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German Pages 190 [188] Year 2015
Mirjam Schaub, Stefanie Wenner (Hg.) Körper-Kräfte
2004-10-26 09-50-59 --- Projekt: T212.körperkulturen.schaub-wenner.körperkräfte / Dokument: FAX ID 01f466796219098|(S.
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) T00_01 schmutztitel.p 6679621913
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) T00_02 autor.p 66796219154
Mirjam Schaub, Stefanie Wenner (Hg.)
Körper-Kräfte Diskurse der Macht über den Körper
2004-10-26 14-45-11 --- Projekt: T212.körperkulturen.schaub-wenner.körperkräfte / Dokument: FAX ID 01f466813870810|(S.
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) T00_03 innentitel.p 66813870818
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Performance »Amorales vs. Amorales« des Künstlers Carlos Amorales zur Eröffnung des Theaters »Hebbel-Am-Ufer« in Berlin, fotografiert von Thomas Aurin, 2003 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-212-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum.p 66796219170
Inhalt Einleitung
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Mirjam Schaub und Stefanie Wenner
Das Ei. Eine kleine Philosophie der Keimblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elisabeth von Samsonow
Intensität. Simone Weils revolutionäre Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Stefanie Wenner
Lust vs. Begehren. Die Rolle der ›Dispositive der Macht‹ für die Körperpolitik bei Foucault und Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Mirjam Schaub
Der Körper des Philosophen im Zeitalter der Biopolitik . . . . . . 131 Friedrich Balke
Der Heroismus des gegenwärtigen Moments . . . . . . . . . . . . . . 159 Gunter Gebauer
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
2004-10-26 09-51-00 --- Projekt: T212.körperkulturen.schaub-wenner.körperkräfte / Dokument: FAX ID 01f466796219098|(S.
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) T00_05 inhalt.p 66796219178
2004-10-26 09-51-00 --- Projekt: T212.körperkulturen.schaub-wenner.körperkräfte / Dokument: FAX ID 01f466796219098|(S.
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Einleitung | 7
Einleitung Mirjam Schaub und Stefanie Wenner
»Denken heißt begreifen, wozu ein nicht-denkender Körper in der Lage ist«, sagt der französische Philosoph Gilles Deleuze programmatisch und fährt fort: »in seinem Schlaf, in seiner Trunkenheit, in seiner Anspannung und seiner Widerstandskraft«.1 Die auf kognitive Prozesse konzentrierte Geisteswissenschaft vernachlässigt gerne den Einfluss, der von den basalen, scheinbar profanen körperlichen Bedürftigkeiten für das Denken selbst ausgeht. Im selben Zug wie sie ihre eigenen übersinnlichen Potenzen überhöht, verkennt sie aber auch die Veränderlichkeit und Formbarkeit, ja Immaterialität des Körperlichen selbst, verkennt all die Kraft genannten Möglichkeiten, die von der scheinbar nur leidenden und indifferenten Stofflichkeit des Körpers ausgehen.
1
Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 244.
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Den unmerklichen Sublimierungen, Rationalisierungen und Depotenzierungen körperlicher Möglichkeiten auf der Spur, ließe sich ein Tableau entwerfen, auf dem all die unterschiedlichen Kräfte Platz finden und zur Sprache kommen könnten. Unterscheiden lassen sich: 1. physikalische Kräfte (z.B. Anziehungs- bzw. Schwerkraft), die auf den menschlichen Körper einwirken und seinen Aktionsradius begrenzen; 2. vegetabile bzw. animalische Kräfte, die – wie etwa Hunger, Lust, Schmerz, Angst – den Körper überwältigen und zu denen er sich zu verhalten hat; 3. physiologische Kraftreserven bzw. Potenzen, die – vor- oder unbewusst – vom menschlichen Körper ausgehen (z.B. Widerstandskraft gegen Katastrophen, Abwehrkräfte gegen Krankheiten, Lust und Begehren) und bislang naturwissenschaftlich nicht eingeholt werden konnten. 4. Außerdem gibt es mentale bzw. geistige Kräfte, die dem Körper zugesprochen werden (z.B. Konzentration, Vorstellungs-, Täuschungs-, Überredungskraft). An dieser Stelle lässt sich die Produktion von Körperkräften auf sprachlicher Ebene verhandeln, im Sinne einer Rhetorizität des Verhältnisses von Körper und Sprache als bildende Kraft. Das oben entworfene Tableau möglicher Kräfte findet Rückhalt in einer mehr oder minder expliziten »Metaphysik«, die von Anfang an auch die Entwicklung des physikalischen Kräftebegriffs im Ausgang von Aristoteles [v (Geschwindigkeit) ~ F(Kraft)/ W(iderstand)] und Newton [Kraft = Masse mal Beschleunigung] begleitet hat. G.W. Leibniz etwa, nicht gerade als Okkultist verdächtig, versucht, den starren Körper- und Materiebegriff seiner Zeit um ein – ihm eigenes – immaterielles Moment zu erweitern, dem »Prinzip der Tätigkeit oder der Veränderung, das man
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Einleitung | 9
weder durch die Ausdehnung noch durch die Undurchdringlichkeit [des Materiellen] zu erklären vermag«.2 Der vorliegende Sammelband stellt eine Auswahl aus einer im Rahmen des Graduiertenkollegs »Körper-Inszenierungen« im Sommersemester 2002 gehaltenen Universitäts-Ringvorlesung dar. Versammelt sind Texte von Philosophen und Philosophinnen, die sich mit jenen eigentümlichen Kräften auseinandersetzen, die vom menschlichen Körper ausgehen, oder die zwischen menschlichen Körpern wirksam sind. Wer heute als Geisteswissenschaftler oder Philosoph von Kräften spricht, meint damit keine feststehende, zeitlich wie räumlich klar begrenzbare Entität, sondern vielmehr etwas, das sich aufgrund seines irreduziblen Möglichkeits- und Zukunftsbezugs dem direkten Zugriff wie der Kontrolle entzieht. Nichts hic et nunc für jedermann Sinnlich-Wahrnehmbares, sondern vielmehr etwas »Indirektes«, »Virtuelles«, bloß »Potenzielles«. Eine Kraft ist etwas, das selbst noch wird und sich entwickelt, niemals schon feststeht. Etwas, das in sich selbst veränderlich ist, sich selbst verändert und gleichzeitig andere Veränderung provoziert. So verstehen wir unter Kraft etwas nicht näher Bestimmbares, das Einfluss auf sich selbst wie auf anderes hat. Etwas, das eher wirkt, als ist. Weder Ding noch Sache, sondern eher eine Form von Ereignis. Etwas, dessen Existenz nur durch seine Wirkungen beglaubigt werden kann, die ihrerseits selten eindeutig sind. Es genügt nicht, Kraft als Ursache einer Wirkung zu be-
2 Gottfried Wilhelm Leibniz: »Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt« (Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen im Jahre 1702), in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Teil II (HS II). Übers. v. Artur Buchenau, mit e. Einleitung u. Anm. hg. v. Ernst Cassirer, Hamburg: Felix Meiner 1996, S. 588.
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nennen. Man muss auch die Frage stellen: Was ist die Ursache von Kraft? Wie kommt Kraft überhaupt in die Existenz? Bei der Suche nach einer Antwort stößt man – gerade auch in der Physik – auf einen regelrechten Ringtausch und Kanon an Kräften, die sich alle gegenseitig affizieren, beeinflussen, anstoßen und in Bewegung halten. Die scheinbar schlichte Gleichung – actio gleich reactio – ist so simpel nicht, denn sie schiebt die Frage der Ursache von Kraft unendlich auf zugunsten einer von der Philosophie im Allgemeinen und von Nietzsche im Besonderen dankbar aufgenommenen Binnendifferenzierung in aktive und reaktive Kräfte. Der Sammelband konkretisiert die Physik wie Metaphysik des Kraftbegriffs durch den Rekurs auf den menschlichen Körper und stellt beide Aspekte des Kraftbegriffs in Konkurrenz zueinander dar. Wir gehen davon aus, dass der Körper selbst nicht nur im Schnittpunkt unterschiedlicher physikalischer Krafteinflüsse steht, sondern seinerseits Ausgangsort spezifischer Kräfte ist. Diese Kräfte können – wie Nietzsches Philosophie darlegt – immer aktiv und reaktiv sein. Gerade auch die scheinbar ›passiven‹ Kräfte – wie die Müdigkeit und die Trägheit – gehören hinein in eine Untersuchung der dem menschlichen Körper eigenen Kräfte. Diese Kräfte sind dem Körper allerdings nicht einfach gegeben. Vielmehr werden sie dem Körper von der Kultur, in der er sich bewegt, mithilfe einer je spezifischen – und selten bewussten – Körperpolitik immer auch zugeschrieben und mit einem ganz bestimmten Sinn behaftet. Der Körper als Gegenstand von Inszenierung, Selbstauslegung und Fremdbetrachtung wird auch im Spielfeld eigener wie fremder Kräfte niemals als ›ursprünglicher‹ rekonstruierbar sein. Mit dieser Einsicht nimmt der Sammelband einen bei der Gründung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Graduiertenkollegs »Körper-
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Einleitung | 11
Inszenierungen« wesentlichen Impuls auf: eine Interessensverlagerung weg vom Körper als passive kulturelle Einschreibfläche nach dem Textmodell, hin zu einem aktivischeren Verständnis dessen, wozu ein Körper als unvordenklicher, widerständiger in der Lage ist, als Irritationsmoment und unauflösliches Fragezeichen innerhalb des Diskurses. Im Herzen der Untersuchung stehen die unterschiedlichen Zuschreibungen, die den menschlichen Körper als von Kräften durchdrungen und über Kräfte verfügendes Diagramm betrachten. Dabei wendet sich der vorliegende Sammelband nur einem Ausschnitt möglicher Kräfteverhältnisse zu – der Aufmerksamkeit und Konzentration, Lust und Begehren, dem Wachstum, der Imagination als Potenzierung körperlicher Kräfte sowie der Diskursivierung von Körpern und den ihnen zugeschriebenen Kräften im Zeitalter der Biopolitik. Eine Philosophie der Keimblätter beginnt Elisabeth von Samsonow mit ihrem Beitrag zu einer Theorie des Eies. Während die Naturphilosophie randständig geworden ist, boomen naturwissenschaftliche Diskurse um den Körper und wetteifern mit kulturwissenschaftlichen Untersuchungen in der Dekonstruktion von Natur. Gegen die scheinbare Natürlichkeit der Erkenntnis von der Künstlichkeit des menschlichen Körpers behauptet von Samsonow die Macht des Wachsens oder Werdens als natürliche Kraft des Körpers. An biologischen Diskursen aus dem 19. Jahrhundert zeigt sich eine Potenz, die sich parallelisieren lässt mit einem Drängen der Organe im Körper, analog des Drängens des Buchstabens im Unbewussten, wie von Lacan beschrieben. Das erklärt vielleicht jenes Unbehagen, das Autoren wie Albert Dalcq oder Wilhelm Roux gegenüber dem Ei als einem Epizentrum der allmächtigen kreativen Materie entwickelten. Rettung wird gesucht, indem nicht nur der Teilungsvorgang untersucht wird, sondern von Evokation die Rede ist. Evokation bedeutet nichts
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anderes, als dass aus etwas unendlich Undeterminiertem etwas Bestimmtes entsteht, ohne dass es einen hierfür einfach zu beschreibenden kausalen Zusammenhang gäbe. Was von diesen Biologen und Lebenswissenschaftlern der ersten Stunde durch komplizierte Verfahren, die an das »peinliche Verhör« gemahnen, betrieben wird, ist nichts weniger als die Austreibung des Lebens aus den Lebenswissenschaften. Mit dem Begriff der intensiven Mannigfaltigkeit begann der Biologe Driesch die Erfolgsgeschichte eines Konzeotes, das nicht zuletzt durch die Philosophie Gilles Deleuze prominent geworden ist. Wie Sloterdijk in seinem Sphären-Projekt von der Faszination des Runden geschrieben hat, scheinen diese Naturforscher besessen von der Zelle als rundem Hort, der die Zukunft zu enthalten scheint. In der Philosophie steht begrifflich betrachtet die Monade in dieser Tradition. Von Giordano Bruno lässt sich lernen, so zeigt von Samsonow, dass wir gut daran tun, das Problem der Individuation aus dem Grabengefecht zwischen Materie und Form herauszuholen. Lassen wir diese alte Opposition einmal hinter uns, so würde »sich die Möglichkeit einer Verschränkung des psychischen und des physischen Körpers aus dem Thema des Wachsens […] ergeben können. Es könnte der natürliche Körper als dasjenige Problem wiedergewonnen werden, an dem sich die epilogische Vernunft entzündet, die gewissermaßen Mühe hat, mit einem verrückten Leibapriori, das die überbegabte Technikerin Natur stets neu entwirft, Schritt zu halten.«3 Von Samsonows Lektüre der Biologen aus dem 19. Jahrhundert in Kontrastierung zu Giordanos Philosophie des Größten und des Kleinsten eröffnet die Überschreitung der Dualität von Natur und Kunst. Das Wachsen oder Werden ist die »Körperkraft«, die
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Elisabeth von Samsonov: »Das Ei. Eine kleine Philosophie der Keimblätter«, in diesem Band, S. 42.
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Einleitung | 13
an eine anspruchsvolle Naturphilosophie bzw. eine Philosophie der Emergenz denken lässt. Politisch wird es im Beitrag zur Aufmerksamkeit als revolutionäre Körperkraft. Konzentration ist ein Effekt der Sammlung nicht nur körperlicher Kräfte. Stefanie Wenner untersucht in ihrem Beitrag das Denken der Kraft der Philosophin und Anarchistin Simone Weil vom Begriff der ›Attention‹ aus. Simone Weil hat in ihrer Religionsphilosophie den Begriff der ›Attente‹ entwickelt, den sie aber auch für ihren politischen Syndikalismus fruchtbar machte. In Auseinandersetzung mit Nicolas Malebranches Untersuchung der Auswirkung der Gewohnheit auf das Denken stellte Weil eine vernichtende Diagnose bezüglich des revolutionären Potenzials der arbeitenden Bevölkerung. Malebranche bewies in De la Recherche de la Vérité (1675)4, dass unsere Ideen kein sicheres Wissen über Körper liefern. Dieser Erkenntnis folgte auch Simone Weil. Durch ihre eigene, körperlich zehrende Erfahrung als Arbeiterin in einer Fabrik von Renault desillusioniert, schreibt sie einzig der Aufmerksamkeit und Konzentration das Potenzial zu gesellschaftlicher Veränderung zu. Man muss aufmerksam sein, um etwas, und sei es nur sich selbst, zu Neuem bewegen zu können. Im Zentrum dieses Aufmerksamkeitsbegriffes steht die Leere. Der Geist muss leer sein, nur dann sind die Gedanken frei. Die Pointe der politischen Überlegungen Simone Weils besteht laut Wenner in einer gewissermaßen performativen Wende. Denn indem die Arbeiter ihren Dienst am oder im kapitalistischen Werk tun, gewöhnen sie sich an diese Umstände und können keine Kraft entwickeln, um ihre
4 Nicolas Malebranche: Von der Erforschung der Wahrheit. Übers. u. eingel., m. Anm. u. Reg. hg. v. Alfred Klemmt, Hamburg: Felix Meiner 1968.
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schlechten Lebensumstände zu verändern. Klassisch marxistisch könnte man sagen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das ist im Denken Simone Weils aber nur die halbe Wahrheit. Denn die Intensität, die die Wirkmacht der von ihr konzipierten revolution immobile ausmacht, entsteht im wörtlichen Sinne nur aus dem ›frei sein von‹. Dieses bedingt die Leere als Bedingung des Konzentrationsvermögens, sich zu entfalten. Die Bedeutung der Leere als Bedingung der Möglichkeit von Konzentration und damit von Freiheit, kommt aus dem Kontext des Hinduismus, den Simone Weil studierte. Als Übersetzerin von Teilen der Uphanishaden und der Baghavadita war sie eine exzellente Kennerin der hinduistischen Tradition, aber auch des Buddhismus. In ihrem Denken verschränken sich auf äußerst konstruktive Weise Religionsvergleich und politischer Anspruch. Schon von daher rührt die Aktualität der Weil’schen Philosophie, die bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts sowohl naturwissenschaftliche Erkenntnisse philosophisch fruchtbar machen wollte, als auch im interreligiösen Dialog nach gemeinsamen Grundzügen von Religion suchte. Mirjam Schaub deutet in ihrem Beitrag über das Zerwürfnis zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze Lust (plaisir) und Begehren (désir) als exemplarische Figuren aposteriorischer und apriorischer Körpererfahrung. Kritikwürdig erscheint ihr vor allem die Intellektualisierung (und als dessen Kehrseite auch die De-Sexualisierung und Infantilisierung) des Begehrens in der Lesart von Jacques Lacan. Die strukturelle Fixierung des Begehrens an die Anerkennungsproblematik des (großen) Anderen, wie sie die Phänomenologie in der Nachfolge von Hegel, Husserl und auch Merleau-Ponty aufwirft, interpretiert sie als klandestinen Grund für die Blockierung des Genießens (jouissance) durch ständig wechselnde affektive Objektbesetzungen. Indem Lacan den Anderen
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(das menschliche Gegenüber ebenso wie das übermenschliche Gesetz) zum Phantasma stilisiert, das stabile Objektbesetzung konsequent verhindert, wird en passant das Begehren von der Kunst der Verführung abgeschnitten und zum ewig enttäuschenden Lockstoff degradiert, während Lust als bloß körperliche qualifiziert, als universelle Erfahrungsmöglichkeit hingegen blockiert erscheint. »Ohne Verführung als Bindeglied zur Lust, ohne die Freude an der bloß temporären und spielerischen Macht über einen anderen Menschen, gerät ein anerkennungsfixiertes und entsexualisiertes Begehrenskonzept, das auf striktem noli-me-tangere besteht, zum Zerrbild einer Angstkultur, deren Körperwahn nur unvollständig deren Leibfeindlichkeit kaschiert. Weder ist das Begehren an sich unendlich und körperlos noch die Lust an sich endlich und körperlich.«5 Mirjam Schaub ist hingegen bestrebt, Begehren – mit Deleuze – direkter, körperlicher, physikalischer, apersonaler zu fassen; Lust hingegen – mit Foucault – als ein Relikt metaphysischer Erfahrung, als eine Spielart von Subjektivierung zu problematisieren. Sie trifft damit in das Zentrum des späten Streits zwischen Foucault und Deleuze. Die Frage, welche Kräfteverhältnisse den Begriffen Lust und Begehren zugrunde liegen, wird hierbei zentral. Mit Spinoza, Kant und Nietzsche gedacht sind Kräfte immer reziproke Affizierungsverhältnisse, die aktive und reaktive Formen und ebensolche Arten der Selbstaffizierung einschließen. (Foucaults Rekonstruktion des ›freien Griechen‹ hat mit der Beugung des eigenen Begehrens, mit der Selbstzähmung der eigenen Kräfte und einer Entkoppelung der Lust-Erfahrung zu tun.) Deleuzes Kritik entzündet sich nun einerseits an der Frage der Reterritorialisierung des Subjekts in und durch konkrete 5
Mirjam Schaub: »Lust vs. Begehren«, in diesem Band, S. 127f.
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Lusterfahrung; andererseits an der Frage, ob es sich bei der ›Mikrophysik der Macht‹ wirklich schon um Kräfte oder eher um a-zentrische, fluchtlinienartige ›agencements de désir‹ handele. Für den Nietzscheaner Deleuze ist die Macht selbst eine Folge, eine »Affektion des Begehrens«.6 Genau dieser Zusammenhang erleichtert die Antwort auf die – für Foucault offen bleibende – Frage, wie nämlich ›die Macht‹ begehrt werden könne. Friedrich Balke nimmt Spinozas »Ethik« als legitimer Vorläufer von Nietzsches leiborientierter Philosophie zum Anlass, die den Körper im Zeitalter der Biopolitik ereilenden Zuschreibungen zu überprüfen. Das genuin ethische Problem des ›Selbstseinkönnens‹ verbindet sich gegenwärtig mit all jenen temporalen Markierungen, die um die Frage kreisen, wann menschliches Leben beginnt und endet. Dass diese Zuschreibungen so einfach nicht sind, zeigen nicht erst die biopolitischen Debatten der jüngsten Vergangenheit. Mit Spinoza im Gepäck macht Balke darauf aufmerksam, dass ›Grauzonen-Existenzen‹ sich genau besehen auch auf die Geschichte der ›gesicherten‹ personalen Existenz erstrecken. Es gibt Zustände der Depersonalisierung und der Entindividuierung (durch Krieg, Krankheit, Traumata, Verlust), welche eine Biographie von innen her aufweichen und fragmentieren. Der Vorzug der spinozistischen Ethik scheint darin zu bestehen, dass sie auf jede voreilige Subjektivierung – im Sinn von falscher Kohärenzbildung und Mit-sich-Identifizierung – verzichten kann, indem sie ein Vokabular aus mehr oder weniger 6 »Daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind […]«, notiert Friedrich Nietzsche im Frühjahr 1888 [S. 14; S. 121], in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 13, Nachlaß 1887-1889, München: München: dtv 1999, S. 300.
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anregenden oder hemmenden Kräften entwirft, welche nicht nur den Körper, sondern auch die ›Ideen‹, die ein Mensch zur Selbstbeschreibung wählt, zum Spiegel temporärer Affekte und Lüste erklärt: Affekte sind für Spinoza jederzeit performativ wirksam, sie erzwingen eine Wirkung im Körper wie im Geist, lange, bevor eine Verortung ihrer Ursachen möglich ist. Auch sind sie nicht vorhersehbar. Niemand kennt »im Voraus die Affekte, deren ein Körper fähig ist«, schreibt Gilles Deleuze im Anschluss an Spinoza.7 Angewendet auf die biopolitische Debatte der Gegenwart im Zeichen der prognostischen Fähigkeiten der Gendiagnostik ist darin zweifelsohne auch eine Drohung enthalten: »[…] beide, biographischer Diskurs und prädiktive Medizin, verwandeln das Leben in ein homogenes Medium (bestehend aus lebensgeschichtlich relevant gesetzten Daten oder Erbmaterial), aus dem eine ganz bestimmte Form, nämlich die ›Lebenszeit‹ (die Zeit, die man zu leben hat: im Sinne ethischer Verpflichtung und messbarer Zeit) zu gewinnen ist. In beiden Fällen: im biographischen ebenso wie im gendiagnostischen Modus geht es um die Verpflichtung von Menschen auf ein bestimmtes Selbst und in diesem Sinne also um ›Selbstverpflichtung‹. Die optimistische Perspektive auf das Leben als Medium der Selbstbildung wird ergänzt durch einen radikal pessimistischen Blick auf das Leben, wie er vormals nur auf literarischen Zauberbergen eingeübt wurde, jetzt aber uns allen zugemutet wird: wir sollen lernen, unser Leben als Träger eines nicht zuletzt sozialen Risikos wahrzunehmen.«8 Die Unsicherheit ob der Frage, zu was der eigene Körper (als 7 Gilles Deleuze: »Spinoza und wir«, in: ders., Spinoza. Praktische Philosophie. Übers. v. Hedwig Linden, Berlin: Merve 1988, S. 161. 8 Friedrich Balke: Der Körper des Philosophen im Zeitalter der Biopolitik, in diesem Band, S. 157.
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Brutstätte Tod bringender Anlagen) in der Lage sei, pervertiert die schon von Foucault als antike Praktik aufgeworfene ›Sorge um sich‹ in der Moderne endgültig zu einem sozialen Zwang: permanente Selbstbeobachtung, Vorsorge um jeden Preis, ein Leben unter Angst und Vorbehalt, in welchem Krankheit und Tod als ein individuell vermeidbares ›skandalon‹ der Nachlässigkeit betrachtet werden. Der Rückgriff auf Spinoza erscheint hier wie ein Vorgriff auf das viel diskutierte ›Recht auf Nicht-Wissen‹. Indem Spinoza Subjektivierungsprozesse »ohne die Zumutung der Selbsttransparenz oder Selbsterkenntnis« (Balke) denkt, erscheint seine affirmative und aposteriorische Ethik des Körperlichen und Affektiven wie ein unzeitgemäßes Geschenk; eine Philosophie, der auch ein Ethos des Schwachen innewohnt, gerade weil wir auch auf Weisen von unserer Welt, unserem Wissen und unseren Praktiken affizierbar sind, die uns von dem trennen, was wir sein könn(t)en. Im Sport wachsen Menschen über sich hinaus. Sie aktivieren ihre Kräfte, motivieren sich durch ein anderes Bild ihrer selbst. Gunter Gebauer entlarvt die neuen Helden als einen besonderen Angestelltentypus, der eine Wette mit sich selbst auf Selbstüberschreitung eingeht. Vollzogen wird diese Wette durch eine erhöhte Risikobereitschaft, die im Extremfall sogar das eigene Leben aufs Spiel zu setzen bereit ist. Auf diese Weise entkommt der zeitgenössische Held der Enge sozialer Normen und staatlich verordneter Fürsorge. Verwertbar in diesem Sinne kann die Tat nur zur Erzählung werden, die den Heroismus gesellschaftlich, im Sinne eines kathartischen Moments verwertbar macht. Die Bereicherung um eine Sinndimension durch den heroischen Augenblick, geschieht im Interesse einer Auto-graphe, einer Be-schreibung des eigenen Lebens. Abgesichert durch modernste Technologien, wie etwa Mobilfunk, begibt sich der Held in den
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scheinbar außerzivilisatorischen Raum. Gebauer verfolgt in seinem Text den Einsatz und Gewinn im Risikosport als ›Spiel des Lebens‹. Mit Baudelaire, der vom Heroismus des modernen Lebens schon 1846 sprach, und Michel Foucault, der den moment présent als Infragestellung der eigenen Situiertheit thematisierte und Gegenwart auf diese Weise als philosophisches Ereignis deutbar machte, verleiht der Autor dem Sport eine über ihn hinaus weisende Bedeutung als Zeitereignis. Es zeigt sich eine metaphysische Dimension, die eng an das Prinzip der Leistung gekoppelt ist. Wer zu gleichsam übermenschlichen Kräften fähig ist, scheint ausgewählt zu sein. Der Auserwählte ist der Sieger heutiger Wettkämpfe und war es diskursiv betrachtet auch schon in der Antike und ihren Sportereignissen. »Ein Übermenschentum im sozialen Raum der Disziplinargesellschaft – dies ist die Illusion des klassischen Heldentums im Sport«, schreibt Gebauer über diese Situation. Aus dieser Konstellation heraus stellt das sportliche und Grenzen suchende Individuum nicht mehr die Frage wer es sei, sondern wer es werden könnte. Im Konditional zeigt sich die Form der Anklage, die versucht, den engen Grenzen des Selbst-Bildes durch einen Prozess zu entkommen. Die Verfertigung des gewöhnlichen Heldens orientiert sich an den theatralen Mitteln der Starkultur, die längst die Popularität des Sports bedingen. Durch sukzessive Identifikation mit einem Bild entsteht eine Figur, die mit der darstellenden Person wenig zu tun hat. Diese neue Art von Selbststilisierung zu einer überindividuellen Ikone lässt im Heroismus des gegenwärtigen Moments eine neue Subjektivität erkennen. So verstanden, zeigt das Spiel mit den Körperkräften im Sport, das von deren Darstellern nicht ironisiert, sondern an deren Potenzierungsgewalt geglaubt wird, einmal mehr die Verabschiedung der klassischen Subjektposition an, die ihren Zenit offensichtlich überschritten hat. Dieser Band hätte ohne die großzügige Unterstützung des Gra-
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duiertenkollegs »Körper-Inszenierungen« nicht realisiert werden können. Wir bedanken uns bei Gunter Gebauer für seine kooperative Zusammenarbeit in der Vorbereitung der Universitätsringvorlesung sowie seine Unterstützung für dieses Buch. Erika Fischer-Lichte danken wir für die Ermöglichung unserer Arbeit und die Möglichkeit, selbstständig unser Projekt zu realisieren. Gedankt sei auch allen, die die Realisation tatkräftig unterstützt und so zum Gelingen des Projektes beigetragen haben. Grit Hetzer-Georgi danken wir für das Korrektorat und Thomas Aurin für das Titelfoto. Nicht zuletzt danken wir dem transcript Verlag für die angenehme und kooperative Zusammenarbeit. Mirjam Schaub
Stefanie Wenner
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Das Ei. Eine kleine Philosophie der Keimblätter Elisabeth von Samsonow
Es tut Not, einer Philosophie des Eies heute etwas vorauszuschicken. Früher hat sich diese Art von Philosophie in den charts des Weltgeistes ganz selbstverständlich auf den ersten Rängen bewegt, heute muss man sie mit einem gewissen Aufwand dorthin zurückhieven. Zu Beginn einer solchen, nicht ganz einfachen Unternehmung sollte man in Erinnerung bringen, dass dieses Millenium als dasjenige der Biologie bzw. der Biosophie und Biotechnologie ausgerufen worden ist. Und dann erklärend anfügen, dass man nun die Philosophie diesem Ruf hinterherjagen werde, damit sie nicht gestrig bleibe, übrigens einer der schlimmsten und häufigsten Vorwürfe gegen sie. Die Philosophie, wenn sie eine ist, bezieht aber ihre Schlagkraft nicht selten daraus, dass sie eine gewisse Gestrigkeit mit Scharfsinn in höchste Zukünftigkeit umschlagen lässt, ein Verfahren, das ihr erlaubt, durch gründliche Kenntnisse der exzentrischen Bewegungen des Geistes und der Vorstellungskraft in der Geschichte die Sackgas-
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sen, Bockshörner und Fallen, in die die forensische Prognostik die Zeitgenossen hineinsteigert, als solche schon im Vorhinein zu erkennen und zu dekonstruieren. Wenn also jetzt die Biologie mit dem Wissen von der Zelle trumpft und uns Dinge vorhersagt, die uns Hören und Sehen vergehen lassen – aus implantierten Zellen stets nachwachsende Organe, Zähne usw. –, dann muss die Philosophie die Biologie in dergestalt überholen, dass sie aus ihrem gut geübten metaphysischen Exerzitium heraus Ursprung, Richtung und das Ziel solch einer neuen Heilsreligion des unsterblichen Leibes voraussagt. Irgendwie sind auch beide vom Runden besessen, die Philosophen – wie Sloterdijk das auf vielen Seiten erschöpfend bewiesen hat – von der Sphäre und die Biologen respektive die Physiologen von der Zelle. Es müsste eine unheimliche, eine schizophrene und nicht nur von der Differenz regierte Welt sein, die diese beiden Begeisterungen getrennt in Rechnung stellt. Ich gehe einmal davon aus, dass diese runden Hauptsachen einmal zumindest eine Art Verwandtschaft aufweisen, die es erlaubt, sie durchaus theoretisch miteinander in Verbindung zu bringen. Für einen Philosophen, der sich daran macht, die Gestrigkeit in Zukünftigkeit zu übersetzen, könnte diese Verwandtschaftsbeziehung unter diesen Gegenständen mit jener Wendung des Blattes aufzudecken sein, mit der die klassische Monadologie zur Verständnisanleitung einer anspruchsvollen Zellphysiologie wird. Giordano Bruno, eine Figur, mit der ich mich viel beschäftigt habe, war ein Monadologe und als solcher von deren einschlägigem Proponenten Leibniz geschätzt. Bevor ich aber nun dazu übergehen will, die Zusammenhänge zwischen den wandernden Einsen der Monadologie und den pulsierenden Zellen und ihren Verbänden zu betrachten, will ich kurz eine Kritik des gegenwärtigen Körperbildes, wie es in den Kulturwissenschaften zur Debatte steht, vortragen. Die neue zeitgemäße Ei-Philosophie wird nämlich auf einer solchen Kritik, die ich in ähnlicher Form in Potsdam vorge-
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tragen habe, aufbauen, d.h., ohne eine solche vorausgeschickte Kritik der Körpertheorie wird die Ei-Philosophie wieder nur in der Grammatik steckenbleiben, in derjenigen logischen Obsession, die aus der inneren Konstruktivität und dem Symmetriewillen des Eies immer nur den Imperativ folgert, sofort den raffinierten Mechanismus einer rekursiven Transzendentalität einzuschalten, der aufs Strengste verhindert, dass man ETWAS sieht. Stattdessen sieht man nur und ausschließlich immer sich selbst als bloß konstruierendes Erkenntnisding. Ferner, und das ist wohl das Wichtigste, wird es darum gehen, die Ei-Philosophie der sie auf eigentümliche Art kontaminierenden Reflexion der klassischen Entwicklungsphysiologen zu entziehen und sie in dem zu restaurieren oder vielleicht besser: regalieren, was sie ist, nämlich Betrachtung des Lebens. Dafür gilt es wieder die geeigneten Mittel namhaft zu machen.
Verschieben, Verrutschen, Übersetzen Wir wohnen nun schon seit längerem einem theoretischen Vorgang bei, der den Körper als Konstrukt haben will, der ihn glatt in seine Armierungen – apparative, elektronische, sensorische – hineindekliniert. Der Körper wird, wie Leroi-Gourhan das vorgeschlagen hat, als technisches Kapital aufgefasst, als Wunschmaschinenbetrieb, der exzessiv neue Submaschinen mit Spezialbewusstsein hervorbringt. Die Gewissheit, dass nichts maschinenartiger oder elektronischer ist als dieser Körper, ist fast geschenkt. Die Geschichte der absichtsvollen Umformatierung des natürlichen Körpers in einen künstlichen – was in sich selbst nichts anderes hätte sein sollen als der Prozess des Verstehens selbst dieses natürlichen Körpers – dauert nun ja schon einige Zeit an, sagen wir: etwa zweitausend Jahre. Der künstliche Körper, ursprünglich eben der symbolische Hauptgewinn im Körperver-
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stehen, stellt sich aber als ebensowenig eindeutig dar wie der ehemalige natürliche, kurz: als schwierig. Mit Staunen verfolgt man, was alles mit ihm geschehen kann, wozu die in ihm suprematisierte materia prima alles fähig ist. Er verändert sich gewissermaßen unter den Augen, weshalb man sagen kann, dass nichts leichter umgeworfen und aus der Fassung gebracht werden kann als der Schematismus dieses künstlichen Körpers, der sich nur dann in einer begrenzten fragilen Homöostase erhalten kann, wenn er gut mit Energie versorgt wird, d.h. mit phantasmatischem Nachschub. Nun ist aber die triumphale Zeit der metallenen Gehilfinnen des Hephaistos zu Ende und der künstliche Körper nicht mehr Dokument der menschlichen List, die hinter die Funktionen kommt und die Natur plagiiert und verdoppelt. Der künstliche Körper entsteht heute weniger durch List als durch Trotz; er ist nicht für den natürlichen Körper unterwegs, sondern gegen ihn, ein special agent für den Beweis, dass mit dem natürlichen Körper etwas nicht stimmt, ja dass es ihn eigentlich überhaupt nicht gibt oder geben kann. Eine mithin erfolgreiche Position innerhalb der entsprechenden Diskussion ist in der Erkenntnis zusammengefasst, dass der Körper ein offenes Feld für alle möglichen Besetzungsversuche sei, die unter den Sammelbegriff »kulturell« fallen. Was ein Menschenkörper ist, das sei immer schon ein konditionierter, ein zugerichteter, ein beschriebener, besetzter, verbogener oder zurechtgebogener, der Körper der totalen Passion, wobei der Text dieser Passion im Allgemeinen die schlechte Botschaft von der totalen Enteignung enthält. Der größte Teil der intellektuellen Produktion zum Thema ließe sich im Übrigen in die Gattung »Schauertheorie« einreihen, eine Gattung, die durch die Spitzen der erreichten Unwahrscheinlichkeit entzückt.1 Wir reden also über die totale Enteignung, 1
Vgl. z.B. Christina Lammer: Die Puppe. Eine Anatomie des Blicks, Wien
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ohne dazu als solche Enteignete in logischer Hinsicht wirklich autorisiert zu sein, d.h., wir gehen davon aus, dass eine Selbsterkenntnis im Stande des Enteignetseins gerade bei so einem schwierigen Thema wie dem Körper durchaus möglich und ohne paradoxale Verstrickungen erreichbar sein kann. Die Enteigneten affirmieren also auf merkwürdige und einzigartige Weise ihren Defekt und verkünden ihn von der Kanzel, stellen dazu Anzeige gegen Unbekannt, nämlich gegen diejenigen, die die Enteignung betreiben und die nun als reine Implikationen des Diskurses verschwunden sind. Alles das, ohne dass gelegentlich eine der schwierigeren philosophischen Figuren bemüht würden, wie sie etwa für die heraklitsche Thesenbildung über den Fluss eingefordert werden musste. Sokrates würde sich wundern über diese Körper, die mit jedem Satz, der aus ihrem Munde kommt, sich selbst durchzustreichen versuchen. Es quakt also aus einem Naturding seine Negation heraus, was ja eine außerordentlich aufregende Tätigkeit sein könnte, wenn es gelänge, in dieser Aktion unendlich offene Möglichkeiten und das phantastische Labor für diejenigen Operationen, die die Materie des natürlichen Körpers in angemessene Denkfiguren der Künstlichkeit umarbeitet, zu sehen. Dann wäre gegen das lockere Herumschieben der Signifikanten nichts einzuwenden. Der künstliche Körper wäre so die wunderbare Ebene, auf der man zur Ausübung der ingenieurhaften Phantasie eingeladen ist, auf ihr blühten alle Formen des Transfers und der Transformation, die Organe fingen ein neues, emanzipiertes Leben an und die Neuronen knatterten fröhlich ihre Entladungen herun1999, S. 149: »Neu zugeschnitten, impliziert der elektronische Lebensfaden die blicklose Venus, die bildlose Visualisierung sowie fleischlose (körperlose) Puppe. Heute verschwindet der Blick in der digitalen Manipulation, die elektronische Virtualisierung der Püppchen entbindet sie von den Bildern.«
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ter. Der künstliche Körper ergäbe sich als Collage, ein nach einem kulturellen Schnittmuster zusammengesetztes Ding, dessen aus allen Fugen hervorkommende Bedeutung ihn immer wieder neu und aufregend arrangieren lässt. Was aber, wenn solche Operationen vom Ressentiment gegen den natürlichen Körper diktiert sind, wenn die Natur in ihm eben nicht verstanden, sondern aufgehoben werden soll, restlos ersetzt durch einen neuen Holismus der heißt: »absolute Künstlichkeit«? Die »Kultürlichkeit« des Körpers zeigte sich dann als Konsequenz aus jener Definition der Kultur, die die Unmöglichkeit einer Synthese zwischen Natur und Kunst unterstellt. Derartiges finden wir in der Psychologie Freuds formuliert, in der ferner die Entdeckung eines natürlichen Restes in Gestalt der Triebnatur und des Unbewussten zur konstitutiven Beleidigung des inkulturierten Individuums ausgeschlagen hatte. Dieses beleidigte Individuum schlägt nun seinerseits zurück, indem es die Natürlichkeit als unterstellte Natürlichkeit, historisch kontingente Natürlichkeit, also eigentlich wieder als Künstlichkeit demaskiert und damit den Grund für sein Leiden am natürlichen Test zu tilgen versucht. Innerhalb der expandierenden Architektur des künstlichen Körpers gewinnt das so genannte Körperschema an Bedeutung, das die psychische Antwort sowohl auf den Körperbesitz wie auch auf die kulturellen Restriktionen, die sich mit ihm verbinden, zur Darstellung bringt. Es interessiert die plasmatische Verformung dieses Schemas durch den Beschuss von unten – durch die alte Natur – und von oben – durch Kultur und Autorität. Und man sieht, dass dieses Körperschema keine Gelegenheit, sich zu deformieren, auslässt, dass die Beschäftigung mit ihm zu einer ars deformationum2 führen muss, die die Ver-
2 Titel einer eine geometrische Kunst vorstellenden Schrift Giordano Brunos; bei Bruno ist allerdings die Beziehung zwischen Geometrie
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schiebungen der Elemente und topoi in diesem Arrangement vornimmt und erklärt. Ich möchte hier nicht die Thesen, die in diese psychologischen Modelle Eingang gefunden haben, im Einzelnen diskutieren, sondern den ihnen implizierten Körper näher betrachten, wobei mich vor allem das unterstellte glissando unter allen Dingen dieses Körpers beschäftigt. Das heißt genauer: Ich möchte einmal die Allgemeinheit der Verschiebungsoperationen im Körperschema auf ihre Voraussetzung hin befragen und dann, in einem zweiten Schritt, mich trotz denkbar ungünstigster zeitgenössischer Voraussetzungen für ein solches Unternehmen, an den so genannten natürlichen Körper heranwagen, von dem ich im Übrigen behaupte, dass gerade er in seiner Lebendigkeit die Bedingung der Möglichkeit der sich gegen ihn richtenden Toterklärungs- und Abschaffungsversuche abgibt, die aus ihm selbst ihre aggressive und dramatische Gestik speisen. Mir ist natürlich klar, dass eine Parteinahme für den natürlichen Körper wohl überlegt sein will. Mir liegt daran, eine neue Verschränkung zwischen natürlichem und kulturellem oder künstlichem Körper sichtbar zu machen, an der die Schwächen des gegenwärtigen Körperdiskurses offen gelegt werden könnten, nämlich etwa der erwähnte Umstand, dass die These vom rein phantasmatischen Körper nur auf dem Hintergrund eines doppelt affirmierten und dann durchgestrichenen natürlichen Körpers haltbar ist. Die Verschiebungsmodelle, die um einen linguistischen oder grammatischen Kern konstruiert sind, scheinen mir im Übrigen, bei aller Leistungsfähigkeit, nicht für denjenigen Prozess gerüstet zu sein, den wir als Werden oder Wachsen bezeichnen. Denn in der Verschiebung wird eher auf Ersetzung und Übersetzung,
und Physik – als der die Materie in ihren »Informationen« und Bildungen beschreibende Philosophie – gegeben.
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auf Transposition als auf jene Allmählichkeit der Veränderung, die wir im Wachsen vor uns haben, Wert gelegt. Die symbolische Ordnung durchkreuze ja gerade die natürliche, wird man mir entgegenhalten, und trotzdem bin ich der Meinung, dass im Werden und Wachsen des Körpers eine vorgängige Operation des Organismus stattfindet, der in die symbolische oder künstliche Ordnung hineinragt und ganz so, wie Spinoza es meinte, ihren einzigen Gegenstand bildet.
Wachsen und Individuation Man nimmt also an, dass das Körperschema eine labile Anordnung ist, dem der auf die Psyche ausgeübte Druck Form gibt; dieser Druck bringt das System in eine konstitutive Unwucht, die verhindert, dass der natürliche Körper und das Körperschema jemals zur Deckung kommen. Wie sieht es aber nun aus, wenn man annimmt, dass der natürliche Körper seinerseits ebenfalls eine solche labile Anordnung ist, die zu keiner definitiven Form finden kann? Was für ein Körper ist das, der eine große Parabel von der Morula bis zum arboreszierenden Greis beschreibt und in jedem Augenblick ein Beispiel für die Unwahrscheinlichkeit seiner Funktionen zum Besten gibt? Was fangen wir eigentlich damit an, dass das, was wir einmal waren, nur so geringe Ähnlichkeit mit demjenigen hat, was wir sind? Mit welchen Gefühlen blicken wir in jenes photographierte Kindergesicht, von dem man uns versichert, es sei unseres? Wie mutet es uns denn an, wenn wir sehen, zu welch grotesken Verformungen ein alternder, vergreisender Menschenleib fähig ist? Was, wenn der Körper selbst, also das, was man als »natürlichen Körper« zu diffamieren sich erlaubt, sich als dieses gigantische glissando durch die Kombinatorik der Zellen, Elemente und Organe, als ein sich selbst bauendes, wachsendes Konstrukt mit wachsender Komple-
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xität und daher wachsender Anfälligkeit enthüllt? Es bedarf keiner großen Anstrengung zu erkennen, dass das Theater der Verschiebung, das urprünglich für den psychischen Einspruch gegen die Gegebenheit des physischen Körpers reserviert gewesen war, auch im Rahmen der Verkörperung oder Körperbildung gastiert. Das heißt, dass der Verschiebungsvorgang, der die Organe entlang gewisser Nähte ausreifen lässt, sie vergrößert und auffädelt, zunächst nichts anderes ist als eine unbeschreibliche Mutation, eine Transformation, eine Transvestitur, das Werden, das Wachsen, welches in den prominentesten philosophischen Entwürfen erstaunlicherweise zumeist mit der aus seinem Gegenteil geborgten Nomenklatur, nämlich als Verkleinerung oder sogar als Verschwinden gefasst worden ist. Was nämlich verschwindet oder sich verkleinert ist die Ausgangssubstanz, die in die Individuation eingeht. Die Philosophen quälen sich nicht wenig mit der Motivation, die zu einem solchen Prozess führt, da ja gerade die Autonomie und Selbstherrlichkeit der ersten Substanzen um so viel höher einzuschätzen gewesen wären als die zusammengekochten und zusammengebackenen Individuen. Nicht umsonst wird man daher in den meisten Fällen eine ontotheologische Andeutung derart finden, dass ein erster kosmischer Unfall, eine Versuchung oder der Krieg zwischen Gut und Böse die Individuen als Kriegsschauplatz höherer Mächte, die im Widerstreit miteinander liegen, in einer Art energetischen Sinkfluges der Substanz hervorgebracht hat.
Individuation und Evokation Das Wachsen hat die Philosophie als Individuation zu denken versucht, d.h. also buchstäblich als Teilungsprozess, der aus einer umfassenderen Substanz letzte unteilbare Einheiten herstellt. Das Individuum wird nach dieser Vorstellung als das
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Kleinste betrachtet, es entsteht aus dem Kleinmachen selbst, wobei das Kleinmachen so weit zu gehen hat, dass dem schließlich Übrigbleibenden auf keinen Fall noch etwas fortgenommen werden darf, wenn es nicht ganz zerstört werden soll. Interpretiert man jedoch den Teilungsprozess als Zellteilung, hat man den paradoxen Fall eines Anwachsens der Zellen bei fortgesetzter Teilung. Man hat sich vorzustellen, dass dieser Teilung der Substanz bis hin zum Individuum dieses jedenfalls zugleich irgendwie intensiv auswächst, dass es sich anreichert und etwas akkumuliert, bis es genau denjenigen Status erreicht hat, an dem es sich wieder aufzulösen beginnt. Die klassischen Autoren erkannten als Ursache der Individuation die Materie bzw. verschiedene Ursachen, die in einem Seienden materialiter und formaliter, causaliter und finaliter wirksam würden. Die beherrschende Meinung der arabischen Philosophen, insbesondere die des Averroes, die Individuen entstünden durch eine Art Auszählung der Materie, wurde von den christlichen Philosophen in unterschiedlichen Argumentationsstrategien angegriffen, als deren bekanntestes Beispiel vielleicht Francisco Suarez’ »Über die Individualität und das Individuationsprinzip« genannt werden kann.3 Suarez macht schließlich wieder die Form als Prinzip der Individuation gegenüber der Materie stark, was nichts weniger als das alte Laster der abendländischen Philosophie belegt, einen schwachen Begriff der Materie und einen schwachen Begriff der Natur zu bevorzugen, obgleich es an Vorschlägen zu einer intelligenten Naturphilosophie und entsprechenden Materiosophie keinen Mangel gab. Der philosophische Individuationsbegriff setzt in jedem Fall ein ganz Großes voraus, ein unzerstörbares Eines als Ausgangsmaterial des Prozesses, das 3
Fünfte metaphysische Disputation (Text und Übersetzung, lat./dt.), hg., übers. u. m. Erläuterungen versehen v. Rainer Specht, Hamburg 1976, S. 177-189.
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dann von dem sich konkretisierenden Etwas verdichtet wird. Die Frage bleibt offen, wer über das Lebensprinzip oder über das Prinzip der Organisation selbst verfügt, ob es das große Eine ist, das in den Vielen zu erscheinen beliebt – dies die viel strapazierte metaphysische Lieblingsfigur, die besagt, dass das Individuierte aus sich heraus keine Subsistenz hat, sondern eben nur durch die Teilnahme am heilenden Ganzen – oder eben das sich Organisierende selbst, das aus einem eigenen vitalen Anreicherungswillen den Impuls zum Wachsen aus sich heraus setzt. Die Embryologen und Zellwissenschaftler der Mitte des letzten Jahrhunderts, die die Erforschung der Keimzelle entschieden vorangebracht hatten, empfanden zumindest deutlich ein Unbehagen der Vorstellung gegenüber, dass das Ei als solches Epizentrum der allmächtigen kreativen Materie interpretiert werden müsste. Der Augenschein, der eine nach einer klaren Regie ablaufende Choreographie konstatierte, »le prodige«, wie Albert Dalcq ausruft, fordert eine andere Erklärung. Eine Erklärung, die der offensichtlichen Lebendigkeit dieses merkwürdigen Wesens Rechnung trägt und dasjenige, das in ihm am Werke ist, in seiner Ungeheuerlichkeit erfasst. Der einfache conatus, die allmähliche Bewegung des Lebens selbst, der sich durch diese Bewegung zu erhalten versucht, verlangt eine kluge These, nicht nur ein Rufen nach der starken göttlichen Hand. Dalcq schreibt: »Observer, les yeux rivés au binoculaire, le fécondation artificielle d’un œuf de grenouille ou de lamproie, voir le chroion le soulever par l’exsudation du liquide périvitellin, assister à la réaction de l’œuf, à ses premières déformations, au creusements des sillons, c’est déjà un spectacle singulièrement attachant. Mais il donne encore je ne sais quelle impression d’automatisme, de vie végétative.«4 4 Albert Dalcq: L’œuf et son dynamisme intérieur, Paris 1941, Chapitre II, Les mouvements morphogénétiques, S. 39.
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Die klassische Individuationsphilosophie würde etwa beschreiben, dass die Zellen sich durch die Teilungsvorgänge hindurch zunehmend spezialisieren, aus einer Urzelle heraus, die in sich die Potenz, alles werden zu können, enthält, in verschiedene zunächst polypotente Spezifizierungen hinein teilen und dann in sehr spezifischen Funktionen ihre alte Omnipotenz verlieren, das Individuum als eine Art Spezialisierungssackgasse begreifen, das dead end einer ursprünglich unendlich offenen Zellpotenz. Das Individuum dokumentierte sozusagen den Weg der anwachsenden Sehnsucht nach derjenigen vorrangigen Substanz, aus der es sich heraus auskristallisiert hat. Es fällt aus einem Zusammenhang als seine Konkretion heraus, als Aus- oder Unfall, der zugleich mit seinem Eintritt die gesamte Urzellenpotenz verbraucht. Dieses Konzept erscheint deshalb als unbefriedigend, weil es neo-teleologisch die Zellpotenz in der Spezifizierung oder Konkretion sozusagen löscht und vergisst, die gesamte Zellkarriere als informativen Bestand des Organismus anzuerkennen. Individuum sein heißt hier, den ewigen Irrtum wiederholen, nämlich das Allgemeine hinter sich gelassen zu haben. Dalcq schlägt deshalb einen anderen Begriff vor, der eine andere Logik für ein bestimmtes zentrales Ereignis der Morphogenese veranschlagt, nämlich den Begriff der Evokation. Mit Evokation wird auf eine andere Vorstellung angespielt, nämlich nicht an den Trennungs- und Teilungsvorgang, sondern an die Fähigkeit der Keimblätter, etwas aus sich heraus zu setzen. Der Begriff der Individuation, so Dalcq, sei für die Entwicklungsschritte, die Kopf, Rumpf und Schwanz des Embyronen als deutlich unterschiedene Regionen ausdifferenzieren, eingeführt worden. Ihm ist aber in diesem Begriff der hohe Grad an Spontaneität und die Dramatik des Zustandswechsels, etwa in der Erscheinung der Primärachse oder der Gastrulation, zu wenig berücksichtigt. Evokation bedeutet, dass aus einem unwahrscheinlich Undeterminierten etwas, das in ihm so noch nicht eindeutig angelegt ist,
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gebildet, geformt, gewissermaßen deutlich gemacht werden kann, ohne dass dafür die Wirkung einer einfachen Kausalität verantwortlich gemacht werden könnte. Das Problem, dem die Embryologen zu entgegnen haben, besteht nun darin, anzugeben, welcher nun genau der Grund für die evozierte Leistung sei, bzw. wer oder was im Inneren der Gastrula das Kommando oder vielmehr die höfliche Bitte und Evokationsparole ausgibt. Wenn sie nun nicht tun wollen, was den alten und allerältesten Physiologen zu diesem Thema eingefallen ist, nämlich Mandalas zeichnen und sie zu denjenigen Figuren und Bildungen erklären, die am ehesten die Weltwerdung des göttlichen Funkens zu illustrieren vermögen, dann bleibt ihnen nur die Flucht durch die Mitte, also die hartnäckigste Form der Theorie, der Immanentismus. Dieser legt fest, dass alle Stimuli von innen ihren Ausgang zu nehmen haben, unter Umständen noch so etwas wie eine gewisse Umwelt-Sensibilität dabei eine Rolle spielt, aber dass es gewiss keines Kategorienwechsels bedarf, um zu Differenzen zu kommen. Die Stimulierung, die hier vorliegt, ist sozusagen nur die andere Seite der allerextremsten Hochempfindlichkeit und Geladenheit der Keimblätter, was heißt, dass schon beim geringsten Anlass beispielsweise das entsprechend gereifte Mesoderm zur Herstellung eines Organs schreitet. Merkwürdigerweise wird also dieser wirkungsvolle Stimulus nicht einen Befehl zur Bildung beinhalten, sondern eben einen Aufruf, dem dann in aller Freiheit und wahnsinniger Spontaneität bei gleichzeitiger Einhaltung der Spielregeln, die zu einem Organismus führen, gefolgt wird. Hans Spemann schreibt in seinem Buch über die Entwicklung des Embryos und die Induktion: »[…] the stimulus cannot be of a specific nature. However, this result did not find us quite unprepared; for the possibility had already been dis-
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cussed that the mechanical pull exercised by the invaginating optic vesicle might be sufficient to initiate the whole lens-forming process.«5
Er kommt zum Schluss, dass das Keimblatt selbst eine außerordentlich hohe Bereitschaft zur Bildung von Organen besitze: »Hence, lens induction may be interpreted, probably with a high degree of accurancy, in the following way. Potencies which are competent for the characteristic lens formation of the respective species6 and which, latent in the young epidermis, have just reached their highest degree of readiness for reaction, are called forth, by a chemical agent of a very general nature […], which, however, is supplied in a definite spatial order.«7
Es ist also der Entwicklungsgrad bzw. die Architektur dieser Entwicklung selbst als räumlich-sinnige Figur unter Spannung, der die Bildung hervorruft, gewissermaßen der innere Szenenwechsel im Wachstumstheater, das aus sich heraus die Agenten für den nächsten Akt freisetzt. Wie aber nun diese Wundermaterie zu diesem oder jenem Organ mutiert, das bleibt die forscheri5
Hans Spemann: Embryonic Development and Induction, New Haven/ London 1938, S. 91.
6 Siehe Wilhelm Roux: Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 89: »Ingleichen werden unter Zellen, welche Reizen ausgesetzt sind, diejenigen einen wesentlichen Vortheil haben und sich cet.par. mehr vermehren, welche bei der Reizeinwirkung am wenigsten rasch sich verzehren, welche durch den Reiz in ihrer Affinität zur Nahrung und in der Regeneration gestärkt werden; und eventuell werden noch mehr diejenigen Zellen die anderen überholen, welche durch den Reiz bis zur Überkompensation gekräftigt werden.« 7 Vgl. Hans Spemann: Embryonic Development and Introduction, S. 91f.
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sche Obsession noch Antworten schuldig, weshalb sie sich auf Arrangements verlegt, die eben genau nicht monado-physiologisch, sondern dualistisch gedacht und geplant sind, also als Invasion des Anderen in ein Eines, das nicht anders kann, als Eines zu sein. Den aktiven Keimblättern werden Teile anderer Keimmaterie eingesetzt, wobei man beobachtet, wie diese Keimblätter auf von außen Kommendes ebenso reagieren, als wäre es Eigenes, ja sogar höchst Eigenes, wie etwa im Falle der Bildung eines sekundären Embryos durch massive, künstliche Induktion.8 Man sieht die Forscher massenhaft Chimären und Zwitter produzieren, Wesen, die aus, wie man sich ausdrückt, heteroplastischen Materialien zusammengesetzt sind, durch die synthetische Kraft der tätigen Keimblätter und der sich formenden Gastrula zu einem einzigen Ganzen organisiert, und genau an diesen Mischwesen ihre Erkenntnisse erlangen. Die Gegenwart der sich mindestens von zwei Individuen technisch beliefernden Wesen hat also auch in denjenigen Verfahren ihre Vorgeschichte, also eigentlich in der halsstarrigen Konzentration auf die guten alten Verfahren, die sich aus einem primären Dualismus ableiten lassen. Der dualistische Forschungsansatz wird von der unerschöpflichen Kraft, die aus Disparatem immer wieder Eins macht und werden lässt, sekundär unwirksam gemacht, was es geradezu als diabolisches Programm entlarvt, d.h. die berechnende Seduktion durch Heteroplasma, nicht zu dieser Schöpfung gehörig, das dann aber durch die vitale Kraft der Eins mit Sinn innerhalb des Heilsganzen ausgestattet wird. An diesen Beispielen, die allesamt aufs Schönste bebildern, was der Privatdozent an der Universität Breslau Wilhelm Roux in seinem berühmten Buch »Der Kampf der Theile im Organismus« beschreibt9, wird das Ausmaß der zerstörerischen Ungeduld, der 8 Vgl. ebd., S. 141ff. 9 Vgl. Wilhelm Roux: Der Kampf der Theile im Organismus, S. 88f.
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zerstörerischen Unfähigkeit, Leben als Leben wahrzunehmen, deutlich: der Organismus en miniature, diese Zellchen, werden »gereizt«, halbiert, kombiniert, versetzt, gekocht, verätzt, zentrifugiert, gepresst10 und getrocknet, damit sie endlich, wie die Delinquenten beim peinlichen Verhör, ihr Geheimnis preisgeben. Diese Versuche zwingen das »Leben« gewissermaßen in die Rolle eines Zirkushündchens, dem man durch Zwicken mit glühenden Zangen die besten Aufführungen abnötigt. Auf der Stelle, das kann nicht verborgen bleiben, nach der ersten Überwältigung (»le prodige!«) setzt die Unterwerfung ein, eine beispiellose ideologische Polarisierung zwischen dem Forscher und dem Ei. Die Heftigkeit der Forschung, dem sich das Ei da ausgesetzt sieht, lässt den Respekt vermissen, den man einem Gegenstand gegenüber zu hegen hätte, der auf geheimnisvolle Weise dem Betrachter AUCH eine Idee seines eigenen WERDENS vermittelt. Die Exklamation des malgré soi gerührten Laboranten (»le prodige!«) täuschen nicht darüber hinweg, dass die Grundtönung der Verfahren eine ganz andere ist, nämlich die Absicht, die Maschinerie offen zu legen, die den Automatismus und den unbeirrten Konstruktivismus in Leben und Formation des Eies befeuert. Hier wird das Leben nicht beobachtet, sondern belagert und bloßgestellt, bis es, wie das symbolisch einschlägig dafür einstehende Versuchtstier, seiner Bestimmung entprechend ausgenutzt worden ist und weggeworfen werden kann. Während die höhere, überlegene Ironie des absichtsvollen Miss-Verstehens von Leben auf der Seite der Embryologen keine Grenzen kennt, 10 Ein Spezialist der Beschreibung der Primitiventwicklung nach stattgehabter Zentrifugierung respektive Pressung des Eies ist Waldemar Schleip: Die Determination der Primitiventwicklung. Eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse über das Determinationsgeschehen in den ersten Entwicklungsstadien der Tiere, Leipzig 1929.
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kennt auch die Gutmütigkeit des Willens zum Leben auf der Eiseite keine. Im Falle der Erforschung einer jungen Gastrula sind diese Forschungen paradoxerweise imstande, deren unerbittliches Ansteuern des Ganzen aufzuweisen, das sie als »reserve-idioplasm« – in der Formulierung von Roux und Weismann – darstellt.11 Diesem »reserve-idioplasm« werden beispielsweise die Totalität aller Determinanten zugeschrieben, die zu einem Exemplar einer Spezies führen. Die Induktions-Laborateure zeigen sich beeindruckt von derjenigen Eigenschaft, die aus implantiertem Material immer noch Sinnvolles in absolut integrativer Weise herstellt, also immer alles gut versteht, gute Miene macht, alles brauchen kann zu einem guten Zweck, der guten Absicht folgend. Nach einer Formulierung von Driesch ist diese Eigenschaft des Eies eine nicht-räumliche und unabhängig von der Anzahl der schon ausgebildeten Zellen, vergleichbar der »Idee« oder der »Entelechie«, also der aristotelischen UrFigur des Wesens.12 Das Ganze bzw. die Ganzheit des sich formenden Organismus bezeichnet Driesch mit dem Begriff der »intensiven Mannigfaltigkeit« (intensive manifoldness), ein Wort, welches später eine wichtige Rolle in der Philosophie von Gilles Deleuze gespielt hat. Das mit diesem Begriff bezeichnete, integrierende und differenzierende Verhalten des primitiven Organismus bildet jenes Forschungsfeld, auf das sich heute ein ungeahntes Interesse versammelt und das im Begriff ist, die Genomforschung, also die Zellkernforschung, zu überholen. Wenn auch, wie Spemann meinte, sich das Konzept Drieschs vom harmonisch-äquipotenziellen System in der spirituellen Tendenz, in der es abgefasst war, nicht halten ließe, so sind doch die Implikationen, die mit der Urzellenweisheit gegeben sind, 11
Vgl. Hans Spemann: Embryonic Development and Introduction, S. 346ff., hier: S. 347.
12
Bericht zitiert nach ebd.
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von der Art, dass ein Rückgriff auf die metaphysischen oder naturphilosophischen Auseinandersetzungen um den Beginn der Differenzierung angezeigt ist, und zwar durchaus in dem Sinn, in dem ich zu Beginn anlässlich des Umspringens der älteren Monadologie in die Zelltheorie gesprochen habe: Zuerst sieht man die Monadologen an dem ehrgeizigsten Projekt der Philosophiegeschichte festhalten und scheitern, dann die Physiologen in ihre Reagenzgläser starren, dann wiederum die Philosophen – ich meine Deleuze – die Begriffe der Zelltheoretiker und Embryologen abschreiben. Worum geht es?
Giordano Brunos »Minimum« Giordano Bruno hat in seiner so genannten Frankfurter Trilogie, einem großen lateinischen Lehrgedicht, Lukrez’ De rerum natura nacheifernd, die Kräfte der großen Eins, Gottes, und des großen Operators, der Natur, diskutiert. Er versucht, Konzepte für die formenden Energien zu denken und hält sich wohl zunächst an die gute pythagoräische Tradition, indem er es mit den Zahlen versucht. Der Zählvorgang selbst steht für »Differenz und Repetition«, um es einmal so zu sagen, also für das stetige innere »Dabeisein« der Eins im Fortgang der Zählung, die dieser natürlich einmal ihre Erkenntnisträchtigkeit und Logizität und zum zweiten die Möglichkeit, sich vielfach zu komplizieren, sichert. Das Gedicht beginnt mit einem als »De triplici minimo et mensura« betitelten Text, in dem gleich in den ersten Kapiteln eine intensive Auseinandersetzung mit demjenigen Thema stattfindet, das auch uns schon beschäftigt hat, nämlich mit der Individuation. Bruno stellt klar, dass es ebensowenig einen Regress ins unendlich Kleine geben kann wie ins unendlich Große13, und 13
Giordano Bruno: »De triplici minimo et mensura«, in: ders., Opera
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dass »Minimum« und »Maximum« Begriffe seien, die eine andere Form von Reflexion einforderten, nämlich eine, die im qualitativen Sinne mit dem Modus Unendlichkeit operiert. »Perpetuo totum in parteis natura resolvens Non venit ad minimum«14 Derjenige, der immerfort das Ganze in der Natur in Teile auflöst, gelangt nicht zum Minimum.
Und: »At vero molem si quis dipescat, alius Obtrudet generis partes, hoc ordine nempe Quo semper partes ratio de partibus aufert.«15 Wenn der eine die Materie verteilt und der andere die Teile der Gattung an ihren jeweiligen Ort setzt, dann soll das in der Ordnung geschehen, in der immer der Begriff in den Teilen die Teile aufhebt.
Das Minimum selbst also ist keine Größe, die noch aufzulösen wäre, es ist Prinzip der Organisation und deshalb ein multiples Eines, also dreifach. »Minimum ergo ubique est praesens atque semper, maximum vero nusquam atque nunquam. Maximum tamen atque minimum ita in unam possunt coire rationem, ut inde etiam maximum ubique esse cognoscamus, quandoquidem per ea quae dicta sunt maximum in
latine conscripta, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, Erster Band Dritter Teil, S. 153: »Principium et fundamentum errorum omnium, tum in physica tum in mathesi, est resolutio continui in infinitum.« 14 Ebd., S. 150. 15
Ebd., S. 152.
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minimo et minimum in maximo consistere constat, quemadmodum in multitudine monas, in monade multitudo.«16 Das Minimum also ist überall und immer anwesend, das Maximum aber nie und nirgends. Das Maximum und das Minimum können aber dennoch so in eine ratio zusammengehen, dass wir daher auch das Maximum als ein überall Seiendes erkennen, weil durch das, was gesagt worden ist, feststeht, dass das Maximum im Minimum und das Minimum im Maximum besteht, also in der Vielheit die Monas und in der Monas die Vielheit.
Die unendliche Grenze, die das Minimum darstellt – als selbst nicht mehr weiter Auflösbares – erhält ihre Spannung von ihrer funktionalen Beziehung zum Maximum. Als Vielfach-Eines besitzt es dasjenige Potenzial, von dem wir oben gehandelt haben, nämlich in allen Teilen so präsent zu sein, dass sich diese sinnvoll organisieren können. In seiner Kleinstes-Größtes-Spekulation versucht Bruno, das philosophische Ei, die Monas, aus den tautologie- und pantheismus-verdächtigen logischen Ketten herauszuführen, indem er ihr Differenzierungspotenzial durch den Begriff der Grenze sichert. Zugleich wird die Differenzierung selbst als Ereignis in einer doppelten Perspektive sichtbar, als zwischen dem Kleinsten und dem Größten liegend, also noch jenseits der Alternativen von Kausal- und Finalgeschehen. Man sieht hier also schon die berühmte Parole am Horizont heraufziehen, die Spinoza ausgegeben hat: Deus sive Natura. Man kann Gott oder Natur sagen, in jedem Fall handelt es sich um die prominentesten Autoren der Organisation, die im Spiel sind. Die große Intelligenz, mit der Bruno diese Diskussion geführt hat – es handelt sich um seine letzten Schriften, schwer zu sagen, wie Bruno an diesen Fragen weitergearbeitet haben könnte – haben nichts daran geändert, dass die Beschreibung der Differenzierung sowohl aus philosophischer als auch aus physio16 Ebd., S. 153.
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logischer Sicht mehr oder weniger an diesem Punkt der Auseinandersetzung ins Stocken geraten, wieder ein wenig zurückgefallen, dann wieder ein bisschen vorangekommen ist. Die Ähnlichkeit zwischen der Position Brunos und den postmodernen und zeitgenössischen embryologischen Problemhorizonten ist allerdings verblüffend. In beiden Fällen äußert sich ein gewissermaßen »nachmetaphysischer« Reflex, d.h., ein Problem, das von der zweiwertigen Metaphysik und Logik deshalb, weil es sie in die größten Schwierigkeiten gebracht hat, unterdrückt worden war, wird mit neuen Mitteln bearbeitet: Aber während die Monadologie Brunos mit einem souveränen Konzept aufwartet, das die aristotelischen Schnitthandlungen einer rigorosen Metaphysik der universalen Zusammensetzung hinter sich lässt, verfallen die Embryologen des 19. und 20. Jahrhunderts auf die bewährten alteingeführten Schmerzverfahren, die die Lebendigkeit in der Entstellung aufsuchen, in einer Form von Individuation, die zu nahe am Kleinschneiden liegt. Man tut also gut daran, das Problem der Individuation aus der philosophischen Kampflinie zwischen Materie und Form abzuziehen, sie in einen anderen Horizont zu stellen, unter dem der sich formierende Organismus deutlicher seine informativen und auch mnemotechnischen Aspekte zur Geltung bringen könnte. Würde es nämlich gelingen, die Natürlichkeit des Körpers mit den Mitteln einer raffinierten und technischen Natur17 17
»At vero hoc quo, generaliter ad omnes singulares functiones anima fertur, quale sit et quomodo: non satis est apertum, quaeritur.n.quid est quo artem induit animam? qua arte anima artem induit? nunquid non artem convenit appellare quo technica mater natura ex frequentatis actibus, expertem se reddere nititur?« – »Aber das, wodurch im Allgemeinen die Seele zu allen ihren einzelnen Funktionen gebracht wird, wie beschaffen ist dies und auf welche Weise geschieht dies? Das ist noch nicht hinreichend klar. Es wird also gefragt, was dies sei, wodurch die Seele sich in die Kunst
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zu sichern, dann würde sich die alte Opposition mit einem Schlag aufheben lassen. Es würde sich die Möglichkeit einer Verschränkung des psychischen und des physischen Körpers aus dem Thema des Wachsens, der Differenzierung und der Verschiebung, also aus der Passage heraus, ergeben können. Es könnte der natürliche Körper als dasjenige Problem wiedergewonnen werden, an dem sich die epilogische Vernunft entzündet, die gewissermaßen Mühe hat, mit einem verrückten Leibapriori, das die überbegabte Technikerin Natur stets neu entwirft, Schritt zu halten. Die Labilität des psychischen Körperschemas, also derjenigen Vorstellung, die sich den natürlichen Körper anzueignen bemüht, hat zumindest einen ihrer Gründe in der ursprünglichen Fluidität mobiler indeterminierter Zellen, die an die Orte des Körpers ihre Erinnerung an die früheren Stadien ihrer Karriere transportieren. Die monadologische Zählung, von der die Rede war, bleibt in der Vorstellung, es gebe eine Wanderung der Zellen, eine Transformation, eine Einreihung in Zellverbände, die beginnen, bestimmte Funktionen zu performieren, präsent; man ist bereit anzunehmen, dass sich die Aufwerfungen und Faltungen, die Zellgruppen entlang verschiedener Meridiane zustande bringen, dem ursprünglichen Zellpotenzial so einschreiben, dass sich sagen lässt, die gewesenen Urzellen verfügen über eine Information über diejenige Passage, die sie vollzogen haben. Der lebende Organismus ist, ganz im Sinne der Hering’schen Formel vom Gedächtnis als Eigenschaft der lebendigen Materie, selbst das Dokument der Passage, der Verschiebung hüllt? Durch welche Kunst hüllt sich die Seele in die Kunst? Nun, passt es nicht gut, die Kunst als dasjenige zu bezeichnen, wodurch die technische Mutter Natur in vielen wiederholten Akten danach strebt, sich selbst zur Expertin zu machen?« (Ars memoriae, Jordani Bruni Nolani Opera latine conscripta, Vol. II, hg. V. Imbriani u. C.M. Tallargo, Neapoli 1886, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1961, S. 57).
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der Zellvalenz und der Entfaltung der neuen Funktionen aus der allgemeinen Substanz, er ist nichts weniger als ein ungeheures Kapital an zellulärer Information. Eine anspruchsvolle Theorie des Werdens, eben eines richtig bedachten Wachsens, wird dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass die Zellen in jedem Fall über die Information verfügen, dass sie alles hätten werden können, nun aber zu Bestimmtem hingedriftet sind.
Der Schutzengel als Bio-Passagier Raymond Ruyer gibt in seiner Schrift »Néo-Finalisme«18 der Frage Raum, in welcher Weise das Wachsen bzw. die mit ihm zusammenhängende Organisationstätigkeit des Körpers auf spezifische Weise auf das Zusammenspiel von Ur-Zellen oder Zellpotenzen und individuierten Zellen bezogen werden müsse. Das, was wir aus der spinozistischen Philosophie als conatus kennen, als den Selbsterhaltungstrieb, der den Organismus zuallererst bewegt, kehrt bei ihm als das Prinzip einer eigenartigen Selbstbeobachtung wieder, ja einer Selbst-Abtastung, die die Integrität des Organismus überprüft. Diese Selbst-Abtastung, insofern sie eben nicht Reflexion ist bzw. nicht-reflektierend verfährt, führt eine überindividuelle Instanz ein, die gleichwohl zu jedem Individuum gehörig ist und mit ihm selbst entsteht.19 Ruyer ordnet ihr konsequent die Ur-Zellenpotenz zu, das Poten18 Vgl. Raymond Ruyer: Néo-Finalisme, Paris 1952; Ruyer wie auch der oben zitierte Simondon werden übrigens von Gilles Deleuze in Differenz und Wiederholung, dt. von Joseph Vogl, München 1997, zitiert, s. bes. das Kapitel »Asymmetrische Synthese des Sinnlichen« (S. 281-328). 19 »C’est une ›surface absolue‹, qui n’est relative à aucun point de vue extérieur à elle-même, qui se connait elle-même sans s’observer« (ebd., S. 98).
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zial der noch nicht eindeutigen Zelle, die das »Wissen« über das Werden und Wachsen des Individuums enthält und so eine stets präsente Dimension dessen, wie das »Ganze« gemeint sei, beisteuert. Da diese Ebene vor die individuelle gerückt werden muss, obgleich sie diese gewissermaßen schneidet und durchdringt, wird ihre Vorgängigkeit unvollständig erkannt bzw. als Bewusstsein, das eigentlich »höhere Bewusstlosigkeit« ist, erschlossen: Ruyer schlägt vor, jene Merkwürdigkeit als survolPrinzip zu bezeichnen. Damit meint er die Fähigkeit, eine Art »Außenansicht«, ja Draufsicht ohne klare Urheberperspektive von sich selbst herzustellen. Er meint, man sehe sich irgendwie »von außen/oben«, lokalisiere sich stets mit Hilfe eines Radarsystems, das eben nicht die bekannte klassische Perspektive des sehenden, blickenden Subjekts sei.20 Nicht nur, dass diese Funktion wie ein über einem schwebender Stern die Selbstverortung erledigen könne – die ja die Übung und den Zweck des Labyrinths ausgemacht hatte –, sie ist auch zuständig für die Heilung, die dann einsetzt, wenn an dem Individuum eine Beschädigung bzw. Verletzung registriert wird.21 Diese Funktion steht also immer auch für das mögliche Heil, die lebendige Integrität des
20 Vgl. dazu Chapître IX: »Surfaces absolues« et domaines absolus de survol, ebd. 21
»Il y a certainement un rapport entre l’immortalité et l’équipotentialité, puisque l’équipotentialité permet la régulation des lésions, et que Lashley n’aurait pu faire, sur le cœur du rat, les interventions qu’il a faites sur son cortex, et puisque les embryologistes peuvent couper en deux un œuf ou une jeune gastrula de Triton sans la tuer, alors qu’une coupe d’un Triton adulte, qu’elle soit sagittale ou non, le tuerait infailliblement. L’immortalité virtuelle, comme l’équipotentialité, est l’indice de présence d’un domaine absolu, dont la surveillance primaire garde indéfiniment la forme« (ebd., S. 109).
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individuellen Organismus, die sich, sofern er über Psyche verfügt, deren bewusster, reflektierender Fähigkeit entzieht. Was Ruyer in seinem Buch allerdings der Urzellenweisheit zuschreibt, der in die Individuation eingegangenen, mit ihr aber nicht gelöschten Potenz, könnte man allerdings auch auf den bekannten Himmel der Schutzgottheiten und -engel zurückführen und sagen, dass in Gestalt dieser aus den Wolken agierenden oder geflügelten Wesen eine survol-Funktion bebildert worden ist, die gewissermaßen jeder lebendige Organismus aus sich selbst heraussetzt, d.h., es ginge jetzt darum, mit den angemessenen Buchstaben eines Alphabets der Vitalität am Beginn des biotechnischen Zeitalters jene Erzählungen neu zu schreiben, die uns sonst gewöhnlich die Katecheten und frommen Großmütter nahe brachten. Es würde sich erklären lassen, warum grundsätzlich die Welt des Heils auf zwei Ebenen angelegt worden ist, ganz so, wie es auf den Votivtafeln vorgeführt wird, deren eine der Beobachtung des unterhalb »in der Welt« agierenden Subjekts dient. Der aufgeklärte Verdacht, dass diese »höhere« Ebene eine von dem Individuum selbst ausgehende Projektion ist, ließe sich nunmehr weder erhärten noch widerlegen, nur noch dahingehend mildern, dass dieses Individuum sich ja durch eine ihm unerklärliche, es selbst überschreitende Tätigkeit in ihm selbst aufgefordert sieht, eine solche »Projektion« vorzunehmen. Wenn das Individuum gerade durch seine Individuation, durch sein Wachsen, dazu gezwungen wird, eine Außenund eine Innenperspektive in sich zu vereinigen, dann ist paradoxerweise an diesem Punkt die Religion in symbolischer Hinsicht nicht zu umgehen. »Paradoxerweise« sage ich deshalb, weil die Religion mit ihrer höheren bzw. vielleicht auch tieferen, jedenfalls aber anderen Ebene, strukturelle Kongruenzen mit der Biophilosophie etwa Ruyers aufweist, d.h. auch aus einem elementaren vitalen Kern heraus begriffen werden kann, nämlich aus der zellulären oder biologischen Allheit, wodurch sie aber
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eben genau nicht erledigt, sondern als symbolische Instanz gestärkt wird. Anstatt zwischen den Alternativen, die Eier zu zentrifugieren oder sie als Trägerinnen höchster Entelechien zu verehren, hinund herzuschwanken, könnte eine zeitgemäße sinnige, d.h. der Wunderdimension des Eies theoretisch gerecht werdende These es angehen, die Synchronizität des Innen-Außen, wie sie etwa von Ruyer skizziert und von »Beobachter«-Theorien – von Varela, Maturana und anderen – vorgeschlagen worden ist, durchzudeklinieren. Zumindest würde eine solche, sich ein wenig von wissenschaftlichen Selbstunterbietungsversuchen befreiende Episteme die Zumutungen an das Ei, sich von einem ausgereiften Exemplar derart auf das Folterbett spannen zu lassen, von vornherein diskreditieren, und zwar nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern ausdrücklich in systematischer. Hier wäre übrigens einzufordern, dass sich endlich die Frauen als starke Behüterinnen ihrer Eier in politische Form bringen, was bedeuten müsste, dass eine andere und neue Stimme das philosophische Rezitativ über das Leben anstimmt. Diese vitale Kantate wird sicher einen anderen Klang haben als die rocky horror show der Keimplasma-Trakteure.
Wachsende Natürlichkeit und Epilogik Allein schon durch das Zugeständnis, dass Körper wachsen, gerät man in den Sog von Postulaten, die die Behauptung, Körper seien immer schon nichts als künstliche oder kulturelle, abenteuerlich und unannehmbar erscheinen lassen. Man hegt mit gutem Grund den Verdacht, dass diese Behauptung immer noch auf einem atavistischen metaphysischen Reflex beruht, der Seele und Geist als gestiftete Urphänomene gegen ihr Objekt, den passiven tierischen Körper, oder hier gegen das automati-
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sierte Ei, setzt. Man sieht also selbst in jüngeren Dekonstruktionsversuchen des kulturellen Körpers primitive Konzepte der Materie und das sakrosankte Konzept der Seele der alten Metaphysik wie alte Veteranen zäh an ihrer Geltung festhalten. Die Körpertheorie ist da nicht ganz auf der Höhe und gibt, freiwillig oder unfreiwillig, Prinzipien Kredit, die man, bei Tage besehen, eigentlich nicht gerne bei sich zu Hause hat. Zumindest erhellt sich auf dem Hintergrund der Geschichte einer anspruchsvollen Naturphilosophie bzw. einer Philosophie der Emergenz, dass sich mit einem nur einigermaßen reflektierten Begriff der Natur die Dualität von Natur und Kunst und von Natur und Kultur aufheben und an die Stelle der Ur-Oppositionen generische Sequenzen gesetzt werden müssen, die mit der wachsenden Unwahrscheinlichkeit auf wunderbare Weise Schritt halten können. Sobald man solche generische Sequenzen anerkennt, also sich aus dem Wachsen und dem Werden herleitende Organisationsformen, ist die Natur als Mutter wieder – wie Haeckel, Driesch, Roux und Spemann dies förderten – in ihre vollen Rechte eingesetzt, die alte Ober- und Übertechnikerin, die als Entlastungsgerinne nutzt, was immer dazu angetan sein kann, um ihre Ballungstätigkeit in den Individuen als Ausfällung des Superreichtums nicht zu gefährden. Statt, wie Lacan es tat, vom Drängen der Buchstaben im Unterbewussten, müsste man vom Drängen der Organe im Leibe reden, die, in ihrer eigenen überdeterminierten Verdichtetheit gesetzt, energetische Horizonte einführen und die epilogische Vernunft vor schwierige Aufgaben stellen.
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Intensität. Simone Weils revolutionäre Konzentration Stefanie Wenner
Konzentration In der Physik ist Konzentration die Mengenangabe eines gelösten Stoffes pro Volumen (oder Masse) des Lösungsmittels. In der Nephrologie die Steigerung des Gehaltes des Harns an gelösten Stoffen. Für den hier interessierenden Kontext ist das Fach Psychologie zuständig: Konzentration ist hier die Aufmerksamkeitsbindung an ein vorgegebenes Ziel. Mangelzustände (Konzentrationsschwäche) treten z.B. bei Ermüdung, nach aufwühlenden seelischen Erlebnissen, bei Vergiftungen und Ähnlichem auf. Am meisten gefunden habe ich neben umfangreicher Beratungsliteratur für Kinder und Erwachsene bei den Sportpsychologen. Dort heißt es beispielsweise, Konzentration bedeute nichts anderes, als die Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu bündeln. Damit fokussierten wir auch unsere Kraft. So könnten wir effektiver und ohne Energieverluste arbeiten und bessere Ergebnisse erzie-
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len. Das Konzept thermodynamischer Kraftwechselkonzepte findet hier seine Anwendung. Psychologie und Physik gehen im Dienste der Effektivitätssteigerung menschlicher Körperleistung eine effektive Verbindung ein.1
Im Folgenden werde ich Simone Weils Konzept der Aufmerksamkeit als Konzentration vorstellen. Ich beginne mit einer kurzen Einführung in Leben und Werk Simone Weils, gehe dann über zu ihrer »Pädagogik der Aufmerksamkeit«, um diese entlang einiger Grundbegriffe ihrer Philosophie, wie Energie, force – als Macht und als Kraft – und désir – im Sinne von Begehren und Begierde – zu erläutern. Anschließend stelle ich Ihnen Weils Kritik zeitgenössischer Revolutionstheorien im Kontext ihrer Aufmerksamkeitskonzeption
1
Die in diesem Beitrag nun folgenden Abbildungen wurde von Simone Weil in ihren Cahiers gesammelt. Sie sind entnommen aus ihren Œuvres complètes, Paris 1988f.
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vor und ende mit einer Explikation ihres Konzeptes der »Attente« und einer »Révolution immobile«.
Simone Weil Simone Weil wurde 1909 als Tochter assimilierter Juden in Paris geboren und starb 1943 in London. Als jüngere Schwester des genialen Mathematikers André Weil entschied sie sich für ein Studium der Philosophie, blieb aber zeitlebens der Mathematik verbunden, die sie für eine natürliche Fähigkeit hielt. Nach Abschluss ihres Studiums wurde sie Philosophielehrerin in der Provinz, was sie mit einem intensiven politischen Engagement, insbesondere als Syndikalistin, verband. 1932 verbrachte sie den Sommer in Deutschland, von wo aus sie begann, eine Kritik von Revolutionstheorien zu schreiben. 1934/35 ließ sie sich ein Jahr lang von ihrer Lehrerinnentätigkeit beurlauben, um in Fabriken zu arbeiten. Nach kurzer Rückkehr in den Schuldienst meldete sie sich als Freiwillige an die Front des Spanischen Bürgerkriegs. Von dort kehrte sie nach kurzer Zeit wieder zurück nach Frankreich, allerdings nicht in den Schuldienst. Sie wurde aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt. Nach Arbeitseinsätzen in Südfrankreich und einem einjährigen, durch die deutsche Eroberung von Paris erzwungenen Aufenthalt in Marseille wanderte sie gemeinsam mit ihren Eltern nach New York aus. Nur um von dort aus zu versuchen, nach London zu gelangen, wo die französische Exilregierung sich formierte. In London angekommen, versuchte sie an die Front in Frankreich zu kommen, was ihr aber nicht mehr gelang. Sie erlag einer Lungenerkrankung in Verbindung mit Unterernährung im August 1943. Zu Lebzeiten veröffentlichte Weil nur wenig: zunächst philosophische Essays in der Zeitschrift »Propos« ihres Lehrers Alain, später dann gesellschaftstheoretische und -kritische Analysen in
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Zeitschriften der äußersten Linken. Durch ihre seit 1937/38 erfolgte Hinwendung zum katholischen Christentum und zur Mystik lernte sie zwei Geistliche (namentlich die Patres Perrin und Thibon) kennen und überließ ihnen den größeren Anteil ihrer inzwischen nahezu vollständig ins Deutsche übersetzten Cahiers. Hieraus entstand eine Editionslage, die die Rezeption Simone Weils nicht nur in Frankreich, sondern bis heute auch in Deutschland maßgeblich beeinflusste. In ihrer Betonung der gläubigen Asketin Weil vernachlässigten die beiden Herausgeber die Relevanz der politischen Autorin. Später wurde diese Lücke unter anderem durch das Engagement von Albert Camus, der Simone Weil überaus schätzte, gefüllt. Es hat sich aber in der Folge eine Rezeption etabliert, die streng zwischen den frühen politischen und den späten mystischen Schriften unterscheidet. Ich schließe mich mit meiner Lektüre des Weil’schen Konzeptes der Attention an einen kleineren Kreis von AutorInnen an, der wohl Brüche im Werk der Philosophin für festlegbar hält, nicht aber eine grundlegende Zäsur in der Zeit nach 1938. Insbesondere die Aufmerksamkeit lässt sich von den Anfängen ihres Philosophierens bis zu den letzten Aufzeichnungen als kohärentes Konzept verfolgen.
Aufmerksamkeit In Notizbüchern um 1935, vor der in den Cahiers veröffentlichten Sammlung, die erst 1938 beginnt, heißt es: »La génie, c’est l’attention«, oder: »La volonté elle-même dépend de l’attention«, und weiter: »Au centre de l’acte volontaire: l’attention. Seule l’attention est libre.«2 Nur die Aufmerksamkeit ist frei,
2 »Das Genie ist die Aufmerksamkeit.« – »Der Wille selbst ist abhängig
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sie ist das Zentrum des freien Aktes, der freien Handlung. Die Freiheit selbst ist abhängig von Aufmerksamkeit und sogar: Das Genie ist Aufmerksamkeit. In diesen versprengten Sätzen scheint die Summe aus drei Jahren, die Simone Weil als Philosophielehrerin unterrichtete, zu liegen. Die Wurzel des französi-
von Aufmerksamkeit.« – »Im Zentrum des freien Aktes: die Aufmerksamkeit. Nur die Aufmerksamkeit ist frei.«
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schen attention ist das lateinische ad tendere, was wörtlich »nach vorne ziehen« heißt, oder weniger wörtlich »Gewicht geben oder erwägen«, wie wenn wir einer Person, einem Ereignis oder einer Sache Aufmerksamkeit schenken. Es beinhaltet gleichzeitig eine Achtsamkeit für jemanden und die Achtung, im Sinne des Respekts und Aufpassens. Im Kontext des Denkens Simone Weils ist das nahe liegende attendre von besonderer Bedeutung, das wörtlich »warten« heißt, aber auch »erwarten« und leidenschaftliches »Sehnen« bedeuten kann. Aristoteles beschreibt mit Aufmerksamkeit das Phänomen, dass ein Sinneseindruck unbemerkt bleiben kann, wenn die Seele zugleich intensiv mit einer anderen Tätigkeit beschäftigt ist. Damit setzt die phänomenologisch-deskriptive Verwendung des Begriffes ein. In theoretischer Hinsicht hat Augustinus begonnen, Aufmerksamkeit zu denken. Aufmerksamkeit gilt ihm als grundlegender Willensakt. Malebranche (1638-1715), den Simone Weil rezipiert hat, gibt eine differenzierte phänomenologische Schilderung des Aufmerksamkeitsvorganges: Der Wunsch, einen Inhalt klar festzuhalten, führt zu einer Anstrengung, die eine Erhellung des Geistes zur Folge hat. Bei Malebranche hat Aufmerksamkeit, wie auch später bei Weil, eine besondere Bedeutung für das Gebet. Seit Descartes Aufspaltung der Aufmerksamkeit in unwillkürliche und willkürliche Aufmerksamkeit und der Bedeutung der Zirbeldrüse für willentliche Aufmerksamkeit hat eine Entwicklung begonnen, die über die Untersuchungen des russischen Physiologen Pawlow bis hin zu heutiger Hirnforschung reicht. Neueste Erkenntnisse zeigen einen Zusammenhang von Meditation, die auch als eine Form von Aufmerksamkeit aufgefasst werden kann, und Glauben. Simone Weil hat zwar als christliche Mystikerin einige Berühmtheit erlangt, sie hat sich aber besonders in den letzten Jahren ihres Lebens mit allen großen Religionen sowie mit heidnischen Riten beschäftigt. Sie beherrschte Sanskrit und übersetz-
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te Teile aus den Upanishaden und der Bhagavadgita, zentralen Texten des Hinduismus. Insbesondere dort aufgeführte Techniken der Aufmerksamkeitssteigerung hat sie in ihre Überlegungen aufgenommen. Wie aus dem folgenden Zitat deutlich wird, besteht demnach eine Verbindung zwischen Aufmerksamkeitssteigerung und Wirklichkeitssinn: »Experimente über den Wirklichkeitssinn. – Eine brennende Lampe, die man jemandem als Prüfung auf den Kopf stellt – die Unbeweglichkeit als Zeichen für die vollkommene Konzentration. – Eine bis an den Rand mit Wasser gefüllte Schale, die man entweder vor oder nach der Konzentrationsübung von einem Ort zum andern trägt. – Tibetanische Übung: durch jahrelanges Meditieren so weit kommen, daß eine Gottheit körperlich in Erscheinung tritt […].«3
Insbesondere die letztgenannte Übung lässt sich heute aus dem Kontext der Hirnforschung heraus in neuem Licht betrachten. Die nämlich hat herausgefunden, dass eine bestimmte Region im Gehirn, der Hippokampus, eine Filterfunktion ausführt, die Wahrgenommenes interpretiert und die wahrscheinlichste Version auswählt. Durch Schlafentzug, Drogen oder Meditation wird diese Filterfunktion geschwächt und auch weniger wahrscheinliche Versionen können ins Bewusstsein gelangen. Auch Simone Weil hat durch Schlafentzug und nicht zuletzt durch Nahrungsverweigerung sich selbst in einen solchen Zustand versetzt und dadurch möglicherweise ihre mystischen Erscheinungen bewirkt. Aufmerksamkeit wird mit einer Suspendierung des Bewusstseins und des Willens verbunden. Es werden zwei Arten von Aufmerksamkeit, aktive und passive Aufmerksamkeit, unterschieden, die sich je ineinander überführen lassen. Aktive 3
Simone Weil: Cahiers 2, München 1993, S. 259.
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Aufmerksamkeit wird in der Pädagogik der Attention expliziert. Die passive Attente bezeichnet das Warten in der Leere. Passivität und Leere stehen im Zentrum der Attente, der auf Gott gerichteten, wartenden Aufmerksamkeit. Beide Konzepte sind miteinander verbunden: »Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kentnisse, die man zu benutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne daß sie ihn berührten. Der Geist soll hinsichtlich aller besonderen und schon ausgeformten Gedanken einem Menschen auf einem Berge gleichen, der vor sich hinblickt und gleichzeitig unter sich, doch ohne hinzublicken, viele Wälder und Ebenen bemerkt. Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.«4
Dieses Zitat stammt aus dem 1942 in Marseille verfassten Essay »Betrachtungen zum richtigen Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums im Hinblick auf die Gottesliebe«. Schon der Titel macht die Verbindung von aktiver und passiver Aufmerksamkeit als zwei Stadien desselben Vermögens deutlich. Indem sie Verbindungslinien zwischen Aufmerksamkeit und Unterricht aufzeigt, wird deutlich, dass die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und Konzentration das Wichtigste ist, was erlernt werden muss. Es kommt weniger darauf an, einzelne Wissensbereiche abzudecken. Vielmehr soll die Fähigkeit der Wahrnehmung, die durch 4 Simone Weil: »Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums im Hinblick auf die Gottesliebe«, in: Zeugnis für das Gute. Traktate – Briefe – Aufzeichnungen, Olten und Freiburg 1976, S. 56.
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Aufmerksamkeit und Konzentration geschärft wird, eingeübt werden.
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»Man soll also lernen und studieren ohne irgendein Verlangen nach guten Noten, nach Examenserfolgen, nach irgendwelchen Schulergebnissen, ohne die geringste Rücksicht auf seine natürlichen Neigungen und Fähigkeiten, mit dem gleichen Eifer zu allen Übungen und in dem Gedanken, daß sie alle der Ausbildung der Aufmerksamkeit dienen.«5
Die mit dem Terminus der Leere adressierte Suspendierung des Wissens dient der Öffnung auf Unerwartetes und der Unterbrechung der Anhäufung von Wissen. Diese Überlegungen Simone Weils haben erkenntnistheoretische Bedeutung und verhalten sich parallel zu der phänomenologischen Reduktion, die Edmund Husserl in der »epoché« gedacht hat. In der phänomenologischen Methode ist Epoché das Auf-sich-beruhen-Lassen aller im Laufe der Geschichte des Denkens an einen Gegenstand herangetragenen Meinungen, um das Wesen dieses Gegenstandes zugänglich zu machen. Auf die historische Epoché folgt die eidetische Reduktion des Gegenstandes. Durch die eidetische Reduktion werden alle am Gegenstand haftenden, wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Erfahrungen, Urteile, Setzungen und Wertungen zurückgestellt, so dass der Gegenstand idealiter frei erfassbar wird. Diese methodische Reduktion korrespondiert mit der Entleerung, die Simone Weil als Anspruch an Attention herantrug und in ihrem Konzept der décreation, der Entschöpfung formulierte. Dieses Konzept basiert auf der mit der jüdischen Kabbala verwandten Annahme, Gott habe sich um der Schöpfung willen zurücknehmen müssen. Dieses Zurücknehmen im Dienste der création der Welt können Menschen nur durch das eigene Zurücknehmen beantworten, in der décreation. Mir kommt es hier darauf an, die Verwandtschaft, aber auch die Unterschiede zu Husserls Ansatz zu verdeutlichen. Weil vollzieht zwar in der Aufmerksamkeitsbestimmung als Lektüre oder 5
Ebd., S. 53.
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Deutunsgvorgang die grundlegend moderne phänomenologische Wende mit, indem auch in ihrem Denken die Offenheit gegenüber der Welt die Objekte mit »erschafft«, aber zugleich zeugt die aufmerkende Disponibilitätsstruktur als ein vorbehaltloses Sich-zur-Verfügung-Stellen von einer notwendigen Korrektur des Subjektprimats in der Moderne. Das Einbringen des Subjekts in die Objektkonstitution als ein »Sich-Enthalten« oder »se retenir« wird zur Kritik am Subjekt selbst mit der Frage nach der Rechtfertigung seines Erkenntnis- und Handlungsanspruches als einer wahren »création«. Damit kommt die ethische Dimension von Attention, décreation und Attente in den Blick. Weils an die Jugend adressierter Text bezeugt die Wichtigkeit, die sie dem frühen Erlernen einer aufmerksamen Wahrnehmung beimaß. Sie schreibt, dass man vielleicht mehr lernen wolle, als die Augenbrauen hochzuziehen und die Luft anzuhalten und zu denken, dies bedeute Konzentration. Vor offensichtlicher Muskelanstrengung und der damit verbundenen willentlichen, aber ineffektiven Aufmerksamkeit warnt Weil auch in ihren Cahiers. Es heißt dort beispielsweise: »Schlechte Art, nach etwas zu suchen. An ein Problem gebundene Aufmerksamkeit. Eine weitere Erscheinungsform des Grauens vor der Leere, man will seine Aufmerksamkeit nicht vergeudet haben.«6
Genau diese Leere aber gilt es anzunehmen, in Erwartung einer wirklich neuen Erkenntnis, die mit dem Strom der Alltagseindrücke auf andere Weise umgeht. Bis zu den allerletzten Aufzeichnungen reicht ihr Interesse an Aufmerksamkeit: »Le premier devoir de l’école est de développer chez les enfants la faculté d’attention, par les exercises scolaires, bien sûr, mais en leur rappelant 6 Simone Weil: Cahiers 2, S. 43.
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sans cesse qu’il leur faut savoir etre attentifs pour pouvoir, plus tard, être justes.«7
Gerecht und wahrhaftig kann demnach nur werden, wer im Akt der Aufmerksamkeit Konzentration im Sinne von Purifikation geleistet hat. Die Schulung der Attention dient nicht nur der individuellen Erkenntnis. Weil entwickelt vielmehr entlang der »Aufmerksamkeit« eine Ethik. Diese beginnt mit der Ausbildung des Wahrnehmungsvermögens, das nicht nur auf harte Erkenntnisse gerichtet ist, sondern auch den zwischenmenschlichen und den gesellschaftlichen Bereich betrifft. Aufmerksamkeit dient der Erkenntnis des Guten nicht nur in religiösem Sinne. Da sie das Zentrum der freien Entscheidung und somit der Kern von Handlungsfähigkeit ist, ist Aufmerksamkeit ein eminent politisches Vermögen. Simone Weil hat sich keiner politischen Partei angeschlossen, sondern der revolutionären Gewerkschaftsbewegung. Sie war insbesondere in den Jahren 1931 und 32 aktiv, das fällt mit ihrer ersten Zeit als Lehrerin in Le Puy zusammen. In dieser Zeit schrieb sie für die Zeitschrift »La révolution prolétarienne« und unterrichtete bei der Bourse du Travail in Sainte-Etienne. Gleichzeitig setzte sie sich dafür ein, Volksuniversitäten einzurichten, um den Arbeitern auch intellektuelles Gewicht zu verleihen, indem ihre Aufmerksamkeit geschult werden sollte. Konzentration bzw. Aufmerksamkeit erscheint Simone Weil als einzig mögliche Freiheit – im Zentrum der freien Willensentscheidung oder Handlung steht die Aufmerksamkeit. Aufmerk7 Simone Weil: Ecrits de Londres et dernières Lettres, Paris 1957, S. 177: »Die erste Aufgabe der Schule ist es, bei den Kindern das Vermögen der Aufmerksamkeit auszubilden, selbstverständlich durch schulische Übungen, aber indem man sie unentwegt daran erinnert, dass sie die Aufmerksamkeit kennen müssen, um später gerecht sein zu können.«
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samkeit geht der bewussten und freien Handlung voraus. Hier beginnt das Interesse Weils an konzentrierter Aufmerksamkeit für einen revolutionären Prozess. Die Frage stellt sich schon im Verhältnis von Körper und dessen Gewöhnung an bestimmte Prozesse des Denkens. Sie schreibt:
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»Das Verhältnis zwischen Körper und Werkzeug verändert sich im Lernprozeß. Man muß das Verhältnis zwischen Körper und Welt verändern.«
Das Verhältnis von Körper und Welt zu ändern ist ein politischer Anspruch. Der Körper und mit ihm das Denken werden durch Gewöhnung bestimmt. Durch décreation und attention können die gesellschaftlichen Gewöhnungsprozesse unterbrochen werden. So kann der Körper zum Hebel werden. »Der Körper ist ein Hebel für das Heil. Aber wie? Wie gebraucht man ihn richtig?«8, fragt sich Weil. Das Potenzial des menschlichen Körpers als Reservoir verschiedener Erfahrungsräume, die auf die Psyche und damit auf Handlungsweisen Einfluss haben können, sollten fruchtbar gemacht werden. »Der Körper ist das unentbehrliche Zwischenglied, durch das hindurch die Seele eine wirkliche Wirkung auf die Seele ausübt«9, heißt es. Nur abstraktes Wissen, ohne körperliche Intensität, hat keine Realisationsmöglichkeit. Und um die geht es Simone Weil. »Wie lernt man es, Verpflichtungen zu lesen? So wie man lesen lernt, hauptsächlich durch die Aufmerksamkeit, aber mit Hilfe von Übungen, an denen der Körper Anteil hat.«10 Das Ziel der Attention ist zunächst Erkenntnis, aber Attention ist das Zentrum der freien Willensentscheidung und der Handlungsfähigkeit. Diese hat Weil im Blick, wenn sie versucht, das Proletariat und dessen revolutionäres Potenzial zu untersuchen. Denn tätig werden können wir als Menschen nur körperlich. Und vermittels von Körpertechniken kann die Aufmerksamkeit erlernt und überprüft werden. So wird der Körper als handelnder Körper, der Ursache und Wirkung verbindet, zum Zentrum von décreation und Aufmerksamkeit. 8 Simone Weil: Cahiers 4, München 1998, S. 186. 9 Ebd., S. 292. 10 Ebd., S. 169.
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»Die ›Vermengung von Endlichem und Unendlichem‹ hat nur Sinn in bezug auf die Dimensionen des menschlichen Körpers. In dieser Hinsicht ist es wahr, daß der Mensch der Maßstab aller Dinge ist [Protagoras]. Aber des handelnden Körpers, der Ursache und Wirkung verbindet.« In der Auseinandersetzung mit der Schwerkraft kann aus einem Gleichgewicht von Körper und Seele heraus gehandelt werden. Die Analyse der zeitgenössischen Gesellschaften führt Weil zu einer grundlegenden Kritik an der aktuellen Relation zwischen Körper und Geist: »Die Bedingungen des modernen Lebens stören überall das Gleichgewicht von Geist und Körper im Handeln – in allem Handeln: die Arbeit, der Kampf […] und die Liebe, die eine Wollust ist und außerdem ein Spiel […]. Wie man sie auch betrachtet, erdrückt die Zivilisation, in der wir leben, den menschlichen Körper. Der Geist und der Körper sind einander fremd geworden.«11
Hier galt es anzusetzen und in einer Anstrengung die Wahrnehmungsgewohnheiten zu suspendieren, um zu wahrer Erkenntnis aus Erfahrung zu gelangen. Diese Kraft sollte zur Wirkung kommen. Simone Weil sah die Grenzen philosophischer Reflexion angesichts des revolutionären Potenzials der Arbeiter. Aus diesem Grund hat sie die Entscheidung getroffen, ihr politisches Engagement aufzugeben und einen Selbstversuch zu unternehmen. »Etant donné la situation, je suis bien décidée à ne plus prendre part à rien dans le domaine politique et social […]«12, schrieb sie an eine ehemalige Schülerin und arbeitete fortan für mehrere Monate in Fabriken. Sie führte darüber ein Tagebuch, in dem sie der Reflexion von »attention« viel Raum gab, denn sie 11
Simone Weil: Cahiers 1, München 1991, S. 99.
12
Ebd., S. 438.
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suchte nach den Bedingungen von politischen Bewegungen. Diese vermutete sie in der Aufmerksamkeit. Die Frage, die sie sich vorher stellte, schloss an die philosophisch-psychologischen Überlegungen Maine de Birans zum Einfluss der Gewöhnung auf das Denken an. Sie wollte herausfinden, ob durch die Arbeitssituation in der Fabrik das revolutionäre Potenzial der Arbeiter unterstützt oder im Gegenteil unterdrückt werde. Und kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Belastungen der monotonen Arbeiten an der Maschine zu einer Entleerung des Geistes führten, die allerdings im diametralen Gegensatz zu der von ihr angestrebten »attention à vide« lag. Im Vorfeld hatte Weil noch idealisierend über die Befreiung des Geistes durch die monotone Rhythmik der Maschine geschrieben: »Disziplin der Aufmerksamkeit für die manuelle Arbeit – keine Zerstreuungen, keine Träumereien. Auch kein Schwindligwerden. Ständig das, was man tut, überwachen, ohne darin aufzugehen. Eine andere Disziplin für die Schulung des von der Einbildungskraft gestützten Begriffsvermögens.«13
13
Ebd., S. 166.
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Nun kommt sie zu der Erkenntnis der entwürdigenden Unterordnung des Menschen unter die Maschine. »Stückarbeit im Akkord: die Aufmerksamkeit zwingen, sich ständig auf eine mechanische Bewegung zu richten. – Grauenvoll. Für eine völlig unqualifizierte Arbeit kann das aber nicht anders sein. Ohne diesen Zwang würde die Aufmerksamkeit ganz und gar schwinden. Daraus ergäbe sich ein beträchtlicher Verlust nicht nur an Zeit, sondern sogar an Qualität. Selbst die Maschinen würden durch diese Unaufmerksamkeit gefährdet.«14
Das Verhältnis von Körper und Welt wird durch die Arbeit an den Maschinen und die dafür erforderliche Aufmerksamkeit verändert, aber nicht im Sinne einer Revolution zum Besseren. Bestärkt durch die Erfahrung, die sie an der Front des Spanischen Bürgerkrieges machte, intensivierte Weil nach 1936 ihr pazifistisches Engagement, dass sich gegen jeden Krieg, auch den revolutionären Bürgerkrieg wandte. In einem an eine eigene Übersetzung anschließenden Aufsatz zur »Ilias« mit dem Titel »L’Iliade come poème de force« schreibt Weil über die Macht/ Kraft, die aus dem Menschen ein Ding mache: eine Leiche. Der Krieg forciert so gesehen die allgemeine Tendenz des Machtmissbrauchs, die Weil zugunsten einer Politik der Liebe aussetzen wollte. »Liebe den Körper des anderen wie deinen eigenen«, lautet demgemäß ihre Umformulierung des Gebots christlicher Nächstenliebe. Die Kraft der Wahrnehmung des eigenen Körpers wird so mit der des Körpers des anderen verbunden, um Machtmissbrauch zu vermeiden. An zahlreichen Stellen findet sich beißende Kritik der russischen Revolution, jegliche Idealisierung ist ihr suspekt und sie legt sich in einer persönlichen Begegnung auch mit Trotzki an. 14 Ebd., S. 67.
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In »Perspektiven. Gehen wir einer proletarischen Revolution entgegen?«, schreibt sie bereits 1933: »Fünfzehn Jahre sind verstrichen. Die russische Revolution ist nicht zerschlagen worden. Ihre äußeren und inneren Feinde wurden besiegt. Nirgends auf der Erdoberfläche, einschließlich des russischen Territoriums, gibt es Arbeiterräte. Nirgends auf der Erdoberfläche, einschließlich des russischen Territoriums, gibt es eine echte kommunistische Partei.«
Und weiter unten: »Trotzki fährt fort zu behaupten, es handele sich um eine ›Diktatur des Proletariats‹, einen ›Arbeiterstaat‹, ungeachtet ›bürokratischer Entartungen‹.«15 Demgegenüber bezieht Weil sich auf Descartes, der gesagt hat, eine schadhafte Uhr sei keine Ausnahme von den Uhrengesetzen, sondern ein andersgearteter, eigenen Gesetzen folgender Mechanismus. Ebenso sei das stalinistische System zu bewerten. Darüber hinaus bezweifelt Weil das »revolutionäre Potenzial« der Revolution selbst. Sie hält demgegenüber gesellschaftliche Strukturen für so machtvoll, dass sie, wie man bereits nach der Pariser Commune sehen konnte, revolutionäre Umwälzungen überdauern. Revolution selbst erweist sich als fragwürdiges Konzept: »So ist das Wort Revolution hier immer nur als ein sinnentleertes Wort verwendet worden. Deshalb legt jeder den Sinn hinein, der ihm gefällt. Für manche: Entfaltung der Produktion (Trotzki) – eine Katastrophe mit Opfern – Abschaffung der Arbeit – Abschaffung von allem, was die freie Entfaltung der Triebe behindert (Surrealismus) – Staatsform in der der Mensch respektiert wird (V. Serge) – automatische Gewohnheit (N. etc.).« 15
Vgl. Simone Weil: »Perspektiven. Gehen wir einer proletarischen Revolution entgegen?«, in: dies., Unterdrückung und Freiheit, München 1975, S. 115f.
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Was ist Revolution? Der Arbeiter soll bei der Arbeit ein freies Wesen sein. Bevor man sich nicht zumindest die Möglichkeit einer solchen Umwandlung vorgestellt hat, darf man nicht von Revolution sprechen. Revolutionäres Handeln ist nicht möglich. »Gegenwärtig nur ein Objekt des Handelns: der Unterdrückung Widerstand leisten, bewußt machen.«16 Das revolutionärsyndikalistische Engagement Weils verwandelt sich im Lauf der Jahre in den Versuch, eine Sozialphilosophie der Arbeit zu entwickeln, die der fortgeschrittenen Industriegesellschaft angemessen ist, um dann auch diesen Rahmen im Kontext einer umfassenden Kulturkritik in einer Öffnung zum Seinsgrund zu sprengen. Ihr wichtiger Aufsatz »Causes de la liberté et de l’oppression sociale« wird als eine Art ›Testament‹ vor ihrem Jahr als Fabrikarbeiterin gelesen. Es wird ein Paradigma der optimal freien Gesellschaft entworfen, das als Maßstab für Annäherungsversuche und als Instrument der Sozialkritik dienen können soll. Dabei bedeutet Freiheit die Realisierung des Menschen als bewusst handelndes Subjekt in seiner unmittelbaren Gegenüberstellung mit einer res extensa. Nach der Zeit in der Fabrik verschiebt sich das Ziel von der Befreiung zur Einwurzelung, die eine konkrete Antwort auf die Entfremdungsthese von Marx beinhaltet. In der Folge verschärft sie ihre Kritik an dem Ideal der Revolution. 1937 moniert sie, dass keine organisierte Bewegung das Wort Revolution als Konzept organisierten Handelns begreife. Vielmehr bete man »Revolution« als ein Wunder an, das alle Probleme lösen werde: »La preuve qu’on la considère comme miracle, cest qu’on attend qu’elle tombe du ciel; on attend qu’elle se fasse, on ne se demande pas qui la fera.«17 Den Beweis für 16 Simone Weil: Cahiers 1, S. 129. 17
Simone Weil: »Examen critique des idées de révolution et de progrès«, in: dies., Œuvres Complètes. II.2, Paris 1991, S. 145: »Der Beweis, dass
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eine Fetischisierung von Revolution sieht Weil in der stummen Erwartung ihrer Ankunft, ohne sich zu fragen, wer sie herbeiführen könne. Revolutionen sind letztlich im genauen Wortsinn ja nicht nur Umwälzungen, sondern haben mit der Wiederholung zu tun. Sie haben immer schon stattgefunden. Aus diesen Erkenntnissen heraus beginnt Weil für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Fabriken einzutreten. Unter anderem kritisiert sie, dass Marx, wie man seinen Beschreibungen des Arbeiteralltags entnehmen könne, niemals in einer Fabrik gewesen sei. Die Marx’sche Glorifizierung der Technik hält sie für einen Effekt des Innovationsschubes im 19. Jahrhundert. Auch die Kritik an der Geldwirtschaft spitzt sich in ihren Worten zu:
man sie wie ein Wunder behandelt, besteht darin, dass man erwartet, sie werde vom Himmel fallen; man erwartet, dass sie sich von selbst macht, man fragt sich nicht, wer sie machen wird.«
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»Man muß das Geld in Verruf bringen. Es wäre nützlich, daß diejenigen, die höchstes Ansehen oder sogar Macht besitzen, gering entlohnt werden. Die menschlichen Beziehungen müssen der Kategorie nicht meßbarer Dinge zugeordnet werden. Öffentlich soll anerkannt sein, daß ein Bergmann, ein Drucker, ein Minister einander gleich sind.«
Denn auch wenn das Proletariat die Macht inne hätte, sei das keine Garantie für eine bessere Gesellschaft, vielmehr ist jede Diktatur abzulehnen. Die Frage nach der Macht und der Auswirkung der Macht auf Machthaber sowie auf diejenigen, über die Macht ausgeübt wird, wird wiederum im Lichte der Aufmerksamkeit betrachtet. »Das wichtigste politische Problem ist die Art, wie die mit Macht ausgestatteten Menschen ihre Tage verbringen. Wenn sie sie unter Bedingungen verbringen, die eine auf hoher Stufe lange durchgehaltene Anspannung der Aufmerksamkeit faktisch unmöglich machen, dann kann es keine Gerechtigkeit geben.«18
Die Aufmerksamkeit wird als individuelle Kraft zum neutralisierenden Antidot der Macht. Die Hauptgefahr für jegliche Form von Aufmerksamkeit liegt im Aktivismus: »Il faut attendre. Mais cette ›attente‹ bien que passive est beaucoup plus intense que toute recherche active. Elle requiert une énergie considérable, une énergie transcendente.«19 Intensität und revolutionäre Kraft entstehen in der Aufmerksamkeit als passive Erwartung, nicht aus Aktionismus. Weil ist nicht nur eine politische Philosophin und Mystike18 Simone Weil: Cahiers 4, S. 338. 19 »Man muss (er-)warten. Aber diese Erwartung, auch wenn sie passiv ist, ist viel intensiver als alle aktive Recherche. Sie benötigt viel Energie, eine transzendente Energie.«
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rin, sondern insbesondere eine Denkerin der Kraft. Sie entwickelt ihren Machtbegriff vom Kraftbegriff der Physik aus. Das wird auch aus ihrem Eintrag in die Cahiers mit der Überschrift »Zentraler Gedanke« deutlich: »Der Kapitalismus hat die Befreiung der menschlichen Gemeinschaft von der Natur verwirklicht. Aber diese Gemeinschaft hat gegenüber dem Individuum die Nachfolge der vorher von der Natur ausgeübten Unterdrückungsfunktion angetreten.«20 Die Kraft der Wiederholung wird zum zenralen Kritikpunkt an jeder Revolution. Wiederholung hat physikalisch betrachtet mit der Trägheit zu tun, gemäß der die einmal begonnene Bewegung im Verhältnis zur Schwerkraft immer fortläuft. In der Natur wirkt Schwerkraft auf uns und determiniert unsere Körperlichkeit. Ebenso wirken gesellschaftliche Kräfte auf uns. Der für ihr Denken überaus wichtige Begriff der Arbeit, als menschlicher Tätigkeit schlechthin, wird ebenfalls aus der Physik übernommen: »Der Begriff der Arbeit steht am Anfang der Physik und beherrscht sie völlig. Warum gibt es keine Abhandlung – eine physikalische Abhandlung, keine philosophische – über ›die Arbeit in den verscheidenen Bereichen der Physik‹?«21 Als Schülerin des berühmten Philosophen Alain teilte sie dessen Bevorzugung der Physik. Gesellschaft stellte für Alain ein Naturphänomen dar. Dies mag metaphorisch gemeint sein, doch die Metapher wird strikt angewandt. Als Naturphänomen unterliegt das »Soziale« Naturgesetzen und diese sind letztlich Gesetze der Mechanik oder mechanischen Gesetzen analog. Das bedeutet nichts anderes, als das Gesellschaft als ein Netz von Kräfterelationen angesehen wird, die sich alle auf den physikalischen – oder einem dem physikalischen bis zur Identität analogen –
20 Simone Weil: Cahiers 1, S. 81. 21
Ebd., S. 145.
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Kraftbegriff zurückführen lassen. Dieser Physikalismus, den Simone Weil übernimmt, setzt Kraft, Macht und Gewalt gleich, was in der späteren Schrift »Ursachen von Unterdrückung und Freiheit« nochmals festgehalten wird, wenn es heißt: »[…] die Repression bedient sich der Macht/Kraft (force) und hat wie jede andere Kraft ihren Ursprung in der Natur.« Athanasios Moulakis hat in seinem Buch zur politischen Askese Simone Weils auf die große Bedeutung hingewiesen, die diese der Einführung des Kraftbegriffs durch Galilei für die enormen Ingenieurleistungen seit der Renaissance beigemessen hat. Die Sozialwissenschaft warte aber noch immer auf ihren Galileo, um den rationalistischen Traum des Sozialingenieurs erfüllen zu können.22 Es scheint, als habe Simone Weil auf philosophischem Gebiet versucht, solches zu leisten. Was den Menschen laut Weil zuallererst ausmacht ist ›désir‹, das Begehren. Innerhalb des Begehrens machen wir die Erfahrung einer transzendenten Energie. Aber: Es gibt Begehren und Begierde. Das ursprüngliche Begehren ist das Begehren nach Wahrheit im Sinne eines fundamentalen Werts. Es braucht hierzu die Anstrengung der Aufmerksamkeit. Allerdings darf die Anstrengung der Aufmerksamkeit nicht mit einer Muskelanstrengung verwechselt werden. Es ist eine Anstrengung, bei der, wie gesagt, der Wille nicht interveniert. Die wahre Aufmerksamkeit situiert sich nach Weil im übernatürlichen Teil der Seele, im Gegensatz zum Willen, der sich im natürlichen Bereich der Seele finde. Auch der so genannte übernatürliche Bereich der Seele gehorcht physikalischen oder analog der Physik gedachten Gesetzen. In den Cahiers heißt es etwa: »Tous les mouvements naturels
22 Vgl. Atanasios Moulakis: Simone Weil. Die Politik der Askese, Stuttgart, Brüssel: Sijthoff 1981, S. 140.
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de l’ame sont régis par des lois analogues à celles de la pesanteur matérielle.«23 Die Schwerkraft ist für Weil eine der beiden das Universum beherrschenden Kräfte, die andere ist Licht. Alle Seelenbewegungen vollziehen sich demgemäß analog der Naturkräfte und sind ebenso wie Bewegungen der Körper zuallererst der Schwerkraft ausgesetzt. Schwerkraft zeigt demnach die menschliche Gebundenheit an die Erde an. Kraftverhältnisse in physikalischer Analogizität beschäftigten sie aber auch hinsichtlich der Frage nach Freiheit und Handlungsfähigkeit, die sie beispielsweise im Kontext des Hebels und der Hebelgesetze reflektierte. »Wer dem Willkürlichen unterworfen ist, hängt am Faden der Zeit; er wartet (die unwürdigste Situation! […]) auf das, was der nächste Augenblick bringen wird; er erhält, was die Gegenwart bringt. Er verfügt nicht über seine Augenblicke; die Gegenwart ist für ihn kein Hebel, der auf die Zukunft drückt.«24
Das Physikalische wird auf das Politische bezogen. Die Übertragung von Kraft auf die Macht ist der Hebel auch von gesellschaftlicher Bewegung. Die Unterdrückung aber basiert zunächst auf der Einengung des Verlangens, der Begierde, die die Lebenskraft schlechthin ausmacht. »Das Verlangen ist eine nicht zu unterdrückende Kraft, die in die Zukunft drängt; wenn man ihm Hindernisse entgegenstellt, ändert es die Richtung; in einem eingeengten Leben, wo es sich nur auf ganz kleine Gegenstände richten kann, läßt es die Seele verkümmern.«25 Denn Simone Weil hat keinen 23 »Alle natürlichen Bewegungen der Seele werden von den gleichen Gesetzen der Schwerkraft regiert wie die der Materie.« 24 Simone Weil: Cahiers 1, S. 77. 25 Simone Weil: Cahiers 2, S. 28.
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reinen Lebensbegriff entwickelt, sondern sieht das Leben (wie das Dasein) allein von der vitalistisch-mechanistischen Kraftgesetzlichkeit (force) her bestimmt. »Wie jede Minute der Aufmerksamkeit nach oben, selbst wenn sie unvollkommen ist, einen ein wenig ansteigen läßt, so auch jede Handlung, die mit derselben Aufmerksamkeit ausgeführt wird. Nichts Gutes geht jemals verloren.« Die Physik dient als Basis der ethisch/revolutionären Aufmerksamkeit, die die Welt zum Besseren verändern helfen sollte. Die in désir zirkulierende Energie bleibt konstant. Gesellschaft ist demnach ein Kraftfeld, eine komplexe Mechanik. Durch individuelle Aufmerksamkeit kann eine gesellschaftliche Konzentration entstehen, die als Intensitätsfeld zum Hebel von Veränderung wird. Doch Erkenntnis braucht Zeit: »Die eigentliche Methode der Philosophie besteht darin, die unlösbaren Probleme in ihrer Unlösbarkeit klar zu erfassen, sie dann zu betrachten, weiter nichts, unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.«26 Simone Weils Anspruch, den sie an die Philosophie richtet, korreliert mit demjenigen Nikolaus von Kues’, der in der »docta ignorantia«, der gelehrten Unwissenheit, den einzigen Weg sah, Gott zu finden. Gott ist demnach nur jenseits des Zusammenfallens der Gegensätze, coincidentia oppositorum. In ihm fallen das Große und das Kleine, das Viele und Wenige zusammen. Und das ist die mystische Theologie. Für den mystischen Theologen ist es, so Kues, notwendig, über alle Verstandeserkenntnis und Philosophie, die nur Distinktes erkennt, hinaus in Selbstaufgabe in die Dunkelheit der coincidentia Gottes, die die Unendlichkeit ist, einzutreten. Immanuel Kant wird Mystik später als krankhafte Schwärmerei bezeichnen. Aber die Ablehnung der Mystik zieht sich nicht als roter Faden durch die Philosophiegeschichte. Insbesondere die Romantiker und unter ihnen namentlich Schel26 Simone Weil: Cahiers 4, S. 317.
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ling wehrten sich gegen einen falschen Gebrauch der Begriffe Mystik und Mystizismus. ›Mystisch‹ bedeute genau genommen nur, dass etwas verborgen und geheim sei. »Materiell betrachtet ist aber alles verborgen, alles mystisch. Mystiker ist also niemand durch das, was er behauptet, sondern durch die Art, wie er es behauptet, d.h. aus einer unmittelbaren Offenbarung, aus bloßer ekstatischer Intuition oder aus bloßem Gefühl im Gegensatz zur formell wissenschaftlichen Erkenntnis.« Auch Ernst Bloch versuchte die Mystik von der stärkeren Anerkennung verborgenen Wissens aus zu rehabilitieren. In diesem Sinne kann Mystik für eine Revision der sichtbaren Welt und ihrer Grenzen fruchtbar gemacht werden. Die Grenzen des Verstehbaren werden in der reinen Bereitschaft, das zu denkende Objekt zu betrachten, erfasst und überschritten. Dieser Erkenntnisweg geht über die Versammlung, die zugleich Leere ist: über die Aufmerksamkeit. In attention ist die Bedeutung von attente bereits mitenthalten. Warten als Grundhaltung des geistigen Lebens, als Passivität des tätigen Denkens. »L’attente est la passivité de la pensée en acte.«27 Warten ist die Passivität des Denkens im Akt. Aus dem Rauschen der mannigfaltigen Eindrücke kann so Erkenntnis gewonnen werden. Das wirklich philosophische Potenzial der Aufmerksamkeit sah Simone Weil also in der passiven Attente, im nicht handelnden Handeln. »Warten ist die äußerste Passivität. Es heißt, der Zeit gehorchen. Die vollkommene Unterwerfung unter die Zeit verpflichtet Gott, die Ewigkeit zu senden.«28 Die Aufmerksamkeit ist kein Vermögen neben dem Verstand, sondern die Fortsetzung der methodisch praktischen Urteilsenthaltung gegenüber dem Einbildungsstrom, um in ihm Gedanken zu sondieren, welche nicht bloß subjektive Existenz benennen, sondern tat27 Ebd., S. 47: »Das Warten ist die Passivität des Denkens in Aktion.« 28 Ebd., S. 90.
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sächlich auch das Wirkliche an sich erkennen lassen. Es ist das Eigentümliche der Aufmerksamkeit, sich auf die Wahrheit auszurichten, ohne sie jedoch schon zu kennen, wie es der alltägliche Vorgang des »Sich-erinnern-Wollens« vergegenwärtigen kann. »Eine Ausrichtung der Seele auf etwas, was man nicht kennt, aber von dem man weiß, daß es wirklich existiert. So ist mir ein Gedanke gekommen, der mir wichtig erschien. Ich habe nichts, um ihn aufzuschreiben. Ich nehme mir vor, mich an ihn zu erinnern. Zwei Stunden später kommt mir in den Sinn, daß ich mich an einen Gedanken erinnern muß. Ich weiß absolut nicht mehr an welchen, und auch nicht, worum es sich handelte. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf diese Sache, von der ich weiß, daß es sie gibt, aber von der ich überhaupt nicht weiß, wie sie beschaffen ist. Diese Aufmerksamkeit ins Leere kann mehrere Minuten dauern. Dann kommt es mir (im besten Fall) wieder in Erinnerung.«29
Im Gegensatz zu der mit unmittelbaren Einbildungen wie Vorstellungen verknüpften Energie, deren Mechanismus das unbezweifelte Existenzgefühl eines nicht aufmerksamen Ich regiert, kann die Verfügbarkeit in der Aufmerksamkeit nicht derselben energetischen Verteilungsgerechtigkeit angehören. Zweifel an gängigen Wirklichkeitsinterpretationen wird durch Attention genährt. Die höchste Form der Aufmerksamkeit kann aber nur im Gebet erreicht werden. Absolut reine Aufmerksamkeit vermag sich nur in Bezug auf Gott einzustellen, insofern Gott als die einzig wahre Wirklichkeit nur in dem Maße »anwesend« sein wird, wie keinerlei fremder Eindruck zugleich mit ihm vorhanden ist. Die Revolution im Stillstand, wie sie im WARTEN angelegt ist, verzichtet auf den Wiederholungszwang herkömmlicher 29 Ebd., S. 285.
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Revolutionstheorien. Gott steht synonym für eine Essenz von Wahrheit. Wahrnehmungsintensivierung in der Attention konzentriert die Widerstandskraft. Meine These ist, dass Simone Weil versuchte, die mystische Aufmerksamkeit politisch fruchtbar zu machen. Simone Weil hat die Philosophie physikalisiert. Physik und Körper werden korrelativ zu Philosophie und Revolution gedacht, alle vier Komponenten verhalten sich wie ein Chiasmus zueinander, an dessen Kreuzungspunkt die Aufmerksamkeit liegt. Ziel der Unternehmungen Weils war ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis und Gerechtigkeit. Aufmerksamkeit wird zum Hebel einer Mechanik des Wissens und der Gesellschaft. Die lesende Hermeneutik der Gesellschaft verlangt eine der Epoché analoge Suspendierung des Wissens. Überliefertes Wissen wirkt analog der Schwerkraft auf unser Wahrnehmungsvermögen. Durch Aufmerksamkeit kann bis zu einem gewissen Grad sogar diese Schwerkraft überwunden werden. »Lesarten. Das Lesen – mit Ausnahme einer gewissen Art von Aufmerksamkeit – gehorcht der Schwerkraft.«30 Gesellschaft als Kräfteverhältnis muss einen Ausgleich stiften, tut sie das nicht, verwandelt sie den Körper und somit den Menschen in ein Ding. Durch Aufmerksamkeit ist es möglich, ein Kraft- und Intensitätsfeld der révolution immobile zu kreieren und damit der Macht zu begegnen. »Technik der Aufmerksamkeit. Um die Zikaden im Flug zu erlegen, genügt es, im ganzen Universum nichts als die Zikade zu sehen, auf die man zielt: man kann sie nicht verfehlen. Um Bogenschütze zu werden; muß man zwei Jahre unter einem Webstuhl liegenbleiben und darf nicht blinzeln, wenn das Schiffchen vorbeiflitzt. Drei Jahre lang eine Laus einen Seidenfaden hochklettern lassen, mit dem Blick gegen das Licht. Wenn sie größer als ein Wagenrad erscheint, wenn sie die Sonne 30 Ebd., S. 29.
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verdeckt, wenn man ihr Herz sieht, dann kann man schießen: man wird sie mitten ins Herz treffen.«31
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Ebd., S. 87.
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Lust vs. Begehren. Die Rolle der ›Dispositive der Macht‹ für die Körperpolitik bei Foucault und Deleuze Mirjam Schaub
Frage der Worte »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben«, schreibt Gilles Deleuze im Jahr 1977, »sagte Michel [Foucault] zu mir, auf sehr nette und wohlwollende Art, ungefähr folgendes: ›Ich kann das Wort Begehren nicht leiden, selbst wenn ihr [gemeint sind Deleuze und Guattari] es anders gebraucht, spüre und denke ich unwillkürlich, daß Begehren (désir) = Mangel oder Unterdrückung ist‹. Er fügt hinzu: ›Aber vielleicht ist das, was ich Lust (plaisir) nenne, dasjenige, was ihr Begehren nennt […]‹.« – »Natürlich«, bescheidet Deleuze zwei Jahre später, »ist das wiederum
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etwas anderes als eine Frage der Worte. Denn ich, meinerseits, ertrage kaum das Wort Lust.«1 Was ist passiert? Der Kontakt der beiden seit 1962 befreundeten Philosophen ist Mitte der 70er Jahre jäh abgebrochen; nach Deleuzes Rezension über Überwachen und Strafen2 und Foucaults Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Anti-Ödipus.3 Über die Natur des Zerwürfnisses gibt es nur Mutmaßungen. Deleuze weiß 1977 nicht, dass das geschilderte Gespräch ihr letztes sein wird. Erst als man Foucault im Juni 1984 in die Salpêtrière einliefert, »wird einer seiner letzten Wünsche sein«4, den alten Freund noch einmal zu sehen. Doch Deleuze kommt zu spät. Zehn Jahre später, nun selbst dem Tod nah, stimmt Deleuze der Veröffentlichung der oben zitierten Aufzeichnungen zu, die er bereits siebzehn Jahre zuvor François Ewald zur Weitergabe an Foucault anvertraute, ohne jemals eine Antwort darauf erhalten zu haben, wie Lust und Begehren – die beiden wichtigsten Spaltprodukte der freudschen ›Libido‹5 – zur Gretchenfrage einer Philosophenfreundschaft werden konnten. 1
Gilles Deleuze: Lust und Begehren. Aus dem Französischen von Henning Schmidgen, Berlin: Merve 1996, S. 14-39, hier S. 30f.; alternativ hierzu verwende ich auch die Übersetzung »Begehren und Lust« (B/L) von Joseph Vogl aus Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996, S. 230-240.
2 Gilles Deleuze: »Kein Schriftsteller: Ein neuer Kartograph« [»Ecrivain non: un nouveau cartographe«, in: Critique Nr. 343, Dez. 1995.] Aus dem Französischen von Ulrich Raulf, in: Gilles Deleuze/Michel Foucault, Der Faden ist gerissen, Berlin: Merve 1977, S. 101-136. 3
Michel Foucault: »Der ›Anti-Ödipus‹«. Aus dem Französischen von H.-J. Metzger, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Warheit, Berlin: Merve 1978, S. 225-230.
4 François Ewald: »Vorwort« in: Gilles Deleuze, Lust und Begehren, S. 13. 5
»Wir haben uns den Begriff der Libido festgelegt als einer quantitativ
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Apriori des Begehrens Die traditionelle Auffassung, gegen die sich Deleuze und Guattari in Anti-Ödipus wenden, macht aus dem Begehren (désir) auch jenseits seiner engeren sexuellen Bedeutung (im Sinne von Verlangen) eine Art unstillbaren Hunger. Folgt man Platon, richtet sich Begehren auf das, was man besitzen könnte, weil man es einmal besaß. Auch in Hegels Jenaer Schriften findet sich ein bis heute einschlägiger Passus: »[…] Selbstgefühl, wie Begierde, Gefühl des Mangels, d.h. es ist sich selbst als Negatives; es bezieht sich auf sich als Negatives, dies Mangelnde ist es Selbst, und es ist sich als Mangelndes […].«6 Das ist die ›Theorie des ursprünglichen Verlusts‹, auf die Foucault anspielt. Begehren unterhält ein gemischtes, gespaltenes Verhältnis zu seiner eigenen Erfüllung. Die Gesetze der Klugheit verbieten es deshalb, Begehren als imaginären Gewinn in Analogie zum materiellen Besitz zu fassen. Denn die Erträge des Begehrens sind nicht kapitalisierbar. Es gibt da keinen Ertrag, nur offene Rechnungen. Eine lose Aufzählung von Charakteristika: Jedes Begehren hat eine eigene Genese, doch sein konkreter Verlauf bleibt unvorhersehbar. Begehren ist erfinderisch, sowohl in der Wahl seiner Mittel als auch in der Wahl seiner Objekte und Ziele. Es ist sprunghaft und entschieden zugleich. Seine Artikulation ist auch vom Zufall abhängig, von der günstigen Gelegenheit. Im engeren sexuellen Sinne ist Begehren eine intensive, veränderlichen Kraft, welche Vorgänge und Umsetzungen auf dem Gebiete der Sexualerregung messen könnte.« – Sigmund Freud: »Die Libidotheorie«, in: ders., Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Mit einer Einleitung von Reimut Reiche, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 117. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe, Teil III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg: Meiner 1987, S. 164f.
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körperliche Form des Verlangens, kein diffuser Wunsch, aber auch kein klar formulierbarer Wille. Gegenüber dem Willen ist das Begehren, gerade weil es drängender und unartikulierter ist, weniger eigensinnig, weniger borniert. Es ist auch nicht masochistisch genug, als dass es auf seine Befriedigung vollkommen zu verzichten bereit wäre. Wenn es sein Ziel nicht erreicht, wechselt es sein Objekt. Genau das macht den Begriff für die Psychoanalyse – seit jeher an mentaler Geburtshilfe interessiert – so ergiebig: »Die psychoanalytische Arbeit konfrontiert uns mit der Tatsache, dass es über die realen Bedürfnisse und ihre Befriedigung [wie etwa Hunger, Durst, Schlaf usf.] […] hinaus beim Menschen noch etwas Weiteres gibt, nämlich das, was Freud ›Libido‹ genannt hat: das ist das Begehren. Das Begehren ist ursprünglich ebenso unbewußt wie das Bedürfnis; wie das Bedürfnis drängt das Begehren auf Erfüllung zur Verminderung seiner Spannung […]. Es gehört hingegen zum Wesen des Begehrens, daß es nicht auf sofortiger Befriedigung besteht: es ist fähig, Aufschub zu ertragen. Aus diesem Grund kann es seine Ziele immer wieder verändern, bis es auf die eine oder andere Weise Befriedigung findet […].«7
Wenn es auf Widerstände bei seiner Realisierung stößt, wird es sich »gewissermaßen spielerisch auf das eine oder andere Ziel« richten. Kurz: »Es ist das Spiel mit dem Begehren, das wir in der Analyse beobachten«, wie Françoise Dolto in ihrem Buch Au jeu du désir bemerkt. Begehren kann niemals Gegenstand einer belehrenden Diskussion oder einer förmlichen Erziehung sein. Niemand kann einem Anderen in dessen Begehren hereinreden, das ist ganz aussichtslos. Das Begehrsvermögen ist etwas Unbe7 Françoise Dolto: Über das Begehren. Die Anfänge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Französischen übers. von Werner Damson u. Sabine Mehl, Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 332f.
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dingtes und Apriorisches. Apriorisch, weil es bestimmend, aber nicht bestimmt ist. Vorgängig, da es – anders als etwa der freie Wille (so es ihn gibt) – nicht spontan auftritt, sondern wie eine Untergrundströmung der Seele als handlungsantreibend vorausgesetzt wird. Ich bin nicht frei, aber auch nicht verpflichtet, dieses oder jenes zu begehren. Man kann sich nicht dafür oder dagegen entscheiden, aber man ist seinem Begehren auch nicht sklavisch ausgeliefert. Es gibt einerseits ein Moment des Unbewussten, Verschlossenen; andererseits ein Moment des Unvollendeten und Unausgegorenen. Das Begehren eines Menschen bleibt nicht zu allen Lebensaltern gleich. Es wächst mit einem mit, es gehört zur Persönlichkeit, es hat seinen eigenen Charakter. Allerdings heißt das nicht, dass der Wandel des Begehrens unserer bewussten Kontrolle unterläge. Wir stellen erst im Nachhinein fest, dass etwas einmal Begehrtes seine Attraktivität verloren hat, während unterdessen – wir wissen nicht woher und warum – etwas anderes umso dringlicher begehrt wird. Das eigene Begehren widerfährt uns, es stößt uns zu. Dabei wirft es immer Ballast ab, trennt sich von Vertrautem, Liebgewonnenem. Kurz: Es ist monströs, weil es in ein und demselben Streich entwertet und neue Wertschätzungen erlaubt. Von allem menschlichen Vermögen ist es das parteiischste – der dunkle Gegenspieler der scheinbar so ratio-empfänglichen Urteilskraft. Indem Kant die Urteilskraft nicht nur an die Einbildungskraft koppelt, sondern sie auch einem quasi zufallsbestimmten, sehr persönlichen Spiel der Lust- und Unlustempfindung unterwirft, erlaubt er uns eine Analogie zwischen dem Begehren und dem berühmten ›Schematismus‹ aufzumachen, jenem Schematismus, der bei Kant gefühlte (empirische) und gewusste (rationale) Welt verbindet: Auch das Begehren ist »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahren Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie un-
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84 | Mirjam Schaub verdeckt vor Augen legen werden«.8 Jacques Lacan sagt in Kant mit Sade nichts anderes: Von allen nachkantischen Vermögen – Verstand, Vernunft, Urteilskraft – ist unser Begehren in seiner imperativischen Parteiischkeit, in seiner Unstetigkeit, auch in seiner Fähigkeit, uns zu überraschen und zu enttäuschen, unser virulentestes Apriori geworden. So begrenzt auch nicht das jeweils gerade Begehrte unsere Begierden, sondern unser Begehren selbst scheint durch ein inneres Regel- oder Kettenwerk begrenzt. (Und dieses Regelwerk ist nicht nur zwischen den Geschlechtern signifikant anders ausgebildet, sondern auch nach Persönlichkeiten verschieden.) Gerade die buchstäbliche Erfüllung dessen, was wir begehrten, ist kein Garant für Glück. Im Gegenteil lauern hier die Enttäuschungen: Wir sind unserem Begehren gefolgt, wir haben alles erreicht, aber das Begehrte fühlt sich in unseren Händen taub und schal an, es verliert jeden Reiz, unterliegt einem akzelerierten Alterungsprozess. Die oft unter Akademikern zu hörende Forderung – ›Sei deinem Begehren treu!‹ – schützt nicht vor Enttäuschungen. Nicht, weil wir uns über das Begehrte täuschen. Wir sind es, die enttäuschen. Dieser Sachverhalt wird in der Psychoanalyse noch weitreichender gefasst: Es gehört zum psychoanalytischen Credo, dass jedes Begehren gegenüber seinen möglichen Realisierungen und Konkretisierungen vorgängig und widerständig bleibt. Was mich nun an diesem Widerstand gegenüber möglichen Realisierungen interessiert: Betrifft er die notwendige Einseitigkeit jeder Konkretisierung oder betrifft er, wie uns Lacan glauben machen will, die fundamentale Unsicherheit gegenüber dem Begehrten selbst?
8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), nach der ersten u. zweiten Original-Ausgabe hg. v. R. Schmidt, mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme, Hamburg: Meiner 1990, hier B 181.
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Warum artikuliert sich das Begehren »in einem Diskurs, der voller List ist«?9
Aposteriori der Lust Das, was einem Menschen Lust bereitet ist mehr und anderes als die Erfüllung dessen, was man begehrt(e). Lust ist eine extreme und eindeutige Form des Genusses; das Gegenteil dessen, was Kant ›interesseloses Wohlgefallen‹ nannte. Die Redewendung, man möchte ›vergehen vor Lust‹, zeigt, dass sexuelle Lust eine der wenigen Erfahrungen (wenn nicht die einzige) ist, in welcher der Wunsch, zu leben, identisch werden kann mit dem Wunsch, zu sterben. Das von Freud hochgehaltene ›Lustprinzip‹ und der ›Todestrieb‹, der in seinem Jenseits anzusiedeln sei, haben mehr miteinander gemein, als es dem Vitalismus lieb sein dürfte. Lust ist – einem gängigen Vorurteil zufolge – weder feinfühlig, noch subtil. Sie ist klar, eindeutig, brutal, mitunter grausam heftig. Sie ist Trieb und Trieberfüllung in einem. Und genau deshalb meist von kurzer Dauer. Wenn das Begehren eines der letzten Apriori unserer modernen Welt ist, so kann man die Lust als eines der provozierendsten Aposteriori bezeichnen. Aposteriori, weil sich die Erfüllungsbedingungen der Lust nicht im Voraus angeben lassen. Das tatsächliche Eintreten von Lust – immer an der Schwelle zur Unlust und zum Schmerz – enthält ein unwägbares, überraschendes Moment. Freud tat gut daran, aus der Lust ein Prinzip
9 Jacques Lacan: Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (1958), Kap. V., »Man muß das Begehren buchstäblich nehmen«, in: ders., Schriften I, übers. v. N. Haas, Olten u. Freiburg i. Br.: Walter Verlag 1973, S. 211.
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zu machen, das den Erfordernissen der Wirklichkeit gebieterisch und herausfordernd gegenübertrat. Der von den antiken Autoren immer wieder gefürchtete ›Wiederholungs-Zwang‹, die ›Unersättlichkeit‹ und ›Maßlosigkeit‹ – vor allem der sexuellen, aber auch der gutturalen und kulinarischen Lust – gab immer wieder Anlass für pädagogische Zwangsmaßnahmen. (Erinnert sei an Foucaults Gebrauch der Lüste, das Mittelstück aus der Trilogie über Sexualität und Wahrheit, in der die Kunst der Mäßigung zur wichtigsten erzieherischen Aufgabe junger – und der Polis würdiger – Männer zählt.) Lust lässt sich viel schwerer diskursivieren oder intellektualisieren als das Begehren. Sie lässt sich auch nicht so einfach zähmen, obwohl die antiken Ratschläge, bis hin zur sexuellen Enthaltsamkeit in der heißen Jahreszeit, der Bändigung von wilden Tieren entlehnt sind. Vorsichtsmaßnahmen, bis hin zum Ratschlag, sich nur mit hässlichen Frauen zu verheiraten, welche die Lust niemals zur Plage werden lassen, sind gegenüber der eigenen Lust offenbar die erste Bürgerspflicht. Dort, wo in der Antike Lust erlaubt und geboten war, musste sie (a) bezahlt und (b) temporär begrenzt werden; außerdem durfte man sich (c) niemals in die Gefahr bringen, mit der Frau, mit der man seine Lust teilte, auch den Besitz teilen zu müssen. – Die Angst vor Kontrollverlust und dem Aufweichen der allgemeinen Moral dominiert den gesamten von Foucault entfalteten antiken Diskurs. Aus all diesen Gründen bleibt es riskant, über Lust zu sprechen. Zu verschwiegen und undurchsichtig scheinen ihre Wege, zu alltäglich ihr Auftreten, zu skandalös ihre Wirkungen für den wissenschaftlichen Verstand.10 10 Lust, gelebte wie gedachte, gehört in den Bereich des allzu Privaten, des Klandestinen. Fahrlässige Formen der Ausschweifigkeit gelten bis heute als unschicklich, keinesfalls jedoch als wissenschaftlich ausschlachtbar.
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Abbildung 2: Hieronymus Bosch, »Im Garten der Lüste« (1480-1490) (Detail aus dem mittleren Triptychon)
Madrid, Museo Nacional del Prado
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Fehlt da nicht ein dritter Begriff? Doch ist die Opposition aus Begehren und Lust nicht konstruiert? Gibt es zwischen Lust und Begehren, zwischen Apriori und Aposteriori nicht etwas, das die gesamte, scheinbar so klare Sachlage – hier das die Erfüllung aufschiebende und selten zufriedenzustellende Begehren, dort die Erfüllung erheischende und erreichende Lust – außer Kraft setzt? In der Tat fehlen zwei Begriffe: die Befriedigung und das Genießen. Während die Befriedigung (wie etwa in der Rede von der ›schnöden Triebbefriedigung‹) in ihrer Abfälligkeit schon auf die offizielle Geringschätzung der Lust verweist, scheint Genießen (jouissance) in der Psychoanalyse eine positiv besetzte Sache zu sein, da geeignet, eine subtilere Form des Lustgewinns zu praktizieren. Das GenießenKönnen neigt sich dabei wieder eher der Seite des Begehrens als der der schieren Lust zu. Bekanntlich hat der französische Psychoanalytiker, der sich später mit der gesamten Zunft anlegte, diesen Begriff auf seine Spitze getrieben. Was fast alle über Lacan wissen, ist: – dass er die Ebene des Symbolischen und insbesondere die der Sprache für die Arbeit mit und am Unbewußten entdeckt hat, – dass er zwischen zwei Arten des – leeren und vollen – Sprechens (parole vide et parole pleine) in der therapeutischen Sitzung unterschieden hat: ein offizielles, durch Kultur und Selbststilisierung zugerichtetes ›Moi‹ und ein kleinlautes inoffizielles ›je‹, das viel näher am reinen Begehren (désir pur) dran ist, als das ›Moi‹, – dass er ein »Gesetz des Genießens« erkannt zu haben glaubt, dass nicht nur die Lust enttäuscht, sondern auch das Begehren genau davon abhält, sich mit dem Begehrten zu ›reimen‹, d.h. wirklich zu genießen. Genau die uns vom Kapitalismus und seiner einem Fetisch gleichenden Dingwelt auferlegte
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Pflicht, zu genießen, das befreiende »Gesetz des Genießens« sorgt paradoxerweise für die fortgesetzte Blockierung desselben.
Das Problem des Genießens Warum wird das Genießen überhaupt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zum Gesetz, nämlich an der Schwelle zur Moderne? Hierauf gibt es bei Marquise de Sade in der Philosophie im Boudoir eine Antwort, die – der volonté-de-tous-Formel nach zu urteilen – perfekt dem kategorischen Imperativ der Kritik der praktischen Vernunft nachempfunden ist: »[Ich habe] unbestreitbar das Recht, mir durch sie [eine Frau] Genuß zu beschaffen«.11 Lacan reformuliert de Sade wie folgt: »Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, kann ein jeder mir sagen, und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen, ohne dass irgendeine Schranke mich daran hindern könnte, diesen Lustzoll nach Belieben zu erpressen.«12 De Sade war es selbst so ernst damit, dass er in einem Brief an seine Schwiegermutter, Madame Présidente de Montreuil, der er einen Großteil seiner Inhaftierungen zu verdanken hatte, am 2. September 1783 schrieb, sie habe ihn zugrunde gerichtet, voll und ganz. Und nun bleibe ihr nichts mehr zu tun, als ihren Triumph zu »genießen«: »Genießen Sie, Madame, genießen Sie!«, schreit de Sade ihr entgegen, wohl ahnend, dass er – im Namen eines selbst erfundenen Gesetzes 11
De Sade: Philosophie im Boudoir oder die lasterhaften Lehrmeister. Dialoge, zur Erziehung junger Damen bestimmt, Gifkendorf: Merlin Verlag o.J., S. 238.
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De Sade sehr frei zitiert nach Jacques Lacan: »Kant mit Sade«, in: ders., Schriften II. Ausgewählt und hg. v. Norbert Haas, Olten u. Freiburg i. Br.: Walter-Verlag 1975, S. 138.
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sprechend – dies zugleich wieder unterbindet, ja, dass seine eigene, letzte und ärmlichste Lust darin besteht, seine Peinigerin davon abzuhalten, ihren Triumph auszukosten.13 Lacan führt in »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewußten«14 aus, dass sich das »Gesetz des Genießens« auf die »Untersagung« desselben gründet und dennoch beständig dagegen löckt: »Würde nämlich das Gesetz befehlen: Jouis, genieße, so könnte das Subjekt nicht anders antworten als mit einem J’ouis, ich höre, wobei der Gedanke an Genuß nur noch ein Hintergedanke wäre. Indessen versperrt das Gesetz selbst dem Subjekt den Zugang zum Genuß […]. Denn die Lust setzt dem Genießen Grenzen, die Lust als inkohärentes Band des Lebens.«15 Lacan spielt – keck, mit großer Selbstverständlichkeit, ohne näheren Kommentar – Genießen und Lust gegeneinander aus und liefert damit einen dritten Begriff für Deleuzes und Foucaults späten Streit über die Frage, ob die Lust das Begehren abkürze oder umgekehrt, das Begehren die Lust ad infinitum aufschiebe. »Jenseits der Lust, auf die das Begehren abzuzielen scheint, gibt es das Genießen, das das Schwinden der Lust fordert.«16 Einerseits. Andererseits ist die französische jouissance selbst ein Ausdruck für körperliche Lust (insbesondere bei de Sade). 13
»Ich habe leider Ihre Gemütsruhe allzusehr beeinträchtigt, Madame, als daß ich bedauern dürfte, Ihnen diesen Triumph auf meine Kosten zu bereiten« (De Sade, Briefe, hg. v. G. Lely, Frankfurt a.M. 1965; in der leicht modifizierten Übersetzung von Bernard Baas: Das reine Begehren [Le désir pur. Parcours philosophique dans les parages de J. Lacan. Leuven, 1992]. Aus dem Franz. von Gerhard Schmitz, Wien: Turia + Kant 1995, S. 188 zitiert).
14 Vgl. Jacques Lacan: Schriften II, S. 165-204. 15
Jacques Lacan: Schriften II, S. 198.
16 Bernard Baas: Das reine Begehren, S. 41.
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Und das Versprechen von Lusterfüllung ist alles andere als blockiert; es ist auch kein autoerotisches, sondern genau das, was dem Anderen seinen Ort und seine Bedeutung zuweist. Denn das, was gleichzeitig Lust verheißt und Erfüllung vermeidet, dieses Gesetz, ist eine Funktion des Großen Anderen bzw. des – bei Lacan großgeschriebenen – GESETZES. Dieser Wille, »der die apathische Ausführung des Gesetzes befiehlt«, wie de Sade es uns in den Augen Lacans vorexerziert, ist nichts anderes als der »Wille des Anderen«, er selbst ist Inbegriff allen »verdrängten Begehrens«.17 Warum ist der Andere gleichzeitig Lockstoff des Begehrens und Blockierung der Lusterfüllung, wenn, wie Lacan nicht müde wird, zu betonen, das »Phantasma« (des Anderen und des Begehrens selbst) die »eigentliche Lust der Begierde«18 ausmacht?
Die Intellektualisierung des Begehrens In der Folge hat Lacan das Begehren durch den Begriff des Phantasmas und den der jouissance entschieden intellektualisiert. Das ist kein Kompliment. Um zu verstehen, was es mit dem Begehren bei Lacan auf sich hat, muss man ein wenig in die Philosophiegeschichte eintauchen, in die Phänomenologie einsteigen, die mit den Namen Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty verbunden ist. Dessen Phänomenologie hat eine der Einsichten aus Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) weitergesponnen. Hegel hält im berühmten Herr-Knecht-Kapitel eine doppelte Abhängigkeit und ein doppeltes Anerkennungsverhältnis fest, wenn er sagt, dass das »Selbstbewußtsein […] seine Befriedigung nur in einem 17
Ebd., S. 40.
18 Jacques Lacan, Schriften II S. 144.
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92 | Mirjam Schaub anderen Selbstbewußtsein«19 erreicht. Es ist der Knecht, der den Herrn zum Herren macht und umgekehrt.20 (Der Herr besiegt seine Todesfurcht, er riskiert im Anerkennungs-Wettstreit zweier Selbstbewusstseine sein Leben; der Knecht riskiert es nicht und lässt sich stattdessen unterjochen.) Hegels überraschende Lösung besteht darin, dass dieses verzwickte Verhältnis eher von Seiten des Schwächeren, also vom Knecht her zu lösen ist. Der Knecht als der Schwächere muss anfangen, für sich und auf eigene Rechnung zu arbeiten. Er muss sich verwirklichen, statt sich weiter zu verdingen und zu entfremden. Die eigene Arbeit – die als »gehemmte Begierde«, wie Hegel sagt, »entweder den Knecht zu Grunde richtet oder ihn ›bildet‹«21 – muss zum Gegenüber werden. In ihr und durch sie wird ›man‹ anerkannt und kann anderes anerkennen. (Der Text ist von einer bis ins Äußerste getriebenen Begehrens- und Begierdenlogik durchtränkt.) Hegel geht so weit, zu behaupten, dass nur der Herr »das Ding« – die Objekte und Früchte seines Begehrens – ›rein‹ genießen könne, eben weil er den Knecht zwischen sich und die Dingwelt geschoben habe.22 Der Knecht müsse das »Objekt« der Begierde bearbeiten, damit sein Herr es genießen könne. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), hg. v. Hans-Friedrich Wessels u. H. Clairmont, mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen, Hamburg: Meiner 1988; neu S. 136, alt S. 107-108. 20 »Jedes [Selbstbewußtsein, Anm. M. S.] ist dem anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt […]. Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend« (ebd., neu S. 129, alt S. 110). 21
Ebd., neu S. 135, alt S. 114f.
22 »Dem Herrn dagegen wird durch diese Vermittlung [des Knechts, Anm. M. S.] die unmittelbare Beziehung als die reine Negation desselben oder der Genuß; was der Begierde nicht gelang, gelingt ihm [dem Herrn], damit fertig zu werden, und im Genusse zu befriedigen. Der
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Fast zweihundert Jahre später nimmt die Phänomenologie die Anerkennungsproblematik wieder auf, indem sie darauf besteht, den Anderen oder das Andere zu einer wirklichen Erfahrung zu machen. Jeder Selbstbezug bleibt – so das phänomenologische Credo – leer und sekundär gegenüber einer ursprünglichen Fremderfahrung. Wir lernen uns selbst von außen, über den Blick der anderen kennen. Wir brauchen den Anderen und die Tatsache, dass er uns ›anerkennt‹, damit wir uns selbst kennen lernen und anerkennen können. Die nachfreudianische Psychoanalyse wird diese phänomenologische Einsicht verinnerlichen. (Ich verschlucke jetzt die Namen vieler namhafter Psychoanalytiker, die sich in diese Tradition eingeschrieben haben und komme gleich zur Lacans Version des Begehrens, in die das Konzept des Anderen wie das der Anerkennung tief eingesenkt ist.) Da heißt es, wiederum in Kant mit Sade: »Begierden […], hier allein dabei, sie miteinander zu bündeln, in all ihrer Überdrehtheit, damit deutlich werde, daß das Begehren das Begehren des Anderen ist (le désir de l’Autre). Wer uns bis hierher gefolgt ist, weiß, daß der Begierde ein Phantasma zugrunde liegt, das einen Fuß zumindest im Anderen hat, gerade den, auf den es ankommt, auch wenn er, ja vor allem, wenn er hinkt.«23
Wie ist die Rede von meinem Begehren als dem Begehren des Anderen zu verstehen? Heißt es
Begierde gelang dies nicht wegen der Selbstständigkeit des Dings; der Herr aber, der den Knecht zwischen es und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen, und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überläßt er dem Knechte, der es bearbeitet« (ebd., neu S. 133, alt S. 113f.). 23 Jacques Lacan: Schriften II, S. 151.
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a) Ich begehre, begehrt zu werden? b) Ich begehre, vom Anderen in meiner Selbstheit gesehen und anerkannt zu werden? c) Ich begehre so zu werden, wie ich in den Augen des Anderen bin? D.h., ich begehre, mich nach dem Bilde, das der Andere von mir hat, zu formen? Alle drei Ausdeutungen machen einen Teil der lacanianischen Wahrheit aus, in der Passivität des désir die Aktivität des Gegenübers herauszufordern und/oder zu halluzinieren. Die Passivität ist es, die Lacans Position so interessant macht, gerade weil sie im europäischen Kulturkreis lange so wenig Anhänger fand. Sie wirkt wie der Schattenriss des alten Traums, bei minimalem Aufwand die maximale Erfüllung der eigenen Wünsche zu erwirken. Lacan fügt hinzu, dass es sich beim Begehren des Anderen um einen genitivus subjectivus handele, »so daß der Mensch als Anderer begehrt (worin die wahre Tragweite der menschlichen Leidenschaft liegt)«.24 D.h., ich begehre anders zu werden/sein, als ich (es) bin. In jedem Begehren wohnt ein Aufbegehren, wurzelt der Wunsch nach Veränderung, Transformation, die Sehnsucht, anders zu werden. Natürlich sind dies Wahrheiten, die sich allesamt umdrehen lassen wie ein Handschuh. Genau so gut könnte es auch das Gegenteil all dessen bedeuten: a) Ich begehre, selbst das Begehren zu lernen. b) Ich begehre, den Anderen in seiner Andersheit anzuerkennen, ihn von meiner Liebe und meinem Begehren zu überzeugen. c) Ich begehre, das Begehren des Anderen nach meinem Bilde zu formen.25 24 Jacques Lacan: Schriften II, S. 190. 25 Ein schönes Beispiel hierfür ist das Zerwürfnis zwischen Alice (Nicole
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Wollte man hier Motivationsforschung betreiben, müsste man sagen, dass das Konzept des Anderen in der Psychoanalyse Gefahr läuft, infantilisiert und künstlich kleingehalten zu werden, weil es eine – unausgesprochene – Kontinuitätsbehauptung gibt, welche von den Bedürfnissen des Säuglings (der diese in symbolisierbares Begehren verwandeln muss) und seiner Abhängigkeit von Anderen direkt auf die Begehrensstruktur des erwachsenen Menschen schließt.26 Allerdings durchkreuzt die Sexualität, d.h. die Erfahrung körperlicher Lust, genau diese Kontinuität. Die Entdeckung der eigenen Sexualität ermöglicht es, das der Lust vorausgehende Begehren nicht in dieser sklavischen Abhängigkeit und in dieser Fixierung auf die Anerkennungsproblematik gefangen zu halten, sondern einen selbstbewussteren und eigennützigeren Zug in die désir/plaisir-Struktur einführen. Doch Lacan geht in Kant mit Sade diesen Weg nicht. VielKidman) und Bill Harford (Tom Cruise) in Stanley Kubricks letztem Film, Eyes Wide Shut (1999). Im alles entscheidenden Dialog zwischen den beiden kündigt Alice ihrem Mann den Vertrag auf, nach dem die sexuelle Ökonomie des Bürgertums funktioniert: die Vorstellung nämlich, dass Liebe und Zuneigung das Fundament einer Ehe ausmachen und das sexuelle Verlangen eben dieser Liebe und dieser Zuneigung – zumindest von Seiten der Ehefrau – zu sekundieren habe. Die Frau ist das Subjekt der bürgerlichen Liebe und zugleich das Objekt des männlichen Verlangens. Was Alice aber ihrem Mann zu erklären versucht, ist, dass ihr eigenes Verlangen keineswegs mit seinem im Gleichtakt schlägt, dass sie anders und anderes begehrt als er. Und, schlimmer noch, dass sie ein Stück weit so begehrt werden möchte, wie sie selbst begehrt: mit einer Unbedingtheit und Haltlosigkeit, die sich in kein rationales Kalkül auflösen lässt. Wir sehen, wie seine Züge versteinern. 26 »[D]ie Psychoanalyse zehrt von der Beobachtung von Kindern wie vom Infantilismus der Beobachtungen.« – Jacques Lacan: Schriften II, S. 186.
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mehr gelingt es ihm, mit seiner Begehrenslehre aus dem Geist einer ad infinitum verlängerten Kindheit die gesamte Ökonomie des Begehrens zu intellektualisieren, indem er es an der Suche nach Anerkennung durch den Anderen ausrichtet. Infantilisierung und Intellektualisierung des Begehrens harmonieren bei Lacan auf erstaunliche Weise.27 Klug wie er ist, überhöht er die von Merleau-Ponty stammende Einsicht, dass die Anerkennung eine gewisse Verkennung des Anderen einschließt. Der Andere muss als Anderer, nicht als potenziell Gleicher in den Blick geraten, d.h. unter Wahrung einer irreduziblen Differenz und Fremdheit. Allerdings gilt diese Fremdheit nicht nur für den großen Anderen. Wir wissen nicht einmal, wozu wir selbst in der Lage sind bzw. sein werden. Wir können keine Garantie dafür 27 Hierzu passt auch Elisabeth Roudinescos Bemerkungen über Françoise Doltos Sicht auf Lacan: »Sie [Dolto, M. S.] erzählte uns eines Tages, daß sie sich oft gefragt habe, wie Lacans frühe Kindheit gewesen sei. Sie fragte sich, warum er niemals weder von seinen Eltern noch von seiner familiären Herkunft sprach, warum er zugleich so ungeschickt in seinen täglichen Verrichtungen, so beunruhigt über sein Bild und so besessen von seiner äußeren Erscheinung war. Warum hatte er ein solches Bedürfnis, sich zu verkleiden, Maskenbälle aufzusuchen oder extravagante Bekleidungen zur Schau zu stellen? Dolto hatte gespürt, daß dieses spielerische Benehmen dazu diente, eine Art Leere zu verbergen; sie hatte erkannt, dass Lacan einem narzisstischen und launenhaften Kind glich, dem es in seiner ersten Kindheit an etwas Wesentlichem gefehlt hatte. So wandte sie sich zu ihm wie zu einem Kind in ihrer Sprechstunde. Sie sprach zu ihm wie zu einem Kind, nicht um ihn zu infantilisieren, sondern um in dem allzu infantilen Erwachsenen, der er geworden war, die reale Kindheit wiederherzustellen, die ihm geraubt worden war« (Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben. Geschichte eines Denksystems. Aus dem Französischen von HansDieter Gondek, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996, S. 365).
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übernehmen, dass wir nicht eines Tages Amok laufen … Die Fremdheit uns selbst gegenüber bleibt eine unangenehme Grunderfahrung.28
Der Verblendungszusammenhang des Phantasmas Lacan nimmt in seinen Wortspielen vom Wiedererkennen, reconnaître und mé-connaître und me connaître, dieses Changieren aus Anerkennung, Wiederkennen, Selbsterkenntnis und Verkennen, den phänomenologischen Grundzug des Gedankens wieder auf. Und er tut noch mehr: Er verschärft ihn unter dem Einfluss von existenzphilosophischer Lektüre. Damit meine ich nicht Sartre (der das Begehren ohnehin für eine »unnütze Leidenschaft« hielt), sondern Kierkegaard und Heidegger. Bei beiden Philosophen ist die Fixierung auf ›Angst‹ als einzig wahrheitsfähigem Affekt ausgeprägt. Angst hat – im Unterschied zur Furcht – immer etwas Überwältigendes und Unbestimmtes. Genau das macht sie so unberechenbar und so leicht zu einem Selbstläufer, der am Ende uns das Fürchten lehrt. Denn am Schlimmsten, weil so auswegslos und hartnäckig, ist die Angst vor der Angst selbst. Es scheint, als habe Lacan aus diesem doppelten Grund – dem phänomenologischen Begriff des Anderen und dem existenzphilosophischen der Angst – den Diskurs über das Begehren durch die Idee eines phantasmatischen Zuges bereichert und verengt. »Denn ein Phantasma ist in der Tat verwirrend, da man nicht weiß, wo 28 Sie wird als vorgängig, als ›immer-schon-da‹ betrachtet. Genau dieser Zug der Phänomenologie ist allerdings auch sehr problematisch, denn er entschärft und trivialisiert zugleich auch den Bezug zum Anderen.
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man es einordnen soll, weil es, ganz und gar Phantasma, nur im Diskurs wirklich ist, einfach so da ist und keine Ansprüche an Eure Fähigkeiten stellt, Euch hingegen zumutet, daß Ihr Euch mit Euren Begierden ins Benehmen setzt.«29
Das Phantasma ist genau jene – der kantischen Synthesis nachempfundene – Nahtstelle zwischen den apriorischen und aposteriorischen Momenten des Begehrens, zwischen einem konkreten, sinnlichen Objekt der Begierde und dem potenziell unstillbaren Begehren, sich dem Anderen anzuverwandeln. Erst das Phantasma liefert als dessen »Schlacke«30 ein Schema unseres Begehrens: »Das Phantasma ermöglicht die Synthesis von apriorischem Begehrungsvermögen und empirischem Objekt, eine Synthesis, die durch das Objekt a31 in seiner Artikulation an das gebarrte Subjekt des Begehrens bewirkt wird.«32 Was Lacans Theorie so unwiderstehlich und unwiderlegbar macht, ist dieser Zuspitzung geschuldet. Das Phantasma des 29 Jacques Lacan: Schriften II, S. 150. 30 »[Das] Objekt der Begierde, wo es sich nackt darbietet, ist nur die Schlacke eines Phantasmas, worin das Subjekt aus seiner Ohnmacht nicht wieder zu sich kommt« (de Sade, in: ebd., S. 152). 31
Das Objekt a ist, im Unterschied zum temporär real begehrten Objekt, die »Objekt Ursache des Begehrens«. »Auf diese Weise besetzt [es] in der Struktur des Begehrens den Platz, den in der Struktur der Erkenntnis [bei Kant] das Schema einnimmt. Sowenig wie das Schema im Erkenntnisobjekt steckt, sondern diese Erkenntnis konstituiert (›verursacht‹), sowenig gehört das Objekt a zum begehrten Objekt – vielmehr konstituiert (›verursacht‹) es das Begehren nach diesem Objekt.« Mit anderen Worten, das Objekt a ist ein transzendentales Objekt, Korrelat des Phantasmas, kurz: »das Schema des Begehrens« (vgl. Bernard Baas: Das reine Begehren, S. 62ff.).
32 Ebd., S. 62.
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Anderen hat, so »verwirrend« es auch selbst sein mag, eine klar definierte Funktion: Obwohl das Begehren – gemessen an den konkreten Objekten, auf die es sich richtet – immer wieder enttäuscht wird, schützt gerade das Phantasma (des Anderen) vor echter Enttäuschung. Begehren wird in diesem Licht interpretierbar als »die Abwehr dagegen, eine Grenze im Genießen zu überschreiten«.33 Das Festhalten an einer phantasmatischen und letztlich unerkennbaren Dunkelheit und Vagheit des Großen Anderen ermöglicht erst den beständigen Wechsel der jeweiligen konkreten Objektbesetzung (›Das also wollte ich?!‹); und es ermöglicht Lacan im selben Zug eine Reihe von Besetzungen des Großen Anderen. Der Große Andere, das sind immer mehrere: – die Sprache als symbolisches Nadelöhr, durch die jedes Begehren, so es sich artikuliert, gehen muss. Das ist die erste Ebene der ›Verfremdung‹. – Es ist aber auch die Ausrichtung an einer spezifisch heterosexuellen Realität; am Geschlechterdualismus, am Rätsel Frau, insbesondere an der vielzitierten freudschen Frage: »Was will das Weib?«, welche hier Pate steht und neuerlich die Segregation der Geschlechter vertieft. – Es ist die Lehre vom ›reinen Mangel‹ (eines Mangels, der an nichts mehr Mangel leidet),34 der auf keinen primären Ver33
Jacques Lacan: Schriften II, S. 202.
34 Zum einen hat er etwas mit der von Lacan konstatierten ›Spaltung‹ oder Durchstreichung des Subjekts zu tun, das sich selbst als Subjekt zwar denken, aber nicht erkennen kann. Zum anderen hat es damit zu tun, dass wir den Großen Anderen selbst nicht imaginieren und auch nicht realisieren, sondern nur symbolisieren können. Zuletzt hat der Terminus des »reinen Mangels« etwas von der Reinheit des kantischen Apriori, das sich – wie etwa die Idee der Vernunft – eben nicht sinnlich darstellen lässt (nur mittels symbolischer Hypotyposen). Baas vermutet
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lust (wie etwa die mütterliche Brust) zurückgreifen muss, um seine Kraft zu entfalten; diese Lehre (mit ›h‹ und mit ›e‹) mündet ein in die Lektüre von Kant mit Sade. Sie ermöglicht eine vierte Besetzung: – Der große Andere ist nichts anderes als das großgeschriebene Gesetz (LOI) des Begehrens selbst, welches – um eine Zuspitzung von Slavoj Zizek aufzunehmen –, uns imperativisch die »Pflicht zu Genießen« auferlegt und die Ermöglichung dieser ›Pflichterfüllung‹ zugleich untersagt. Für Zizek ist genau dieses imperative ›Enjoy!‹ der Coca-Cola-Werbung die Falle, in die uns unser eigenes Begehren immer wieder verstrickt. ^ ^
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Ich habe Einwände vor allem gegen den dritten Punkt, den des ›reinen Mangels‹ betreffend. Dieses Konzept, das eine Positivierung des Mangelkonzepts anstrebt, wirkt wie eine Retourkutsche auf die Idee des »phantasmatischen Anderen«. In beiden Fällen fragt man sich, wenn der Mangel so total ist, dass ihm nichts mehr fehlt, wenn das Phantasma so dicht ist, dass es durch nichts mehr zu enttäuschen oder zu erschüttern ist, wenn der beinahe adornitisch anmutende Verblendungs- oder Verfremdungszusammenhang wirklich so total ist wie beschrieben, warum soll man dann überhaupt noch von Mangel und Phantasma sprechen? Man wird einwenden, es gebe bei Lacan den Begriff der ›Verwerfung‹ (forclusion), der genau auf die Durchlöcherung abhebe, wenn das unerfahrbare ›Reale‹ dennoch wie ein ›nie aufgehender Rest‹35 die Reinheit des Symbolischen wie Imaginären sogar, dass das berühmte Objekt a, das später mit dem Begriff des Phantasmas zusammenfällt, Lacans eigene Hagiographie des apriorischen Objekts schlechthin, dem Ding an sich, sein könnte. ^ ^
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Vgl. Slavoj Zizek: Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und
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beschmutze. Nun, für meinen Geschmack sind die Verwerfungen doch nicht verwerflich genug, um die Idee eines »reinen Mangels«, der die Probleme des Phantasmas nur fortschreibt, wirklich aufrechtzuerhalten. Wenn es an allem fehlt, dann ist auch nichts Produktives mehr da: Aus Nichts soll Etwas werden, darüber verzweifelt schon die hegelsche Logik. Deshalb nur soviel: Ich fürchte, dass das Beharren auf einer grundlegend phantasmatischen Struktur des Anderen auch die ganze Anerkennungsproblematik der Phänomenologie lahm legt. Verstehen wir also das Phantasma als Lacans subtile Rache an seinen Lehrern. Wenn es am Ende nur noch darum geht, nicht den Anderen in seiner Andersheit, sondern nur die Andersheit des Phantasmas gegenüber dem niemals erfahrbaren ›Realen‹ anzuerkennen, dann ist das eine – zwar schicke – aber künstliche Beschneidung des spekulativen Denkens.36 Dieser Mangel an spekulativer Kraft passt auch zu dem Mangel an Neugierde, dem Mangel an Lust, passt zu der gesamten De- und Entsexualisierung, die Lacan in Kant mit Sade durch sein tief in die Fiktionalisierung getriebenes Begehrens- und jouissance-Konzept vornimmt.
die damit zusammenhängenden Gegenstände. Aus dem Englischen von Erik Vogt, Wien: Passagen 1996.
^ ^
36 Von allen Lacanianern ist es wohl nur Zizek gelungen, Lacan aus dem Phantasma einen Strick zu drehen, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er weiß sehr gut, dass es das Schwerste von allem ist, überhaupt das Begehren wieder zu lernen. Aber genau das muss man ler^ ^
nen, wenn man ihm ›treu‹ sein will. Zizek ist – so provokant er sich gibt – deshalb auch vor allem ein klug gewordener, von der Philosophie des Idealismus und des freien Subjekts beseelter Aufklärer, der machtbewusst genug ist, zu wissen, dass er nicht als Moralist, sondern nur als Ketzer Gehör finden wird.
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Was Lacan vergaß: Die Lust an der Verführung Für meine Begriffe ist das Moment der Neugierde, des Übermuts, der Lebensfreude, der Lust und Reiz am Neuen, ist das ›Spiel mit dem Feuer‹ konstitutiver für die Erfahrung von Begehren, als es Fragen der Andersheit, der Fremdheit und der Anerkennung je sein können. Begehren ist nichts Passives, Gottergebenes. Es lässt sich nicht trennen von einer Lust, zu verführen, denn es gibt in ihm einen realen Überschuss an Möglichem, eine völlig irrationale Zuversicht in den Ausgang der Dinge, welcher das positive Besetzen von Veränderung und Wandel überhaupt erst möglich macht.37 Begehren ist der Antipode der Angst, das universale Lockmittel, um in das Spiel von Verführen und Verführtwerden einzutreten. Es ist genau das, was der Furcht vor Veränderungen trotzt und das Neue möglich macht. (Insofern glaube ich auch nicht, wie Lacan, dass das ›reine Begehren‹ objektlos wie ›die reine Angst‹ zu sein hat.) Begehren – wenn es denn nicht in Sprache, sondern in wirkliche Verführung mündet – ermöglicht eine beschleunigte und sehr intensive Form des Größer- und auch Kleinerwerdens, ein rapides geistiges und seelisches Wachstum. Begehren zielt auf Transformation und Transfiguration des Eigenen, Aneignung von Neuem, Unbekanntem. Es funktioniert eher wie Lewis Carrolls Hasenloch und Alicens Trä37
»Vielleicht liegt dieser ›blinde‹ Fleck ja in einer unkritischen Übernahme begründet. Lacan konstatiert, dass uns das Werk de Sades »[n]iemals […] den Erfolg einer Verführung vor[führt]: mit der sich das Phantasma schließlich doch noch krönen würde: eine Verführung, bei der das Opfer, und sei’s nur in seiner allerletzten Zuckung, der Absicht des Peinigers zustimmen würde bzw. sich seinerseits durch den Antrieb dieser Zustimmung mitreißen ließe.« – Jacques Lacan: Schriften II, S. 159.
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nensee, als dass es funktionierte wie Hegels Herr-Knecht-Verhältnis. Gegen Lacans Intellektualisierung und Fiktionalisierung des Begehrens ist deshalb zu fragen: Hat die Anerkennung seiner Selbst und des Anderen (durch den Anderen) wirklich etwas im Diskurs über Lust und Begehren zu suchen? Geht es nicht um etwas Unmittelbareres, Ungerichteteres, Leidenschaftlicheres, Körperliches? Etwas, das man Verführungskraft und Verführungsmacht nennen könnte?
Kräfte – Affekte; Affizierungen – Verführungen Wenn ich es wage, über diese heiklen Dingen zu sprechen, dann, weil ich meine, dass beide Termini, Begehren (désir) wie Lust (plaisir) elementare Züge des Kraftbegriffs erhellen, der für diese Studie Titel gebend ist. Kraft ist etwas Operatives und Relationales. Weil der Begriff relational ist, geht es immer um Kräfteverhältnisse und damit niemals um eine, sondern immer um mehrere und unterschiedliche Kräfte, die zueinander ins Benehmen gesetzt werden müssen. Eine Kraft ist nicht einfach etwas, was auf anderes wirkt. Sie vermag ihre Wirkungen nicht einfach zu exekutieren, ohne ihrerseits durch die Wirkungen, die sie hervorruft, verändert zu werden. Der französische Philosoph Gilles Deleuze definiert sie in seinem Foucault-Buch (F) wie folgt: als »Vermögen (pouvoir) […], andere Kräfte zu affizieren (mit denen sie in Beziehung steht) und von anderen Kräften affiziert zu werden. Anreden, veranlassen, produzieren […].«38 Kräfte sind füreinander ein jeweils »›irreduzibles Gegenüber‹« (F, 101). Darin besteht ihr grundlegend relationaler Charakter. Dieser erlaubt zweierlei: die Fähigkeit zur Beeinflussung und die Fähigkeit zum Widerstand: beeinflussen, weil man selbst widerstehen kann, af38 Gilles Deleuze: Foucault. Aus dem Französischen von Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 100.
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fizieren, weil man dabei gleichzeitig selbst affiziert wird. Sind das nicht ihrerseits Umschreibungen, für das, was das ewige Spiel der Verführung heißt? Aus dem Wechselspiel aus spontanen und rezeptiven Momenten entsteht das, was man ein ›Kräftefeld‹ nennen könnte. Bei Deleuze und Foucault heißt es ›Diagramm‹. Vor allem Deleuze bezieht sich in der Wahl seiner Begriffe, im Reformulieren des alten actio=reactio-Theorems, auf Kant. Dessen grundlegende Unterscheidung zwischen intelligibler und sinnlicher Welt ist auf dem Gegensatzpaar ›spontan/aktiv‹ und ›reaktiv/passiv‹ aufgebaut. Aber auch der Begriff der ›Affizierung‹, Berührung, Verführung oder Ansteckung, den Deleuze als Brückenbegriff vorschlägt, um den doppelten oder zwei- und mehrseitigen Charakter einer jeden Kraft auszudrücken, spielt eine wichtige Rolle bei Kant. Affizieren – anstecken, anrühren, in Bewegung setzen, sensibilisieren, verführen – ist Kants Verb, das sich zum in der Kritik der reinen Vernunft viel gebrauchten Substantiv ›Affektion‹ gesellt.39 Heinrich Ratke meint, gleich fünf 39 Ohne jeglichen psychologischen oder physiologischen Nebensinn meint es, dass etwas das Bewusstsein anregt, was entweder zur äußeren oder inneren Wahrnehmung zu zählen ist; meint »die Wirkung eines Gegenstandes auf unsere Vorstellungsfähigkeit« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, , S. 33f., S. 61, S. 522) und wird an anderen Stellen auch als »Empfindung« übersetzt. Kant zieht auch das Phänomen der »Selbstaffektion« oder der »Aufmerksamkeit« gegenüber den eigenen inneren Zuständen in Betracht, insbesondere das Inkontakttreten mit dem so genannten »inneren Sinn«. Dieser spielt bei Kant die Rolle des ›inneren‹ Zeit- und Taktgebers; weshalb man auch vom Zeitsinn oder Sukzessionsbewusstsein sprechen kann. Der ›innere Sinn‹ ist Voraussetzung dafür, dass die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Wahrnehmung überhaupt unter einen Begriff des Verstandes fallen kann, ohne dass diese Komprimierung die Mannigfaltigkeit als solche depotenzie-
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verschiedene Verwendungsweisen unterscheiden zu können: (1) alles, was das Bewusstsein anregt, (2) alles, was das Bewusstsein daraus macht (Empfindungen), (3) Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber (Selbstaffektion), (4) Anschauung empirischer Gegenstände und (5) Anregung des Gemüts durch intelligible Gegenstände.40 Während die erst genannte Bedeutung der Affektion im Sinne von »das Bewusstsein anregen und verführen«, egal, ob als intelligibler oder sinnlicher Gegenstand, als summa summarum der später genannten Verwendungsweisen taugt, umspielen die Punkte zwei bis fünf das Doppelverhältnis aus Innen und Außen, empirisch/sinnlich und transzendental/unsinnlich. Die Affektion ist eine Wirkung in zwei entgegengesetzte Richtungen, sie ist doppel- oder beidseitig wie jede Form der Verführung. Genau diese scheinbar paradoxe Eigenschaft, welche jede Affektion gleichzeitig als Wirkung und als Ursache erscheinen lässt, macht sich Deleuze zunutze, wenn er seinen Kraftbegriff mit eben dieser – dem Konzept der Verführung eigenen – Doppelgesichtigkeit des Affizierens und des Affiziertwerdens bis hin zur Selbstaffektion ausstattet.41 Deleuze wird nicht müde, dieses verführerische »Sich-durchsich-Affizieren« (F, 140) bei Foucault als ›ethisches‹ Prinzip und ren würde. Affektion ist ganz allgemein der Name für die Art oder Form der menschlichen Anschauung in Bezug auf das Subjekt. Aber der Begriff findet auch Verwendung zur Charakterisierung der Einflussnahme durch transzendentale oder intelligible Objekte, reine Vernunftsideen etwa. 40 Heinrich Ratke, Systematisches Handlexikon zu Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Hamburg: Meiner 1991, S. 4f. 41 »Die Fähigkeit, affiziert zu werden, ist gleichsam eine Materie der Kraft, und die Fähigkeit zu affizieren ist gleichsam eine Funktion der Kraft« (Gilles Deleuze: Foucault, S. 101 [i. O. kursiv]).
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als ›erzieherische Doktrin‹ auszulegen. Wer dessen Rede vom »Außen« ohne Innen nie begriffen hat42, wird hier plötzlich fündig werden, wenn es heißt: »Das ist es, was die Griechen getan haben: sie haben die Kraft gefaltet, ohne daß sie aufhörte, Kraft zu sein. Sie haben sie auf sich selbst bezogen« (F, 141). Und nur deshalb können allein »freie Männer« andere beherrschen, weil sie zur Selbstbeherrschung erzogen und fähig sind. »Die Beherrschung des anderen muß sich zur Selbstbeherrschung verdoppeln« (ebd.). »Weit davon entfernt, die Innerlichkeit, die Individualität, die Subjektivität zu ignorieren, haben sie das Subjekt erfunden, aber als Ableitung, als Ergebnis einer ›Subjektivierung‹« (ebd.). Die Arbeit der Subjektivierung besteht darin, die eigene Kraft auf sich selbst zu beugen, auf sich selbst zu beziehen, bevor sie auf andere bezogen und gegenüber anderen ausgespielt wird. Aus dieser Selbstbeugung ist die ›Beziehung zu sich‹ – als Voraussetzung für Subjektbildung – der Legende nach entstanden. Ich schreibe, der Legende nach, weil Foucaults Antiken-Rezeption nicht frei ist von Idealisierungen. Vielleicht ist es aber auch nur das Befremden, das wir heute dieser Selbstbeherrschung entgegenbringen, was uns an Foucaults Darstellung zweifeln lässt. (Wir glauben nämlich, wir würden als Subjekte gebo42 »Es ist, als ob die Beziehungen des Außen sich falteten, sich krümmten, um eine Doppelung zu bewirken und einen Bezug zu sich entstehen zu lassen, um ein Innen zu konstituieren, das sich in einer ihm eigentümlichen Dimension vertieft und entwickelt: die ›enkráteia‹, die Beziehung zu sich als Beherrschung, ›ist eine Macht, die man über andere ausübt‹ (wie könnte man die anderen zu beherrschen beanspruchen, wenn man sich nicht selbst beherrschte?), so daß die Beziehung zu sich zum ›inneren Regulationsprinzip‹ im Verhältnis zu den konstituierenden Mächten der Politik, der Familie, der Beredsamkeit und der Spiele, ja sogar der Tugend selbst wird.« – Gilles Deleuze: Foucault, S. 139f.
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ren und könnten frei und gleich an Rechten bleiben, ohne uns in Selbstbeherrschung und Askese üben zu müssen. Wir haben nicht einmal mehr den Anspruch, jemanden beherrschen zu wollen oder zu müssen, aber genau deshalb kümmern wir uns auch nicht um uns selbst, geschweige denn, dass wir uns in der Kunst der Selbstbeherrschung übten.) Deleuze begreift sehr genau, dass die Ausbildung einer »›ästhetischen Existenz‹« (F, 141) oder einer »Ästhetik der Existenz«43 an eine weitere Bedingung geknüpft ist, welche die Selbstbeherrschung mit der Sexualität auf unnachahmliche Weise verknüpft. Bekanntlich sind die drei foucaultschen Spiel- und Einsatzkarten Wissen-Macht-Selbst durch das ›Übungsfeld‹ der Knabenliebe der Griechen mediatisiert. Foucault wird nicht müde zu betonen, dass nicht die gleichgeschlechtliche Ausrichtung der Libido das Problem sei, sondern eher die Art und Weise, wie sie gelebt werde. Denn es gehe in diesen Verhältnissen nicht um das Ausagieren eines Begehrens oder gar um das einfache Erlangen von Lust, sondern eher um eine ausgefeilte Pädagogik, um eine Art »Kampfbeziehung« (F, 149), die ein politisches wie ästhetisches Ziel habe, nämlich aus ursprünglich passiven Wesen (wie die bartlosen Knaben den Griechen erschienen) eines Tages »freie Männer« zu machen. Die Knabenliebe bei den Griechen wird Foucault nicht als Ausdruck einer libidinösen Objektwahl betrachten, nicht als genuin sexuelle Initiation. Der Geschlechtsverkehr unter ›väterlicher‹ Anleitung führt in die Techniken des Lustgewinns ein, nicht aber in die Spiele der sexuellen Objektwahl. (Die Gleichgeschlechtlichkeit erscheint dabei beinahe nebensächlich. Man kann das als Manko sehen, muss es aber nicht. 43 Vgl. Michel Foucault: »Eine Ästhetik der Existenz. Gespräch mit Alessandro Fontana«, in: ders., Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Aus dem Französischen von Marianne Karbe und Walter Seitter, Berlin: Merve o.J. [nach 1984], S. 133-141, hier S. 136.
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Lusterfahrung scheint auf jeden Fall von einem selbst abhängig zu sein, nicht vom Geschlecht des Gegenübers.) Worum es geht, ist der dahinter liegende, der Polis nützliche politische Initiationsritus – mit kaum kaschiertem propädeutischem Hintergrund. Es handelt sich deshalb bei der griechischen Knabenliebe um eine zeitlich eng begrenzte Praxis, in der ein rezeptives in ein aktives Kräfteverhältnis transformiert werden muss. Deleuze stellt nun die für unseren Zusammenhang entscheidende Frage: »Das Sich-durch-sich-Affizieren, ist das eher Lust oder eher Begehren?« (F, 149) und schon die Reihenfolge der Aufzählung der möglichen Antworten verrät, wohin die Reise geht, selbst wenn die Antwort letztlich ›weder noch‹ lauten sollte. Was Deleuze entlang Foucaults Analyse der griechischen Knabenliebe beschreibt, ist die exemplarische Beugung der Kraft des eigenen Begehrens, die Zähmung der eigenen Lust. Die Selbstbeherrschung ist der Lohn aber auch der Tribut, der für das Aktiv-Werden der eigenen Kräfte gezahlt wird und gezahlt werden muss. Die Präferenz für das Aktiv-Werden der Kräfte lässt sich bis in die erste Kolaboration von Deleuze und Foucault zurückverfolgen. Foucault wurde durch das Buch Nietzsche und die Philosophie (N) auf Deleuze aufmerksam. Bereits auf den ersten Seiten ist dort der bis in die späten Jahren hinein gültige Kraftbegriff entfaltet: – »Das Sein der Kraft ist plural; es wäre geradezu absurd, die Kraft singulär zu denken« (N, 11). Hierin gründet auch die Einschätzung, die nietzscheanische Philosophie basiere auf einem irreduziblen »Pluralismus« (N, 8). – »Eine Kraft ist Beherrschung, aber ebenso das Objekt, an dem sich Herrschaft vollzieht« (N, 11), d.h., sie ist aktiv und reaktiv zugleich.44 44 Mit Nietzsche präzisiert Deleuze die vier wesentlichen Bedeutungen:
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– Immer geht es um eine Kraft, »die sich auf eine andere Kraft bezieht« (N, 11), d.h., sie ist affizierend und selbst Gegenstand von Affizierungen. – Die reaktiven Kräfte liegen – für Nietzsche, wie für Foucault und Deleuze – immer auf der Seite des Bewusstseins (N, 47), während wir nicht wissen, »was ein Körper kann, zu welcher Aktivität er fähig ist« (ebd.). Im III. Teil seiner Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, die sich dem »Ursprung und der Natur der Affekte« widmet, heißt es bei Baruch de Spinoza, dass der menschliche Körper »auf viele Weisen affiziert werden« kann, »durch die seine Wirkungskraft« wiederum »vermehrt oder vermindert«45 wird, worauf der Lehrsatz 2 sogleich richtig stellt: »Allerdings, was der Körper vermag, hat bisher noch niemand festgestellt.«46 Ausgehend von Spinoza skizziert Deleuze in seinem zweiten Kinobuch ein Spektrum unausgeloteter Körperkräfte, wenn er fordert: »›Gebt mir einen Körper!‹ ist die Formel für den philosophischen Um»(1) Aktive Kraft, Macht zu wirken oder zu befehlen; (2) Reaktive Kraft, Macht zu gehorchen oder zum Wirken gebracht zu werden; (3) Entwickelte reaktive Kraft, Macht zu spalten, zu trennen, abzusondern; (4) Reaktiv gewordene aktive Kraft, Macht, getrennt zu werden, sich gegen sich selbst zu kehren«. – Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991, S. 70f. 45 Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (1677), darin: III. Teil. »Von dem Ursprung und der Natur der Affekte, Forderungen 1«, übers. und mit Anmerkungen von Otto Baensch, mit einer Einleitung von R. Schottlaender und einer Biographie von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 1994, S. 110. 46 Baruch de Spinoza: Die Ethik, III. Teil, Lehrsatz 2, S. 113.
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sturz. Der Körper ist nicht länger ein Hindernis, das das Denken von sich selbst trennt und das es zu überschreiten hat, um zum Denken zu gelangen. Statt dessen versenkt es sich in ihn, ja, es muß sich sogar in ihn versenken, um das Ungedachte, das heißt das Leben zu erreichen. Zwar denkt der Körper nicht, doch unnachgiebig und unbeugsam zwingt er zum Denken und zwingt das zu denken, was sich dem Denken entzieht – das Leben. Man wird nicht länger das Leben in die Kategorien des Lebens verlegen. Die Kategorien des Lebens sind genaugenommen die Verhaltensweise des Körpers: seine Stellungen. ›Wir wissen nicht einmal, wozu ein Körper in der Lage ist‹: in seinem Schlaf, seiner Trunkenheit, seiner Anspannung und seiner Willenskraft. Denken heißt begreifen, wozu ein nicht-denkender Körper in der Lage ist, nämlich begreifen, was seine Fähigkeit, seine Verhaltensweisen oder Stellungen sind. […] Der Körper ist niemals einfach in der Gegenwart, er enthält das Vorher und Nachher, die Erschöpfung und die Erwartung. […] Das alltägliche Verhalten versetzt das Vorher und Nachher, die Zeit, in den Körper, es macht den Ablauf der Zeit am Körper sichtbar. Das Verhalten des Körpers setzt das Denken in einem Bezug zur Zeit als ein Außen, das unendlich ferner ist als die äußere Welt.«47
Der Körper wird für Deleuze in dem Maße zum utopischen Ort noch ungeahnter aktiver Kräfte, in dem er sich mit dem scheinbar automatischen Faktum des Reaktiv-Werdens der aktiven Kräfte bei Nietzsche befasst. Der Kräftedynamismus führt »zu einer betrüblichen Schlussfolgerung. Wenn die reaktive Kraft die aktive von dem trennt, was sie kann, dann wird diese ihrerseits reaktiv« (N, 71). Wir sind damit beim genauen Gegenteil dessen angelangt, was die Griechen unter einer »aktiven« Kraft und einem »freien Mann« verstanden haben. Die reaktiv gewordene, ehemals aktive 47 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Kino 2. Aus dem Französischen von Klaus Englert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 244.
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Kraft ist für Nietzsche die fürchterlichste von allen, nämlich die »Macht getrennt zu werden, sich gegen sich selbst zu kehren« (ebd.), während es den Griechen – zumindest in Foucaults Analyse – gerade darum ging, die Kraft dadurch aktiv werden zu lassen, dass sie ›um sich selbst‹ gebeugt und so beherrscht wurde, damit sie über andere herrschen konnte. Die gelungene Selbstbeherrschung des ›Freien‹ – frei von inneren und äußeren Zwängen – erst legitimierte für die Griechen die Beherrschung der Unfreien. Vielleicht erklärt sich aus der Abkehr Foucaults vom reaktiven Kräftekonzept Nietzsches der Dissens, der später mit Deleuze über die Frage der Mikrophysik der Macht in puncto désir ou plaisir entbrennen wird. Deleuze teilt unterdessen Nietzsches pessimistische Einschätzung48, wonach »der Mensch im Innersten seiner selbst reaktiv« ist, weil »Ressentiment, schlechtes Gewissen und asketisches Ideal« nicht einfach »Merkmale einer Psychologie« sind, sondern – Polemik oder nicht! – »das Fundament der Humanität des Menschen« (N, 72). Der Gedanke der »Züchtung«, der »Selektion« wie der »ewigen Wiederkehr« wird von Deleuze sodann als Versuch gelesen, dem Kreislauf des Reaktiv-Werdens aller Kräfte zu entrinnen und ein anderes Werden zu denken, ein Werden, das sich zur Aktivität und ›raubtierhaften‹ Unschuld der Kraft wie zur Bejahung des Zufalls bekennt. Die Anstrengung wird im Folgenden darin bestehen, zu erklären, unter welchen Bedingungen wir hoffen können, dass Kräfte affirmatorisch und bejahend werden, statt verneinend und nihilistisch zu bleiben (N, 75). Es bedarf bei Deleuze somit einer ei48 »Es bleibt dabei, daß wir kein anderes Werden fühlen, erfahren, erkennen als das Reaktiv-werden. Nicht nur die Existenz reaktiver Kräfte stellen wir fest, sondern allenthalben ihren Sieg. Wodurch siegen sie? Durch den Willen zum Nichts, dank der Affinität der Reaktion zur Verneinung« (Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 71).
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genen Kraftanstrengung, eines auf die ›Große Gesundheit‹ bedachten Exerzitiums, um die menschlichen Kräfteverhältnisse vor ihrer Regression zu bewahren. Für Foucault hingegen ist dies Aufgabe einer klugen Sexualpolitik, welche – Lust ermöglichend, allerdings ohne begleitende Begehrenslehre – zugleich den propädeutischen Erfordernissen einer Polis genügt und damit legitimiert ist. Deleuze scheint diese Lösung suspekt zu sein. Jedenfalls lässt er nicht locker, wenn er sich fragt, ob das von Foucault beschriebene »Sich-durch-sich-Affizieren« eher ein Verhältnis von Lust oder Begehren impliziert.
Worüber streiten Deleuze und Foucault? Der für die Beantwortung der Frage maßgebliche Text ist der eingangs erwähnte indirekte ›Brief‹. Foucault wird als Michel angesprochen, doch niemals mit ›Du‹ adressiert. Die Notizen sind geordnet unter die Buchstaben A bis H. Hier eine Zusammenfassung seiner wichtigsten Inhalte: (A) »Macht [ist] keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert.«49 Die Leistung von Überwachen und Strafen besteht für Deleuze in drei Momenten: erstens, dass man, wenn man über die ›Geburt des Gefängnisses‹ schreibt, keine ›Theorie des Staates‹ mehr braucht, wie es in linken Kreisen üblich war. Zweitens, dass sich mit dem Begriff der ›Dispositive der Macht‹ eine Überwindung anbahnt. Der noch in der Archäologie des Wissens spürbare Dualismus aus diskursiven (sagbaren) und nicht-diskursiven (sichtbaren) Formationen wird aufgeweicht. Drittens, und das ist für Deleuze eine Konsequenz aus den erst genannten 49 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 229.
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Punkten: Der Machtbegriff von Foucault ist weder repressiv noch ideologisch besetzt.50 (B) Dennoch bahnt sich in Überwachen und Strafen ein Konflikt an, der mit zwei getrennten Wegen der berühmten ›MikroAnalyse der Macht‹ zu tun hat. (Ein Terminus, der im ganzen Buch nur an etwa drei verschiedenen Stellen auftaucht51): Zum einen werden diese Dispositive als dispers, disparat und irreduzibel heterogen beschrieben, mit einer Tendenz zur Verflüchtigung oder – mit Derrida gesagt – Dissemination. Zum anderen aber scheinen sie insbesondere im zweiten Teil des Buches doch recht nahtlos aufzugehen im Programm des Panoptikums, das die gesamte Kasernen-, Krankenhaus- und Gefängnis-Architektur zu beherrschen beginnt. Die Mikrophysik verflüchtigt und vervielfältigt nicht länger die Machtbeziehungen, sondern konzentriert sie auf subtile Weise: Sie funktioniert nach der ›BigBrother is watching you‹-Regel: Sie sieht dich immer und überall, ohne dass du sie sehen kannst. An dieser Stelle wird bereits erkennbar, wie die Mikrophysik der Macht in die Ökonomie des Begehrens selbst eingreift. (Slavoj Zizek hat sie in seinen Schriften zu einem regelrechten Wunsch, gesehen zu werden, ausgebaut.) Es genügt, dass sich jeder in einem Panoptikum beobachtet fühlt. Da niemand weiß, wann er wirklich, d.h. aktualiter gesehen wird, verhält er sich immer schon so, als sei dies der Fall.52 Die panoptische Architektur ist ein »Ebenbild des göttli^ ^
50 Das ist für Deleuze wichtig, denn er besteht seit jeher und bis zuletzt auf einer ›unschuldigen‹ Lektüre Nietzsches, auf einem unschuldigen Spiel des Äon, einem unschuldigen Demokrit; vgl. Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, S. 28-31. 51
Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 38ff., S. 191.
52 »Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen,
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chen Blicks« in Zeiten, in denen die Bindungskraft des christlichen Glaubens im Verschwinden begriffen ist. (C) Im ersten Band der (späteren) Trilogie Sexualität und Wahrheit verschiebt sich das Gewicht der Dispositive der Macht erneut. Sie sind nicht einfach nur »normierend«, sie werden »konstitutiv«, ja »wahrheitsbildend« für den gesamten Diskurs über Sexualität. Was Deleuze an dieser Radikalisierung besonders irritiert, auch wenn er sagt, es seien die Fragen der anderen, nicht die eigenen: Droht mit den normierenden Dispositiven ein Rückfall in ein »konstitutives Subjekt«53, gar in einen neuen ›Wahrheitsfetischmus‹? (D) Auf der Suche nach den Gründen für diese Zuspitzung der »Dispositve der Macht«54 – Dispositive meint den Zusammenschluss aus Erscheinungsformen und Wirkungsweisen von Macht (phänomenal/funktional) – wendet sich Deleuze der Frage zu, worin sich Mikro- und Makro-Analyse der Macht überhaupt unterscheiden: Ist es ein Größenunterschied? Handelt es sich um verschiedene Bezugsgrößen (Familie vs. Staat)? Ist es ein Maßstabsproblem? Oder nur ein ›äußerlicher‹ Dualismus, der dem nicht-ideologischen und nicht-repressiven Charakter des Kraft- und Machtbegriffs Foucaults Rechnung tragen soll? Die einzige Antwort, die Foucault schließlich akzeptiert hätte, scheint ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen. […] Die Sichtbarkeit ist eine Falle. […] Die Lage [e]ines Zimmers gegenüber dem Turm zwingt ihm [dem Häftling] eine radikale Sichtbarkeit auf.« – »Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Die Wirkung der Überwachung ›ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist‹« (Michel Foucault, Überwachen und Strafen, S. 257f.). 53
Vgl. Gilles Deleuze: Lust und Begehren, Berlin: Merve 1996, S. 14-39.
54 Ebd.
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die folgende zu sein: Die Makro-Analyse betrachtet Macht als etwas Strategisches, wie von langer Hand Planbares; die MikroAnalyse aber als etwas Taktisches, also als etwas, was sich von Fall zu Fall variabel auspräge.
Einschub: De Certeaus Kritik an Foucault55 Die für Deleuze entscheidende begriffliche Unterscheidung zwischen Taktiken und Strategien stammt von Michel de Certeau. Jede Strategie setze die »Berechnung von Kräfteverhältnissen«56 voraus, die nur an einem sicheren ›Ort des Eigenen‹ erfolgen könne, von dem aus operiert werde. Eine Taktik verdanke sich hingegen dem ›Wildern‹ in fremdem Territorium. »[Sie ist] ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann […]. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen«57 und bleibt damit abhängig von einer günstigen Gelegenheit. Naturgemäß ist de Certeau in Kunst des Handelns nicht mit Foucaults wechselvollem Begriffsgebrauch einverstanden. Bereits in seiner »Allgemeinen Einführung« kritisiert de Certeau Überwachen und Strafen. Sein Vorwurf: Foucault habe mit der ›Mikrophysik‹ nicht ernst genug gemacht, er sei in seinem Denken nicht weit genug gegangen, zu beeindruckt vom Machtapparat der Institutionen. Foucault selbst 55
Der folgende Einschub findet sich mit einigen Ergänzungen veröffentlicht unter: www.certeau.de/schaub.htm (Oktober 2003). Mein Aufsatz trägt den Titel: »Die Lust am Wildern in fremden Theoriegefilden. De Certeaus Taktik im Umgang mit Foucault und Bourdieu« und wurde am 18. April 2002 bei einem Certeau-Symposion der Katholischen Akademie in Berlin gehalten.
56 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 23. 57
Ebd.
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stellt diese Frage einmal, wenn er fragt: »Doch traut man den oft unscheinbaren Hinterlistigkeiten der Disziplin nicht zuviel zu, wenn man ihnen solche Macht zuspricht? Wie ist es möglich, daß sie so unabsehbare Wirkungen auslösen?«58 Wenigstens im ersten Teil seiner Untersuchung setzt sich Foucault intensiv mit dem ›minoritären‹ Gebrauch der öffentlichen Hinrichtungen auseinander (vgl. Kap. I. Bestrafung, Kap. II. Marter).59 Richtig ist aber auch, dass Foucault im Zuge der Umformung der Machttechnik in ein »Strafrecht des Körperlosen«60 um 1830 diese subversive Kraft schwinden sieht.61 Deleuze scheint das Grundproblem Foucaults auch für De Certeau zusammengefasst zu haben: Einerseits die Entdeckung einer notwendigen Mikro-Analyse der Macht, die deren nichtideologischem und nicht-repressivem Charakter gerecht wird, andererseits die schwierige Suche nach einem ›vereinheitlichenden‹ Prinzip bzw. Beobachtungs- und Analyse-Parameter, das den diffusen und parzellären Charakter nicht zerstört. Die Frage nach den Möglichkeiten des Widerstandes gegenüber der Macht im Foucault’schen Sinne bleibt prekär. Während Deleuze, Guattari und de Certeau Foucaults Konzept vorzuwerfen scheinen,
58 Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251. 59 So sei das Interesse des Pöbels am ›Fest der Martern‹ u.a. auch dadurch motiviert, dass es hören will, was der Verurteilte zu sagen hat in diesem letzten Augenblick, »in welchem nichts mehr verboten und strafbar ist« (ebd., S. 79). Foucault konstatiert: »Es gibt in diesen Hinrichtungen, welche die Schreckensgewalt des Fürstens kundtun sollten, etwas Karnevaleskes, das die Rollen vertauscht, die Gewalten verhöhnt und die Verbrechen heroisiert« (ebd.). 60 Ebd., S. 25. 61 G. de Mably, De la législation (1789): »Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele treffen als den Körper.«
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Widerstand sei gegen eine derartig ausufernde, im Kleinen wie im Großen regierende Macht zwecklos, propagieren sie selbst so etwas wie eine ›Graswurzel-Revolution‹, die – gut dialektisch – auf die unlösbaren ›Widersprüche‹ des Machtbegriffs selbst baut. De Certeau beispielsweise glaubt, dass die von Foucault entdeckte »observierende und disziplinierende gegenwärtige Technologie« als »Waffe zur Bekämpfung und Kontrolle von heterogenen Praktiken«62 eklatant unterschätzt werde.63 Er bestreitet nicht die Ausbreitung subtiler Überwachungstechniken im Zuge der scheinbaren Lockerung der Strafgewohnheiten einer Gesellschaft. De Certeau bestreitet jedoch, dass die ›Mikrophysik der Macht‹ effektiver, unentrinnbarer, unerbittlicher als die alte Makrophysik des Staates ist. Vielmehr will er »die untergründigen Formen ans Licht bringen, welche die zersplitterte, taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die heute von der ›Überwachung‹ [in Anführungszeichen! Anm. M. S.] betroffen sind«.64 De Certeau glaubt nicht daran, dass es »einer ganzen Gesellschaft gelingt, sich […] darauf [auf das Überwachtwerden, Anm. M. S.] reduzieren zu lassen« (ebd.). Müsse man nicht eher – Foucaults analytische Klugheit nutzend und seine beängstigende Kohärenz umschiffend – den nicht-diskursi-
62 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Die Erfindung des Alltäglichen, Berlin: Merve 1988, S. 110. 63 Aber sagt nicht Foucault in Überwachen und Strafen, dass die neuen Disziplinierungstechnologien »auch all die Kräfte bewältigen [müssen], die sich mit einer Bildung einer organisierten Vielfalt formieren; sie muß die Wirkungen der Gegenmacht neutralisieren, die der herrschenden Macht Widerstand entgegensetzen: Unruhen, Aufstände, spontane Organisationen, Zusammenschlüsse – alle Formen horizontaler Verbindung« (Michel Foucault, Überwachen und Strafen, S. 282)? 64 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, S. 16.
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ven Gestus offenlegen, der den Raum des Diskurses überhaupt erst eröffne?65 Müsse man nicht jene minoritären Praktiken untersuchen, die sich nicht gleich – wie das Panoptikum – zur leitenden Praktik eines ganzen Zeitalters ausweiten? Für de Certeau, den Verfechter der Taktik, welche Subversion durch Affirmation betreibt, sind es allein die klandestinen, nicht-diskursiven, nichtherrschenden Praktiken, welche die Abgedichtetheit des herrschenden Diskurses unmerklich – wie Mäuse die Käsevorräte – durchlöchern und seine Durchsetzungskraft schmälern.
Gefüge und Dispositive, ›agencement du désir‹ Für Deleuze stellt sich ein verwandtes Problem: Die Mikro-Analyse schaut nicht genug aufs Minoritäre. Die Dynamisierung, Entpathetisierung und Miniaturisierung, die Foucault in seiner Analyse der Macht – im Gewand alltäglicher Disziplinierungen – angedeihen lässt, nährt bei ihm den Verdacht, dass das dort analysierte Geschehen gar nicht mehr im nietzscheanischen Sinn von Macht begreifbar ist.66 Was mit ihrer Hilfe analysiert werde, sei
65 Ebd., S. 107. 66 An dieser Stelle wiederholt nun Deleuze die schon aus dem frühen Nietzsche-Buch (1963) und dem späteren Foucault-Buch (1986) bekannte Formulierung, dass die Materie der Kraft in ihrer »Fähigkeit, affiziert zu werden« (F, S. 101) liege, während ihre Funktion darin bestehe, ihrerseits zu affizieren. »Das Vermögen, affiziert zu werden, bedeutet nicht notwendig Passivität, sondern Affektivität, Sensibilität, Empfindung.« (N, S. 69f.). Von hieraus entwickele Nietzsche zunächst den Begriff des Machtgefühls, bevor er den berühmten ›Willen zur Macht‹ als Pathosformel und »›primitive Affektform‹« (zit. nach N, S. 70) entdeckt, die
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etwas viel Einfacheres, Schlichteres: Foucaults Mikro-Analyse stoße, freiwillig oder nicht, auf »agencement de désir«, »Gefüge des Begehrens«67 bzw. »Wunschgefüge«68 und die gehorchen anderen Gesetzen als die Makrophysik der Macht. Ganz allgemein bezeichnet Deleuze mit Gefüge etwas Heterogenes (z.B. die Verlängerung des Politischen in die Affekte des Privaten), das trotz erheblicher Widerstände gemeinsam funktioniert69, schlecht und recht wie eine ›Symbiose‹70 auf Zeit. (Stellen Sie sich eine Skulptur von Tinguely vor, oder denken Sie an die Leiterwagen aus den Buster-Keaton-Filmen, in denen ein zusammengeschustertes Gefährt voller Gerümpel gleichzeitig hupen, blinken und abbiegen kann.) Ein Gefüge oder ein Dispositiv kann sich z.B. aus den signifikant neuen Beziehungen bilden, die sich unter einer Feudalmacht zur Erde, zum Tier, zu den Frauen (Minne), zur Deterritorialisierung (Kreuzzüge) entstehen.71 In jedem neuen politisch, ökonomisch, kulturell bedingten, einmaligen Machtgefüge zirkuliere ein in sich heterogenes Begehren, materialisiere und dematerialisiere sich, verschmelze zu einer eigenen Wunschmaschine. Von Grund auf hybride, sind diese Gefüge weder natürlich, noch entstehen sie spontan, sie funktionieren stockend, fehlerhaft, gemäß einer Ökonomie, die der Dynamik der unbewussten Wunschproduktion zugeschrieben wird. den Kampf der mal reaktiven, mal aktiven Kräfte gleichzeitig abzubilden und zu dirigieren versuche. 67 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 19. 68 Gilles Deleuze: »Begehren und Lust«, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996, S. 233. 69 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 20. 70 Ebd. 71
Ebd., S. 19.
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Was Deleuze Foucault in der Folge vorschlägt, ist etwas Doppeltes: Zum einen versucht er den Begriff der Mikrophysik ernster als dieser zu nehmen, den Begriff der Macht indes leichter. Statt Mikrophysik zieht Deleuze den Terminus der ›Dispositive‹ oder ›Gefüge‹ vor. Zum anderen aber schreibt er dem Begriff der Macht selbst nicht nur eine andere Funktionsweise, sondern auch eine andere Genealogie zu. Immer wieder betont Deleuze: Das heterogene Begehren sei primär, seine Gefüge bildeten die ›Grundbestandteile‹ jeder Mikro-Analyse.72 Genau dieser Zusammenhang erleichtert die Antwort auf die – für Foucault offen bleibende – Frage, wie nämlich »die Macht«73 begehrt werden könne. Für den Nietzscheaner Deleuze ist die Macht selbst eine Folge, eine »Affektion des Begehrens«74, daher das »Primat des Begehrens über die Macht«.75 (E) Was tun die Dispositive der Macht innerhalb der ›MikroAnalyse‹? Während sie für Foucault normalisieren und disziplinieren, kodieren und reterritiorialisieren sie für Deleuze. Mit Reterritorialisieren ist das genaue Gegenteil von Dissemination, Verstreuung, Verteilung gemeint. Bei Foucault führen die Dispositive also zu neuem ›Bodengewinn‹. Sie arbeiten an der Schaffung eines ›Orts des Eigenen‹, wie Michel de Certeau sie für alle Strategien reserviert hat.76 Genau deshalb sind die Foucault’schen Dispositive in Deleuzes Augen letztlich repressiv, 72 Ebd., S. 21. 73
Ebd.
74 Ebd. 75
Ebd., S. 22. »Daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind […]«, notiert Friedrich Nietzsche im Frühjahr 1888 [S. 14; S. 121], in: Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 13, Nachlass 1887-1889, München: dtv 1999, S. 300.
76 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, S. 23.
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d.h., sie reduzieren Mannigfaltiges auf Homogenes, gleichsam gegen den Willen ihres Schöpfers. Während Deleuze den Begriff der Dispositive der Macht also zunächst für sich selbst fruchtbar zu machen sucht, wirft er – ähnlich wie de Certeau, der um die minoritären Praktiken jenseits des Herrschafts-Diskurses fürchtet – Foucault letzten Endes vor, mit der majoritären Ausarbeitung seiner Dispositive den minoritären »Gefügen des Begehrens ihre Spitzen nehmen«.77 Als Beispiel wählt Deleuze die Wirkungsweise des Sexualdispositives aus: Der Wille zum Wissen, welches zuletzt Sexualität auf die Geschlechterdifferenz reduziere.78 »Ich sehe da einen Repressionseffekt, genau an der Grenze von Mikro und Makro: die Sexualität als historisch veränderliches und bestimmbares Gefüge des Begehrens wird mit ihren Kombinations-, Strom- und Deterritorialisierungsspitzen auf eine molare Instanz, ›das Geschlecht‹ reduziert werden; und selbst wenn die Verfahren dieses Zuschnitts*
77 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 22f. ^ ^
78 Slavoj Zizek erklärt, warum diese Differenz in ihrer Absolutheit verfehlt wäre: »[J]edes der beiden Geschlechter [fungiert] als das innere Hindernis, aufgrund dessen das andere Geschlecht niemals ›vollkommen es selbst‹ ist: der ›Mann‹ ist dasjenige, aufgrund dessen eine Frau sich niemals völlig als eine Frau verwirklichen, ihre weibliche Selbstidentität erlangen kann, und umgekehrt materialisiert die ›Frau‹ das Hindernis, welches die Selbsterfüllung des Mannes verhindert.« – »Die sexuelle Differenz ist nicht die Opposition, welche jedem der zwei Geschlechter seine positive Identität zuweist, die in Gegensatz zum anderen Geschlecht definiert wird (so daß die Frau ist, was der Mann nicht ^ ^
ist und umgekehrt), sondern ein gemeinsamer Verlust.« – Slavoj Zizek, Sehr innig und nicht zu rasch. Zwei Essays über sexuelle Differenz als philosophische Kategorie, Wien: Turia + Kant 1999, hier S. 43f.
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nicht repressiv sind, ist der (nicht-ideologische) Effekt insofern repressiv, als die Gefüge zerstört werden.«79
Dieser ›Repressionseffekt‹ – es bleibt unklar, ob Foucaults Beschreibung diesen Effekt nur suggeriert oder ob sie den historischen Tatsachen sekundiert – zerstöre die gesamte ›Mikro-Realität‹ des Begehrens selbst. Es habe nur noch einen Fortbestand als ›Fantasma‹ – Deleuze schreibt das nicht ohne Ekel und Widerwillen; désir verkomme bei Foucault zu einer ›schamhaften‹ Angelegenheit. (F) Im Gegenzug versucht Deleuze eine positive Beschreibung der ›agencements de désir‹ zu geben, eine taktische Einschätzung dessen, was der strategischen Ausrichtung der Foucault’schen Machtdispositive zuwiderläuft. Statt zu reterritorialisieren, müsse man die Idee von Fluchtlinien fruchtbar machen, welche ein heterogenes Begehren in ein gesellschaftliches Gefüge zu schlagen in der Lage sei.80 Mit dem Gedanken einer deterritorialisierenden Fluchtlinie eröffnen sich eine Reihe von Fragen, die zugleich Deleuzes implizite Foucault-Kritik beinhalten:81 Die erste lautet: Wie ist Widerstand gegen die von Fou79 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 23; ders.: »Begehren und Lust«, S. 234. 80 Diese Idee wird Deleuze drei Jahre später mit Guattari in Mille Plateaux weiterführen, an dieser Stelle bleibt es bei einem Versprechen auf ein Mehr an Virtualität, Flexibilität, an Verströmungs- und Verteilungskapazität. Es ist Deleuzes Freude am Anarchismus des Kleinen, der sich hier Luft verschafft. 81 Wenn aber tatsächlich jede Macht von einem Gefüge heterogenen Begehrens unterlaufen und durch Fluchtlinien durchkreuzt wird, dann erübrigt sich für Deleuze und Guattari das Widerstandsproblem gleichsam von alleine. Es wäre dann eine den Dispositiven inhärente Kraft, welche – langfristig – für das nötige zersetzende Material sorgt.
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cault beschriebenen Dispositive der Macht überhaupt möglich, wenn sie so gut funktionieren, wie vom Autor beschrieben, so gut, dass sie problemlos als französisches Pendant zu Adornos großem ›Verblendungszusammenhang‹ durchgehen könnten? Zweitens (in de Certeaus Richtung gesprochen): Falls es wirklich die von Foucault beschriebene »Wahrheit der Macht«82 gibt, müsste dann die Gegenstrategie nicht auf eine »Macht der Wahrheit«83 zählen, bevor diese selbst dogmatisch und repressiv zu werden droht? Und drittens, das eine Art Friedensangebot an den fernen Freund: Sind vielleicht gerade die Lüste (plaisirs) solche Gegen-Mächte? Könnten Deleuzes désir und Foucaults plaisir verwandte Kräfte sein? (G) Deleuze würde diese Frage offenbar gerne bejahen; nicht zuletzt, um das Zerwürfnis zwischen Foucault und sich zu kitten; allein, ihm fehlt der Glaube. So kehren seine Gedanken zurück zum letzten (Streit?-)Gespräch mit dem Freund. Das endet, so die fama, mit einem persönlichen Bekenntnis. Foucault tut seine Aversion gegen das Wort désir kund und begründet es mit dessen unausrottbarer ›Mangel-Struktur‹; während Deleuze die entsprechende Replik – wenn schon nicht im Vier-Augen-Gespräch, aber nun, im nachgereichten Brief – nachschickt: »[I]ch meinerseits, ertrage kaum das Wort ›Lust‹. Aber warum? Für mich beinhaltet Begehren keinen Mangel; es ist auch keine natürliche Gegebenheit; es ist nichts anderes als ein Heterogenen-Gefüge, das funktioniert; es ist Prozeß, im Gegensatz zu Struktur oder Genese; es ist Affekt, im Gegensatz zu Gefühl; es ist Haeccëitas (Individualität eines Tages, einer Jahreszeit, eines Lebens), im Gegensatz zu Subjektivität; es ist Ereignis im Gegensatz zu Ding oder Person.«84 82 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 28. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd., S. 30f.
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Affekt, Haeccëitas, Ereignis, das sind die drei Momente, mit denen Deleuze das Begehren – seine Erscheinungsweise, sein Auftreten, seine Wirkung – beschreibt. D comme désir – wie es später im für ARTE aufgezeichneten Abécédaire de Gilles Deleuze heißen wird – bleibt eine anarchische und anarchistische Kraft, die sich jeder Form von hierarchischer Form widersetzt. Deleuze mag auch das Wort ›joie‹ (Freude, Ausgelassenheit, Fröhlichkeit), allein, der Lust kann er »keinen positiven Wert beimessen«.85 Indem das Begehren auf die Erfüllung und den Lustgewinn bezogen werde (durch Foucault) und indem es (durch Lacan) auf das Gesetz, LOI, auf den Großen Anderen oder das Gesetz, zu genießen, bezogen werde, werde zugleich das dem Begehren eigene »Immanenzfeld negiert«.86 Gesetz einerseits und Lust andererseits stoppten die Fluchtlinien des Begehrens aus, finalisierten und skandierten sie, statt sie freizusetzen. Wer Présentation de Sacher-Masoch87 von 1967 gelesen hat, weiß, von welcher Praktik diese Gedanken ihren Ausgang nehmen: »Am Ende geht die masochistische Vereinigung sogar so weit, daß sie die sexuelle Lust als solche in ihre Bewegung hineinzieht: die Lust selber wird verneint, indem der Masochist sie so lange hinauszögert, bis er genau im Augenblick der Lustempfindung ihre Wirklichkeit verneinen kann, um dem ›neuen Menschen ohne Geschlechtsliebe‹ gleich zu werden.«88
Deleuze nimmt ausdrücklich den schon zuvor angeschlagenen 85 Ebd., S. 32. 86 Ebd. 87 Gilles Deleuze: »Sacher-Masoch und der Masochismus«, in: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, übers. v. Gertrud Müller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 165-281. 88 Ebd., S. 187.
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›persönlichen‹ Ton noch einmal auf, um einen Gedanken auszusprechen, der den meisten Lesern längst gekommen sein dürfte: »Ich sage mir, daß Michel Sade eine bestimmte Bedeutung beimißt, ich hingegen Masoch. Zu sagen, daß ich masochistisch bin und Michel sadistisch, kann nicht ausreichen. Das könnte stimmen, aber es ist nicht wahr.«89 Das könnte stimmen, aber es ist nicht wahr. Warum ist es nicht wahr, obwohl es stimmt? Was Deleuze bei Masoch interessiert, sind nicht die Schmerzen und nicht die Lust am Schmerz, sondern vielmehr, dass bei ihm die Lust als Hemmschuh, als Unterbrechung und Störung des Begehrens erkennbar wird.90 Deleuze reiht sich damit ein in eine Traditionslinie, die im Kynismus ihren Anfang nimmt und über den Stoizismus zu Ignatio von Loyola und den Quietismus verläuft. Diesen Denkströmungen ist gemeinsam, dass sie das Begehren als Komplizen der Lust brandmarken. Das durchaus natürliche Streben nach Lust verunmögliche die Entfaltung einer sich selbst genügenden Seele. Deshalb müssen Mittel und Wege gefunden werden, es zu unterbinden. So betont Deleuze, dass der Masochismus nur als Verhöhnung des väterlichen Gesetzes über das Konstrukt eines peniblen Vertrags deutlich wird: Der »Unterwerfungsvertrag mit der Frau [stellt] das Wesentliche dar. Sein Geheimnis besteht in der Auflösung des Bandes zwischen Begehren und Lust.«91 Und da dürfte Deleuze wohl recht haben: »Lust scheint mir für eine Person 89 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 32. 90 »Die Lust unterbricht das Begehren, so daß die Konstitution des Begehrens als Prozeß die Lust bannen und bis ins Unendliche zurückdrängen muß« (Gilles Deleuze: »Sacher-Masochs Re-Präsentation« in: ders., Kritik und Klinik. Aus dem Französischen von Joseph Vogl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 74-77, hier S. 74). 91 Ebd., S. 74.
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oder ein Subjekt das einzige Mittel zu sein, ›sich darin wiederzufinden‹: in einem Prozeß, der sie überwältigt.«92 Deleuze führt diesen Gedanken nicht näher aus. Aber er dient ihm dazu, eine Brücke zu schlagen zwischen den beiden Positionen: Begehren und organloser Körper auf der einen, Lust und Körperlichkeit auf der anderen Seite. Ausformuliert wird dieser Brückenschlag nicht, es bleibt bei einer Frage an Foucault. (H) Ob es nicht doch gelingt, aus den Widerstandslinien des désir neue Fluchtlinien zu schlagen? Warum sollte es nicht möglich sein, den Begriff des Körpers zu deterritorialisieren und ihn vor den Mechanismen der ›Bio-Macht‹ in Schutz zu nehmen? Und braucht es dazu nicht zwei verschiedene Gruppen von Intellektuellen, die einen, die (wie Foucault) direkt auf den Komplex von Wissen und Macht abheben und strategisch denken und die anderen, die (wie Deleuze) nur über ein ›minoritäres‹, partielles Wissen einer mehr geahnten als gelebten Gegen-Macht verfügen und dieses allein taktisch anwenden können? (Als Beispiel nennt Deleuze die Opposition aus Staats- und Kriegsmaschine, wie sie drei Jahre später in Mille Plateaux entfaltet wird.) Deleuzes Brief mündet in eine Patt-Situation, läuft auf ein klassisches Remis hinaus. Jede Antwort erübrigt sich, es gibt keine offenen Fragen mehr. Jeder der beiden Philosophen hat die Theorie, der er sich affektiv gewachsen fühlt. Hier der Vorwurf, die Lust und der Körper, welcher dieselbe erfahre, tendiere zur Reterritorialisierung, mache eine neue Art von Wahrheit und Subjektivität möglich (uncool! not ›pc‹!). Dort die Vorstellung, man könne und solle das Begehren ganz von der Lusterfahrung geschlechtlicher Körper entkoppeln, man könne es ›frei flottierend‹ als Fluchtlinie benutzen, welche unterhalb und oberhalb aller klassischen Konflikte verlaufe, jenseits der bekannten Widerstandsmöglichkeiten, unter- und oberhalb der Geschlechter92 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, S. 33.
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trennung, jenseits der körperlich lokalisierbaren Lusterfahrung, unter- und oberhalb der Frage von Schuld und Sühne, jenseits von Überwachen und Strafen, ein unschuldiges und anorganisches Werden in zwei einander ausschließende Richtungen gleichzeitig. Man mag darüber denken, wie man will. Ich will nicht verhehlen, dass ich die Verbindung aus Lust/Körperlichkeit zwar für die anstrengendere, aber auch interessantere Verbindung halte, weil sie das Begehren/Verlangen in ein Konzept der Verführung und der Verführbarkeit auch in das Risiko eines möglichen Scheiterns einbettet, das mir – auch in seinen schmerzvollen und lehrreichen Seiten – bewahrenswert erscheint. Mit häuslichen Cyborg-Phantasien und virtuellem Internet-Sex verbinde ich eine Reihe von Attributen wie Eskapismus, Misanthropie, Bequemlichkeit, die alle auf gähnend langweilige Selbstbefriedigung hinauslaufen. Solange die Lust am Spiel der Verführung aus dem Diskurs wie den herrschenden Praktiken der Partnerwahl verbannt bleibt, weil man die Gefahr des Scheiterns im voraus bannen will, gleichzeitig ›guter Sex‹ zur kulturellen Norm und ersten Bürgerspflicht erhoben wird, werden im Gegenzug auch unsere theoretischen Vorgaben an das Begehren immer überzogener. Ohne Verführung als Bindeglied zur Lust, ohne die Freude an der bloß temporären und spielerischen Macht über einen anderen Menschen, gerät ein anerkennungsfixiertes und entsexualisiertes Begehrenskonzept, das auf striktem noli-me-tangere besteht, zum Zerrbild einer Angstkultur, deren Körperwahn nur unvollständig deren Leibfeindlichkeit kaschiert. Weder ist das Begehren an sich unendlich und körperlos noch die Lust an sich endlich und körperlich. Gegen die klassische weibliche Zuteilung einer weiblichen ›Metaphysik des Begehrens‹ und einer männlichen ›Physik der Lust‹ möchte ich vorschlagen, eine Metaphysik der Lust mit einer Physik des Begehrens zu koppeln.
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»Der Sex-Appeal des Anorganischen« Spekulation beiseite: Kulturhistorisch betrachtet ist Deleuze der Gewinner des Streits unendlicher désir und endlicher plaisir. Sieht man sich jüngere Veröffentlichungen an, insbesondere Mario Perniolas Sex-Appeal des Anorganischen93, ahnt man, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest in der westlichen Gegenwartskunst eine Fusion aus sinnlicher und dinglicher Welt stattgefunden hat, die als notwendiger ästhetischer Reflex auf die vollends fetischisierte Warenwelt des Kapitalismus erscheint. Es ist phantastisch zu sehen, wie konsequent in unserer Kultur die Sexualisierung der Dingwelt erfolgt. So richtig die Diagnose sein mag, Perniolas philosophische Ätiologie des Gedankens bleibt beklemmend. Seiner Genealogie, angefangen mit Descartes’ ›denkendem Ding‹, über Kants ›Ding an sich‹, Heideggers ›Zeug‹ und schließlich Lacans ›objet a‹, ist, so viel lässt sich sagen, die Kohärenz großer Suggestivkraft eigen. Im Hintergrund der philosophisch forcierten Versöhnung von sensibler und nicht-intelligibler Welt schwelen Fragen, die – Perniola nimmt sie zur Legitimierung eigener Thesen – schon die hedonistischen Kyrenaiker im 4. Jahrhundert v. Chr. umtrieb: Welche Beziehung besteht zwischen sexueller Lust und dem Streben nach Erkenntnis? Historisch betrachtet ergeben sich zwei Antwort-Traditionen: »Die erste […] bewahrt die von Aristippos festgestellte Beziehung zwischen Philosophie und Genuß, reformiert aber den Begriff des Genie93 Der Titel stammt von Walter Benjamin. In »Grandville oder die Weltausstellungen« spricht er über das Universum der Waren und nennt den Fetischismus, »der dem Sex-Appeal des Anorganischen unterliegt« ihren Lebensnerv; vgl. Walter Benjamin: Das Passagenwerk, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. V/1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 51.
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ßens, indem er sozialisierende Elemente einführt, die die Sexualität ausschließen oder überaus einschränken: dieser Weg wird auf unterschiedliche Art von Platon, Aristoteles und Epikur verfolgt. Die zweite Antwort behauptet hingegen, daß die Philosophie mit dem Genuß nichts zu tun hat, und daß das Genießen auf jeden Fall vermieden werden soll: dieser Weg wird von einem anderen Schüler Sokrates’ eingeschlagen, von Antisthenes, und in der Folge von den Kynikern und den Stoikern. Der erste Weg rettet den Genuß, jedoch nicht die Sexualität […]. Der zweite Weg ist zweifelsohne asketisch und rigoristisch, eröffnet paradoxerweise einen unvorhergesehenen Horizont, worin die Sexualität ohne Genuß eine philosophische Erfahrung werden kann: die des Sex-Appeals des Anorganischen.«94
Perniola behauptet, dass sich im Zuge dieser Entwicklung die alte »organische, orgiastische, auf den Geschlechterunterschied gegründete Sexualität« verabschiede zugunsten einer »neutralen, anorganischen, künstlichen« und synthetischen Sexualität. Der Wechsel habe längst stattgefunden, von einer von Verlangen und Begierde gesteuerten Variante zu einer »Sexualität, die in einer abstrakten und unendlichen Erregung verbleibt, immer verfügbar ist, und die der Schönheit, dem Alter« (alle Zitate aus dem Klappentext), dem Ort und der Zeit keine Beachtung mehr schenkt. Ähnlich wie Deleuze versucht Perniola Libido nicht länger nach dem »Modell des Hungers«95 zu denken, sondern als die – in der Erfahrung des Reisens, des Musikhörens und des 94 Mario Perniola: Der Sex-Appeal des Anorganischen. Aus dem Italienischen von Nicole Finsinger, Wien: Turia + Kant 1999, S. 177f. 95 »Im Unterschied zu einer Seele oder einem Körper sättigt sich das empfindende Ding nicht: sein sexuelles Empfinden ist unendlich, und dank dieser Unendlichkeit erweitert es sich auf jede Kunst- und Kulturform in einer Art neutralem und unpersönlichem Pansexualismus« (ebd., S. 154).
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philosophischen Denkens präsente – Bereitschaft, sich »als empfindendes Ding zu geben und ein empfindendes Ding zu nehmen«. Für viele westliche Literaten und Künstler, die im letzten Jahrzehnt Furore gemacht haben, gilt diese Maxime. Man begreift auf einmal, worum es in Matthew Barneys Videos gehen könnte, in denen Dinge und Wesen ästhetisch vollendet miteinander agieren.96 Man begreift auch, warum Michel Houellebecq nur ein kleiner Skandalautor (und kein großer) ist: Er bleibt genau auf der Mitte zur Dingwelt stehen, obwohl er sich bereits als »empfindendes Ding« imaginiert, das sich in Swinger-Clubs aber doch noch handfest und qua Handarbeit in schützender Anonymität befriedigen lässt, bezeichnenderweise unter völliger Aussparung von Verführung.97 Die Fusion von Sinnlichkeit und Dinglichkeit, die Lust am Verschwinden und Unsichtbarwerden, das Lob einer neuen Passivität, das alles sind nicht allzu ferne Ausläufer einer möglichen deleuze-guattarischen ›Mikro-Synthese des Begehrens‹, welche im Anti-Ödipus die foucaultsche ›Mikro-Analyse der Macht‹ im Voraus überholt. Was könnte Foucault darauf anderes erwidern als Deleuze? Das könnte stimmen, aber es ist nicht wahr.
96 Vgl. hierzu Mirjam Schaub: »Visuell Hochprozentiges. Übertragung aus dem Geist der Gegenübertragung. Matthew Barneys ›Cremaster‹Zyklus«, in: dies., Nicola Suthor (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München: Fink 2004 (im Erscheinen). 97 Vgl. hierzu Mirjam Schaub: »Die Feigheit des Affekts. Bei Michel Houellebecq kommt das Ressentiment zu altem Recht«, in: Thomas Steinfeld (Hg.), Das Phänomen Houellebecq, Köln: DuMont 2001, S. 3353.
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Der Körper des Philosophen im Zeitalter der Biopolitik Friedrich Balke
Was ein Körper vermag Ich möchte eingangs gleich betonen, dass ich das Problem des Körpers, das im Rahmen dieser Veröffentlichung aus ganz unterschiedlichen, häufig eher ästhetischen Gesichtspunkten angesprochen worden ist, hier in einem doppelten Bezugsrahmen stelle, der zunächst nichts mit den Künsten, insbesondere dem Theater, und den Theorien, die auf sie referieren, zu tun hat: Zum einen fühle ich mich einer spinozistischen Intuition verpflichtet und behandle daher den Körper im Rahmen der Ethik – also dort, wo man gewöhnlich auf Erwägungen über die Freiheit des Willens und über den Überzeugungsgehalt von Vorschriften, Normen und Werten trifft und wo der Körper, wenn er überhaupt eine Rolle spielt, ein Problem bezeichnet, nämlich die Neigung der Menschen, von dem, was für sie verbindlich sein soll und was sie möglicherweise sogar als verbindlich einzusehen
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gelernt haben, abzuweichen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Körper als die Macht des von Kant so genannten Begehrungsvermögens, das von jedem Einfluss auf die Triebfeder moralischer Handlungen fernzuhalten ist. Mit einer solchen Konzeption von Ethik hat die Spinozas nicht das Geringste zu tun. In ihrem Mittelpunkt stehen der Körper und die ihn erfüllenden Affekte und Lüste (sowie, unterscheidbar, aber untrennbar von ihm, der Geist und die ihm eigenen Affekte und Lüste), die nach einem strikt immanenten Kriterium beurteilt werden, nämlich im Hinblick darauf, ob sie das Tätigkeits- oder Handlungsvermögen (potentia agendi) steigern bzw. erweitern oder vermindern. Zum anderen interessieren mich die Modalitäten des sozialen Zugriffs auf den Körper, die seit den machtanalytischen Untersuchungen Michel Foucaults unter dem Stichwort der Biopolitik diskutiert werden. Ich werde zu zeigen versuchen, dass Foucaults Beschreibungen einer Macht, die den Körper nicht so sehr unterwirft als ihn besetzt und verwaltet, auf eine Logik der gleichzeitigen Steigerung und Entwendung der Kräfte verweist. Die Macht, die Foucault von dem juridischen Konzept der Herrschaft und ihrer Legitimationsrituale unterscheidet, wirkt, mit Spinoza zu sprechen, nicht als eine ›eminente‹, erhaben zurückgezogene Ursache, sondern als eine causa immanens. Sie vermindert nicht die Kräfte des Körpers, sondern trennt den Körper von dem, was er kann, indem sie sich aufs Engste mit ihm verbindet, ihn permanent affiziert. Was sagt Spinoza über den menschlichen Körper? Er definiert ihn keineswegs über seine Form oder seine Eigenschaften, er interessiert sich nicht für seine differentia specifica, wie es allzu lange in der Philosophie üblich war, die den Menschen als jenes ungewöhnliche Tier begriff, das über den Logos (Rede, Denken, Vernunft) verfügt. Wie lautet dagegen Spinozas erster Satz über den menschlichen Körper? »Der menschliche Körper«, setzt der dritte Teil der Ethik ein, »kann auf viele Weisen [multis modis]
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affiziert werden [und seinerseits andere Körper affizieren, wie hinzuzufügen ist, F. B.], wodurch sein Tätigkeitsvermögen vermehrt oder vermindert wird.«1 Affekte definiert Spinoza nicht qualitativ, über einen Katalog von moralisch bewerteten Leidenschaften, sondern performativ und quantitativ: »Unter Affekte verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird.« Und er fügt die entscheidende Bemerkung hinzu: »zugleich auch die Ideen dieser Affektionen«2, womit er die geistigen Aktivitäten nicht als selbstgenügsame innere, vom Körper zugleich getrennte und ihm hierarchisch übergeordnete Vorgänge (cogitationes) begreift, da nämlich gilt: »Der Geist [mens] strebt, soviel er vermag [quantum potest], sich das vorzustellen [imaginari], was das Tätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt oder fördert.«3 Unser Körper ist fortwährend ganz unterschiedlichen Wirkungen ausgesetzt – und er muss auf diese Wirkungen reagieren, bevor er ihre Ursachen erkennt. Eine Affektion ist für Spinoza nichts anderes als »eine Spur, die ein Körper auf einem anderen hinterlässt, der Zustand eines Körpers, sofern er die Tätigkeit eines anderen Körpers erfährt: eine affectio, etwa die Wirkung der Sonne auf unserem Körper, welche die Natur des affizierten Körpers ›anzeigt‹ und bloß die Natur des affizierenden Körpers ›einschließt‹.«4 Halten wir also fest, dass Spinoza den Körper unter dem Gesichtspunkt seines intensiven Vermögens als die Macht zu affizieren und affiziert zu werden bestimmt. Der Körper wird daher weder »durch seine Form, 1
Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Übers. v. Jakob Stern, Stuttgart 1977, S. 255 (Teil III, Postulat 1).
2 Ebd. (Teil III, Definition 3). 3
Ebd., S. 283 (Teil III, Lehrsatz 12).
4 Gilles Deleuze: »Spinoza und die drei Ethiken«, in: ders., Kritik und Klinik. Übers. v. Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 2000, S. 187f.
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noch durch seine Organe oder Funktionen« definiert, sondern eben durch sein Wirkungsvermögen, das höchst variabel und durch keine Liste von Merkmalen oder Eigenschaften a priori bestimmbar ist: »Affekt-Fähigkeit mit maximaler und minimaler Schwelle ist ein geläufiger Begriff bei Spinoza.«5 Niemand, schreibt Deleuze in der Nachfolge Spinozas, kennt »im Voraus die Affekte«, deren die Körper fähig sind: »es ist die Sache langen Experimentierens, langer Umsicht, einer spinozistischen Weisheit«6, die performativen Register, die aus keinem Wesensbegriff abzuleiten sind, zu erstellen. Es gibt daher für Spinoza keinen moral point of view, wohl aber eine »ethische Sicht der Welt«.7 Ihr zufolge gibt es, wie Deleuze formuliert, »weder Gut noch Böse in der Natur, es gibt keine moralische Entgegensetzung, es gibt aber eine ethische Differenz«8, die ohne den (theologisch derivierten) Antagonismus absoluter Werte auskommt. Für die ethische Sicht ist viel eher die Unterscheidung zwischen dem Starken und dem Schwachen maßgebend, wobei hier alles darauf ankommt, zu berücksichtigen, dass Starke und Schwache nicht durch einen Abgrund voneinander getrennt sind, sondern die Unterscheidung wieder in das durch sie Unterschiedene eintritt, der Ethiker sich also gerade für die Stärken der Schwachen und die Schwächen der Starken interessiert. Denn, wie Spinoza im ersten (dem ›theologischen‹, genauer: ontologischen) Teil der Ethik formuliert: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht eine Wirkung 5
Gilles Deleuze: »Spinoza und wir«, in: ders., Spinoza. Praktische Philosophie. Übers. v. Hedwig Linden, Berlin 1988, S. 161.
6 Ebd., S. 162. 7 Vgl. das entsprechende Kapitel der Spinoza-Studie Deleuzes’: Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Übers. v. Ulrich Johannes Schneider, München 1993, S. 225-241. 8 Ebd., S. 231.
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folgte«9 – und auch die Schwachen existieren, auch sie haben qua Existenz Teil an der einen Substanz, die Spinoza bekanntlich deus sive natura nennt. Für Spinoza, dessen Ethik den Weg von der »menschlichen Knechtschaft« (servitus humana) zur »menschlichen Freiheit« (libertas humana) beschreibt, ohne je die Bahn der Affekte durch die Zuhilfenahme eines transzendenten Prinzips zu verlassen10, ist sogar die Existenzweise der Schwachen von größerer Bedeutung als diejenige der Starken, deren (geistige) Kraft oder Tugend, wie er am Beispiel der Weisen demonstriert, häufig bloß eingebildet ist. Die Ethik nimmt den Körper zum Modell, statt sich als ein System von Regeln, Vorschriften oder Imperativen zu konstituieren, die dem Körper aufzuerlegen sind, weil jeder Körper, wie schwach er auch immer erscheinen mag – und jeder Körper beginnt, entwicklungsgeschichtlich gesehen, schwach und schwankend –, sein Vermögen so weit wie er kann erstreckt. »In gewissem Sinne geht jedes Seiende in jedem Augenblick bis an die Grenze dessen, was es kann. ›Was es kann‹ ist sein Affiziertseinkönnen«11, wobei zu berücksichtigen ist, dass wir auch auf eine Weise affiziert werden können, die uns von dem trennt, ›was wir können‹: »Der Schwache ist derjenige, der von seinem Tätigkeitsvermögen getrennt bleibt, wie stark auch immer er ist.«12 Die Ethik Spinozas (sowie die Nietzsches und die Deleuzes, der unablässig den untergründigen Spinozismus Nietzsches 9 Benedictus de Spinoza: Die Ethik, S. 91 (Teil I, Lehrsatz 36). 10 An seine Stelle tritt die Unterscheidung zweier basaler Affekttypen, der freudigen und der traurigen Leidenschaften. 11
Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S. 238. Vgl. auch Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. v. Joseph Vogl, München 1992, S. 60f.
12
Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S. 238.
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betont) rekurriert nicht auf extensive Größen, um die Handlungen der Individuen zu messen (so wie Kant das Maß seines kategorischen Imperativs, der Universalisierungsregel, an jede Handlung legt, um den Abstand festzustellen, der sie von ihrer Moralität, ihrer ›inneren‹ Gesetzlichkeit trennt), sondern ausschließlich auf intensive Größen, die die immanente Beweglichkeit, die Reichweite oder Kapazität eines Verhaltens aus sich selbst heraus zu beurteilen erlauben. Deleuze beschreibt das Verhalten von Körpern daher in Begriffen von Schwingungsweite (amplitude), Schwellen (seuils) – Maximum und Minimum – sowie von (morphogenetischen) Transformationen (variations, transformations).13 Eine so verstandene Ethik fragt zunächst nach den notwendigen Beziehungen eines Körpers zu seiner ›Umwelt‹: Welche Zufuhr an Körpern (Nahrung) ist unabdingbar, damit der Körper in seinem Sein zu verharren vermag, welche Körper können ihn schädigen oder gar zersetzen bzw. zerstören? Sie fragt zweitens nach den aktuellen Affekten, die einen Körper erfüllen. Mit welchen Körpern ist ein Körper gerade, in diesem Moment zusammengetroffen, mit welchen Wirkungen für seinen augenblicklichen Zustand? Eine solche Ethik fragt drittens nach den Möglichkeiten der Zusammensetzung (ihrerseits bereits komplexer) Körper zu noch komplexeren Körpern (die Spinoza auch »Individuen« nennt). Denn wenn es nichts Böses gibt »außer der Verminderung unseres Tätigkeitsvermögens und der Auflösung eines Zusammenhangs«14, der einen Körper stiftet und ihn mit anderen Körpern verbindet, kann es nichts Gutes geben außer der Steigerung unseres Tätigkeitsvermögens und der Organisation »guter Zusammentreffen«.15 Das Problem des Sozialen ist mit dem der Ethik koextensiv. Es sind allerdings nicht bestimmte 13
Gilles Deleuze: »Spinoza und wir«, S. 163.
14 Ebd., S. 217. 15
Ebd., S. 231.
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politische Formen, Normen oder Werte, die einer Mannigfaltigkeit von primär asozialen Individuen aufzuzwingen sind, damit soziale Ordnung möglich wird. Für Spinoza gibt es kein Hobbes’sches Problem (obwohl er die aristotelische Sozialteleologie verwirft), denn soziale Ordnung ist, wenn auch unter Umständen nur rudimentär, immer schon vorhanden, so dass die politische Aufgabe nicht darin besteht, sie allererst zu konstituieren, sondern sie kontinuierlich auszuweiten, wobei diese Theorie, weil sie von Körpern und den sie erfüllenden Affektionen (von Individuen oder ›Populationen‹) ausgeht, jede abstrahierende, unifizierende oder finalisierende Strategie, die eine zusätzliche Dimension einführt und ihr die Stiftung des Zusammenhangs ›von außen‹ zutraut, verwirft.
Die Macht des Körpers und ihre Spaltung Ich nehme an dieser Stelle einen Szenenwechsel vor und spiele das Problem des Körpers, wie es die Ethik Spinozas zu denken erlaubt, in das Zeitalter der Biopolitik hinüber, die im 19. Jahrhundert zum wesentlichen Einsatz nicht nur der staatlichen Macht wird und in den aktuellen Debatten um die Möglichkeit einer »liberalen Eugenik« eine ungeahnte Brisanz erhalten hat. Bekanntlich war es Michel Foucault, der in verschiedenen Arbeiten der siebziger Jahre die Genealogie der Biopolitik skizzierte und in diesem Zusammenhang einen Begriff der spezifisch modernen Macht entwickelte, der, ohne dass Foucault auch nur mit einem Wort darauf zu sprechen käme, mit Spinozas Theorie des Körpers auf eine kaum untergründig zu nennende Weise korrespondiert. Ich muss hier schon aus Platzgründen die ausufernde Debatte um diesen Machtbegriff auf sich beruhen lassen, erinnere nur daran, dass Foucault ihn ausdrücklich von dem juridisch angelegten Konzept der Souveränität und der ihm zu Grunde
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liegenden (cartesianischen) Metaphysik des ›freien Willens‹ unterscheidet, indem er unablässig den operativen Charakter dieser Macht betont und ihre Wirkungsweise oder »Modalität«16 als ein Kräfteverhältnis beschreibt. Die Macht produziert Reales (darunter Verhaltensweisen wie auch Wahrheiten), sie bewirkt etwas, was zuvor nicht da war, ihre Mächtigkeit erschöpft sich keineswegs darin, »nein zu sagen« und Grenzen zu ziehen.17 Deleuze hat, wie schon zuvor bei Nietzsche, auf den Foucault sich bekanntlich beruft, den spinozistischen Charakter dieser irreduzibel pluralen Konzeption einer Macht betont, die unablässig interveniert, aber ihrer Intervention nicht vorgeordnet ist und daher streng genommen nur im Vollzug, in actu, existiert, also dem Feld ihrer Anwendung strikt immanent ist18: Die Macht 16 Dieser operative Charakter der Macht unterscheidet sie von der Gewalt, die sich, wie Deleuze formuliert, »auf die Körper legt«, statt sie zu einer Wirkung zu veranlassen. Die Gewalt zeigt »die Wirkung einer Kraft auf etwas, ein Objekt oder Wesen«, die Machtbeziehung bringt »ein Verhältnis von Kraft zu Kraft, ›eine Handlung, die auf eine Handlung wirkt‹« zum Ausdruck. Vgl. Gilles Deleuze: Foucault. Übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt a.M. 1987, S. 43f. 17
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 106.
18 Die Wirksamkeit dieser Macht setzt, wie es Pierre Macherey formuliert hat, »die Simultaneität, die Koinzidenz, die zueinander reziproke Gegenwärtigkeit aller von ihr vereinigten Elemente voraus«. Sie produziert nicht einfach kausal ableitbare Wirkungen, die sie aus sich heraus entlässt, sondern besteht wesentlich darin, die Wirkungen »mit dem Maximum an Wirklichkeit, zu der sie fähig sind«, auszustatten. Die Wirkungen setzen die Permanenz der Wirksamkeit der Macht voraus. Vgl. Pierre Macherey: »Für eine Naturgeschichte der Normen«, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S.184f.
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wird wesentlich ausgeübt, sie ist keine Eigenschaft und kein Eigentum einer bestimmten Instanz (Klasse, Staat), sondern erscheint »wie eine Affektion, da die Kraft sich selbst durch ihr Vermögen [pouvoir] definiert, andere Kräfte zu affizieren (mit denen sie in Beziehung steht) und von anderen Kräften affiziert zu werden«.19 Welches sind die Kategorien einer solchen Macht? Sie lassen sich durchweg in Listen von, linguistisch gesprochen, Performativa angeben. Deleuze nennt einige von ihnen: »veranlassen, umleiten, erschweren oder erleichtern, etwas wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen […]«.20 Diese Affektionen sind darauf angewiesen, dass ihnen ›auf der anderen Seite‹ eine Materie gegenübersteht, die über die Fähigkeit verfügt, sich affizieren zu lassen und daher in jedem Fall mehr als nur einen Zustand annehmen kann. Foucaults ausführliche Analyse der Disziplinen in Überwachen und Strafen beschreibt die Formierung (›Dressur‹) hinreichend sensibler Körper-Materien, die geeignet sind, im Zusammenspiel mit einer affizierenden Macht zu funktionieren, und die dabei ganz ›unwahrscheinliche‹ Transformationen erleiden: »Im Laufe des klassischen Zeitalters [zu dem auch Spinoza gehört, F. B.] spielte sich eine Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht ab.«21 Den paradoxen Mechanismus der Wirkung der Disziplinen beschreibt Foucault, wie ich glaube, nicht zufällig unter Verwendung der Unterscheidung von schwach und stark, die die ethische Sicht Spinozas bestimmt: »Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). Mit einem Wort: sie spal19 Gilles Deleuze: Foucault, S. 100. 20 Vgl. ebd., S. 99f. 21
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1981. S. 174.
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140 | Friedrich Balke tet die Macht des Körpers.«22 Anders als die tyrannischen, vormodernen Regime souveräner Macht trennen die (leistungssteigernden) Disziplinen den Körper nicht von vornherein von dem, was er kann, sondern erst, nachdem sie eine maximale Effektivierung ›nutzenbringender‹ Kräfte bewerkstelligt haben. Von diesen Disziplinen und dem ihnen entsprechenden Machtregime gilt exakt, was Deleuze in dem bereits zitierten Satz aus seiner Spinoza-Studie auf den Punkt bringt: »Der Schwache, der Knecht ist nicht jemand, dessen Kraft, absolut genommen, vermindert ist. Der Schwache ist derjenige, der von seinem Tätigkeitsvermögen getrennt bleibt, wie stark auch immer er ist«23 – auf diesen Nachsatz kommt es an: Spinoza denkt die Schwäche strikt relational, nicht absolut, d.h. aber: Diese Schwäche ist nicht einfach das Gegenteil der Stärke, sondern Ausdruck ihrer ›Verwendung‹ oder ›Entwendung‹, ihrer ›Umpolung‹ (Foucault) zum Nachteil des Starken. In Foucaults Worten lautet das Paradox der modernen, gleichzeitig steigernden und schwächenden Macht: Die Disziplin verkettet »eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander«.24 Michel Foucault hat den biopolitischen Diskurs und die mit ihm verbundenen Dispositive, die nicht nur – wie im Fall der Disziplinen – auf den einzelnen Körper, sondern auch auf die Gesamtheit einer Population, also den corps politique, zielen, als einen zentralen Einschnitt in der Geschichte des »abendländischen Menschen« bezeichnet. »Zum ersten Mal in der Geschichte«, so Foucault, »reflektiert sich das Biologische im Politischen. Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Un-
22 Ebd., S. 177. 23 Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S. 238. 24 Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 177.
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terbau, der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt.« »Der moderne Mensch ist«, wie es weiter unter Anspielung auf die berühmte Definition des Aristoteles heißt, »ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«25 Der Philosoph dieses modernen Menschen und seiner Politik ist im 19. Jahrhundert zweifellos Nietzsche, der Spinozas Zurückweisung der »absoluten Macht« des Geistes über die menschlichen Handlungen26 aufgreift und die Philosophie in seiner Nachfolge27 konsequent am »Leitfaden des Leibes« ausrichtet. Anders als in der alteuropäischen Tradition seit Aristoteles pfropft Nietzsche das gute Leben (bios) nicht länger der physischen Existenz (als seinem »Unterbau«) auf, sondern begreift den Inhalt des guten Lebens als
25 Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit, S. 188. 26 Benedictus de Spinoza: Die Ethik, S. 251 (Teil III, Vorwort). 27 Vgl. den berühmten Brief an Overbeck vom 30. Juli 1881: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹ [das psychologische bzw. psychopathologische Konzept der ›Instinkthandlung‹ markiert zugleich den diskursiven Ort, von dem aus Nietzsche auf Spinoza zurückgreift, F. B.].« Nietzsche nennt Spinoza auch »diese[n] abnormste[n] und einsamste[n] Denker«, mit dem er sich in »fünf Hauptpunkten« einig weiß: »er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –«. Nietzsche verschweigt nicht, daß die »Verschiedenheiten ungeheuer sind«, nennt sie jedoch erst gar nicht und schreibt sie akzidentellen Unterschieden zu (Zeit, Kultur, Wissenschaft). Sein letztes Wort: »In summa: meine Einsamkeit […] ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!« Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, Bd. 6. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 111.
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einen solchen, der durch die beständige Auseinandersetzung mit dem bloßen Leben (zoé) und seinen Risiken (»gefährlich leben«28) allererst hervorgebracht wird. Alles, was die ausgezeichnete ethisch-politische Lebensform unter modernen Bedingungen zu sein vermag, ist sie nur durch die Arbeit einer beständigen Freilegung und Infragestellung, einer Prüfung und Regulierung des bloßen Lebens, das als Substrat der Selbsterhaltung, und vor allem: der Selbststeigerung, dem Philosophen – in der Gestalt des Physiologen und des ›großen‹ Politikers bzw. Organisators – die höchste Aufmerksamkeit abverlangt: »eine Partei des Lebens schaffen, stark genug zur großen Politik: die große Politik macht die Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen«29, lautet das Vermächtnis Nietzsches, niedergeschrieben zwischen Dezember 1888 und Anfang Januar 1889. Nietzsches Umwertung der Philosophie in Physiologie hat nichts mit Ideologie, aber alles mit der biopolitischen Ausübungsmodalität der modernen Macht zu tun, die der Philosoph planetarisch verallgemeinert. Die »große Politik« findet ihr Pendant in einer gleichfalls physiologisch ausgelegten »kleinen Politik«, die die Gestalt der Diätetik annimmt. Fragen der Ernährung, des Klimas, des Wohnortes und der Erholung, kurzum: des 28 »Das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben!« Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [»la gaya scientia«]. Ebd., Bd. 3, S. 526 [Nr. 283]. 29 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887-1889. Ebd., Bd. 13, S. 638. Zu der von Philosophen bis heute als unziemlich empfundenen Konkretisierung seiner »großen Politik«, die in den letzten Fragmenten die Form einer ›maßlosen‹ Kampfansage an das preußen-deutsche Kaiserreich annahm, vgl. Friedrich Balke: »Die Figuren des Verbrechers in Nietzsches Biopolitik«, in: Nietzsche-Studien 32 (2003), S. 171-205, hier: S. 197-205.
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geeigneten Milieus gewinnen bei Nietzsche daher philosophisch erstrangige Bedeutung; die »Unwissenheit in physiologicis – de[n] verfluchte[n] ›Idealismus‹« erklärt er daher zum »eigentliche[n] Verhängnis in meinem Leben«.30 Nietzsche ist sich der philosophischen Tragweite dieser Konzentration auf Fragen, die sich zwischen den biopolitischen Polen der Disziplinierung des (Einzel-)Körpers und der Regulierung einer Bevölkerung oder, in seiner Terminologie, der »Herde«, bewegen, vollkommen bewusst. In Ecce homo steht das Register der Einwirkung auf den einzelnen, genauer: auf den eigenen und daher exemplarischen Körper, den Körper des Philosophen, im Vordergrund: vermeintlich »kleine Dinge« (als da sind: »Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht«), von denen Nietzsche aber weiß, dass sie »über alle Begriffe hinaus wichtiger [sind] als Alles, was man bisher wichtig nahm«, und dass sie zugleich die individuelle Vorschule für die Bewältigung all der »grosse[n] Aufgaben« sind, die der Philosoph »zu vertreten bestimmt sei«.31 Nietzsche kann hier an eine Beobachtung Spinozas anschließen, die die Komplexität des menschlichen Körpers, der aus sehr »vielen Teilen von verschiedener Natur zusammengesetzt« ist, als Grund für seine Angewiesenheit auf »fortwährend neue und abwechslungsreiche Nahrung« anführt, worunter er ausdrücklich auch »Speisen und Getränke«, »Wohlgerüche«, die »Schönheit grünender Pflanzen«, »Schmuck«, »Musik«, »Kampf und Schauspiele« anführt.32
30 Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 283. 31
Ebd., S. 295.
32 Benedictus de Spinoza: Die Ethik, S. 533 (Teil IV, Lehrsatz 43, Anmerkung).
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Die Autorität des Autors In Ecce homo geht es um das Leben eines exemplarischen Einzelnen, der der Autor der Schrift selbst ist: »Und so erzähle ich mir mein Leben«33, lautet der letzte Satz des kleinen Vorspiels. Exemplarisches Leben seit 1800 ist aber das Leben von Dichtern oder eben Autoren, von »gemeinen Individualitäten«, denen es gelingt, sich zur Quelle von Diskursen aufzuwerfen, deren Regeln und Aussagen sie angeblich gleichermaßen stiften. Seit dem 18. Jahrhundert »sind als ›Literatur‹ nur noch Texte annehmbar, die ›mit der Funktion Autor versehen sind‹«34, wie Friedrich Kittler, Foucaults Thesen zur Funktionsgeschichte des Autors aufgreifend, feststellt. Ich füge hinzu: auch philosophische Texte müssen diese Diskursregel befolgen – und es ist nicht das geringste Verdienst von Ecce homo, dass ihr philosophischer Autor diese fundamentale Diskursregel zugleich befolgt und grotesk übererfüllt, so dass sie sich als Regel vor dem Leser entblößt. Die Wahrheit über Wörter wird seit der literarischen Diskursrevolution beim Schreiber oder Sprecher gesucht, so dass alle Literaturwissenschaft seit jener Zeit zu einer mit hermeneutischen Mitteln betriebenen Autobiographik mutiert: »Wie man wird, was man ist«, lautet daher konsequenterweise der Untertitel von Ecce homo: Also, wie man verwertet, was man ist (und d.h. nicht zuletzt auch: was man isst35). Macht Nietzsche aber, indem er 33
Friedrich Nietzsche: Ecce homo, S. 263.
34 Friedrich Kittler: »Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von ›Ecce homo‹«, in: Jacques Derrida/ders., Nietzsche – Politik des Eigennamens – Wie man abschafft, wovon man spricht, Berlin 2000, S. 67. 35
»Die beste Küche ist die Piemont’s. – Alkoholika sind mir nachtheilig; ein Glas Wein oder Bier des Tags reicht vollkommen aus, mir aus dem Leben ein ›Jammerthal‹ zu machen, – in München leben meine Antipoden.« Friedrich Nietzsche: Ecce homo, S. 280.
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die literarischen Diskursregeln in ein derart grelles Licht rückt, »der ›Literatur‹ im exakten neuzeitlichen Wortsinn einfach […] ein Ende«, wie Kittler vermutete?36 Wohl kaum, da eine Diskursivität nach Foucault zwar begründet oder instituiert wird, aber er selbstverständlich kein Autor ist, der sie begründet (selbst wenn es um die Begründung der Autorschaft geht) – und daher ebenso wenig ein Autor, der es vermöchte, sie abzuschaffen. Wie Hegels Ende der Kunst ist auch Kittlers Ende der (Autoren-)Literatur – trotz Nietzsches zweifellos mutiger diskursiver Übertretungsgeste – ein Gerücht.37 Die Reproduktionsfähigkeit einer Lehre hängt durchaus von den Institutionen ab, die sich ihrer annehmen: »vielleicht selbst«, spekuliert Nietzsche daher, dass man in Zukunft »auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichtet«.38 So, oder doch so ungefähr, ist es dann ja auch gekommen – die erste prononcierte Literatenphilosophie findet zwar bis heute ihre entschlossenen Gegner, aber eben auch: genügend Anhänger, die sie ex cathedra lesen. Man wird aber trotz allem nicht den Fehler begehen, die Symbiose von Nietzscheanismus und Akademismus für das letzte Wort über Nietzsches Denken zu halten, man wird es nicht bei der trockenen Auskunft belassen, dass Nietzsche alles in allem »nur der biotechnischen Sprachregelung« seiner Zeit folgte39, die eben befahl, wie es Foucault in Überwachen und Strafen auf den Punkt gebracht hat, das Individuum in seiner »Individualität« oder Einzigartigkeit festzustellen und einer differenziellen anthropometrischen Bewertung zu unterziehen. 36 Friedrich Kittler: »Wie man abschafft, wovon man spricht«, S. 68. 37
Vgl. dazu den Untertitel von Eva Geulens Studie Das Ende der Kunst, der »Lesarten eines Gerüchts nach Hegel« (Frankfurt a.M. 2002) ankündigt.
38 Friedrich Nietzsche: Ecce homo, S. 298. 39 Friedrich Kittler: »Wie man abschafft, wovon man spricht«, S. 81.
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Nietzsches Erfindung lag nun aber gerade darin, dass er zu dem vorgestoßen ist, was Deleuze die »präindividuellen Singularitäten«40 nannte, einem Spiel von Kräften, das nicht in die Form des Subjekts oder der (bildsamen) Individualität eingeschlossen ist und sich daher auch nicht einer anthropologischen Vermögensanalyse erschließt. Man muss in der Tat, wie es Deleuze getan hat, Nietzsche mit Spinoza lesen, um sich klar zu machen, worin die beiden eigene Kraft zur Diskursverschiebung oder Diskursirritation liegt – bezogen auf den um 1800 entstehenden Verbund aus Dichtung und Philosophie, der die Autorität des Autors instituierte. Die ganze Zwiespältigkeit dieses Verbunds bringt kein geringerer als Hegel zum Ausdruck, der einerseits Spinoza zum Inbegriff der Philosophie macht und sich selbst als seinen legitimen Erben ausgibt, ihm andererseits aber abspricht, was zum entscheidenden Merkmal nicht nur der Hegel’schen Bildungsphilosophie gehört, sondern nach Hegel Inbegriff der Moderne selbst ist. Spinoza, so Hegel, hat zwar die Substanz, aber ihm fehlt die ›Innerlichkeit‹ des Subjekts, die viel gerühmte »Subjektivität« (die ja mit dem Christentum in die Welt gekommen sein soll). Spinoza ist nicht bereit, wie ich diesen Befund reformulieren möchte, die Immanenz in eine andere Instanz einzuschließen, sie, wie Deleuze formuliert, »als ›einer‹ Sache immanent« zu interpretieren und damit auf den Status eines Attributs zu reduzieren: »bei Spinoza«, schreibt Hegel in der Logik, ist »[…] die Unendlichkeit nur die absolute Affirmation eines Dinges [Deleuze würde zustimmen, allerdings das ›nur‹ streichen, F. B.], somit nur die unbewegte Einheit; die Substanz kommt daher nicht einmal zur Bestimmung des Fürsichseins, viel weniger des Subjekts und des Geistes«.41 Präziser kann man 40 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 73. 41 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I. Werke 5, Frankfurt a.M. 1978, S. 179.
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es nicht ausdrücken, was Spinoza aus Sicht der Bildungsphilosophie des Subjekts und des Geistes fehlt, oder, wie ich sagen würde, welcher Operation sein Denken widersteht, nämlich die Substanz zum bloßen Material einer Form zu degradieren, die es sich im Laufe ihres Bildungsprozesses (wie ihn die Phänomenologie des Geistes exemplarisch rekonstruiert) aneignet. Die Vollendung des Hegel’schen Geistes, der nichts mit dem Spinozas zu tun hat, besteht darin, Subjekt seiner Substanz zu werden.
Selbstsorge: Die Aneignung des Körpers Wenn es selbst einem Philosophen wie Nietzsche keineswegs freisteht, den Diskurszwang der Autorschaft, den er an die Oberfläche des Buchs zerrt, einfach per Handstreich abzuschaffen, dann wird es nicht überraschen, dass diese Diskursregel bei weniger diskursgeschichtlich versierten Denkern unserer Zeit unverändert beschworen wird, wenn neue ethische und politische Herausforderungen zu bestehen sind. So auch im Fall eines Textes, der mir aus der gegenwärtigen Debatte über verbrauchende Stammzellenforschung und PID durchaus herauszuragen scheint und dessen Argumentation in einem exzessiven Maße Gebrauch macht von dem Regime der Autorschaft. Ich meine Jürgen Habermas’ kürzlich erschienene Abhandlung Die Zukunft der menschlichen Natur, die im Untertitel die für einen engagierten Liberalen besonders heikle Frage aufwirft, ob wir uns »auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik« befinden. An der Schrift überrascht zunächst, dass Habermas einen moralphilosophischen Paradigmenwechsel von Kant zu Kierkegaard vornimmt, genauer: dass er in der anstehenden Debatte Theoriefiguren benötigt, die über den Begriff der »Autonomie« hinausgehen und einen Begriff des »Autors« erfordern, der – im Unterschied zum »Faktum der Freiheit« bei Kant nicht länger einfach voraus-
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gesetzt werden kann, weil die neuen biotechnischen Eingriffsmöglichkeiten einen Angriff auf die Autorschaft an der eigenen Existenz vortragen, die Habermas mit dem anspruchsvollen Begriff des »Selbstseinkönnens« zu denken versucht. Mit der Hinwendung zu Kierkegaard vollzieht er auch deswegen einen so entscheidenden (von ihm selbst in seiner Tragweite ebenso wenig thematisierten wie von seinen Kritikern problematisierten42) Schritt, weil er damit einen nach Foucault genuin ethischen bzw. etho-poetischen Bereich ins Blickfeld rückt, in dem »Individuen aufgerufen sind, sich als Subjekte von Moralverhalten zu konsti-
42 In den in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlichten Beiträgen von Dieter Birnbacher, Ludwig Siep und Robert Spaemann wird diese weit reichende begriffliche Neudisposition der Diskursethik mit keinem Wort erwähnt. Habermas’ »Replik« auf diese und andere Einwände sieht sich daher ebenfalls nicht veranlasst, auf die Probleme, die sich aus dem ethischen Maßstab des Selbstseinkönnens ergeben, einzugehen. Vgl. Robert Spaemann: »Habermas über Bioethik«; Ludwig Siep: »Moral und Gattungsethik«; Dieter Birnbacher: »Habermas’ ehrgeiziges Beweisziel – erreicht oder verfehlt?«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 50, H. 1 (2002), S. 105-126, sowie Jürgen Habermas: »Replik auf Einwände«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 50, H. 2 (2002), S. 283-298. Der Beitrag von Kai Hauke in der Philosophischen Rundschau attestiert Habermas zwar eine »innovative Reflexion auf eine Gattungsethik«, die »eine ausführliche Erörterung« lohnte, stellt diese dann aber mit dem Argument zurück, dass Habermas in seinem Buch »vor allem ein aktuelles Anliegen« verfolge, von dem der Autor offenbar glaubt, dass man es losgelöst vom Problem der gattungsethischen Fundierung der Vernunftmoral behandeln kann. Vgl. Kai Hauke: »Das Unverfügbare und die Unantastbarkeit der Würde. Habermas, die Bioethik und Plessners philosophische Anthropologie«, in: Philosophische Rundschau, 49. Jg., H. 2 (2002), S. 165-177.
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tuieren«43, was etwas anderes ist, als sich als Subjekt seiner eigenen Zustände oder eben als Autor seiner Existenz zu konstituieren: Es gibt Subjektivierungsprozesse ohne die Zumutung der Selbsttransparenz oder Selbsterkenntnis. Nicht zufällig rücken daher Autoren- und Personenkonzepte in den Vordergrund, die systematisch bezogen werden auf das Problem des »Selbstseinkönnens« angesichts neuer ungeahnter Möglichkeiten des, wie man formulieren könnte, »Sich-selbst-fremd-Werdens«. Fragwürdig ist Habermas’ Revitalisierung einer genuin ethischen Fragestellung nun deshalb, weil er das Ethische gerade nicht als einen Bereich der Selbstproblematisierung und Selbsttransformation samt der ihm zugehörigen (medialen) »Operatoren« konzipiert, sondern in der Ethik den eigentlichen Ort unentfremdeten Menschseinkönnens auszumachen glaubt. Rechtshistorikern und Ethnologen, aber natürlich auch Theaterwissenschaftlern, ist die ästhetische, auf die Sphäre bzw. den »Ort« des Theaters bezogene Herkunft der persona-Vorstellung durchaus geläufig44: Ausgerechnet diese Vorstellung macht
43 Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1986, S. 41. Vgl. diese Formulierung mit dem von Louis Althusser vorgeschlagenen ideologietheoretischen Konzept der »Anrufung« (interpellation), das die Verwandlung von Individuen in Subjekte (der Diskurse und Praktiken, denen sie unterworfen sind) beschreibt. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Übers. v. Peter Schöttler u. Klaus Riepe, Hamburg 1977, S. 142f. 44 Übrigens natürlich auch klassischen Philosophen. So erinnert Hobbes im zentralen 16. Kapitel des Leviathan: »Das Wort ›Person‹ ist lateinischer Herkunft. Die Griechen sagten dazu prósopon, was das Gesicht bedeutet, wie auch persona auf lateinisch Verkleidung oder die äußere Erscheinung eines Menschen bedeutet, der auf der Bühne dargestellt wird,
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Habermas unter Rückgriff auf Kierkegaards Konzept der »Selbstwahl« bzw. des »Selbstseinkönnens« zum Angelpunkt einer ethischen Lebensform, die wir zu wählen haben, wenn wir das Verhängnis einer liberalen Eugenik abwenden wollen. »Im Ethischen ist die Persönlichkeit in sich selbst zentralisiert«, schreibt Kierkegaard in Entweder-Oder, »absolut ist also das Ästhetische ausgeschlossen.«45 In Wahrheit ist es jedoch durchaus eingeschlossen, weil es die Formierungsregeln ethischer Autorschaft umfasst, die Habermas einfach als allgemein-menschlich voraussetzt. Nun zeigt sich aber gerade an der Vorgeschichte der liberalen Eugenik, die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt und und manchmal auch in einem engeren Sinn den Teil, der das Gesicht verkleidet, wie eine Maske oder ein Visier.« Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Hg. v. Iring Fetscher u. Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1984, S. 123. Der auf Kant zurückgehende ›absolute‹ Gebrauch des Personenbegriffs, der ihn mit dem ›bloßen‹ Menschen identifiziert, abstrahiert von den Medien oder Operatoren seiner Erzeugung, während das römische Denken die persona als einen am Modell des Theaters ablesbaren Instituierungsvorgang beschreibt: »Persona = Rolle, Charakter (auf der Bühne wie im Leben) pflegt in der gesamten römischen Literatur mit einem konstanten Repertoire von Verben verbunden zu werden. Diese Verben bezeichnen teils das ›Nehmen‹ oder ›Anlegen‹, teils das ›Tragen‹, teils das ›Wechseln‹ oder ›Ablegen‹ der persona – hier und auch in manchen anderen Fällen schwingt also die Vorstellung mit, daß ein greifbarer Gegenstand, die ›Maske‹, genommen, getragen oder abgelegt wird.« Manfred Fuhrmann, »Persona, ein römischer Rollenbegriff«, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 87f. Vgl. auch aus ethnologischer Sicht Marcel Mauss: »Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ›Ich‹«, in: Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 221-252. 45 Sören Kierkegaard: Entweder-Oder. Teil I und II, München 1993, S. 728.
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deren prominentester Vertreter Francis Galton ist46, Autor des Hereditary Genius (1869), dass sich die ›Technisierung der inneren Natur‹, die Habermas am eugenischen Projekt hervorhebt, zwanglos mit dem Pathos des »Selbstseins der Person«47 vereinigt. Radikale Autorschaft und radikale Technik bilden mitnichten einen Gegensatz. Unter ethischen Gesichtspunkten verdient es daher besondere Aufmerksamkeit, dass Galton in seinen zuerst 1883 erschienenen Inquiries into human faculty and its development die eugenische Praxis ausdrücklich unter Rückgriff auf die »Autorität der ersten Person«, die Habermas durch dieselbe Praxis gefährdet sieht, rechtfertigt, eine Autorität, »die sich in eigenen Erlebnissen, authentischen Ansprüchen und Initiativen zu verantwortlichem Handeln, letztlich in der Autorschaft für die eigene Lebensführung ausdrückt«.48 Die Person, fügt Habermas literaturgeschichtlich korrekt hinzu, »kann sich nur dann als Autor zurechenbarer Handlungen und als Quelle authentischer Ansprüche sehen, wenn sie die Kontinuität eines Selbst unterstellt, das durch die Lebensgeschichte hindurch mit sich identisch bleibt«.49 Galton sieht in dieser autobiographischen Selbstproblematisierung, wie sie sich um 1800 als dominantes literarisches Paradigma kulturell etabliert, ein unverzichtbares Hilfsmittel zur anthropometrischen Erschließung individueller und generationsübergrei46 Das eugenische Projekt bringt Galton auf die Formel: »exerting ourselves to further the ends of evolution more rapidly and with less distress than if events were left to their own course«. Francis Galton: Inquiries into human faculty and its development. 2. Aufl. London/New York 1907, 1. 47 Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 2001, S. 103. 48 Ebd., S. 99. 49 Ebd., S. 103.
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fender Entwicklungsverläufe. Er hält seine Leser deshalb dazu an, ein Familienregister anzulegen, das neben Aufzeichnungen aller Art, die von biographischem Interesse sind, insbesondere auch dazu anregt bzw. verpflichtet, in regelmäßigen Abständen Fotos von den Familienmitgliedern zu machen50, die physische Entwicklung der Kinder zu beobachten und zu messen sowie ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten mittels geeigneter Verfahren zu testen. Wir haben es hier mit einer im Wortsinn ethischen, also ethos-bildenden Maßnahme zu tun, mit dem Versuch, eine neue Sitte bzw. Gewohnheit (»family custom«) allererst hervorzubringen, denn, wie Galton nicht hinzuzufügen vergisst, »unless driven by some custom, the act will be postponed until the opportunity is lost«.51 Aus dieser Perspektive ist es daher alles andere als ausgemacht, dass die »Unverfügbarkeit des gleichsam vorvergangenen Naturschicksals« für das Freiheitsbewusstsein wesentlich ist, wie Habermas vermutet.52 Die eugenische Perspektive bestreitet nicht, dass der Leib »Medium der Verkörperung personaler Existenz« ist, sie stellt nur richtig, dass er keineswegs bloß von der Person bewohnt wird, die ihn ›ihr eigen‹ nennt: »The life-histor50 Galton gibt seinen Lesern detaillierte Anweisung zur anthropometrischen Nutzung des Mediums Photographie: »Let those periodical photographs be full and side views of the face on an adequate scale, adding any others that may be wished, but not omitting these.« Um die Aussagekraft der Photographien zu erhöhen, empfiehlt er, an den Rand der Photoalben – dem Gebrauch folgend, den frühere Generationen vom Vorsatzblatt der Hausbibel machten – sorgfältig Krankheitsgeschichten der Familienmitglieder aufzuschreiben sowie andere interessante persönliche Fakten einzufügen – »whatever anthropometric data can be collected«. F. Galton: Inquiries into human faculty and its development, S. 29f. 51
Ebd., S. 29.
52 Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 104.
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ies of our relatives are prophetic of our own futures: they are far more instructive to us than those of strangers, far more fitted to encourage us and to forewarn us.«53 Das natürliche Geburtsrecht des Kindes bestehe darin, sich zunächst durch seine Angehörigen, dann durch eigene Recherchen, über alle Aspekte der Konstitution seiner Vorfahren, die für seine eigene Individualität verantwortlich sind, informieren zu lassen. Galtons Projekt verdient auch deshalb das Interesse der gegenwärtigen Bioethiker, weil er die Vorstellung einer ethikfreien technischen Zweckrationalität dementiert. Die Biopolitik, ob sie sich nun um das kollektive Wohl ganzer Bevölkerungen sorgt oder den individuellen Körper zur Zielscheibe ihrer Interventionen macht, situiert sich von vornherein und immer schon in einem ethischen Raum. Die Pointe ihrer ethischen Option besteht nun gerade darin, dass sie den von ihr in Aussicht gestellten Zuwachs an Möglichkeiten und Fähigkeiten mit der Stärkung von Machtbeziehungen verknüpft. Das Wohl des Ganzen soll nicht etwa durch eine ›autoritäre‹ Abstraktion von den Bedürfnissen und Interessen der Einzelnen ersetzt werden; vielmehr soll gerade die ›existenzielle Sorge‹ der Einzelnen um ihr Selbstseinkönnen, also die Beziehung der Individuen zu sich selbst, den Ausgangspunkt für eine umfassende Verdatung des Selbst, für eine wissensmäßige Erschließung seiner Eigenschaften und der ihm zustoßenden Ereignisse sein, die dann, in einer nationalen Datenbank gesammelt, für die Auswertung durch wissenschaftliche Experten zur Verfügung steht, deren Ziel eine Optimierung z.B. des Gesundheitsniveaus einer Bevölkerung (etwa durch Eingriffe in ihren Genpool) ist. Was der Diskursethik Frankfurter Provenienz so schwer zu denken fällt, aber keineswegs nur ihr, ist die Beobachtung, dass die Konstitution unserer selbst als Subjekte oder Autoren unserer Handlungen die vorgängige Konstitution unserer 53
Francis Galton: Inquiries into human faculty and its development, S. 30.
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selbst als Subjekte eines bestimmten Wissens und bestimmter kultureller Techniken (hier: Einsatz von Schrift und Photographie) und Praktiken (hier: Konstruktion von intergenerationellen Familiengeschichten und Familienarchiven) voraussetzt, mittels derer man den Horizont des Selbstseinkönnens allererst entwirft. Gerade eine Ethik, die das Problem des Selbstseinkönnens, das nicht zufällig die moralische Reflexion seit Aufkommen der Biopolitik im 19. Jahrhundert konstant begleitet, ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, müsste sich die Frage ganz im Geiste Wittgensteins vorlegen, was man tut, wenn man den Ausdruck ›Selbst‹ gebraucht, was man sieht, wenn man ›sich‹ so beobachtet, vor allem aber, was man ausschließt, wenn man so verfährt und in eins damit: An welche Unternehmungen man die eigene Reflexion vielleicht unfreiwillig anschließt, wenn man die moralische Reflexion von einer vorgängigen ›absoluten Wahl‹ oder ›absoluten Entscheidung‹ zum Selbst abhängig macht, ganz gleich, ob es sich hierbei um eine individualethische oder gattungsethische Frage handelt. Worum es bei dieser Frage im Kern geht, lehrt einmal mehr nicht ein Blick auf Kant, sondern eben auf Spinoza. Die biomedizinische Debatte kreist in allen ihren Aspekten immer wieder um die Frage temporaler Markierungen: Wann beginnt das menschliche Leben, wann hört es auf? Zwischen seinem Beginn und seinem Ende erstreckt sich das Leben des Selbst, die Existenz, entfaltet sich das Potenzial des ›Selbstseinkönnens‹. Diesseits und jenseits der Markierungen entfaltet sich ein apersonales, anonymes, selbst-loses, ein (vermeintlich) reines Leben, das Leben von Prä-Embryonen und Hirntoten, die die Zielscheibe der neuen Politiken des Lebens und des Sterbens bilden, wie sie Andreas Kuhlmann genannt hat.54 Zwischen den Zonen reinen oder bloßen Lebens erstreckt sich die Geschichte 54 Andreas Kuhlmann: Politik des Lebens – Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie, Berlin 2001.
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individuierter Existenz, die aber ihrerseits beständig Zustände relativer Depersonalisierung und temporärer Ent-Individuierung durchläuft, Zustände, die ihr zustoßen, die sie aber unter Umständen auch aufsucht, »Ereignisse« im Sinne von Deleuze55, Zustände der Krankheit und des reduzierten Lebens ebenso wie Zustände euphorischer Selbstüberschreitung, ›losgelöster‹ Glückseligkeit (beatitudo) und des Rauschs, an denen die Philosophie seit alters her ganz besonders interessiert ist und zu deren Herbeiführung sie eigene »spirituelle Übungen« (exercises spirituels) entwickelt hat.56 Aus der Sicht Spinozas ist nun aber diese Separierung von bloßem und individuiertem Leben oder zwischen Leben und Existenz (im Sinne ausgezeichneten Selbstseinkönnens) äußerst künstlich, weil sie unterschlägt, dass ›wir‹ in unserem Leben Veränderungen und Transformationsschübe durchmachen, die es, recht betrachtet, nicht erlauben, Geburt 55
Ereignisse bewirken Transformationen, die den Körpern ein bestimmtes Statut verleihen, ohne effektiv in die körperlichen Abläufe oder Kausalitäten einzugreifen. Das Ereignis ist etwas, das zum Körper hinzukommt und ihn nur an seiner Oberfläche berührt. Vgl. dazu Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Wunderland. Zeit- als Ereignisphilosophie, München 2003, insbesondere S. 269ff.
56 Vgl. dazu die Arbeiten Pierre Hadots und im Anschluss an dessen Forschungen Michel Foucaults Aufnahme dieses Konzepts in seinen Analysen antiker und spätantiker Subjektivierungspraktiken: Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1993; Michel Foucault: L’hermeneutique du sujet. Cours au Collège de France 1981-1982. Hg. v. Frédéric Gros, Paris 2001. Zur Problematik des indefiniten Lebens, das weder durch Formen noch Funktionen, sondern durch seine Fähigkeit, sich affizieren zu lassen und seinerseits Affekte auszusenden, definiert ist, vgl. Gilles Deleuze: »Die Immanenz: ein Leben …«, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 29-33.
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und Tod auf zwei institutionell herausgehobene und zertifizierte Momente unserer Existenz zu reduzieren: »Denn kein Grund«, so Spinoza, »zwingt mich zu behaupten, dass der menschliche Körper erst dann stirbt, wenn er in eine Leiche verwandelt wird. Vielmehr lehrt uns die Erfahrung selbst, wie mir scheint, etwas anderes: kommt es doch mitunter vor, dass ein Mensch solche Veränderungen erleidet, dass man ihn kaum für denselben halten möchte. […] Wenn dies unglaublich erscheint, was sollen wir von den Kindern sagen, deren Natur der erwachsene Mensch von der seinigen so verschieden ansieht, dass er nicht glauben könnte, er sei jemals ein Kind gewesen, wenn er es nicht von anderen auf sich schließen müßte.«57 Zwischen einzelnen Etappen unseres Lebens liegen Distanzen, die wir nur durch etho-poetische Konzepte wie das der Personalität oder des Autors ›seiner selbst‹ zu überwinden vermögen. Die Erfahrung der Fremdheit beginnt nicht erst beim ›Anderen‹, sondern durchquert unsere Existenz und wird zugleich durch die Konstruktion dessen, was man mit Husserl eine »Eigenheitssphäre« nennen könnte, entwicklungsbzw. bildungslogisch oder biographisch (das Leben schreiben) ›aufgehoben‹. Das kulturell eingeübte biographische Dispositiv, das eine zentrale Komponente nicht nur unserer vermeintlich rein ›psychologischen‹ Identitätsbildungsmechanismen ist, sondern auch die soziale Selbstdarstellung (Lebenslauf, Karriere) organisiert, verfährt naturgemäß retrospektiv, indem es zwischen unübersehbar vielen Ereignissen und Zuständen so auswählt, dass sich eine kohärente Lebens- und, wenn möglich, auch Lerngeschichte ergibt. Dieser retrospektive Zugriff der Biographie wird nun ergänzt durch den wesentlich prognostischen Blick der Gendiagnostik: Beide, biographischer Diskurs und prädiktive Medizin, 57
Benedictus de Spinoza: Die Ethik, S. 526f. (Teil IV, Lehrsatz 39, Anmerkung; Hervorhebung F. B.)
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verwandeln das Leben in ein homogenes Medium (bestehend aus lebensgeschichtlich relevant gesetzten Daten oder Erbmaterial), aus dem eine ganz bestimmte Form, nämlich die ›Lebenszeit‹ (die Zeit, die man zu leben hat: im Sinne ethischer Verpflichtung und messbarer Zeit) zu gewinnen ist. In beiden Fällen: im biographischen ebenso wie im gendiagnostischen Modus geht es um die Verpflichtung von Menschen auf ein bestimmtes Selbst und in diesem Sinne also um ›Selbstverpflichtung‹. Die optimistische Perspektive auf das Leben als Medium der Selbstbildung wird ergänzt durch einen radikal pessimistischen Blick auf das Leben, wie er vormals nur auf literarischen Zauberbergen eingeübt wurde, jetzt aber uns allen zugemutet wird: Wir sollen lernen, unser Leben als Träger eines nicht zuletzt sozialen Risikos wahrzunehmen. Die Gendiagnostik »eröffnet die Möglichkeit der Erstellung individueller Risikoprofile mit einer konkretisierten Liste von Veranlagungen und Krankheitsdispositionen. Sie vermag allein über die Lokalisierung und Identifizierung von Genen für jedes Individuum eine ›ideale‹ Lebensweise zu entwerfen«58, sozusagen ein individuelles, differenzialdiagnostisch gewonnenes Ethos, das auf der prinzipiellen Unmöglichkeit beruht, die Krankheit im klassischen Sinne als einen zeitlich »begrenzten Ausnahmezustand« zu konzipieren. Die ethische Herausforderung der neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Gentechnik liegt daher gar nicht in der – unmöglichen – Programmierbarkeit des Menschen im Labor (die Wahrscheinlichkeit von genetischen Risiken kann allenfalls auf ein, statistisch gesehen, durchschnittliches Maß herabgedrückt, aber niemals beseitigt werden); die eigentliche Herausforderung liegt 58 Thomas Lenke: »Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 241.
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vielmehr in der Ausrichtung menschlicher Existenz, genauer: menschlicher Selbstbeziehung an einer unerfüllbaren genetischen Norm: einer Norm, die ihre Notwendigkeit, wie einst der kategorische Imperativ, aus ihrer Unerfüllbarkeit ableitet und deren Funktion darin besteht, die Leute zu permanentem Selbstkorrektur- und Vorsorgehandeln zu mobilisieren. Indem der Körper aufhört, einfach nur die Umwelt sozialer Lebenszusammenhänge zu bilden und nun umgekehrt alle – erwünschten wie unerwünschten – Formen individueller und kollektiver Variabilität auf ihre molekularbiologischen Bedingungen befragt, wenn nicht zurückgeführt werden, werden ethische Fragen danach, wie in einer bestimmten Situation zu handeln oder welche Lebensform einer anderen vorzuziehen sei, nur noch unter der Voraussetzung beantwortbar, dass die Individuen sich zuvor ihres genetisch bedingten Risikopotenzials (im ›guten‹ wie im ›bösen‹ Sinne) versichern, um die Auswirkungen ihres Handelns auf ihr Leben und das Leben anderer abschätzen zu können. Spinozas Einsicht, die er in seiner Ethik formuliert, dass wir (Laien wie Philosophen) bis jetzt noch gar nicht wissen, »was der Körper alles vermag« (quid Corpus possit)59, gewinnt unter biomedizinischen Vorzeichen den Charakter einer Drohung. Ethik, um es kurz zu sagen, steht von nun an unter dem Vorbehalt der Genetik, die zwar nicht konkrete Handlungsregeln vorschreibt, aber den Individuen die Spielräume ihres Verhaltens aufzuzeigen beansprucht, den diese dann ›eigenverantwortlich‹ ausfüllen können.
59 Benedictus de Spinoza: Die Ethik, S. 261 (Teil III, Lehrsatz 2, Anmerkung).
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Der Heroismus des gegenwärtigen Moments Gunter Gebauer
Die Wette mit sich selbst Einstmals war das Spiel mit dem Risiko einem kleinen Orden Unerschrockener vorbehalten. Am äußersten Rand der Gesellschaft gingen sie ihren Staunen und Abscheu erregenden Spielen nach: Spieler, Hazardeure, Abenteurer. Auf diese Benennungen reimte sich Hochstapelei, Finanzakrobatik, Bankrott. Riskiert wurde Geld, eigenes, vor allem aber fremdes Geld, der gute Name (des Geldgebers), ihre Zukunft, im Zweifelsfall ihr Leben. Ihre Tätigkeit war mit dem Makel behaftet, sie würden nicht ihrem Können vertrauen, sondern ihrem Stern. Heute sind Hunderttausende unterwegs in das Risiko: Der Sport hat es geschafft, das Risiko mit dem Können zu verbinden, das Wagnis mit der Technikbeherrschung, die Lebensgefahr mit der persönlichen Auszeichnung. Der Risikosport hat sich zu einer regelrechten Industrie mit vielen Beteiligten entwickelt – Geräteher-
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steller, Schulen für Free Climber und Paraglider, Magazine für Fallschirmspringen und Wild Surfing, Touristikpakete mit Canyon Rafting. Als Einsteigerangebot für Risikowillige steht ein gelber Baukran im Stadtzentrum, von dem man sich am Bungeeseil herabstürzen kann. Wer es geschafft hat, wer dem Risiko entkommen ist, hat an Größe zugenommen, er ist so etwas wie allmächtig geworden. Nun sitzt er wieder unter uns und muss von seinen Taten erzählen. Die Begierigkeit, das Geschehene zu erzählen, kennzeichnet den Risikosportler ebenso wie die Geste, mit der er aufbricht: Er kann nicht mehr ruhig herumsitzen, die Decke fällt ihm auf den Kopf, Enge überall. Mit dem Entschluss, das Haus zu verlassen und etwas Ungewöhnliches, etwas Gefährliches zu tun, verändert sich der ganze Mensch: Er will sich als ein Anderer beweisen. In seinem Aufbruch steckt eine ganze Anklage gegen die Zivilisation. Man braucht nur Messner, den Mentor der Risikosportler, zu hören, um zu erfahren, wie sehr wir von sozialen Normen und Fürsorge erdrückt werden.1 Zwischen dem Aufbruch von zu Hause und dem Erzählen danach liegt die Tat. In diesem Zwischenraum hat sich der Sportler dem Risiko ausgesetzt und hat es bewältigt. Wenn man den traditionellen Sport mit diesem Schema vergleicht, zeigt sich seine gänzlich andere Struktur. Im klassischen Wettkampfsport erlebt man den Triumph eines Individuums: Einer schlägt alle Konkurrenten und steht am Ende mit erhobenen Armen da – er ist der Erwählte. Der Risikosportler hingegen will beweisen, dass er fähig ist, ein Experiment mit sich selbst zu bestehen: eine Situation mit hohem Risiko auszuhalten und heil zurückzukehren. Seine Erzählungen über seine Taten sind romantische oder existenzialistische Selbstdeutungen. 1
Vgl. Volker Caysa/Wilhelm Schmid (Hg.): Reinhold Messners Philosophie, Frankfurt a.M.: Campus 2002.
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Romantisch ist die Behauptung, Risikosportler würden gegen die technische Zivilisation und ihre Versicherungssysteme revoltieren. Sie verschweigt das hochtechnische Equipment, das es ihnen überhaupt erst ermöglicht, sich dem Risiko auszusetzen. Selbst wenn dieses minimalistisch ist, ist es doch absolut unverzichtbar. Verdrängt wird auch die Tatsache, dass die großen Taten technisch aufgezeichnet, reproduziert und verbreitet werden, in Fotos, Videos und Internetbotschaften. Auch die technischen Kontakte des einsamen Sportlers mit seinen Helfern, z.B. über Satellitentelefon, und die im Voraus geplanten möglichen Hilfsmaßnahmen werden übergangen. Anstatt antizivilisatorisch zu sein, baut der Risikosport fest auf die Errungenschaften der Technik und sichert sich vielfältig ab. Er strebt keineswegs ein Leben ohne Versicherungspolicen, ohne Hightech und ohne Bankkonten an. Auch was die existenzialistische Deutung verheißt, ist reine Selbstillusionierung: dass der Sportler in einer Situation der Todesnähe gleichsam seinen Existenzgrund erführe. Niemand wird leugnen, dass er sich Gefahren ausgesetzt hat und dass aus der Ungewissheit darüber, ob er diese bewältigen könne, eine schwer zu ertragende Spannung entsteht. Aber der Sportler ist davon überzeugt, dass er die Situation meistern werde. Er riskiert nicht das nackte Leben; er kämpft nicht mit bloßen Händen gegen seinen bevorstehenden Tod. Risikosport ist kein russisches Roulette. Der Sport organisiert niemals eine Praxis des Sterbens. Er ist – auch heute noch – ein Fest des Lebens, in dem der Tod höchstens als Unfall vorkommt. Riskiert wird in den neuen Sportpraktiken nicht das nackte Leben. Der Sportler ist kein Mensch in der Katastrophe oder auf der Flucht. Er kämpft nicht mit bloßen Händen gegen seinen bevorstehenden Tod. Die dunkle Rhetorik, die sich in manchen Erzählungen findet, ist aber ein Indiz dafür, dass man dem Risikosport eine andere Qualität als den traditionellen Sportpraktiken geben will: tiefer, feier-
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licher, existenzieller. Wenn man dem Sport so viel Ernsthaftigkeit und Schwere verleiht, will man den Gewinn, den man durch ihn macht, aus der Risikosituation in das Alltagsleben mitnehmen. Aber was wird hier aufs Spiel gesetzt und was wird gewonnen? Risikosport ist kein Spiel mit dem Tod, sondern eine Wette des Sportlers mit sich selbst. Im Mittelpunkt steht der Athlet, der von sich sagt: Ich bin stärker als die Gefahr. Dieses Ich ist ein Sportler, der sich durch Training, Ernährung, mentale Konditionierung zu einem außergewöhnlichen Individuum gemacht hat. Wer den Beweis erbracht hat, dass er Situationen zu meistern vermag, in die sich kein gewöhnlicher Sterblicher vorwagt, Situationen ungeheurer Ausdauer, des Ertragens von Schmerzen, totaler Erschöpfung und Überwindung von Verzweiflung, sieht sich als einen Helden an. Auch außerhalb seiner Sportpraxis bewegt er sich mit mehr Bedeutsamkeit als gewöhnliche Menschen; er transportiert seinen Wettgewinn über die Grenzen des Sports hinaus; auch im Alltagsleben gibt ihm dieser eine gewisse Größe. Was geschieht, wenn das Risiko misslingt? Es gibt zwei Möglichkeiten, die Tragödie und die Enttäuschung. Eine Tragödie ereignet sich, wenn der Sportler in Not gerät und mit seiner Wette auch sein Leben verliert. Dann geht er in einen düsteren Mythos von einem Menschen ein, der das Unmögliche versucht hat und von den Göttern bestraft wurde. Anders ist es, wenn der Sportler gerettet wird: Er behält sein Leben, aber sein Ich-Bild hat die Belastungsprobe nicht bestanden. Er hat es überschätzt. Mit der Rettung seines Lebens stürzt der Held ab. Ein solches Experimentieren mit sich selbst erkennt man bei den Ultralangläufern, den Teilnehmern am Ironman, den Weltumseglern, aber auch schon bei dem Triathleten in den mittleren Mannesjahren, der sich in regionalen Wettkämpfen versucht. Auch er fühlt in seiner bürgerlichen Existenz keine Luft mehr zum Atmen, keinen Platz für das Außergewöhnliche, das in ihm
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steckt. Er reißt in seinem saturierten Leben einen Spalt auf, so dass zwischen seiner fest gefügten sozialen Position und seinen Phantasien neue Möglichkeiten entstehen. Mit der Zusammenballung seiner Lebensenergien fordert er seine Alltagsexistenz heraus in der Absicht, etwas Ungewöhnliches, etwas Großes zustande zu bringen. Niemand könnte sonst jemals wissen, was für ein Held in ihm steckt.
Die Erfindung des gewöhnlichen Helden Viele der in den letzten Jahrzehnten neu entstandenen Sportpraktiken kann man mit dem Begriff des Risikos kennzeichnen; sie sind Versuche, an die Grenze zu gehen: Der Athlet will sich und den anderen beweisen, dass er die Situation des Äußersten auszuhalten vermag. Anders als beim klassischen Sport, der es darauf anlegt, Rekorde zu brechen oder in ein bis dahin unerschlossenes Territorium vorzustoßen, geht es hier nicht mehr um Überschreitung und Eindringen. Entweihung ist in den postklassischen Körperpraktiken kein Ziel mehr (es gibt kaum noch zu entweihende Orte); vielmehr werden jetzt kaum aushaltbare Situationen an der Grenze aufgesucht.2 Anders als die einmaligen, gottähnlichen Heroen des klassischen Sports, die einer ganzen Epoche ihren Namen geben konnten, tritt im Risikosport eine neue Heldenspezies auf: der gewöhnliche Held. Der 2 Dies ist der Unterschied zu dem Zustand, der in unserer Arbeit »Sport – Eros – Tod« beschrieben wird (Gerd Hortleder/Gunter Gebauer [Hg.]: Sport – Eros – Tod, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986). Heute befindet sich der Sport in einem Zustand nach der Erotik und Sexualität, auch wenn dies nicht so aussieht. Wenn es noch Erotik im neuen Sport gibt, so taucht sie nicht anders denn als ein Element der Subjekt-Formung auf.
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neue Heldentyp kommt in großer Zahl vor; er ist eine neue Ausprägung der Angestelltenkultur. Nach den Stunden seiner beruflichen Routine formt sich der Athlet aus Entsagung und unendlichem Trainingsfleiß ein Ich, das alle Vorstellungen übersteigt, die sich andere bis dahin von ihm gemacht haben. Nun zeigt er ihnen und sich selbst, dass er die Ausdauer seines Organismus, seine Schmerzbereitschaft und Einsamkeitslust in ungeahnte Höhen zu treiben vermag. Welche Veränderungen drückt das Aufkommen neuer Spiele und die Entstehung des gewöhnlichen Heldentums aus? In den letzten 20-30 Jahren haben sich im Bereich der Spiele, insbesondere im Sport, fundamentale Wandlungen ereignet; sie zeigen wichtige Veränderungen der Gegenwart im Vergleich zu früher an. Man kann die Vielfalt der Wandlungen an einer Instanz prägnant sichtbar machen: an dem veränderten Verhältnis des spielenden Subjekts zu sich selbst, an seinem Selbstverhältnis. Spiele sind ein besonderer Fall des Selbstverhältnisses von Subjekten. In Spielen macht sich das Subjekt selbst zum Gegenstand seiner Aktivitäten; es ist hier mit sich selbst beschäftigt, in sich selbst versunken. In seiner Selbstvergessenheit sorgt es sich um sich selbst, reguliert seinen Spannungsbedarf, gibt sich seiner Lust an sich selbst hin und bringt sein Verhältnis zum Spiel und zu den Mitspielern durch seine wirkliche oder vorgegebene Regeltreue zum Ausdruck. Das Selbstverhältnis formt sich in Spielen aus, lange bevor es in Institutionen Halt gewinnt. Spiele sind schneller als Institutionen und normative Praktiken; sie sind Katalysatoren von Selbstverhältnissen. In ihnen probieren die handelnden Subjekte neue Formen aus, bevor sie eine feste soziale Gestalt gewinnen. Hier ist die Entwicklung von Selbstverhältnissen dynamisch und von größerer Mobilität als im Alltagsleben. Wandlungen des Selbstverhältnisses sind Ausdruck tiefer liegender gesellschaftlicher und philosophischer Veränderungs-
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prozesse. In seiner Reflexion über Kants Schrift »Was ist Aufklärung?«3 hat Foucault gezeigt, wie das Auftauchen eines neuen Heroentums – es geht um eine von Baudelaire beschriebene künstlerische Bewegung – die Gegenwart als philosophisches Ereignis deutbar macht.4 Wenn der Philosoph nach der Bedeutung der Gegenwart, der er selbst angehört, fragt, macht er seine eigene diskursive Aktualität zum Problem. Er untersucht die Bedingungen, unter denen Denken und Handeln in seiner aktuellen Gegenwart möglich sind. Ein so verstandenes Philosophieren erfasst die Bedeutung des »moment présent«,5 des gegenwärtigen Augenblicks. Es interpretiert die Gegenwart, aber nicht aus der Perspektive eines involvierten Teilnehmers, sondern aus der Distanz des reflektierenden Beobachters. Welches die Bedeutung der gegenwärtigen Zeit ist, lässt sich beispielsweise an der aktuellen Ästhetik erkennen, die sich sowohl in Kunstwerken als auch in der Lebensweise von Künstlern ausdrückt. Hier enthüllt der Blick des Beobachters Baudelaire, der von Foucault zitiert wird, eine Phantastik des Realen, »le fantastique réelle de la vie«6 – das Wirkliche wird phantastisch, das Phantastische wirklich gemacht. Zum Phantastischen gehört 3
Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: ders., Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. VIII, Berlin: de Gruyter 1968, S. 33-42.
4 Michel Foucault: »Qu’est-ce que les lumières?«, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Paris: Gallimard 1994, S. 562-578; zuerst erschienen 1984; dt. Übersetzung: M. Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/ Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: Campus 1990, S. 30-54. 5
Michel Foucault: »Qu’est-ce que les lumières«, S. 569.
6 Foucault verweist in seinem Aufsatz (ebd.) auf Charles Baudelaires Schrift: »Le peintre de la vie moderne«, in: ders., Œuvres complètes, Paris: Edition de la Pleiade 1961, S. 1152-1192, hier S. 1161.
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»la beauté passagère, fugace, de la vie présente, le caractère de […] la modernité«7, die vorübergehende, flüchtige Schönheit des gegenwärtigen Lebens, der Charakter der Modernität. In dieser Form lebt sich ein »gewöhnliches Heldentum«8 unserer Zeit aus. Zu den ästhetischen Prozessen im weiteren Sinn können wir auch die Spiele zählen, die in einer Gesellschaft gespielt werden, insbesondere die neu entstandenen Sportpraktiken, die außergewöhnliche sinnliche Erfahrungen verschaffen, wie Skateboarding, Inline Skating, Triathlon, Extremsport. An ihnen zeigt sich die Bedeutung des moment présent; sie führen diese performativ vor Augen, mit einer körperlichen Präsenz wie ein Bühnengeschehen, nur noch intensiver und ernster. Die Bedeutung des moment présent zeigt sich an unzähligen Orten, wo neue Spiele gespielt und von Spielgemeinschaften und ihren Zuschauern angenommen werden, an banalen Orten, Plätzen des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Man muss dieses Geschehen nur zu lesen verstehen, dann erschließt es sich besser als in anderen Feldern, insofern Spiele naive Tätigkeiten sind, die den Teilnehmern einen Raum öffnen, in dem sie von der zensierenden Kontrolle ihres Denkens weitgehend freigestellt sind. Das Selbstverhältnis, welches das Subjekt in seinen Spielen ausformt und vorführt, ist kein reflektiertes; sein hier ausgespielter Heroismus beruht auf einer unaufgeklärten Beziehung zu sich selbst.
7 Charles Baudelaire: »Le peintre de la vie moderne«, S. 1192. 8 Siehe Charles Baudelaire: »Salon de 1846, XVIII De l’Héroisme de la Vie moderne«, in: ders., Œuvres complètes, S. 949-952.
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Der klassische Held und die Leistung Im Sport ist das Selbstverhältnis des Subjekts dadurch geprägt, dass dieses als Autor seiner sportlichen Handlungen auftritt: Es hat seine Resultate aus eigener Kraft, mit seinem Körper hervorgebracht. Das ist nicht alles; der Athlet will darüber hinaus auch Autor seiner selbst sein: Er will sich als Helden hervorbringen. Seine höchste Ambition ist es, nicht nur den Wettkampf mit den anderen und mit dem Risiko zu bestehen, sondern auch die mythischen Erzählungen über seine Sportart zu beherrschen. Der klassische Held stellt alles, was über diese erzählt wird, in Kommentaren, Berichten, Ergebnissen, Bewertungen, unter seine Macht. Seine Aktionen sind so überwältigend, dass sie den Berichterstattern gleichsam die Hand führen und »Geschichte schreiben«; er dominiert nicht nur seine Wettkämpfe, sondern bestimmt auch die Mythenproduktion. Auf diese Weise ist er in vollem Sinn Besitzer seiner Handlungen, zum einen als Autor seiner sportlichen Ergebnisse, zum anderen als Autor seines Mythos. Im Begriff der Leistung, mit dem man die Taten des klassischen Helden belegt, wird diese zweifache Autorschaft zusammengefasst. Eine sportliche Leistung entsteht in einem Prozess, in dem sich zwei Aktivitäten überlagern, die materielle Hervorbringung eines hohen Resultats und dessen mythisierende Darstellung, die ihre Einmaligkeit versichert. Ein sportliches Ergebnis, das nicht erzählt wird, hat keine Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden. »Leistung« verknüpft das einmalige Resultat mit der Einmaligkeit des Autors. Aufgrund seiner Leistung erhält deren Autor einen ausgezeichneten, alle anderen Mitbewerber überragenden Platz. Auf dieser Position übt er Macht über den gesamten Diskurs seines Sports aus. Seine Leistung legitimiert aus eigener Kraft diese herausragende, dominierende Stellung und Führerschaft.
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In der Wirtschaftsgesinnung, die den Kapitalismus in seiner frühen Phase kennzeichnete, galt die Leistung als ein Beweis dafür, dass Gott deren Autor für seine Gnade erwählt hatte. Die Deutung von hoher Leistung als Zeichen von Erwählung eröffnet einen Zugang zu dem tiefer liegenden Sinn des klassischen Sports und kann als das stärkste Motiv für außergewöhnlich hohe Anstrengungen gelten. Eine Person, die den Ruf der Erwählung in sich hört, kann im sportlichen Wettkampf den Beweis9 seiner inneren Berufung für sich selbst und die anderen erbringen. Im lebensgeschichtlichen Stadium der Ungewissheit über sich selbst, die zugleich die Zeit extrem hoher Erwartungen und Zumutungen an sich selbst ist, kann das Subjekt den, in seinen Augen, unwiderlegbaren Beweis dafür erbringen, dass es zu dem kleinen Kreis der erwählten Menschen gehört. Für einen Angehörigen des westlichen Kulturkreises ist es, auch wenn er nicht aus dem christlichen Glauben handelt, ein Leichtes, diese Struktur auf Erwählungen auch anderer als religiöser Art zu übertragen. Der Glauben an den »Gnadenzustand«, état de grâce, in dem man unschlagbar zu sein scheint, ist im Sport tief verankert. Dieses Interesse an sich selber kann das Individuum am besten in Räumen verwirklichen, in dem es um kein anderes Interesse geht, in den interesselosen Gebieten der Kunst und insbesondere des Sports, in dem es (idealerweise) ausschließlich um Wettkampf geht. Im Augenblick der Beweisführung ist der Athlet voller Gewissheit über die Qualität des Beweises; er lebt in einer Selbst-Fülle. Aber dieser Beweis ist immer nur momenthaft; er hat keine Dauer wie im Strafprozess. Er findet in einem Raum der Praktiken und der mythischen Erzählungen statt, der
9 Im Französischen gibt es eine unmittelbare sprachliche Nähe von »Beweis«, preuve und »Wettkampf«, épreuve.
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in ständiger Veränderung begriffen ist und immer neue, immer feinere Differenzen ausbildet. Am Tag nach seinem Erfolg kann der Athlet den gerade erbrachten Beweis wieder in Zweifel ziehen – ist dieser noch gültig, ist er immer noch der Beste? Wie beim Spiegel an der Wand, muss man sich täglich der Spitzenposition vergewissern. Das Selbst-Verhältnis des Athleten bedarf einer immer wieder erneuerten Selbst-Konstitution durch erneute höchste Leistungen; die Beweisführung ist ewig unabgeschlossen. Wenn der Beweis zu einem nächsten Zeitpunkt nicht mehr erbracht, wenn die eigene Leistung von einem Konkurrenten übertroffen wird, beginnt die Selbst-Leere. Der Beweis und das Begehren des Athleten zielen darauf, Autor seiner selbst zu sein. Dies ist eine prinzipiell unmögliche Aufgabe: Das Individuum hat sich nicht wirklich aus sich selbst erschaffen, sondern erhält seine Individualität gerade aufgrund von gesellschaftlichen Strukturen, Normen, moralischen Anforderungen, von Disziplinen, die es verinnerlicht hat. Es entsteht aus sozialen Prozessen, die es selbst vorantreibt, freiwillig vollzieht, gegen sich selbst anwendet und die ihm innerhalb der fein gegliederten Struktur der Gesellschaft seine individuelle Position zuteilen. Es sind nicht Askese und arbeitsanaloge Tätigkeitsformen, die den modernen Sport in den Augen von Kulturkritikern diskreditieren; dies deswegen nicht, weil sie vollkommen den Werten der Arbeitsgesellschaft entsprechen. Problematisch wird er aufgrund seiner strukturellen Anlage, die trotz dieser Konformität auf Heldentum eingestellt ist: Er bringt einerseits das Subjekt als Individuum hervor, das in seiner Einzigkeit gesellschaftlich konstituiert ist. Andererseits verlangt er den Beweis dafür, dass es in seiner Einmaligkeit erwählt worden, dass es ein höheres, das System übersteigendes Wesen sei. Die strukturelle Singularität seiner Position im sozialen Raum soll das Subjekt also durch Leistung in metaphysische Erwählung transformieren. Ein Übermenschentum im sozialen Raum der Disziplinar-
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gesellschaft – dies ist die Illusion des klassischen Heldentums im Sport. Zugleich macht diese paradoxe Konstruktion dessen Faszination für das Publikum und die Athleten aus. Die Helden erliegen ihrer Selbst-Illusionierung; das Publikum will getäuscht werden, nicht anders als die Theaterzuschauer, aber es wird gerade dadurch maximal befriedigt, dass es Zeuge eines ständig fortschreitenden Beweisprozesses ist. Es delektiert sich an der immer erneuerten Dynamik, die Beweis auf Beweis hervorbringt, wie es in Kriminalromanen und Gerichtsfilmen geschieht: Enthüllung von Erwählung – Verlust der Heiligkeit durch Niederlage – Enthüllung der Erwählung eines neuen Heiligen – Wiederkehr des alten Heiligen – neuer Machtkampf etc. Das klassische Individuum wurde von der Philosophie entworfen; es ist durch Autonomie und Selbstbestimmtheit gekennzeichnet und durch Leistung und Besitz ausgezeichnet. Dieses Modell wurde in allen gesellschaftlichen Bereichen durchgesetzt, mit Ausnahme der Kunst. Ein Künstler durfte Drogen nehmen, im Suff handeln, verrückt oder erotoman sein – als Künstler wurde er von allen Vorwürfen freigesprochen. Seine Hervorbringungen, sein Œuvre veredelten seine Person, egal, wenn diese lasterhaft war. In seiner Figur versöhnte sich die Gesellschaft mit sich selbst. Der Künstler war das einzige Subjekt in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft, das sich selbst verkörpern konnte. Dem Bürger war dies nicht gestattet: Er musste charakterliche, moralische und arbeitsethische Werte verkörpern, wie Anstand, Moralität, Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit. Für ihn galt gerade nicht Nietzsches gefährlicher, weil aufrührerischer Imperativ: »Werde, der du bist!« Dieses Verkörperungs-Verbot galt vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg. Im klassischen Helden des Sports fand es seine positive, triumphale Verkörperung. Er war das Subjekt, in dem sich die Gesellschaft mit der Verpflichtung versöhnte, etwas sein zu
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müssen, was man nicht ist. Er verweigert sich dieser Aufgabe nicht, sondern spielte seine Rolle mit Befriedigung und Lust.
Die Anklage des gewöhnlichen Helden Der in den letzten Jahrzehnten eingetretene Wandel in den Spielen zeigt eine grundlegend veränderte Einstellung zur Autorschaft an. Das Subjekt hat heute nicht mehr wie noch in den 60er Jahren die Illusion, tief in seinem Inneren verborgene Eigenschaften aus sich herauszuholen, wie die fremden Blicken verborgene Erwählung, die es in sich spürt. Vielmehr will es ein Handelnder werden, der die Macht hat, sich selbst zu lenken und zum Autor seines Erfolgs zu werden, unabhängig von der Gesellschaft, die ihm nichts mehr vorschreiben kann. Der Athlet ist heute nicht mehr von Respekt vor den Regeln, Strukturen und Normen geprägt, sondern er zeichnet sich dadurch aus, dass er sich selbst ermächtigt, seinen Sieg auf jede erdenkliche Weise zu erringen. Unter Aufbietung aller seiner Fähigkeiten, der physischen wie der mentalen, versucht er, den Wettkampf zu seinen Gunsten zu beeinflussen und das Spielglück auf seine Seite zu ziehen. Auf der Suche nach dem Vorteil legt er das Spiel gemäß seinen Vorstellungen aus, zwingt seine Interpretation dem Gegner auf und verschafft sich auf diese Weise die entscheidenden Vorteile. Er unterwirft sich nicht den Regeln des Spiels, sondern versucht diese zu seinen Gunsten einzusetzen. Sobald dies nicht möglich ist, hat er keine Hemmungen, die Regeln zu brechen, wenn die Sanktion geringere Folgekosten für ihn hat als deren Beachtung. Wenn man den neuen gewöhnlichen Helden in einer Foucault’schen Perspektive interpretiert, lässt sich erkennen, dass dieser die von ihm angesammelte Macht gegen das Konzept des Individuums richtet, und zwar gegen zwei konstitutive Bedin-
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gungen dieses Begriffs: (1) gegen die in diesem enthaltene Normalitätsforderung und (2) gegen den Anspruch auf Einmaligkeit. (1) Nach Foucaults Gedanken handelt das moderne Individuum nicht unter einem von der Gesellschaft ausgeübten Druck, sondern es gestaltet sein Verhalten aus dem verinnerlichten Wunsch, den gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität zu entsprechen. Mit dieser gewählten Orientierung normiert es sich selbst, insofern es aus freien Stücken die sozialen Anforderungen, die an »normales« Verhalten gestellt werden, erfüllt. Im Idealfall geht das Subjekt in seiner sozialen Position ohne Rest auf. Soziale Konstituiertheit der Person und Individualisierung sind nichts anderes als zwei Seiten desselben Prozesses. Von den Athleten im klassischen Sport wird dieses Faktum nicht erkannt; sie streben nach immer wieder neu bewiesener Besonderheit und Auszeichnung vor den anderen, damit nach einer Trennung von diesen. Ganz anders der gewöhnliche Held: In seiner Risikopraxis will er alles andere als normal sein; am liebsten bezeichnet er sich als »irre«. (2) Seine »Verrücktheit« kennzeichnet keinesfalls nur seine eigene Sportpraxis; als »irrer« Athlet ist er gerade nicht einmalig, sondern teilt diese Kennzeichnung mit anderen, mit Gleichgesinnten, die dieselbe riskante Sportpraxis betreiben. Gegen die Zuweisung einer einzigartigen sozialen Position setzt er seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – der Gemeinschaft der Triathleten, der Paraglider, der Skateboarder, die von einer gemeinsamen Praxis geeint wird. Man findet bei ihnen keine Gesellungsformen wie in den traditionellen Sportvereinen, die klar formulierte Anforderungen an ihre Mitglieder stellen, regelmäßige Zusammenkünfte und die Erfüllung bestimmter Pflichten verlangen. Es handelt sich vielmehr um »virtuelle« Gemeinschaften, deren Mitlieder sich meistens gar nicht persönlich kennen, einander nur sporadisch begegnen, aber sich an gleicher Praxis, Kleidung, an der Art der Sportgeräte und ihrem Sporthabitus wiedererkennen.
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Die Absatzbewegung vom Konzept des Individuums geht in zwei Richtungen: Auf der einen Seite will das Subjekt die in ihm steckenden, aber bisher unausgeschöpften Möglichkeiten zum Vorschein bringen; auf der anderen strebt es danach, die Trennungen zwischen ihm und den gleichgesinnten Anderen aufzuheben – es strebt nach Gemeinschaftlichkeit. Das Subjekt will anders sein als sein gesellschaftliches Ich und zugleich mit den zu ihm passenden Anderen eine Gemeinschaft bilden. In dieser Gemeinsamkeit will es wie die anderen Mitglieder sein und sich mit diesen von allen Nichtmitgliedern unterscheiden, aber zugleich auch eine distinkte Position innerhalb der Gemeinschaft einnehmen. Seine Aktivität richtet sich sowohl gegen die Macht der Normalität als auch gegen die Trennung von den anderen. Sie ist aber nicht subversiv, sie unterminiert nicht die gesellschaftliche Macht, sondern stellt einen Versuch dar, aus den gesellschaftlichen Verhältnissen auszubrechen, ohne diese in Frage zu stellen. Mit seiner Revolte gegen das Konzept des Individuums zielt das Subjekt gegen seine Wünsche nach Normalität, die es in seiner Berufstätigkeit ohne zu zögern erfüllt, und gegen seine soziale Positionierung, die es in einer Gemeinschaft neuen Typs zu überwinden sucht. Gegen das, was er aus sich in seiner gesellschaftlichen Tätigkeit gemacht hat, stellt er in seiner Sportaktivität einen anderen Entwurf von sich selber dar – ein Ich, das typisch ist für die von ihm gewählte, erwählte Gemeinschaft. Ein Risiko geht der gewöhnliche Held in dreierlei Hinsicht ein: Er setzt sich den Gefahren seiner Sportpraxis aus; er ermächtigt sich gegen die normierende Macht der Gesellschaft, insofern er einen neuen Entwurf von sich selbst riskiert; er setzt sich ab von seiner Platzierung im System der Gesellschaft und sucht eine neue Art der Gemeinsamkeit mit anderen. Aber keines dieser Risiken ist ohne doppelten Boden: In allen drei Fällen handelt er unter dem Schutz von Sicherungen – er schützt sein Leben,
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seinen Beruf, seine Person gegen mögliche Abstürze in die reale Lebensgefahr, gegen den Verlust seines sozialen Status und gegen die Zudringlichkeiten anderer Mitglieder seiner Gemeinschaft. Es gibt eine alte Verbindung von Risiko und Wahrheit. Im antiken Griechenland gehörte das Risiko zu einem besonderen Typ der Wahrheitsfindung: Im archaischen Gerichtsverfahren wurde nicht ermittelt, was tatsächlich geschehen war, sondern es öffnete für die beiden Konfliktparteien einen Raum des Risikos. Es beruhte nicht auf Beweisen der Wahrheit, sondern auf einem physischen Kampf, der zur Wahrheitsfindung organisiert wurde. Auch in den neuen Sportarten, die das Risiko in den Mittelpunkt stellen, lässt sich eine Prozessstruktur entdecken; man kann sie wie folgt beschreiben: In der Rolle des Anklägers befindet sich der Athlet; er klagt die Durchschnittlichkeit des Alltagslebens an und will sich selbst als Mitglied einer außergewöhnlichen Gruppe beweisen. Er muss den Beweis erbringen, dass der Grund der Anklage nicht in ihm selbst liegt, sondern in der Unterforderung seiner Fähigkeiten, die unter den normalen Lebensumständen keine Chancen der Entfaltung haben. Der Kläger fordert eine Probe seines Könnens ein; er will sie bestehen, indem er an die Grenze geht und sein Leben zurückgewinnt. Es ist eine Probe auf das Subjekt. Die neuen Sportarten organisieren eine Befragung über den Menschen: Ist er zur Erneuerung seiner selbst fähig? Kann er seinem Leben eine neue Form geben? Kann er zusammen mit anderen, die ebenfalls die Grenzsituation suchen, eine Gemeinschaft bilden? Wird er von dieser aufgenommen? Zweifellos handelt es sich um eine andere Gemeinschaft als die Familie oder der Familie ähnliche Institutionen wie der Verein. Auch der klassische Sport war eine Art der Selbstbefragung. Er formte die Frage: Wer bin ich? in die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Subjekts um: Was kann ich? Obwohl die post-klassischen Sport-
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praktiken extrem leistungsorientiert sind, geht es ihnen nicht um eine Tiefensondierung des Subjekts; der Athlet will nicht mehr wissen, was er als einzigartige, von allen anderen unterschiedene Person ist. Sein Interesse an sich selbst ist darauf gerichtet, was sein Ich sein kann. Was auf den ersten Blick wie eine auf die Spitze getriebene Individualisierung aussah, strebt in Wirklichkeit von dem lebensgeschichtlich erworbenen und sozial verankerten Ich fort. In dem Prozess, den das Individuum der Gesellschaft macht, erhebt es die Anklage: »Soll ich ewig ich bleiben?« Der Athlet schüttelt die alten Charakterisierungen ab, mit denen man ihn vorher gekennzeichnet hatte. Er unternimmt es nun zu prüfen, welches neue Konzept des Ichs er an die Stelle des alten setzen kann. Mit seinen neu entstandenen Praktiken bildet der Sport heute eine Avantgarde, ein Experimentierfeld neuer Menschenentwürfe. In all diesen Disziplinen erkennt man ein Aufbrechen, Losziehen, ein Loslassen von Sicherheiten und eine Bewegung auf die Grenzen des Üblichen zu. Heute werden die Grenzen nicht mehr existenzphilosophisch aufgefasst;10 es geht vielmehr darum, ein Subjekt zu konstruieren, dem die Macht zukommt, seine eigene Subjekt-Konstruktion zu lenken und unter Kontrolle zu behalten. Foucaults Bestimmung der Arbeit an der Grenze scheint mir auf die modernen Spiele gut zuzutreffen: dass man ein eigenes Konzept des Subjekts ausprobiert und testet, wie weit man dieses verändern kann.
10 Siehe exemplarisch Hans Lenk: Leistungssport: Ideologie oder Mythos? Stuttgart: Kohlhammer 1972; ders., »Herakleisch oder prometheisch. Mythische Elemente im Sport«, in: ders., Pragmatische Vernunft, Stuttgart: Reclam 1979, S. 176-199.
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Die Verfertigung des gewöhnlichen Helden Anstelle einer Individualisierung, die angeblich die neuere Entwicklung der Gesellschaft wie des Sports charakterisiert, lässt sich gegenwärtig das Gegenteil beobachten, nämlich eine Entindividualisierung und Entsubjektivierung ins Heldentum. Der Held ist eine mit starker persönlicher Beteiligung hervorgebrachte transsubjektive Figur, eine das bürgerliche Subjekt überragende Gestalt als ein Produkt von Gestaltung. Er ist kein Individuum mehr, sondern eine Figur, im Sinne einer Dramen- oder Filmperson. Der Prozess seiner Herstellung und die dabei benutzten Kunstmittel prägen das fertige Endprodukt; ihre Beteiligung lässt sich an den mit ihrer Hilfe erzeugten Heroen erkennen. Welches sind die Merkmale dieses Helden neuen Typs? In den Prozess seiner Herstellung gehen wesentlich technische Mittel ein. Dies sind, erstens, jene Apparate, die daran beteiligt sind, die sportlichen Handlungen hervorzubringen. Unter wesentlicher Mitwirkung neuartiger technologischer Geräte erhöht der Athlet Körper und Leistungen. Sein Körper passt sich den technischen Geräten an; dies aber nicht im Sinne einer Unterordnung verstanden, sondern als eine Höherentwicklung, insofern diese ihn zu Taten fähig macht, die sein natürlicher Körper niemals hervorbringen könnte. Nun kann er schweben, gleiten, lange Strecken durchrasen, sich mit Leichtigkeit in großen Höhen bewegen – die Geräte machen ihn zu einem anderen Wesen: sie verändern sein Selbstverhältnis. Er sieht sich anders, fühlt sich anders und nimmt sich als ein anderer wahr. In dieses neuartige Verhältnis zu sich selbst gehen, zweitens, Apparate zur Herstellung von Bildern ein.11 An der Hervorbringung der gro-
11
Siehe G. Gebauer: »Der von Apparaten gemachte Körper und der Apparat, der Körper macht«, in: Barbara Ränsch-Trill (Hg.), Natürlichkeit
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ßen populären Helden sind das Fernsehen, die Photographie und der Film wesentlich beteiligt. Mithilfe dieser Medien wird die Begegnung des Helden mit seinem Publikum organisiert. Ohne ihre Mitwirkung bleiben die sportlichen Heroen entrückt; im Stadion sehen wir sie aus einer zu großen Entfernung, um einen Kontakt von Antlitz zu Antlitz möglich zu machen. Dieser entsteht durch die technisch hergestellten Bilder der Athleten. Ihr Merkmal ist eine Veränderung des Sehens; sie haben eine so überwältigende Präsenz, dass sie alle anderen Mittel überlagern – sie machen aus dem Fernsinn einen Nahsinn. Technische Apparate erhöhen den Athleten, wenn er das Risiko besteht und so seine Anklage gegen die Gesellschaft mit Erfolg durchbringt. Er ist nicht mehr er selbst, sondern ist zu etwas Höherem geworden, zur fiktionalen Figur des Übermenschen. Mit seiner Leistung und mit dem Einsatz von Technologien durchbricht er den Status des Individuums. Es gibt jetzt Bilder von ihm, produziert von Apparaten, vorgeführt, verbreitet, als wahr geglaubt von ihm selbst und von anderen. Sie repräsentieren keine Wirklichkeit; haben keine Wahrheit, sondern konstituieren und demonstrieren sein Selbstverhältnis. Wo das Subjekt war, steht jetzt ein Bild. Es wird als etwas Unpersönliches, Überpersönliches hervorgebracht. An diesem Vorgang ist neu, dass die apparative Entpersönlichung als Gelegenheit ergriffen wird, eine post-individualistische und post-subjektive Figur herauszubilden: etwas aus sich heraus zu schaffen und diesem Neugeschaffenen eine feste Gestalt zu geben. Im Gewimmel der Erscheinungen ermöglicht das so erzeugte Bild eine Wiedererkennbarkeit. Es hält stabile Muster fest, die sich dazu eignen, wiederholt zu werden. Tatsächlich kann man
und Künstlichkeit. Philosophische Diskussionsgrundlagen zum Problem der Körper-Inszenierung, Hamburg: Czwalina 2000, S. 135-142.
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bemerken, dass die bildlichen Merkmale der gewöhnlichen Helden wiederkehren. Die Wiederholung bestimmter Bilder ist notwendig für das Funktionieren der Prozeduren des Eintretens, Zulassens und der Anerkennung in Gemeinschaften. Ein neu Hinzukommender wird von deren Mitgliedern mit Blicken abgetastet, die danach suchen, ob er alle – bildlichen – Merkmale aufweist, die sie für unverzichtbar halten: die Kleidung, Körperhaltung, Bewegungsweisen, das Material, die Zeichen des Engagements.12 Es ist die im Zentrum der Gemeinschaftsrituale erkennbare Wiederholung von Bildern, die den Helden und ihren Handlungen Stabilität und Struktur gibt. Alle neuen Gemeinschaften sind in Wiederholungen von Bildern fundiert – gäbe es die Bilder nicht, könnten sich ihre Mitglieder nicht wiedererkennen. Aber damit ist nicht gesagt, dass diese sich ihre Bilder selbst einfach irgendwo abgesehen hätten; es handelt sich nicht um Imitationen. Es verhält sich anders: Der Sportler macht sich zu einem Bild; in diesem Akt lässt sich etwas Neues erkennen, was im Alltagsleben bisher nicht aufgetreten ist. Um dieses Neue hervorzuheben, ist es notwendig, den Prozess, in dem jemand zu einem Bild wird, näher zu betrachten. Gewöhnlich lässt sich nicht im Augenblick der Handlung selbst erkennen, dass eine Person ein Bild von sich präsentiert. Was an einer Handlung bildlich ist, wird nicht in der aktuellen Gegenwart bemerkt; dies stellt sich erst später heraus, erst in der Zukunft. Wenn wir beispielsweise von einer Person A sagen, er sei »ein typischer Vertreter der 68er Generation«, sie verkörpere genau deren Bild, dann wird eine Vielfalt von Erscheinungsweisen hervorgehoben und zu einem einheitlichen Bild modelliert, und zwar zu einem Zeitpunkt, der im Verhältnis zu 1968 in der 12
Siehe Thomas Alkemeyer/Gunter Gebauer: »Intermediäre Strukturen. Vermittlungen zwischen Spielen und Alltagswelt«, in: Paragrana 11 (2002), H. 1, S. 51-64.
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Zukunft liegt. 1968 hätte man dies nicht wissen können. Es gab damals viele Leute, die – aus unserer heutigen Sicht – das typische Bild jener Generation abgaben. Man hätte damals sagen können, dass sie auf eine charakteristische Weise in Erscheinung traten, aber sie präsentierten sich nicht als jenes Bild: Ihre Bildlichkeit war weder für sie selbst noch für andere als solche erkennbar. Heute entwerfen sich die Teilnehmer an den neuen Sportpraktiken und stellen sich in der Weise dar, dass sie – von der Zukunft aus gesehen – schon heute dieses Bild sind. Sie antizipieren eine bestimmte zukünftige Bildauffassung und präsentieren diese als Bild ihrer selbst in der Gegenwart. Im Augenblick ihres Handelns rücken sie sich in die Perspektive eines kommenden Zeitpunkts; sie blicken von der Zukunft auf den gegenwärtigen Augenblick und handeln im Jetzt entsprechend der zukünftigen Bildauffassung. Sie kehren also die normale Zeitrichtung um, insofern sie in der Gegenwart ein Bild wiederholen, das es nur im Modus des Futurs gibt. Wenn man in der aktuellen Zeit einen zukünftigen Standpunkt annimmt und von diesem auf die Gegenwart zurückblickt, wird das Jetzt zur Vergangenheit der Zukunft. Dieser Gesichtspunkt, der die Athleten der neuen Sportpraktiken kennzeichnet, ist die Futur II-Perspektive. Sie leben in zwei Zeiten zugleich – die Gegenwart füllt sie nicht aus; mit einem Teil ihrer selbst blicken sie aus der Zukunft auf sich zurück: Ich werde dieses Bild gewesen sein; spätere Zeiten werden mich als diese Figur sehen. In dieser Blickweise entsteht das Heroische. Reinhold Messner, der einen Übergang vom klassischen Athleten-Helden zu einem Heroen neuen Stils darstellt, erzählt offen, wie er die Futur II-Perspektive auf sein eigenes Leben anwendet.13 Zunächst behauptet er, noch ganz in der von Heidegger-Lektüre 13
Vgl. Volker Caysa/Wilhelm Schmid: Reinhold Messners Philosophie, Frankfurt a.M.: Campus 2002.
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geprägten Sprechweise, dass er sein »Leben vom Tod her beleuchte«.14 Dann aber fährt er fort: »Jetzt steht eine Entscheidung an, und ich denke mich zwanzig Jahre nach vorne und tue so, als ob ich von dort zurückblicken würde auf den gegenwärtigen Tag, ist das nicht hypothetisch. Ein kühner Trick, nicht wahr? Wenn das Leben einmal vorbei ist, ist es vorbei, dann ist es nur noch Biographie.«15 Es ist weniger eine Biographie, die Messner von sich entwirft, als ein Mythos. In den modernen mythischen Erzählungen finden sich genau die narrativen Strukturen, mit denen die Futur II-Perspektive ausgedrückt werden kann:16 Sie streben aus der Zeitlichkeit hinaus; sie stellen sich auf einen Standpunkt, der jenseits des Todes des Heroen liegt. Dessen Leben und Taten werden sub specie aeternitatis gesehen, aus einer Position, in der der Tod schon überwunden ist. Der Blick aus dem Jenseits sichert sich die Macht über die Zeit; er hält das Verschwindende, Entfliehende des augenblicklichen Moments fest und bewahrt es vor dem Vergessen und Verlieren. Der Mythos wird gegen die Diskontinuität der Zeit und die Entwertung, die diese hervorruft, entworfen. Er ist geprägt vom Wunsch der Athleten, über dem Menschen zu stehen, von ihrem Willen zum Heroismus. Von Baudelaire ist eine solche Haltung in der Kunst entworfen worden, als eine Erfindung seiner selbst, die keine Suche nach sich selbst ist. Sie stellt für ihn so etwas wie ein Epos in der Moderne dar, deren epische Seite, »le côté épique de la vie moderne«.17 14 Vgl. »Wie man leben lernt und Träume Realität werden lässt.« Gespräch mit Reinhold Messner auf Burg Juval, Südtirol, ebd., S. 214. 15
Ebd.
16 Vgl. Gunter Gebauer: »Der Held und sein Handy. Sport als Habitus und Erzählung«, in: Merkur 55 (2001), H. 1, S. 1-15. 17
Charles Baudelaire: »Salon de 1846«, in: ders., Œuvres complètes, S. 949-952, hier S. 949f.
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Ein solches Erfinden war im 19. Jahrhundert Sache der Künstler – freilich wussten sie, dass ihre Haltung nur in der Ironie möglich war. Die Erfinder ihrer selbst in den neuen Sportarten streben, ob sie es wissen oder nicht, dem Ideal des Künstler-Dandys nach, freilich im simplen Register der Körperkräfte, auf dem sich keine distanzierenden Zwischentöne befinden. Die feine Ironie, das Abstandnehmen, die paradoxe Formulierung sind in diesem nicht abbildbar. Die Heroen der neuen Sportpraktiken meinen es ernst, und diese Ernsthaftigkeit ist eine Parodie auf den ironischen »Heroismus des gegenwärtigen Augenblicks«, von dem Baudelaire spricht. Auch sie spielen ihre Selbstdarstellung, aber sie sind im Spiel nicht bereit zuzugeben, dass sie die Figur, die sie sein wollen, nur spielen. Allein der Zwang der Lebensumstände bringt sie dazu, das Spiel zu verlassen: Wenn sie ihrer Berufsarbeit nachgehen, müssen sie wieder zu der Alltagsperson werden, an deren Platz im Spiel ein Heroe getreten war. Auf diese Weise sind sie zweifach und zweifach ernst, ohne die Möglichkeit der Vermittlung zwischen ihren beiden Seiten oder der Distanzierung von ihnen. Dem Zwang der Verhältnisse im Alltag setzen sie ihren Glauben an den Heroen, der sie selbst sind, entgegen. Was wir in den neuen Sportpraktiken erkennen, ist die Parodie eines Machtkampfs mit der Gesellschaft. Aber die Parodie hat einen ernsthaften Grund: Die Anklage richtet sich gegen die Einsperrung der Individuen in eine festgezurrte soziale Identität, die die andere Seite ihrer Subjektivität ausschließt. Gegen die Disziplinar- und Pastoralmacht, gegen Normen, Anforderungen, Erwartungen und Fürsorge, unter die sich das Individuum gestellt sieht – und die übrigens im klassischen Sport akzeptiert, manchmal sogar gefordert werden –, bricht das Subjekt auf, nicht zu neuen Ufern, sondern zu einem neuen Bild, zu einer neuen Wahrheit über sich selbst. Es richtet sich gegen sozialen
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Konformismus und Individualitätsstreben, freilich ohne beides überwinden zu können, insofern es seine Anstrengungen ausschließlich auf sich selber richtet, auf das Spiel seiner selbst, auf seine Körperformung, Kleidung, Gestik, Sprechweise, soziale Darstellung – eine Ästhetik des Künstlerlebens, einer »vie d’artiste« ohne Kunst.18
Die Grenze Im Unterschied zum klassischen Sport ist die Grenze, um die es den Teilnehmern an den neuen Sportpraktiken geht, keine Trennlinie, die sie überwinden wollen. Sie wird durch die Frage markiert: Wie weit kann ich mich von meiner sozial festgelegten Individualität entfernen? Wie weit kann ich verändern, was ich von Gesellschaft wegen sein soll? Es geht nicht darum, der Erste zu sein; auch nicht um Originalität, sondern um den Stil: um die Erfüllung einer bestimmten Art des Bildes. Das Subjekt strebt danach, ein typischer Vertreter eines Bildes zu sein. Typisch-Sein heißt nun gerade nicht, etwas Eigenes zur Geltung zu bringen. Nicht ins Unbekannte geht die Reise, sondern in das, was das Bekannte sein wird. Das eigene Leben hat keine Bedeutung in sich selber, sondern nur in der Wiederholung dessen, was man zukünftig als Bild sehen wird. Mit Nietzsche beginnt eine Philosophie der Post-Originalität. Wenn man seine Zeitkonzeption, die er im Zarathustra und in der Fröhlichen Wissenschaft entwirft, ernst nimmt, erhält eine Handlung in der Gegenwart dadurch Sinn, dass sie in den endlosen Durchläufen der zyklischen Zeit immer wieder von neuem 18 Michel Foucault: »A propos de la généalogie de l’éthique: un aperçu du travail en cours« (ein Gespräch mit H. Dreyfus und P. Rabinow), in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, S. 629.
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getan wird.19 Sie gehört zu der Kette endloser Wiederholungen der Geschehnisse, die in der Zukunft immer wieder eintreten werden. In der Zukunft wird wieder und wieder das getan, was im Jetzt getan worden sein wird. Nietzsche ist der Philosoph des Blicks aus der Zukunft auf die Gegenwart. Gegen die Futur IIPerspektive lässt sich einwenden, dass sie die Verhältnisse der Gegenwart nicht verändert, insofern sie diesen keinen Sinn aus ihnen selbst, sondern von einem hochfiktionalen zukünftigen Standpunkt zukommen lässt. Aber diese Sichtweise, die man bei den Teilnehmern an den neuen Sportarten unserer Tage vorfindet, verändert die handelnden Subjekte; sie gestalten ihr Selbstverhältnis um. Mit dem gewöhnlichen Helden ist eine neue Art von Person im Entstehen begriffen – ein Held, der in seiner Freizeit seine Berufsexistenz mit riskanten Praktiken transzendiert. Man kann gleichzeitig erkennen, wie die Ausstrahlung, die über viele Jahrhunderte vom klassischen Individuum ausging, ihre Leuchtkraft einbüßt. Was dieses so ungeheuer erfolgreich – im Übrigen auch gefährlich für sich selbst – gemacht hat, ist sein außerordentlicher innerer Zusammenhalt: In diesem Typ von Person sind Weltverhältnis und Selbstverhältnis fugenlos ineinander verschränkt, eine interne Kohärenz, die insbesondere von den großen Gestalten des 19. Jahrhunderts, von den bedeutenden Dichtern, Philosophen, Gelehrten, Ärzten, Erfindern, Unternehmern, Entdeckern, Politikern, demonstriert wurde. Beide Typen von Helden wurden über ein bestimmtes Verständnis von der Grenze, verstanden als eine Trennlinie, konstituiert: Die Grenze organisiert im Weltverhältnis die Moral des Subjekts (erlaubt vs. verboten), seine Erkenntnis (wahr vs. falsch) und Autonomie 19 Vgl. Gunter Gebauer: »Warten auf den Übermenschen«, in: Renate Reschke (Hg.), Zeitenwende – Wertewende, Berlin: Akademie 2001, S. 127-143.
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(frei vs. unfrei). Im Selbstverhältnis orientierte sie die Vorstellung ihres Lebens (gelungen vs. misslungen), ihrer Persönlichkeitsnormen (normal vs. anormal) und inneren Konsistenz (einheitlich vs. heterogen). Für das klassische Subjekt bestand die Aufgabe darin, den Bereich diesseits der Grenze mit seiner Verantwortung zu füllen und alle seine Kraft dafür einzusetzen, die Grenze vom Inneren aus hinauszuschieben und den Spielraum des Erlaubten, der Wahrheit, Freiheit, des Gelungenen, Normalen und Konsistenten zu vergrößern. Diese Grenzverschiebung war der große Anreiz für Taten und machte das Pathos der klassischen Person aus. In den gegenwärtigen Entwicklungen scheint sich das Selbstverhältnis mehr und mehr vom Weltverhältnis abzulösen und zu selbstständigen Formen zu tendieren. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sich der Handelnde eine andere Zeit als die Gegenwart erfindet. Vom Gesichtspunkt einer fiktionalen Zukunft aus schaut es sich gleichsam bei seinen Handlungen zu, aber nicht als unbeteiligter Beobachter, sondern als Entwerfer seiner selbst. In der Gestaltung seines Selbstverhältnisses bindet es sich los von seinem Weltverhältnis und orientiert sich an den Entwürfen der Gemeinschaft, die ihm als Referenz dienen. In diesem Blick ist es nicht mehr wichtig, die Rolle eines originären Subjekts zu erfüllen, das für das klassische Personenkonzept der Fluchtpunkt des Handelns war. Wer aus sich einen Helden macht, findet keinen Geschmack mehr an der Gesellschaft der Individuen.20
20 Vgl. Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.
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Autorinnen und Autoren | 185
Autorinnen und Autoren
Friedrich Balke ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs »Medien und kulturelle Kommunikation« in Köln. Arbeitsschwerpunkte: Grenzgebiete zwischen politischer Theorie, Literatur und Medien, französische Gegenwartsphilosophie, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u.a.: Gilles Deleuze (1998); Wie man einen König tötet oder: Majesty in Misery, in: DVjs 75 (2001); »From a biopolitical point of view: Nietzsche’s Philosophy of Crime, in: Cardozo Law Review (2002); Erotische Recherchen. Marcel Prousts Decodierung der Intimität (2003) (hg. mit Volker Roloff); »Rhetorik nach ihrem Ende. Das Beispiel Adam Müllers«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz. DFGSymposion 2002 (2004). Gunter Gebauer, Professor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. 1969 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zur Sprachphilosophie Wittgensteins. Von 1969 bis 1975 Assistent am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe. Habilitation 1975 mit einer Arbeit über das Problem des Verste-
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hens und die Analytische Theorie. Seit 1978 Professor an der Freien Universität Berlin. Fächer: Philosophie und Sportsoziologie. Neuere Publikationen (Auswahl): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft (zus. mit Christoph Wulf), 1992. Olympische Spiele – die andere Utopie der Moderne. Frankfurt a.M. 1996. Spiel – Ritual – Geste. Das Mimetische in der sozialen Welt (zus. mit Christoph Wulf), Reinbek 1998. Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin 2002. Habitus (zus. mit Beate Krais), Bielefeld 2002. Mimetische Weltzugänge. Soziales Handeln – Rituale und Spiele – ästhetische Produktionen (zus. mit Christoph Wulf), Stuttgart 2003. Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, (zus. mit Thomas Alkemeyer, Uwe Flick, Bernhard Boschert, Robert Schmidt), Bielefeld 2004. Elisabeth von Samsonow, Philosophin und Bildhauerin, Professorin für philosophische und historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Publikationen u.a.: Die Erzeugung des Sichtbaren. Die philosophische Begründung naturwissenschaftlicher Wahrheit bei Johannes Kepler (1987). Giordano Bruno, hg. von E. Samsonow (1996). Fenster im Papier. Die Kollission von Architektur und Schrift oder die Gedächtnisrevolution der Renaissance (2001). Mirjam Schaub, Philosophin und Autorin, Arbeit als freie Literatur-, Film- und Kunstkritikerin u.a. für taz, ZEIT, Freitag und FAZ, short stories für Frau und Hund. Zeitschrift für kursives Denken; gelegentlich Künstlerportraits für das ZDF (aspekte). 2001 Promotion mit einer Arbeit über Gilles Deleuze. 2001-2003 Postdoktorandin der DFG und eine der Koordinatorinnen des Graduiertenkollegs »Körper-Inszenierungen«. Danach Forschungsaufenthalt am Maison des Sciences de l’Homme in Paris. Seit August 2004 Wiss. Assistentin am Institut für Philosophie der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Filmtheorie,
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Autorinnen und Autoren | 187
frz. Strukturalismus, dt. Idealismus. Neuere Publikationen (Auswahl): Gilles Deleuze im Wunderland: Zeit- als Ereignisphilosophie, München 2003. Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003. Bilder aus dem Off, Weimar 2004. Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips (hg. mit Nicola Suthor), München 2004. Stefanie Wenner (Berlin), Philosophin und Autorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin der Direktorin am Zentrum für Literaturforschung Berlin, Mitbegründerin der Diskursiven Poliklinik (DPK). Publikationen u.a.: Vertikaler Horizont. Zur Transparenz des Offensichtlichen (2004). Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung (2002, hg. mit Sylvia Sasse).
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Neuerscheinungen zum Thema Körper:
Monika Fikus, Volker Schürmann (Hg.) Die Sprache der Bewegung Sportwissenschaft als Kulturwissenschaft
Gabriele Klein (Hg.) Bewegung Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte
November 2004, 142 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-261-9
Juni 2004, 306 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-199-X
Mirjam Schaub, Stefanie Wenner (Hg.) Körper-Kräfte Diskurse der Macht über den Körper
Gunter Gebauer, Thomas Alkemeyer, Bernhard Boschert, Uwe Flick, Robert Schmidt Treue zum Stil Die aufgeführte Gesellschaft
November 2004, 190 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-212-0
Franck Hofmann, Jens E. Sennewald, Stavros Lazaris (Hg.) Raum – Dynamik / dynamique de l’espace Beiträge zu einer Praxis des Raums / contributions aux pratiques de l’espace
Mai 2004, 148 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-205-8
Karl-Heinrich Bette X-treme Zur Soziologie des Abenteuerund Risikosports Februar 2004, 158 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-204-X
Oktober 2004, 356 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-251-1
Robert Gugutzer Soziologie des Körpers Oktober 2004, 218 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-244-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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) anzeige körperkulturen november