicht so [ist], daß die Form als Eigenbereich den Bereich des Lebens beschränkt – vielmehr schreitet das Leben als unendliche Formungsmöglichkeit, als Potenz zur Form über die jeweils gegebene Formung hinaus.“56 Es gibt also nicht das Leben und die Formen als eine (absolute) Transzendenz des Lebens; es gibt kein irgendwie in einem zeitlichen Fluss befindliches Substrat bzw. einen objektiven Prozess, in den „ihm aufgezwungene feste Formen“ „eintreten“57 – sondern Leben meint als eine ursprüngliche, substantielle Selbstbezüglichkeit eine sich im Zurückkommen auf sich selbst als solche erstellende und in der Existenz erhaltende Tätigkeit. Es erscheint durch die geistige Reflexionsform als Sehe. Es gibt nicht das Leben an sich und ein naiv-platonisch zu denkendes Reich ewiger Objekte, „sondern nur ein[en] immer neue[n] Rückgang des Lebens in sich selbst u. ein Gebären immer neuer Formen aus eben diesem Urgrund des Lebens selbst“. 58 Diese Formen, die das Leben als geistiges Leben (im Sichsehen als Reflex des Lebens) durch seine Rückwendung auf sich hat, sind letztlich die symbolischen Formen. Die symbolischen Formen sind als Weiterbestimmungen aufzufassen, die das Leben in seiner Bewegung annimmt. Die Formen sind der als Aktus gedachte Reflex, also die Sehe bzw. die Energie des Geistes. In diesen Formen setzt sich das Leben zu sich selbst in ein ordnendes Selbstverhältnis, „in [den Formen] giebt sich das Leben nicht an ein ihm fremdes ‚Sein‘ hin – sondern in ihnen wird es sich selbst objektiv – sie [nämlich die Formen] sind sein ständiger Objektivationsprozess“. 59 Das Leben lebt als unendliche Formungsmöglichkeit und darin als Selbstbestimmung seiner selbst im Erscheinen zur Bestimmbarkeit. Weiterbestimmt in den symbolischen Formen hebt es sich allerdings als solches auf, weil es in den symbolischen Formen im engeren Sinne nicht mehr Bestimmbarkeit ist, sondern Bestimmung. Damit aber verliert das Leben seine innere Agilität, seine unaufhörliche Bewegung um sich
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ECN 1, 264. Ebd., 215. 55 Vgl. auch ebd., 8 ff. 56 Ebd., 216. 57 Ebd., 215. 58 Ebd., 215 f. 59 Ebd., 215. – Das Leben erweist sich insofern in seinen eigenen Objektivationen immer als Resultat seiner selbst (vgl. Ferrari, 2002, 178). 54
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selbst: Das in seinen Objektivationen zum Stehen gekommene Leben ist insofern sich selbst entfremdet – es ist nicht mehr Leben. Deshalb kann es in keiner der durch sich selbst hervorgebrachten und geprägten Formen aufgehen. 60 Es muss also auf sich selbst als Formungsmöglichkeit zurückkommen, um sich selbst als Leben im Leben zu erhalten: „[E]s hat sich nur, indem es sich formt, und es hat sich doch in keiner Form ganz, es muß über alle Form hinausgehen, transzendieren, um sich zu haben, immer wieder in sich [als Bestimmbarkeit], so wie es vor aller Form [im Sinne der Bestimmtheit] besteht, zurückgehen.“61 Der Lebensvollzug erscheint als ein ständiges, immanentes Übergehen von unendlicher Formungsmöglichkeit bzw. Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit der objektivierten Form, wobei sich in der objektivierten Form als Ziel und Ende des jeweiligen (schöpferischen) Wirkens62 zugleich die Aufgabe zu erneuter Objektivierung formiert. Die Bewegung des Lebens ist folglich immer ein ständiges Sichentzweien in sich selbst, nämlich zugleich in die Richtung auf die objektivierte, entäußerte Form (bzw. durch das Werk auf das Du im Sinne der Theorie der Basisphänomene) und auf sich selbst im Neuansatz seiner selbst als Bestimmbarkeit bzw. Formungsmöglichkeit. 63 Im Hinausgehen über sich selbst als Bestimmtheit, wobei das Leben sich selbst als reine Formungsmöglichkeit und somit als Leben zurückgewinnt, ist es aber immer schon wieder im Übergehen in neue Bestimmtheit begriffen. Denn der Reflex des Lebens ist das Bestimmen. 64 Das Gedanke, dass sich das Leben im Prozess der Selbstbestimmung, der im Wesen seines Erscheinens liegt, selbst als Leben verlieren müsste, kann mit Cassirer auch folgendermaßen ausgedrückt werden: „[D]ie objektive Form wird zur leeren Form [nämlich als forma formata], die das Ich hemmt“. 65 Es gilt aber zugleich: „Das Ich [bzw. das in der Form der ‚Monas‘ erscheinende Leben] strebt sich auszudrücken in rein individueller, expressiver Art“. 66 Und außerdem gilt die Synthese dieser beiden Gesichtspunkte, denn das Ich „ist [dabei] an fertige ‚Formen‘ gebunden“. 67 60
In jeder Form in diesem Sinne erreicht das Wirken sein Ende, vgl. ECN 1, 136. ECN 1, 217. 62 Vgl. ebd., 136. 63 Insofern ist der Lebensvollzug in seiner Grundform der Auseinandersetzung (vgl. PSF II, ECW 12, 182; PSF III, ECW 13, 44; ECN 3, 199; LSB, ECW 22, 118) und entspricht damit Cassirers grundlegender systematischer Bestimmung des Formvollzugs als solchem der symbolischen Formen. 64 Wobei dieses noch mehr Bedingungen hat, die sich mit Cassirer systematisch im Ausgang von seinen Notizen zur Theorie der Basisphänomene entfalten lassen, wozu hier aber nicht der Ort ist. 65 ECN 1, 217. 66 Ebd., 218. 67 Ebd., 218 – Aufschlussreich, vor allem wenn man die systematischen Parallel61
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Die fertige Form, die das Leben quasi aufgreift, indem es sich selbst durchbestimmt, ist folglich immer nur Ausgangspunkt des Weiterbestimmens (in Selbstbestimmung). Der Prozess des Lebens ist sein ständiger Objektivationsprozess, in welchem sich das Leben als solches bildet, indem es zugleich über jede mögliche Objektivation seiner Selbst immer schon hinausgehen muss, um sich nicht selbst in seinen Objektivationen zu verlieren. Die forma formans besteht in einem beständigen Übergehen in die forma formata, die immer schon ineins der Neuansatz einer forma formans ist. Insofern ergibt sich ein „ununterbrochenes Herüber und Hinüber, ein stetiger absatzloser Übergang von einem Extrem zum anderen.“68 Die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst „fasst sich [in diesem Sinne] zusammen in der Erschaffung immer neuer Gestalten u. in der Vernichtung dieser Gestalten.“69 Das im geistigen Reflex auf sich selbst als Sehe (und darin als das Bilden) erscheinende Leben ist somit eine Selbstentäußerung des Lebens in die Entgegensetzung von Leben und Form im Beziehen der beiden aufeinander. Die ursprüngliche Erscheinung bzw. das Urphänomen des Lebens erscheint in der wesentlichen bzw. substantiellen Korrelation (bzw. der Relation im Sinne der Logik des Symbolischen70 ) von Leben und Form. Das Leben als Leben erscheint notwendig auf die Formen als Produkte seiner selbst und darin auf sich selbst als schöpferischer Urgrund der Formen zurückbezogen. Simmel wird der Dualismus von Leben und Form also konzediert, und doch nicht als terminus a quo des geistigen Lebens, sondern als terminus ad quem – in den Worten von Cassirer: „Und doch ist dieser Dualismus nur scheinbar – die dialektische Bewegung, die hier zweifellos vorliegt, darf nicht in die absolute Dualität zweier an sich seiender u. sich ewig fremder Pole umgedeutet werden – sondern die Polarität selbst ist das eigentliche Urphaenomen, das nur von uns in der Reflexion künstlich gespalten wird – Alles Leben und alles Schaffen ist an diese Polarität gebunden.“71 Das Leben, heißt das, erscheint niemals ungeformt oder als formloses Substrat, das irgendwie erst noch zu überformen sei. Vielmehr erscheint es immer schon in der Möglichkeitsform: Das Leben macht sich selbst, so kann direkt formuliert
stellen in den Notizen zur Theorie der Basisphänomene (bes. ECN 1, 123 und 133) hineinliest, ist hier die Gleichsetzung von „Leben als Leben“ mit „Ich als Ich“ (ebd., 218). Im Sinne des ersten Basisphänomens bzw. der ersten Dimension der Basisphänomenalität des Lebens erscheint das Leben in der Form der Ichheit. 68 Ebd., 6. 69 Ebd., 264. 70 Vgl. LSB, ECW 22, 112-139. 71 ECN 1, 218.
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werden, im Erscheinen zu einem in spezifischen Formen Weiterbestimmbaren und vollzieht sich damit bereits in der Form des Angelegtseins auf konkrete Durchbestimmung. Die Transzendenz des Lebens wird von Cassirer dementsprechend nicht ontologisiert, sondern als erscheinende Transzendenz aus der Bewegung des Lebens selbst verstanden. Für den symbolischen Idealismus kann es in diesem Sinne nur eine immanente Transzendenz der Formen geben, indem das Leben als reine Formungsmöglichkeit über jede jeweils erreichte Form hinausschreitet. Damit ist die simmelsche Antinomie von Leben und Form gelöst. Es ist „das Leben [selbst, das] in seiner eigenen inneren Bewegtheit, aus dem Grundgesetz seiner Dynamik ‚Formen‘ entstehen lässt, deren Sinn und Bedeutung über es selbst hinaus geht“. 72 Dabei sind aber diese Formen zugleich immer schon über das Leben hinaus, indem das erscheinende Leben „Gebilde erschafft, die ganz unabhängig von dieser Art der Entstehung einen eigenen, objektiven Gehalt und Sinn besitzen, ihm gegenüber ‚Autonomie‘ besitzen“. 73 Das Leben „erscheint damit […] nicht nur als das ursprüngliche Quellgebiet des Geistes, sondern auch als dessen Urbild und Prototyp.“74 Die philosophische Reflexion gelangt somit an einen Punkt, an dem es so aussieht, als sei der (objektive) Geist, der objektive Gehalt und Sinn der Formen, abhängig vom erscheinenden Leben. Dies treibt die philosophische Reflexion auf eine Position weiter, wie sie sich mit Cassirers kritischer Auseinandersetzung mit Heidegger entwickeln lässt.
Heidegger Jedes gegenstandslogische Denken ist bedingt von geistigen Prinzipien. Denn alles Erleben und Denken ist solches in Bildern. Gegenstandslogische Kategorien unterschiedlicher Modalität führen dabei in der grundlegenden Situation der Bildhaftigkeit aller Wirklichkeit zu jeweils spezifischen sekundären Deutungen des bildimmanenten Verhältnisses von Ausdrucksfunktion und Ausdrucksgehalt (bzw. Geist und Leben): Im mythischen Bewusstsein beispielsweise wird dabei nicht auf die Bildform reflektiert und so kommt es zu einer Identifizierung des erscheinenden Bildens mit dem Ausdrucksgehalt der Bilder – dieser Modus des Bildens führt zu einem Erleben der Wirklichkeit als von personalen Mächten 72 73 74
ECN 1, 215. Ebd., 215. Ebd., 9.
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durchwirkt; 75 im vom wissenschaftlichen Denken durchprägten, sprachlich-empirischen Alltagsbewusstsein dagegen kommt es zu einer Reflexion auf den Unterschied von Bildform und Bildgehalt in der Weise, dass die Differenz zwischen erscheinendem Bilden als Bild und Ausdrucksgehalt als Sachgehalt gesehen wird. Nur die philosophische Refl exion sieht, dass es sich bei der impliziten Struktur des Wirklichkeitsbewusstseins, sei dieses nun mythisch oder empirisch im engeren Sinne, selbst um Prinzipiate des Bildens handelt, dass also nicht nur die mögliche Differenzierung bzw., mit Cassirers charakteristischem Ausdruck gesprochen, die mögliche „Auseinandersetzung“76 von Bildform und Bildgehalt ein Produkt des Bildens ist, sondern dass es sich bei solcher gegenstandslogischer Deutung um ein sekundäres Phänomen handelt, dass immer schon von der impliziten, primären Auseinandersetzung von Bilden und Bild fundiert wird. Die philosophische Reflexion selbst ist dabei ein Bildvollzug, in dem das Bild des Bildens und das Bild des Bildes in einem Bilden gesehen und aufeinander bezogen werden. Insofern eröffnet die philosophische Reflexion, und dies zeichnet in besonderer Weise ihr Wesen aus, eine tertiäre Ebene der Reflexion. Zumindest eine wesentliche systematische Konsequenz solchen transzendentallogischen Denkens sieht Cassirer nun auch in der Existenzialontologie von Heidegger realisiert. Denn auch dieser, so Cassirer, „sucht nicht die ‚Region‘ des Geistes aus der ‚Natur – die Ontologie der Existenz aus dem Sein von ‚Dingen‘, von Realität abzuleiten – er erkennt vielmehr diese ganze Dingwelt, die Welt der ‚Realität‘ als sekundäres Phaenomen.“77 Für beide Philosophen zeigt sich demgemäß als primäres Phänomen das „Dasein als geistiges Dasein […: Es] ist also ‚früher‘, ist das próteron tÞ fýsei zu aller Setzung von ‚Realität‘ im Sinne von ‚Dinghaftigkeit‘.“78 „Dinghaftigkeit“ meint natürlich das formelle Produkt jeglichen gegenstandslogischen Denkens im weitesten Sinne, also die jeweils in charakteristischer „Modalität“79 einhergehende Wirklichkeitsdeutung der verschiedenen symbolischen Formen. 80 75
Vgl. ebd., 251 ff. PSF II, ECW 12, 182; PSF III, ECW 13, 44; ECN 3, 199; LSB, ECW 22, 118. 77 ECN 1, 219. 78 Ebd., 219. 79 PSF I, ECW 11, 27. 80 Es ist also zu sehen, dass mit „Dinghaftigkeit“ von Cassirer nicht eine im engeren Sinne wissenschaftstheoretische Konzeption gemeint ist noch sein kann, die z.B. einer handlungstheoretischen Beschreibung der Wirklichkeit gegenübergestellt werden könnte. In beiden Fällen würde sich das Denken im Rahmen von symbolischen Formen im engeren Sinne bewegen, wäre also nicht im Sinne der grundlegenden Forderung, sich durch Kritik und Erfüllung der symbolischen Formen ideell 76
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Die reine Immanenz des geistigen Selbstvollzugs setzt sich im Erscheinen der primären Bildebene in die beschriebene immanente Transzendenz des Lebensvollzugs auseinander – an dieser Stelle ist, nebenbei bemerkt, der systematische Einsatzpunkt von Cassirers Theorie der Basisphänomene als Aufklärung der immanenten, interpersonalen Bezogenheitsstruktur des Bildens. Die Unterscheidung zwischen der primären und der sekundären Ebene der Phänomenalität greift entsprechend die im Zusammenhang mit Cassirers Klages-Diskussion eruierte Unterscheidung zwischen dem in die Polarität von Leben und Form erscheinenden Geist als Prinzip des Bildens auf der einen Seite und der diesem entgegengesetzten Entgegensetzung von Leben und objektivem Geist als Sinn auf der anderen Seite auf. Der objektive Geist auf sekundärer Ebene ist nur durch die vom erscheinenden Leben gebildeten Formen als ihr „Gehalt“81 zugänglich. Mit der sekundären Bildebene ergibt sich insofern in der Entgegensetzung von bildendem Leben und objektivem Geist in neuer Weise das Problem der Transzendenz. Heideggers Ansatz ist für Cassirer auf dieser Reflexionsstufe interessant, weil auch dieser gemäß Cassirer von der Einsicht in die Immanenz des Geistigen ausgehend eine Lösung dieses Transzendenzproblems sucht. Dabei geht Heidegger von seinen Begriffen des Man und der Sorge aus. Allerdings ist Cassirer nicht mit Heidegger in der Ansicht einig, dass das geistige Dasein notwendig dem Augenblick verhaftet sei, so dass der Bezug auf Allgemeines als „Hingabe an die Uneigentlichkeit“82 aufzufassen wäre. Im heideggerschen Zugriff werden nämlich gemäß Cassirer die symbolischen Formen zu „bloss sozialen Phänomen[en]“. 83 Freilich sind die symbolischen Formen immer grundlegend interpersonal verfasst, wie Cassirer in der Theorie der Basisphänomene deutlich macht, und insofern immer auch soziale Phänomene: Die grundlegende interpersonale Verfasstheit des Bildens ist aber vielmehr eine Bedingung der Möglichkeit für jeglichen Weltzugang. Für den symbolischen Idealismus sind deshalb die Formen mit ihrem Sinngehalt gerade nicht, wie für Heidegger, das Ergebnis sozialer Interaktionen quasi in der Weise der Abstraktion mittels Durchschnittsbildung. Durch die grundlegende, heideggersche Relativierung kann im Begriff der symbolischen Formen nicht mehr der notwendige Aspekt der Allgevom Zwang der Symbolik zu befreien, streng philosophisches Denken. Symbolische Formen können als „Verhaltungsweisen zur Welt“ (PSF I, ECW 11, 27) natürlich immer auch einer wissenschaftlichen, handlungstheoretischen Auslegung zugänglich sein. 81 ECN 1, 215. 82 Ebd., 220. 83 Ebd., 220.
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meingültigkeit bzw. Geltung als deren Gehalt reflektiert werden, auf den das erscheinende Leben konstitutiv bezogen ist. „[Aber] daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in der Schaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drückt sich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch auftreten. Sie alle greifen über den Kreis der bloß individuellen Bewußtseinserscheinungen hinaus; – sie beanspruchen ihnen gegenüber ein Allgemeingültiges hinzustellen. [… Und] daß [dieser Anspruch] überhaupt erhoben wird, gehört zum Wesen und Charakter der einzelnen Grundformen selbst.“84 Im Gegensatz zu Heidegger sieht Cassirer also, dass der objektive Geist bzw. der Sinn als solcher von der philosophischen Reflexion nicht in einer existenzialontologischen Interpretation gefasst werden kann. Sinn ist nicht, wie Heidegger meint, aus der „Sorge“ ableitbar, „sondern ‚es giebt‘ ‚unpersönlichen‘ Sinn, der freilich nur für ein daseiendes Subjekt erlebbar ist“. 85 Heidegger, so lässt sich Cassirers Einwand auf den Punkt bringen, erklärt nicht die Transzendenz des Sinnes, sondern vernichtet diese vielmehr durch die Rückführung auf das Alltägliche, quasi auf den depersonalisierten Durchschnitt alltäglicher Meinungen. In dieser existentialistischen Reduktion geht die Möglichkeit der Annahme einer unabhängigen, objektiven und autonomen Wahrheit bzw. eines nur so zu erfassenden Sinns verloren. Eine genau so geartete Wahrheits- bzw. Sinnvoraussetzung anerkennt der symbolische Idealismus allerdings als notwendig nicht nur für den Vollzug der philosophischen Reflexion, sondern für die Konstitution jeglichen Wissens. 86 Der Einwand gegen Heidegger ist folglich strukturell derselbe wie gegen Klages: So wie nicht die Bilder in der Wirklichkeit sind, sondern die Wirklichkeit in den Bildern, so ist auch nicht der Sinn als Durchschnittsbildung durch kollektivierte Bewusstseinsleistungen bedingt, sondern Sinn ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Bewusstseinsvollzugs überhaupt. Heideggers Fehler besteht darin, dass er mit seiner vermeintlichen Ableitung der Sinntranszendenz diese nur wieder in Bewusstseinsimmanenz verwandelt. Für die philosophische Reflexion des symbolischen Idealismus gilt dagegen bezüglich jeden möglichen Bewusstseinsvollzugs: „Wir geben die Transzendenz zu – halten keines84
PSF I, ECW 11, 19. – Vgl. ECN 1, 271: „In der letzten höchsten Einsicht müssen wir uns freilich zum Begriff der Geltung erheben; aber wir können darum nicht auf den Begriff des Lebens verzichten! “ 85 ECN 1, 221. 86 Vgl. CPPP, 61: „Without the claim to an independent, objective, and autonomous truth, not only philosophy, but also each particular field of knowledge, natural science as well as the humanities, would lose their stability and their sense.”
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wegs am Gedanken der Bewusstseins-Immanenz fest – [Diese] Sphaere ‚jenseits‘ des Bewußtseins ist uns [die] Sinn-Sphaere“. 87 Natürlich erschließt sich diese Sinntranszendenz dem sich bildenden Leben nur durch die im geistigen Lebensvollzug gebildete, als transzendent erscheinende Immanenz der Formen. Die transzendente „Sinnsphäre des Objektiven“, so lässt sich entsprechend mit Cassirer formulieren, erschließt sich nur in der „‚Intention‘ auf das Objekt“. 88 Um dies aus den hier entwickelten Strukturen deutlich zu machen: Der auf der Ebene der sekundären Phänomenalität immer schon sich kollektiv und individuell konkretisierende Bewusstseinsvollzug ist konstitutiv auf den in der Intention auf das Objektive erfassten Sinn bezogen, der auf der primären Ebene durch die Reflexionsform des Geistes als ursprünglich erfasster immer schon implizit im Vollzug des Bildens investiert ist. Für dieses Verhältnis findet Cassirer eine äußerst prägnante, sehr treffende Formulierung. Denn Sinn „gibt“ es nur, so Cassirer, als „geistig-ethische Vollzugseinheiten, die von dem geistigen Subjekt aufzubauen sind.“89 Hier wird zugleich der in der Klages-Diskussion abgelehnte Begriff des rein pathischen Subjekts rückgreifend aufgeklärt. Denn Cassirers Einwand galt der Auffassung des geistigen Subjekts im Sinne des Prinzips des Bildens auf primärer Ebene, nicht der immer schon in Individuation begriffenen, personalen und leiblichen Subjektivität der sekundären Ebene, die in ihrem Erleben freiwillig zumindest zeitweise oder auch pathologisch bedingt durchaus völlig passiv sein kann. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist Cassirers Begriff der geistig-ethischen Vollzugseinheit. Hierfür setzt Cassirer auch den von ihm explizit aus Fichtes Konzeption der Transzendentalphilosophie entlehnten Begriff des ordo ordinans ein.90 Die symbolischen Formen sind als solche wesentlich durch überpersönliche und insofern auch übersoziale, geistig-ethische Vollzugseinheiten konstituiert. Mit anderen Worten: Der durch die symbolischen Formen am sozial-kollektiven und individuellen Ausdruck sich artikulierende Sinn erweist sich als apriorische, überpersönliche und übersoziale Vollzugseinheit. „[D]er objektive-Geist geht uns nicht in der Struktur der Alltäglichkeit auf und unter – das ‚Unpersönliche‘ besteht nicht nur in der abgeblassten sozialen Form der Durchschnittlichkeit, Alltäglichkeit des ‚Man‘ – sondern in der Form
87
ECN 1, 249. – Cassirer fügt noch hinzu: „Sie noch dinglich [d.h. mittels gegenstandslogisch-kategorialem Denken] zu nehmen, ist naiv.“ 88 Ebd., 249. 89 Ebd., 248. 90 Vgl. ebd., 99 und 249.
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des überpersönlichen Sinnes“.91 Objektiver Geist ist freilich nur dort realisiert, Sinn ist nur dann in der Realität, sofern er entdeckt wird bzw. wurde. Durch den jeweiligen Sinn erschließt sich uns „jeweils eine neue ‚Wirklichkeit‘ […] der wir […], nachdem sie uns einmal kraft des schöpferischen Prozesses ‚aufgegangen‘ ist […] ein dauerndes Sein, einen festen, ewigen Bestand zuschreiben“.92 Mit anderen, von Cassirer am Beispiel der Kunst geprägten Worten: „Die ‚Gestalt‘ [nämlich als Sinngebilde] der Welt ‚ist‘ nicht [objektiv] praeexistent, um nachher sichtbar gemacht zu werden[,] sondern im Sehen und für das Sehen bildet sich die Gestalt.“93 Zwar kann nicht gesagt werden, dass Sinn in Hinblick auf seine Geltung anfängt, Geltung besteht vielmehr idealiter oder eben nicht. Durch seine „Entdeckung“94 aber, durch entsprechende „Gesichte“95 , realisiert sich Sinn, hebt Sinn und damit Realität überhaupt als notwendig sinnvolle Realität (weil als solche notwendig auf das geistige Dasein bezogene) erst an zu sein: Seine „Aktualisierung, Ver-Wirklichung erfährt [der Sinn] erst kraft des schöpferischen Prozesses“,96 des Prozesses des Bildens. Insofern, also mit Blick auf die Konkretisierung von Sinn, ist für den symbolischen Idealismus „nicht nur das Dasein, sondern [auch] der Sinn – die Idee – ursprünglich geschichtlich.“97 Mit Fichtes Idee des ordo ordinans realisiert Cassirer das Projekt einer „ideellen Morphologie“, das auch in Goethes Werk in der Form der Dichtung in Ansätzen inauguriert ist.98 Für den rein ideellen Sinnbegriff findet Cassirer eine weitere prägnante Formel: „Sinn = Einheit statt substantielle Einzelheit“.99 Dies ist zugleich der ideelle Einheitspunkt des komplexen Systems der Philosophie der symbolischen Formen. Von dieser Idee des Sinnes als geistig-ethischer Vollzugseinheit ausgehend wäre, in hier anzuschließenden Schritten der philosophischen Reflexion, zu zeigen, wie sich aus der im primären Bilden in der Reflexionsform des Geistes erscheinenden Konstruktion des Sinns für jede mögliche symbolische Form in ihrer Grundform die als Nachkonstruktion dieses Sinns erscheinende Weiterbestimmung des Bildens auf der sekundären Ebene der Wirklichkeitsdeutung ergibt. In 91
Ebd., 220. ECN 3, 247. 93 Ebd., 249. 94 Ebd., 247. 95 Vgl. ebd., 254 f. 96 Ebd., 247. 97 ECN 1, 222. 98 Vgl. John Michael Krois (2002): Die Goethischen Elemente in Cassirers Philosophie. In: B. Naumann/B. Recki: Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin, 157-172, 169. 99 ECN 1, 249. 92
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Ansätzen hat das Cassirer für die symbolische Form der Kunst in ECN 3, 247 ff. getan. Dies würde zugleich auf die Konzeption des funktionalen Wahrheitsideals100 als „Formwert“101 und darin auf den „Imperativ der reinen Formen“102 und zugleich auf den Begriff des Geistes als das ursprünglich „Wertsetzende“103 führen und so Cassirers Begriff des Geistes als Prinzip des Bildens und besonders dessen ethisch-interpersonale Selbstentfaltung entscheidend vertiefen. Allein für weitere Ausführungen fehlt hier der Raum. Der soweit verfolgte Gang der Argumentation zeigte jedenfalls: Der jeweils durch die symbolischen Formen erfasste, dem sekundären Vollzug transzendente Sinn ist objektiver bzw. (im Sinne logischer Genesis) objektiv gewordener Geist. Der Geist als Prinzip des Bildens erweist sich dabei als Voraussetzung jeglichen Lebensvollzugs, weil er als ursprüngliche Konstruktion des Sinns ideeller Zielpunkt jeglichen Lebensvollzugs ist.
Schluss Als kurze Schlussbemerkung soll hier noch der am Anfang dieses Textes eröffnete hermeneutische Kreisgang zur Einleitung des ersten Bandes der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ abgeschritten werden. Denn der entwickelte Begriff des Geistes als Prinzip des Bildens und die entsprechenden Folgerungen sind nicht etwas, was sich erst im Nachlass finden würde. Diese Konzeption fundiert vielmehr spätestens seit jener ersten Einleitung Cassirers Denken. Dort schreibt Cassirer im hier skizzenhaft entfalteten, streng transzendentalphilosophischen Sinne über die symbolischen Formen, sie seien „nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung, verfolgt.“104 In diesem Sinne schärft Cassirer in der Einleitung zum dritten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ auch entsprechend nach, dass es deshalb nur „so scheint […], daß [die symbolischen Formen], als bestimmte geistige Gestaltungsweisen, auf eine letzte Urschicht des Wirklichen zurückgehen, die in ihnen nur wie durch ein fremdes Medium erblickt wird.“105 Es „scheint für uns“ so zu sein, fügt Cassirer hinzu, 100 101 102 103 104 105
Vgl. FFW, ECW 17, 357. ECN 1, 191. Ebd., 192. Ebd., 210. PSF I, ECW 11, 7. PSF III, ECW 13, 1.
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als ob „das in sich einheitliche und einzigartige Sein“ durch „ebensoviele Brechungen“, wie es symbolische Formen gibt, „vom ‚Subjekt‘ her aufgefaßt und angeeignet wird.“106 Dies scheint sich so zu verhalten, wie Cassirer mehrfach betont. In der Tat fundiert er dagegen seine Definition der symbolischen Form mit dem Begriff der „Selbstoffenbarung“ des Geistes. Ersichtlich können die symbolischen Formen also nicht in einem wie auch immer zu deutenden gegenstandslogischen Sinne verstanden werden. Vielmehr liegt jeder Objektivierung und damit jedem Objekt, das als solches immer nur in einem Lebenszusammenhang vorliegt, „dem selbst“, wie bereits eingangs betont, „das Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist“107, ein geistiger Vollzug zu Grunde, genauer gesagt ein Anschauungsvollzug, nämlich das Bilden. In den durch die symbolischen Formen in jeweils unterschiedlichen „Modalitäten der Sinngebung“108 gebildeten Sinnzusammenhängen „erfaßt der Geist den ‚Gegenstand‘, indem er dabei zugleich sich selbst und die eigene Gesetzlichkeit seines Bildens erfaßt.“109
106
Ebd., 1. PSF I, ECW 11, 46, Hervorhebung S.U. 108 PSF III, ECW 13, 230. 109 PSF I, ECW 11, 23. – Der hier von Cassirer verwendete und, nebenbei bemerkt, aus Fichtes Transzendentaler Logik stammende Begriff des Bildens lässt sich mittels eines Cassirerzitats auch mit des Philosophen Lieblingsdichter umschreiben: „In diesem Sinne bedeutet jede neue ‚symbolische Form‘, bedeutet nicht nur die Begriffswelt der Erkenntnis, sondern auch die anschauliche Welt der Kunst wie die des Mythos oder der Sprache nach dem Wort Goethes eine von dem Inneren an das Äußere ergehende Offenbarung, eine ‚Synthese von Welt und Geist‘, die uns der ursprünglichen Einheit beider erst wahrhaft versichert.“ (PSF I, ECW 11, 46, Goethezitat aus: Johann Wolfgang von Goethe, Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, einzelne Betrachtungen und Aphorismen. In: Werke, Bd. XI, S. 103–163, S. 128). Natürlich, soviel zumindest muss zur Einschränkung der dichterischen Metaphern des Innen und Außen bedacht werden, wird der Unterschied von „Innen“ und „Außen“ selbst erst durch den in jeder symbolischen Form obwaltenden geistigen Vollzug konstituiert, den Cassirer treffend als „Auseinandersetzung“ (PSF II, ECW 12, 182; PSF III, ECW 13, 44; ECN 3, 199; LSB, ECW 22, 118) fasst. 107
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Literaturverzeichnis Bermes, Christian (1997): Philosophie der Bedeutung. Bedeutung als Bestimmung und Bestimmbarkeit. Eine Studie zu Frege, Husserl, Cassirer und Hönigswald, Würzburg. Ferrari, Massimo (2002): Was wären wir ohne Goethe? Motive der frühen Goetherezeption bei Ernst Cassirer. In: B. Naumann/B. Recki (Hg.) (2002): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin, 173-194. Krois, John Michael (2002): Die Goethischen Elemente in Cassirers Philosophie. In: B. Naumann/B. Recki: Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin, 157-172. Möckel, Christian (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg. Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin.
Mathias Gutmann
Geist und Leben. Systematische Überlegungen zur Transformation von Redeformen 1. Der Übergang vom Leben zum Geist Folgen wir Schelers Charakterisierung, dann ist der Unterschied von Geist und Leben unüberbrückbar und unvermittelbar: „Das neue Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht, steht außerhalb alles dessen, was wir Leben im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist ein allem Leben überhaupt entgegengesetztes Prinzip, das man als solches überhaupt nicht auf die ‚natürliche Lebensevolution‘ zurückführen kann”.1
Diese Entgegensetzung verhindert auf der einen Seite die Reduktion der Objektivationen des Geistes als einfache Fortsetzung des Lebens oder als Ausdrucksphänomenen von Lebewesen. Zugleich aber wird ein möglicher generischer Aspekt gleichsam verdeckt: Dieser ist überhaupt nur noch als fundamentale Reorganisation als echter Bruch denkbar. Verstehen wir Schelers scala naturae als generische Abfolge natürlicher Organisationsformen, dann ist ein saltationistischer Modus von Entwicklung unvermeidbar (man denke exemplarisch an Uexkülls Darstellung des Evolutionsproblems als Entwicklungsproblem2 ). Immerhin aber bleibt der Geist – auch wenn er zugleich unreduzierbar sein soll – ein Abkömmling des Lebens. Eine methodologische Alternative bestünde darin, den Tier-Mensch-Vergleich als begriffliches Mittel der Konturierung menschlicher Konstitution gleichsam im Lichte des Animalen aufzufassen. Diese Konturierung erfolgte nicht-generisch und die menschliche Konstitution bliebe – Husserl hier folgend – methodisch vorgeordnet. Diese Alternative vermiede zwar eine biologistische Reduktion, sie zerschnitte aber zugleich jedes generische Band zwischen Leben und Geist.
1
Max Scheler (1947): Die Stellung des Menschen im Kosmos. München, 35. Vgl. hierzu Gutmann (2004a): Uexküll and contemporary biology: Some methodological reconsiderations. In: Sign Systems Studies 32 (1/2), 169-186. 2
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2. Der Übergang als metábasis eis allo genos Cassirers Bestimmung des Verhältnisses von Leben und Geist erweist sich – trotz der recht klaren Kritik an Schelers Dualismus – selber als ambiguient. Denn zum einen wird menschliche Konstitution im Vergleich mit tierlicher Konstitution beschrieben und eodem actu die Beschreibung des Menschen als geltend vorausgesetzt, um die immanenten Begrenzungen der tierlichen Konstitution bestimmen zu können. Diese Doppelbewegung lässt sich bis in die Differenz von Zeichen und Signal zurückverfolgen: “For the sake of a clear statement of the problem we must carefully distinguish between signs and symbol. That we find rather complex systems of signs and signals in animal behavior seems to be an ascertained fact. We may even say that some animals, especially domesticated animals, are extremely susceptible to signs […]. A dog will react to the slightest changes in the behavior of his master; he will even distinguish the expressions of a human face or the modulations of a human voice […]. But it is a far cry from these phenomena to an understanding of symbolic and human speech.”3
Ein wesentlicher Entwicklungsschritt auf dem Weg zum Menschen bestünde dann in der Entwicklung von Zeichen, die Kommunikation situationsinvariant erlauben. Es ist diese Situationsinvarianz von Eigenamen und abstrakten Sprachstücken, die den Abgrund erzeugen, der zwischen menschlicher und tierlicher Kommunikation besteht: “We do find however, in man a special type of relational thought which has no parallel in the animal world. In man an ability to isolate relations – to consider them in their abstract meaning – has developed. In order to grasp this meaning, man is no longer dependent upon secret sense data, upon visual, auditory, tactile, kinaesthetic data. He considers these relations ‚in themselves‘ – auto kat auto – as Plato said. Geometry is the classic of this turning point in man’s intellectual life.” 4
Diese Errungenschaft des Menschen (als Gattungswesen) kann durch die Unterscheidung der Reproduktionsmodi des larmarckschen Soma und des weismannschen Keimplasmas ausgedrückt werden: „Die Variationen, die sich im Kreise der Pflanzen- und Tierwelt in einzelnen Exemplaren vollziehen, bleiben biologisch belanglos; sie tauchen auf, um wieder zu versinken. Wollen wir diesen Sachverhalt in der Sprache der Weismannschen Vererbungstheorie ausdrücken […], so können wir sagen, daß diese Veränderungen nur das Soma, nicht aber das ‚Keimplasma‘ betreffen, 3 4
EM, ECW 23, 36 f. Ebd., 43 f.
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daß sie demgemäß an der Oberfläche bleiben und nicht in jene Tiefenschicht hinabwirken, von der die Entwicklung der Gattung abhängt. In den Kulturphänomenen aber ist diese biologische Schranke beseitigt. Der Mensch hat in den ‚symbolischen Formen‘, die das Eigentümliche seines Wesens und seines Könnens sind, gewissermaßen die Lösung einer Aufgabe vollzogen, die die organische Natur als solche nicht zu lösen vermochte. Der ‚Geist‘ hat geleistet, was dem ‚Leben‘ versagt blieb. […] Man hat mit Recht hervorgehoben, daß es vielleicht keinen einzelnen Akt des Sprechens gibt, der nicht irgendwie ‚die‘ Sprache beeinflußte. Aus unzähligen solchen Akten, die in gleicher Richtung wirken, können sich bedeutsame Änderungen des Sprachgebrauchs, können sich lautliche Verschiebungen oder formale Wandlungen ergeben. Das liegt daran, daß die Menschheit in ihrer Sprache, ihrer Kunst, in allen ihren Kulturformen gewissermaßen einen neuen Körper geschaffen hat, der allen gemeinsam zugehört. Der Einzelmensch als solcher kann individuelle Fertigkeiten, die er sich im Laufe des Lebens erworben, freilich nicht fortpflanzen. Sie haften am physischen ‚Soma‘, das nicht vererbbar ist. Aber was er in seinem Werk herausstellt, was sprachlich ausgedrückt, was bildlich oder plastisch dargestellt ist, das ist der Sprache oder der Kunst ‚einverleibt‘ und dauert durch sie fort.“5
Und es ist diese Metábasis-Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Leben, das zu einer dilemmatischen Situation führt; denn Cassirer konzediert, dass der neue Leib des kulturellen Wesens Mensch seine Transformation ohne Bezug auf Keimbahnveränderungen erfährt, zugleich aber wird genau dieser Vergleich (als Vergleich tierlicher und menschlicher Konstitution) zur Grundlage der Bestimmung der Spezifik dessen, was unter „Mensch“ und damit weiterführend unter „Geist“ als eine seiner Eigentümlichkeiten verstanden werden soll. Dies führt zu zwei alternativen Vermutungen. Zum einen ließe sich folgern, dass kein grundsätzlicher Unterschied zwischen sprachgestützter und vorsprachlicher Kommunikation bestehe6 . Damit bliebe eine generische Rekonstruktion menschlicher Konstitution von tierlicher möglich und das investierte lebenswissenschaftliche Wissen relevant. Zugleich ist eine fundamentale Differenz zu postulieren, womit zwar eine Reduktion des Humanen auf das Animale vermieden wird, aber die generische Anbindung verloren ginge.
5
LKW, ECW 24, 484 ff. Bedenkt man an dieser Stelle, dass letztlich jede lamarckistische Beschreibung sich – zumindest im Prinzip – darwinistisch reformulieren lässt, dann wird das Problem, welches Cassirer mit dem Festhalten an einem Tier-Mensch-Vergleich als Einführungsfigur der Rede vom Menschen hat, deutlich. Denn nun verbürgt lediglich eine bestimmte – wohl schon lange nicht mehr dem Stand der biologischen Diskussion entsprechende Fassung des darwinistischen Argumentes den von Cassirer – genutzten Beschreibungsunterschied tierlicher und menschlicher Konstitution. 6
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Beide Alternativen zeitigen problematische Implikationen; während nämlich im ersten Fall die menschliche Konstitution eine Fortsetzung der tierlichen ist, gerät sie im zweiten Fall zur unvergleichbar einmaligen. Damit erwiese sich im ersten Fall die Prämisse (eines nicht-darwinistischen Transformationsmodus) als falsch und Kulturentwicklung kollabierte in den extended phenotype. 7 Im Zweiten entbehrte der Bezug auf die weismannsche Konzeption jeder explanativen oder auch nur explikativen Kraft für die Transformation des Animalen in das Humane und es müsste eine anti-darwinistische Variante von Evolutionstheorie bemüht werden. Im Lichte dieser Interpretation ist das Metábasis-Konzept eine notwendige systematische Konsequenz aus den genutzten Beschreibungsmitteln, insofern zumindest, als sie die Transition der zugrunde liegenden biologischen Organisationen mit der Differenz verknüpft, die zugleich zwischen expressiven und kommunikativen Aspekten von Tier und Mensch besteht. Die Einmaligkeit der menschlichen Konstitution – die es Cassirer erlaubt, den Geist im Sinne von Gattungseigenschaften zu bestimmen – kann in dem dritten Verbindungsstück gefunden werden, das zwischen Effektor- und Rezeptorsystem integriert wird: “The functional circle of man is not only quantitatively enlarged; it has also undergone a qualitative change. Man has, as it were, discovered a new method of adapting himself to his environment. Between the receptor system and the effector system, which are to be found in all animal species, we find in man a third link, which we may describe as the symbolic system. This new acquisition transforms the whole of human life. As compared with the other animals man lives not merely in a broader reality; he lives, so to speak, in a new dimension of reality.”8
Sehen wir von der fragwürdigen biotheoretischen Seite dieser Beschreibung ab9, dann gelingt es Cassirer auf diese Weise, spezifisch menschliche 7
Dawkins ist mit seiner Radikalisierung der hamiltonschen Beschreibung exemplarisch für die weit ausgreifenden Möglichkeiten darwinistischer Reduktion. Die methodologische Kritik müsste in einem solchen Falle tiefer ansetzen, bei der Frage nämlich, bezüglich welchen Wissens denn die Grundbegriffe der dawkinsschen Beschreibung selber eingeführt werden. Zu diesem Problemkreis vgl. Gutmann (2001): Die ‚Sonderstellung‘ des Menschen. Systematische Überlegungen zum TierMensch-Vergleich. In: Michael Weingarten, Mathias Gutmann & Eve-Marie Engels) (Hg.): Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8/2001, 27-78. 8 EM, ECW 23, 29. 9 Diese ist zum einen deshalb fragwürdig, weil sie rein empirisch dem heutigen Stand der Diskussion kaum noch entspricht; entscheidend für unsere Darstellung ist aber, dass sie eine systematische Stellung einnimmt, der sie begriffl ich nicht gerecht ist. Anders formuliert: Die inkriminierten Wissensbestände sollen begriffl ich etwas leisten, was sie selbst dann nicht zu leisten in der Lage wären, wenn es sich um aktuelles Wissen handelte (dazu anhand eines aktuellen Begründungsprogrammes vgl.
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Tätigkeiten als Fortsetzung der tierlichen zu begreifen und zugleich den unüberbrückbaren Abgrund zu bezeichnen, der die Natur der jeweiligen Lebensformen voneinander trennt.
3. Eine unglückhafte Konsequenz: Sprache in Objekt-Stellung Um einer solchen Konsequenz zu entgehen, ließen sich zwei Wege beschreiten. Denn zum einen ließe sich an einem generischen Verständnis des Tier-Mensch-Vergleichs festhalten, wobei dann das Metábasis-Motiv prävalierte und eine Lösung vom „Scheler-Typus“ resultierte. Zum anderen könnte die Rekonstruktion des Verhältnisses Mensch-Tier – unabhängig also von einer vorhergehenden sortalen Abgrenzung – bei den Aktivitäten des Menschen selber ansetzen: “We cannot define man by any inherent principle which constitutes his metaphysical essence – nor can we define him by any inborn faculty or instinct that may be ascertained by empirical observation. Man’s outstanding characteristic, his distinguishing mark, is not his metaphysical or physical nature – but his work. It is his work, it is the system of human activities, which defines and determines the circle of ‚humanity‘. Language, myth, religion, art, science, history are the constituents, the various sectors of this circle.”10
Lesen wir Cassirer von hier aus, dann ereignet sich eine eigentümliche Blickumkehr. Der Ursprung der menschlichen Welt wird zu einer nur noch metaphorisch biowissenschaftlichen Bestimmung. Die erste Lösung endete wieder notwendig in der einfachen Juxtaposition von Geist und Leben. Hinzu käme, dass Sprache etwa – als zentrale Fähigkeit des Menschen – in „Objekt-Stellung“ geriete – als Merkmal des Gattungswesens. Die zweite Lösung hätte den Charme genau diese reine Objekt-Stellung zu vermeiden. Allerdings würde der Ausdruck „Sprache“ dann zum Homonym, das neben anderem den Vollzug bestimmter Tätigkeiten, die Abstraktion solcher Vollzüge, schließlich das Verfügen über bestimmte Strukturen etc. bezeichnete. Beides ist Cassirer natürlich bekannt und zu beidem erfährt man manches: Insbesondere durch seine Betonung des energeiaund eben nicht des reinen ergon-Charakters scheint daher der Vorwurf Königs, Cassirer verstehe Sprache als reines Objekt-Phänomen, etwas zu weitgehend. Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass durch Cassirers Gutmann/Warnecke (2007): Sprache und Sprechen als Formen kultureller Interaktion. Über ein aktuelles Begründungsprogramm. In: DZPhil., 55. 10 EM, ECW 23, 76.
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gleichzeitige Behandlung der kategorialen Funktion „der Sprache“ und die Beziehung auf als einheitliches System gedachte natürliche Sprachen der Unterschied von Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft mitunter verunklart wird. Zudem dürfte Cassirers Forderung nach einer philosophischen Synthese mit Bezug auf eine vergleichende Analyse „der Sprache“ nur sinnvoll sein, wenn durch diesen Vergleich tatsächlich „universale Aspekte“ entdeckt werden können: “But a philosophic synthesis means something different. Here we seek not a unity of effects but a unity of action; not a unity of products but a unity of the creative process. If the term ‚humanity‘ means anything at all, it means, that in spite of all the differences and oppositions existing among its various forms, these are, nevertheless, all working toward a common end. In the long run there must be found an outstanding feature, a universal character, in which they all agree and harmonise. If we can determine this character the divergent rays may be assembled and brought into a focus of thought. As has been pointed out, such an organisation of the facts of human culture is already getting under way in the particular sciences – in linguistics, in the comparative study of myth and religion, in the history of art.” 11
Radikalisieren wir die zweite Deutung, dann scheint Cassirers Ansatz eine gewisse Konfundierung von Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft zugrunde zu liegen. Wie auch immer: Der Preis für diese Lesart erscheint hoch, da der TierMensch-Vergleich nicht mehr als methodischer Anfang für die Beschreibung der Transformation zum Menschen aufgefasst werden kann. Dies führt zur Frage zurück, als welche Art von Tätigkeit denn der Ausdruck Sprache bezogen werden soll. Die Philosophie der symbolischen Formen stellte in diesem Sinne eine Philosophie des Geistes dar, bei der Sprache eine Rolle spielt; weniger oder nur am Rande aber (bis auf seine Konstatierung) das Sprechen als ein (als Handeln besonderes) Handeln.12
11
EM, ECW 23, 78. Vgl. hierzu Gutmann, Mathias (2004b): Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie. 2 Bd., Bielefeld. 12
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4. Leben als Transformation innerhalb von Sprech-Modi Um einen neuen Ansatz finden zu können, ist es daher hilfreich, an den Ursprung der bei Cassirer identifizierten Probleme zurückzukommen: die Ausdeutung des Lebensbegriffes in einer Weise, wie er für empirische Wissenschaften typisch ist. Der Ausdruck „x lebt“ fungiert dabei „determinierend“. Als „determinierendes“ Prädikat bezeichnet er Eigenschaften von etwas. Wir verwenden ihn im theoretischen Modus, etwa indem wir bestimme Fähigkeiten von Tieren oder Pflanzen als organismische Leistungen auszeichnen13 . Expliziert werden kann dies an der – bedeutungserhaltenden – Transformation von Phrasen wie „x lebt“ oder „x ist lebendig“ in Sätze wie „x ist ein Lebendiges“. Das Leben kommt dann diesem Wesen selber zu und kann erläutert werden durch Verweis auf Metabolismus, Reproduktion etc. Reduzieren wir den Ausdruck „Leben“ nicht auf Eigenschaften biotischer oder biologischer Wesen, sondern referieren wir auf Formen menschlichen Tuns, dann verwenden wir den Ausdruck „lebendig“ modifizierend. Gerade so ist der diltheysche Satz aufzufassen, dass „was der Mensch ist, er nur aus der Geschichte erfahre”. In determinierender Verwendung wäre diese Aussage entweder trivial wahr (wenn wir unterstellen, dass der Mensch über den Ausdruck „Geschichte haben“ definiert wird) oder schlicht falsch.14 Königs Lesung zufolge zielt Dilthey auf eine generische Lesart des Ausdrucks „Mensch“. Er erläutert diese durch den Unterschied von philosophischer Hermeneutik und hermeneutischer Philosophie: „Die hermeneutische Logik ist eine Art Kunst der Auslegung des Lebens, und so ist diese Logik, wenn man so will, selber eine Art Hermeneutik. Aber bei solchem Sprechen muß man zugleich auch den Unterschied zur Hermeneutik im üblichen Sinne sehen und festhalten. In diesem üblichen Sinne ist Hermeneutik die Kunst der Auslegung geistiger Schöpfungen, z.B. eines Dichtwerks oder auch eines philosophischen Testes. Der Ausleger ist ein Mensch, und er muß was er auslegt, z.B. einen philosophischen Text, schon vor seiner Auslegung schon irgendwie verstanden haben und überhaupt eben vor sich haben. Wenn ich nun Misch angemessen interpretiere, so ist das bei der als einer Art 13
Wir müssen also „determinierende” Prädikation im praktischen und im theoretischen Modus unterscheiden. Der Rede von „lebendigen Wesen“, die lebensweltliche Umgänge bezeichnen (etwa im Sinne von Züchtung und Haltung von Pflanzen und Tieren), steht danach der Rede von „organismischen Leistungen“ gegenüber. Wir kennzeichnen dies als Wechsel von vorwissenschaftlicher zu wissenschaftlicher Sprachebene (die zugleich den Übergang von der (lebensweltlichen) Objekt –, zur (wissenschaftlichen) Metaebene bezeichnet). 14 Vgl. hierzu Gutmann (2007): Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung. In: J. Heilinger (Hg.): Naturgeschichte der Freiheit. Berlin, 209-228.
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Hermeneutik aufgefaßten Logik anders. Da ist der Ausleger die Sprache oder, dasselbe anders formuliert, der sprechende Mensch als solcher, und also nicht einfach ein Mensch; sprechender Mensch als solcher hat, was er auslegt, – das Leben – in gewisser Weise erst nach geschehener Auslegung vor sich; deshalb ist diese Auslegung des Lebens auch nicht so etwas wie ein Nachdenken oder ein Reflektieren über das Leben.“15
Leben und Geist dieses Wesens Mensch, das sich in bestimmten Beschreibungen selbst bestimmt, müssten auf eben die dabei genutzten Sprech-Formen bezogen werden. Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst festzuhalten, dass der Ausdruck „Leben“ grammatisch eben nicht nur determinierend, sondern auch modifizierend fungieren kann. In diesem Fall drückt er eine Beziehung zum Äußernden aus, die nicht einfach ersetzt werden kann durch die Angabe bestimmter Merkmale wie etwa bei „diese Landschaft wirkt lebendig“ oder „eine wunderbar lebhafte Melodie“. Diese Phrasen erlauben entsprechend nicht die Transformation in „x lebt“ oder gar „x ist ein Lebendiges“. Als modifizierendes Prädikat weißt der Ausdruck „leben“ einige Besonderheiten auf; so spricht König in diesem Zusammenhange von „echten Gegenteilen“ und der Steigerungsfähigkeit – was zumindest für die Formulierung des „so-Wirkens“ im Sinne etwa von „lebendiger Wirken als“ plausibel erscheint. Verstanden als intensiv-verbaler Ausdruck bezeichnet „leben“ nach unserer bisherigen Darstellung – bezogen auf den Menschen – sowohl einen Vorgang, dessen Vollzug und Resultat. Zugleich aber ist damit auch ein sich zu etwas als etwas Verhalten (nicht ethologisch im Sinne von Verhaltung) und schließlich (im Sinne von bios) menschliche Tätigkeit angesprochen.
5. Transformation als Übergang innerhalb von Redeformen Der Unterschied von determinierenden und modifizierenden Reden lässt sich an den Wahrheitsbedingungen ihrer Äußerung explizieren. König erläutert dies exemplarisch, indem er von determinierenden Ausdrücken feststellt, dass sie „Tatsachen zu den Normen der Rede machten“. Tatsachen sind also nur insofern, als sie ausdrückbar gemacht werden (als Sachverhalte). „Was in diesem Feld Norm und Ausdrückbares sein könnte, wären – und dies sind auch in gewisser Weise – die Tatsachen, z.B. das Verspürtworden-Sein 15
Joseph König (1967): Georg Misch als Philosoph. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen N. 7, I. Philologisch-historische Klasse. Göttingen, 228.
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der Explosion. Allein die Tatsachen sind hier nicht an ihnen selber, nicht kat auto, ein Ausgedrücktes und Ausdrückbares und zwar deshalb nicht, weil sie von uns – von uns Menschen – zu einem Ausdrückbaren oder zu einer möglichen Norm der Rede gemacht worden sind.“16
Determinierende Prädikate sind solche Sprech-Modi, die etwas als etwas ausdrückbar machen. Sie sind Mittel, mit deren Hilfe dies geschieht. Durch die Sprech-Modi erst gewinnen Tatsachen ihre Funktion. Diese Modi werden zu den Ausgangpunkten der Konstitution einer externen Welt – ganz im Gegensatz zu klassisch empiristischen Ansätzen. Sprache wird zum Koordinatensystem des Seins: „Erst mit der Erfindung und Zugrundelegung eines solchen Koordinatensystems wächst einem beliebigen Ort die Kraft zu, als dasjenige zu fungieren, wonach wir uns bei seiner Bestimmung richten können. Die Sprache ist gleichsam das Koordinatensystem, die Tatsache sind die Orte, die Reden (die determinierenden Logoi) die Bestimmungen der Orte. Und in dieser Rücksicht erhellt nun ferner ohne weiteres, daß in diesem Bereich das Hauptgewicht auf der nennenden oder bezeichnenden Funktion von Worten liegt. Gewisse Worte nennen oder bezeichnen anschaulich Gegebenes; mit ihnen weisen wir auf Solches hin; sie sind unsere Worte für Solches und insofern Namen in einem umfassenden Sinn; so ist – um ein einfaches Beispiel zu geben – das Wort Sonne unser Wort für die Sonne, für dieses irgendwie anschaulich Gegebene. Von daher dürfen wir kurz sagen: die Erfindung der Sprache, von der hier die Rede ist, ist die Erfindung solcher Namen und gewisser grammatischer Regeln für die Verknüpfung derselben.“17
Die Rede vom Koordinatensystem fungiert hier selber metaphorisch. Sie bezeichnet aber nicht eine bloß metaphorische Rede, sondern eine Beschreibung der Verhältnisse von Sprech-Modi, die durch Explikation der Äußerungsbedingungen determiniert werden können.
6. Modifizierende Rede als Selbstrefl exion im Sprechen König formuliert sein Verständnis des „Eine-Sprache-Sprechens“ als Verhältnis verschiedener Sprech-Modi zueinander am Beispiel des Verhältnisses von determinierenden und modifizierenden Prädikaten. Während determinierende Prädikate einen Logos darstellen, der eine notwendige Beziehung zum Sein hat (in der veritativen wie der kopulativen Verwendung) gilt dies nicht für modifizierende: 16 17
Ders. (1937): Sein und Denken. Halle, 196. Ebd., 198.
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„Der modifizierende Logos hingegen hat, an ihm selber betrachtet und von Haus aus, kein Verhältnis zur Sprache. Sein-Denken macht diese Rede möglich. Aber weder macht Sein-Denken deshalb schon Sprache möglich, noch gilt hier ohne weiteres umgekehrt, daß die Sprache die Möglichkeit dieser Rede ist. Die modifizierende Rede ist die Rede des Seins und in Koinzidenz damit die des Sein-Denkens. Insofern ist sie nicht eine wesentlich menschliche Rede.“18
Modifizierende Rede „gibt“ das Sein in einem intensiv-verbalen Sinn. Sie ist nicht abtrennbar von ihrem Referenten, insofern die Funktion dieser Reden nicht in zwei Aspekte aufgeteilt werden kann, also einen propositionalen Anteil, der etwa auf ein Gesehenes oder Wahrgenommenes verweist, und die sprachliche Fassung dieses Gehaltes mit zusätzlicher Adressierung. Um als Rede fungieren zu können, müssen beide Formen adäquat sein. Die Adäquatheit der determinierenden Prädikate kann durch die Äußerungsbedingungen ermittelt werden, während modifizierende Rede passend sein muss. Für die modifizierende Rede ist der Akt der Äußerung in gewisser Weise zugleich die Hervorbringung des Referenten, wie etwa bei Aussagen der Form „die Berge wirken (auf mich) majestätisch“ oder „das Zimmer macht (auf mich) einen leeren Eindruck“ (letzteres gilt z. B. auch, wenn das Zimmer Möbel enthält). Diese Redeformen stehen in einem Gegensatz zu Äußerungen der Art „der Mensch hat 22 Autosomenpaare“ oder „das Zimmer ist lehrgeräumt”. Die gleichsam mäeutische Funktion der modifizierenden Reden erwächst aus der Tatsache, dass diese in genauer Weise auf andere Sprachstücke bezogen sind – was sie Metaphern und ihren Auflösungen anähnelt. Sie beziehen sich auf determinierende Reden, womit der Übergang von der modifizierenden zu determinierenden Rede jederzeit notwendig möglich sein muss – im Gegensatz zum Umgekehrten. Die Traum-Arbeit der Sprache leistet also gerade jenen ständigen Prozess der Selbst-Reflexion in der Funktion von Sprech-Modi und dem Vollzug ihrer Nutzung. Die determinierenden Prädikate sind die Mittel für die Mittel der Mittel – die Werkzeuge expressis verbis, d.h. die modifizierenden Reden. In einem deutlichen Gegensatz zu Schelers Absetzung von Leben und Geist auf der einen Seite, ebenso wie Cassirers Versöhnungsversuch, sind Leben und Geist also keine unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit, für die die Philosophie die rechte Beschreibung zu finden hätte. Sie bezeichnen vielmehr verschiedene Ebenen der Reflexion innerhalb der Praxis des Sprechens selber. Der Unterschied von Leben und Geist wird damit in das Sprechen selber zurückverlegt, das als Sprache zugleich in Subjekt18
König, 1937, 199.
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wie in Objekt-Stellung steht. Sie ist Edukt, Werkzeug und Produkt der Transformation, die das Leben des Geistes in der Praxis des Sprechens bezeichnet.
7. Entwicklung von Wesen, die nicht sprechen können, zu Wesen, die sprechen können Verlegen wir den Unterschied von Leben und Geist zurück in die Praxis des Sprechens und den Sprachgebrauch, so lässt sich der Übergang von einem Wesen, das keine Sprache hat, zu einem Wesen, das Sprache hat, auf eine ungewohnte, wiewohl konsequente Weise darstellen. Ein Vorgang der – wie wir uns erinnern – von Cassirer unter Nutzung spezifischer biowissenschaftlicher Theoreistücke beschrieben wurde. König gibt zumindest einige wenige Hinweise einer Lösung durch Untersuchung des Ausdrucks „Entwicklung“ als eigentümlich metaphorische Wendung. Im Gegensatz zur klaren englischen Unterscheidung von „development“ und „evolution“ hat der Ausdruck im Deutschen zumindest zwei – systematisch wohlunterscheidbare Konnotationen. Als Involution bezeichnet er eine Form der Prädestination dessen, was durch Entfaltung des vorher Eingefalteten erwartet werden kann, während er als „e-volution“ den Prozess einer Transformation etwa eines homogenen zu einem heterogenen Zustand, eines einfacheren zu einem komplexen bezeichnet. Üblicherweise werden wir den Ausdruck „Entwicklung“ als Anzeige einer Transformation eines animalen in einen humanen Zustand eines Wesens nutzen.19 König beschreibt diesen Prozess nun nicht im Sinne einer Transformation der unterliegenden Konstitution sondern als Differenz eines Wesens, das etwas verrichtet, und eines Wesens, das etwas verrichtet und zugleich weiß, dass es dies tut: „Ich kann dann das Thema unserer Betrachtung heute zusammenfassen in der Frage, ob es wenigstens denkbar ist, daß der Mensch als ein Wesen, von dem gilt, daß es nicht nur etwas sieht, sondern auch weiß, daß es sieht, was es jeweils sieht, sich entwickelt hat aus dem Tier, d.h. eben jetzt aus einem
19
Es ist also nicht einfach nur zwischen Onto- und Phylogenese zu unterscheiden, sondern auch zwischen Formen ihrer Beschreibung, etwa hinsichtlich der (die aktuelle Debatte wiederum nur in Aspekten treffenden) Differenzierung von Epigenesis und Präformation (dazu im Detail Gutmann (2003): Evolution und das Problem der Entwicklung. Systematische Überlegungen zu den methodischen Grenzen von Entwicklungstheorien. In: Emmermann, E. et. al. (Hg.), An den Fronten der Forschung. Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, 122, 279-287).
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Wesen, von dem gilt, daß es zwar das Vermögen des Sehens besitzt, aber – mindestens unserer Meinung nach – nicht weiß, daß es sieht, was es jeweils sieht.“20
Wenn wir ein klassisch kriteriologisches Explikations-Schema nutzten (wie es etwa biowissenschaftlichen Beschreibungen eignet), dann würden wir diesen Gedanken durch den Erwerb eines Merkmals ausdrücken, das ein Wesen in die Lage versetzt, nicht nur etwas zu verrichten, sondern dies eben auch zu wissen – hier also zu sehen und zu wissen, dass es etwas sieht bzw. gesehen hat. Für eine solche Beschreibung würden zumindest die vier Aussagen gelten, die König als charakteristisch angibt: „Man behauptet damit: 1) daß es Menschen gibt, 2) daß es eine Zeit gegeben hat, in der es zwar Tiere, aber keine Menschen gab, 3) daß es heute keine Menschen geben würde, hätte es nicht in jener vergangenen Zeit Tiere gegeben. Und diese drei Behauptungen gehen ersichtlich in die sie zusammenfassende 4) Behauptung, daß in der Vorfahrenreihe eines jeden Menschen jenseits eines gewissen Zeitpunktes Tiere auftreten.“21
Diese vier Aussagen sind nicht einfach Ergebnis empirischer Forschung, als vielmehr deren Bedingung (übrigens z.T. normativ formulierbar): Nur dann nämlich, wenn wir die existierende Lebenswelt als Ergebnis eines Transformationsprozesses verstehen, können wir nach Geltungsgründen der genannten Aussagen mit Aussicht auf Erfolg fragen. Dies bedeutet aber auch, dass expliziert werden muss, was genau hier mit „dem Tier“ gemeint ist, aus dem sich „der Mensch“ entwickelt habe. König ist nun weniger an methodologischen Problemen der Evolutionstheorie interessiert, als mehr an der Frage, ob und inwiefern die Transformation eines Wesens, das etwas verrichtet in ein Wesen, das dies tut und zugleich weiß, dass es dies tut und getan hat eine, Transformation innerhalb des Tuns dieses Wesens selber ist. Diese Frage lässt sich präzisieren zu der Frage, ob das „Bewusstsein eines Tuns“ eine Bedingung der Äußerung ist, dass etwas und was da getan wird oder ob umgekehrt das zu sagen, was getan wird die Bedingung dessen ist, sich bewusst zu sein, dass es etwa tut und was es tut: „Die Frage, die uns entspringen wird, ist die, ob, daß uns bewußt ist, daß wir z.B. drüben ein Reh sehen, die Möglichkeit dessen ist, daß wir einem Partner mitteilen, daß wird dies sehen. Oder ob am Ende das Umgekehrte gilt, nämlich gilt, daß unser solches Mitteilen die Möglichkeit ist dessen, daß uns 20
Joseph König (1994): Probleme des Begriffs der Entwicklung. In: Ders.: Kleine Schriften. Freiburg, München, 222-244, 224 f. 21 Ebd., 226.
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bewußt wird, daß wir sehen, was wir da sehen, und mithin die Möglichkeit ist dessen, daß wir um uns wissen.“22
Falls das Letztere wahr sein sollte, müsste es unmöglich sein zu behaupten, dass jemand weiß was er tut, ohne dass er fähig wäre, dies zu äußern. Die Äußerung wäre dann nicht eine einfache Feststellung eines Faktums, das nun auch noch zu konstatieren ist – etwa durch Angabe einer expliziten Beschreibung. Vielmehr wäre die Äußerung selber das Mittel (und Medium) durch das und mit dem das Tun selber als ein von jemandem Verrichtetes und als solches auch Gewusstes überhaupt erst artikuliert würde. „Das innerlich Wahrgenommene ist – so ergeht die Vermutung – dasjenige, von dem gilt, dass es für uns in dem Augenblicke wird, indem wir es mitteilen; und dass es auch später überhaupt nur in dem Sinne für uns ist, dass wir es – diskontinuierlich – je und je – nämlich dadurch, dass wir es sagen, zu einem, das für uns ist, machen können (Das ‚Ich denke‘ muss alle meine Vorstellungen begleiten können!!).“23
Das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“ ist untrennbar verknüpft mit einer schrittweise sich vollziehenden Konstitution des Ich selber im Vollzug der Äußerung. Es ist daher derjenige selber, der etwas verrichtet, welcher sich zu dem entwickelt, der weiß, was er tut und getan hat und der um sich als dieser weiß, indem er äußert, dass er weiß, was er tut. Durch die Mitteilung selber teilt er etwas mit anderen (im Sinn des öffentlichen Gegenstands der Äußerung nämlich) indem er sich als der ergreift der weiß, dass er etwas tut und getan hat: „Ich gestehe, daß ich keine andere Antwort finde als die, die vielleicht am Ende auch wahrhaft befriedigen könnte, nämlich die, daß sozusagen das Mittel, mir zum Bewußtsein zu bringen, daß ich sie dort sitzen sehe, dies ist, daß ich sage, ausspreche, ‚ich sehe sie dort sitzen.‘“24
Und es ist gerade dieser doppelläufige Vorgang des jemand seins der etwas tut und sich ergreift als der der um sich als etwas tuender weiß, der – mit König – durch den Ausdruck der „Entwicklung“ bezeichnet wird: „Wenn ich nun einmal annehme, es sei so, wie ich da sage, hätte man zu sagen, daß ich, indem ich dies mitteile, allererst entstehe, als der um sich als den, der etwas Äußerliches sieht, weiß. (...) Durch keine andere Rede als eben die Rede
22 23 24
Ebd., 229. Ebd., 223. Ebd., 233 f.
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von ‚entstehen‘ könnte man in Einheit das Doppelte ausdrücken, daß 1) ich vor dem mitteilen – mir nicht bewußt bin, daß ich Sie sehe (nach Voraussetzung) sowie in eins damit 2) daß in diesem Fall das Mitteilen die Möglichkeit ist dessen, daß ich für mich werde oder mich in Besitz nehme.“25
Dieser Vorgang der „In-Besitz-Nahme“ ist als Sprech-Vorgang notwendig verbunden mit dem Vollzug der Äußerung selber als ein Sich-in-BesitzNehmen in der Äußerung. Dieselbe Argumentation kann dargestellt werden, wenn wir statt redesprachlicher Äußerungen auf andere Formen des Sprachlichen referieren. Kommunikation ist also nicht einfacher Austausch eines schon je Gehabten, als vielmehr Teilnahme an gegenseitiger In-Besitz-Nahme – Partizipation sensu verbis. Partizipation selber ist der Transformationsprozess, der gegenseitige und gemeinsame Tätigkeiten der Partizipierenden umfasst. Etwas verrichten und zu wissen, dass etwas verrichtet wird und worden ist, ist ein Vorgang der gegenseitigen In-Besitz-Nahme von jemandem als jemandem im Vollzug der Kommunikation. „Glaubt man hingegen vertreten zu dürfen, im Falle des Mitteilens von solchem, von welchem wir gemeinhin als einem innerlich Wahrgenommenen sprechen, sei nun umgekehrt das Mitteilen selber und als solches die Möglichkeit dessen, daß der Mitteilende, was er da mitteilt und also (da in diesem Falle er selber zum Inhalt der Mitteilung gehört) sich selber allererst in Besitz nimmt, so wird man die Bestimmung, daß der Mensch das Lebewesen ist, das Sprache hat, dahin verstehen, daß die spezifische Differenz ‚Sprache haben‘ gleichsam die Fortbewegungsweise nennt, in welcher und kraft welcher wir und durch unser eigenes Verhalten von dem Wesen, das sich selbst nicht besitzt, entfernt haben, und zu uns gekommen sind.“26
Kommunikation ist nicht einfach Nutzung eines bereit liegenden Werkzeugs (etwa im Sinne von Sprachstücken). Es ist vielmehr ein Prozess der Selbst-Hervorbringung. Als solcher ist es zugleich „Selbst-Entfernung“ – in der Äußerung, wie Selbst-Gewinnung – in der Äußerung als der eigenen. Im Sprechen begegnet der Sprechende sich selbst, indem er sich zu einem Wesen entwickelt, das etwas verrichtet und darum weiß. In der und durch die Tätigkeit des Sprechens sind Menschen „sich-selbst-entwickelnde“ Wesen. 27 Die Doppelläufigkeit dieser Partizipation führt zu der Einsicht, dass die Fähigkeit zu sprechen nicht eine zufällige Eigenschaft 25
König, 1994, 234. Ebd., 239. 27 Der Ausdruck „Selbst“ wäre also im Sinne der hegelschen Rede vom SelbstBewusstsein – und hier notwendig im Singular – zu verstehen (dazu Hegel, G. W. F. (1988): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt, 145ff). 26
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des Gattungswesens Mensch ist – es ist vielmehr die „Fortbewegungsweise“ dieses Wesens. Menschen bewegen sich gleichsam nicht mittels ihrer Beine fort, sondern vermittels ihres Sprechens. Menschen sind in diesem Sinne eben nicht einfach Sprach-, sondern Sprech-Tiere. Eine Definition des Menschen wäre die eines Wesens, das immer schon Mensch ist und die Fähigkeit hat, zum Menschen zu werden. König exemplifiziert dies an einem sinnfälligen Beispiel: „Versteht man hingegen unter einem Menschen ein Wesen, das nicht nur um Anderes, sondern auch um sich selber weiß, so ist ein neugeborenes Menschenkind nach dem hier zur Erörterung stehenden Gedanken noch kein Mensch. Wobei es dann zu gleicher Zeit schon ein Mensch und noch kein Mensch ist, sondern sich dazu erst in seinem individuellen Leben entwickelt, kein Widerspruch.“28
Entwicklung in diesem Sinne ist ein paradoxaler Prozess, insofern menschliche Wesen zugleich Gattungswesen sind und dennoch „menschlich“ werden im Sinne von individualisierten und selbst-indiviualisierenden Wesen. Die letztere Bedeutung nun des Ausdrucks „Mensch“ ist es, was den Menschen als „Geist-Wesen“ charakterisiert. Im Begriff „Mensch“ wird also regelmäßig die Bedeutung des Gattungswesen Homo sapiens mit dem Geist-Wesen „Mensch“ vermischt: „Denn der Begriff von Mensch, der in der der Naturwissenschaft angehörenden Deszendenztheorie zugrunde liegt, ist zunächst ganz einfach ein anderer als der Begriff vom Menschen als einem Wesen, das nicht nur um Anderes, sondern auch um sich selber weiß. Die Eigenschaften, in deren Vorliegen der Deszendenztheoretiker den Rechtsgrund sieht, von einem Individuum als einem Menschen zu sprechen, sind Körpereigenschaften, und näher Eigenschaften eines Körpers, der Leben hat. Und können auch nur solche sein.“29
Diese Lösung des Geistproblems scheint sich auf den ersten Blick in der Identifikation von Homonymen des Ausdrucks „Mensch“ zu erschöpfen. Das ist insofern richtig, als König die Doppelung des Ausdrucks „Individuum“ zum Gegenstand macht (einmal als Element einer Klasse und einmal als besondertes Allgemeines). Aber König geht noch einen Schritt weiter, indem er die Differenz expliziert zwischen dem determinierenden und dem modifizierenden Gebrauch des Ausdrucks „Leben“. In der modifizierenden Verwendung ist es ein „intensiv verbaler“ Ausdruck der menschlichen Lebensform (bios und zoe), welche den „natürlichen“ Aspekt des Geistes konstituiert. Hingegen bezeichnet der Ausdruck „Le28 29
König, 1994, 242. Ebd., 240.
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ben“ in seiner determinierenden Verwendung im theoretischen Modus Eigenschaften eines Körpers, der als Belebter Gegenstand biologischer Forschung ist. Die Differenz von Leib (Leben) und Körper ist eine Differenz innerhalb einer Beschreibung die direkt auf Sprech-Modi verweist.
8. Schlussbemerkung Der Unterschied zwischen beiden Sprachspielen, also jenem mit dem Gattungswesen Homo sapiens zum einen und jenem mit dem Ausdruck des „sich-entwickelnden Wesens“ zum anderen, kann innerhalb der Rede vom Geist sowohl ausgedrückt als auch artikuliert werden. „Geist“ sowohl als „Leben“ bezeichnen dabei spezifische Artikulationen von Sprach- und Sprech-Modi. „Leben“ ist danach nicht ein gegenständlicher Gegensatz zu „Geist“; es bezeichnet einen Aspekt des Sprechens, nicht einen materialen Prozess (wiewohl diesen zumindest auch). „Leben“ und „Geist“ können in dieser Darstellung sehr wohl als Unterschiedene, nicht aber notwendig als Verschiedene begriffen werden (sie sind in Königs Terminologie diaphora, nicht hetera). Die Differenz der beiden mit Göttingen und Marburg bezeichneten Denk-Stile kann durch den Unterschied von hermeneutischer Philosophie auf der einen Seite, und Reflexionsphilosophie auf der anderen angezeigt werden. Diese Differenz aber läge nicht einfach in der mangelnden Berücksichtigung homonymer Ausdrücke, die – wie hier im Falle des „Lebens“ zu einer zwar möglichen, aber eben auch missverständlichen – Entgegensetzung führen, welche als Gegensatz den Anschein dinglicher Qualitäten erzeugt. Es deutet sich hier vielmehr ein grundsätzlicher Unterschied im Verstehen des Verbalausdruckes „sprechen“ an, bei dem derselbe zum einen als – zwar wichtige, eventuell auch entscheidende – Eigenschaft des Gattungswesen30 „Mensch“ fungierte und zum anderen als ein „als Handeln besonderes Handeln“, bezüglich dessen die Transformation zum Menschen wie des Menschen als Transformation von Redeformen überhaupt erst begrifflich konstruiert werden kann. „Leben“ und „Geist“ bezeichneten dann besondere Formen des Redens, hinsichtlich deren „der“ Mensch als sich entwickelndes Wesen zu verstehen ist.
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Als Gattungswesen muss „Mensch” nicht notwendig biologisch beschrieben sein. Nimmt man den Ausdruck des „generischen Singulars” wörtlich, dann ist die biologische Beschreibung des Menschen „als” Homo sapiens nur eine mögliche.
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Literaturverzeichnis Gutmann, M. & Warnecke, W. (2007): Sprache und Sprechen als Formen kultureller Interaktion. Über ein aktuelles Begründungsprogramm. In: DZPhil., 55. Gutmann, Mathias (2007): Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung. In: Heilinger, J. (Hg.), Naturgeschichte der Freiheit. Berlin, 209228. – (2001): Die ‚Sonderstellung‘ des Menschen. Systematische Überlegungen zum Tier-Mensch-Vergleich. In: Michael Weingarten, Mathias Gutmann & Eve-Marie Engels) (Hg.): Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8/2001, 27-78. – (2003): Evolution und das Problem der Entwicklung. Systematische Überlegungen zu den methodischen Grenzen von Entwicklungstheorien. In: Emmermann, E. et. al. (Hg.), An den Fronten der Forschung. Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, 122: 279-287. – (2004a): Uexküll and contemporary biology: Some methodological reconsiderations. In: Sign Systems Studies 32 (1/2): 169-186. – (2004b): Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, 2 Bd., Bielefeld. Hegel, G. W. F. (1988): Phänomenologie des Geistes, Frankfurt. König, Joseph (1937): Sein und Denken, Halle. – (1967): Georg Misch als Philosoph. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen N. 7, I. Philologisch-historische Klasse, Göttingen. – (1994): Probleme des Begriffs der Entwicklung. In: Ders.: Kleine Schriften, Freiburg, München, 222-244. Scheler, Max (1947): Die Stellung des Menschen im Kosmos, München.
Zweiter Teil
Praktische Philosophie
Klaus Wiegerling
Leib als symbolische Form und Ursprung von Medialität
Die gegenwärtige Debatte über Leib und Körper wird zu einem erheblichen Teil von Theorien dominiert, die nicht nur keine Leibphilosophie hervorgebracht haben, sondern im Gegenteil sich gerade durch einen Ausschluss des Leibproblems auszeichnen. Es handelt sich dabei vor allem um Theorien, die im Umfeld der Philosophy of Mind und der sogenannten Neurophilosophie hervorgegangen sind. Diese Theorien zeichnen sich durch behavioristische und physikalistische, ja letztlich monistische Fundamente als metaphysische Basis aus. Selbst da, wo diese Basis unmittelbar nicht mehr erkennbar ist, gibt es eine mittelbare Bezugnahme auf diese Fundamente, insofern die Naturwissenschaften und ihre Erkenntnismethoden zentraler Bezugspunkt sind. Charakteristisch für die diese Positionen ist, dass sie auf der Stufe einer vorneuzeitlichen intentio recta verbleiben. Der Glaube an die unmittelbare Zugänglichkeit der Welt mit quantifizierenden, messenden Verfahren hatte immer einen Reiz ausgeübt und lebt unbeeindruckt von philosophischen Erkenntnissen, wie der Entdeckung der intentio obliqua, mit der Descartes das neuzeitliche Denken begründete, fort. Die Möglichkeit eines nichtdiskursiven, intuitiven Zugangs zum Leib sowie einer kulturellen Disposition desselben bleiben in diesen Theorien weitgehend ausgeschlossen. Es sollen mit den hier vorgestellten Überlegungen nicht nur ein Beitrag zu einem Begründungsproblem von Cassirers Symbolphilosophie geleistet, sondern auch Defizite im gegenwärtigen philosophischen Diskurs über Leib und Körper aufgewiesen werden. Dabei soll der Schwerpunkt der Überlegungen auf das Verhältnis von Leib und Kultur gelegt werden. Das heißt, es soll insbesondere die Frage erörtert werden, ob bzw. inwiefern der Leib, wie jedes andere Kulturphänomen, als symbolische Form verstanden werden kann und ob bzw. inwiefern sich im Leib der Ursprung von Medialität erkennen lässt. Es wird zu fragen sein, ob der Leib als naturalisiertes Kulturstück bzw. als kultiviertes Naturstück und damit als eine Art Limesgestalt in den Blick kommt, an die immer nur Annäherungen möglich sind, die aber nie erreicht werden kann. Es sollen im Folgenden nun drei Fragen behandelt werden:
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1. Wo verortet Cassirer das Problem des Leibes und wie versucht er das Leibphänomen zu fassen? 2. Gibt es Defizite in Cassirers Behandlung des Leib-Problems und lassen sich diese – sofern vorhanden – beheben? 3. Lässt sich das in Cassirers Symbolphilosophie grundlegend erörterte Medialitätsproblem anhand der Frage nach dem Leib präzisieren und für einen medientheoretischen Diskurs nutzen?
Zu 1) Wo verortet Cassirer das Problem des Leibes und wie versucht er das Leibphänomen zu fassen? Cassirer erörtert das Leibproblem in der Philosophie der symbolischen Formen vor allem an drei Stellen; im ersten Band des Werkes, wo es um die Grundrichtungen der sprachlichen Klassenbildung und um den Ausdruck des Raumes und der räumlichen Beziehungen geht; im zweiten Band, wo es um die Grundzüge einer Formenlehre des Mythos geht und Raum und Zeit sowie die Herausbildung des Selbstgefühls aus dem mythischen Lebensgefühl im Zentrum stehen; und schließlich in expliziter Weise im dritten Band im Kapitel Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem. Die Thematisierung im ersten Band stellt heraus, dass der Leib bzw. die ursprüngliche Leiberfahrung eine zentrale Rolle im Aufbau von Sprachen spielt. Der Leib, seine Teile und Organe dienen als zentrale Schemata der Gliederung des Weltganzen und als zentrale Orientierungspunkte zur Einteilung der Welt. Die Thematisierung im zweiten Band setzt diese Erörterung fort. Im Mythos sind der menschliche Leib und seine Gliedmaßen „das Bezugssystem, auf welches mittelbar alle übrigen räumlichen Unterscheidungen übertragen werden“.1 In einem Rekurs auf Ernst Kapps Idee von der „Organ-Projektion“ versucht Cassirer zu zeigen, dass die Erfahrung des eigenen Leibes wesentlich von Projektionen und Rückprojektionen disponiert ist, dass also nicht nur die Welt am Maßstab des eigenen Leibes erfasst und gegliedert wird, sondern dass wir über diese Projektionen Einsichten über Funktionen und Organisationsweisen des eigenen Organismus gewinnen. Von elementarer Bedeutung für diese Erörterung sind aber die Ausführungen, die Cassirer im dritten Band macht, wo im erwähnten Kapi1
PSF II, ECW 12, 112 f.
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tel der berühmte Satz steht: „Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt.“2 Wie kommt Cassirer zu dieser Einsicht? Und was ergibt sich aus ihr für die Erfassung des Leibphänomens? Cassirer sieht im Leib-Seele-Problem ein Urphänomen, das der Ausdrucksfunktion zugeordnet werden muss, denn letztere kennt noch nicht „die Differenz von ‚Bild‘ und ‚Sache‘, von ‚Zeichen‘ und ‚Bezeichnetem‘“. 3 Im Leib-Seele-Verhältnis als Ausdrucksfunktion „besteht keine Trennung zwischen dem, was eine Erscheinung als ‚bloß-sinnliches‘ Dasein ist, und einem davon verschiedenen geistig-seelischen Gehalt, den sie mittelbar zu erkennen gibt. […] Hier gibt es […] kein ‚Erstes‘ und ‚Zweites‘, kein ‚Eines‘ und ‚Anderes‘. Definiert man […] den Begriff des ‚Symbolischen‘ derart, daß man ihn auf jene Fälle beschränkt, in denen eben diese Unterscheidung zwischen dem ‚bloßen‘ Bild und der ‚Sache selbst‘ klar hervortritt, und in denen sie als solche mit Nachdruck erfasst und herausgearbeitet wird – so besteht kein Zweifel, daß wir uns hier in einer Region befinden, auf welche dieser Begriff noch keine Anwendung finden kann.“4 Cassirer betont im unmittelbaren Anschluss an diese Ausführungen, dass sein Symbolbegriff aber eine weitere Bedeutung hat: „Wir versuchen mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ‚Sinnerfüllung‘ des Sinnlichen sich darstellt – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.“5 Es ist streng genommen also das, was mit dem Begriff der symbolischen Prägnanz bezeichnet ist, was als Urstiftung des Symbols angesehen werden muss. Die Form der Erkenntnis, also der expliziten Erfassung, steht am Ende, nicht am Anfang der Entwicklung. Was die symbolische Form auszeichnet, ist nicht zuletzt etwas Prozessuales. Und erst das Ganze dieses Prozesses kennzeichnet die symbolische Form. Dies wird ausdrücklich auch in einigen Passagen der 1995 erschienenen, offensichtlich von lebensphilosophischen Positionen inspirierten, Nachlassschrift Zur Metaphysik der symbolischen Formen 6 bestätigt. So heißt es dort, dass eine Philosophie der symbolischen Formen letztlich 2 3 4 5 6
PSF III, ECW 13, 117. Ebd., 109. Ebd., 109. Ebd., 109. ECN 1.
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nicht beim Telos der reinen Erkenntnis stehen bleiben kann: „Denn ihre Frage geht nicht […] auf den einfachen Bestand der Formen, auf das, was die gewissermassen als statische Grösse sind. Sie betrifft vielmehr jene Dynamik der Sinngebung, in der und durch welche die Bindung und Abgrenzung bestimmter Seins- und Bedeutungssphaeren sich erst vollzieht. Was sie zu verstehen und zu erhellen versucht, ist das Rätsel der FormWerdung als solcher – ist nicht sowohl eine fertige Bestimmtheit, als vielmehr der Prozess der Bestimmung selbst.“7 Wenngleich Cassirer die drei grundlegenden Funktionen der symbolischen Formung, die Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion, voneinander gesondert behandelt, so stellt er für den Geist aber fest, dass „jene Gliederung und Abteilung, jenes ‚Eins, Zwei, Drei‘, das der Philosoph an den Inbegriff dieser Funktionen […] heranbringt […] ihm selbst durchaus fremd [ist – KW]. […] Statt des Diskretum der Formen herrscht“ im natürlichen Weltbild „ein ununterbrochenes Herüber und Hinüber, ein stetiger absatzloser Übergang vom einen Extrem zum andern.“8 Um die formbildende Funktion des Geistes also angemessen zu verstehen, müssen wir hinter die Explizitheit der symbolischen Form, hinter die wissenschaftliche Erfassung derselben gelangen. Wir befinden uns dann in einer Sphäre, in der alle begriffliche Bestimmung schon ein Überschreiten des Fokussierten ist. Cassirer ordnet das Leib-Seele-Problem der Ausdrucksfunktion zu, weil sie im logischen Stufenbau der Funktionen der Symbolbildung auf der untersten Stufe angesiedelt ist, wo noch keinerlei Geschiedenheit vorliegt. So dürfen die Kategorien der Substantialität und Kausalität nicht auf die Ausdrucksfunktion angewendet werden, da sie bereits eine Ursache-Folge-Zweiheit voraussetzen, was ihr den Charakter eines „Urphänomens“ rauben würde. „Das reine Ausdrucksphänomen“, schreibt Cassirer, „kennt noch keine derartige Form der Ent-Zweiung. In ihm ist […] ein Modus des Verstehens gegeben, der nicht an die Bedingung der begrifflichen Interpretation geknüpft ist: die einfache Darlegung des Phänomens ist zugleich seine Auslegung, und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.“9 In diesem Ursprungsphänomen sind Physisches und Psychisches, Leib und Seele miteinander verknüpft und eine ontologische Wandlung der Sinn- in eine Seinsfrage hat noch nicht stattgefunden. Aber wie soll man sich eine Verknüpfung von Elementen vorstellen, die komplett verschiedenen Sinnwelten angehören und zwischen denen es, wie Cassirer ausdrücklich feststellt, keinerlei Vermittlung gibt? 7 8 9
Ebd., 4. Ebd., 6. PSF III, ECW 13, 110.
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Cassirer stellt fest, dass es der gesamten abendländischen Metaphysik nicht gelungen ist, die Irrationalität des Leib-Seele-Verhältnisses zu beseitigen und es „in ein im Sinne des Begriffs notwendiges Band zu verwandeln“.10 Im Leib-Seele-Verhältnis liegt eine „coincidentia oppositorum“ vor. Es kann metaphysisch nicht gelöst werden, taucht aber bereits im natürlichen Weltbild auf. Das heißt nun für Cassirer, dass „nicht jeder empirische ‚Nexus‘ […] sich […] in einen Kausal-Nexus auflösen [lässt – KW]; vielmehr gibt es gewisse Grundgestalten der Verknüpfung, die nur dann verstanden werden können, wenn man der Versuchung einer derartigen Auflösung widersteht, wenn man sie als Gebilde sui generis bestehen und gelten läßt. Und eben als der Prototyp einer solchen Verknüpfung stellt sich der Zusammenhang zwischen ‚Leib‘ und ‚Seele‘ ursprünglich dar.“11 Es sind also Sinnverknüpfungen, wie sie im Leib-Seele-Verhältnis vorliegen, die die konstitutive Voraussetzung für jegliche Art von Kausalverknüpfung sind. Den Zugang zu einer objektiven Wirklichkeit aber ist erst durch die symbolischen Funktionen der Darstellung und Bedeutung zu gewinnen. Eine gegliederte Wirklichkeit wird erst durch die Trias der drei grundlegenden Funktionstypen ermöglicht. Als Kritik an den zu Beginn genannten philosophischen Konzepten, die den Leib aus dem philosophischen Diskurs eliminieren, wäre dann die Feststellung Cassirers zu lesen, dass die neuere Metaphysik den Leib „indem sie alles, was der Sphäre des reinen ‚Ausdrucks‘ angehört, prinzipiell von ihm abstreift, zum bloßen Körper“12 , zur bloßen res extensa, zu einer Art „rein geometrischer Materie“13 macht. Cassirer siedelt den Leib also in einem Urphänomen an, das jeder Idee von Objektivität vorausgeht. Die Wirklichkeit des Leibes ist älter als die des Körpers. Streng genommen ist der Leib immer in diesem relationalen Ausdrucksgefüge zu denken, in dem keine Unterscheidung von Leib und Seele, Physischem und Psychischem vorgenommen werden kann. Er ist als ein beseelter Körper zu denken, der der Objektivierung zum Körper, der Reduzierung seiner Wahrnehmung auf die Perspektive der dritten Person vorausgeht. Diese Reduzierung ist in gewisser Weise ein metaphysisches Missverständnis. Was den Leib kennzeichnet, ist also eine Form ursprünglicher Selbstbezüglichkeit. Diese ist aber nie nur physiologisch bestimmbar. Wir müssen also noch weiter dem auf der Spur bleiben, was dieses besondere, quasi lebensweltliche Urphänomen jenseits einer Verdinglichung auszeichnet.
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Ebd., 113. Ebd., 115. Ebd., 120. Ebd., 120.
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Zu 2) Gibt es Defizite in Cassirers Behandlung des Leib-Problems und lassen sich diese – sofern vorhanden – beheben? Klären wir zunächst, ob Cassirers Überlegungen Konsequenzen zeitigen, die zu einer Erweiterung bzw. Revision seiner Positionen führen. Die logische Vorgängigkeit des Leibphänomens bedeutet nicht, dass es als Ausdrucksphänomen zeitlich ‚vor‘ der Kulturerfahrung gegeben ist. Der Leib muss vielmehr selbst als ein ursprüngliches Kulturphänomen gefasst werden, dessen subjektive Vorgängigkeit auch nichtsubjektive Momente aufweist. Das heißt nichts anderes, als dass jede Leiberfahrung bereits kulturell disponiert ist. Am lebendigen Phänomen des Leibes, das sich in einem permanenten Wandel artikuliert, lässt sich nun die Einheit der drei Funktionen der symbolischen Formung nachweisen. Der Leib als ursprüngliches Ausdrucksphänomen steht in keinem Gegensatz zur Kultur bzw. in keinem Prius-posterius-Verhältnis zum Phänomen der Kultur. Schauen wir zur Begründung auf die wesentlichen Kennzeichen der symbolischen Form: Die symbolische Form ist 1) als ein Verweisungsphänomen zu verstehen, das in einem funktionalen Zusammenhang steht – es ist sozusagen ein Knotenpunkt in einem Verweisungssystem. 2) als ein Transzendierungsphänomen zu verstehen, das über sich selbst hinausweist, und zwar konkret auf das, was es in medialer Weise trägt. Als Transzendierungsphänomen leistet es die von Cassirer genannte „Integration zum Ganzen“14 . Es ist nicht nur ein Zeichen, das auf einen bestimmten Gegenstand verweist, sondern zugleich eine Gegenstand-mitGegenständen verbindende Form. Ein Symbol transzendiert das, was es bezeichnet. Es leitet auf die Ordnung, in der uns das Bezeichnete begegnet. Und in gewisser Weise transzendiert es sogar noch diese Systemordnung, denn es kann in eine andere Sinnsphäre übertragen werden. Es transzendiert also seine jeweils konkrete Anwendung und schafft die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Welt und Wirklichkeit, insofern es eine Aufleitungsregel auf das Allgemeine, das Kategoriale impliziert. Verstehen ist selbst eine Weise des Überschreitens des unmittelbar Gegebenen, eine Weise, etwas in einen Horizont einzubetten. Die Welt als symbolisch geordnet begreifen heißt zugleich, sie als hermeneutisches Problem zu verstehen. Als Transzendierungsphänomen ist sie in der Weise eines metaphorischen Ausdrucks zu verstehen, denn Symbole 14
PSF I, ECW 11, 45.
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sind übertragbar in andere Sinnzusammenhänge. Der geistig gesunde Mensch ist imstande, Symbole aus einer Sinnsphäre in eine andere zu übertragen und diese damit zu bereichern bzw. auszudifferenzieren. Cassirer stellt bei psychopathologischen Phänomenen wie Aphasie, Apraxie und Agnosie eine Übertragungsunfähigkeit fest, die Menschen zwingt, in einer verengten Welt zu leben und ihnen den Weg in eine gemeinsam geteilte Welt versperrt. 3) als ein Konzentrat zu verstehen, als eine bestimmte Fokussierung eines Sachverhalts. Erst mit der Hilfe eines solchen Konzentrats können Probleme erörtert und – wie im Falle einer mathematischen Formel – möglicherweise gelöst werden. Die Auffassung des Symbols als Konzentrat heißt auch, dass in jedem Symbol das ganze System präsent ist. Nicht zuletzt korrespondiert die zentrierende Leistung dem menschlichen Fassungsvermögen. 4) als eine Handlungsanweisung zu verstehen. Wir haben mit der Erfassung eines Symbols zugleich eine Anwendungs- bzw. Handlungsregel erfasst, wissen, wie wir von einem Element zum anderen gelangen können. Ein Symbol ist insofern sogar eine praktische Kategorie, also nicht nur ein Erkenntnis- und Ordnungsphänomen. Jede symbolische Erfassung ist sozusagen die Erfassung eines Handlungsschemas. 5) als ein geistiges Phänomen mit einem Zug zur Konkretion zu verstehen. Ein Symbol lässt sich prinzipiell darstellen und vermitteln, ist etwas Darstellbares und intersubjektiv Zugängliches, etwas, das aus der reinen Idealität herausdrängt, sich konkretisiert und damit intersubjektiv zugänglich wird. Fragen wir, bevor wir klären, inwieweit der Leib als symbolische Form gefasst werden kann, nach dem, was ihn als beseeltes Naturstück auszeichnet. So individuell und intuitiv erschließbar der Leib auch gedacht ist, er schließt immer auch einen objektiven kulturellen Ausdruck ein. Er unterliegt nicht nur den Naturgesetzen, sondern auch kulturellen Normierungen. Bis in das Schmerzempfinden artikulieren sich im Leib intersubjektive kulturelle Normierungen. Formen des Umgangs mit Schmerzen und des Schmerzerlebens hängen mit kulturellen Dispositionen zusammen. Man denke nur an den Umgang mit Schmerzen bei Jagdvölkern oder in der indischen Fakirtradition. Selbst in unseren intimsten Empfindungen artikulieren sich noch kulturelle Dispositionen. Es ist also nicht allein der intuitive Zugang und die Selbstbezüglichkeit, die den Leib vom nur über die Dritte-Person-Perspektive erfassten Körper unterscheidet, sondern auch sein Gegebensein als kultureller Ausdruck, das heißt nicht zuletzt als symbolische Form.
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Alles, was wir leiblich sind, ist ein kultiviertes Stück Natur. Bereits im Mutterleib vernehmen wir kulturell spezifizierte Geräusche, bereits als Säugling erfahren wir symbolisch aufgeladene Umgebungen. Natur und Kultur gehen im Leib eine untrennbare Verbindung ein. Er ist nicht nur eine Orientierungskategorie in einem räumlich-präpositionalen Sinne, sondern etwas, das durch seine kulturelle Disposition uns in einem bereits ideellen Sinne Orientierung verschafft. So erfährt der Leib von früh an kulturell bedingte Rhythmisierungen; Zeiten der Nahrungsaufnahme, Ruhezeiten, Bewegungsabläufe, körperliche Haltungen und Sprechrhythmen prägen unsere leibliche Disposition; ebenso kulturell bedingte Präferenzen der Sinnesvermögen. So erfährt der Leib nicht nur eine individuelle Gestaltung durch Training, sondern auch eine kulturelle – wie kulturell bedingte Reaktionsverzögerungen oder Sonderfähigkeiten wie die zur Witterungsaufnahme. Die Leiberfahrung ist dabei nicht nur eine kulturell und individualgeschichtlich bedingte Interpretation, sondern eine inkarnierte Form der Kultur. Dies stellt im Übrigen nicht in Frage, dass die Leiberfahrung auch ein Interpretat ist, aber eben „auch“ ein Interpretat, insofern der Leib als historische Entität auch mit hermeneutischen Methoden zu erschließen ist. Das für jede Kultur prägende Verzögerungs- oder Umwegphänomen artikuliert sich also nicht zuletzt im Leib. Als offenes, in einem beständigen Austausch mit seiner Umwelt – die natürlich immer auch symbolisch aufgeladen ist – stehendes System ist der Leib nicht nur eine im naturwissenschaftlichen Sinne objektivierbare und skalierbare Entität, sondern eine kulturell disponierte und historisch wandelbare und sich wandelnde Gegebenheit. Dass sich der Leib als kultureller Ausdruck begreifen lässt, artikuliert sich auch in gegenwärtigen Formen der technischen Gestaltung des Körpers. Diese Gestaltung äußert sich in einer biologisch-informatischen Doppelgestalt, die sowohl die gentechnologische Manipulation des Körpers als auch seine informationstechnologische Steuerung und Erweiterung, beispielsweise durch intelligente Implantate und Prothesen, umfasst. Die moderne Prothesen- und Transplantationstechnik belegt, dass der Leib eine von kulturellen Möglichkeiten disponierte Entität ist. Selbst die menschliche Sexualität kann nicht auf reine Triebhaftigkeit reduziert werden. Unsere animalische Disposition ist nicht nur von kulturellen Formungen überlagert, sondern weist in ihrer konkreten Artikulation schon eine kulturelle Struktur auf. Selbst die pornographische Industrie, die den Leib auf reine Körperlichkeit zu reduzieren versucht, ist ein Ausdruck der kulturellen Disposition der Sexualität. Es ist der Zug
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zum Erotischen, der die menschliche Sexualität auszeichnet. Verbergung, Reizung und Verzögerung – was ein Grundcharakteristikum jeglicher kulturellen Artikulation ist – kommt darin zum Ausdruck. Menschliche Sexualität ist nicht nur eine Verrichtung zur Gattungserhaltung und zur Triebauslebung, sondern Ausdruck einer besonderen psychophysischen Verstrickung in der Welt, die auf ein Engagement für und ein Arrangement mit einem konkreten Anderen steht. Dies ist etwas grundsätzlich anderes als ein naturhaftes Ausleben seiner Sexualität. Erotik ist immer schon das Transzendieren animalischer Sexualität, ist immer schon mit Bewusstseinsleistungen und kulturellen Dispositionen konnotiert. Kultur und Natur artikulieren sich im Leib als Limesgestalten, die weder ganz erreicht, noch eliminiert werden können. Im Leib lassen sich kulturelle und naturale Bedingtheit nicht voneinander trennen. Er ist die Einheit, die die Scheidung von Natur und Kultur nicht zulässt. Er ist eine grundlegende anthropologische Kategorie, die den Menschen als ein mediales Wesen in seiner doppelten Ausbildung als animal medialis und animal mediatum, als vermittelndes und vermitteltes Wesen, fasst. Im Leib artikuliert sich die kulturelle und symbolische Disposition des Menschen. Damit ist er von vorneherein einem naturalistischen, nur naturwissenschaftlich-quantifizierenden Zugriff entzogen. Vielmehr muss er wie jedes andere Kulturphänomen mit hermeneutischen Methoden immer wieder aufs Neue erschlossen werden. Der Leib ist also nicht ahistorisch zu fassen. Er ist bereits informiert und deshalb, obwohl physiologisch fundiert, keine biologische Kategorie. Der Leib verfügt über eine besondere Art der Intentionalität, die ihn zu einer permanenten Transzendierung des organischen Systems treibt. Hierbei handelt es sich um eine Art Präintentionalität, die in einer ‚vorbewussten‘ Weise auf die Welt ausgreift. Es handelt sich um eine Gerichtetheit, die sich eher im ethologischen Appetenzverhalten, in Ausweichbzw. Fluchtbewegungen artikuliert, die allerdings niemals ‚rein‘, sondern immer kulturell disponiert in Erscheinung tritt. Diese Präintentionalität erhält allerdings ihren Sinn durch die Beziehung auf die Intentionalität, die unser Bewusstsein auszeichnet. Der Leib drängt durch seine Wirkpotentiale nach außen und nach permanenter medialer Erweiterung. Alles, was seine Vermögen erweitert, was ihn beschleunigt, ihn besser sehen und hören lässt, ist bereits hier angelegt. Er ist das Naturstück, welches zur Welt drängt. Die mediale Entwicklung ist bereits in den ausgreifenden und einholenden Urvermögen des Leibes angelegt. Er ist ein Naturstück, das in seinem naturalen Dasein nicht aufgeht, sondern dieses transzendiert. Leibsein heißt ‚Mehr-als-Körper-Sein‘, heißt in dem nicht aufgehen, was die biologischen Wissenschaften erfassen können.
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Der Leib kann als Grenzkategorie des Philosophierens aufgefasst werden, insofern er nicht nur ein Mittelglied zwischen Natur und Kultur ist, sondern sich an ihm Wahrheits- bzw. Geltungsansprüche philosophischer bzw. wissenschaftlicher Theorien begrenzen lassen, sofern sie nicht rein logischer Natur sind. Er ist ein symbolischer Relationsbegriff. Symbolisch, insofern er auf seine Konstitutiva Natur und Kultur verweist und er unser Zentrierungs- und Orientierungsorgan schlechthin ist. Der Leib lässt sich nun insofern als symbolische Form begreifen, als die genannten Charakteristika des Symbols an ihm aufzuweisen sind. Er ist ein Verweisungs- und Transzendierungsphänomen, ein Konzentrat und nicht zuletzt eine konkrete Verkörperung eines kulturellen Ausdrucks. Auf den ersten Blick unklar bleibt allein, inwiefern er als Handlungsregel aufgefasst werden kann. Man kann allerdings insofern von einer Handlungsregel sprechen, als er auch durch selbstbezügliche Handlungsschemata informiert ist. Er verfügt über Handlungsdispositionen, die nicht seiner organischen Konstitution geschuldet sind, sondern individualgeschichtlichen und kulturellen Prägungen – wie Gehstile, Stile der Essens-aufnahme, Handhabungsstile, Reaktionsstile aller Art. Wo nun liegen die grundlegenden Probleme in Cassirers Thematisierung des Leibes? Wir haben festgestellt, dass der Leib deshalb Vorbild und Musterbild einer symbolischen Relation ist, weil er als naturalisiertes Kulturstück bzw. als kultiviertes Naturstück gedacht werden muss. Er ist nicht nur Ausdruck einer individuell und intuitiv zugänglichen Entität, sondern zugleich ein kultureller Ausdruck. Er tritt in der Weise eines Kulturphänomens, also als symbolische Form in Erscheinung. Als solche kann er begrenzt und abgesondert werden. Andererseits entzieht er sich als Ausdrucksphänomen jeglicher expliziten Fassung. Eine Ontologisierung würde den Leib als symbolische Grundrelation ja wieder aus dem Blick rücken. Wir können einer Aporie nur dadurch entkommen, dass wir uns auf das besinnen, was Cassirer in seiner Schrift Zur Metaphysik der symbolischen Form ausführt, nämlich, dass wir in dem, was er, leider nicht näher differenziert, „natürliches Weltbild“ nennt, keinerlei Trennung der geistigen Funktionen der symbolischen Form kennen. Die Dreiteilung wird von Cassirer als „eine Art ideelles Bezugssystem“15 benutzt. Und er erläutert diesen Sachverhalt so: „Das ‚natürliche Weltbild‘ erstreckt sich in all diesen Dimensionen und es lebt und webt in ihnen, – ohne sie jedoch bewusst von einander zu trennen, ohne sie als verschiedene zu ‚haben‘. Es ist durchdrungen von der symbolischen Funktion des Ausdrucks, wie von der Darstellung und Bedeutung. […] Es ist in sich ganz und geschlossen 15
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und es ist in sich lebendig nur dadurch, dass hier Ein Tritt tausend Fäden regt und dass alle diese Fäden ungesehen fließen. […] Die eigentliche, die ‚konkrete‘ Wirklichkeit des Geistes besteht darin, dass alle seine verschiedenen Grundmoment ineinander eingreifen und ineinander verwachsen – dass sie im eigentlichen Sinne ‚konkreszieren‘. Es scheint danach, als brauchten wir nur wieder auf diese ursprüngliche Grundeinheit, auf diese urtümliche Konkretion des Erlebens zurückgreifen, damit all die ‚künstlichen‘ Scheidungen der Reflexion sich wieder aufheben, – damit sich uns, über all diese Scheidungen hinweg, die wesenhafte Ganzheit des Geistigen erschliesst.“16 Fasst man den Leib als symbolische Form im engeren Sinne, dann bleibt also ein Widerspruch bestehen. Wir können einer Aporie nur entgehen, wenn wir uns auf die ursprüngliche Ganzheit bzw. Geschlossenheit einer lebensweltlichen Erfahrung stellen, in der die Scheidung der drei funktionalen Momente aufgehoben ist. Wenn also ein Defizit in Cassirers Argumentation auszumachen ist, dann liegt es zum Teil in der Unschärfe des Begriffes des „natürlichen Weltbildes“ und in der mangelnden Verdeutlichung des Leibphänomens als symbolische Form, d.h. in einer Ausklammerung der Thematisierung des Leibphänomens als kultureller Ausdruck. Damit will ich zur letzten Frage kommen: Zu 3) Lässt sich das in Cassirers Symbolphilosophie grundlegend erörterte Medialitätsproblem anhand der Frage nach dem Leib präzisieren und für einen medientheoretischen Diskurs nutzen? Zunächst ist zu fragen, ob sich Symbolizität und Medialität decken. Fasst man den Symbolbegriff eng als ein mit Bedeutung versehener Bewusstseinsausdruck, dann werden wir die elementaren Austauschprozesse des Organismus, also die Formen des Stoffwechsels noch nicht unter dem Aspekt der Symbolizität fassen können, sondern bestenfalls – wie es Ernst Wolfgang Orth ausdrückt – „als eine Art Vorspiel des Symbolismus“.17 Dies würde bedeuten, dass wir in organischen Austauschprozessen schon eine Stufe der Medialität erlangt haben, aber noch keine der Symbolizität. Die Frage ist aber, ob dieser enge Begriff den cassirerschen Vorstellungen gerecht wird, schließlich hält er ja eine weitere Fassung des Symbolbegriffs für angemessen, in dem das Prozessuale, die ineinander greifenden Funktionen des Symbols zum Ausdruck kommen. Dann müssten wir 16 17
Ebd., 6. Ernst Wolfgang Orth(2000): Was ist und was heißt „Kultur“? Würzburg, 229.
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also diese organischen Prozesse als konstitutive Momente der symbolischen Formung begreifen. Worin liegt nun die mediale Qualität des Leibes? Wenn wir auf die Grundcharakteristika eines Mediums schauen, stellen wir fest, dass es durch ähnliche Momente beschrieben wird wie der Leib, was zur Annahme Anlass gibt, dass es sich um Rückprojektionen von apparativen Medien handelt. Dies drängt sich um so stärker auf als apparative Medien, die den modernen Mediendiskurs prägen, ja als Zurüstungen unserer leiblich disponierten Vermögen zu verstehen sind, die diese verbessern bzw. ergänzen sollen. Im Verhältnis von leiblichen Vermögen und apparativen medialen Leistungen wird ein Begründungsverhältnis sichtbar. Ein Medium ist ein Trägersystem, eine materielle oder energetische Trägersubstanz, in die eine Information eingeprägt werden kann. Plato etwa spricht von cŒra , was er als Raum der umherschweifenden Ursachen18 bestimmt.19 Als System ist das Medium eine verbindende Form, die Zeichen, Räume und Zeiten zu verknüpfen vermag. Es verbindet nicht zuletzt Menschen und ermöglicht damit Kommunikation. Ohne Medium gibt es weder Kommunikation noch Information, denn jede Information muss von etwas getragen und in irgendeiner Weise verknüpfbar sein. Das Medium ist die Vermittlungsinstanz, die über ein Gedächtnis verfügt und Anschlüsse an Vergangenes ermöglicht. In den Blick kommt Medialität in einem reflexiven Verhalten. Erst in der Reflexion auf die ding- bzw. weltfi xierende Intentionalität bekommen wir in den Blick, was Medialität auszeichnet. Medialität ist die Bedingung der Welterschließung. Sie eröffnet uns Möglichkeitsräume. Sie ist in einem ursprünglichen Sinne die Ermöglichung von Weltzugängen in geordneter, präparierter Weise. Unsere leiblichen Vermögen und deren apparative Erweiterungen präparieren den Zugang zur Welt, das heißt, sie bieten Möglichkeiten, begrenzen diese aber auch. Wie kann man nun Medialität als Grundfunktion der Welterschließung präziser fassen? Medialität artikuliert sich als eine grundlegende Fähigkeit zur Transzendierung. Das heißt, wir überschreiten unsere Innerlichkeit auf die Welt hin. In einem Terminus von Merleau-Ponty ausgedrückt, können wir sagen, dass unser Leib als Urmedium ein ‚Sein zur Welt‘ ist. 20 Mit der Transzendierung einher geht eine Externalisierung. Durch sie erfährt die Welt eine symbolische Gestaltung. Wir setzen wahrnehmbare 18
Platon (1982): Timaios, 48a. In: Platon: Sämtliche Werke. Hg. von Ernesto Grassi und Walter Hess, Hamburg. 19 Vgl. Christoph Hubig (2006): Die Kunst des Möglichen I – Technikphilosophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld, 45. 20 Vgl. Maurice Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, 107.
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Zeichen in der Welt, externalisieren Gedächtnisleistungen etwa in der Schrift und machen diese Leistungen für andere und die Nachwelt zugänglich. Medialität ist in diesem Sinne ein ursprüngliches Ausgreifen, eine ursprüngliche Transzendierung der Immanenz unseres Bewußtseins. Wir materialisieren Ideen, verlagern sie nach außen und orientieren uns an diesen symbolischen Konkretionen. Medialität als Externalisierung heißt Wegmarken in der Welt zu setzen. Medialität als Externalisierung kann als Archivierung verstanden werden, insofern sie etwas jenseits eines konkreten Bewusstseins zur späteren Nutzung aufbewahrt. Als Archivierung löst sich Medialität allerdings weitgehend von leiblichen Vermögen. Archivierung ist insofern ein besonderer Ausdruck von Medialität, als sie diese in dreifacher Weise als Distanz schaffende und orientierende Form anlegt: a) sie veräußerlicht im Sinne der Objektivierung und intersubjektiven Zugänglichkeit; b) sie selektiert und schematisiert; und c) schafft sie etwas, auf das man immer wieder zurückkommen kann. Ein wesentlicher, aber häufig unterschätzter, gelegentlich sogar vergessener Aspekt der Medialität ist der der Zentrierung. Sie hat nicht nur eine verknüpfende, distanzierende und transzendierende Funktion, sondern auch eine zentrierende. Zentrieren heißt, etwas auf einen fassbaren Bestand bringen. Medien konzentrieren Inhalte, formal beispielsweise auf ein Blatt oder einem Bildschirm, inhaltlich beispielsweise in monographischer Weise. Dabei stellen wir fest, dass jede Zentrierung zugleich eine Desartikulation zeitigt. Der mediale Apparat bleibt uns verborgen. Wir sehen auf dem Bildschirm unseres Rechners einen Text oder ein Bild, die informatische Kodierung des Präsentierten bleibt uns aber verborgen. Die Zentrierungsfunktion setzt zugleich eine Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren eines Mediums. Es gibt in jedem Medium einen Bereich, der das Konzentrat disponiert, aber selbst nicht sichtbar ist. Das Zentrierte ist nicht das Apparative, sondern was durch das Apparative sichtbar wird. Das Absente ist das Ermöglichende, auf das der Fokus unserer Aufmerksamkeit gerade nicht gerichtet ist. Medialität artikuliert sich in Relationen und Relevanzbezügen, sie schafft Distanz zwischen Mensch und Welt und bietet zugleich die Möglichkeit, diese überbrücken zu können. Sie ist der Zwischenbereich, der kennzeichnet, was den Menschen auszeichnet, nämlich dass er sich seiner Distanz zur Welt bewusst ist und einen Weg zu finden vermag, diese Distanz symbolisch zu überwinden. Unter symboltheoretischen Prämissen kann der Begriff des Mediums von der Vorstellung reiner Werkzeughaftigkeit befreit und in eine grundlegende Kategorie der Weltordnung und des Weltverstehens transfor-
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miert werden. Symbolizität und Medialität fokussieren ein- und dasselbe Phänomen. Während Symbolizität stärker die Erscheinung ins Zentrum rückt, hebt Medialität den Systemzusammenhang und den Vermittlungsaspekt hervor. Symbolizität ist letztlich immer auf das Konkrete bezogen, denn nur dies kann als Konzentrat in den Blick kommen. Medialität dagegen ist auf die das Konkrete disponierende Struktur bezogen. Symbolizität und Medialität sind also unterschiedliche Perspektivierungen des gleichen Sachverhalts. Die genannten Charakteristika der Medialität treffen auf den Leib zu. Er ist das Urbild jeden medialen Systems, weil er eine organische Verbindung unterschiedlicher Elemente und Funktionen ist, das alle auf ihn einwirkenden und durch Bewegungsempfindungen erlangten Informationen aufnimmt und zusammenführt. Im Leib sind alle sensuellen Affizierungen miteinander verknüpft und einander zugeordnet. Die Einwirkungen sind über neuronale und hormonelle Dispositionen miteinander vermittelt. Manche Einwirkungen hinterlassen Spuren, manche nicht. Er vermittelt zwischen physischer, physiologischer und psychischer Sphäre. Er ist ein Vermittlungsorgan, das Töne, Bilder, sensuelle Erfahrungen jeder Art nach physiologischen, kulturellen und individualgeschichtlichen Kriterien bewertet und miteinander verknüpft. Er ist aber auch ein Austauschorgan, das mir ein wie auch immer ausgestattetes bzw. eingeschränktes Potential des Zur-Welt-hin-Wirkens gibt. Er transzendiert seine Immanenz und tauscht sich mit der Welt aus. Er vermittelt nicht nur zwischen meiner physiologischen und psychologischen Existenz, sondern auch zwischen mir als psychophysischer Entität und der Außenwelt. Er zentriert die Welt auf mich, positioniert mich in ihr, filtert für mich die Welt und hält Ereignisse fest. Er erfährt von Beginn seiner Entstehung an eine historische Prägung, ist etwas, das meine individuelle Geschichte und die Geschichte der Kultur, in der ich lebe, aufbewahrt. Er ist also ein offenes, in ständigem Austausch mit der naturalen und kulturellen Umwelt stehendes System und insofern unabgeschlossen und wandelbar. Als Medium ist der Leib unser grundlegendes Orientierungsorgan, das uns Zugang zur Welt verschafft. Alle apparativen Medien wie Fernrohr, Brille und Hörgerät, Mikroskop und Telefon sind den Zugangsweisen der leiblichen Vermögen angepasst. Zur Orientierung gehört, dass wir uns durch leibliche Vermögen den Dingen annähern und uns von ihnen entfernen können. Wir können Dinge ins Zentrum unserer Wahrnehmung rücken oder in einem Horizont nur noch am Rande anwesend sein lassen. Wir können nach den Dingen ausgreifen, ja selbst der Blick kann ein Ausdruck eines solchen ‚erfassenden‘ Ausgriffes sein. Die Dinge um uns herum sind durch den Leib präpositional geordnet. Als Orientie-
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rungsorgan ist er zugleich ein Ordnungsorgan. Als solches verschafft uns der Leib eine Position und damit Perspektive auf die Welt. Das Gedächtnis des Leibes artikuliert sich nicht nur in seinem Bewusstsein bzw. dem Gehirn als dessen materiellem Trägerorgan, sondern in allen Körperteilen. Wie der Arzt dem Alkoholiker warnend sagt, dass sich die Leber alles merkt, was ihr angetan wurde, so merkt sich jeder Körperteil, jedes Körperorgan alles, was ihm widerfährt und richtet sein Fungieren entsprechend dieser Erfahrung aus. Der Leib ist das Medium, das uns als Mittel für die Veränderung der Welt zur Verfügung steht, das uns einen Möglichkeitsraum gibt. Dieser Raum ist aber immer ein begrenzter Gestaltungsraum, ein Raum von Potentialitäten im husserlschen Sinne, dass heißt, ein Raum von „Potentialitäten, die keine leeren Möglichkeiten sind, sondern inhaltlich […] vorgezeichnete Möglichkeiten“. 21 Fragen wir abschließend, ob sich das von Cassirer erörterte Medialitätsproblem anhand der Frage nach dem Leib präzisieren und für einen allgemeinen medientheoretischen Diskurs nutzen lässt. In Bezug auf den Leib lässt sich feststellen, dass wir auf dem Weg sind über intelligente Implantate den Leib apparativ zu gestalten, ihn also in seiner organisch-kulturellen Medialität zu steigern bzw. wie Ernst Wolfgang Orth es wohl ausdrücken würde, „disponibler“ zu gestalten, wobei die sekundäre technisch-apparative Medialität nun in die Begründungssphäre eindringt. Orth weist darauf hin, dass der Mensch „nicht nur symbolische Formen erarbeitet oder in symbolischen Formen lebt und durch sie bestimmt wird, sondern dass er selbst als anthropologischer Typ eine symbolische Form ist und darstellt. Der Mensch ist ein Medienereignis, eben ein bedeutsamer und be-deutender Organismus.“22 Über den Leib als kultiviertes Naturstück gelangen wir zum Fundament aller Medialität. Insoweit er immer auch kulturell disponiert, ja geformt ist, ist er eine symbolische Form und muss abgehoben werden von rein organischen Austauschprozessen sowie von Medialitätsstufen, die, wie bei höheren Tierformen, die Idee eines beseelten, intuitiv erschlossenen Körpers zulassen, nicht aber dessen kulturelle Disposition. Es ist also der menschliche Leib, der als symbolische Form und als Medium zu fassen ist, in dem sich Medialität und Symbolizität in einem ursprünglichen Sinne artikulieren und der als 21
Edmund Husserl (1950): Cartesianische Meditationen. In: Husserliana Bd. I., Hg. von S. Strasser, Den Haag, 81 f. 22 Orth, Ernst Wolfgang: Was ist und was heißt „Kultur“? Würzburg 2000, S. 228.
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Maßgabe für die theoretische Erfassung sekundärer apparativer Medialitätserfahrungen dienen kann. Damit ist letztlich auch eine kritische Kategorie gewonnen, mit deren Hilfe man die Leistungen und Funktionen moderner Informations- und Kommunikationsmedien bewerten kann, was nicht zuletzt den gegenwärtigen medientheoretischen Diskurs polen und der Orientierung medialer Entwicklungen dienen könnte.
Literaturverzeichnis Hubig, Christoph (2006): Die Kunst des Möglichen I – Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld. Husserl, Edmund (1950): Cartesianische Meditationen. In: Husserliana Bd. I., hg. von S. Strasser, Den Haag. Merleau-Ponty, Maurice (1996): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin. Orth, Ernst Wolfgang (2000): Was ist und was heißt „Kultur“? Würzburg. Platon (1982): Sämtliche Werke. Hg. von Ernesto Grassi und Walter Hess, Hamburg.
Martina Plümacher
Der ethische Impuls in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Ethik im Hintergrund der Philosophie der symbolischen Formen? Dem Werk Cassirers fehlt eine ausgearbeitete Ethik. Weitgehende Einigkeit besteht in der Cassirer-Forschung jedoch darin, dass Cassirers Philosophie „ethisch imprägniert ist“1, einen „ausgesprochen engagierten ethischen Grundton“ besitzt und gelesen werden kann als „eine praktisch interessierte Philosophie der menschlichen Selbstbefreiung oder als eine Philosophie der menschlichen Verantwortungsfähigkeit“. 2 Cassirer gab seinen Schriften einen moralischen Gestus. Doch er verzichtete auf einen moralisierenden Ton. Seine Kulturphilosophie ist keine Kritik der Moderne, der Technisierung, der Industrialisierung und Rationalisierung der Welt. Sie beklagt keinen Kulturzerfall, keine Verflachung der Kultur. Sie versteht sich als eine Reflexion auf Grundlagen jeder menschlichen Kultur. In ihrem Zentrum steht die zeichen- und symbolschaffende Aktivität des Menschen, durch die sich die spezifisch menschliche soziale Welt und ‚Kultur‘ gegenüber dem sozialen Leben im Tierreich auszeichnen. Cassirer lenkt die Aufmerksamkeit auf den kulturgestaltenden Aspekt der in Zeichenbildung und -umbildung verstrickten menschlichen Aktivität, indem er verdeutlicht, wie Zeichen bzw. Zeichensysteme soziale und geistige Ordnungen ausprägen. Er thematisiert die Funktionalität und Perspektivität dieser Ordnungen sowie die in den Zeichenprozessen angelegte Differenzierung und Diversifizierung der Kulturbereiche. In diesem Kontext der Analyse der Kulturbildung unter dem Aspekt der Zeichenprägung betont Cassirer wiederholt die menschliche Freiheit – als Freiheit zur Bildung von Zeichen und Zeichensystemen, grundsätzlicher auch als Selbstgesetzgebung. Humanität will er als Selbstbefreiung verstanden wissen. Seine Kulturphilosophie erscheint dadurch moralisch untermauert, schließlich ist die „Selbstbefreiung des Menschen durch Kultur [...] auch ein ethischer Prozeß.“3 Näher interessiert in ethischer 1
Birgit Recki (1997): Kultur ohne Moral? In: Dorothea Frede und Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie. Darmstadt, 72. 2 Oswald Schwemmer (1997): Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin, 128, 130. 3 Ebd., 163.
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Hinsicht daher die Frage, ob Cassirer ethische Grundsätze und Prinzipien der Selbstbefreiung des Menschen nennt und begründet. Diese Frage ist an die Rezeption seiner Philosophie verwiesen, da die explizite Stellungnahme Cassirers hierzu fehlt. Der Begriff der Freiheit ist noch kein moralischer Begriff.4 Zu klären ist, ob und wie der Freiheit Beschränkungen aufzuerlegen sind, um sozial verbindlich Moral abzusichern. Existiert in dieser Hinsicht eine Ethik im Hintergrund der Philosophie Cassirers? Besitzt die Philosophie der symbolischen Formen implizite ethische Forderungen? In diesem Sinne setzt sich der folgende Beitrag mit Cassirers Stellungnahmen zu Moral und Ethik auseinander. Unterschieden werden zwei Weisen, den symbolischen Formen eine ethische Funktion zuzuweisen. Der Beitrag läuft darauf hinaus zu zeigen, dass die Philosophie der symbolischen Formen Grundsätze einer ethisch verantworteten Selbstbefreiung aufweist und der Eindruck der Moralität dieser Philosophie sich nicht vermittelt durch Cassirers Betonung der menschlichen Freiheit einstellt, sondern durch die Form evoziert wird, in der die Philosophie der symbolischen Formen Selbstreflexion anmahnt.
Ethische Dimensionen der symbolischen Formen Zwei Interpretationsansätze Cassirer hat in seiner Auseinandersetzung mit Axel Hägerström 1939 zur Moralphilosophie und Ethik Stellung genommen. Die Streitschrift gibt die klarsten Anhaltspunkte zur ethischen Positionierung Cassirers. Im Anschluss daran haben John Michael Krois und Oswald Schwemmer verdeutlicht, wie Cassirer die Entwicklung von Moral und Ethik in der Kulturgeschichte mit der Entfaltung der symbolischen Formen in Zusammenhang bringt. 5 Aufbauend darauf lag die Hypothese nahe, dass jeder symbolischen Form eine ethische Funktion zuzusprechen ist. 6 Arend Klaas Jagersma spitzte diese Hypothese zu mit der These, jede 4
Recki, 1997, 74. John Michael Krois (1987): Cassirer. Symbolic Forms and History. New Haven and London (siehe dort 142-171) und Schwemmer, 1997, 127-195. 6 Vgl. etwa Recki, 1997, 62; Arend Klaas Jagersma (2003): Der Status der Ethik in der Philosophie der symbolischen Formen. In: Hans Jörg Sandkühler und Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Stuttgart und Weimar, 276-296, hier 281, 291. – Oswald Schwemmer betont, dass jede symbolische Form einen Befreiungsschritt des Menschen einschließe, vgl. Schwemmer, 1997, 129. 5
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symbolische Form weise einen besonderen ethischen Gesichtspunkt auf. Wie zu denken ist, dass die symbolischen Formen verschiedene Dimensionen des Ethischen ausprägen, erläuterte er jedoch nicht näher. Cassirer selbst gibt für diese These keine direkten Anhaltspunkte. Weil die These interessant ist, versuche ich zu zeigen, wie sie im Einklang mit der Philosophie der symbolischen Formen zu explizieren wäre. Es liegen damit zwei Ansätze der Interpretation zur ethischen Dimension der symbolischen Formen vor, die im folgenden näher erläutert werden – eine historische Perspektive, welche die durch symbolische Formen vermittelte Entwicklung von Moral und Ethik in den Blick nimmt, und eine systematische Perspektive, die ethische Gesichtspunkte in den symbolischen Formen aufspürt und danach fragt, ob sich in den symbolischen Formen Einstellungen und Fähigkeiten entfalten, die ethisch bedeutsam sind. Moral und Ethik in der Kulturgeschichte John Michael Krois weist darauf hin, dass wir Cassirers Frage nach der Rolle der symbolischen Formen für die Entwicklung von Moral und Ethik in der Kulturgeschichte falsch verstehen, wenn wir sie als eine Frage auffassen, die ideengeschichtlich oder sozialgeschichtlich zu beantworten wäre. Cassirer setzt sich von einer sozialgeschichtlichen Betrachtung der Ideengeschichte ab. Seine Auseinandersetzung mit Mythos, Religion, Sprache, Kunst, Technik und Wissenschaft als symbolischen Formen ist von der Frage geleitet, welchen Beitrag die jeweilige Form zur Ausprägung der Fähigkeit der Refl exion menschlichen Handelns leistet. Diese Frage ist zugleich ein wichtiger Aspekt zur Charakterisierung und Unterscheidung der einzelnen symbolischen Formen. Es ist der Formaspekt, der Cassirer beschäftigte, nicht die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der konkreten kulturellen Ausprägungen der Formen selbst.
... im Mythos Der Mythos als Lebensform wird von Cassirer durch zwei Merkmale näher bestimmt: Die dem Mythos eigentümliche Form des Denkens zeichnet sich aus durch das Fehlen strikter kategorialer Grenzziehungen. 7 Grenz7
Vgl. dazu Martina Plümacher (2003): Der Mythos – Symbolsystem und Modus des Denkens. In: Hans Jörg Sandkühler und Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Stuttgart und Weimar, 175-190.
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ziehungen wie z.B. zwischen Tier und Mensch, Belebtem und Unbelebtem stabilisierten sich nicht, weil die Idee der Beziehung und Verwandtschaft zwischen allen Formen des Seins die gesetzten Unterscheidungen wieder relativierte. In seiner Spätschrift An Essay on Man spricht Cassirer zusammenfassend von dem mythischen Sinn für ein dem menschlichen Einfluss entzogenes All-Umfassendes, einem Sinn, aus dem heraus sich Demut und Fatalismus entwickeln können, der aber auch ein Gefühl für die Einheit des Lebens und eine Solidarität mit allem Lebenden hervorbringt. 8 Den Mythos kennzeichnete Cassirer jedoch nicht nur durch diese besondere Form oder „Logik des Denkens“. Er hob als ein weiteres Merkmal dieser symbolischen Form die semiotische Ordnung und Regulierung des Sozialen hervor. Die mythische Lebensform beschreibt er als eine durch strenge Rituale bestimmte und durch Tabu-Systeme eingeschränkte Lebensweise, zu der die Angst vor Regelverletzungen gehört. In An Essay on Man charakterisiert Cassirer das Tabu-System als ein System der Verbote, das emotionale Hemmungen (inhibitions) hervorrufe. In diesem Buch thematisiert er die Unmöglichkeit der Entwicklung der Moral in diesem System. Moral kann sich im mythischen System streng regulierten Lebens nicht entfalten, weil diesem der Charakter moralischer Forderungen fremd ist. Die Tabus müssen strikt befolgt werden, da bei Verletzung Unheil droht. Die Vorstellung eines lauernden unbestimmten Unheils erzeugt die Angst. Das System der Riten und Tabus erlaubt keine neuen Handlungsoptionen und keine Wahl zwischen Regelbefolgung und Regelbruch. Es hält Menschen in Passivität.9 Eine entscheidende Veränderung dieser Denk- und Lebensstrukturen vollzieht sich mit der Entwicklung der Religionen: 10
... in der Religion An der Entwicklung des Neuen, der Symbolform Religion, ist für Cassirer zweierlei bemerkenswert: 1. die Personalisierung des Übermenschlichen: Dämonen und Götter erscheinen als Personen bzw. mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet. Bemerkenswert ist 2. die Öffnung zur 8
Vgl. EM, ECW 23, 95, 99. Ebd., 116. 10 Cassirers analytische Trennung der Symbolformen Mythos und Religion bezieht sich auf Unterschiede in der Form des Denkens, die Reflexion zulassen oder blockieren. Ausdrücklich erklärt er, dass sich in der kulturgeschichtlichen Entwicklung eine scharfe Grenzziehung zwischen Mythos und Religionen nicht ziehen lasse. Religionen blieben mit Elementen des Mythos durchsetzt (ebd., 96). 9
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Entscheidungsfreiheit in den Religionen: Als kennzeichnendes Beispiel für eine Wende im Denken führt Cassirer Platon an, der in der Figur des Lachesis dazu auffordert, das mythische Motiv der Prägung und schicksalhaften Bestimmung des Menschen durch einen Dämon preiszugeben und sich statt dessen für die Wahl des eigenen Lebens verantwortlich zu begreifen: „Nicht Euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. [...] Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.“11 In den monotheistischen Religionen erscheint Gott als Richter, dem gegenüber Menschen ihr Handeln zu rechtfertigen haben. Zur moralischen Entscheidung fordern Religionen auf, indem sie die Wahl zwischen wahrem und falschem, rechtschaffenem und verwerflichem Handeln thematisieren.12 Die moralische Begründung der Handlungen wird ermöglicht. Der entscheidende Unterschied zum mythischen Denken besteht demzufolge darin, dass verschiedene Handlungsoptionen sowie Wahl und Entscheidung zwischen ihnen zugelassen sind. Die Religionen eröffneten die Spielräume für die Subjektivität der Gesetzgebung und die Freiheitsgrade im Handeln. Cassirer sieht die Religionen geradezu durch ein Freiheitsideal bestimmt, „for here it is only by freedom, by a self-dependent decision, that man can come into contact with the divine”.13 Es kann sich personale Verantwortung für das eigene Handeln entwickeln. Religionen sind „the expression of a great personal moral will“,14 der sich in der Forderung darstellt, das Handeln an moralischen Idealen zu orientieren. Mit den Religionen entstehen und entfalten sich moralische Ideale, wie z.B. die Idee der Gerechtigkeit.15 Den großen Vorteil der Entstehung der Religionen sieht Cassirer darin, dass sich der Mensch mit ihnen von der Last des erdrückenden TabuSystems befreit. Der passive Gehorsam diesem System gegenüber wandle sich in aktives religiöses Empfinden.16 John Michael Krois hat darauf aufmerksam gemacht, dass Cassirer die neue Dimension der Reflexion, die mit den Religionen entsteht, durch andere symbolische Formen vermittelt sieht – einerseits durch die Technik, andererseits durch die Sprache. Welchen Anteil haben sie an der Ausprägung einer Reflexion des Handelns?
11 12 13 14 15 16
Platon: Politeia, Buch 10, § 149, 617e. – Vgl. PSF II, ECW 12, 202; Krois, 1987, 147. EM, ECW 23, 110. Ebd., 110. Ebd., 109. Ebd., 103, 113. Ebd., 117.
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... geformt durch Technik Der Begriff der Symbolform Technik erstreckt sich nicht nur auf die Anhäufung von Gerätschaften in der Kulturgeschichte. Er steht für die gesamte Praxis der Naturgestaltung mittels Werkzeugen, umfasst Handlungsformen, Kenntnisse und Fertigkeiten der Erzeugung von Produkten und Prozessen. In der zweckorientierten, werkzeugvermittelten Auseinandersetzung mit Natur entwickelt der Mensch ein Gespür sowohl für seine eigenen Kräfte und seinen Einfluss auf Prozesse als auch für die Form der Widerstände, die ihm begegnen. Regel- und Gesetzmäßiges rücken in den Blick.17 Interessant ist die Beobachtung Cassirers, dass in der frühen Kulturentwicklung der Menschheit die Sphäre des Heiligen, der Magie und des Rituals, nicht das gesamte Weltbild erfasste, sondern diese sich auf Bereiche des Lebens konzentrierte, die sich menschlicher Macht entzogen. Bezug nehmend auf den polnischen Anthropologen und Pionier der Ethnologie Bronislaw Kaspar Malinowski betont Cassirer, Ritual und Magie seien als Formen eines Bewusstseins der Grenzen der eigenen Macht zu verstehen.18 Behauptet ist mit dieser Aussage nicht, dass ein Gedanke an die Grenzen der eigenen Macht reflexiv bewusst und Auslöser des Rituals und der Magie gewesen wäre. Die Rede ist hier vom geistigen Horizont des Einsatzes mythischer Praktiken. Cassirer interpretiert den Einsatz der Magie als Versuch, den gefühlten Grenzen der Macht offensiv zu begegnen, in einer Form, die Selbstvertrauen gibt. Denn durch den Einsatz der Magie konnten sich Menschen als Handelnde begreifen und als Mitwirkende im Schauspiel der Natur.19 Im Kontext dieser Überlegungen lässt sich die Magie als eine besondere Form ‚technischen Handelns‘ verstehen. Doch sie fördert nicht den Sinn für spezifische Regel- und Gesetzlichkeiten der Natur. Sie geschieht im Glauben an die Wirkungsmächtigkeit des Tuns, der jedoch nicht regelhaft Erfüllung findet. Die Erprobung der Wirkungsmächtigkeit des eigenen Tuns ist in der werkzeugvermittelten Naturbearbeitung insofern von Erfolgen gekrönt, als sich hier wiederholt Handlungsziele realisieren lassen. 20 In diesem Prozess erwirbt der Mensch sein distanziertes Verhältnis zur Natur und ein genaueres Verständnis für die Bedingungen, die Reich17
Ausführlich geht Cassirer darauf ein in FuT, ECW 17, 139-183. EM, ECW 23, 89. – Vgl. Bronislaw Malinowski (1936): The Foundations of Faith and Morals. An Anthropological Analysis of Primitive Beliefs and Conduct with Special Reference to the Fundamental Problems of Religion and Ethics. London, 34. 19 EM, ECW 23, 94 f., 101. 20 PSF II, ECW 12, 252 ff; FuT, ECW 17, 158 ff. 18
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weite und Grenzen von Handlungen. Die durch technisches Handeln gewonnenen Differenzierungen im praxisbezogenen Wissen haben Folgen für alle Dimensionen des Weltbildes. Cassirer bringt insbesondere die Entstehung des Gedankens des Selbst und der Verantwortlichkeit für die eigene Tat mit der Entwicklung der Symbolform Technik in Zusammenhang. Ein treffliches Beispiel dafür, dass der Gedanke personaler Verantwortung im Bruch mit der mythischen Denktradition gewonnen wurde, findet er in Aischylos Tragödie Agamemnon. 21 Es ist die Geschichte von Klytämnestra, die versucht, für ihren Mord an Agamemnon einen Geist des Hauses verantwortlich zu machen. Doch der Chor hält ihr entgegen, sie habe die Tat begangen, sie habe die Tat als ihre anzuerkennen. Das Beispiel verdeutlicht auch den Punkt, dass die Selbstzuschreibung einer Handlung mit der Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln in einem Zusammenhang steht. Der Sinn für Regelhaftes, der sich im technischen Handeln entwickelt und allmählich das Naturverständnis prägt, bleibt nicht auf Natur als Gegenstand bezogen. Analog zur Natur wird die soziale Welt durch Regeln und Gesetze geordnet gedacht. 22 Es sind zunächst Gesetze, die auf Gott oder Götter zurückgeführt wurden, bis erkannt wurde, dass im Bereich des Sozialen die Gesetze nicht von einer dem Menschen übergeordneten Macht vorgeschrieben, sondern Menschenwerk sind. Das Verständnis für Kausalregeln fördert Formen logischen Schließens, die auch auf Handlungen Anwendung finden. Wenn einmal eine Regel gesetzt ist, betont Cassirer, 23 dann quellen aus der ersten Setzung andere Regelsetzungen, die nicht bloß assoziativ an die erste Regelsetzung geknüpfte, sondern inhaltlich gebundene sind. Dieses Prinzip gelte auch für den Bereich des Wollens, d.h. der Moral: Eine spezielle Regel wird einer allgemeinen zu- und untergeordnet, allgemeine Regeln werden mit Bezug auf Einzelfälle spezifiziert. Cassirer stellt mit solchen Überlegungen zur allgemeinen Form des Denkens einen inneren Zusammenhang her zwischen der Entfaltung naturwissenschaftlichen Denkens und der Entfaltung moralischer Rechtfertigung.
21
PSF II, ECW 12, 233; LDK, ECW 24, 7-36; Krois, 1987, 145 f. – Vgl. Aischylos, Agamemnon. In: Griechische Tragoedien, übersetzt von Ulrich von WilamowitzMoellendorff, Bd. II, Berlin 1900, 1-118, V. 1505 f., S. 107. 22 Vgl. LKW, ECW 24, 357. 23 AH, ECW 21, 64.
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... geformt durch Sprache Den besonderen Beitrag der Symbolform Sprache für die Entwicklung moralischen und rechtlichen Denkens sieht Cassirer in der besonderen Form der sozialen Bindung, die im Sprechen praktiziert wird. Sie eröffnet eine Praxis ethischer Verpflichtung. 24 Die entscheidende Passage dazu findet sich in Cassirers Axel Hägerström: „Die Voraussetzung, daß das einmal gegebene Wort bindet, daß es dem Tun eine bestimmte Richtung vorschreibt, ist eine der Quellen, aus der das »Rechtsbewußtsein« fließt.“25 Die Symbolform Sprache begünstigt die geistige Ablösung von einem hier und jetzt gegebenen Fall, insofern Sprache verallgemeinert. Die Verallgemeinerung enthält eine Orientierung auf die Zukunft, weil sie voraussetzt, dass das Allgemeine auch in Zukunft für den Einzelfall Gültigkeit besitzt. Eine besondere Form der Orientierung auf die Zukunft ist das Versprechen, die Prognose, dass ich, die Sprechende, eine bestimmte Handlung vollziehen werde, weil ich mich an die im Sprechakt gesetzten Auflagen meines Handelns halten werde. Das Versprechen ist in dieser Form Selbstbindung an das einem Anderen gegebene Wort. Versprechen und Erfüllung des Versprochenen sind Grundformen moralischen Verhaltens, auf denen das Recht aufbaut. Für das Recht gilt, dass das Beschlossene nicht nur die Regelung eines besonderen Falls bleibt, sondern für die Zukunft Bestand haben soll. Das rechtlich gesprochene Wort ist gesellschaftlich bindend; es bestimmt den Rahmen der sozial erlaubten und verbotenen Handlungen. Den Setzungscharakter der Sprache stellt Cassirer ausdrücklich in seiner Schrift „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“ heraus: „Der prädikative – der propositionale »Satz« wird zum Vehikel für jene Art und jenen Modus gegenständlicher Setzung, in der ein eigentlichobjektives Weltbild erst entsteht. [...] diese der Sprache innewohnende Kraft zur Vergegenständlichung [...] dient nicht nur dem Aufbau des reintheoretischen Weltbildes; sondern sie erweist sich nicht minder stark in praktisch-ethischer Hinsicht, in der Gestaltung der Willenswelt.“26 Auch Passagen aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) belegen, dass Cassirer der Sprache eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der distanzierten gegenständlich-objektiven Weltsicht einräumt. Er weist dort auf die funktionalen Zuordnungen hin, die das sprachliche Urteil zwischen Dingen bzw. Prozessen und deren Eigenschaften setzt. „Der Satz, 24 25 26
Krois, 1987, 156. AH, ECW 21, 100. SAGe, 132, 134.
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daß der Körper schwer ist, will nicht sagen, daß, sooft ich bisher einen Körper getragen habe, eine bestimmte Tast- und Druckempfindung sich eingestellt habe, sondern er will einen Zusammenhang feststellen, der im Objekt begründet ist und ihm unabhängig vom Zustand dieses oder jenes empfindenden Individuums zukommt.“27 Die über Gegenstände und deren Eigenschaften getroffene Generalisierung beansprucht Gültigkeit nicht nur unabhängig von der subjektiven Erfahrung eines Individuums, sondern auch über das Zeitfenster des Urteilens hinaus. In Axel Hägerström wendet Cassirer diese Feststellung zur These um, dass Sprechen eine Festlegung auf etwas beinhaltet, – eine These, die den Bezug zum Versprechen in der Moral herzustellen erlaubt. Für die Entwicklung der Moral waren darüber hinaus weitere Aspekte der Symbolform Sprache förderlich. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in der sozialen Sprachpraxis Subjekte die Erfahrung machen, eine Person zu sein, die in Beziehung zu anderen Personen steht und wie diese an soziale, gemeinschaftliche Normen gebunden ist. 28 Cassirer entwickelt diesen Gedanken wie folgt: Sprechen ist Ansprechen eines Anderen und Reagieren auf einen Anderen. Die sprachliche Verständigung setzt eine gewisse Übereinstimmung im Wortgebrauch voraus. Doch die vollständige Gleichheit im Wortgebrauch ist illusorisch; das weiß Cassirer mit Humboldt. 29 Durch Sprache entsteht eine Gemeinsamkeit im Denken, aber keine Gleichheit. Denn lebendiges Sprechen ist mehr als eine Reproduktion erlernter sprachlicher Stereotype. Es verlangt den kreativen, individuellen Ausdruck mit Bezug auf die besondere Erfahrung des Sprechenden. Diese Struktur der Sprache leistet Cassirer zufolge einen spezifischen Beitrag zur Herausbildung einer Ich-Du-Beziehung, die sowohl durch Trennendes als auch Bindendes, durch Differenz und Übereinstimmung geprägt ist und in der es darauf ankommt, dass im Fall der fehlenden Übereinstimmung diese willentlich hergestellt wird. Im Willen zur Verständigung und zu einem allgemein gültigen, „objektiv-richtigen“ Sprachgebrauch sieht Cassirer eine erste Form des Willens zur Allgemeinheit und die Bekundung eines Sinns für soziale Normen. Im Sprachgebrauch erfahren Menschen den Grundcharakter der sozialen Bindung und des Normativen. 30 27
SuF, ECW 6, 265. – Vgl. Martina Plümacher (2003): Die Erforschung des Geistes. Cassirers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie. In: Hans Jörg Sandkühler und Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Stuttgart und Weimar, 85-110, hier 92 f.; Martina Plümacher (2004): Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins. Berlin, 324 ff. 28 SAGe, 140, 146 f. 29 Ebd., 146 f. 30 Ebd., 141.
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... geformt durch Wissenschaft Ethisches Denken – eine neue Reflexionsstufe, die wissenschaftliche Reflexion auf Moralität – entwickelt sich Cassirer zufolge zusammen mit der Herausbildung der Wissenschaft, der Systematisierung von Erkenntnissen und Reflexion auf Wissen und Wissensgrundlagen. Diese neue Form des Denkens fördert im Bereich des Moralischen die Verallgemeinerung von Prinzipien und die Idee der Systematisierung der Moral. Aufschlussreich für diesen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Ethik ist wiederum Cassirers Axel Hägerström. In seiner Auseinandersetzung mit Hägerström, dem Verfechter einer emotiven Interpretation der Moral, unterstreicht Cassirer die Dimensionen der Theoriebildung im moralischen Denken. Diese werden herausgefordert, sobald Einzelfälle im Lichte von Grundsätzen zu beurteilen sind. Dann ist die Herstellung einer Ordnung im Denken gefordert. Die konkrete Konfliktlösung wird zum Anlass einer Generalisierung des Urteils zu einem allgemeinen Prinzip, das Gültigkeit für alle gleich gelagerten Fälle beansprucht, das sich auch in den entsprechenden Einzelfallentscheidungen zu bewähren hat. Schon in der Form, in der moralische Streitfragen im alltäglichen Leben aufgeworfen und behandelt werden, zeigt sich die theoretische Dimension moralischer Argumentation. Werden die allgemein bekannten Prinzipien der gelebten Moral anerkannt, dann handelt es sich in den strittigen Fällen „darum, von konkreten Einzelfällen festzustellen, in welcher Weise sie sich unter diese oder jene Grundsätze subsumieren lassen.“31 Für diese Subsumption werden eine innere Konsequenz, Kohärenz und Konsistenz gefordert. Gleiche Fälle sind gleich zu behandeln und dazu sind die Kriterien für einen allgemeinen Fall zu bestimmen, zum Beispiel für Mord im Unterschied zur Tötung eines Angreifers im einem Akt der Selbstverteidigung. Die ethische Reflexion kann sich Cassirer zufolge in dem Maße entfalten, wie sich der Sinn für den hypothetischen Zusammenhang von Voraussetzungen und Folgerungen schärft, der für Wissenschaft charakteristisch ist. 32 In der Naturwissenschaft wird die Gültigkeit bestimmter Prämissen oder Axiome vorausgesetzt, um davon ausgehend Folgerungen abzuleiten, gemäß dem Prinzip, dass wenn die postulierte Voraussetzung gilt, dann auch die mit ihr verknüpften Folgerungen. In dieser Form des Denkens liegt eine Aufforderung zur Systematisierung der Erkenntnis, nämlich zur ‚Arbeit‘ an den Grundsätzen und Prinzipien, d.h. zur kritischen Reflexion auf diese und mögliche Alternativen. Vergleichbares 31 32
AH, ECW 21, 63. Ebd., 63.
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findet in der Ethik statt, insofern sie die in gelebter Moral anerkannten Grundsätze und Prinzipien im Hinblick auf deren Folgerungen entfaltet und kritisch hinterfragt auf die Gültigkeit und Reichweite ihrer Geltung. Cassirer sieht das Problem, dass die bloße Feststellung einer Setzung – etwa im Ausgang von einer gelebten Moral – zum Aufbau einer ethischen Theorie unzureichend ist, weil sie in einen moralischen und kulturellen Relativismus führt. 33 Daher weist er auf die philosophische Ethik hin, die sich in der Antike entwickelte. Sie nahm Gegebenes und Überliefertes nicht fraglos hin, sondern forderte Begründungen, die kulturübergreifende Gültigkeit beanspruchen können. Ihr Systematisierungsstreben zielte auf universelle Prinzipien und Maßstäbe. Cassirers Ausführungen dazu, wie eine kulturübergreifende Position zu gewinnen sei, weisen eine gewisse Analogie auf zu seiner Darstellung der systematisierenden Vereinheitlichung von Erkenntnissen in der physikalischen Theoriebildung. In der Physik konnten wichtige Vereinheitlichungen der Theorie stattfinden, indem im Prozess der ‚Tieferlegung der Fundamente‘ ein Zusammenhang zwischen zunächst als getrennt betrachteten Bereichen hergestellt wurde, wie beispielsweise die Verknüpfung magnetischer und elektrischer Erscheinungen in Maxwells Theorie des Elektromagnetismus. 34 In Axel Hägerström argumentiert Cassirer Bezug nehmend auf Herodots berühmtes Beispiel für kulturell bedingte Unterschiede der Sitten, es gelte über das kulturell und moralisch Trennende hinweg ein Gemeinsames zu erkennen, um allgemeine kulturübergreifende Regeln aufstellen zu können. 35 Bezogen auf Herodots Beispiel bedeutet dies abzusehen von Abscheu und Empörung, welche die Sitten im Umgang mit den Toten in der Außenperspektive auslösen, um den Ahnenkult als ein die Kulturen verbindendes Prinzip zu erkennen. Für Cassirer ist die Suche nach grundlegenden Gemeinsamkeiten der Kulturen das Prinzip der Findung allgemeiner Regeln der Moral. Im Blick sind damit zunächst Grundsätze und Regeln, die kulturspezifische Auslegungen erlauben. Das Problem der transkulturellen Anerkennung der kulturspezifischen Auslegungen ist damit nicht gelöst. Zur Anerkennung kultureller Differenz gehört, dass die unterschiedlichen Auslegungen aus Gründen anerkannt werden können. 36 33
Ebd., 67. Plümacher, 2004, 342 f. – Vgl. Karl-Norbert Ihmig (1997): Hilberts axiomatische Methode und der Fortschritt in den Naturwissenschaften. Zu Cassirers Wissenschaftsphilosophie. In: Enno Rudolph und Ion O. Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft. Hamburg, 63-91; Christiane Schmitz-Rigal (2002): Die Kunst des offenen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik. Hamburg. 35 AH, ECW 21, 64 f. 36 Vgl. Martina Plümacher (2000), Pluralismus und Toleranz. In: Martina Plü34
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Die drei Prinzipien einer Systematisierung der moralischen Argumentation, deren Entwicklung Cassirer in der antiken griechischen Philosophie ansetzt, gehören eng zusammen: 1. die Bindung der Rechenschaftslegung des Handelns an universelle Prinzipien, 2. die Erforschung der Gründe für Prinzipien, 3. die Orientierung an der Idee der Einheit von Zielsetzungen. 37 Die Einheit von Zielsetzungen oder Einheitlichkeit einer Moral ist eine Forderung des systematisierenden Denkens, die in der Erfahrung nicht adäquat erfüllbar ist, auch deshalb nicht, weil in der Entwicklung der Gesellschaften neuartige moralische Konflikte auftreten, deren Lösung Änderungen im Gefüge der moralischen Urteile und Prinzipien notwendig machen. Kant nimmt Cassirer zufolge in der Entwicklung der wissenschaftlich-kritischen Reflexion eine besondere Stellung ein, weil er den Gedanken der Selbstgesetzgebung der Erkenntnis und des Willens entfaltet. 38 Nachdrücklich weist Kant auf die konstruktionalen Aspekte der theoretischen Systematisierung hin und fordert als Bestandteil wissenschaftlichen Systematisierens die kritische Reflexion der Ordnungen und ihrer Grundlagen, d.h. Selbstreflexion, Reflexion der Methodologie, Reflexion der moralischen Prinzipien und Gesetze.
Dimensionen des Ethischen in den symbolischen Formen Die dargelegten Stellungnahmen Cassirers zu Moral und Ethik verdeutlichen die Funktion, die er verschiedenen symbolischen Formen für die Entwicklung von Moral und Ethik in der menschlichen Kulturgeschichte zuschreibt. Für die weitergehende These von Arend Klaas Jagersma, 39 die symbolischen Formen prägten verschiedene ethische Gesichtspunkte aus, fehlen direkte Anhaltspunkte in den Aussagen Cassirers. Als ein indirekter Anhaltspunkt mag gelten, dass Cassirer die symbolischen Formen als geistige Perspektiven oder „Richtungen des Denkens“ begreift, die auf jeden Gegenstand anwendbar sind und diesen unterschiedlich ‚formen‘.40
macher, Volker Schürmann und Silja Freudenberger (Hg.): Herausforderung Pluralismus. Festschrift für Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt/Main, 255-266; Martina Plümacher (2004): Toleranz oder Anerkennung? In: Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer (Hg.): Interkulturelle Orientierung. Grundlegung des Toleranz-Dialogs. Teil II: Angewandte Interkulturalität. Nordhausen, 149-163. 37 AH, ECW 21, 67-76. 38 Vgl. KLL, ECW 8; FF, ECW 7, 159 f., 165 ff.; Jagersma, 2003, 287. 39 Jagersma, 2003, 281, 291. 40 MoS, ECW 25, 37: “[I]t is a common characteristic of all symbolic forms that
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Folgen wir dieser Aussage, dann ist zu fragen, welche verschiedenen Gesichtspunkte oder Dimensionen des Moralischen oder Ethischen durch symbolische Formen belebt und gefördert werden. Ich versuche im Folgenden zu zeigen, wie im Sinne der cassirerschen Philosophie diese Frage beantwortet werden könnte.
Der Mythos als Modus des Denkens Die Symbolform Mythos ist von Cassirer nicht nur als das komplexe Symbolsystem ritueller Handlungen und Erzählungen verstanden worden, von dem Überlieferungen zur Kultur der frühen Menschheit und ethnologische Berichte über das Leben der ‚Naturvölker‘ berichten. Cassirer hat den Mythos insbesondere im dritten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen als eine geistige Funktion charakterisiert, die nicht an archaische Kulturen gebunden ist und mit ihnen ausstirbt.41 Als geistige Funktion oder ‚Modus des Denkens‘ existiert die Symbolform Mythos weiter in einer besonderen Weise der Wahrnehmung, die Cassirer auch als „Ausdruckswahrnehmung“ beschreibt. Für sie ist das affektive Element im Perzeptiven charakteristisch. Wahrnehmende werden vom Wahrgenommen emotional ergriffen, sie distanzieren das Wahrnehmungsobjekt nicht. Dies ist der Fall etwa, wenn die Stimmung eines Raumes erlebt wird oder die Gestimmtheit einer Person direkt körperlich erfahrbar wird. Die habitualisierte Distanzierung des Wahrgenommenen, die sich zur regulären Form der Wahrnehmung entwickelte, wird dabei aufgebrochen.42 Gestehen wir Cassirer dieses Argument zur besonderen Form der Wahrnehmung zu, dann lässt sich die These vertreten, dass die Symbolform Mythos – in der auf Wahrnehmung reduzierten Form – das Mitgefühl für andere Lebewesen stimuliert, das eine wichtige Triebkraft moralischen Handelns ist. Das Mitgefühl lässt sich zwar nicht auf Affektion, ein emotionales Ergriffenwerden, reduzieren, insofern Überzeugungen eine nicht unwesentliche Rolle dafür spielen, wem gegenüber und in welcher Hinsicht Mitleid empfunden werden darf. Überzeugungen scheinen die Fähigkeit zum Mitleid zu formen und zu überformen. Mitleid hat insofern auch eine kognitive Dimension. Mit dieser wichtigen Einschränkung lässt sich das Mitleid als ein natürlicher Affekt bezeichnen, der wethey are applicable to any object whatsoever.” Auf diese Textstelle weist auch hin: Recki, 1997, 69. 41 Ausführlich dazu: Plümacher (2003): Der Mythos. Symbolsystem und Modus des Denkens, 175-190. 42 PSF III, ECW 13, 83, vgl. 16 f., 67 f.
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sentlich dazu beiträgt moralische Motivation aufzubauen und zu stabilisieren. Die Ethikerin Ursula Wolf betont diese Rolle des Mitleids mit dem Argument, Mitleid ermögliche, dass es mir um das Wohl und Wehe eines anderen ebenso gehen kann, wie um mein eigenes.43 Wichtig wird dies für das moralische Handeln gegenüber all jenen, die sich nicht, noch nicht oder nicht mehr artikulieren können. Gestützt auf Kant weist Cassirer richtig darauf hin, dass Gefühle, so die Nächstenliebe, als Affekt verstanden nicht zum Inhalt eines Gebots gemacht werden können.44 Wer Gefühlen wie Nächstenliebe oder Mitleid eine moralische Bedeutung zuschreibt, ist jedoch nicht auf die Behauptung festgelegt, sie seien Ursprung moralischer Prinzipien. Es sind im Kern zwei Argumente, die dafür sprechen, die Gefühle für moralisches Handeln und in der Ethik nicht zu unterschätzen: 1. Ohne eine Basis im Gefühl erscheint die Verpflichtung auf Prinzipien weniger zwingend. 2. Gefühle beeinflussen die Interpretation moralischer Konflikte. Man denke hierbei etwa an Probleme der Entscheidung, wie ein bestimmter Einzelfall mit Prinzipien in Verbindung zu bringen ist, welche Prinzipien dabei eine Rolle spielen, wie sie zu interpretieren sind und welchen Prinzipien Vorrang vor anderen einzuräumen ist. Heute wird im Kontext der Medizinethik der so genannten Ethics of Care die Aufgabe zugeschrieben, diese Rolle von Empathie und Mitgefühl im Pflegebereich und in der ärztlichen Beratung zu explizieren.45
Die Sprache Zur Klärung der Frage, ob und welche Dimensionen des Moralischen durch die Symbolform Sprache ausprägt und unterstützt werden, ist an sprachphilosophische Arbeiten zu erinnern, die Prinzipien verdeutlichten, die dem Sprechen selbst eingelagert sind und im moralischen Handeln eine wesentliche Rolle spielen, wie das Prinzip der Anerkennung des Anderen und Prinzipien der Kooperation. 43
Ursula Wolf (1997): Haben wir eine moralische Verpfl ichtung gegen Tiere? In: Angelika Krebs (Hg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt/Main, 47-75, 62. 44 AH, ECW 21, 69 f. – Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1. Teil, 1. Buch, 3. Hauptstück), Akad.-Ausg. Bd. 5, 83: „[Liebe] gegen den Menschen kann [...] nicht geboten werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben.“ 45 Vgl. Tom L. Beauchamp und LeRoy Walters (2003): Introduction to: Tom L. Beauchamp und LeRoy Walters (Hg.) (2003), Contemporary Issues in Bioethics. Belmont, 18 f.
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Die Anerkennung des Anderen als ein Grundzug des Sprechens hat Cassirer mit Humboldt herausgestellt. Der Gedanke ist prägnanter von Fichte entwickelt worden. Axel Honneth erinnert daran: Schon in der Anrede durch Andere sehen sich Individuen als Vernunftwesen herausgefordert, genauer: zu einer vernünftigen und selbsttätigen Reaktion. In dieser Aufforderung können sie sich als Personen, die zur vernünftigen Reaktion fähig sind, durch den Sprechenden wahrgenommen sehen.46 Die Anerkennung der Urteilsfähigkeit des Anderen ist die Grundlage für den zivilisierten Streit. Das gilt auch für den Streit über gemeinsam zu verantwortende Lösungen für moralische Konflikte. Gemeinsam zu verantwortende Problemlösungen zu finden erfordert zudem wechselseitigen Respekt nicht nur im Hinblick darauf, Argumente ernst zu nehmen und die Urteilsfähigkeit des Anderen anzuerkennen. Eine wichtige Bedingung sind Toleranz und Respekt gegenüber anderen Grundpositionen. Denn, vorausgesetzt, dass eine letztendliche inhaltliche Übereinstimmung in allen moralischen und ethischen Fragen nicht zu haben sein wird, ist man gut beraten, einen moralischen Pluralismus bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Folglich hat man zu prüfen, inwieweit inhaltliche Übereinstimmung im Detail möglich ist und wo Differenzen unüberwindbar bleiben. Unter Anerkennung von Differenz sind dann gemeinsame Lösungen zu finden. Diese sind nicht zuletzt auch aus pragmatischen Gründen unverzichtbar, man denke etwa an den begrenzten Zeithorizont, der zur Entscheidungsfindung in der Regel zur Verfügung steht. Eine basale Form, in der ein derartiger Respekt gegenüber den Grundpositionen Anderer eingeübt wird, ist das Gespräch, in dem Verstehen im Prozess der Nachfrage und Diskussion vertieft wird. Dass Kommunikation Kooperation impliziert, hat Paul Grice in seinen sprachphilosophischen Arbeiten deutlich gemacht.47 Unter den Maximen der Kooperation, die er formuliert, sind insbesondere zwei Maximen, denen moralische Relevanz zugeschrieben werden kann: 1. Die Maxime der Wahrhaftigkeit ist die Grundlage dafür, dass sich Gesprächspartner 46
Axel Honneth (2001): Die transzendentale Notwendigkeit der Intersubjektivität (Zweiter Lehrsatz: § 3). In: Jean-Christophe Merle (Hg.): Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts. Berlin, 63-80, 75. – Vgl. zur diesbezüglichen Interpretation Fichtes: Klaus Kahnert (1997): Sprachursprung und Sprache bei J.G. Fichte. In: Christoph Asmuth (Hg.): Sein - Reflexion - Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Amsterdam und Philadelphia, 191-219, 199 f.; Martina Plümacher (2004): Selbstbilder – eine öffentliche Angelegenheit? In: Pawel Dybel und Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Der Begriff des Subjekts in der modernen und postmodernen Philosophie. Frankfurt/Main, 9-28, 13 f. 47 Paul Grice (1989): Logic and Conversation. In: Paul Grice: Studies in the Ways of Words. Cambridge, Mass., 1-143.
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auf die Informationen des Anderen verlassen können. 2. Die Maxime der Konzentration auf Relevantes sollten Sprechende beherzigen, um ihren Adressaten die Erkenntnis zu erleichtern, worauf es ihnen ankommt. Die Adressaten wiederum haben diese Maxime zu berücksichtigen, wollen sie möglichst punktgenau der Sprecherintention entgegenkommend und taktvoll reagieren. Auch in diesen Prinzipien prägen sich Formen der Anerkennung des Anderen aus. Grice verdeutlichte, dass die Kooperationsprinzipien zum Sprachspiel gehören. Sie können jederzeit verletzt werden, sind aber für das Sprachspiel als Ganzes nicht preiszugeben. Bezug nehmend auf diese sprachphilosophischen Explikationen dessen, was im Sprechen und in Kommunikation impliziert ist, kann gesagt werden, dass die Symbolform Sprache Einstellungen und Fähigkeiten ausprägt, die sowohl für die Klärung moralischer Streitfälle im Alltag als auch für die Klärung des Streits in der Ethik sowie für das Finden gemeinsam zu verantwortender Konfliktlösungen kardinal sind.
Die Kunst Die Symbolform Kunst versteht Cassirer als eine Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Form, insbesondere auch mit den emotionalen Wirkungen. Prägt diese „Richtung des Denkens“ Einstellung und Fähigkeiten aus, die für moralisches Handeln wesentlich sind? Ich meine, ja. Die verschiedenen Künste schärfen den Sinn für Formen und feine Unterschiede in der Form. In moralischen Kontexten ist die Form der Handlung oftmals entscheidend für die Interpretation der Handlungsabsicht durch andere. Beispielsweise wissen bereits viele Tiere zu unterscheiden zwischen einer Verletzung, die ihnen nicht-intentional, versehentlich zugefügt wurde, und einer Verletzung aus Absicht. Die Verletzung aus Absicht ist eine moralische Verletzung,48 die andere lediglich ein Unfall oder Versehen. Erstere wird als Kränkung empfunden, letztere hat keinen Bezug zur Moral. Tiere erkennen den Unterschied womöglich über eine Form der Ausdruckswahrnehmung im oben beschriebenen cassirerschen Sinn. Bei Menschen spielen feinste Unterschiede in der Form des Nonverbalen eine Rolle für die Einschätzung, ob eine Handlung wohlwollend oder kränkend ist. Verletzung und Anerkennung der Würde des Menschen ist zuweilen eine Frage von Takt und Stil. Dies weist gerade darauf hin, dass Formfragen in moralischen Kontexten Bedeutung haben, folglich auch 48
Axel Honneth (1997): Anerkennung und moralische Verpfl ichtung. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), H. 1, 25-41.
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die Kultur der Form, für die insbesondere die Künste sensibilisieren können. Die Kultur der Form ist ein Teil der gelebten Moral und entfaltet sich auch in ihr. Ihre Thematisierung wird im Zuge der Professionalisierung einzelner Bereiche wichtig, man denke etwa an die Entwicklung und Professionalisierung des Pflegebereichs, in dem die Frage, wie die Würde der pflegebedürftigen Menschen zu achten ist, sich in vielen Fällen als eine Frage der Form der Behandlung und Ansprache der Menschen erweist.
Die Technik Im technischen Denken rückt das realisierbar Mögliche in den Blick.49 Es gilt optimale Lösungen für technische Probleme bzw. Handlungsziele zu finden. Dabei dreht sich alles um die Frage, wie die eingesetzten Mittel verbessert oder durch neue und bessere ersetzt werden können. Als selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass die technischen Mittel verbesserungsfähig und austauschbar sind. Für das technische Denken ist das Spiel mit Lösungsvarianten charakteristisch. 50 Die diesem Denken inhärente Perspektivität ist auch in zahlreichen moralischen Konfliktlagen gefordert und oft von enormer Wichtigkeit. Häufig sind moralische Konflikte nicht allein ethikimmanent durch die Klärung der Fragen zu lösen, wie der spezielle Fall unter allgemeine Prinzipien zu subsumieren ist oder wie die Abwägung zwischen konkurrierenden Prinzipien richtig zu treffen ist. Ein in der angewandten Ethik debattiertes Problem ist die Realisierbarkeit der Prinzipien. In der Medizinethik beispielsweise gilt als ein Prinzip der Entscheidung in Konflikten, dass die betroffenen Patienten aufgeklärt durch ärztliche Information letztlich über den medizinischen Eingriff oder dessen Unterlassung entscheiden. Die autonome Entscheidung der Patientin oder des Patienten ist jedoch ein Ideal, das nicht vollständig realisiert werden kann. Daher sind Maßnahmen und Mittel zu bedenken, die dazu beitragen, dass sich Personen diesem Ideal annähern können. Aus einer Reihe möglicher Lösungen für dieses Problem gilt es die unter den gegebenen Bedingungen optimalen Maßnahmen zu bestimmen. Moralische Konfliktlösung erfordert zumeist nicht nur die theoretische, im engeren Sinn ethische Dimension der Reflexion, sondern auch ein praktisches, dem technischen Denken verwandtes Denken.
49
FuT, ECW 17, 176. Hans Poser (2008): Herausforderung Technik. Ethische, ontologische und epistemologische Fragen. In: Hans Poser (Hg.): Herausforderung Technik. Frankfurt/ Main, 13-29. 50
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In der angewandten Ethik spielen darüber hinaus auch originär technische Fragen eine zunehmende Rolle. Neue Techniken haben nicht nur neue ethische Problemlagen entstehen lassen. Die Bestimmung der ethischen Probleme erfordert vielfach bereits spezielle technische Fachkenntnis und Wissen über die Auswirkungen einer konkreten Technikanwendung. Wissen über technische Alternativen ist in den oft schwierigen ethischen Abwägungsfragen gefordert. Insofern hat der durch die Symbolform Technik geschulte Sinn für Praktikables und dessen Optimierung eine moralische und ethische Relevanz. Auf diesen Sinn kommt es insbesondere an, wenn es zur Lösung moralischer Konflikte gilt, die Maßnahmen und Techniken in ihren Auswirkungen abzuschätzen und das optimale Vorgehen unter Beachtung ethischer Grundsätze zu finden.
Die Wissenschaft Wie oben dargestellt prägt Cassirer zufolge die Wissenschaft den Sinn für Systematisierung und Vereinheitlichung der Urteile und entsprechende theoretische Fähigkeiten aus. Zusammen mit der Entwicklung der Wissenschaft konnte sich die philosophische Ethik entwickeln, die nach den Gründen für Prinzipien und Grundsätze in der gelebten Moral forscht, Prinzipien verallgemeinert und universelle Grundlagen zu legen sucht. Ethik ist wissenschaftliche Reflexion auf gelebte Moral. Im Geist der Wissenschaft und der Ethik werden Kohärenz und Konsistenz in den Begründungen erstrebt; die Orientierung auf universelle Grundsätze und Prinzipien entspringt dem Streben nach der Herstellung eines möglichst umfassenden Zusammenhangs verschiedener Bereiche. Zum wissenschaftlichen Denken gehören die Tugenden der Selbstkritik, der selbstkritischen Reflexion auf Theoriebildung sowie der Offenheit für die Pluralität der Methoden und Theorien. Die Symbolform Wissenschaft prägt demzufolge Ethik aus und stützt das ethische Denken, d.h. das wissenschaftliche, philosophisch reflektierte Denken in moralischen Fragen. Dieses erweitert die Möglichkeit enorm, den moralischen Streit diszipliniert zu führen, insbesondere wenn er über Kulturgrenzen hinaus zu führen ist. Die ethische Forschung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung über moralische Positionen und deren Konsequenzen. Sie hilft damit grundlegend, moralische Entscheidungen zu verantworten.
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Ein Fazit Wie gezeigt, hat Cassirer selbst deutlich gemacht, wie verschiedene symbolische Formen in der kulturhistorischen Entwicklung zur Herausbildung von Moral, moralischer Reflexion und Ethik einen Beitrag leisteten. Unbeantwortet ließ er die nahe liegende, in der Cassirerforschung schließlich aufgeworfene Frage, ob die symbolischen Formen Gesichtspunkte oder Richtungen des Denkens ausprägen, die in Kontexten der Moral konstruktiv zum Tragen kommen. Ich meine gezeigt zu haben, dass es Ansatzpunkte gibt, die symbolischen Formen als Richtungen des Denkens zu verstehen, die im Bereich der Moral unterschiedliche, zur moralischen Konfliktlösung wichtige Fähigkeiten und Dimensionen der Reflexion ausbilden und stimulieren. Deutlicher als in der kulturhistorischen Reflexion auf den Beitrag der symbolischen Formen für die Entwicklung moralischer Reflexion wird von dieser Seite der Betrachtung her verständlich, wie die symbolischen Formen interagierend zur Kultur menschlichen Denkens und Handelns beitragen. Wichtig zu bemerken ist hierbei, dass ‚symbolische Formen‘ im cassirerschen Sinne nicht primär gesonderte Kulturbereiche bezeichnen, sondern auch und vor allem Richtungen sowie Formen des Denkens. Wie am Beispiel der Moral gezeigt, werden Handlungsfelder durch das Zusammenspiel verschiedener Richtungen und Formen des Denkens ‚kultiviert‘, d.h. es werden Problemstellungen in verschiedenen Dimensionen dieser Handlungskomplexe entfaltet.
Freiheit und Verantwortung Cassirer akzentuiert seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen Positionen des Realismus mit der These, die der Welt Struktur verleihenden Begriffe und Kategorien der Erkenntnissubjekte seien nicht durch die Natur vorgegeben, sondern Resultat der strukturierenden Erkenntnistätigkeit. Auch die Wahrnehmung sei keine passive Abbildung der Welt, sondern eine grundlegend strukturierend wirkende kognitive Aktivität. Seine diesbezüglichen Argumente hat Cassirer ausführlich in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) niedergelegt. Die Philosophie der symbolischen Formen expliziert darüber hinaus zwei weitere Thesen, zum einen die These, dass menschliche Erkenntnis wesentlich eine zeichenbildende Aktivität ist, zum anderen die These, dass die symbolischen Formen verschiedene Formen der Erkenntnis und der Erkenntnisperspektiven ausprägen. Cassirer betont wiederholt die autonome Spontaneität des Geistes und „schöpferische Tätigkeit des Bewusstseins“, weil die Ordnungen der
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Welt, wie sie für den Menschen ist, an der zeichenbildenden Aktivität hängen. Die menschliche Welt ist eine in Zeichenprozessen gestaltete Welt. Die Ordnungen sind nicht vorgegeben und insofern autonom gesetzt. Alle Schriften Cassirers, so verschieden sie im Thema sind, weisen uns darauf hin, dass keine Ordnung unverrückbar ist. Alles, was gegeben erscheint, trägt Momente der Gestaltung durch Erkenntnissubjekte. Gegen erkenntnistheoretische Positionen des Realismus akzentuiert Cassirer die Freiheit der Gestaltung dieser Ordnungen und die Selbstgesetzgebung, die dabei im Spiel ist. Cassirer ist jedoch keineswegs der Verfechter einer absoluten Freiheit, einer Freiheit ohne Einschränkung. Gegen den Konventionalismus in der Wissenschaftstheorie, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete, wendet er sich ausdrücklich. 51 Denn Erkennen bedeute eine Ordnung herzustellen und darin sei sie gebunden an das „System der Wahrnehmungen“. Mit Pierre Duhem argumentiert Cassirer, dass die systematische Geschlossenheit der Erklärungen als Ziel der Erkenntnis auf verschiedenen Wegen verfolgt werden kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Theorie im Einklang mit Beobachtungen und Messdaten aufzubauen oder eine zur Empirie in Widerspruch geratene Theorie erneut den Beobachtungen anzupassen. Im Blick ist bei Cassirer die Freiheit zur Erkenntnis, auch zur Selbsterkenntnis, eine Freiheit zum Entwurf neuer Erkenntnisperspektiven, zu neuen Regeln und Ordnungen, die Probleme auflösen helfen. Er schärft den Sinn für die Grade der Freiheit in der Weiterentwicklung von wissenschaftlicher Theorie, von Künsten, von Moral und Ethik. Er akzentuiert die auf kulturell bedeutsame Zwecke bezogene Funktionalität der Gestaltung. Cassirer argumentiert nicht für Schöpfungen aus dem Nichts. Er überspannt auch nicht das Kreativitätsideal, indem er die Hervorbringung des Neuen zu einem höchsten Wert erklärt. Seine Explikationen der menschlichen Freiheit und Kreativität sind eigentümlich zurückhaltend. Sie beschreiben Neuschöpfungen im Kontext der Fragen und Probleme, die ältere Schöpfungen aufwerfen, sowie die Relevanz der Reflexion auf axiomatische Setzungen und Postulate, die den Rahmen für Theoriebildung und Handlung abstecken. Sie verdeutlichen die Entfaltung der menschlichen Reflexionsfähigkeit in der Geschichte der Kultur und der Erkenntnis. Cassirers Argumentationsstil ist deutlich zu markieren im Blick auf Argumente, die Cassirer sich versagte oder die ihm gar nicht erst in den Sinn kamen. Ausgehend von seiner Grundthese, der schöpferischen Tä51
SuF, ECW 6, 203. – Vgl. Plümacher (2004): Wahrnehmung, Repäsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, 340.
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tigkeit des Bewusstseins, hätte Cassirer zum Beispiel in seiner Philosophie der Wahrnehmung die menschliche Fähigkeit zur Phantasie und zu eigensinnigen Wahrnehmungsurteilen herausstellen können, um die Freiheit der Gestaltung in diesem durch biologische Funktionen gefesselten Bereich zur Geltung zu bringen. In seiner Wissenschaftsphilosophie hätte er, wie später z.B. Paul Feyerabend, 52 plädieren können für die Vervielfältigung von Theorien, um die Möglichkeiten zum wissenschaftlichen Fortschritt auszureizen, und für die ‚anarchistische‘ methodologische Regelverletzung als einem Prinzip zur Generierung neuer Theoreme und Theorien. Derartige Überzeichnungen der menschlichen Freiheit und schöpferischen Energie finden sich bei ihm nicht. Seine Verdeutlichung der konstruktionalen Dimensionen des Erkennens und der Gestaltung der Kultur zielt ab auf eine Anleitung zur Reflexion darauf, was, warum, unter welchen Prämissen und Maßstäben als geltend gesetzt wird. Denn sind die Bedingungen und Grundlagen von Setzungen bekannt, dann eröffnen sich Möglichkeiten der Korrektur und es erschließen sich Alternativen. Die Selbstbefreiung, die Cassirer fordert, 53 bedeutet die Befangenheit in den eigenen Schöpfungen zu transformieren in eine Befreiung, die darin besteht, Korrekturen anbringen und die Schöpfungen verantworten zu können. ‚Verantwortung‘ ist ein Schlüsselbegriff der Moralität. Verantwortung übernehmen zu können bedeutet, Rechenschaft geben zu können über die Gründe der Entscheidung für eine bestimmte Handlung oder Problemlösung. Um dazu in der Lage zu sein, muss man wissen, dass überhaupt etwas zur Wahl stand, dass folglich eine Entscheidung getroffen wurde. Man muss die Bedingungen und Kriterien der Entscheidung benennen können. Indem Cassirer in seinen Schriften die Freiheit verdeutlicht zur Wahl von Prinzipien und zur Konstruktion von Ordnungen – der Ordnungen sowohl im Bereich der Erkenntnis als auch im Bereich praktischen Lebens –, verdeutlicht er die Dimensionen des Verantwortbaren. Das Wissen um Grundlagen der Gestaltung und des zu Entscheidenden schafft nicht nur die Möglichkeit zur Übernahme von Verantwortung. Mit dem Wissen ist die moralische Forderung zur Verantwortung verbunden. Wer weiß, was er tut, kann sich nicht herausreden, wenn er zur Rechenschaft gezogen wird. Indem die Philosophie der symbolischen Formen die Dimensionen der Selbstgesetzgebung in den verschiedenen Bereichen der Kultur aufzeigt, stellt sie die Forderung, Kultur, Wissen 52
Paul K. Feyerabend (1975): Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge. Minneapolis. 53 EM, ECW 23, 244.
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und Wissensordnungen zu reflektieren als zu verantwortende menschliche Schöpfungen. Sie fordert in diesem Sinn zur Übernahme von Verantwortung heraus. Nicht nur der Gestus der cassirerschen Philosophie ist daher moralisch. Moral ist auch nicht nur ein intentionaler Hintergrund ihrer Argumente. Sie fordert die reflektierte Setzung von Ordnungen und die reflektiere Anerkennung von Setzungen, weil Menschen nicht nur die Freiheit zur Gestaltung, sondern auch die Freiheit zur Reflexion ihrer Gestaltungen offen steht. Cassirer spricht von der Selbstgesetzgebung des Menschen zwar durchaus auch in einem nichtmoralischen Sinne: Menschen sind zur Selbstgesetzgebung gezwungen, weil Gesetze und Regeln nicht durch die Natur oder Gott vorgegeben werden. Der moralische Sinn der Selbstgesetzgebung entsteht durch die Möglichkeit der Reflexion auf die Bedingung und die Grundlagen der Gesetze und Regeln sowie die daraus erwachsenen Konsequenzen und die Möglichkeit der Abwägung von Alternativen. Weil es Menschen möglich ist, Verantwortung zu übernehmen, kann sie eingeklagt werden. Cassirer lenkt in der Philosophie der symbolischen Formen auf Dimensionen der Verantwortung für Kultur, die kaum in den Blick genommen sind von Ethiken, die sich die Explikation und Systematisierung gelebter Moral zur Aufgabe gemacht haben. Insbesondere drei Dimensionen dieser Verantwortung werden in der Philosophie der symbolischen Formen formuliert: 1. Die symbolischen Formen bilden verschiedene menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten aus, die kultiviert und eingesetzt werden können für ein gelingendes Zusammenleben der Menschen. Cassirer weist darauf hin, dass jede symbolische Form konstruktiv zur menschlichen Kultur beiträgt, wenn sie am Zweck der verantworteten Gestaltung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens ausgerichtet wird. Dass es für diese Ausrichtung der Kultur an Maßstäben des kultivierten, dem Einzelnen Lebens- und Schaffensraum gewährenden Zusammenlebens der Menschen keinen historischen Automatismus gibt, hat Cassirer nachdrücklich in The Myth of the State (1946) am Beispiel des Faschismus thematisiert. Wer kann für die Ausrichtung der Kultur Verantwortung tragen? Die Entwicklung der Kultur ist keine Sache eines obersten Kulturwächterkomitees. Sie wird auch nicht hinreichend gesteuert durch die Ausformulierung und Entwicklung der Menschenrechte. Sie ist ein Thema, dem sich vornehmlich Berufsethiken stellen müssen. 2. In der Entwicklung der Kulturen ist immer wieder neu der Geltungsbereich der verschiedenen symbolischen Formen und der ihnen zugeordneten Bereiche menschlicher Aktivität zu bestimmen. Cassirer
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macht in seiner Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen auf die Kulturkonflikte aufmerksam, die dadurch entstehen, dass sich einzelne Bereiche zu behaupten suchen, indem sie den Wert und Erkenntnisanspruch anderer Erkenntnisformen negieren und ihren Bereich der Zuständigkeit ungerechtfertigt ausweiten. Das Problem ist nach wie vor aktuell, man denke nur an den Streit innerhalb der Wissenschaften darüber, für welche Fragestellungen eine Disziplin zuständig und verantwortlich sein kann. Cassirer plädiert für die Pluralität der Erkenntnisformen und Erkenntnisperspektiven, weil jede einen eigenen und begrenzten Beitrag zum Ganzen der Kultur und des Wissens leistet. Die Grenzen der Zuständigkeit richtig zu bestimmen, gehört zur Übernahme von Verantwortung für das, was zu leisten machbar ist. 3. Die Einsicht in die „‚Mehrdimensionalität‘ der geistigen Wirklichkeit“54 verpflichtet zur Anerkennung des Erkenntnisanspruchs der verschiedenen Erkenntnisformen und Erkenntnisperspektiven und zur Beschränkung ihrer jeweils spezifischen Zuständigkeiten. Doch damit ist nur eine Seite dieser Einsicht in die Mehrdimensionalität der geistigen Wirklichkeit formuliert. Wenn Wirklichkeit mehrdimensional voll entfaltet werden soll, gilt es auch, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu bestimmen, dass Vielgestaltiges sein Potential entfalten kann. Man denke etwa an strukturbildende Wissenschafts- und Kulturförderung, die das Entwicklungspotential einzelner Bereiche hemmt oder befördert. In Verantwortung für die Vielgestaltigkeit der Zugänge zur Wirklichkeit sollte sie beachten, dass Entwicklungspotentiale allseitig erhalten bleiben und entfaltet werden können.
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Christian Bermes
„Das Ausdrucksproblem greift tief in das Gebiet der Ethik ein...“ Expressivität und Personalität bei Cassirer Einführung Wird man mit der Bemerkung konfrontiert, dass es eine spezifische „Spontaneität“ gebe, „die das scheinbar Unmögliche verwirklicht, die heterogene Elemente zusammenfasst und eine Vielzahl von Monaden zu einem einzigen Gewebe von Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Kultur einigt“ und dass die Feststellung eben dieser Spontaneität gleichzeitig „den Grund einer Sittenlehre“ lege,1 so könnte der ein oder andere Leser der cassirerschen Schriften den Neukantianer hinter solch einer Bemerkung vermuten. Wird diese Spontaneität nämlich als Formgebung bzw. Gestaltung begriffen, so erinnert man sich an den Hinweis Cassirers in seiner Schrift zur Naturalistischen und Humanistischen Begründung der Kulturphilosophie, dem gemäß das Ethos der Humanität nicht etwas Bestimmtes innerhalb einer spezifisch sittlichen Form ist, sondern etwas Bestimmbares, das alle Formung fundiert. Was Herder, Goethe, Schiller und Kant unter dem Begriff der Humanität suchten, liegt nach Cassirer nicht „innerhalb der Grenzen der sittlichen Form“, es erstreckt sich „vielmehr auf jegliche Gestaltung überhaupt, gleichviel in welchem besonderen Lebenskreise sie sich vollziehen mag“. Denn es ist die Auszeichnung des Menschen, dass er „in der Fülle der äußeren Eindrücke nicht einfach aufgeht, sondern daß er diese Fülle bändigt, indem er ihr eine bestimmte äußere Form aufprägt, die letzten Endes aus ihm selbst, aus dem denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt herstammt“. 2 Und eben diese Spontaneität könnte man im Anschluss 1
Maurice Merleau-Ponty (2003): Schrift für die Kandidatur am ‚Collège de France‘ (1951/52). In: Ders. Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hg. v. C. Bermes. Hamburg, 99-110, hier: 110: „Das Studium der Wahrnehmung konnte uns lediglich eine ‚schlechte Ambiguität‘, eine Mischung von Endlichkeit und Universalität, von Innerlichkeit und Äußerlichkeit offenbaren. Im Phänomen des Ausdrucks liegt indes eine ‚gute Ambiguität‘ vor, d.h. eine Spontaneität, die das scheinbar Unmögliche verwirklicht, die heterogene Elemente zusammenfaßt und eine Vielzahl von Monaden zu einem einzigen Gewebe von Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Kultur einigt. Die Feststellung eben dieses Wunders wäre die Metaphysik selbst und das könnte gleichzeitig den Grund einer Sittenlehre (morale) legen.“ 2 NHBK, ECW 22, 154.
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an das Eingangszitat als Grundlage einer philosophischen Ethik verstehen, da die Formgebung bzw. Gestaltung nicht auf einen Bereich der menschlichen Wirklichkeit beschränkt ist, sondern auf die Welt der Wirklichkeitsformung als Kosmos praktischer Wirklichkeitsgestaltung ausgedehnt werden muss und dementsprechend jede Praxis qua Formgebung moralisch aufgeladen ist. Doch hinter dem Eröffnungszitat, worin eine Spontaneität thematisiert wird, die als Grundlage der Ethik angesehen werden muss, steht gerade nicht Cassirer. Es handelt sich um eine kleine Passage, die Merleau-Ponty im Winter 1951/52 im Zuge seiner Berufung an das Collège de France verfasst hat, und die einmalig in seinem Werk ist. Spricht er doch hier davon, dass seine philosophischen Schriften, in denen man direkt keine ausformulierte Ethik finden kann, sehr wohl eine Ethik begründen können, ja mit Blick auf eine Ethik verfasst sind. Und man gerät sowohl bei Merleau-Ponty als auch bei Cassirer in die Verlegenheit zu sagen, was denn genau das Ethische dieser Überlegungen ausmache. Denn beide Philosophen geizen mit einer explizit fi xierten Moralphilosophie. Wir finden bei beiden keine ausgearbeitete Konzeption einer philosophischen Ethik. – Es könnte allerdings auch sein, dass wir nach einer Ethik suchen, die beide Autoren bereits ad acta gelegt haben, dass wir den Bereich des Ethischen und die Ausgangsfrage für eine Ethik mit Cassirer neu fassen müssen. Und so wird ein Ziel meiner Ausführungen genau in diesem Sinne darin bestehen, die Frage zu suchen und zu bestimmen, auf die die cassirersche Kulturphilosophie als Ethik eine Antwort geben kann. Erst wenn diese Frage fi xiert und als grundlegend begriffen ist, kann Cassirers Kulturphilosophie in ihrer moralphilosophischen Relevanz erschlossen werden. Doch die Verwicklungen in dem hier angedeuteten deutsch-französischen Gespräch zwischen Merleau-Ponty und Cassirer verdichten sich bis hin zu einem Staunen, wenn man zusätzlich in Rechnung stellt, dass Merleau-Ponty die Spontaneität, die er zu erforschen sucht und der Ethik zugrunde legen möchte, genauer fasst, indem er sie als Ausdruck begreift. Es ist die spezifische Spontaneität des Ausdrucks, die bei Merleau-Ponty die Begründungsfunktion für eine Ethik einnimmt. Verblüfft ist man dann, wenn man auf eine Bemerkung Cassirers aus einem Nachlasstext stößt, der wohl im Umfeld der Überlegungen zu den Basisphänomenen entstanden ist, ca. 1936/37 verfasst wurde und im Band 3 der Nachgelassenen Manuskripte und Texte unter dem schlichten Titel Ethik aufgenommen wurde. Dort heißt es, und wenn ich die Schriften Cassirers recht überblicke, so explizit wie gleichzeitig einmalig, dass ebenso der Ausdruck als eine ausgezeichnete Spontaneität die „conditio
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sine qua non“ der Ethik sei. Cassirer eröffnet seine Überlegungen in dem fraglichen Manuskript mit dem Satz: „Das ‚Ausdrucksproblem‘ greift tief in das Gebiet der Ethik ein – denn es ist eine notwendige Basis für den ethischen Begriff der ‚Persönlichkeit‘.“3 Vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Ausdruck und Ethik und dem Problem, welche Frage der cassirerschen Kulturphilosophie als Ethik zugrunde liegt, entwickeln sich meine folgenden Überlegungen, die auf die These hinauslaufen, dass in Cassirers Philosophieren eine ethische Reflexion im Sinne einer Selbst-Artikulation zu finden ist. Mit dem Begriff der Artikulation, so will ich zeigen, werden zwei moralphilosophische Fragen kurzgeschlossen, die bei Kant differenziert werden. Es handelt sich erstens um die explizit moralphilosophische Frage Was soll ich tun? Und es ist zweitens die implizite, jedoch darum nicht weniger moralphilosophische Frage Was ist der Mensch? 4 Eine Ethik der Artikulation antwortet auf beide Fragen zugleich und ineins, indem die Differenz zwischen Sein und Sollen unterlaufen wird und das Subjekt sich artikulieren muss, um überhaupt eine Person sein zu können. Der Begriff der Artikulation, den Cassirer zuweilen auch benutzt, jedoch nicht in dem Sinne, wie ich ihn hier verstehen möchte, bedeutet also mehr als Ausdruck. Während Ausdruck im cassirerschen Sinne Formung schlechthin bedeuten kann und nicht auf die Sprache bezogen sein muss, sondern sich auch präkogitativ, als sinnliche Welterschließung ereignet, und damit sowohl Selbst- als auch Weltformung, oder besser: Selbst-in-der-Weltformung bedeutet, meint Artikulation zugleich und zusätzlich die Aufklärung dieser Form im Sinne eines Einverständnisses in die eigene Form und Formung. Dies heißt, dass der Artikulation das spezifische Moment der Anerkennung und Aufklärung zukommt. Wer sich artikuliert, kommt zu sich selbst, indem ein ausgedrücktes Werk konstituiert wird, das er – und dies ist das spezifische Moment der Artikulation, welches es auch an die Sprache bindet – anerkennt als seine Form. Wer etwas sagt, spricht nicht nur über etwas, er spricht immer 3
ECN 3, 196: „Das ‚Ausdrucksproblem‘ greift tief in das Gebiet der Ethik ein – denn es ist eine notwendige Basis für den ethischen Begriff der ‚Persönlichkeit‘ – es konstituiert zwar keineswegs den Begriff, der auf ganz anderen Voraussetzungen aufgebaut ist – aber es macht ihn erst ‚zugänglich‘; es ist die conditio sine qua non für seine Anwendung u[nd] Anwendbarkeit“. 4 Vgl. hierzu ebenfalls die Bemerkungen in dem Nachlassfragment Geschichte der Philosophischen Anthropologie, ECN 6, 3-155, wo Cassirer u.a. darauf hinweist, dass die Frage der philosophischen Anthropologie „von Anfang an ein doppelte Bestimmung“ beinhaltete, „eine Bestimmung des Seins und eine Bestimmung des Sollens“ (6) und dass in diesem Sinne „jede philosophische ‚Anthropologie‘“ „aufs nächste“ mit der Ethik verbunden sei (5).
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auch von sich in seiner Lebensform. Diese doppelte Eigenart der Artikulation, die sprachlich gebunden ist, beinhaltet die Anerkennung von Überzeugungen, sie stellt keine bloße Syntax der Personalität dar, die auf bestimmte Prinzipien reduziert werden könnte (etwa Denken oder Bewusstsein). Sie präsentiert sich vielmehr als eine dicht gewebte Semantik des Person-Seins. Wollte man Vorläufer für diesen Begriff der Artikulation finden, so würde man bei Humboldt, Dilthey, aber auch Hegel fündig werden, der in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ausführt, dass die Sprache „nicht sowohl auf einer auf äußere Objekte sich beziehenden als auf innerer Symbolik, nämlich der anthropologischen Artikulation gleichsam als Gebärde der leiblichen Sprechäußerung“ beruht. 5 Sprache als Darstellung gelesen, doch als Ausdruck verstanden, bedeutet Artikulation als Aufklärung der Form des Lebens im Sinne der eigenen menschlichen Lebensform. Als innere Symbolik gleicht sie nach Hegel einer Gebärde, die die Formung als je eigene Formung erkennt und sie damit bedeutsam werden lässt. Die Philosophie der symbolischen Formen, so die Hintergrundüberzeugung meiner Ausführungen, ist in diesem Sinne eine Philosophie der artikulierten Vernunft, einer Vernunft, die sich ausdrückt, die sich manifestieren bzw. verkörpern muss und sich über die Sprache in diesem Ausdruck aufklärt, indem sie sich darin wiedererkennt. Oder noch deutlicher: Kultur bedeutet Artikulation im Sinne des An- und Wiedererkennens im Ausdruck, und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen stellt die Mittel bereit, diese Artikulation zu vollziehen und zu begreifen. Kulturkrisen sind dementsprechend Artikulationskrisen, und wenn ich recht sehe, kann man unsere derzeitige Auseinandersetzung mit anderen Kulturen am besten als eine solche Artikulationskrise beschreiben. Ausdruck und Anerkennung des Ausdrucks als des eigenen sind auseinandergetreten, und die Vernunft stottert, sie erweist sich in unseren Tagen nicht selten als eine inartikulierte Vernunft. 6 5
G.W.F. Hegel (1995): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. In: Ders. Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 10, 3. Aufl., Frankfurt/M., 272, § 459. Hegel diskutiert hier das „Elementarische“ der Sprache, das er von dem „Formellen“ abzugrenzen sucht. Es soll an dieser Stelle in erster Linie auf den angeführten Gedanken Hegels abgezielt werden, ohne die komplexe Struktur im Ganzen zu übernehmen – auch wenn es sich lohnen würde, eine detaillierte Diskussion zwischen Hegel und Cassirer zu diesem Punkt in Angriff zu nehmen. 6 Auf etwas durchaus Ähnliches macht auch Wittgenstein mit folgender Bemerkung aufmerksam. Ludwig Wittgenstein (2007): Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M., 18. Aufl., § 242: „Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Defi nitionen, sondern (so
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Diese Hintergrundüberzeugung will ich nur nennen, erläutern und spezifizieren kann ich indes an dieser Stelle nur das Konzept einer Ethik als Selbst-Artikulation im Anschluss an Cassirer. Dies will ich angehen, indem ich erstens kurz auf einige bedeutende Positionen eingehe, die in der Auseinandersetzung mit Cassirer das ethische Moment seiner Philosophie der symbolischen Formen zu bestimmen suchen. In einem zweiten Abschnitt soll der durchaus unentschlossene und damit offene Gedankengang Cassirers in dem bereits zitierten Manuskript thematisiert werden, um in einem dritten Abschnitt auf Kant zu sprechen zu kommen. Hier wird es darum gehen, das Phänomen der Artikulation, für das von ihm angedeutete, jedoch nie durchgeführte Projekt einer anthropologischen Ethik in Anschlag zu bringen. Der letzte Abschnitt wird dann genau vor diesem Hintergrund noch einmal Cassirers Überlegungen aufgreifen, um im Ausgang von einer Bemerkung aus dem Nachlasstext Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion das Potential einer Ethik als Selbst-Artikulation zu skizzieren.
Cassirers vielsagendes Schweigen zur Ethik In den letzten Jahren sind mit Blick auf Cassirers ungeschriebene Ethik gewichtige Untersuchungen vorgelegt worden. Wenn ich im Folgenden nicht alle vorliegenden Studien detailliert referieren kann, sondern einzig auf einige ausgewählte thematische Schwerpunkte zu sprechen komme, um das Problemfeld zu konturieren, so liegt es nicht zuletzt daran, dass die bereits erarbeiteten Interpretationen nicht ersetzt, sondern ergänzt werden sollen. Doch eines wird sich bereits zu Beginn deutlich zeigen: Cassirers Kulturphilosophie steht nicht jenseits der Ethik. Allerdings wird die Ausgangsfrage für eine Ethik von ihm nicht genannt. Wenn etwa Cassirer 1939 in seiner Auseinandersetzung mit Hägerström darauf verweist, dass er diese Diskussion zum Anlass genommen habe, seine eigene Grundanschauung der Philosophie der symbolischen Formen „schärfer zu fassen und sie auf neue Gebiete anzuwenden“, er seine „Gesamtauffassung der ethischen und rechtsphilosophischen Probleme hier viel ausführlicher behandelt, als es in [seinen] früheren Schriften, die vor allem der theoretischen Philosophie gelten, geschehen ist“, 7 so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.“ Wenn wir nicht in bestimmten Urteilen über unsere Lebensform als die unsere übereinstimmen, kann auch keine Defi nition der Lebensform weiterhelfen. Diese Urteile kommen in der Sprache zum Ausdruck, ohne dass sie explizit zur Darstellung kommen müssen. 7 AH, ECW 21, 7.
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liegt es nahe, innerhalb des cassirereschen Denkwegs von einer Wende zu sprechen, von einer Wende der „Kulturphilosophie zur Ethik“. 8 Freilich darf diese Wende nicht als eine Hinwendung zu etwas verstanden werden, was zuvor inexistent war oder gänzlich ausgeblendet wurde. Würde dies doch bedeuten, die Kulturphilosophie als ein moralneutrales Gebilde zu begreifen und „den ausgesprochen engagierten Grundton“ zu übersehen, „der das gesamte Cassirersche Werk durchzieht“.9 Wenn dieser Ton die Musik der Philosophie der Philosophie der symbolischen Formen macht, dann erscheint sie als „eine zwar theoretisch formulierte, aber praktisch interessierte Philosophie der menschlichen Selbstbefreiung oder als eine Philosophie der menschlichen Verantwortungsfähigkeit und damit als eine in ihrem Gesamtsinne praktische Philosophie“.10 Die theoretische Konstruktion eines Moralsystems hat Cassirer vielleicht vergessen, vielleicht hat er es auch nicht für nötig erachtet. Doch das Aufzeigen eines „moralischen Impulses“, der als Akt der Objektivierung bei ihm auftritt und „ein über sich Hinausgehen im Wirken bis zur Schaffung eines Werkes und zugleich eine Selbstbindung und Selbstbeschränkung in die Form des Wirkens und des Werkes verlangt“11 – dies kann man ihm wohl nicht absprechen. Und dann erscheint Kultivierung als Moralisierung, die selbst wieder nur durch Kultivierung möglich ist.12 Die „stark ethische Komponente“13 zeigt sich auch in Cassirers Philosophie der Zeit und der Verschränkung von Bewusstseinszeit und kultureller Zeitgestaltung, bei der Cassirer zu der „Entdeckung und Akzentuierung der Zukunft“ als einer entscheidenden „Kulturleistung des Menschen“ gelangt: „Die Bedeutung der Zukunft – z.B. in den großen monotheistischen Religionen, zumal den Prophetenreligionen, erstmals 8
Vgl. John Michael Krois (1987): Cassirer. Symbolic Forms and History. New Haven/London, 152: „… is that Cassirer’s thought had taken that very turn. Following the publication of The Philosophy of Symbolic Forms, the center of his work becomes moral philosophy”. Vgl. ebenso den Abschnitt ‚Cassirers Jahre in Göteborg/Schweden (1935-1941)‘ und ‚Die Wende der Kulturphilosophie zur Ethik‘, in: Heinz Petzold (1995): Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie. Darmstadt, 157-190. Zwar spricht Graeser nicht von einer ‚Wende zur Ethik‘, doch auch er nimmt Cassirers Überlegungen aus dem Jahr 1939 zu Hägerström zum Anlass, über eine mögliche Ethik Cassirers zu sprechen – und zwar im Sinne einer symbolischen Form; vgl. Andreas Graeser (1994): Ernst Cassirer. München, 108 f. 9 Oswald Schwemmer (1997): Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin, 127. 10 Ebd., 130. 11 Ebd., 173 f. 12 Ebd., 172: „Als resümierende These bietet sich daher an: ‚Kultivierung‘ ist ‚Moralisierung‘, und Moralisierung ist nur durch ‚Kultivierung‘ möglich.“ 13 Ernst Wolfgang Orth (1996): Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Würzburg, 23.
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greifbar – führt zur Internalisierung und damit zur Entwicklung von Ethos und Verantwortung.“14 Konzentrierte man sich also auf Cassirers Analysen zu Hägerström, käme dies einer Unterbewertung der früheren Arbeiten gleich, insbesondere der Arbeiten zu Kant, während zugleich die Gefahr einer Überbewertung einer einzigen, vielleicht zufällig entstandenen Schrift gegeben sei.15 Denn das Irritierende scheint bei einer Gesamtübersicht des Werkes gerade nicht darin zu bestehen, dass kontingenterweise eine Schrift unter dem Titel der Ethik fehlt, auch müssen wir nicht nach einer Schatztruhe fahnden, in der ein vierter oder fünfter Band der Philosophie der symbolischen Formen zur Ethik als einer symbolischen Form versteckt liegt, es scheint demgegenüber die „hohe praktische Appetenz“ der cassirerschen Philosophie zu sein, die irritiert und die zu dem Ergebnis führen kann, dass der cassirersche „Ausgang von der Praktizität alles Menschlichen, mit dem im Grunde alle prägnanten Äußerungen schon als Form der Selbstbestimmung begriffen sind, „zu einer Melange von Theoretischem und Praktischem führen und damit eine eigentlich moralische Fragestellung oder eine eigenständig ausformulierte Ethik „im Ansatz steckenbleibt“.16 14
Ebd., 23. Birgit Recki (1997): Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte. In: Dorothea Frede, Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie. Darmstadt 1997, 58-78, hier: 66: „Man unterschätzt die Einsichten, die der Autor der Schrift über Kants Leben und Lehre bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte, wenn man hier erst seine ‚Wende zur Ethik‘ sieht – man überschätzt die Gelegenheitsarbeit über Axel Hägerström, die im schwedischen Exil ersichtlich aus Urbanität geschrieben ist, wenn man hier gar Cassirers eigene Ethik vermutet. Diese eigene Ethik hat er nie geschrieben.“ 16 Ebd., 78: „Was eine Ethik auf der Grundlage von Cassirers Kulturphilosophie an der konsequenten begriffl ichen Entwicklung hindert, ist nicht der mangelnde Sinn für das Praktische oder ein Mangel an praktischen Begriffen; es ist im Gegenteil gerade die hohe praktische Appetenz: der Ausgang von der Praktizität alles Menschlichen, mit dem im Grunde alle prägnanten Äußerungen schon als Form der Selbstbestimmung begriffen sind, so daß die spezifische Differenz der moralischen Fragestellung freilich – im Ansatz steckenbleibt.“ Vgl. hierzu ebenfalls Birgit Recki (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin, 164: „Auf die Frage, woran es dann liegt, daß Cassirers nachdrücklich betontes Interesse am Moralisch-Praktischen nicht mehr zu Buche schlägt, kann es nachdem damit die naheliegenden systematischen Hinderungsgründe durchgespielt und ausgeschlossen sind, nur noch eine Antwort geben: Weil dieses Interesse immer schon auf eine Weise zu Buche geschlagen hat, die eine angemessene systematische Würdigung in der Folge unmöglich zu machen scheint. Der Impuls zur praktischen Selbstbestimmung nämlich fi ndet sich in der großen Kulturanthropologie von Anfang an so begriffen, daß freilich das Moment ihrer normativen Orientierung begriffl ich im Vagen bleiben muß. Es gilt somit zu verstehen, daß und wie Cassirers gesamte Kulturphilosophie praktisch fundiert und ethisch bedeutsam ist.“ – Zur Immanenz der Moralphilosophie im kulturphilosophischen Konzept bei Cassirer vgl. auch Jürgen Habermas (1997): 15
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Nach diesem Überblick über die aktuellen Diskussionen im Anschluss an Cassirer, der natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, kann es nicht mehr darum gehen, die Kulturphilosophie jenseits der Ethik zu situieren. Sie ist durch und durch moralphilosophisch gestimmt. Doch es bleiben zwei wichtige Problemfelder bestehen: Erstens die Suche nach der Ausgangsfrage dieser Grundstimmung: Worauf, auf welche Frage genau, antwortet Cassirer mit seiner Kulturphilosophie, wenn man sie als Ethik verstehen möchte? Und zweitens die Frage nach der Art der Antwort: Wie kann die Kulturphilosophie als eine Ethik gelesen werden? Mit diesen Problemen will ich mich im Weiteren beschäftigen, um die vorliegenden Interpretationen zu ergänzen, vielleicht zu pointieren und auszubauen – weniger um sie zu kritisieren oder zu ersetzen. Dabei soll gezeigt werden, dass Cassirer mit Kant über Kant hinausgeht – und zwar so weit, dass es zu einer Reformulierung der praktischen Philosophie Kants kommt, zu einer Weiterführung, die darin zu suchen ist, dass das Konzept der Selbstartikulation in das Zentrum rückt.
Wo liegt die Grenze der Ethik? Cassirer als Kantinterpret Schaut man sich das Manuskript, von dem zu Anfang die Rede war, genauer an, so wird ersichtlich, wo Cassirer sich von Kant unterscheidet. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wolle Cassirer Kant nur ergänzen oder erweitern, vielleicht – wie so häufig – auch nur verständlicher machen, indem er darauf verweist, was auch schon in anderen Schriften zu finden ist,17 dass der Begriff der Person aufgrund von Ausdruckserlebnissen zugänglich ist, und diese Ausdruckserlebnisse dem Begriff der Person seine Anwendung garantieren: „Nur an das, was ausdrucksmäßig als ‚Person‘ (nicht als blosse ‚Sache‘) bestimmt ist, kann sinngemäß die
Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg. In: Frede/Schmücker (1997), 79-104, hier: 101: „Das spröde Pathos der Vernunftmoral gibt den Schriften Cassirers ein unverkennbares Profi l. Um so mehr hat es erstaunt, daß diese normativen Gestalten des Geistes, also Recht und Moral, oft Erwähnung, aber im systematischen Aufbau der symbolischen Formen keinen ausgewiesenen Platz fi nden. Auch die einzige größere Abhandlung zu diesem Thema, eine im schwedischen Exil geschriebene Studie zur Philosophie von Axel Hägerström, enthält nicht mehr als eine Verteidigung des deontologischen Ansatzes gegen nonkognitivistische Auffassungen der Moral. Offensichtlich war Cassirer der Meinung, daß die Philosophie der symbolischen Formen als solche einen moralischen-praktischen Gehalt hat, der die Ausarbeitung einer eigenständigen Ethik erübrigt.“ 17 Vgl. etwa PSF II, ECW 12, 209 f.
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ethische Forderung ergehen.“18 Denn auf dem Grund einer Zurechnung „liegt immer ein Ausdruckserlebnis – wir betrachten das einzelne Tun nicht als isoliertes Geschehen, das irgendwie räumlich u[nd] zeitlich in einem Hier u[nd] Jetzt erfolgt, d.h. in diesem Hier u[nd] Jetzt aufgeht – wir sehen es (‚symbolisch‘) als Ausdruck eines Charakters.“19 Der Charakter erscheint Cassirer als die „umfassende Ausdrucks-Kategorie“. 20 Verkörpert sich doch im Charakter das Leben als ein wertvolles Leben, als ein inkarniertes Ereignis, in dem nicht einfach Wert und Wirklichkeit miteinander partes extra partes verbunden sind, sondern dessen Wirklichkeitsstatus selbst einen Wert darstellt. „Wo immer wir Leben (ausdrucksmäßig) erkennen, müssen wir auch seinen Wert ‚anerkennen‘.“21 Leben erscheint so nicht als „ein Komplex sinnlich-aufzeigbarer ‚Merkmale‘ – es ist ein reines u[nd] typisches Ausdrucksphaenomen.“22 Doch Cassirer kommt auch in dem fraglichen Manuskript auf die Scheidung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis zu sprechen. Diese Scheidung bleibe „in der Tat bestehen“, nur dürfe „sie nicht metaphysisch“, sondern müsse „methodisch verstanden werden“. 23 „Wir sehen in der Tat nicht das bloß Getane, Gewirkte, die ‚faktischen‘ Veränderungen der Dingwelt, wir blicken durch sie hindurch auf den Täter – es erscheint uns in ihr [der Tat] das Ich – als ein nicht-physisches, sondern ‚übersinnliches‘ intelligibles“. 24 Und dann erscheint der „Mensch als ‚freie‘ Persönlichkeit“, er „spricht uns nicht nur an – wir erheben Anspruch auf ihn (– wir betrachten ihn als Glied in einem ‚Reich der Zwecke‘) wir machen auf ihn Anspruch, wie er auf uns“. 25 Nimmt man diese Ausführungen Cassirers beim Wort, so scheint er eine Fundierung der kantischen Ethik anzusprechen, sodass aufgrund der Ausdruckserlebnisse das Feld der Ethik sondiert und konturiert wird, um aufbauend auf dieser dann ersichtlichen Wertwirklichkeit eine dann übersichtliche Ethik begründen zu können. Doch dies ist nur der erste Eindruck, das Typoskript selbst bleibt unentschieden, es endet aporetisch. Denn Cassirer ordnet hier den kantischen Ansatz nicht etwa über andere Konzeptionen, sondern neben andere, die das Ausdrucksphänomen mehr oder weniger allein fokussieren. Fast lapidar schreibt er, nach-
18 19 20 21 22 23 24 25
ECN 3, 196. Ebd., 197. Ebd., 197. Ebd., 198. Ebd., 198. Ebd., 197. Ebd., 197. Ebd., 199.
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dem er den kantischen Ansatz skizziert hat: „Aber es giebt auch eine andere Ansetzung.“26 Das Manuskript kommt hier zu keinem endgültigen Urteil. Und man könnte an diesen komprimierten und konzentrierten Ausführungen Cassirers all das demonstrieren, was als Problem bei Cassirer mit Blick auf die Ethik festgestellt wurde. Doch dieses Problem lässt sich nicht einfach lösen, es markiert vielmehr eine Offenheit, die sich auch darin ausdrückt, wenn Cassirer feststellt: „Wo die Grenze des Ethischen beginnt – das läßt sich freilich nicht eindeutig festlegen.“27 Vor diesem Hintergrund der Offenheit lohnt es sich, auf Kant einzugehen und einen Ansatzpunkt ausfindig zu machen, von dem aus die cassirersche Indifferenz in diesem Fragment verständlich wird, aber von dem aus ebenso das Projekt einer Ethik der Selbst-Artikulation begriffen werden kann. Denn man könnte diese Offenheit des Fragments mit einem Schlag sanieren, wenn der Begriff der Artikulation ins Spiel gebracht würde. Dann nämlich würde die Seinstypik des expressiven Charakters mit dem Sollensanspruch eines freien Subjekts in der Weise versöhnt, dass sich in der funktionalen Artikulation allererst eine Person konstituiert, die ein Selbst sein kann. Denn schaut man sich die cassirerschen Überlegungen in diesem Fragment genau an, so wird deutlich, dass die Indifferenz letztendlich darauf zurückzuführen ist, dass seine ethischen Überlegungen den oder die Anderen im Blick haben, jedoch nicht dasjenige Selbst, das einem Anderen begegnet. Genau dieses Selbst aber gilt es zu klären.
Kants ungeschriebene Ethik und die Artikulation des Menschen Eine Grenze, die Kant deutlich markiert, ist diejenige zwischen Ethik und Anthropologie. So heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: „Daher ist die Metaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird.“28 Und in der Metaphysik der Sitten ist zu lesen: „Das will so viel sagen als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“29 Und schließlich erfährt man in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass „alle Moral, die zu ihrer Anwendung auf Menschen der Anthropologie bedarf, zuerst unabhängig von dieser als reine Philosophie, d.i. als Metaphysik, vollständig 26
ECN 3, 197. Ebd., 197. 28 Immanuel Kant ( 21787): Kritik der reinen Vernunft. Akad.-Ausg. Bde. 3/4, B 869 f. 29 Ders. (1797): Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. Bd. 6, 216. 27
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(welches sich in dieser Art ganz abgesonderter Erkenntnisse wohl thun läßt) vorzutragen“30 sei. Es ist nun nicht nötig, auf die bekannte Argumentation Kants einzugehen, wonach unter den von ihm diagnostizierten Bedingungen der empirischen Erfahrung keine Grundlegung der Ethik möglich ist. Auch will ich an dieser Stelle das in den letzten Jahren, insbesondere seit dem Erscheinen von Band XXV der Akademie-Ausgabe, wieder aufgeflammte Interesse an der kantischen Anthropologie nicht eigens diskutieren, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass die bekannten Argumente keine anthropologische Ethik ausschließen. Im Gegenteil, sie scheint nach Kant möglich, wenn der Begriff der Anthropologie spezifiziert und das Gesamtprojekt der kantischen Philosophie inklusive ihrer unerfüllten Perspektiven mit in Rechnung gestellt wird. So öffnet Kant durchaus den Horizont auf eine Überschreitung seiner zum Teil strikten Grenzziehungen. Er bemerkt 1781 in einem Brief an Marcus Herz im direkten Anschluss an die Kritik der reinen Vernunft Folgendes: „Schwer wird diese Art Nachforschung immer bleiben denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik und gleichwohl habe ich einen Plan in Gedanken nach welchem sie auch Popularität bekommen kann die aber im Anfange da der Grund aufzuräumen war übel angebracht gewesen sein würde zumal das Ganze dieser Art der Erkenntnis nach aller seiner Articulation vor Augen gestellt werden mußte“. 31 Nimmt man diesen Plan auf (ohne den hier genannten Begriff der ‚Artikulation‘ im Sinne von Gliederung zu strapazieren), so kann er auch zur Entschlüsselung der allseits bekannten vier Fragen führen, die Kant an verschiedenen Stellen formuliert. In der sogenannten Jäsche-Logik finden sich bekanntlich die berühmten vier Fragen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Metaphysik, Moral, Religion und Anthropologie, so führt Kant aus, beantworten die Fragen. Hinzugefügt wird jedoch, dass man „im Grunde“ „aber alles dieses zur Anthropologie rechnen“ könne, „weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen“. 32 Während in der Kritik der reinen Vernunft nur die drei ersten Fragen genannt werden, 33 so werden in einem Brief an Stäudlin vom 4. Mai 1793 von Kant wieder alle vier Fragen aufgelistet: „Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbei30
Immanuel Kant (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg. Bd. 4, 412. 31 Immanuel Kant: Brief an Marcus Herz (nach dem 11. Mai 1781). Akad.-Ausg. Bd. 10, Nr. 153, 252. 32 Immanuel Kant (1800): Logik (Jäsche-Logik). Akad.-Ausg. Bd. 9, 25. 33 Ders., 11781, 21787, B 832.
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tung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jährlich ein Collegium gelesen habe).“34 Die Frage, die sich insbesondere aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts stellt, betrifft die Art der Beziehung der vierten Frage auf die drei vorangehenden. Natürlich scheint Kant an dieser Stelle etwas anzudeuten, was im Übergang zum 20. Jahrhundert dringlich geworden ist: die Gründung der Philosophie auf Anthropologie. Doch man kann mit Recht bezweifeln, dass Kant hier eine Anthropologie im Auge hat, wie Scheler, Plessner oder Gehlen sie später formulieren werden. Was Kant im Sinn gehabt haben könnte, wird eher dadurch angedeutet, dass in der Jäsche-Logik die Fragen eingeleitet und verortet werden mittels des Hinweises, dass es sich nunmehr um die „Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung“ handelt, dass also die drei angeführten schulphilosophischen Fragen im methodischen Ansatz der Anthropologie als einer Philosophie dem Weltbegriffe nach auf den Punkt gebracht werden können. Stellt man dies in Rechnung, und vergegenwärtigt man sich die Qualifizierungen wie auch den Inhalt der Philosophie dem Weltbegriffe nach, so heißt dies, dass die angeführten Fragen so beantwortet werden, dass sie nicht nur den Anforderungen der Schule entsprechen, sondern auch selbstverständlich werden in dem Sinne, wie die ‚Weltkenntnis‘ eine natürliche Verständlichkeit sui generis besitzt. Und dies kann auch erläutern, warum sich die drei ersten Fragen auf die vierte – Was ist der Mensch? – beziehen können. Die Anthropologie als ein Teil der Weltkenntnis ist das Paradigma einer sich selbst vernünftig aufklärenden und auch natürlichen Selbstverständlichkeit. Der Bezug auf die vierte Frage, die die Anthropologie beantwortet, meint demgemäß weniger eine Reduktion auf einen irgendwie fi xierten Begriff des Menschen, sie bedeutet vielmehr eine Gründung auf das Konzept der Weltkenntnis, die nach Kants eigenen Worten als eine ‚natürliche Kenntnis‘ zu begreifen ist, ‚die bey iedem Menschen zu Grunde‘35 liegt – jedoch zur Sprache gebracht werden muss. Nimmt man diese Aussagen ernst, so deuten sie ein Vorhaben an, das Kant selbst nicht durchgeführt hat, das Vorhaben einer anthropo-
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Immanuel Kant: Brief an Carl Friedrich Stäudlin (4. Mai 1793). Akad.-Ausg. Bd. 11, Nr. 574, 429. 35 Ders.: Die Vorlesung des Wintersemesters 1775/76 aufgrund der Nachschriften. Friedländer. In: Akad.-Ausg. Bd. 25/1, 465-728, hier: 471.
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logischen Ethik, worin erstens „das Ganze der Erkenntnis nach seiner Artikulation“, also hier Artikulation verstanden als Gliederung der Erkenntnis, vorgestellt wird, zweitens aber dieses Ganze der Erkenntnis aus- bzw. reformuliert wird auf dem Boden einer Philosophie dem Weltbegriffe nach. Denn nur dann, so deutet es Cassirer in seiner Antrittsvorlesung in Göteborg an,36 hat das Subjekt nicht nur das oder ein Spiel verstanden, sondern sich in diesem Spiel als Mitspieler des Spiels begriffen. Nur dann, so könnte man auch sagen, weiß das Subjekt nicht nur um seine Spontaneität, sondern auch um die Bedeutung eben dieser Spontaneität für das eigene Selbst-Sein in einer Lebensform, die nicht zufällig das Milieu seines Daseins ist, sondern das Spielfeld seiner Expressivität ausmacht. Nur dann, so ließe sich die Position noch verschärfen, wäre das Subjekt eine Person – ein Selbst, das sich von Bedeutung ist, indem es sich in seiner Lebensform anerkennt.
Selbst-Artikulation – Grundzüge einer expressiven Ethik Nimmt man, und damit komme ich zum letzten Teil meiner Überlegungen, all diese Gedanken zusammen, so ergibt sich das Bild einer Ethik der Selbst-Artikulation. Diese Ethik antwortet nicht allein auf die Frage: Was soll ich tun?, sie antwortet auch nicht einfach auf die Frage: Was ist der Mensch?, sie antwortet vielmehr auf eine ganz konkrete Frage, die die beiden genannten Fragestellungen verbindet – nämlich: Wer bin ich, der ich handeln kann? Dies scheint mir die Ausgangsfrage zu sein, vor deren Hintergrund sich die Philosophie der symbolischen Formen als eine Ethik verstehen lässt. Dabei scheint mir entscheidend zu sein, dass die Frage in vielerlei Hinsicht konkret ist: Erstens ist die Frage in dem Sinne konkret, als in ihr die Differenz zwischen Sein und Sollen konkretisiert wird, sodass es aus der Sicht der ersten Person zu einer Aufhebung der Unterscheidung kommt. Man kann hier in Anlehnung an die symbolische Prägnanz durchaus auch von einer ethischen Prägnanz sprechen, der gemäß nicht nur Sinn und Sinnliches, sondern auch Sein und Sollen „zur unmittelbaren konkreten
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CPPP, SMC, 59: [Cassirer bezieht sich hier auf Kants Ausführungen in der KrV, A 838 f., B 866 f.] „I am much more convinced that the question which I put here, the question of the connection of all knowledge to the essential aim of human reason itself, arises today more urgently and imperatively than ever before, not only for the philosopher, but for all of us who partake in the life of knowledge and the life of spiritual culture.”
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Praktische Philosophie
Darstellung“37 gebracht werden. Wer auf die eben formulierte Ausgangsfrage zu antworten versucht, wird sein eigenes Sein als ein werthaftes beschreiben müssen. Wer über sich spricht und sein eigenes Sein thematisiert, kann grundsätzlich nicht neutral bleiben. Dies liegt beispielsweise auch der Anfangsinszenierung der gehlenschen Anthropologie zugrunde: Es „gibt ein lebendiges [!] Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ‚Bild‘, eine Deutungsformel [!] notwendig ist.“38 Diese Deutungsformel steht nicht jenseits dieses ‚lebendigen Wesens‘, sondern zeichnet dieses Wesen als Mensch aus. Dieses leitet zu dem zweiten Aspekt über, denn die ethische Prägnanz erschließt sich aus der Perspektive der ersten Person. Zweitens ist diese Frage in dem Sinne konkret, dass sie aus der Perspektive der ersten Person nach dem Person-Sein fragt. Nicht der Mensch ist das Thema, auch nicht die Zuschreibung von Subjektivität, welches eine typische Fragestellung aus der Perspektive der dritten Person darstellt, ist das Problem. Gefragt ist nach dem Selbst-Sein des Selbst. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass hier ein Individualismus vorliegt oder eine Introspektion eingefordert wird. Denn derjenige, der auf die Frage zu antworten versucht, wer er ist, wird die Ressourcen seines Seins außerhalb seiner selbst finden müssen – ansonsten würden wir ihn auch nicht verstehen. Allerdings, und dies leitet zu dem nächsten Aspekt über, sind diese Ressourcen als bedeutsame zu begreifen. Drittens nämlich ist die Ausgangsfrage in der Hinsicht konkret, dass sie konkrete Antworten einfordert. Wir können auf diese Frage nicht antworten, indem wir irgendetwas erzählen, sondern wir müssen das angeben, was uns auszeichnet. Das heißt, dass wir unsere Überzeugungen und die Geschichte dieser Überzeugungen nennen und kennen. Cassirers Einbettung seiner Philosophie in die Philosophie- und Geistesgeschichte, die nicht selten dem Spott ausgesetzt ist, ist vor diesem Hintergrund keine bloße Gelehrtenattitüde. Dies kann nur jemand behaupten, der meint, er hätte sich selbst vollständig verstanden, wenn er seine Selbstauskunft auf die Bemerkung reduziert, dass er denke oder dass er Bewusstsein habe. Damit hätte er sicherlich etwas gesagt, sich aber sicher nicht verstanden. Zur Selbstartikulation gehört vielmehr die Anerkennung dessen, was er denkt und was er von sich berichtet. Dieser Punkt scheint mir besonders bedeutsam zu sein. Wird doch 37
PSF III, ECW 13, 235. Arnold Gehlen (1993): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940). In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Bd. 3.1., Frankfurt/M., 3. 38
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hier darauf insistiert, dass Subjektivität sich nicht auf formale Kriterien reduzieren lässt, sondern sich auch material artikulieren muss. Cassirers Kulturphilosophie hat durchaus diese materiale Seite, die man nicht einfach abstreifen kann, sondern die als Form einer Selbstauskunft nachzuvollziehen ist. Wer auf diese materiale Seite verzichtet, gerät ins Stottern, und auch das ist es, was ich anfangs als eine inartikulierte Vernunft bezeichnet habe. Dies nun bedeutet viertens, dass die Ausgangsfrage in dem Sinne konkret ist, dass sie nach Auskunft verlangt. Greift der Ausdruck auch tief in das Gebiet der Ethik ein, so ist es doch erst die Sprache, die das Gebiet der Ethik aufgreifen kann. Es wird mit Cassirer keine sprachlose Ethik geben können. Denn nur die Sprache vermag das zu leisten, was hier als Artikulation bezeichnet wurde, die Anerkennung der Form als der eigenen Form, die Anerkennung der Lebensform als einer bedeutsamen Lebensform. Und so schreibt Cassirer in seinen Überlegungen, die die Objektivität der Ausdrucksfunktion betreffen und im Band 5 der Nachgelassenen Schriften zu finden sind, explizit, dass das „Sich-Wissen“ und das „Sichgegenseitig-Erkennen“ noch nicht beginnen können, „wo die Subjekte nur in einem gemeinsamen Werk begriffen sind“, sondern erst, wenn eine zusätzliche Aktion auftritt – „die durch die Sprache etc. vermittelte“ Aktion. Denn die Sprache ist „die Bedingung dafür, daß die einzelnen Subjekte sich selbst, in dem gemeinsamen Werk, erkennen.“39 Es gibt wohl keine bessere Stelle als diese, um das Konzept der Artikulation zu belegen: Ein Sich-Wissen oder ein Selbst stellt sich auf der Grundlage des Ausdrucks bei Anerkennung und Aufklärung des Ausdrucks als des eigenen ein. Und diese Leistung ist eine Leistung der Sprache im Sinne der Artikulation. Dies faszinierte Cassirer vielleicht auch, wenn auch nicht ausschließlich, an Goethe, dessen Ethik er des öfteren als eine Persönlichkeitsethik beschreibt und die er mit den kantischen Ansätzen zu synchronisieren versucht, wozu er etwa das Folgende ausführt: „Er blieb überzeugt, daß der Einzelne nur dann in der rechten Weise für das Ganze eintreten und im Ganzen wirken könne, wenn er zuvor sich selbst gefunden habe. Diese Forderung der Selbstbildung und Selbstverantwortung bildet das A und O von G[oethe]’s Ethik.“40 Oder an anderer Stelle heißt es: „Denn der Mensch ist nach G[oethe] nicht allein zur Werkbildung, sondern er ist zur Selbstbildung bestimmt. Und hier liegt seine eigentliche und höchste 39 40
ECN 5, 124. ECN 11, 217.
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Praktische Philosophie
Aufgabe.“41 Diese These nun hat ein anderer Goethe-Leser direkt mit dem Begriff der Artikulation in Verbindung gebracht, nämlich Dilthey, wenn er schreibt: „Ich bediene mich dieses Begriffs [der Artikulation], um auszudrücken, daß lebendiger Zusammenhang die Grundlage aller Entwicklung ist und alle Differenzierungen und klareren, feineren Beziehungen aus dieser Struktur sich entwickeln […] Und indem die Verbindungen ebensogut in den festen Besitz des Seelenlebens übergehen als die Vorstellungen, bildet sich mit dieser Artikulation zugleich ein erworbener Zusammenhang des Seelenlebens und seine Herrschaft über die einzelnen bewußten Vorgänge aus.“42 Oder kurz gesagt: Über Artikulation bildet sich ein Selbst, insofern das Selbst sich in seinem Ausdruck anerkennt. Wittgenstein, und damit will ich schließen, bemerkt einmal an einer versteckten Stelle: „Niemand kann mit Wahrheit von sich selbst sagen, daß er Dreck ist. Denn wenn ich es sage, so kann es in einem Sinne wahr sein, aber ich kann nicht selbst von dieser Wahrheit durchdrungen sein; sonst müßte ich wahnsinnig werden, oder mich ändern.“43 Cassirers Intention ist durchaus eine ähnliche. Er sucht mit der Kulturphilosophie nach den Wahrheiten, die unsere Subjektivität durchdringen, die sie also nicht einfach nur interpretieren oder erklären. Er sucht nach den Überzeugungen, die den Menschen als Person in einer Kultur konstituieren. Dies ist zwar kein absoluter Schutz gegen jeden Wahnsinn, aber vielleicht doch eine gesunde Impfung gegen so manchen Unsinn. Und wie es bei Impfungen nun einmal üblich ist, muss man sie in regelmäßigen Abständen wiederholen und erneuern.
Literaturverzeichnis Dilthey, Wilhelm (1957): Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften V, Stuttgart/Göttingen. Frede, Dorothea/Schmücker, Reinold (Hg.) (1997): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt. Gehlen, Arnold (1993): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Bd. 3.1., Frankfurt/M. 41
Ebd., 259. Wilhelm Dilthey (1957): Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften 5. Stuttgart/Göttingen, 217. 43 Ludwig Wittgenstein (2005): Vermischte Bemerkungen. In. Werkausgabe Bd. 8. Frankfurt/M., 10. Aufl., S. 495. 42
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Graeser, Andreas (1994): Ernst Cassirer, München. Habermas, Jürgen (1997): Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg. In: Frede/ Schmücker, 1997, 79-104. Hegel, G.W.F. (1995): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. In: G.W.F. Hegel Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 10, Frankfurt/M., 3. Aufl. Kant, Immanuel: Brief an Carl Friedrich Stäudlin (4. Mai 1793). Akad.-Ausg. Bd. 11, Nr. 574. – Brief an Marcus Herz (nach dem 11. Mai 1781). Akad-Ausg. Bd. 10, Nr. 153. – Die Vorlesung des Wintersemesters 1775/76 aufgrund der Nachschriften. Friedländer. In: Akad.-Ausg. Bd. 25/1, 465-728. – (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg. Bd. 4. – (21787): Kritik der reinen Vernunft, Akad.-Ausg. Bde. 3/4. – (1800): Logik (Jäsche-Logik), Akad.-Ausg. Bd. 9. – (1797): Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. Bd. 6. Krois, John Michael (1987): Cassirer. Symbolic Forms und History, New Haven/ London. Merleau-Ponty, Maurice (2003): Schrift für die Kandidatur am ‚Collège de France‘ (1951/52). In: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. v. Christian Bermes, Hamburg, 99-110. Orth, Ernst Wolfgang (1996): Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg. Petzold, Heinz (1995): Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt. Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin. – (1997): Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte, Frede/ Schmücker, 1997, 58-78. Schwemmer, Oswald (1997): Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin. Wittgenstein, Ludwig (2007): Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe Bd. 1, 18. Aufl., Frankfurt/M. – (2005): Vermischte Bemerkungen. In. Werkausgabe Bd. 8., 10. Aufl., Frankfurt/M.
Dritter Teil
Theoretische Philosophie
Ernst Wolfgang Orth
Ernst Cassirer zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften. Ein terminologisches Problem?
Dass Ernst Cassirer das Thema Kultur in seinen Werken ausdrücklich zum Gegenstand von Betrachtungen und Untersuchungen gemacht hat, ist offenkundig. Mehrere seiner Publikationen seit den späteren dreißiger Jahren tragen den Terminus ‚Kultur‘ im Titel. Eröffnet werden sie 1939 im schwedischen Exil mit einer Abhandlung über ‚Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie‘. Dem folgt 1942 ebenfalls in Schweden die Aufsatzsammlung ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien‘. 1944 wird im amerikanischen Exil – und nun in englischer Sprache – das Buch ‚An Essay on Man‘ erscheinen mit dem Untertitel ‚An Introduction to a Philosophy of Human Culture‘.1 Auf den ersten Blick weniger sichtbar, wenn auch bei näherer Lektüre bald merklich, ist der Umstand, dass Cassirer seinerseits von dem, was man ‚Kultur‘ nennt, seit Anbeginn seines Wirkens nachhaltig eingenommen war. Er hat weder den Befund noch den Begriff Kultur selbst entdecken müssen; vielmehr lebt er in der Sphäre der Kulturrede, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend bestimmend wird und die in seinem frühen Berliner Lehrer, Georg Simmel, eine so suggestiv sinnfällige wie ordnend bilanzierende Stimme gefunden hatte.2 Zum ersten Mal benutzt Cassirer den Terminus Kultur als Titelbegriff in einem zu Lebzeiten unveröffentlichten Vortrag, den er am 26. Mai 1936 in London in der dorthin emigrierten Hamburger ‚Bibliothek Warburg‘ hält – dem ‚Warburg Institute‘, wie es nun heißt: ‚Critical Idealism as a Philosophy of Culture‘. 3 Cassirer hatte allerdings schon 1923 im ersten Band seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ programmatisch dekretiert: „Die Kritik der Vernunft wird ... zur Kritik der Kultur“.4 Der Vortragstitel erinnert übrigens auch an Wilhelm Windelbands ‚Präludien‘Aufsatz von 1910 ‚Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus‘. 5 1
NHBK, ECW, 22, 140-160. LKW, ECW 24, 355-486. EM, ECW 23. Vgl. dazu Ernst Wolfgang Orth (1991): Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus. In: Reports on Philosophy 14, 105-120. 3 CIPC, SMC, 64-91. 4 PSF I, ECW 11, 9. 5 Wilhelm Windelband (1911): Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus 2
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Theoretische Philosophie
Aber Cassirer scheint mit dieser Reminiszenz nichts anfangen zu wollen. Er erinnert vielmehr sein Londoner Auditorium am Ende seines Vortrages an seine eigene Begegnung mit einem wahrhaftigen „universe of culture“, nämlich bei Gelegenheit seines ersten Besuchs 1920 in der Warburg-Bibliothek in Hamburg. Die dortige Büchersammlung und die Form ihrer Präsentation veranschaulichten ihm – wie er berichtet – seine eigenen Ideen, die er seit Jahren mit sich herumtrug, nämlich eine „Grammatik und Syntax des menschlichen Geistes“ zu erarbeiten, d.h., die Strukturierung der Kultur aufzusuchen, wie es in der Konzeption seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ dann ja auch versucht worden war. 6 Solche Kultur ist eine konkrete Welt, Menschenwelt, ein „gemeinsamer Kosmos“ – wie es in Anspielung an Heraklit heißt7 - durchwirkt von menschlicher Aktivität und ihren Gebilden. Es ist die Welt des Menschen. Cassirer formuliert in seinem Vortrag: „[C]ulture is not a merely speculative thing and cannot be based on merely speculative grounds. It does not only consist of a system of theoretical suppositions; it demands a system of actions. Culture means a whole of verbal and moral activities; of such activities as are not only conceived in an abstract way, but have the constant tendency and the energy of realization. It is this realization, this construction and reconstruction of the empirical world, that is involved in the very concept of culture and that makes up one of the essential and most characteristic features.“8 ‚Kultur‘ ist für Cassirer also ein Name für den lebendigen, aktiven Weltbezug des Menschen und zugleich Name für diese Welt selbst. Sie ist ihm Manifest und Problem der „Wirklichkeitserkenntnis“.9 Die Arbeiten, die Cassirer in den zwanziger Jahren (bis in die frühen dreißiger) im Rahmen der Vortrags- und Publikationsreihen der Hamburger ‚Bibliothek Warburg‘ vorgelegt hat, sollen paradigmatische Einblicke in diese Welt und ihre Strukturen geben. Dazu gehören Abhandlungen wie ‚Die Begriffsform im mythischen Denken‘ (1922), ‚Eidos und Eidolon. Das Pro-
(1910). In: Ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie. 2. Bd., 4. Aufl., Tübingen, 256-271. – Das ‚und‘ im Titel kann durchaus auch durch ein ‚als‘ ersetzt werden. 6 CIPC, SMC, 83, 90 f. – Zur ‚Grammatik‘ der symbolischen Formen als besonderen ‚Idiomen‘ vgl. PSF I, ECW 11, 17. – Zur Hamburger Bibliothek Warburg selbst als symbolischer Form vgl. Martin Jesinghausen-Lauster (1985): Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden. 7 CIPC, SMC, 72 mit Bezug auf das Heraklitfragment Nr. 89; ohne ausdrücklichen Heraklitbezug vgl. LKW, ECW 24, 371. 8 CIPC, SMC, 65. 9 LKW, ECW 24, 368, 414. – Zur Rolle dieses Topos vgl. ZWW, ECN 2.
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blem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen‘ (1922/23), ‚Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen‘ (1925), ‚Shaftesbury und die Renaissance des Platonismus in England‘ (1930/31) sowie die Bücher ‚Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance‘ (1927) und ‚Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge‘ (1932).10 Dass es sich hier um konkrete kulturwissenschaftliche resp. kulturund geisteswissenschaftliche Studien handelt, die im Zusammenhang der parallel laufenden Entwicklung einer systematischen ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ (1923/25/29) stehen, zeigt schon der Titel von Cassirers erstem Beitrag in der Reihe ‚Vorträge der Bibliothek Warburg‘ von 1920/21. Er trägt den Titel ‚Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften‘.11 Mit diesem Titel zeigt sich allerdings auch, dass Cassirer terminologisch keineswegs festgelegt ist; denn was hier ‚Geisteswissenschaft(en)‘ genannt wird, könnte der Sache nach auch ‚Kulturwissenschaft(en)‘ heißen. Und so wird Cassirer auch in seiner späteren Periode, in welcher Kultur, Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft Titelfunktionen erfüllen, dennoch auch den Terminus ‚Geisteswissenschaft‘ weiterhin – im Singular und im Plural – benutzen. So behandelt Cassirer in seiner naturalismuskritischen Göteburger Abhandlung von 1939 über Axel Hägerström das Kulturthema unter der Kapitelüberschrift „Zur ‚Logik der Geisteswissenschaften‘“.12 Und es ist nach Cassirer die „menschliche Kultur, mit deren Erkenntnis es die Geisteswissenschaft zu tun hat“.13 Bemerkenswert unbekümmert ist hier der Wechsel zwischen Plural und Singular von ‚Geisteswissenschaft‘. Ausdrücklich würdigt Cassirer hier Diltheys Versuch „eine[r] allgemeine[n] ‚Strukturlehre‘ der Geisteswissenschaften“ im Sinne einer „Kritik der historischen Vernunft“. Aber – so Cassirers kritische Einschränkung – Dilthey stehe „zunächst noch im Banne“ eines gewissen „Positivismus und Psychologismus“, wenn er, statt „einen neuen ‚gegenständlichen‘ Aufbau zu versuchen“, vom „Begriff des ‚Erlebnisses‘“ ausgehe. „Diltheys 10
Ernst Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken, ECW 16, 3-73; Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen, ECW 16, 135-163; Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, ECW 16, 227-311; Shaftesbury und die Renaissance in des Platonismus in England, ECW 18, 153-175; Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, ECW 13; Die platonische Renaissance in England und die Schule in Cambridge, ECW 14. 11 Ders.: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geistes-wissenschaften, ECW 16, 75-104. Vgl. auch PSF I, ECW 11, wo im Vorwort S. VII ausdrücklich von einer „Grundlegung der Geisteswissenschaften“ die Rede ist. 12 AH, ECW 21, 106-116. 13 Ebd., 111.
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Theoretische Philosophie
eigene Untersuchungen“ jedoch „über die Struktur der historischen Wirklichkeit stellen einen sehr wichtigen und wesentlichen Beitrag“ zur Logik der Geisteswissenschaften „dar“.14 Ein Schlüsselbegriff ist hier der Begriff der Struktur. Der Terminus der ‚Geisteswissenschaft‘ ist neben dem der ‚Kulturwissenschaft‘ für Cassirer akzeptabel, wenn man ‚Geist‘ nicht bloß als Inbegriff von „Gefühlen“ versteht und sich nicht „im Kreis subjektiver Zuständlichkeiten herumtreiben und sich mit deren Beschreibung begnügen“ will.15 „Aber der Gegenstand, um den es sich hier“ – im Falle des Geistes und der Geisteswissenschaften – „handelt, ist freilich von anderer Art als die materiellen Dinge, deren Beschaffenheit und deren Zusammenhang die Naturwissenschaft zu erkennen sucht. Statt mit Dingen, haben wir es hier mit Formen zu tun ... Sicherlich sind alle diese Formen an den ‚Stoff‘, an bestimmte physische Dinge und Vorkommnisse gebunden; und sie haben ihre äußere Erscheinung nur an diesem. Die menschliche Kultur, mit deren Erkenntnis es die Geisteswissenschaft zu tun hat, stellt sich uns nicht anders als in ihren materiellen Momenten und Monumenten dar; in dem, was in Sprache und Schrift festgehalten ist, in den Darstellungen der bildenden Kunst, in Geräten und Werkzeugen, in Bauten und so fort. Aber dies alles erhält für uns seinen Sinn erst, wenn es interpretiert, wenn es in der rechten Weise ‚ausgelegt‘ wird. Und es zeigt sich, dass die empirische Psychologie, die unsere Vorstellungen, Gefühle, Triebe zu analysieren und die Bedingungen ihrer Entstehung aufzudecken sucht, für diese Auslegung nicht ausreicht. Wir müssen die Formwelt der Sprache, der Kunst, der Religion, des Rechts u.s.f. als solche verstehen, wenn wir in den Sinn der einzelnen sprachlichen, künstlerischen, religiösen Gebilde eindringen wollen. Eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie ist es, diese Leistung zu vollbringen, und damit von den ‚Tatsachen‘ der Geisteswissenschaften zu ihren ‚Prinzipien‘, zu den ‚Bedingungen ihrer Möglichkeit‘ vorzudringen.“ Ausdrücklich weist Cassirer daraufhin, dass er die „Begründung für diese Anschauung“ in seiner „‚Philosophie der symbolischen Formen‘ zu geben versucht“ habe.16 Die ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ ist also eine ‚Logik der Geisteswissenschaften‘! Offenbar ist das möglich, denn in den Texten von ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘ findet sich durchaus auch eine synonyme Verwendung von ‚Kulturwissenschaft‘ und ‚Geisteswissenschaft‘. Gelegentlich stehen „Grundlegung der Kulturwissenschaften“ und „Logik der Geisteswissenschaften“ auf einer Textseite nebenein14 15 16
Ebd., 110 f. Ebd., 111. Ebd., 111 f.
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ander.17 Von Vico wiederum heißt es, er habe jeweils in Gestalt einer „Logik der Sprache, der Poesie, der Geschichte“ die „Logik der Kulturwissenschaft“ konstituiert.18 Und wenn Cassirer in seiner HägerströmAbhandlung die von den Geisteswissenschaften zu leistende ‚Formanalyse‘ beiläufig „Phänomenologie“ nennt, so wird er solche Phänomenologie in ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘ ausdrücklich als Aufgabe eben der ‚Kulturwissenschaft(en)‘ herausstellen. Dem Psychologen Karl Bühler wird es in der Hägerström-Abhandlung hoch angerechnet, dass er, im Gegenzug zu herkömmlichen Beschreibungen subjektiver Zuständlichkeiten, das „Bedeutungserlebnis“ in den Mittelpunkt gerückt habe19 und damit das Formproblem treffe. In diesem Sinne wird in ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘ „das Leben in ‚Bedeutungen‘“ hervorgehoben. 20 Das darf man mit dem vergleichen, was Cassirer in der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ als „ein Leben ‚im‘ Sinn“ bezeichnet und womit er sozusagen das elementare Paradigma aller Kultur thematisiert. 21 Wenn in dem längeren obigen Textzitat von ‚interpretieren‘, ‚auslegen‘ und jetzt von ‚Leben in Bedeutung‘ und ‚im Sinn‘ die Rede ist, dann scheint auch der Terminus Hermeneutik einschlägig werden zu müssen. Aber hier – zumal in der Hägerström-Abhandlung – hat sich Cassirer für Formanalyse (auch ‚Strukturanalyse‘) als ‚Phänomenologie‘ entschieden. Und so geschieht es auch in der zweiten Studie von ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘, die den Titel ‚Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung‘ trägt; hier ist entsprechend von „phänomenologische[r] Analyse“ die Rede. 22 In der dritten Studie über ‚Naturbegriffe und Kulturbegriffe‘ wird die Formenlehre mit Husserls Begriffen der „idealen Bedeutungseinheit“ und der „ideierenden Abstraktion“ verknüpft. 23 Den Terminus ‚Hermeneutik‘ wird Cassirer dann allerdings in der vierten seiner ‚Fünf Studien‘ über ‚Formproblem und Kausalproblem‘ einführen und ihm einen ganz speziellen Sinn geben. 24
17
LKW, ECW 24, 379. Ebd., 366. 19 AH, ECW 21, 114. – Dazu gehört auch die Herausstellung der „Dar stel lungsfunktion“. 20 LKW, ECW 24, 371. 21 PSF III, ECW 13, 231. 22 LKW, ECW 24, 402. 23 Ebd., 424, 430. – Vgl. auch PSF II, ECW 12, 14 Anm. 12, wo Cassirer das Verdienst der husserlschen Phänomenologie für die angemessene Erforschung „geistiger ‚Strukturformen‘“ – wie z.B. des Mythos – durch „rein ‚ideierende‘ Analysen“ hervorhebt. 24 Vgl. LKW, ECW 24, 456. 18
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Theoretische Philosophie
Ehe diese spezielle Verwendung des Begriffs Hermeneutik näher diskutiert wird, ist jedoch auf eine Eigentümlichkeit der Betrachtungs- und Sprechweise Cassirers einzugehen. Hier fallen drei Momente auf. 1) Eine gewisse terminologische Flexibilität, wie sie sich beispielsweise in dem scheinbar oder tatsächlich synonymen Gebrauch von Begriffen wie ‚Kulturphilosophie‘, ‚Kulturwissenschaft‘ und ‚Geisteswissenschaft‘ bekundet. Der Synonymität mehrerer, unterschiedlicher Ausdrücke scheint dabei die Homonymität einzelner Ausdrücke zu entsprechen (wie z.B. der Ausdruck ‚Ausdruck‘ selbst). 25 2) Die Unterscheidung und gleichzeitige Vereinheitlichung von Befunden. So wird der „Kosmos der Kultur“ dem „Kosmos der Natur“ entgegengestellt – eben als Kultur gegenüber Natur; aber zugleich sind sie doch als zwei ‚symbolische Universa‘ jeweils nur eine der Richtungen des ‚symbolischen Universums‘ als Ganzem, das gemäß der Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen doch letztlich ein Kulturuniversum ist und die ‚Naturwissenschaft‘ als eine symbolische Form in sich einschließt. 26 Sicherlich darf man die Naturwissenschaft, sofern sie eine symbolische Form ist, als Kulturphänomen betrachten. Darf man dann auch die ‚Natur‘ wenigstens als einen Grenzbegriff der Kultur auffassen? 3) Die verwendete Terminologie beansprucht einerseits eine Art systematischer Dignität, andererseits ist sie geschichtlich oder historisch gleichsam zugespielt. Das gilt besonders auch von den leitenden Begriffen selbst – wie Kultur, Natur und Geist. Was in diesem Spiel zur Geltung kommt, ist ein Grundverhalt, der Cassirer durchaus bewusst ist, dem er aber die letzte systematische Darstellung versagt (vielleicht weil sie ex definitione unmöglich ist). Den Grundverhalt könnte man – apperçuhaft – wie folgt, umschreiben: Es ist die Kultur selbst, die den Begriff Kultur und all die Begriffe generiert (d.h. geschichtlich hervorbringt), mittels deren der Befund Kultur näher bestimmt und strukturiert wird. Dabei gehört es zum „Bestand“ der Kultur, dass sie sich prozessual konstituiert, d.h. als Zeitgestaltung existiert. 27 Symbolische Formung ist sowohl 25
‚Ausdruck‘ ist einerseits lebendig manifestierte geistige Energie schlechthin, andererseits eine sehr spezielle Form solcher Manifestation. 26 Vgl. LKW, ECW 24, 376, wo „Weisen und Richtungen der Welterkenntnis“ einen Typus von „Objektivität“ hervorbringen, der „nicht nur den Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur“ umspannt. Vgl. auch AH, ECW 21, 115 zu der einen Wirklichkeit, die durch je besondere Arten „der Gestaltung“ ihre Objektivierung erfährt. Zum ‚symbolischen Universum‘ vgl. EM, ECW 23, 237. 27 Vgl. LKW, ECW 24, 371, 416, 449. Vgl. auch Ernst Wolfgang Orth: Zum Zeitbegriff Ernst Cassirers. In: Ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 22004, 129-147. Die konstitutive Bedeutung der Zukunft für die Kultur wird bereits in Cassirers frü-
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die strukturiert-strukturierende Dimension als auch der geschichtliche Prozess, in dem sich Kultur als Zeitgestaltung darstellt. Die drei genannten Momente ergeben sich nun aus dem Grundbefund, von dem Cassirer als einer unhintergehbaren Wirklichkeit ausgeht. Es ist das, was er ‚Leben im Sinn‘ resp. ‚in Bedeutung‘ genannt hatte. Gelegentlich ist auch vom „Urphänomen“ die Rede. Dieses Urphänomen ist eine Sinnwirklichkeit, nicht ein bloßes factum brutum, aber eben doch Wirklichkeit, z.B. menschliche Wirklichkeit, die sich im Medium sprachlichen, künstlerischen, religiösen „u.s.f.“ (!) Handelns und Verhaltens manifestiert, d.h. irgendwie ausdruckshaft-bedeutsam ist. Es ist die „Funktion“ (!) der Sprache, der Kunst, der Religion „u.s.f.“, die Cassirer hier Urphänomen nennt, 28 allerdings nur insofern diese Funktion sich tatsächlich und an Tatsächlichem auswirkt (und nicht bloß hypostasierte Formel ist). Ein Paradigma dieses Urphänomens ist der Mensch als „animal symbolicum“ selbst, sofern er in seiner sinnlich-sinnhaften, d.h. leiblichseelischen oder körperlich-geistigen Konstitution als das „erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation“ gelten darf. 29 Die Eigenheit dieser Sinn-Wirklichkeit (auch in ihren noch so elementaren Varianten) ist es, in ihrem Verhalten und Handeln von Grund auf selbstdeutend, d.h. selbstgestaltend und selbstausdrückend zu sein. Sehen wir in solcher elementaren Sinn-Wirklichkeit die erste Manifestation von Kultur, so leuchtet ein, dass alle weitere Verständigung über Kultur, also auch die wissenschaftliche und philosophische kulturgeneriert ist. 30 Die verschiedenen Begriffe der Verständigung über Kultur erweisen sich so als Ausdifferenzierungen eben der Kultur selbst. Hier hat das geschichtliche Zugespieltsein der Begriffe ebenso seinen Grund wie die allfällige Äquivozität (Homonymie und Synonymie) der kulturkundlichen Terminologie. „Dieses Erscheinen eines ‚Sinnes‘, der nicht vom Physischen abgelöst ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen ‚Kultur‘ bezeichnen“. Genau dem will Cassirer auch in seiner sprachlichen Darstellung Rechnung tragen. 31 her These sichtbar, dass der Mensch – in Autotelie – „nicht von der Freiheit aus, sondern auf die Freiheit hin“ handle. Vgl. dazu Ernst Cassirer: Hermann Cohen und die Erneuerung der kantischen Philosophie, ECW 9, 119-138. 28 LKW, ECW 24, 458. Vgl. auch „symbolische Prägnanz“ PSF III, ECW 13, 231. 29 PSF III, ECW 13, 113. Zum „animal symbolicum“ siehe EM, ECW 23, 32. 30 Die heideggersche Formel von der „Hermeneutik des Daseins“ einerseits als Struktureigentümlichkeit dieses Daseins selbst und andererseits als wissenschaftliche oder philosophische Analyse dieses Daseins – d.h. als genitivus subjectivus und als genitivus objectivus – ist eine Parallele dieser Auffassung. 31 LKW, ECW 24, 400. Vgl. LKW, ECW 24, 403 die Feststellung, „daß aller sprach-
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Kulturwissenschaft bedeutet dabei nun die objektive (objektivierende) Erforschung kultureller Sachverhalte, die sich ihrerseits nach verschiedenen Dimensionen oder Bereichen (Kulturgebiete, Formen, symbolische Formen) gliedern lassen. Und so liegt auch eine Pluralisierung in ‚Kulturwissenschaften‘ nahe. ‚Kulturphilosophie‘ beschäftigt sich demgegenüber mit den letzten, d.h. letztausweisbaren Bedingungen und Prinzipien der Kultur (und damit auch der Kulturwissenschaften); d.h. sie will „nicht nur eine bestimmte Art des Wissens von der Welt, sondern das Gewissen der menschlichen Kultur sein“. 32 Allerdings kann die Philosophie resp. Kulturphilosophie diese Funktion als Gewissen nur ausüben, wenn sie in engstem Bezug mit den einzelnen Kulturwissenschaften und dem konkreten Kulturleben arbeitet; denn deren Gewissen ist sie ja! Umgekehrt drohen die Kulturwissenschaften in naturalistischen Objektivismus zu verfallen, wenn sie die Beziehung zum philosophischen Gewissen abschneiden. Dieses Gewissen hat – nach Cassirer – seinerseits seine Wurzeln letztlich in der ursprünglichen Lebendigkeit menschlichen Selbst- und Weltverstehens, also in dem genannten Urphänomen des ‚Lebens im Sinn‘. Eine paradigmatische Variante dieses „Lebens im Sinn“ – sozusagen eine besonders geglückte Form davon, die Epoche macht – , ist das, was Cassirer ‚Humanismus‘ nennt, und zwar in der Gestalt des sogenannten ‚Neuhumanismus‘, wie er ihn im 18. Jahrhundert zwischen Goethe und Wilhelm von Humboldt am Werk sieht. Die argumentative Pointe ist hier, dass eine historische Form (oder ein historischer Gehalt), der ‚Neuhumanismus‘, eine systematisch strukturierende Funktion für Kultur schlechthin erhält – so ausgeführt in Cassirers Abhandlung von 1939 ‚naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie‘. 33 Dabei geht es durchaus um Objektivierung, d.h. um die Strukturierung menschlichen Weltverstehens überhaupt. Aber diese Objektivierung kann sich objektivistisch und reduktionistisch missverstehen, wenn der Bezug zu den geistigen Energien des Menschen abgeschnitten wird, die allein formbildend sind. Während man nun Wissenschaften und damit auch Kulturwissenschaften als symbolische Formen oder als Momente solcher Formen auffassen kann, sagt Cassirer von der Philosophie (und also auch von der Kulturlicher Ausdruck ‚metaphorischer‘ Ausdruck ist und bleibt.“ Vgl. dazu E.W. Orth: Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. In: Ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, l.c., S. 100-128. 32 LKW, ECW 24, 383. 33 Vgl. NHBK, ECW 22, 140-160. Vgl. auch die beiden frühen Werke: Ernst Cassirer: Idee und Gestalt. Goethe. Schiller. Hölderlin. Kleist. Fünf Aufsätze (1921), ECW 9, 243-435 und FF, ECW 7.
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philosophie), dass sie keine eigene symbolische Form sei. In nachgelassenen Texten aus den frühen vierziger Jahren heißt es, die Philosophie wolle „nicht an Stelle der alten Formen eine andere, höhere Form setzen, sie will nicht eine symbolische Form durch eine andere ersetzen.“ „Sie schafft nicht eine ... neue Symbolform, begründet ... keine neue schöpferische Modalität, aber sie begreift die früheren Modalitäten als das, was sie sind: als eigentümliche symbolische Formen.“34 Kurz: Die (Kultur-) Philosophie setzt die symbolischen Formen voraus, um sie dann allererst zur Geltung zu bringen; insofern ist sie angewiesen auf diese Formen, die von den Kulturwissenschaften im Einzelnen objektiv näher bestimmt werden. Aber diese Arbeit der Kulturwissenschaften muss sich im Lichte der Philosophie vollziehen, um nicht blind zu sein, einer Philosophie, die allerdings ihrerseits leer sein würde, wenn sie nicht auch kulturwissenschaftlich implementiert wäre. 35 Das Problem, um das es hier geht, hat Cassirer auch am Beispiel einer kantischen Formel illustriert, die er oft und gelegentlich frei zitiert. Kants Formel „Erscheinungen ... zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“36 wird von Cassirer häufig gebraucht, um unterschiedliche methodische Auffassungsleistungen verschiedener Wissenschaften nebeneinander würdigen zu können. Dabei zitiert er oft Kants „Erfahrung“ (Singular) als „Erfahrungen“ (im Plural), womit sich durchaus ein Wandel in Cassirers Erfahrungsbegriff (gegenüber dem kantischen) andeutet, der mit der Richtungsvielfalt seines Kulturbegriffs zusammenhängt. Auch in seinem Londoner Vortrag zur Kulturphilosophie erinnert er wieder an die Formel Kants: „to use Kant’s words“ „of spelling out appearances in order to be able to read them as experiences“. Aber in Anbetracht verschiedener symbolischer Formen und hier zudem des Nebeneinander der Wellen- und Korpuskulartheorie in der modernen Physik erwägt Cassirer nun, ob man nicht überhaupt von „different alphabets of thought“ ausgehen solle. 37 Die Metapher des Alphabets und der Pluralität der Alphabete wird allerdings sogleich um die der ‚Grammatiken‘ und der ‚Syntax‘ ergänzt, um von vielen Grammatiken (der ‚Idiome‘ Sprache, Kunst, Wissenschaft usw.) sprechen zu können. 38 Entscheidend ist hier,
34
ECN 1, 264 f. Ein ähnliches Problem hat Dilthey, der, um Philosophie, die Geisteswissenschaft (im Singular) der Besinnung zu betreiben, die einzelnen Geisteswissenschaften (im Plural) als Instrumente braucht, die allerdings ihrerseits philosophisch zu interpretieren sind. 36 KrV A 314 und Proleg. § 30. 37 CIPC, SMC, 75 f. 38 Ebd., 76, 90. Zu Grammatik und Idiomen vgl. aber auch PSF I, ECW 11, 17. 35
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dass es nach Cassirer nicht die Aufgabe der Philosophie ist, Alphabete resp. Grammatiken auszuprobieren; das tun schon die Wissenschaften. Es geht auch nicht darum, Alphabete neu zu erfinden. Vielmehr soll die Vergleichbarkeit verschiedener Alphabete resp. Grammatiken strukturell sichtbar gemacht werden und damit ihre gemeinsame Herkunft aus fungierenden geistigen Energien des Menschen, Energien, die ihrerseits allerdings nur bei Gelegenheit des ‚Buchstabierens‘ von Erscheinungen aufweisbar sind. In seiner Studie von 1942 über ‚Naturbegriffe und Kulturbegriffe‘ wird Cassirer die kantische Formel allerdings für die Naturwissenschaften reservieren (wofür sie ja wohl auch bei Kant stand): „Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck“ – so schreibt Cassirer nun – „‚Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen [!] lesen zu können‘; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.“39 Ob nun ‚Erscheinungen buchstabieren‘ oder ‚Symbole deuten‘ – in beiden Fällen handelt es sich um Funktionen, deren Fungieren einerseits Weltverständnis und damit Welt konstituiert und andererseits geistige Energien ins Spiel bringt. Die manifeste Dimension dieses Fungierens heißt Kultur. Hier ist der Punkt, wo Cassirer seinen Kulturbefund, die elementare Sinnwirklichkeit (die sich zunächst ganz außerhalb philosophischer Reflexion, z.B. in der Kunst zeigt) mit Kants transzendentalem resp. kritischen Idealismus in einen positiven Zusammenhang bringen kann. In seinem Londoner Vortrag ‚Critical Idealism as a Philosophy of Culture‘ zitiert Cassirer ausdrücklich Kants Definition von ‚transzendentaler Erkenntnis‘ aus der Einleitung B der ‚Kritik der reinen Vernunft‘: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“40 „Erkenntnisart“ übersetzt Cassirer als „mode of our cognition“. Wahre Objektivität, so Cassirers kantianisierende These, ist nur über das Zugangsproblem zu sichern, d.h. weder durch die Unterstellung physischer noch hyperphysischer Substanzen. Objektivität konstituiert sich über die „Bestimmung durch verschiedene Modi von Erkennen“.41 Was den kritischen und transzendentalen Idealismus mit dem Kulturthema originär verbindet, ist die 39 40 41
LKW, ECW 24, 445. KrV Einleitung B 25. Vgl. CIPC, SMC, 69, 70.
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Modalisierung der Wirklichkeit, die in der Konzeption von ‚transzendental‘ als ‚Erkenntnisart‘ ins Spiel gebracht wird. Modalisierung der Wirklichkeit bedeutet, dass Wirklichkeit sich im Modus von Auffassungen konstituiert. Der Begriff der Konstitution bekommt damit eine gestalterische Konnotation. Solche Modalisierung und Konstitutionalisierung sind mit dem Kulturbegriff kongenial.42 In seinen nachgelassenen Texten über ‚Basisphänomene‘ stellt Cassirer diese Auffassung deutlich heraus: „Eine letzte fundamentale Betrachtungsweise, die darauf gerichtet ist, zu einem ‚Verständnis‘ der ‚Werke‘ des Geistes und ihrer eigentümlichen Objektivität [also der Kultur] zu gelangen, ist die Methode, die durch Kant in die Philosophie eingeführt worden ist.“ „Sie verlangt jene Umwendung“, die „durch Kants Beispiel der Kopernikanischen Drehung erläutert wird.“ Sie „fragt“ nach der „Erkenntnisart“. „Und dieser Begriff: Erkenntnisart ist hierbei im weitesten Sinne zu verstehen.“43 Cassirer knüpft in seinem Londoner Vortrag – wie zwei Jahre später in seinem Aufsatz ‚Zur Logik des Symbolbegriffs‘ – an Kants Forderung an, „der stolze Name einer Ontologie“ müsse „dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen“.44 Cassirer erklärt sich mit diesem Rückgang auf eine, jeder Ontologie vorgelagerten Zugangswirklichkeit voll einverstanden. Aber diese Analytik darf sich seines Erachtens nicht nur auf den ‚reinen Verstand‘ beziehen; sie muss vielmehr den ganzen Umkreis konkreter Weltverständnisse zu ihrem Gegenstand machen. Und damit ist in der Tat die ‚Kritik der Vernunft‘ zur ‚Kritik der Kultur‘ geworden; denn der Inbegriff der Weltverständnisse, das ist die Kultur. Die nähere, einzelwissenschaftliche Thematisierung dieser konkreten Weltverständnisse, für deren Analyse Kant entscheidende Funktionsbegriffe bereitstellt, erfolgt jedoch zeitlich erst nach Kant – und zwar über die Entwicklung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert, die nach Cassirer immerhin durch Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ eine entschiedene Motivation erfahren haben.45 Dabei ist nach Cassirer für die Analyse der Konstitutionsfunktionen nicht nur der Ausgang vom Faktum der Wissenschaften zu nehmen (das übrigens auch schon bei Cohen eigentlich ein Kulturfaktum ist), sondern mehr noch ist vom Faktum 42
Deshalb zitiert Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003, 149 zu Recht aus Kants Brief vom 1.7.1794 an Jakob Sigismund Beck: „Wir können aber nur verstehen und anderen mitteilen, was wir selbst machen können.“ Ein Bezug Kants auf Vico, welch letzteren Cassirer in der Tat gerne zitiert, lässt sich allerdings nicht nachweisen. Cassirer behauptet auch keinen derartigen Bezug. 43 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 162. Verweise auf Dilthey auf S. 160, S. 164. 44 KrV B 303; vgl. CIPC, SMC, 69, 70. LSB, ECW 22, 136 f. 45 Vgl. so ausdrücklich LSB, ECW 22, 137.
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vor- und außerwissenschaftlicher Weltorientierungen auszugehen, wie eben der Sprache, der Kunst und der Religion, deren wissenschaftliche resp. einzelwissenschaftliche Erkundung nun allerdings auch in Betracht zu ziehen ist. Zudem ist dieses ‚Faktum‘ – ob als wissenschaftliches oder sonstiges Weltverständnis – vom ‚Fieri‘ (Natorp) her zu dynamisieren. Cassirers ‚Ableitung‘ des Kulturbegriffs, d.h. dessen Platzierung innerhalb des transzendentalen Idealismus verdankt sich so zunächst einer bestimmten Interpretation der kantischen ‚transzendentalen Deduktion‘. Befund und Begriff ‚Kultur‘ werden bei Cassirer erkenntniskritisch (resp. erkenntnistheoretisch) gewonnen. Demgegenüber setzt die eher wissenschaftstheoretische Erörterung von Kultur, wie sie bei Windelband und Rickert erfolgt, zu hochstufig an: „Wer die Kritik der Erkenntnis erst mit der Wissenschaftstheorie ... beginnen läßt, der setzt den Hebel gewissermaßen zu hoch an“, schreibt Cassirer in ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘; und demgemäß fordert er, „das Gebiet der bloßen Logik und Wissenschaftstheorie zu überschreiten“, d.h., „von der [wissenschaftstheoretisch elaborierten] Begriffsstruktur auf die [kulturell gelebte] Wahrnehmungsstruktur zurückzugehen.“46 Es erweist sich damit als die besondere Leistung Cassirers, dass ihm innerhalb des Neukantianismus eine intrinsische Bestimmung von Kultur gelingt, während sowohl der Marburger Cohen wie auch die Südwestdeutschen Windelband und Rickert den Kulturbegriff eher von außen an Kant aninterpretieren, indem sie in dessen drei Kritiken wissenschaftstheoretisch die Thematisierung dreier Kulturgebiete sehen, die sie dann abstrakt in der ‚Einheit des Kulturbewusstseins‘ zu vereinen hoffen. Für Cassirer gab es die Möglichkeit, das Kulturthema gleichsam an zwei Enden anzufassen. Das eine Ende ist der soeben erörterte (Kultur-) Gedanke der konstitutiven Modalisierung, die in der Grundkonzeption des kritisch-transzendentalen Idealismus lebendig ist. Das andere ist Cassirers eigene, sozusagen kultivierte Begegnung mit der Kunst, die er eben nicht nur philosophisch erschließt, zu der er vielmehr – vor allem was die literarische Kunst betrifft – einen originären ästhetischen Zugang hat. In diesem Sinne sagt Cassirer 1942 von der Kunst: „All dies ‚ist‘ und ‚besteht‘; es erschließt uns eine Erkenntnis, die sich nicht in abstrakte Begriffe fassen läßt, die aber nichtsdestoweniger als Offenbarung eines Neuen, bisher nicht Gewußten und Gekannten, vor uns steht. Es gehört zu den größten Leistungen der Kunst, daß sie hierzu fähig ist, 46
LKW, ECW 24, 370, 414. Zu einem ähnlichen Urteil Husserls über Rickert vgl. Ernst Wolfgang Orth (2003): ‚Natur und Geist‘ in der Husserlschen Phänomenologie. In: Phänomenologische Forschungen Jg. 2003, 23-37.
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daß sie noch im Individuellen das Objektive erfühlen und erkennen läßt, während sie andererseits alle ihre objektiven Gestaltungen konkret und individuell vor uns hinstellt und sie damit mit dem stärksten und intensivsten Leben erfüllt.“47 Offensichtlich kann das Kunstwerk – sozusagen ganz aus eigener Souveränität – als ein Paradigma der kritisch-idealistischen Konzeption konstitutiver Modalisierung fungieren. Die Anfänge dieser Auffassung gehen durchaus in Cassirers Frühzeit zurück. Sie werden durch eine Interpretation von Cohens Ästhetik angeregt, die Cassirer 1912 in seinem KantStudien-Aufsatz ‚Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie‘ versucht hat: „Die Kunst steht demnach nicht mehr isoliert unter den Arten des Bewußtseins, sondern sie ist es, die das ‚Prinzip‘ dieser Arten und ihren Zusammenhang in einem neuen Sinn darstellt. Das transzendentale System stellt in seiner Allgemeinheit nicht sowohl einen geschlossenen Zusammenhang von Erkenntnissen, als vielmehr einen Zusammenhang von Erzeugungsweisen des Bewußtseins dar, deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt.“ In diesem Sinne kann Cassirer dann Cohens Formulierung (aus dessen Buch ‚Kants Begründung der Ästhetik‘) vom „Bewußtsein als Prinzip aller Kulturgebiete“ zitieren.48 Für Cassirer manifestiert sich dieses Bewusstsein offenbar besonders sinnfällig in der Kunst.49 Synthesis ist poietische Synthesis. In seinem Spätwerk von 1942, der Aufsatzsammlung ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘ versucht Cassirer auf dem Hintergrund einer kulturphilosophischen Konzeption (also des ‚kritischen Idealismus‘ und der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘) eine nähere Bestimmung kulturwissenschaftlicher Zugangsweisen zu erarbeiten. Gleichsam aus didaktischen Gründen müssen nun Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften konfrontiert werden. Diese Konfrontation ist aber auch eine, die das natürliche Bewusstsein in elementarer Weise immer schon zu vollziehen scheint. Entsprechend stehen sich der „Kosmos der Natur“ und der „Kosmos der Kultur“ gegenüber, 50 obwohl doch – philosophisch gesehen – Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft als Weisen menschlichen
47
LKW, ECW 24, 390, Formulierungen, die an Simmel erinnern. Ernst Cassirer: Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, ECW 9, 138. 49 Aber auch der Mythos kann in diesem Sinne paradigmatisch sein, denn die „Begriffsbildung“ „in der mythischen und religiösen Sphäre“ zeigt „den idealistischen Sinn und die idealistische Bedingtheit der Begriffsbildung überhaupt“, so Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken, ECW 16, 60. 50 LKW, ECW 24, 362, 376. 48
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Weltverstehens beide zum Inbegriff der symbolischen Formen gehören und damit das ‚universum symbolicum‘ mitkonstituieren. Und dieses ‚Universum‘, das die Auffassung der Natur einschließt, heißt doch wohl treffender ‚Kosmos der Kultur‘ als ‚Kosmos der Natur‘. Ja, man kann sich fragen, ob die Formel ‚Kosmos der Natur‘ als selbständiger Begriff überhaupt haltbar ist, denn ‚Kosmos‘ ist nach seiner Herkunft ein Kulturbegriff, wie Cassirer selbst gezeigt hat. 51 Die fünf Studien, die in ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘ zusammengefasst sind, bilden kein geschlossenes Werk, in welchem diese Probleme streng systematisch geklärt würden. Dennoch zeigen die an mancherlei kulturelle und wissenschaftliche Entwicklungen frei anknüpfenden Erwägungen in ihrer Anordnung durchaus eine innere Strukturierung: Von der Herkunftsbestimmung des Themas ‚Kultur‘ und der Art seiner Gegebenheit (I. ‚Der Gegenstand der Kulturwissenschaft‘) werden wir zur originären Konstitutionsbedingung von Kultur geführt, die Cassirer in der Ausdruckswahrnehmung sieht (II. ‚Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung‘). Dazu gehört auch die fundamentale Unterscheidung einer ‚dinglichen‘ und ‚personalen‘ Wirklichkeitsauffassung. Von hier aus ergibt sich folgerichtig die präzisere Unterscheidung von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft mit der je eigenen Begriffstypik (III. ‚Naturbegriffe und Kulturbegriffe‘). Die Unvermeidlichkeit des Anthropomorphismus in den Kulturwissenschaften wird dabei ebenso betont wie die Einschlägigkeit von Form- resp. Sinn- und Stilbegriffen in der kulturwissenschaftlichen Orientierung. Von hier aus wird dann auch das Verhältnis von Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften in den Rahmen einer „Logik der Forschung“52 gestellt, um Formanalyse und Kausalanalyse als zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Richtungen wissenschaftlichen Verfahrens zu erweisen (IV. ‚Formproblem und Kausalproblem‘). Dazu gehört auch die Herausarbeitung eines eigenen Hermeneutik-Begriffs neben der Formanalyse. Schließlich führt die fünfte Studie zum Abschluss; vor allem in der Diskussion des Problems einer Art Pathologie der Kultur, die sich in Begriffen wie ‚Entfremdung‘ und ‚Tragödie‘ anzeigt; aber auch die Frage der Naturbezogenheit von Kultur wird nochmals thematisiert. 53 Einige Ergebnisse und Probleme der fünf Studien seien nochmals hervorgehoben. 51
Vgl. LDK, ECW 24, 3-31. Vgl. auch EM, ECW 23, 237. LKW, ECW 24, 455. 53 Ebd., 462 ff. Zur Thematik ‚Pathologie der symbolischen Formen‘ vgl. Ernst Wolfgang Orth (2004): Goethe als Therapeutikum. Diltheys Goetheauffassung und Ernst Cassirers Pathologie der symbolischen Formen. In: Ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 319-337. 52
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In der ersten Studie ‚Der Gegenstand der Kulturwissenschaft‘ zeigt Cassirer, wie sich das Thema Kultur menschheitsgeschichtlich – man ist versucht zu sagen: ‚in der Kultur‘ – im Sinne einer Orientierungsgeschichte einstellt. Der Mensch entdeckt Ordnungen in der Wirklichkeit, die wesentlich seine eigenen Schöpfungen sind. Es ist die „Ordnung der Natur“, die dem Menschen gegenübersteht (auch ihn objektiv umfassend), und die Ordnung „seiner eigenen Welt“. 54 Dabei bleibt das, „was der Mensch schafft und was aus seiner Hand hervorgeht“, ihm zunächst ein „Geheimnis“ und wird oft als von Göttern verursacht interpretiert. Das entspricht dem generellen Befund, den Cassirer später (in der dritten Studie) benennt, nämlich dass im Gegensatz zum „Objekt Natur“ (das wir vor Augen haben) das „Kulturobjekt“ „uns sozusagen im Rücken [liegt]“. 55 Es bedarf krisenhafter, konfliktbesetzter Zuspitzungen in der Orientierungsgeschichte, um das Problem der Kultur bewusst zu machen. Cassirer zeigt solche Stadien, in seiner ersten Studie, vor allem am Beispiel Vicos so wie an Wandlungen in der Fassung des Lebensbegriffs im 19. Jahrhundert und in der Folge. 56 In der zweiten Studie ‚Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung‘ legt Cassirer die Basis aller Kulturauffassung frei. Sie besteht in der lebendigen Wahrnehmung als Sinnsetzung. Im Grunde wiederholt Cassirer hier den Gehalt seines Theorems von der ‚symbolischen Prägnanz‘57, allerdings in einer anderen Sprache und ohne es selbst zu nennen. Die Wahrnehmung hat „in ihrem einfachen phänomenalen Bestand“ „gewissermaßen ein doppeltes Antlitz“. 58 Sie differenziert sich in ‚Dingwahrnehmung‘ und ‚Ausdruckswahrnehmung‘. Eigentlich sind beide kulturell generiert. Aber bei der Dingwahrnehmung wird sozusagen die Pointe des Kulturellen – die sinnhafte Lebendigkeit, die konstitutive Modalität – gleichsam abgeblendet, um die objektive Dinglichkeit zu akzentuieren und zu fi xieren. Cassirer spricht von der Differenzierung in einen „Ich-Pol“ und einen „Gegenstands-Pol“ im Falle der Wahrnehmung. Der Gegenstand, das andere (im Vergleich 54
LKW, ECW 24, 357 f. – Zu beachten ist, dass solche Gegenüberstellungen sich expressis verbis meist erst auf entwickelteren Orientierungsstufen einstellen, dass man also als Mentalitätsgeschichtler leicht einer fallacy im Sinne von William James „psychologist’s fallacy“ verfällt. Cassirer hat dieses Problem ausdrücklich unter diesem Namen reflektiert, vgl. EM, ECW 23, 74 sowie Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, SAGe, 145. Vgl. auch MoS, ECW 25, 126, wo von „historian’s fallacy“ die Rede ist. 55 LKW, ECW 24, 358, 444. 56 Ebd., 363 f., 372 f. – Grundsätzlich sieht Cassirer Orientierungskrisen als konstitutiv für die Selbstbesinnung des Menschen und damit für philosophische Anthropologie an. 57 PSF III, ECW 13, 218 ff. 58 LKW, ECW 24, 396.
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zur Person, die wahrnimmt), kann nun ein „Es“ schlechthin, ein Ding, „ein aliud“ sein, es kann aber auch ein „alter ego“, ein „Du“ sein. 59 Insofern Cassirer den Akzent auf die Wahrnehmung mit dem implizierten Du legt, ist der kulturelle Bereich betont. In diesem Sinne kann man die naturwissenschaftliche Gegenstandsauffassung – als eine methodisch fundierte Dingauffassung – als einen von der kulturellen Auffassung abgeleiteten, einen zumindest derivierten, wenn nicht defizienten Modus betrachten. Cassirer bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Physiker Erwin Schrödinger, der darauf hingewiesen hatte, dass die „Ausschaltung des ‚Personalen‘, auch im Weltbild der Physik, niemals absolut gelingen kann, sondern, daß sie nur als ein Grenzbegriff der naturwissenschaftlichen Methode anzusehen ist.“60 Sofern nun aber die Kulturwissenschaft Wissenschaft ist, gerät sie in ein eigentümliches doppeltes Verhältnis zum Mythos. Als „theoretische Weltbetrachtung“ muss sie der „geistigen Macht [...] des Mythos“ im Namen einer höheren Differenzierung entgegentreten, andererseits ist es gerade der Mythos, der die Ausdruckswahrnehmung in ihrem Primat verkörpert. 61 Nach Cassirer ist es die rationalisierende Korrektur des Mythos die zu einer Art Überkompensation als Naturalismus und Reduktionismus führen kann und damit zur Verleugnung des kulturellen Grundbefundes des Ausdrucks. Allerdings muss man bei Cassirer zwischen einem engeren und einem weiteren (pauschalen) Ausdrucksbegriff unterscheiden. Die Differenzierung von drei symbolischen Funktionen – Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung – diskutiert Cassirer in seiner ‚Logik der Kulturwissenschaften‘ nicht. 62 Ja, er scheint ‚Ausdruck‘ und ‚Darstellung‘ in der zweiten Studie gelegentlich synonym zu verstehen, so wenn er schreibt: „alle Kulturformen, so verschieden sie voneinander sein mögen, sind aktive Ausdrucksformen“, gleichzeitig aber solches „Erscheinen eines ‚Sinnes‘“, im Gegensatz zum bloß Physischen, der „Darstellungsfunktion“ zuordnet. 63 Man muss offensichtlich zwischen
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LKW, ECW 24, 396. Ebd., 404 (Fußnote). 61 Ebd., 396 f. 62 Vgl. Ernst Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, ECW 17, 253-282, wo Cassirer im Sinne von „symbolischen Funktionen“, die drei Formen ‚Ausdruck‘, ‚Darstellung‘, ‚reine Bedeutung‘ unterscheidet. Im ‚Ausdruck‘ fallen Sinnliches und Sinnhaftes noch ungeschieden zusammen, in der ‚Darstellung‘ besteht ein Bewusstsein des virtuellen Unterschieds von sinnlichem Substrat und Sinn, ein Bewusstsein, das sowohl objektive Orientierung als auch künstlerische Gestaltung ermöglicht. Die ‚reine Bedeutung‘ kommt ins Spiel, wo funktional mit formalen Kalkülen operiert wird. 63 LKW, ECW 24, 408, 400. 60
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Ausdruck in pauschalem Sinn, der Manifestierung von Sinn schlechthin bedeutet, und Ausdruck im engeren Sinne (noch vor weiterer Differenzierung), wie er für den Mythos symptomatisch ist, unterscheiden. Wichtig ist hier Cassirers struktur- und mentalitäts-geschichtliche These aus seiner Abhandlung ‚Sprache und Mythos‘ (von 1925): „Mythos, Sprache und Kunst bilden zunächst eine konkrete noch ungeschiedene Einheit, die sich erst allmählich in eine Trias selbständiger geistiger Gestaltungsweisen auseinanderlegt.“64 Ähnlich sind in der zweiten Studie „‚Ich‘ und ‚Du‘ nicht fertige Gegebenheiten“; vielmehr gilt, dass in den „Formen der Kultur“ „die Welt des ‚Ich‘, wie die des ‚Du‘, sich erst konstituieren.“65 In der dritten Studie ‚Naturbegriffe und Kulturbegriffe‘ sind für unsere Überlegungen zwei Momente hervorzuheben: der Stilbegriff und der Medienbegriff. Den Stilbegriff übernimmt Cassirer hier aus der Kunstwissenschaft, insbesondere aus Heinrich Wölfflins ‚Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen‘ von 1915. 66 Nietzsches Bestimmung von „Kultur“ als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes“67 wird von Cassirer nicht erwähnt. „Stilbegriffe“ sind nach Cassirer „Formbegriffe“ oder „Strukturbegriffe“ im Sinne der „inneren Sprachform“ oder der „gesetzmäßigen Form“ Wilhelm von Humboldts. Sie sind weder „nomothetisch“ noch „idiographisch“ im Sinne Windelbands und müssen von Rickerts „Wertbegriffen“ strikt unterschieden werden. 68 Cassirer geht an die Grenze dessen, was im Rahmen seiner eigenen Theorie terminologisch möglich ist, wenn er schreibt: „Was die Stilbegriffe darstellen, ist kein Sollen, sondern ein reines ‚Sein‘ – wenngleich es sich in diesem Sein nicht um physische Dinge, sondern um den Bestand von ‚Formen‘ handelt.“69 Es verdient, erwähnt zu werden, dass Cassirer den Stilbegriff bereits 1921/22 – allerdings in einem anderen Zusammenhang – eingesetzt hat, nämlich in seinem Aufsatz ‚Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften‘. Hier unterscheidet er – im Anschluss an Goe-
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Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Betrag zum Problem der Götternamen, ECW 16, 227-311, hier: 310. Vgl. auch CIPC, SMC, 87: „Myth is to be regarded as a common background and common basis for all the various energies that participate and cooperate in the construction of our human world.“ 65 LKW, ECW 24, 407 f. 66 Ebd., 417 f. 67 Zu dieser Formel (aus der ‚Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung‘) und ihren Varianten vgl. Ernst Wolfgang Orth (2003): Nietzsche als Kulturphilosoph. In: Urs Heftrich / Gerhard Ressel (Hg.): Vladimir Solov’ev und Friedrich Nietzsche. Eine deutsch-russische kulturelle Jahrhundertbilanz, Bern / Berlin, 147-173, besonders 148 ff. 68 LKW, ECW 24, 416 f., 420. 69 Ebd., 421.
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thes berühmten Aufsatz – „einfache Nachahmung“, „Manier“ und „Stil“, vergleichbar der späteren Unterscheidung: Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung. 70 Obwohl Cassirer sich in diesem Aufsatz den Geisteswissenschaften widmet, sieht er in der subtilen, mathematischen Symbolik von Einsteins Relativitätstheorie ein Musterbeispiel von ‚Stil‘. 71 Es ist das ‚Sein der Formen‘, das auch den Zugang zu Befund und Problem der Medien eröffnet. Nach Cassirer ist es das „Medium der verschiedenen Formwelten, aus denen sich die Kultur aufbaut“. Die „Kultur“ erweist sich damit als eine „intersubjektive Welt“, die sich „Ich und Du“ „in aktivem Austausch“ aneignen, um an ihr teilzuhaben. Die Form der „Teilhabe“ in dieser Medienwelt, sofern sie Formwelt ist, „ist eine völlig andere als in der physischen Welt“. Sie ist „Verständigung“. 72 In den Medien baut sich eine ‚gemeinsame Welt‘ auf. Schon nach Überlegungen der zweiten Studie ist die „Erkenntnis vom ‚Physischen‘ die Grundlage und das Substrat für jeden derartigen Aufbau. Es gibt kein rein ‚Ideelles‘, das dieser Stütze entbehren könnte. Das Ideelle besteht nur, insoweit es sich in irgendeiner Weise sinnlich-stofflich darstellt und sich in dieser Darstellung verkörpert.“73 Das Medium ist also nicht das bloße Substrat, sondern dessen Modalisierung, d.h. die mancherlei Art und Weise („in irgendeiner Weise“), in welcher Sinn zur verkörperten Darstellung kommt. Die Kultur als Inbegriff aller Medialität ist die Dimension dieser Darstellung. Die tatsächlichen symbolischen Formen sind die Medien. In diesem Sinne formuliert Cassirer in seiner dritten Studie hinsichtlich des Formverständnisses als medialen Geschehens: „Wir leben in den Worten der Sprache, in den Gestalten der Poesie und der bildenden Kunst, in den Formen der Musik, in den Gebilden der religiösen Vorstellungen und des religiösen Glaubens. Und nur hierin ‚wissen‘ wir voneinander.“ Cassirer betont: „Dieses intuitive Wissen hat noch nicht den Charakter der ‚Wissenschaft‘. Wir verstehen einander im Sprechen, ohne hierfür der Sprachwissenschaft oder Grammatik zu bedürfen; und das ‚natürliche‘ künstlerische Gefühl bedarf keiner Kunstgeschichte und keiner Stilistik. Aber dieses ‚natürliche‘ Verstehen gelangt bald an seine Grenze.“ Es sind 70
Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, ECW 16, 85. Vgl. auch Ders.: Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über ‚Lotte in Weimar‘, ECW 24, 267-298, wo Cassirer Thomas Manns Roman als eine brillante Komposition gemäß der Trias ‚Nachahmung, Manier, Stil‘ interpretiert, indem er zeigt, wie ‚Nachahmung‘ und ‚Manier‘ im ‚Stil‘ aufgehoben werden. 71 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, ECW 16, 86 f. 72 LKW, ECW 24, 433. 73 Ebd., 399. – Wenn das ‚Ideelle‘ ‚reines Sein‘ ist, so scheint es doch als solches nicht existieren und zur Geltung kommen zu können.
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diese Grenzen der Durchschaubarkeit, also Krisen, welche die Etablierung von Wissenschaften der Natur- und der Kultur motivieren. 74 In der vierten Studie über ‚Formproblem und Kausalproblem‘ versucht Cassirer dem Umstand Rechnung zu tragen, dass trotz der Entgegensetzung von kulturwissenschaftlicher Form und naturwissenschaftlicher Kausalität auch das Gebiet der Kultur in erheblichem Maße dem Werden verhaftet ist. Das ist schon darin begründet, dass – wegen seiner sozusagen konstitutiven Verkörpertheit – jedes „Kulturobjekt“ (wie es schon in der dritten Studie heißt) drei Seiten aufweist, nämlich „eine physische, eine psychologische, eine historische Seite“75 , die alle drei ihrerseits Werdensprozesse implizieren. Zunächst versucht Cassirer in der vierten Studie den „Aristotelischen Begriff der Form-Ursache“ unter neuen, unmetaphysischen Bedingungen, wie sie sich aus neueren naturwissenschaftlichen Entwicklungen ergeben, methodisch einsetzbar zu machen. Er bezieht sich dabei auf die physikalische Feldtheorie im Anschluss an Hermann Weyl und die biologische Ganzheitsbetrachtung, z.B. im Sinne L. von Bertallanfys, aber auch – ohne Namen zu nennen – auf die Ganzheits- und Strukturpsychologie. 76 Diese „methodische Umbildung der Physik, der Biologie und Psychologie“ habe er – so Cassirer – nur darum angedeutet, „um an sie die Frage anzuknüpfen, inwieweit sich hieraus auch für die Gestaltung der Kulturwissenschaften ein neuer Aspekt ergibt.“ Zwar können die „Anerkennung des Ganzheitsbegriffes und des Strukturbegriffes“ „den Unterschied zwischen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft keineswegs“ verwischen oder eliminieren; aber die „Kulturwissenschaft“ könne nun „freier und unbefangener“ „das Studium ihrer Formen“ betreiben. 77 Eine solche neue Studienrichtung führt Cassirer nun ein, indem er drei Dimensionen „der Betrachtung des Kulturgeschehens“ unterscheidet: „die Werdens-Analyse“; sie stützt sich „auf die Kategorien von Ursache und Wirkung“. Sie steht „der Werk-Analyse und der Form-Analyse gegenüber“. 78 Und nun fällt ein bemerkenswerter Satz: „Die Werk-Analyse bildet die eigentlich tragende Grundschicht“. Sie verschafft uns, noch bevor wir eine nähere Einsicht in historische und ursächliche Zusam74
LKW, ECW 24, 433 f. – Hier ist auch so etwas wie eine Medienkritik impliziert im Sinne der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen eines sinnvollen Mediengebrauchs, nicht etwa der als Verleugnung der Medien. 75 Ebd., 415. 76 Ebd., 437 f., 442 ff. 77 Ebd., 455. Cassirer bewegt sich hier am Rande der Systemtheorie. Vgl. dazu auch Ernst Cassirer: Structuralism in Modern Linguistics (1945), ECW 24, 299-320, sowie Cassirer: Was ist ‚Subjektivismus‘?, ECW 22, 167-192. 78 LKW, ECW 24, 456.
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menhänge der Kulturerscheinungen haben, einen „Überblick über die Werke der Sprache, der Kunst, der Religion“ usw. 79 Das heißt: wir müssen jeweils in den „Sinn“ von Werken „eingedrungen sein; wir müssen verstehen, was sie uns zu sagen haben.“ Das geschieht offenbar zunächst schon vorwissenschaftlich. Aber um es zum vollen „Verständnis“ zu bringen, muss ein „eigenes Verfahren der Deutung“ eingesetzt werden, „eine selbständige und höchst schwierige und komplizierte ‚Hermeneutik‘“. 80 Wie diese Hermeneutik positiv im Einzelnen zu verfahren hat, verrät uns Cassirer hier nicht. Auffällig ist, dass er sie für so grundlegend wie speziell einschätzt. Es ist sozusagen der elementare Aufgang von Sinn, der sich an einem jeweiligen Paradigma (eben konkret und nicht abstrakt), an jeweils einzelnen Werken tatsächlich vollzogen haben muss. Die bewusste Analyse dessen ist „Hermeneutik“. Daran kann und muss dann nach Cassirer die Form-Analyse anschließen, die das Wesen der Kulturform bestimmt, innerhalb derer die jeweiligen Werke auftreten. Cassirer erkennt diese Wesensbestimmungen in den Kulturformen, die er ‚symbolische Formen‘ nennt; diese Wesen sind nun gemäß der Form-Analyse auf ihre jeweiligen „Funktionen“ einerseits und ihren Zusammenhang untereinander andererseits zu untersuchen. Hier – in einer Philosophie der symbolischen Formen – liegt nach Cassirer gleichsam der Fluchtpunkt „zu einer ‚Theorie‘ der Kultur“. 81 Merkwürdigerweise schließt sich nun nach Cassirer noch „ein weiterer Schritt“ an die Form-Analyse an, die „Akt-Analyse“. 82 Hier wird „nach den seelischen Prozessen“ gefragt, „aus denen sie [die Gebilde, Werke und Formen der Kultur] hervorgegangen sind und deren objektiven Niederschlag sie bilden. Wir erforschen die Eigenheit des ‚Symbolbewußtseins‘“. 83 Bemerkenswert ist, dass es sich hier offenbar um eine Werdens-Analyse 79
LKW, ECW 24, 456. – Wir dürfen wohl „usw.“ anschließen, weil auch an ‚Werke‘ anderer Formbereiche zu denken ist. 80 Ebd., 456. Den Terminus ‚Hermeneutik‘ (oder ‚hermeneutisch‘) fi nden wir in einem weiteren Sinn als Sinnverstehen überhaupt in Ernst Cassirer: Erkenntnistheorie nebst Grundfragen der Logik und Denkpsychologie, ECW 17, 13-81, „hermeneutische Funktion“ im Zusammenhang der These, „das Erkenntnisproblem und das Wahrheitsproblem“ seien „als Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsproblems zu begreifen“ (S. 16). Vgl. auch ECN 1, 165: „Erkenntnistheorie ist im Grunde nichts anderes, als eine Hermeneutik der Erkenntnis, aber eine Hermeneutik, die je eine besondere ‚Richtung‘ von ihr erfaßt“, nach „verschiedenen Formen der Auslegung“. Auf S. 206 heißt es: „Alle Geistesgeschichte beruht auf Hermeneutik.“ 81 LKW, ECW 24, 456. 82 Ebd., 456 f. Diese ist wohl nicht ein Aspekt der Formanalyse als „doppelte Aufgabe“ (S. 456). Mit der doppelten Aufgabe scheint die Formanalyse einerseits als Frage nach dem „‚Was‘ jeder einzelnen Kulturform“ andererseits die Frage „wie verhalten“ sich die Formen zueinander (ebd.) gemeint zu sein. 83 Ebd., 456.
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handelt, die sich gleichwohl von der oben so genannten unterscheidet. Es geht hier um ein „reines Werden“, sozusagen um eine Genesis „innerhalb der ‚Form‘“. 84 Cassirer bezieht sich hier – wie oft auch an anderen Stellen seiner Werke – auf die platonische Formel „vom Werden zum Sein“, d.h. die génesiz eìz Ôysían. 85 In seinem frühen Aufsatz über ‚Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie‘ (von 1923), in welchem Humboldts ‚genetische Definition‘ (als Formbestimmung der Sprache) erörtert wird, schreibt Cassirer: „Diese Genesis selbst aber ist nicht psychologisch, sondern transzendental zu verstehen.“86 Die AktAnalyse Cassirers erhält damit eine gewisse Nähe zu Husserls noetischer Analyse. Lenkt man den Blick wieder auf Cassirers oben entwickelten Begriff der Hermeneutik, so fragt sich – im Lichte des nun Erörterten – , ob die dort thematisierte Verstehensleistung ohne die Form- und AktAnalyse überhaupt verständlich zu machen ist, ob also nicht doch ein weiterer Begriff von Hermeneutik erforderlich wäre. Wie immer man Werdens-Analyse, Werk-Analyse (als hermeneutische) sowie Form- und Akt-Analyse auffasst, für Cassirer ist die „Frage nach der Entstehung der Symbolfunktion mit wissenschaftlichen Mitteln nicht lösbar“; „der Übergang von der Natur zur Kultur“, der ja ein Faktum ist, stellt eine jener Arten von Entwicklung dar, „die wir zwar aufweisen, aber nicht [...] kausal erklären können.“87 Die abschließende fünfte Studie von ‚Zur Logik der Kulturwissenschaften‘ über ‚Die „Tragödie der Kultur“‘ knüpft an diesen Befund an. Sie stellt die Frage nach so etwas wie einer Pathologie der Kultur88 , in84
LKW, ECW 24, 459. Ebd., 459. PSF I, ECW 11, 9. 86 Ernst Cassierer: Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie (1923), ECW 16, 105-133, hier: 123. Vgl. auch ders.: ‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart, ECW 17, 185-205. Ähnlich spricht Cassirer in ZER, ECW 10, 111 von einem „Anthropomorphismus“, der „nicht in einem beschränkt psychologischen, sondern in einem allgemeinen, kritisch-transzendentalen Sinne zu verstehen“ sei. Es geht um eine Anthropologie ohne substanzhaft fi xiertes Menschenbild zugunsten der Betonung funktioneller Bildungsenergien. So heißt es bei Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, ECW 16, 86, es gehe nicht so sehr um „die Natur des Bildes“, als vielmehr um „die zugleich freie und gesetzliche Natur des Bildens“. Cassirer verweist hier auch auf das „Verbot des Bilderdienstes“ als Grenzscheide zwischen dem mythischen und dem prophetischen Bewußtsein“ (S. 92) – als einem bedeutsamen religionsgeschichtlichen und mentalitätsgeschichtlichen Phänomen. 87 LKW, ECW 24, 459, 461. 88 Vgl. dazu ECN 1, 40-47, 60-64. – In diesen Nachlasstexten aus 1928 entwickelt Cassirer eine „naturphilosophische“ Perspektive im Zusammenhang seiner Geist- und Lebens-Thematik, indem er den Begriff der symbolischen Form mit dem uexküllschen des nach Merk- und Wirkwelt gegliederten Bauplanes der Tiere ‚kontrastierend‘ vergleicht, nicht um eines aus dem anderen abzuleiten, sondern sie wechselseitig anei85
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dem sie an Simmels Essay ‚Der Begriff und die Tragödie der Kultur‘ von 1911 erinnert. 89 Simmels These, dass die vom Menschen, aus seelischen Energien heraus, geschaffenen Kulturobjekte, eben diesem Menschen wie entfremdende Objekte entgegentreten, hält Cassirer für einseitig, obwohl er den Prozess und die Struktur solcher Objektivierungen in der Kultur nicht bestreiten kann; sie gehören vielmehr zum Bildungsgesetz der Kultur. Aber Cassirer weist darauf hin, dass es bei den Kulturobjekten als Werken eben nicht um das ‚Es‘, sondern um das ‚Du‘ (also personale Lebendigkeit) gehe, insofern nämlich das „Werk“ „nur ein Durchgangspunkt“, eine „Brücke“ ist, „die von einem Ich-Pol zum anderen hinüberführt.“90 Deshalb ersetzt Cassirer das Modell Kultur als ‚Tragödie‘ durch das des ‚Dramas‘.91 Aber hinsichtlich dieses Dramas muss Cassirer dann doch so etwas wie die Verwundbarkeit der „Kulturgüter“ eingestehen: „Denn auch diese Güter haben eine materielle Seite, an der sie verwundbar sind.“ Und „die Menschheit“ hat „sich in ihrer Sprache, ihrer Kunst, in allen ihrer Kulturformen gewissermaßen einen neuen Körper geschaffen“, „der allen gemeinsam zugehört.“92 Das heißt: die materielle Schädigung ist nicht harmlos; sie schlägt – gemäß der cassirerschen Kulturkonzeption – auf den Kultursinn durch. 1939 hatte Cassirer in seinem Aufsatz ‚Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie‘ die sichere Voraussagbarkeit für die „zukünftige Gestalt der Kultur“, ja für die Kultur überhaupt verneint, zumal das „Tun“, welches Kultur ist, „sich erst in seinem eigenen Vollzug“ „erkennt“ und „bewußt“ wird. „Die immer wieder aufbrechende Unsicherheit über nander zu erhellen. Entsprechend betont Cassirer zum Abschluss der fünften Studie von LKW, „in den Kulturphänomenen aber“ sei eine „biologische Schranke beseitigt. Der Mensch hat in den ‚symbolischen Formen‘, die das Eigentümliche seines Wesens und seines Könnens sind, gewissermaßen die Lösung einer Aufgabe vollzogen, die die organische Natur als solche nicht zu lösen vermochte. Der ‚Geist‘ hat geleistet, was dem ‚Leben‘ versagt blieb. Hier ist das Werden und Wirken des Einzelnen in ganz anderer, tief eingreifender Weise mit dem des Ganzen verknüpft. Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion, werden zu den ‚Monumenten‘, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit.“ (LKW, ECW 24, 486). Damit erfüllt die Kultur zwei Funktionen. Sie stellt einerseits den Menschen als Individuum ontologisch über den Gattungsbegriff; andererseits objektiviert sie die Welt des Menschen in den das einzelne Individuum übergreifenden und tragenden Werken der Kultur, an denen das Individuum gleichwohl von innen teilhat. 89 Vgl. dazu zunächst PSF III, ECW 13, 302-321. Dazu Ernst Wolfgang Orth (2004): Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 319-337. 90 Vgl. Georg Simmel (1983): Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911), Berlin. 91 Vgl. LKW, ECW 24, 482. 92 Ebd., 486.
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das Schicksal und die Zukunft der menschlichen Kultur kann somit eine kritische Kulturphilosophie nicht vermeiden. Sie muß die Grenzen des historischen Determinismus, die Grenzen der Vorausberechnung anerkennen. Alles, was hier gesagt werden kann, ist, daß die Kultur sein und fortschreiten wird, sofern [!] die formbildenden Kräfte, die letzten Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen.“93 In der Studie von 1942 wird der Gang der Kultur als Dialektik beschrieben. „Die Kultur ist ‚dialektisch‘, so wahr sie dramatisch ist. Sie ist kein einfaches Geschehen, kein ruhiger Ablauf, sondern sie ist ein Tun, das stets von Neuem einsetzen muß, und das seines Zieles niemals sicher ist.“ Sie bewegt sich notwendig zwischen „Erhaltung“ und „Erneuerung“. Das „Gleichgewicht“, das zwischen beiden gesucht wird, „ist immer nur ein labiles“. Allerdings wird „mit dem Wachstum und der Entwicklung der Kultur“ „die Amplitude der Schwingung“ immer größer.94 In seinem Essay von 1930 über ‚Form und Technik‘ sagt Cassirer unter methodischer Nutzung seiner triadischen Symbolfunktion (Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung), dass „alle Kulturentwicklung“ sich zwischen den beiden Extremen „Ausdruck“ und „reiner Bedeutung“ vollziehe und dass „in der Kunst gewissermaßen das ideale Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen erreicht“ ist.95 Das wirft am Ende die Frage auf, ob nicht die Kunst oder zumindest die künstlerisch inspirierte Sprache – als Literatur – die geeignete Form wäre, den Gegenstand zu fassen, den die Kulturwissenschaft thematisiert. Cassirer hat diese Sprache als Philosoph und als Kulturwissenschaftler einzusetzen versucht.
93 94 95
NHBK, ECW 22, 166. LKW, ECW 24, 482. FuT, ECW 17, 180.
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Literaturverzeichnis Jesinghausen-Lauster, Martin (1985): Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden. Konersmann, Ralf (2003): Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg. Orth, Ernst Wolfgang (1991): Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus. In: Reports on Philosophy 14. – (2003): ‚Natur und Geist‘ in der Husserlschen Phänomenologie. In: Phänomenologische Forschungen. – (2003): Nietzsche als Kulturphilosoph. In: Urs Heftrich/ Gerhard Ressel (Hg.): Vladimir Solov’ev und Friedrich Nietzsche. Eine deutsch-russische kulturelle Jahrhundertbilanz, Bern/Berlin. – (2004): Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg. Simmel, Georg (1983): Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911), Berlin. Windelband, Wilhelm (1911): Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus (1910). In: Ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie, 2. Bd., 4. Aufl., Tübingen.
Ralf Becker
Paradigmen zu einer Dramaturgie der Kultur Cassirers Auseinandersetzung mit Simmels Kulturkritik im Licht der ,Basisphänomene‘
I. Einleitung Mancher Buchtitel besticht so durch seine suggestive Kraft, dass wir die in ihm gestellte Frage beantwortet sehen wollen, noch bevor wir ihre Fragwürdigkeit eigens in Betracht gezogen haben. Dies gilt auch für George Steiners jüngst erschienenen geistreichen Essayband mit dem vielsagenden Titel Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Darin nennt der Verfasser als einen Grund für die Traurigkeit, die uns das Denken bereitet, dass es „im höchsten Maße unser Eigentum“ sei, „verborgen im tiefsten Innern unseres Seins“, und gleichzeitig „die gewöhnlichste, abgenutzteste, repetitivste aller Handlungen.“ Steiner verdeutlicht diese permanente Enteignung des Denkens anhand der Sprache: „Wir werden“, so führt der melancholische Denker aus, „in eine sprachliche Matrix hineingeboren, die geschichtlich ererbt ist und an der alle teilhaben. Die Wörter, die Sätze, die wir benutzen, um unser Denken nach innen oder außen zu übermitteln, gehören einer gemeinsamen Währung an. Sie demokratisieren die Intimität. Sozusagen im embryonalen Zustand listet das Wörterbuch fast die Gesamtheit [sowohl] aktuellen als auch potentiellen Denkens auf. Das wiederum aus Kombination und Auslese vorfabrizierter Spielmarken besteht. Es könnte wohl sein, dass grammatikalische Regeln und Präzedenzfälle (die Bausteine des Legokastens) einen Großteil unserer Denkakte und bewussten Artikulationen vorherbestimmen und einschränken.“1 Die Sprache ist freilich nur ein, wenngleich sehr prominentes, pars pro toto. Denn im Grunde gilt für sie, was für alle kulturellen Medien (wie Kunst, Recht, Religion, Wissenschaft usw.) überhaupt gilt: Sie binden unser Denken an vorgegebene Normen und Strukturen, ohne die es sich nicht ausdrücken und mitteilen kann. Die Klagen, die in der Geschichte über diese Abhängigkeit geäußert wurden, sind Legion. Gelegentlich ertönt angesichts der ,Expropriation des subjektiven Geistes durch den 1
George Steiner (2006): Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe, übers. v. Nicolaus Bornhorn, Frankfurt a.M., 31, 27.
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objektiven Geist‘ auch die Forderung nach der ,Expropriation des Expropriateurs‘ – die Sprache etwa soll dann nur als ein Vehikel auf jenem geheimnisvollen Weg dienstbar werden, der bekanntlich ins Innere führt. Es ist dieses Verhältnis zwischen subjektivem und objektivem Geist, zwischen lebendiger und geprägter Form, das in einer Urszene der Kulturphilosophie zur Debatte steht. In seiner fünften Studie Zur Logik der Kulturwissenschaften von 1942 diskutiert Ernst Cassirer einen Aufsatz, den Georg Simmel 1911 unter dem Titel „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ veröffentlicht hatte. Simmel sah die Tragödie der Kultur in der unabwendbaren Tendenz, dass die geistigen Erzeugnisse als Objekte eine Eigenlogik gewinnen und sich von ihren Schöpfern entfremden. Cassirer dagegen stellt Simmels Diagnose einer Entfremdung zwischen subjektivem und objektivem Geist in Frage. Wenn ich im Folgenden diese Konstellation zwischen Simmel und Cassirer in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stelle, dann verknüpfe ich mit ihr ein dreifaches Anliegen: 2 Zum einen haben wir es mit dem systematischen Problem zu tun, wie man die Formbildung geistigen Lebens beschreiben kann – es geht also, mit anderen Worten, um die Kategorien, durch die sich der Kulturprozess fassbar machen lässt. Zweitens möchte ich die historische These vertreten, dass Cassirer seiner Rekonstruktion des Kulturprozesses ein anderes Paradigma zugrunde legt als Simmel und damit einen entscheidenden Wandel in der Kulturphilosophie vollzieht: Während Simmel vom Begriff der Produktion ausgeht, stellt Cassirer die Kultur als ein medial organisiertes Kommunikationsgeschehen dar. Schließlich möchte ich dem philologischen Befund nachgehen, dass Cassirers intensive Auseinandersetzung mit Simmels ,Tragödien‘-Aufsatz im unmittelbaren Zusammenhang seiner Überlegungen zu den vom ihm so genannten ,Basisphänomenen‘ steht, die er Mitte und Ende der dreißiger Jahre in seinem Göteborger Exil angestellt hat und die ein zusätzliches Licht auf die Pointe von Cassirers Simmel-Kritik werfen können. In einem ersten Schritt werde ich daher zunächst Simmels Position näher erörtern, um sie dann mit Cassirers Entgegnung zu konfrontieren, die ich wiederum in einem dritten Schritt durch Texte aus seinem veröffentlichten Nachlass ergänzen werde. Abschließend möchte ich einige Spuren identifizieren, die Cassirers Göteborger Reflexionen in seinem Spätwerk An Essay on Man hinterlassen haben. 2
Zu dieser Konstellation vgl. außerdem Ernst Wolfgang Orth (1993): Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus. In: Jeff Kintzelé, Peter Schneider (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M., 88-112; sowie Birgit Recki (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin, 172-188.
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II. Georg Simmel: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ 1. Bevor Simmel die Tragödie der Kultur diagnostiziert, bestimmt er zuerst den Begriff der Kultur, die er als den „Weg der Seele zu sich selbst“ beschreibt. 3 Dieser Weg verläuft dialektisch „von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“,4 das bedeutet: Der Geist erzeugt in Werken objektive Gebilde, die in ihrer ,entfalteten Vielheit‘ dazu dienen, ihm zu einer höheren (,entfalteten‘) Einheit zu verhelfen. Dieser Umweg über die Objektivierung des Subjekts und die Resubjektivierung der Objekte ist es, den Simmel mit dem Wort ,Kultur‘ bezeichnet. Dabei ist zu beachten, dass es sich um einen idealtypischen Verlauf handelt, dessen Ende keineswegs in seinem Ursprung bereits antizipiert wäre. „Kultur entsteht [...] indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.“5 Erst die erfolgreiche Synthese zwischen subjektivem und objektivem Geist definiert Kultur, nicht die Produktion kultureller Gebilde allein. 2. Damit es zu dieser Synthese kommen kann, muss sich der Geist notwendigerweise in Werken vergegenständlichen. 6 Der Weg zu sich selbst führt durch die Kultur. Den spezifischen Werkcharakter kultureller Gegenstände knüpft Simmel an ihren Eigenwert. 7 Der Kulturgegenstand unterscheidet sich vom Naturgegenstand genau dadurch, dass er, gerade weil er subjektiven Ursprungs ist, einen objektiven Wert besitzt, wohingegen ein „Erzeugnis der schlechthin objektiven Mächte nur subjektiv wertvoll sein kann“. 8 Simmel verdeutlicht diese Differenz an dem Gegensatz zwischen dem Kunstschönen und dem Naturschönen: „Ein Sonnenaufgang, den kein Menschenauge sieht, macht die Welt dadurch nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk [...] für eine Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt; die Welt erscheint uns sozusagen ihrer Existenz würdiger, ihrem Sinne nä-
3
Georg Simmel (2001): Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911). In: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 12, Frankfurt a.M., 194-223, hier: 194. 4 Ebd., 196. 5 Ebd., 198. 6 Anstelle von „Werk“ spricht Simmel auch von „Kulturtatsache“ (ebd., 213). 7 Zu Simmels Wertbegriff vgl. Willfried Geßner (2003): Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist, 70-93. 8 Simmel, 2001, 202.
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her, wenn die Quelle alles Wertes, die menschliche Seele, sich in eine solche, nun gleichfalls der objektiven Welt angehörige Tatsache ergossen hat“.9 Das aus einer solchen künstlerischen Tätigkeit hervorgehende Kunstwerk besitzt dann einen Eigenwert, der darin besteht, dass es dieses Objekt überhaupt gibt. Der Sonnenaufgang ist nicht an sich wertvoll, das ihn darstellende Gemälde sehr wohl. 3. Nachdem Simmel den Kulturbegriff auf den Werkbegriff zurückgeführt und diesen durch seinen Eigenwert ausgezeichnet hat, geht er in einem dritten Schritt dazu über, den Kulturwert eines Werkes von seinem Sachwert abzugrenzen. Mit Sachwert meint Simmel die genrebezogene Qualität eines Werkes, z.B. die ,Technik‘ eines Gemäldes, die sprachliche Reife eines Gedichts oder auch die Validität einer wissenschaftlichen Theorie.10 Der Kulturwert eines Gebildes liegt in seinem Beitrag, den es für den Ausgang des Menschen aus seinem „Naturzustand“ in den „Kulturzustand“ leistet.11 Nur wenn es auch für die Bildung des Menschen von Bedeutung ist, besitzt ein kulturelles Objekt einen Kulturwert. Für Simmel ist es jedoch entscheidend, dass jeder Kulturwert „auch Wert einer Sachreihe sein“ muss.12 „Wer nur nach dem Heil der Seele oder nach dem Ideal der persönlichen Kraft oder der rein individuellen Entwicklung, in die kein ihr äußeres Moment eingreifen darf, fragt – dessen Wertungen entbehren eben des einen integrierenden Faktors der Kultur“, während der andere integrierende Faktor demjenigen fehlt, der sich ausschließlich für die reine „Sachvollendung unserer Werke“ interessiert. „Das Extrem des ersten Typus ist der Säulenheilige, des anderen der im Fachfanatismus eingeschlossene Spezialist.“13 Erneut weist Simmel darauf hin, dass Kultur „eben immer nur die Synthese einer subjektiven Entwicklung“, die einseitig vom Säulenheiligen propagiert wird, „und eines objektiven geistigen Wertes“, auf den sich der Spezialist kapriziert, bedeutet und dass keiner dieser Faktoren vom jeweils anderen isoliert werden darf.14 Ein Gebilde des objektiven Geistes promoviert das Individuum demnach nur dann, wenn es sowohl einen Sachwert, durch den „irgend ein [einzelnes] Interesse oder eine Fähigkeit unseres Wesens eine Förderung erfährt“, als auch einen Kulturwert besitzt, der unser „Gesamt-Ich“ und „seine Vollendungseinheit“ voranbringt.15 9 10 11 12 13 14 15
Simmel, 2001, 203. Vgl. ebd., 207. Ebd., 204. Ebd., 204. Ebd., 208. Ebd., 208. Ebd., 204.
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4. Gleichwohl können der Sachwert und der Kulturwert eines Gebildes auseinanderfallen. Die Möglichkeit einer solchen „Disproportionalität“16 führt Simmel dazu, von einer Tragödie der Kultur zu sprechen. Sie tritt nämlich genau dann auf, wenn sich der Sachwert gegenüber dem Kulturwert verselbständigt und dadurch die „Vollendung des persönlichen Gesamtseins“17 sabotiert. Die Autonomie der Sachen blockiert den Weg aus der entfalteten Vielheit zur entfalteten Einheit und verhindert so den Abschluss des dreistufigen dialektischen Kulturprozesses. Als Beispiele führt Simmel Sprache und Religion an, um deutlich zu machen, dass die Synthese von Subjekt und Objekt keineswegs garantiert ist. Vielmehr kennen wir alle die Erfahrung – wir erinnern uns an die Melancholie des Denkens –, dass wir die Sprache gelegentlich „wie eine fremde Naturmacht“ wahrnehmen, „die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmelt.“18 Ähnliches gilt auch für die Religion, die uns ihrem Wortsinne nach mit einer über unsere Existenz hinausgehenden Macht verbinden und gerade dadurch uns zu uns selbst führen soll. Und doch gibt es keine Religion ohne Konfession, die sich nicht nur in dem fragwürdigen Medium der Sprache ausdrückt, sondern auch noch Satzungen und Regeln umfasst. Die Diskrepanz,19 die sich in solchen Fällen zwischen dem subjektiven und dem objektiven Geist einstellt, bezeichnet Simmel mit dem von Marx entlehnten Begriff der Entfremdung. 20 Während Kultur ex definitione ursprünglich Aneignung oder besser gesagt: Sich-selbst-zueigenWerden heißen sollte, sehen wir uns nun mit dem absoluten Gegenteil konfrontiert. Ist dieses Risiko der Entfremdung in jeder Kultur schaffenden Tätigkeit angelegt, wird es, so Simmel, bei arbeitsteiligen Prozessen unausweichlich. 21 Denn Objekte, die keinen (individuell adressierbaren) Produzenten, sondern nur Kontribuenten22 haben, sind nicht aus einer (personalen) Einheit hervorgegangen und können nach Simmels Auffassung daher auch nicht zu einer solchen Einheit adaptiert werden. 23
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Ebd., 209. Ebd., 211, vgl. 212. 18 Ebd., 212. 19 Simmel spricht von „Diskordanz“: ebd., 214. 20 Ebd., 214. 21 Ebd., 215: „Die allermeisten Produkte unseres geistigen Schaffens enthalten innerhalb ihrer Bedeutung eine gewisse Quote, die wir nicht geschaffen haben.“ 22 Ebd., 222. 23 Ebd., 215: „[...] durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist.“ 17
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Der Sachwert dieser Objekte verselbständigt sich bis hin zum Fetisch. Was Marx als den Fetischcharakter der (ökonomischen) Ware identifiziert hatte, erkennt Simmel als nur einen besonders modifizierten Fall des „allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen – und mit steigender ,Kultur‘ immer mehr – unter der Paradoxie, dass sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie diesseits und jenseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden.“24 Tragisch ist diese Paradoxie deshalb, weil sie unvermeidlich ist, das Subjekt dieses Prozesses also gewissermaßen schuldlos schuldig wird: Denn die gegen es selbst gerichteten „vernichtenden Kräfte“ entspringen aus ihm selbst. 25 Es sind ja die eigenen Erzeugnisse des subjektiven Geistes, die ihrer Resubjektivierung entgegenstehen. 5. Die Kultur wird damit zu einem Sanierungsfall. Ein Remedium sieht Simmel im Kunstwerk. Hier nämlich ist jene Inkommensurabilität zwischen Produzent und Produkt aufgehoben, die die Einheit der Kultur gefährdet. Das Kunstwerk ist für Simmel deshalb ein „so unermeßlicher Kulturwert, weil es aller Arbeitsteilung unzugänglich ist, d.h. weil hier [...] das Geschaffene den Schöpfer aufs innigste bewahrt.“26 Ein Gemälde ist nie nur durch seinen Sachwert spezifiziert (den Reifegrad seiner Technik), sondern besitzt mit dem Stil des Künstlers, der sich in der Farbgebung und dem Arrangement verrät, immer auch einen Kulturwert. Der Weg, der zur entfalteten Einheit führen soll, verliert sich nicht in der entfalteten Vielheit eines kollektiv gefertigten Fabrikats, weil es sich um das Erzeugnis eines Produzenten handelt. (Wie Simmel allerdings das Filmkunstwerk, das in der Regel das Werk von vielen und nicht nur von einem ist, vor diesem Hintergrund bewerten würde, soll hier dahingestellt bleiben.) Fassen wir zusammen: Simmel beschreibt die Kultur als einen linearen Produktionsprozess geistigen Lebens, aus dem Produkte: kulturelle Werke, hervorgehen. Diese besitzen im Gegensatz zu den Naturgegenständen einen objektiven Eigenwert, der sich nach Sachwert und nach Kulturwert qualifizieren lässt. Verselbstständigt sich der Sachwert eines geistigen Erzeugnisses gegenüber seinem Kulturwert, dann kehrt sich das Gebilde gegen seinen höheren Zweck der Steigerung derjenigen Energie, die es hervorgebracht hatte. Simmel nennt diesen Vorgang ,Tragödie der Kultur‘: Das Produkt entfremdet sich von seinem Produzenten und damit auch 24 25 26
Simmel, 2001, 217. Ebd., 219. Ebd., 222.
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von dem sich als ,Reproduzenten‘ betätigenden Rezipienten, was vor allem dort unausweichlich ist, wo ein Kulturobjekt aus Arbeitsteilung hervorgeht. Das ideale Gebilde ist demgegenüber das Kunstwerk, das die Einheit des Künstlersubjekts, die es geschaffen hat, bewahrt und verkörpert.
III. Ernst Cassirer: „Die ,Tragödie der Kultur‘“ 1. Gut dreißig Jahre nach Erscheinen von Simmels Aufsatz und fast ein Vierteljahrhundert nach dem Tod Simmels veröffentlicht Cassirer seine Replik als letzte von fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften. Cassirer unterstellt Simmel sozusagen ein gnostisches Bild von der Kultur,27 das zwischen Seele und Welt ein „stetes“ und sich bis zur Antithese auswachsendes „Spannungsverhältnis“ zeigt. 28 Die Welt der Seele, die Kultur, erscheint in einem pessimistischen Licht, denn die „tiefe Fremdheit oder Feindschaft, die zwischen dem Lebens- und Schaffensprozess der Seele auf der einen Seite, seinen Inhalten und Erzeugnissen auf der anderen Seite besteht, duldet keinen Ausgleich und keine Versöhnung.“29 Nach Cassirers Auffassung spricht aus Simmel der Mystiker, der jede Entäußerung von Innerlichkeit in Symbolen mit Argwohn betrachtet. Das Symbol mag zwar ein notwendiges Mittel für den Weg der Seele zu sich selbst sein, besser wäre es aber, wenn es seiner gar nicht erst bedürfte. Dieser allgemeinen Symbolskepsis liege, so Cassirer weiter, ein substanzmetaphysischer Ich-Begriff zugrunde, der das Ich zu einem an sich Bestimmten mache, „das sich in dieser Bestimmtheit behaupten, das sich nicht an die Welt verlieren soll.“30 Dagegen wendet Cassirer ein – und könnte damit Simmel durchaus auf seiner Seite wissen –, dass die „Scheidung zwischen ,Ich‘ und ,Du‘, und ebenso die Scheidung zwischen ,Ich‘ und ,Welt‘, den Zielpunkt, nicht den Ausgangspunkt des geistigen Lebens“ bilde. 31 Zu der ontologischen Differenz zwischen Seele und Welt verleite außerdem die räumliche Metaphorik, die Simmel wähle, wenn er zwischen dem Innen des subjektiven und dem Außen des objektiven Geistes unterscheide. 2. Simmels vermeintliche ,Kulturgnosis‘ möchte Cassirer nun dadurch überwinden, dass er die Relation zwischen dem Subjekt und einem Werk durch die Relation zwischen zwei Subjekten erweitert. Damit wird aus 27
Cassirer selbst spricht nicht von ,Gnosis‘. LKW, ECW 24, 464. 29 Ebd., 465. 30 Ebd., 466. 31 Ebd., 466. – Vgl. dazu Georg Simmel (1989): Philosophie des Geldes. In: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 6, Frankfurt a.M., 30. 28
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dem Dual von Ich und Werk die Trias von Ich, Werk und Du; der Produktionsprozess wird auf einen Kommunikationsprozess zurückgeführt, in dem Werke nicht als Produkte am Ende einer Herstellung stehen, sondern als symbolische Medien für kommunikative Akte fungieren: „Ein Subjekt wird dem anderen nicht dadurch kenntlich oder verständlich, daß es in dasselbe übergeht, sondern daß es sich zu ihm in eine aktive Beziehung setzt.“32 Diese aktive Beziehung der Mitteilung (Kommunikation) „verlangt eine Gemeinschaft in bestimmten Prozessen, nicht in der bloßen Gleichheit von Produkten.“33 Die ,Tragödie‘, die Simmel entworfen habe, kenne nur „zwei Rollen“: das Kultursubjekt und das Kulturobjekt. In Cassirers ,Drama‘ treten dagegen drei Figuren auf: das schöpferische Ich, das Werk und „das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt.“34 Das Werk selbst bleibt ein bloßer „Durchgangspunkt“ in dem dreistelligen Kommunikationsprozess, es trägt den Charakter eines lediglich intermediären Gebildes, das zwischen Subjekten (Ich und Du) vermittelt. Dabei geht es weniger um einen Warenaustausch als vielmehr darum, dass „sich an der Tätigkeit des einen [Subjekts] die des anderen entzündet.“35 Für den dergestalt medial organisierten Kommunikationsprozess ist es ganz unerheblich, ob die an ihm beteiligten Subjekte gemeinsam an einem Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt anwesend sind, und sogar auch, ob es sich bei den ,Subjekten‘ um Personen oder um „ganze Epochen“ handelt. 36 Die ,Zündungen‘, die von Werken ausgehen, können einen Abstand von Jahrhunderten überbrücken, an dessen Ende es dann zu einer Erneuerung der ursprünglichen Aktivität kommt, die sich im Werk verdichtet hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich eine solche Erneuerung niemals auf bloße Reproduktion beschränkt, sondern immer die lebendige Anver wandlung durch den Rezipienten darstellt. Exemplarisch für diesen Vorgang ist die italienische Renaissance, in der es zu mehr als einer bloßen ,Wiedergeburt‘ antiker Kultur gekommen ist. Was hier im großen Maßstab stattgefunden hat, gilt bereits im Kleinen: Kultur ist als Kommunikation permanente Renaissance, die die potentielle Energie eines Mediums freisetzt. „Das Geschaffene steht also [...] dem schöpferischen Prozeß nicht einfach gegenüber oder entgegen; in die ,geprägte Form‘ strömt vielmehr immer neues Leben ein, das sie davor schützt, sich ,zum 32 33 34 35 36
LKW, ECW 24, 467. Ebd., 467. Ebd., 468. Ebd., 469. Ebd., 470.
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Starren zu waffnen‘.“37 Die Kultur verläuft daher nicht bloß von der Erzeugung hin zum Erzeugnis, sondern in ihr oszillieren ständig Tradition und Innovation, Erhaltung und Erneuerung: „Das Produktive liegt mit dem Traditionellen in stetem Widerstreit. [...] Die Tendenzen, die auf Erhaltung gerichtet sind, sind nicht minder bedeutungsvoll und unentbehrlich als diejenigen, die auf Erneuerung gerichtet sind, weil Erneuerung sich nur an Beharrendem vollziehen, und weil Beharrendes nur kraft steter Selbsterneuerung bestehen kann.“38 3. Cassirer greift im Folgenden Simmels Beispiele der Sprache und des Kunstwerks auf, um die prinzipielle Medienabhängigkeit des Geistes zu unterstreichen. Die Sprache wählte Simmel als einen möglichen Fall von Entfremdung, dem er das Kunstwerk als ein ideales Kulturobjekt gegenübergestellt hatte. Cassirer zeigt für beides, dass es verfehlt wäre, das Ausdrucksmedium vom Kommunikationsgeschehen loszulösen. Denn so wie die Sprache „niemals als physisches ,Ding‘“, sondern „nur im Akt des Sprechens“ existiert, 39 so können auch beim Kunstwerk physischer und psychischer Faktor (objektiver und subjektiver Geist) schlechterdings nicht voneinander getrennt werden. Dies verdeutlicht Cassirer in seiner Kritik an Benedetto Croce, mit der er sich gleichzeitig gegen Simmel richtet. Croce vertritt die These, dass es nur eine künstlerische Intuition gebe, die lediglich in verschiedenen Gewändern auftrete. Ob diese Intuition nun in ein Gedicht, ein Gemälde, eine Skulptur oder eine Symphonie eingehe, bleibe sekundär. Darauf entgegnet Cassirer, dass die besondere Art des Ausdrucks „nicht erst zur Technik der Werkgestaltung [dem ,Sachwert‘], sondern schon zur Konzeption des Kunstwerks selbst“ gehöre. Daher sei Beethovens Intuition musikalisch, so wie die Miltons episch sei.40 Cassirer kommt es beim Kunstwerk hier im Gegensatz zu Simmel durchaus nicht auf den Genius einer individuellen Künstlernatur an, ebenso wenig problematisiert er die demokratisierte Intimität der Sprache – statt dessen hebt er hervor, dass schon das Medium gleichsam die Botschaft ist. Das heißt: Es ist kein gleichgültiger Träger von ,Information‘, sondern es ist zugleich Bedingung und Ausdruck einer ursprünglichen Formbildung (eben In-Formation). Simmel hatte das Eigensein der kulturellen Tatsachen entdeckt, aber wo er sie vor allem als Produkte verstand, reinterpretiert Cassirer Werke als symbolische Medien für kommunikative Akte.
37 38 39 40
Ebd., 471. Ebd., 472. Ebd., 473. Ebd., 478.
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4. Ausgehend von diesem Befund schreibt Cassirer Simmels „Tragödie“ zu einem „Drama der Kultur“ um, dessen Ende offen bleibt und das daher weder eine „endgültige Niederlage“ noch einen „endgültigen Sieg“ kennt.41 Die Kultur stellt sich für Cassirer als ein labiles Fließgleichgewicht dar, das zwischen den beiden Polen der Prägung und der Umprägung von Formen, zwischen Tradition und Innovation oszilliert. Diesen „Rhythmus des Lebens“42 illustriert Cassirer am Beispiel der Religion, die sich immer zwischen Setzung und Satzung, zwischen spiritueller Versenkung und ritueller Routine bewegt. 5. Am Ende seiner Replik angekommen, verwendet Cassirer das Charakteristikum des stetigen Formwandels, der Metamorphose, um Simmels Unterscheidung von natürlicher und kultureller Tatsache zu reformulieren: Das Spezifische am Werk ist, dass es in eine Tradition eingehen kann und dadurch die Vererbung erworbener Eigenschaften ermöglicht. Gilt für die biologische Evolution die Schranke zwischen Keimplasma und Soma, so ist diese Barriere in der Kulturgeschichte aufgehoben. „Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den ,Monumenten‘, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit. Sie sind ,dauernder als Erz‘; denn in ihnen besteht nicht nur ein Stoffliches weiter, sondern sie sind der Ausdruck eines Geistigen, das, wenn es auf verwandte und empfängliche Subjekte trifft, jederzeit wieder aus seiner stofflichen Hülle befreit und zu neuer Wirkung erweckt werden kann.“43 Blicken wir auf den Gedankengang zurück, so legt Cassirer besonderen Nachdruck auf seine Korrektur des simmelschen Kulturschemas. Simmel rekonstruiert die Kultur in erster Linie als einen Produktionsprozess geistiger Elaborate, in dem es zu einer Entfremdung des Geistes von seinen Erzeugnissen kommt. Cassirer erweitert die binäre Relation von Ich und Werk durch ein zweites Subjekt, sodass wir es mit einer triadischen Struktur von Ich, Werk und Du zu tun haben. Das Werk tritt hierin nicht mehr nur als das Produkt einer Produktion auf, es fungiert als Medium für eine Kommunikation, deren zeitlicher Rahmen prinzipiell offen ist. Die Dynamik verläuft nicht linear von der Produktion zur Konsumtion, sondern oszilliert zwischen Erhaltung (Tradition) und Erneuerung (Innovation). 41 42 43
LKW, ECW 24, 482. Ebd., 484. Ebd., 485.
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IV. Cassirers Simmel-Kritik im Licht der ,Basisphänomene‘ 1. Als Cassirers Replik erscheint, befindet er sich bereits in New Haven. Dieser vorletzten Etappe seiner Emigration war nach Oxford (1933-1934) und Uppsala (1934) ein fast sechsjähriges Exil in Göteborg (1935-1941) vorangegangen. Besonders in den Göteborger Jahren dachte Cassirer über die Logik seiner Philosophie der symbolischen Formen nach und gelangte auf diesem Wege zu seinen Reflexionen über die sogenannten ,Basisphänomene‘, die ihm als unausgesprochene Grundlage auch für die Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften dienen. Ein Präludium dieser drei unhintergehbaren und allerallgemeinsten Strukturmomente des Kulturprozesses finden wir jedoch bereits in einer Vorlesung, die Cassirer im Sommersemester 1929 über Grundprobleme der Kulturphilosophie noch in Hamburg gehalten hatte. Dort klassifiziert er in einem Exkurs verschiedene Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache.44 Zunächst unterscheidet er physiologische Ableitungen der Sprache aus der Natur von psychologischen Herleitungen aus dem Geist, die er wiederum dreifach unterteilt nach den geistigen Akten des Fühlens, Wollens und Denkens. Entweder wurde die Sprache als ein Produkt der Phantasie und des Gefühls, der sozialen Konvention (Vertragstheorie der Sprache) oder des Denkens (logos) angesehen. Cassirer selbst hält alle drei Varianten für verfehlt, weil sie Ursachen mit strukturellen Aspekten verwechseln und am einfachen und unhintergehbaren Faktum der Sprache scheitern. Die Sprache sei weder ein Produkt der Natur noch der Freiheit; Sprache sei überhaupt kein Produkt, sondern, wie an anderer Stelle zu lesen ist, „ein Urphänomen, das nur erscheint und ist, nach dessen ,Warum‘ sich aber nicht weiter fragen lässt“.45 Die Ursprungsfrage sei radikal durch die Sinnfrage zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund fordert Cassirer auch mit Blick auf die Frage nach dem Subjekt der Kultur eine „Revolution der Denkart“: „[W]ir finden“, so trägt Cassirer seinen Studenten vor, „dieses ,Subjekt‘ nicht, solange wir die Fragestellung rein in der Ebene der ,kausalen‘ Erklärung erhalten – Denn weder der ,Mensch‘ als empirisches Wesen, als die Gattung des ,homo sapiens‘ ist der ,Schöpfer‘ der Kultur[,] noch sind es etwa die einzelnen ,Volksgeister‘ – sondern es ist eher umgekehrt zu sagen: daß erst die Kultur der Schöpfer des ,Menschen‘, wie der Schöpfer des ,Volkes‘ ist“.46 Fragt man nach einem Urheber der Kultur, so wird man nie44 45 46
ECN 5, 13-17. ECN 3, 271. ECN 5, 28. – Vgl. ECN 1, 218.
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mals fündig, weil die Frage falsch gestellt ist. Aus Fragen der Produktion und Kausalität sollen konsequent Fragen nach Sinn, Struktur und Form werden.47 Wenige Jahre später heißt das: Ursachenprobleme müssen als Basisprobleme umformuliert werden.48 2. Mitte und Ende der dreißiger Jahre findet Cassirer für die kategoriale Explikation des Basisproblems ,Kultur‘ ein triadisches Schema und wählt für seine Benennung ein Amalgam aus Carnaps ,Basis‘ und Goethes ,Urphänomen‘.49 Basisphänomene zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie „uns einfach in ihrem Sein und So-Sein zu vergegenwärtigen haben, ohne nach ihrem Ursprung zu fragen“. 50 Sie konstituieren vor allem Denken und Schließen unsere Welt und sind deshalb die „drei Grundrichtungen der Wirklichkeitserkenntnis“. 51 Wie drei Vektoren dimensionieren sie gleichursprünglich den Raum der Kultur. Diese drei Basisphänomene erhalten von Cassirer jeweils verschiedene Namen. Als Adressen möglicher Anrede nennt er sie ,Ich‘, ,Du‘ und ,Es‘. Ihnen korrespondieren die Phänomene des Selbst, des Anderen und der Gegenstandswelt, wobei letztere „sich wieder in die Welt der Natur und in die der Kultur gliedert“. 52 Prozesslogisch treten sie als ,Leben‘, ,Wirken‘ und ,Werk‘ auf, psychologisch als Fühlen, Wollen und Denken. Die Bezeichnung mit den Personalpronomina Ich, Du und Es hebt hervor, dass wir es mit Rollen in einem kommunikativen Geschehen zu tun haben: Ein Ich teilt sich über (bezüglich und vermittels) ein Es einem Du mit. Cassirer weist immer wieder darauf hin, dass diese drei Rollen ein dynamisches Ganzes bilden, das sich zudem historisch verschieden darbietet. Insbesondere das Verhältnis zwischen Du und Es ist keineswegs kulturgeschichtlich invariant. Vielmehr bildet das reine, apersonale Es eine Limesidee, die selbst in den modernen Naturwissenschaften nicht vollständig erreicht ist. Davon legen die vielfältigen Anthropomorphismen, deren sich Neurobiologie und Genetik immer noch bedienen, ein beredtes Zeugnis ab. Und als Gewährsmann für die Physik zitiert Cassirer Erwin Schrödinger, der ebenfalls das rein sächliche und vom alter ego losgelöste aliud für einen bloßen „Grenzbegriff der naturwissenschaftlichen Methode“ hält. 53 Ebenso wenig wie sich das Es vom Du substanziell unterscheiden lässt, darf man sich das Ich als eine
47
ECN 3, 234. Vgl. ebd., 200. 49 Vgl. die Herausgeberanmerkungen zu Carnap: ECN 1, 332 f., und zu Goethe 336 ff. 50 ZWW, ECN 2, 71. 51 Ebd., 3-31. 52 Ebd., 12. 53 LKW, ECW 24, 404. 48
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feste metaphysische Größe vorstellen. Vielmehr setzt jeder ausgearbeitete Ichbegriff seinerseits schon einen kulturellen Formungsprozess voraus. Die Basisphänomene müssen also in ihrer strengen und funktionalen Einheit gesehen werden, jede Isolation und jede Verdinglichung führt zu einem Missverständnis der Kultur und ihrer symbolischen Formen. 3. Genau dies ist es aber, was Cassirer Simmel vorhält. In einem Manuskript, das auf die Zeit um 1936/37 datiert, schreibt er: „Die Objektivität (Geltung) der Form wird zum unauflöslichen Problem, wenn man die zweite und die dritte Sphäre [das Du und das Es] gegen einander isoliert – wenn man die Welt des ,Willens‘ von der der ,Idee‘ ablöst und sie zu einem selbständig-Seienden hypostasiert – Aus dieser Hypostasierung sind all die Probleme entstanden, die in der modernen Geschichtsphilosophie hervorgetreten sind – u[nd] die ihren deutlichen Ausdruck z.B. bei Simmel und bei Scheler (in dessen letzter Phase) gefunden haben […].“54 Cassirers Göteborger Manuskripte enthalten, gerade im Zusammenhang mit den Basisphänomenen, immer wieder Bemerkungen zu zwei simmelschen Topoi: der Tragödie der Kultur und der Wendung zur Idee. Simmel hatte in seiner Schrift Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel aus dem Jahr 1918 von der „Achsendrehung des Lebens“ gesprochen und meinte damit den Übergang vom lebendigen Prozess zur bleibenden Form. 55 Beiden Topoi liegt nun nach Cassirers Auffassung der Fehler zugrunde, dass „der Gegensatz von Leben und Form fi xiert – und ins Metaphysische hypostasiert“ wird. Zu einer Tragödie der Kultur kommt es demnach nur dann, wenn man die drei Basisphänomene voneinander trennt und sie zu eigenständigen, voneinander unabhängigen Prinzipien vergegenständlicht. Für Simmel ist die Kultur zumindest in wesentlichen Teilen von Entfremdung geprägt. Der Schaffensprozess ist ein Vorgang des Fremdwerdens von etwas, das eigentlich vertraut sein müsste. Cassirer dreht dagegen den Spieß um: Kultur ist die ständige Aneignung über Mitteilung. Die unausgesetzte Kommunikation führt dazu, dass das Fremde in das Bekannte eingebunden wird. Wenn sie zu Entfremdung führt, dann in der Bedeutung von „Ent-Fremdung“. 56 Natürlich ist das vollständige Bekanntsein ebenso ein unerreichbares Ideal wie das totale Verstehen, aber so wie einzig das Gespräch Missverständnisse beheben kann, können wir uns selbst, den Anderen und das Fremde allein im Medium symbolischer Formen vertrauter machen. Zwar bleibt immer
54
ECN 3, 212. Vgl. Georg Simmel (1918): Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig. 56 ECN 1, 18, 136. 55
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ein Rest des Unbegriffenen und Unverständlichen; aber auch dieser Rest lässt sich wiederum nur in den Medien anzeigen, die ich mit Anderen teile und mittels derer ich mich ihnen mitteile. Kultur ist nicht in erster Linie Aneignung von Produkten, sondern die Aneignung von Sinn. Cassirer äußert sich im Übrigen sehr anerkennend über Simmel und lobt ihn als einen „der originellsten Denker des 19ten und des beginnenden 20ten Jahrhunderts.“ Simmels „ganze philosophische Arbeit“ sieht Cassirer „im Zeichen der Wendung zur Kulturphilosophie“. 57 Aber diese Wende wirklich zu vollziehen, daran hat Simmel in Cassirers Augen gehindert, dass er nicht hinreichend der Gefahr widerstanden habe, aus einem Funktionszusammenhang einen Substanzzusammenhang zu machen. Erst wenn aus Leben und Form, aus Seele und Werk, aus Geist und Idee Funktionsbegriffe geworden sind, kann die Kultur als ein Basisproblem Gegenstand der philosophischen Besinnung werden.
V. Schluss Liest man die Schriften, die Cassirer nach 1941 veröffentlicht hat, dann scheinen seine Überlegungen zu den Basisphänomenen eine Göteborger Episode gewesen zu sein. Jedenfalls sind sie unter diesem Namen weder in die Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften noch in den Essay on Man oder The Myth of the State eingegangen. Wie wir gesehen haben, benutzt Cassirer aber in seiner Simmel-Replik sehr wohl den gefundenen Strukturzusammenhang der drei Basisphänomene, um den kulturellen Formungsprozess symbolischer Medien zu beschreiben. Und ein solches Echo der schwedischen Meditationen ist durchaus auch in dem Spätwerk An Essay on Man zu vernehmen. Es handelt sich um die Gelenkstelle, die die anthropologische Fragestellung kulturphilosophisch appliziert: In dem Kapitel „The Definition of Man in Terms of Human Culture“58 trägt Cassirer Ansätze aus der Tradition vor, die sich um eine „breitere Grundlage“ für die Wesensbestimmung des Menschen bemüht haben, bevor er im Anschluss seine eigene ,Kulturanthropologie‘ skizziert. Die Einteilung der Versuche, den Menschen aus seinen spezifischen Kontexten zu begreifen, spiegelt die drei Basisphänomene wider: Zuerst greift Cassirer Platons Empfehlung aus der Politeia (368d-369a) auf, die Tugend (der Gerechtigkeit) nicht am einzelnen Menschen, sondern an der Interaktion 57
ECN 5, 4. – Cassirer unterscheidet hier „3 Phasen von Simmels Philosophie: Entwicklungsbegriff – Lebensbegriff – Kulturbegriff“. 58 EM, ECW 23, 71-79.
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(„Handeln und Tun“) 59 vieler Menschen in einem Gemeinwesen (polis) zu untersuchen: „Das Wesen des Menschen gleicht, Platon zufolge, einem schwierigen Text, dessen Bedeutung von der Philosophie entziffert werden muss. In unserer individuellen Erfahrung jedoch ist dieser Text in so kleinen Buchstaben geschrieben, daß er unlesbar wird. Die erste Aufgabe der Philosophie besteht also darin, diese Schriftzeichen zu vergrößern. [...] Das Wesen des Menschen erhellt ganz deutlich, wie mit großen Buchstaben geschrieben, aus dem Wesen des Staates.“60 Als zweites zieht Cassirer den Positivismus Auguste Comtes heran, der den Menschen aus seinen Werken bestimmen möchte. Selbsterkenntnis sei für Comte „historische Erkenntnis“, die kulturelle Tatsachen in einer ,sozialen Physik‘ analog der Naturwissenschaft analysiert. Schließlich nennt Cassirer an dritter Stelle physiologische und psychologische Theorien vom Leben und Erleben des Menschen. Demzufolge erschließe sich das Wesen des Menschen entweder aus seinen Vitalfunktionen oder aus seiner Intelligenz. In beiden Fällen steht das Subjekt – als Organismus oder als Bewusstsein – im Mittelpunkt der Analyse. Mit Blick auf diese drei Ansätze stellt Cassirer seine eigene Philosophie der symbolischen Formen als eine Option vor, die die Vorgänger nicht einfach um eine vierte Variante von Anthropologie erweitert, sondern zu einer höheren Einheit bringt. Die vom ,Ich‘ ausgehende psychologische Perspektive sei nämlich ebenso legitim und unverzichtbar wie die historische Methode, die sich für Werke und die soziologische, die sich für Aspekte der Interaktion interessiert. Für die philosophische Anthropologie sei es jedoch entscheidend, in diesen Fragetypen Momente eines strukturellen Ganzen zu erkennen, und dieses Ganze ist für Cassirer die Kultur, die sich – so belehrten uns die Nachlassmanuskripte – nach den Basisphänomenen Ich (Leben), Du (Wirken) und Es (Werk) explizieren lässt. Der Essay on Man bezieht die Basisphänomene (freilich ohne den Terminus zu verwenden) nun auf ihre Einheit. Da die Basisphänomene Funktionsbegriffe sind, kann auch das sie einende Band kein vinculum substantiale, sondern es muss ein vinculum functionale sein. 61 Und dieses vinculum functionale ist der Mensch, dessen „Definition nur als funktionale, nicht als substantielle verstanden werden kann.“62 Denn der Mensch ist gewissermaßen der Austragungsort für das Zusammenwirken von Ich, Du und Es. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn wir das 59
Ernst Cassirer (1996): Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers. von Reinhard Kaiser, Hamburg, 104. 60 Ebd., 103. 61 EM, ECW 23, 76. 62 Cassirer, 1996, 110.
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Verhältnis zwischen Mensch und Kultur wieder als ein Kausalverhältnis begreifen würden. Die Kultur ist und bleibt ein unhintergehbares Faktum. Der Mensch, so betonte Cassirer in seiner Vorlesung aus dem Sommersemester 1929, ist nicht der Schöpfer der Kultur – er ist, so könnten wir es ausdrücken, vielmehr das Medium ihrer Inszenierung. Deshalb ist der Symbolbegriff für Cassirer sowohl terminus a quo als auch terminus ad quem für die Bestimmung von beidem: der Kultur als einem universum symbolicum und des Menschen als einem animal symbolicum. Warum Cassirer dort, wo er nach den „allgemeinen Strukturprinzipien“ und nach einem „allgemeine[n] strukturelle[n] Schema“63 fragt, nicht mehr von Basisphänomenen sprechen möchte, kann hier nicht geklärt werden. Für die Zwecke unserer Untersuchung genügt es, einen Blick auf Cassirers Entwürfe einer ,Göteborgischen Dramaturgie‘ der Kultur geworfen zu haben. Vor allem seine Replik auf Simmel – ob sie diesen nun trifft oder nicht – macht deutlich, dass Cassirer die Kultur als ein kommunikatives Geschehen verstanden hat, das notwendigerweise arbeitsteilig organisiert ist. In der Demokratisierung der Intimität durch symbolische Medien kann Cassirer nichts Schlechtes finden. Melancholisch hat ihn das Denken über die Kultur jedenfalls nicht gestimmt. Möglicherweise hat Simmel die Folgen einer exuberanten kulturellen Produktivität, die immer unüberschaubarer und immer weniger durchschaubar wird, für die Orientierungsbemühungen des Einzelnen feiner herausgespürt als Cassirer. Doch für Cassirer wäre auch dieser Überforderung durch Kultur nur mit den Möglichkeiten der Kultur selbst abzuhelfen. Ob das Drama der Kultur gelingt oder tragisch endet, bleibt, zumindest solange es Kultur gibt, grundsätzlich offen.
63
Cassirer, 1996, 111, 112.
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Literaturverzeichnis Cassirer, Ernst (1996): Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers. von Reinhard Kaiser, Hamburg Geßner, Willfried (2003): Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist. Orth, Ernst Wolfgang (1993): Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus. In: Jeff Kintzelé, Peter Schneider (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M., 88-112. Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin. Simmel, Georg (2001): Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911). In: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 12, Frankfurt a.M., 194-223. – (1918): Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig. – (1989): Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 6, Frankfurt a.M. Steiner, George (2006): Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe, übers. von Nicolaus Bornhorn, Frankfurt a.M.
Christian Möckel
Die Kulturwissenschaften und ihr Lebensgrund Zu Ernst Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften 1. Einführung und Aufgabenstellung Im Folgenden soll – gemäß dem für die Tagung gewählten Motto: Leben, Geist, Form – herausgearbeitet werden, wie der Kulturphilosoph Ernst Cassirer seine wissenschaftsphilosophischen Überlegungen zur eigentümlichen Begriffsbildung in den Kulturwissenschaften auf das ‚Urphänomen des Lebens‘ gründet. Die Literaturgrundlage für diese Untersuchung bilden Texte, die allesamt während der Göteborger Zeit, Ende der 30er Jahre, entstehen.1 Diese innerhalb der Cassirerforschung inzwischen wohlbekannte, darüber hinaus aber noch wenig beachtete Tatsache einer Rückführung bzw. Rückbindung der wissenschaftlichen Begriffsbildung an das als ‚Urphänomen‘ bezeichnete Leben, 2 was im Übrigen auch die Frage nach Parallelen im husserlschen Alterswerk (‚Lebenswelt‘ und ‚vorprädikative Erfahrung‘) aufwirft, stellt in Cassirers wissenschaftlicher Biografie durchaus eine erstaunliche Konsequenz dar und sie bedeutet für die Wissenschaftsphilosophie und ihr Bemühen, Einheit und Unterschied von natur- und kulturwissenschaftlichem Denken herauszustellen, einen originellen Ansatz. Wird hier der Grundgedanke einer eigenständigen und eigentümlichen kulturwissenschaftlichen Objektivität doch auf die elementarste Ausdrucksform menschlichen Lebens, die Wahrnehmung, gegründet,3 ohne dabei die Idee einer übergreifenden Einheit der Wissenschaften – und damit der menschlichen Vernunft – aufzugeben. Die Theorie von einer eigenständigen Kulturwissenschaft gewinnt durch diese Verankerung im Urphäno1
Dabei stütze ich mich vor allem auf die publizierten Schriften LKW, ECW 24, 355-486 (1942) und EP IV, ECW 5 (1957) sowie auf die nachgelassenen Texte „Über Basisphaenomene“, ECN 1, 111-195 (Ende 30er Jahre), ZWW, ECN 2 (1937) und „Kulturphilosophie“, ECN 5 (1929-1941). 2 Vgl. u.a. Ursula Renz (2002): Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer. Hamburg, 259 ff., 266 ff.; Birgit Recki (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin, 109 ff. 3 Zur konstitutiven Rolle der Ausdrucks- bzw. Artikulationsfunktion für die Kultur bzw. eine Kulturphilosophie siehe u.a. Oswald Schwemmer (2005): Kultur philosophie. Eine medientheoretische Grundlegung. München, 37 ff., 46 ff., 60 ff.
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men des Lebens nicht nur eine natürliche Basis, die einseitig idealistischen Annahmen einer Geisteswissenschaft entgegenwirkt, sondern mit dem jeglichem menschlichen Leben immanenten physiognomischen Ausdrucksphänomen eröffnet sich ihr auch das spezifische begriffliche Instrumentarium, die Kultur überzeugend als symbolisch geformtes und gestaltetes, vielfältiges Sinnuniversum zu begreifen.4 Cassirer leistet damit auch einen Beitrag zu dem die Philosophie unentwegt beschäftigenden Problem, Vernunft und Leben nicht als bloßen unvermittelten Gegensatz zu denken, sondern als zwei voneinander nicht abzulösende Aspekte, Richtungen der einen Sache, des menschlichen Ausdrucks- und Objektivierungsvermögens. 5 Als erstaunlich darf dieser von Cassirer im Spätwerk verwirklichte Ansatz deshalb gelten, da er in seiner frühen Berliner Schaffensphase zunächst das von Hermann Cohen und Paul Natorp entwickelte, an der modernen Mathematik orientierte Wissenschaftsverständnis für die Geschichte des Erkenntnisproblems in Philosophie und Naturwissenschaft der Neuzeit produktiv zu machen suchte. 6 Die in den Weltkriegs- und Nachkriegsjahren mit der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ vollzogene berühmte Wendung von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur 7 konzipiert eine Kulturphilosophie, die sich auf die Kategorien ‚Form‘, ‚Symbol‘ und ‚Ausdruck‘ stützt. Der neu gefundene Standpunkt wahrt aber Kontinuität hinsichtlich des früheren wissenschaftstheoretischen Interesses. Mit der Einbettung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in eine symboltheoretische Kulturphilosophie entdeckt der ehemalige Adept der Marburger Schule des Kantianismus während der Hamburger Periode eine weitere Grundkategorie des modernen Philosophierens für sich – den Begriff des Lebens, der zu jener Zeit bekanntlich bereits einer ganzen Richtung den Namen gegeben hatte. 8 Es kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass sich Cassirer um einen eigenständigen, facetten- und bedeutungsreichen Lebensbegriff bemüht, dem die übliche Geistfremdheit und Geistfeindschaft nicht eignet.9 4
Die von Cassirer ab 1927 entwickelte Theorie der elementaren Ausdruckswahrnehmung, die die bereits zuvor entworfene allgemeine Ausdruckslehre des lebendigen Geistes noch einmal vertieft, bildet meiner Überzeugung nach den notwendigen ‚Schlussstein‘ in der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘. - Vgl. Ch. Möckel (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff. Hamburg, 148 ff., 192 ff. 5 Vgl. u.a. Volker Gerhardt (2002): Immanuel Kant. Vernunft und Leben. Stuttgart. 6 Vgl. dazu u.a. EP I, ECW 2. 7 Vgl. PSF I, ECW 11, 9. 8 Vgl. Heinrich Rickert (1922): Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit (1. Aufl. 1920). Tübingen. 9 Vgl. dazu Möckel, 2005, 383 ff.
Möckel · Die Kulturwissenschaften und ihr Lebensgrund
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Trotz einer langen Vorgeschichte erreicht Cassirers Hinwendung zu dem eigensinnig gedeuteten Begriff des Lebens als eines auch von derjenigen Philosophie zu beachtenden ‚Urphänomens‘, die sich der Vernunft verschrieben hat, mit der theoretischen Aufwertung des Begriffs der Ausdruckswahrnehmung zu einem Schlüssel- bzw. Grundbegriff seiner Philosophie Mitte der 20er Jahre eine ganz neue Qualität. Die anschließend, Mitte der 30er Jahre, konzipierte metaphysisch anmutende Theorie der sogenannten ‚Basisphänomene‘ jeglicher Wahrnehmung10 vertieft und systematisiert diesen am Lebensbegriff orientierten Ansatz noch einmal. Dieser bildet einen Begründungsrahmen auch für die in den Spätwerken der Zeit in Göteborg und New Haven ausgearbeitete Theorie der Kulturwissenschaften, die ihm als „Lehre von den Formen, in denen das geistige Leben der Menschheit sich vollzieht“, gilt.11 Die zu erarbeitende „Logik der Kulturwissenschaften“ müsse dem „wirklichen Leben der Wissenschaft“ angemessen sein.12 Cassirers systematische Überlegungen zu den Möglichkeiten und Bedingungen einer Kulturphilosophie und, darauf aufbauend, Kulturwissenschaft gehen methodisch von einem kantischen Einheitsbegriff aus, der ihn immer wieder die Frage nach dem methodischen und gegenstandstypischen Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaften aufwerfen lässt, eine Fragestellung, die er – in Abgrenzung zum ‚Wiener Kreis‘ – auch auf Mathematik und Geschichtsschreibung ausweitet. So betont er 1941, dass sich Philosophie und Wissenschaft in „den letzten hundert Jahren, in der Zeit seit Goethes und Hegels Tod“, nicht zuletzt deshalb in einer inneren Krise befunden hätten, weil das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaft ungeklärt geblieben war.13 Trotz des Bestrebens, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer größer gewordene Kluft zwischen Natur-, Kultur- und Geschichtsforschung zu überwinden, lehnt er den positivistischen Methodenmonismus eines Julius Kraft grundsätzlich ab.14 Deshalb führt er auch 1939 eine prinzipielle Polemik gegen die Logik und Mathematik ausschließende ‚Einheitswissenschaft‘, wie sie die sonst durchaus geschätzten Vertreter des ‚Wiener Kreises‘, speziell Bertrand Russel und Rudolf Carnap, in Anlehnung an die Physik und die Sinneswahrnehmung als einzige sichere Erkenntnisquelle vertreten.15 Er widerspricht mit Verweis auf die genetisch vorhergehende Ausdruckswahrnehmung der Behauptung, es gäbe keine ob10 11 12 13 14 15
Vgl. ECN 1, 113-198. ZWW, ECN 2, 160. „Kulturphilosophie“, ECN 5, 205. LKW, ECW 24, 391. Vgl. ECN 5, 33. Vgl. ebd., 73 ff., 176 f.
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jektiven nicht-physikalischen Sachverhalte,16 und betont die methodischen Unterschiede, die Natur- und Kulturwissenschaften in ihrem einheitlichen Verfahren, Besonderes und Allgemeines in Beziehung zu setzen, mit den dabei intendierten Gesetzes- oder Gestalt- bzw. Formbegriffen machen.17 Für ihn teilen beide Wissenschaftstypen eine „allgemeine Objektivationsfunktion“ der Erlebnisse, die allerdings jeweils spezifischen Charakter annimmt.18
2. Ausdruckswahrnehmung als ‚Grundschicht‘ des Kultursinns Für Cassirer stellen die diversen Wissenschaftstypen (Mathematik und Logik, Natur- und Kulturwissenschaften, Geschichte) unterschiedliche Weisen der Wirklichkeitserkenntnis und der Objektivierung dar. Den methodisch entscheidenden Schritt vollzieht er durch das Aufwerfen der Frage, ob sich diese unterschiedlichen Wege und Ziele der Wirklichkeitserkenntnis nicht auf letzte, unhintergehbare Quellen oder Modi der Wirklichkeitserfahrung zurückführen lassen müssen. Unter Bezug auf Goethe19 findet er in der elementarsten menschlichen Objektivationsweise, in der Wahrnehmung, tatsächlich drei derartige ‚letzte‘ Modi der Vermittlung von Wirklichkeit, ihres Aufschließens vor. Modi, die uns die Wirklichkeit in Richtung auf ein emotional-personales ‚Du‘, auf ein sinnlich-sachliches ‚Es‘ und auf ein subjektiv-erlebendes ‚Ich‘ vermittelnd aufschließen und erkennend konstituieren. Wirklichkeit erweist sich demnach grundsätzlich als subjektiv erlebt, als personal-belebt wahrgenommen und als sinnlich-sachlich erfahren. Diese Wahrnehmungsmodi fungieren dabei aber selbst unmittelbar, weshalb Cassirer sie Urphänomene oder Basisphänomene nennt. Gleichzeitig sind sie uns lediglich auf eine mittelbare, immer unvollständig bleibende Weise der Reflexion und Rückschau des Geistes zugänglich. In jeder einzelwissenschaftlichen Einstellung wird von diesen Urphänomenen der Wirklichkeitswahrnehmung bzw. Objektivationsrichtung jedoch aus Gründen des positiven Erkenntniszieles abgesehen, erst eine methodische Blickwendung lässt sie zum Thema für den Wissenschaftler und
16
Vgl. ECN 5, 80. Vgl. ebd., 132 f. 18 Vgl. ebd., 144. 19 Vgl. Goethe (1907): Maximen und Reflexionen. Nach den Handschriften des Goethe- und Schillerarchivs. Hg. v. Max Hecker. Weimar, Maximen 391-393, 75 f. 17
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den Philosophen werden. 20 Ganz im Sinne Natorps21 und Husserls22 erklärt Cassirer, dass die Basisphänomene der Wirklichkeitserfahrung indirekt sichtbar werden, wenn „wir von den ‚objektiven‘ Gebilden zurückfragen nach ihren ‚subjektiven‘ Quellen und ‚Ursprüngen‘“. 23 Er betont zudem, dass diese drei Vermittlungsweisen nie isoliert, sondern immer als ein Ganzes – d.h. korrelativ aufeinander bezogen – betrachtet werden müssen. Den Entschluss, sich gerade innerhalb wissenschaftstheoretischer Überlegungen einer Analyse der die „Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene“ abgebenden Wahrnehmung zuzuwenden, begründet Cassirer u.a. damit, dass in unserem Falle eine bloße Analyse der Begriffsformen nur wenig zum Verständnis der Objekte der Kulturwissenschaften, ihres Kulturcharakters beitrage. Es gelte vielmehr, die kulturwissenschaftlichen Begriffe – wie auch die naturwissenschaftlichen Gegenstandsformen – bis zu ihrer „letzten Erkenntnisquelle zurückzuverfolgen“. 24 Bereits 1925, in seinem Werk über Das mythische Denken (PSF II), hatte er die im mythischen Bewusstsein fungierende, noch undifferenzierte emotionale Ausdruckswahrnehmung als elementarste, ursprünglichste geistig-sinnliche Leistung des menschlichen Gemüts ausgemacht, auf der andere, auch die theoretischen Leistungen aufbauen. Unter Rückgriff auf die drei Basisphänomene vermag Cassirer nun diesen Aufbau mit seinen Richtungen phänomenologisch seinem ‚Bestand‘ nach zu erfassen und zu beschreiben. Diese Beschreibung des phänomenalen Bestandes der elementaren Wahrnehmung legt ihre Intentionalität in zweifacher Richtung offen, nämlich sowohl „auf das ‚Du‘“ als auch „auf das ‚Es‘“ hin. 25 Je nach Richtung der Intentionalität gewinne die Wahrnehmung eine besondere Färbung und Tönung, gewinnt das Erleben von Wirklichkeit die Bedeutung von personaler Ausdruckswahrnehmung oder von Ding- bzw. Sachwahr-
20
Vgl. ECN 1, 139. Vgl. Paul Natorp (1912): Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie. Tübingen, 189 ff. 22 Vgl. Edmund Husserl (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Bd. 1: Allgemeine Einführung in die reine Phä nomenologie (1913). In: Husserliana, Bd. III/1, Den Haag, 179 f. – Hier spricht Husserl von einer mit Natorps Lehre vergleichbaren Doppelrichtung des objektivierenden und des subjektivierenden Blicks, die am Erlebnis eine Einheit bildet, auch wenn ihren Richtungen getrennte Untersuchungen nachzugehen haben: diese bewegen sich einmal „nach der reinen Subjektivität“ hin und fragen ein andermal „nach dem, was zur ‚Konstitution‘ der Objektivität für die Subjektivität gehört.“ 23 ECN 1, 145. 24 LKW, ECW 24, 414. 25 Ebd., 396. 21
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nehmung. 26 Beiden Richtungen des Wahrnehmens wohne zudem – als dritte Richtung – die Möglichkeit der Beziehung auf das Ich als ihren Träger und Ausgangspunkt ein. 27 Die ursprüngliche, elementare Ausdruckswahrnehmung, in der die beiden intentionalen Richtungen noch ungeschieden sind und die vor allem für das mythische Bewusstsein charakteristisch ist, offenbart sich für Cassirer so als „Urphänomen des Lebendigen“, als letzte „Grund- und Urschicht“ aller geistigen Energien und somit auch als „letzte Erkenntnisquelle“, zu der wir noch zurückfinden. An ihr - und damit an ihren drei Modi – thematisiert er die Verwurzelung der verschiedenen wissenschaftlichen Begriffstypen im Urphänomen des Lebens. Gleichzeitig weiß Cassirer wohl darum, dass, wegen der grundsätzlichen ‚Feindschaft‘ aller theoretischen Erkenntnis gegenüber dem Mythos, sowohl die Philosophie – in Gestalt des logischen Positivismus – als auch die Wissenschaft gemäß ihrer eigenen Logik die „Quelle zu verstopfen suchen, aus der der Mythos sich ständig nährt, indem sie der Ausdruckswahrnehmung jegliches Eigenrecht bestreiten.“28 In der Folge und Konsequenz, so Cassirers These, werden Ausdrucksqualitäten durch Sinnesqualitäten ersetzt, und diese schließlich durch rein quantitative Bestimmungen. Auf diesem Wege habe die theoretische Naturauffassung, die selbst ein Resultat, aber kein Anfang der Wirklichkeitserkenntnis ist, bereits alles ‚Personale‘ aus sich verdrängt und ausgeschaltet. 29 Die in deren Logik selbst liegende Tendenz des Sichabwendens vom „Lebensgrund“ will Cassirer nun nicht etwa rückgängig gemacht sehen, aber ein Grund für Besorgnis ist das daraus resultierende Verständnis der Wirklichkeit für ihn schon. Erweist sich doch das rein sachliche Erkenntnisziel der Naturwissenschaft gerade dann als problematisch und wirklichkeitsverengend, wenn wir es mit der gestalteten Welt des Menschen zu tun haben, die sowohl als natürliche als auch als kulturelle ‚Es‘-Objektivität verstanden werden muss. Die eigentlichen Kulturwerke vereinen beide Arten von Objektivität in sich: An der sachlichen Objektivität ist jeweils ihr kultureller Sinn beschreibend zu erfassen und zu erklären. Kulturleben, also u.a. Sprache, Kunst, Religion, Staat bzw. das „staatliche Leben“,30 schlägt sich in Kulturwerken nieder, bei denen sich stofflich-physische Dimension, psychische Dimension der sie schaffenden Individuen und soziale (historische) Dimension des Lebens dieser Individuen unterscheiden lassen. Obwohl physikalische, psychologische und soziolo26 27 28 29 30
Vgl. LKW, ECW 24, 397. Vgl. ECN 1, 122. LKW, ECW 24, 397. Vgl. ebd., 404. Vgl. ebd., 407.
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gische Begriffe diese drei Seiten oder Dimensionen jeweils zu erfassen vermögen, gehe ihnen darüber der eigentliche kulturelle Sinn dieser Werke, d.h. ihr religiöser, künstlerischer oder wissenschaftlicher etc. Sinn verloren. Diesen erfassen wir, so Cassirer, ausschließlich mit Hilfe eigenständiger und eigentümlicher kulturwissenschaftlicher Begriffe als eine quasi vierte Dimension. 31 Und diese Begriffe erschließen sich uns genau dann und nur dann, wenn wir die subjektive, lebendige, persönliche Tönung beachten, die die emotionale Ausdruckswahrnehmung allen Inhalten aufprägt, weshalb sie entscheidenden Anteil an der Gestaltung kultureller Objekte hat. Im kulturellen Gebilde erstarrt zwar gewissermaßen der in ihm objektivierte Ausdruck, dennoch tragen die „‘erstarrten‘ Gebilde [...] noch eigentümliches ‚Leben‘, d.h. eine Permanenz und Wandlungsfähigkeit in sich“. 32 Das führt uns, so Cassirer, zu der Einsicht, dass die Werke der Kultur ihre ideellen Momente, die ihren jeweiligen eigentümlichen Sinn, ihre jeweilige verstehbare Form als religiöses, ästhetisches oder wissenschaftliches Werk – und somit ihre Funktion, Gegenstand einer bestimmten Kulturwissenschaft zu sein – ausmachen, in einer persönlichen Prägung erhalten. Die Kulturform ist somit eine „‘geprägte Form‘ [...], die lebend sich entwickelt“. 33 Diese Sinnprägung, die sich als ein immer neuer „Gebrauch der Form“, als eine „neue ‚Beseelung‘ der Form“, als ein „Einströmen neuen seelischen ‚Lebens‘ in sie“ vollzieht,34 realisiert sich an der sinnlich-stofflichen Verkörperung eines dargestellten Inhaltes (‚Was‘). Für ein eigentümliches Kulturwerk, in seinem Unterschied vom Naturding, sind demnach drei Dimensionen bestimmend: die „des physischen Daseins, [die] des gegenständlich Dargestellten, [und die – C.M.] des persönlich Ausgedrückten“. 35 Es sind die Individuen, die sich in ihrer Arbeit „in diesen Formen ausdrücken“ und dabei diese Ausdrucksinstrumente verwandeln und „sich lebendig entwickeln“ lassen. 36 Da die persönliche Sinnprägung an dem sich im physischen Dasein verkörpernden ‚Was‘ unterschiedliche kulturelle Sinnformen zum Ergebnis hat, können wir die Feststellung treffen, dass das „Urphänomen des Lebens“ in Gestalt der Ausdruckswahrnehmung, und damit die verborgenste belebende Quelle am Kulturwerk, keineswegs ein amorphes Erscheinen ist, sondern eines, das Richtung, Form und Struktur besitzt, stiftet. 31
Vgl. ebd., 407. ECN 5, 127. 33 Ebd., 128. 34 Ebd., 131. 35 LKW, ECW 24, 400. – An dieser Stelle verweist Cassirer nicht auf die soziale Dimension, in der die den Kultursinn prägenden Individuen leben. 36 ECN 5, 134 f. 32
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Den alles belebenden Ausdruckscharakter macht sich auch große Geschichtsschreibung – für Cassirer eine der Voraussetzungen von Kulturwissenschaft – zu eigen und zu nutze. Es sei eben die „Ausdrucks-Sprache“ (Physiognomik), mit deren Hilfe sich die Eigenart des kulturellen „Lebens einer Epoche“ erschließt. 37 Mit der notwendigen theoretischen Reflexion geht allerdings alle unmittelbare, intuitive Sicherheit und Gewissheit des Physiognomischen verloren. 38 Der Symbolphilosoph beharrt dennoch auf der Maßgabe, die „ganze Fülle der reinen Ausdruckserlebnisse“ – das Urphänomen des Lebens also – methodisch weder aus der Geschichtsschreibung noch aus der Kulturwissenschaft zu verbannen. 39 Als eine Art Zwischenresümee lässt sich somit sagen, dass das „reine Ausdruckserlebnis“ für Cassirer unabdinglich zu den „Konstituentien eben dieser ‚Welt‘“ gehört: 40 Es hat sich als unausrottbares Urphänomen auf „unerschütterlichem Grund“ herausgestellt. Alle Formen der Kultur, des kulturellen Sinns, wie z.B. die Sprache, erweisen sich aus diesem Blickwinkel als lebendige Formen, die ihren letzten Grund in einem Lebensphänomen haben. Dabei wiederhole sich „im Gebiet der Ausdruckswahrnehmung derselbe Prozeß, den wir im Aufbau der objektivierenden Erkenntnis verfolgen können“: Der scheinbar unmittelbar, gewiss gegebene Gegenstand rückt bei reflexiver Vergegenwärtigung nach und nach in immer weitere, mittelbare Ferne.41 Doch auf dem „Wege zur spezifischmenschlichen Welt, auf dem Wege zur Sprache, zur Kunst, zur theoretischen Erkenntnis“, d.h. beim Aufbau der vielfältigen kulturellen Sinnwelten, offenbare die Ausdruckswahrnehmung nun erst „ihren eigentlichen Rechtsgrund“. Sie fungiert hier als eine „eigentümliche und selbständige Lichtquelle“, die wir nicht entbehren können, wenn wir uns die „Strukturen der ‚Kulturwelt‘ durchsichtig machen“ wollen. Damit beweist sie, dass sie zu den „Grundmitteln der Objektivierung selbst“ gehört und somit bereits „eine echte ‚Objektivität‘“ besitzt,42 die derjenigen Weise der Objektivität, wie sie – konstituiert in der sachlichen Sinneswahrnehmung – den Naturwissenschaften zugrunde liegt, ebenbürtig gegenübertritt. Deshalb ist die Ausdruckswahrnehmung als der „natürliche Ausgangspunkt aller kulturwissenschaftlichen Forschung“ zu begreifen und zu behandeln. Sie ist es letztlich, die die Grundlage dafür bietet, dass der kulturwissenschaftliche Begriff ein Charakteristisches ausdrückt, was 37 38 39 40 41 42
LKW, ECW 24, 440. Vgl. ebd., 385. Vgl. ZWW, ECN 2, 14, 16 f. Ebd., 138 f. Ebd., 149 f. Ebd., 151.
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ihn an eine „‘physiognomische‘ Erkenntnis“ bindet.43 Alle Kulturwissenschaft ist für Cassirer „Ausdrucks-Wissenschaft“.44
3. Eigentümliche kulturwissenschaftliche Begriffsbildung Um noch detaillierter auf die Besonderheiten der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung und ihre Verankerung im personalen ‚Du‘-Basisphänomen, also der ursprünglich-intuitiven Erfahrung des Anderen eingehen zu können, ist auch ein Blick auf die konstituierenden Funktionen der anderen beiden Ur- oder Basisphänomene der Wirklichkeitswahrnehmung zu werfen. In Cassirers Theorie haben grundsätzlich alle drei Urphänomene an der Konstituierung der einzelnen Typen von Wissenschaft bzw. Richtungen der Objektivation ihren – je unterschiedlichen – Anteil. Den Anspruch, „einen allgemeinen, systematischen Überblick über die verschiedenen Methoden“ zu geben, die in den Einzelwissenschaften Anwendung finden und „die deren ‚Wirklichkeitsbegriff‘ bestimmen“, versucht Cassirer in dem Werk ZWW einzulösen,45 das parallel zu EP IV entsteht und ebenfalls zu Lebzeiten nicht mehr erscheinen sollte. Die „Grundrichtungen der Wirklichkeitserkenntnis“, die sich auf die drei Basisphänomene ‚Ich‘, ‚Es‘ und ‚Du‘ zurückführen lassen und die drei Grundtypen der Wissenschaft konstituieren, kommen exemplarisch in der reinen Mathematik, im exakten Naturerkennen (d.h. in der theoretischen Physik und der beschreibenden Biologie) und in der Kulturwissenschaft samt Geschichtsschreibung zum Tragen. Gleichzeitig betont Cassirer immer das eigenständige idiografische Erkenntnismotiv der Geschichtsschreibung. Bei allen drei Erkenntnisrichtungen baut der theoretische Objektivierungsprozess, d.h. die „Welt des Begriffs und der wissenschaftlichen Erkenntnis“, nicht erst auf der empirischen Anschauung, sondern bereits auf der Ungeschiedenheit von Ausdrucks- und Sinneswahrnehmung auf.46 In ihrem Befund weisen alle Formen oder Richtungen von Wirklichkeitserkenntnis einen bestimmten Typ von intendierter Gegenständlichkeit aus. Diese typischen Intentionen erfüllen sich in jeder der drei Grundrichtungen von Objektivierung auf eine andere Weise, nur „die Form des Objektbezuges [als solche – C.M.], als allgemeine Form“, bleibt jedes Mal bestehen.47 43 44 45 46 47
Ebd., 165, 168. ECN 5, 153. Vgl. ZWW, ECN 2, 186. Ebd., 31. Ebd., 29.
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So erhebt sich, wie Cassirer feststellt, das Urphänomen des unmittelbaren, fließenden subjektiven Lebens (‚Ich‘) bis zum reinen Erzeugen und Konstruieren des mathematischen Denkens. Die Erkenntnisweise der mathematischen Synthesis, das mathematische Konstruieren von Gegenstandsbereichen, entfaltet und erfüllt dabei reine Denkmöglichkeiten. Sie beansprucht kein Pendant in der seelischen oder sinnlich-empirischen Wirklichkeit. Die moderne Mathematik bilde einen „in sich geschlossenen intellektuelle[n] Kosmos“ eigentümlicher Objektivität aus, in welchem die natürlichen Zahlen keine Vorzugsrolle spielen.48 Sein spezifisches erkenntnistheoretisches Motiv lässt das mathematische Denken Allgemeinbegriffe durch konstruktive Deduktion, nicht jedoch Gattungsbegriffe per Induktion bilden. Den beiden anderen Formen der Wirklichkeitserkenntnis ist zunächst einmal das Ziel gemeinsam, aus dem „Strom des Geschehens“, der von einem ‚Ich‘ erlebt wird, „bestimmte Gestaltungen herauszulösen, die in gleichartiger Weise wiederkehren“. Wie schon mehrfach angedeutet unterscheidet Cassirer bei diesem Herauslösen von wiederkehrenden Gestaltungen grundsätzlich zwei Richtungen. Die ‚Es‘-Richtung der sich vollziehenden Synthesis, die über die objektivierende Sinneswahrnehmung führt, baut die empirische und endlich die theoretische Ordnung von Welt als die eines Menschen ‚Werk‘ auf. Sie geht auf objektive Gesetze,49 weil ihr Erkenntnismotiv auf wissenschaftlich intendierte Konstanten und Invarianten im Strom des Geschehens abzielt. Auf dem von dieser Richtung geprägten empirischen Begriff fußt nach Cassirer auch der exakte Begriff der mathematischen Naturwissenschaft. Die Besonderheit der Konstantenbildung im Erfassen des vegetativen Lebens, wie sie Gegenstand der modernen Biologie ist, führt er auf ein jeweiliges Ineinander von kausaler Gesetzeserkenntnis (auf anschauender Sinneswahrnehmung beruhend) und Form- bzw. Gestalterkenntnis (auf emotionaler Ausdruckswahrnehmung und Ausdruckswerten ruhend) in unterschiedlichen Funktionskreisen zurück, was auf Parallelen zur Kulturwissenschaft verweise. 50 Die „Kultur‘formen‘“ dürften aber immer nur als „‘Organismen‘ [...] im Als-Ob Sinne“ aufgefasst werden. 51 Als mathematische Erkenntnis verlässt die moderne Naturwissenschaft (Physik) die empirisch-anschauliche Welt; 52 ihre spezifischen Invarianten konstituieren dabei einen neuen Wirklichkeitsbegriff, der sich aber schließlich
48 49 50 51 52
ZWW, ECN 2, 67. Vgl. ebd., 92. Vgl. ECN 5, 50, 94, 102. Ebd., 127. Vgl. ZWW, ECN 2, 109.
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wiederum an die Wahrnehmungswelt wendet. 53 Dieser Typ von objektiver Wirklichkeitserkenntnis sei geschichtlich vom Dingbegriff der Wahrnehmung zum Substanzbegriff der klassischen Physik und von da zum Invariantenbegriff der allgemeinen Relativitätstheorie vorangeschritten. 54 Die andere Richtung beim Herauslösen von wiederkehrenden Gestaltungen, die ‚Du‘-Richtung der Synthesis, die auf die allbeseelende Ausdruckswahrnehmung mit ihren personalen Gestaltungen zurückweist, geht dagegen auf physiognomische Gestalten. 55 In dieser dritten Grundrichtung der Wirklichkeitserkenntnis dürfen wir laut Cassirer keineswegs einen zu überwindenden bloßen Rest des frühen mythischen Denkens sehen. Sie bildet vielmehr diejenige eigenständige Objektivationsweise menschlicher Leistung, die allein die kulturellen Sinnformen prägt. Deshalb habe sie der kulturwissenschaftlichen Forschung als Ausgangspunkt zu dienen und ihr die angemessene Weise der Begriffsbildung zu verschaffen. Die kulturwissenschaftliche Sichtweise ist damit auf einen Inbegriff von geistigen Formen56 – als individuell geprägter, lebendig sich entwickelnder – und deren Verstehen ausgerichtet. 57 Die Begriffe werden hier nicht als Kausal- oder Gesetzesbegriffe, sondern als „Form- und Stilbegriffe“ bestimmt, die „Strukturprobleme“ erfassen. Deshalb können sie auch weder ‚nomothetische‘ (Naturwissenschaft) noch ‚idiografische‘ (Historie) Begriffe sein, 58 wie Wilhelm Windelband seinerzeit die beiden alternativen Begriffstypen genannt hatte. 59 Die kulturwissenschaftlichen Strukturbegriffe gehören dabei alle „zur selben logischen ‚Familie‘“, was sie von den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffen unterscheidet. Jeder einzelne Stil-, Struktur- oder Formbegriff drückt aber eine „eigene ‚Weltsicht‘“, eine eigene „Grundrichtung des Denkens und Vorstellens“, des „Anschauens und Sehens“ aus. 60 Diese Begriffe bilden dank spezifischer Synthese ein spezifisches Ganzes mit einer spezifischen Bedeutung, 61 wobei Cassirer eine reine Struktur- bzw. Formenlehre idealer Bedeutungseinheiten im Auge hat. 62
53
Vgl. ebd., 113. Vgl. ebd., 118. 55 Vgl. ebd., 83 f. 56 Zum Formbegriff vgl. die anregende systematische Studie von Schwemmer, 2005, 89 ff. und 135 ff., aber auch 35 ff., 46 ff., 192 ff. 57 Vgl. ZWW, ECN 2, 174. 58 Vgl. ebd., 158. 59 Vgl. Wilhelm Windelband (1919): Präludien. Reden und Aufsätze zur Phi losophie und ihrer Geschichte. 6. Aufl., 1.Band, Tübingen, 145 f. 60 ZWW, ECN 2, 62. 61 Vgl. ebd., 57. 62 Vgl. ebd., 66. 54
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Ein zweites Feld, auf dem er immer wieder für die Anerkennung einer eigenständigen und eigentümlichen kulturwissenschaftlichen Erkenntnisrichtung streitet, und dies ebenfalls oft gegen die skeptischen Positionen, wie sie im ‚Wiener Kreis‘ vertreten werden, ist die Frage der begründeten unmittelbaren Gewissheit von Fremdpsychischem bzw. fremdem Seelenleben als einem ‚Urfaktum‘ für die Kulturphilosophie bzw. -wissenschaft. 63 Mit den Begriffen ‚Seelisches‘ und ‚Fremdpsychisches‘ tue sich nämlich noch ein weiterer Begriff von Wirklichkeit auf, dem die Objektivierung auf der Grundlage des ‚Du‘-Basisphänomens entspricht. 64 Hierbei handle es sich nicht um das mittelbare Deuten, sondern um das unmittelbare Erschließen seelischer Zustände, was sich über das reine Ausdruckserlebnis vollzieht, welches so die unmittelbar gewisse Wirklichkeit von Fremdpsychischen bezeugt. Die reflexive Wissenschaft vom Fremdpsychischen vertreibt allerdings diese unmittelbare Anschauung fremden Lebens und fordert den mittelbaren theoretischen Beweis. Cassirer ist überzeugt davon, dass die Anerkennung einer eigenständigen und eigentümlichen Erkenntnisart vom Fremdpsychischen und die von Kulturobjekten unlösbar miteinander zusammenhängt. Tragen diese Objekte als materielle Gehalte doch Ausdruck und Bedeutung, also seelisches oder geistiges Leben. Fremdes Seelenleben erfassen wir demnach an seinen Objektivationen mittelbar, die aber als seine Ausdrücke zu erschließen sind. 65 Das Objektive „fremder ‚Subjekte‘“, das wir „in der Sphaere der Kultur“ mittelbar „aus ihren ‚Werken‘“ erkennen, wirkt nämlich „immer zugleich [auch – C.M.] als Ausdruck“, als Bekenntnis. Damit vollendet sich, so Cassirer, mit dieser objektiven Erkenntnis etwas, „was im bloßen Ausdruckserlebnis begonnen war“. 66 Er spricht hier von einer „Darstellung dieses Lebens“. 67 In den Kulturphänomenen, die von uns rezipiert und verstanden werden, ist „das ‚Seelische‘ in unbezweifelbarer Form gegeben“, allerdings immer nur über die ihnen einwohnende Darstellungsfunktion. 68 ‚Darstellung‘ enthalte immer ein doppeltes Mo63
Vgl. ECN 5, 9, 74. „Carnap und der Wiener Kreis“ verwandeln, so Cassirer, „die ganze Frage der ‚Gewißheit vom Fremdpsychischen‘ [...] in eine Frage des objektivwissenschaftlichen Urteils“, verwandeln sie so in ein Laborexperiment. Eine solche Frage komme aber „im wirklichen Verkehr von Mensch zu Mensch niemals vor [...]“. – ECN 5, 178. 64 Vgl. ZWW, ECN 2, 135. 65 Vgl. ECN 5, 153. 66 Ebd., 170. 67 Ebd., 84. Jedes Kulturobjekt unterscheidet sich durch diese Darstellungsfunktion von den Naturobjekten. Mit dieser Funktion verlieren sie ihren Kulturcharakter. 68 Ebd., 121. „Das ‚sich-Verständigen‘ durch darstellende Sprache ist der feste Urgrund alles Wissens vom Fremdpsychischen und alles Verstehens vom Fremdpsychischen.“
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ment: das ‚objektive‘ des gemeinten, intendierten Sachverhaltes und das ‚subjektive‘ der individuellen Form, des individuellen Stils. „Wirkliches ‚Verstehen‘ [...] fremden Seelenlebens“ sei aber letztlich nur in der objektiven Ebene möglich, durch die Teilhabe an der objektiven Geistigkeit (Kultur), durch produktive Darstellungsaktivitäten. 69 Deshalb enthalten für Cassirer die Kulturwissenschaften, als die Wissenschaften von den Grundformen dieser geistigen Aktivitäten, „durch die erst das wahre Verständnis des ‚Seelischen‘ sich vermittelt“, den „einzig gültigen Beweis des Seelischen – [...] in der Form des Er-Weisens, Aufweisens“. 70 Dem Problem der Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung innerhalb der drei urphänomenalen Konstitutionsmodi von Wahrnehmung sucht sich Cassirer außerdem über den Begriff der „Kreise des Seins“, die gegeneinander abzugrenzen sind, zu nähern. Auch dieses Herangehen führt ihn immer wieder auf das Urphänomen des Lebens. Den ursprünglichen Kreis bilde der Ich-Modus in seiner „Lebensfülle“ und rastlosen Bewegung. Das ‚Ich‘ erlebt dann in der Außenwelt des Anderen (‚Du‘) – als einem zweiten Kreis – die Schranke seines eigenen Tuns. 71 Einen dritten begrenzenden Kreis des Seins erfährt das ‚Ich‘ in den tätig geschaffenen Werken (‚Es‘), in denen sich sein Wirken und Tun eine erkenn- und verstehbare Form gibt. Dieses objektivierte Sein, das auf der sachlich-gegenständlichen Urintention der Wirklichkeitswahrnehmung und deren Art der Objektivität gründet, stammt, so Cassirer zutreffend, „ganz aus uns selbst [...], ohne doch uns selbst anzugehören“. Als „spezifisch-menschliche Wirklichkeit“, als „Wirklichkeit der Kultur“72 umfasst es – als Menschenwerk – auch die Naturwissenschaften samt deren Erkenntnisgegenstände. Andererseits scheidet sich in diesem dritten Kreis des Seins die eigentliche sinnhafte Gestaltenwelt der Kultur von der Gesetzeswelt der Natur. Die Kulturwissenschaften nun verfolgen in diesem dritten Kreis ein „eigentümliches Erkenntnisziel“, das – neben Naturerkenntnis und historischer Erkenntnis – eine „dritte selbständige Koordinaten-Achse darstellt und damit eine neue ‚Dimension‘ des Wissens begründet“. 73 Da die eigentümlichen Gegenstände der Kulturwissenschaften vor allem historisch beschrieben und gedeutet werden, befasst sich Cassirer bei seinen Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung auch intensiv mit der Methode bzw. dem methodischen Selbstbewusstsein in 69 70 71 72 73
Ebd., 122. Ebd., 124 f. Vgl. ZWW, ECN 2, 9 f. Ebd., 10 f. Ebd., 153.
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der Kulturgeschichtsschreibung, was ihn ebenfalls immer wieder zur Begrifflichkeit des Lebens führt. Obwohl auch die organischen Naturformen ein entwicklungsgeschichtlich zu behandelnder Gegenstand sind, steht für ihn das System der Kultur, das System der symbolischen Kulturformen im Zentrum der Historie als Wissenschaft. Der Historiker, der dem Kulturwissenschaftler und dem Kulturphilosophen das Material der Analyse bereitstellt, eröffnet ihnen auf diese Weise einen „Einblick in die Lebensformen der Vergangenheit“. 74 Worauf die Kulturwissenschaft ihrem Erkenntnisziel, nämlich die „Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht“, zu erfassen, zuarbeiten kann. 75 Die Geschichtswissenschaft sucht dabei „vergangenes Leben“ zu verstehen, indem sie es deutet, wodurch sie seine Form bewahrt, weil sein Inhalt nicht zu erneuern und wiederzubeleben ist. 76 Damit fungiert die historische Betrachtung der kulturellen Formen des menschlichen Lebens als materiale Grundlage für die diese Formen erforschenden und entfaltenden Kulturwissenschaften. Diesen Formen schreibt Cassirer die gleiche subjektiv-objektive, sinnlich-sinnhafte Doppelnatur zu, die auch den symbolischen Formen eignet. Über diese Doppelnatur und ihre Verwurzelung in der emotionalen Ausdruckswahrnehmung ist und bleibt die kulturelle Gestalt dem Urphänomen des Lebens, „diesem Erdreich“, immer verbunden. 77 Zudem enthält jede kulturelle Gestalt den Grundkonflikt des empirisch Historischen (Präsenz) und des ideell Unzeitlichen (Bedeutung). Indem nun die Kulturwissenschaften mithilfe der „Fülle der Formund Stilbegriffe“ eine Wiederbelebung der Kultur der Vergangenheit vollbringen, werden die historischen Monumente, die von der Geschichtsschreibung erforscht werden, von ihnen als Symbole aufgefasst, die uns „bestimmte Lebensformen“ erfassen, verstehen und somit wiederherstellen lassen. „Die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln“. Damit macht sie „das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar“. 78 Der produktive Prozess des Erschaffens von kulturellen Symbolen und der reflexive Prozess ihres Begreifens bilden für Cassirer allerdings notwendig entgegengesetzte Richtungen geistiger Aktivität, die nicht zugleich vollzogen werden können. Jede von der Kulturwissenschaft erforschte Form spricht den konkreten Charakter eines kulturellen Sinnphänomens aus und fällt deshalb mit 74 75 76 77 78
EP IV, ECW 5, 361. LKW, ECW 24, 434. Ebd., 435. EP IV, ECW 5, 343. LKW, ECW 24, 445.
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der entsprechenden symbolischen Form zusammen. Die einzelnen Kulturwissenschaften sind somit Theorien einer jeweiligen symbolischen bzw. kulturellen Form. Durch die sogenannte „universale Überschau“ löse die eigentümliche Methode einer jeden kulturwissenschaftlichen Disziplin aus der „Fülle der Einzelphänomene ein ‚Urbildliches‘ und Typisches“ heraus. Diese ‚idealtypische‘ Betrachtung (Max Weber) stelle ebenfalls eine „eigene und legitime Art der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ dar. 79 Das mögliche Erfassen, Erschauen der urbildlichen und typenhaften „Grundformen der Kultur“ setze einen bestimmten Blickpunkt, eine bestimmte Art und Weise der Betrachtung voraus. Dabei drückt der kulturwissenschaftliche Begriff des Ganzen, einer Epoche etc. etwas Charakteristisches aus, das uns auf eine „‘physiognomische‘ Erkenntnis“, auf ein lebendiges Ausdruckserlebnis zurückführt. 80 Für die Erforschung der kulturellen Werke sind demnach Erkenntnismethoden gefordert, die das materiale und das Formmoment des Werkes erschließen. Bei den Begriffen, die die Kulturobjekte bzw. ihren ideellen Bestand aufklären sollen, eröffnet sich Cassirer deren Spezifik auch aus der Weise, wie sie die „Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine vollziehen“. Dies erfordere nämlich eine andere „Art der ‚Zusammenschau‘“ als die in der Naturwissenschaft praktizierte. 81 Auch wenn beiden Wissenschaftstypen die Zusammenschau als solche gemeinsam ist, wird hier eine andere Beziehung zwischen Individuellem und Allgemeinem als in den auf Kausalität und Gesetze abzielenden Wissenschaften freigelegt. Diese zum Wesen des kulturwissenschaftlichen Begriffs gehörende „andere“ Beziehung oder „Fügung“ bezeichnet Cassirer auch als den „Lebensfaden des [kulturwissenschaftlichen – C.M.] Begriffs“, der vom Wissenschaftler oder Philosophen niemals zerschnitten werden dürfe. 82 Zudem stehe diese spezifische Weise der Subsumtion immer in Bezug zu einem entsprechenden „Lebensgefühl“ der Menschen. Gemäß ihrer Eigenart zielt die kulturwissenschaftliche Betrachtung deshalb vor allem – aber nicht nur – auf das Subjektive, hat sie doch den ästhetischen, religiösen, rechtlichen etc. Tätigkeits-Pol zu unterscheiden. Cassirer zeigt nun für jede Kulturform, die ihre kulturwissenschaftliche Bewusstwerdung erlebt, auf, dass sie in einem subjektiven Lebensgefühl der Individuen wurzelt, in ihm ihre letzte ‚Quelle‘ hat. Damit hält er am Grundbegriff des subjektiven Lebensgefühls als der tiefsten Schicht rationalen Verhaltens
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ZWW, ECN 2, 161 f. Ebd., 168. Ebd., 72 f. Ebd., 69 f.
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Theoretische Philosophie
fest. Inspiriert hat ihn dabei wiederum Goethe, den das eigentümliche Lebensgefühl immer wieder zu theoretischen Erkenntnisfortschritten geleitet habe. 83 Der Bezug zum Lebensgefühl liegt auch der Wertschätzung des Momentes der Lebendigkeit in der Geschichtsschreibung zugrunde. Cassirer, der vom Historiker die „lebendige Anschauung früherer geistiger und menschlicher Zustände“ fordert, 84 sieht Ziel und Aufgabe wissenschaftlicher Historie in der „lebendige[n] geschichtliche[n] Forschung oder geschichtliche[n] Darstellung“, 85 selbst die historische Objektivität solle und könne sich aus der „Quelle der lebendigen Anschauung“ nähren. 86 Das Lebensgefühl darf folglich gleichzeitig als Gegenstand und als Methode der Geschichtsschreibung fungieren. Ein letzter Gedanke, ein Argument Cassirers sozusagen gegen kulturellen Nihilismus. Da die „Welt der Formen“ nur im „funktionellen Vollzug“ als Aufbaubewegung des Ich, des Subjektes erfasst werden kann, 87 darf sich bei dieser Betrachtungsweise das Subjekt nicht selbst verlieren. Es würde nämlich mit sich als dem Organisator aller Formen auch alle Objekte bzw. Formen aufgeben. Deshalb steht für die Kulturwissenschaft auch nicht so sehr das fertige Werk, sondern mehr die jeweilige formbildende Tätigkeit des Subjektes im Mittelpunkt des Interesses. Damit wird die Aufmerksamkeit auf das beständige Fließen, Werden der entsprechenden kulturellen Sinnform gerichtet, an dem die jeweilige Tätigkeit ihren Anteil hat. Auf den beständigen „Fluss“ einer Kulturform, der ihr geistiges Sein nicht nur nicht zerstört, sondern vielmehr als seine Bedingung fungiert, wendet Cassirer – wie auch Spengler – den goetheschen Begriff der Metamorphose88 als passenden Terminus an. 89 Die Problematik des über das ‚Es‘-Basisphänomen aufzuschließenden Werkes, in welchem der Mensch sich objektiviert und durch das er andern mittelbar kenntlich wird, sieht Cassirer grundsätzlich sowohl in Simmels Theorie von der ‚Tragödie der Kultur‘90 als auch in Goethes Dichtwerk Prometheus aufgeworfen.91 Die Philosophie der symbolischen Formen, die exemplarisch die kul83
Vgl. EP IV, ECW 5, 163, 166. Ebd., 259. 85 Ebd., 270. 86 Ebd., 276. 87 ZWW, ECN 2, 170. 88 Zu dem von Cassirer und Spengler benutzten goetheschen Begriff der Metamorphose siehe u.a. Ch. Möckel (2003): Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung. Berlin, 105 ff., 159 ff. 89 Vgl. ZWW, ECN 2, 172 f. 90 Vgl. LKW, ECW 24, 462 ff. 91 Vgl. ECN 1, 125. 84
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turwissenschaftliche Formenanalyse vornimmt, fragt hier „nach der ‚Struktur‘ der Werke“, nach ihren Bedingungen und stellt sie in ihrer allgemeinen Form dar. Vom geschichtlichen Material aus, das ihr die Historie bereitstellt,92 vollzieht sie ihre „Wendung ins Allgemeine“, hin zu den Formen. Das ist „echte Konstitution“ der Welt der Formen, mit der sich erst der „wahrhafte Zugang“ zu der Sphäre der Kulturwerke erschließt, von der aus sich jede eigentümliche Form der Kultur-Werke als spezifische und als universelle „Form der Sinngebung“ verstehen lässt.93
Literaturverzeichnis Gerhardt, Volker (2002): Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart. Goethe, Johann Wolfgang von (1907): Maximen und Reflexionen. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hg. v. Max Hecker, Weimar. Husserl, Edmund (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Bd. 1: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913). In: Husserliana, Bd. III/1, Den Haag. Möckel, Christian (2003): Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung. Beiträge aus Lebensphilosophie, Phänomenologie und symbolischem Idealismus zu einer Goetheschen Fragestellung, Berlin. – (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg. Natorp, Paul (1912): Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen. Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin. Renz, Ursula (2002): Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg. Rickert, Heinrich (1922): Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit (1920), Tübingen. Schwemmer, Oswald (2005): Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München. Windelband, Wilhelm (1919): Präludien. Reden und Aufsätze zur Philosophie und ihrer Geschichte, 6. Aufl., 1. Band, Tübingen.
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Ebd., 163 f. Ebd., 164 f.
Siglen
Sofern nicht anders angegeben, werden die Schriften von Ernst Cassirer mit den unten angeführten Siglen zitiert. AH
Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, ECW 21, 1-116. CIPC Critical Idealism as a Philosophy of Culture, SMC, 64-91. CPPP The Concept of Philosophy as Philosophical Problem, SMC 49-63. ECN Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. ECN 1 Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Texte und Materialen zu einem Band vier der „Philosophie der symbolischen Formen“ mit einem Text „Über Basisphänomene“. ECN 3 Geschichte. Mythos. Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit. ECN 5 Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929-1941). ECN 6 Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie. ECN 11 Goethe-Vorlesungen (1940-1941). ECW Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Birgit Recki, Hamburg 1998 ff. EM Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, ECW 23. EP 1-4 Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster bis vierter Band, ECW 2-5. FF Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, ECW 7. FFW Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs, ECW 17, 342-359. FuT Form und Technik, ECW 17, 139-183. KLL Kants Leben und Lehre, ECW 8. LDK Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie, ECW 24, 7-36. LKW Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, ECW 24, 355-486. LSB Zur Logik des Symbolbegriffs, ECW 22, 112-139. MoS Myth of the State, ECW 25. NHBK Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, ECW 22, 140-160. PSF 1-3 Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Zweiter Teil: Der Mythos. Dritter Teil: Phänomenolgie der Erkenntnis, ECW 11-13. SAG Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, ECW 18, 111-126.
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SMC SuF ZER ZWW
Siglen
Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. Um das ergänzende Manuskript aus dem Nachlass, Nr. 148, Yale, Beinecke erweiterte Fassung in: Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois/Josef M. Werle (Hg.)(1985): Ernst Cassirer. Symbol, Technik, Sprache: Aufsätze aus den Jahren 1927-1933. Hamburg, 121-151. Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer. 1935-1945, hg. v. Donald Phillip Verene, New Haven/London 1979 Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik, ECW 6. Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10. Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2.