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German Pages 266 Year 2015
Valentin Rauer Die öffentliche Dimension der Integration
Valentin Rauer (Dr. rer. soc.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 485 »Norm und Symbol« an der Universität Konstanz. Seit 2007 leitet er dort ein Projekt im Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« zum Thema Bindestrich-Identitäten. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Migration und Öffentlichkeit. Publikationen (u.a.): »Die Einhegung des Anderen. Türkische, polnische und russlanddeutsche Einwanderer in Deutschland«. Wiesbaden: VS-Verlag, 2004 (mit Eder, Klaus/Schmidtke, Oliver); »Ethnische Vereine in der Selbst- und Fremdbewertung. Plädoyer für einen relationalen Sozialkapital-Ansatz«. In: Zivilgesellschaft und Sozialkapital. Herausforderungen politischer und sozialer Integration, hg. v. Ansgar Klein et al., Wiesbaden, 2004, S. 211-229.
Valentin Rauer
Die öffentliche Dimension der Integration Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland
Dissertation der Universität Konstanz, Tag der mündlichen Prüfung: 13.10.2006, Referenten: Prof. Dr. Bernhard Giesen und Prof. Dr. Klaus Eder Diese Arbeit ist im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB 485 »Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration« der Universität Konstanz entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »NZZ, 31.05.2006, S. 27 (und)«, Zeitungspapier auf Karton, 51,7 x 36,7 cm, © Albrecht Schäfer (*1967), 2007 Courtesy Galerie Kamm, Berlin Lektorat: Mirjam Müller Satz: Valentin Rauer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-801-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung
7
TEIL I: THEORETISCHE VORAUSSETZUNGEN UND FORSCHUNGSSTAND
1. Beobachtungsperspektiven Kollektive Akteure in der medialen Öffentlichkeit Forschungsstand und Methodologie
15 17 23
2. Individualisierung „Der Fremde“: marginalisiert oder modernisiert „Der Ausländer“: desintegriert oder assimiliert
41 42 50
3. Nationalisierung Identität: kulturelle Kodierung statt Natur Ethnizität: soziale Grenzziehung statt Kultur
69 70 78
4. Universalisierung System: funktionale In- und Exklusion statt Multikultur Raum: Transnationalität statt Her- und Ankunftsgesellschaft
91 92 107
TEIL II: DIE VERBÄNDE IN DEN MEDIEN
5. Methodik Verbände und Medien Daten und Kodierung
129 129 132
6. Mediale Präsenz der Verbände Absolute Dimension Vergleichende Dimensionen
143 143 144
7. Migrationspolitische Forderungen Staatsbürgerschaft Islam Integration Schlussfolgerungen
151 154 163 175 184
8. Diskurstheoretische Deutung: Ego-Alter-Relationen Individualisierung: additiv statt exklusiv Nationalisierung: additiv und exklusiv Universalisierung: exklusiv statt additiv Schlussfolgerungen
195 195 204 213 221
Zusammenfassung
225
Literatur
227
Tabellen
253
Abkürzungen
255
Anhang
257
Danksagung
261
Einleitung
„Als Fürsprecher des Minderheitendiskurses erwies sich Safter Cinar, der Sprecher des Türkischen Bundes, als denkbar ungeeignet. Er wollte den Begriff der Minderheit ausdrücklich nicht als juristische Kategorie verwendet wissen, und verwahrte sich dagegen, alles auf eine Frage der Herkunft reduzieren zu wollen – so stark, dass sich Robert Goldmann schon zu wundern begann. Schließlich, so der amerikanische Gast auf dem Podium, seien es in den USA gerade die Interessenvertreter der Minderheitenverbände, die den kulturellen Unterschied gerne überbetonten, als Argument für ihren ethnischen Lobbyismus. Doch in Deutschland tickt der Diskurs eben ganz anders.“ (taz: 15. September 2000)
„Tickt“ der Diskurs der Minderheitenverbände in Deutschland ganz anders? Wer eine Antwort auf diese Frage in der migrationssoziologischen Forschungsliteratur sucht, wird enttäuscht. Es findet sich weder eine vergleichende Untersuchung noch eine Studie zum öffentlichen Diskurs der Minderheitenverbände in Deutschland überhaupt. Bevor die Frage, ob der Diskurs „ganz anders“ ist, beantwortet werden kann, bedarf es also zunächst der Klärung, wie der Diskurs „in Deutschland tickt“. Für die taz scheint dies bekannt zu sein. Sie unterlässt es, weitere Erläuterungen anzuführen und setzt damit ein Wissen über diesen Diskurs bei ihrer Leserschaft voraus. Demgemäß hätte sich in der Öffentlichkeit ein Minderheitendiskurs etabliert, über dessen Beschaffenheiten sich lediglich amerikanische Beobachter wundern. Alle anderen scheinen mit dem Diskurs allgemein vertraut zu sein. Faktisch ist die Bundesrepublik seit ihrer Gründung eines der bedeutsamsten Einwanderungsländer – nur führte dies nicht zu der Auffassung, eine „Einwanderungsgesellschaft“ zu sein (Brubaker 1994; Faist 1994; Thränhardt 1995). Nationen sind keine auf objektiven Fakten beruhenden Entitäten, sondern Vorstellungsgemeinschaften (Anderson 1988). Die Bundesrepublik kannte über Jahrzehnte keine „Einwanderer“, sondern „Ausländer“. Solche kollektiven Vorstellungen vom „Innen“ und „Außen“ einer Nation beruhen 7
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
nicht auf objektiven Fakten und Zahlen, sondern sind diskursiv vermittelt. Gemeinschaftsgrenzen werden „beschrieben“. Die Idee eines Einwanderungslandes lag für eine europäische Nation, die sich während des 19. und 20. Jahrhunderts stets als Abstammungs- oder Kulturgemeinschaft imaginierte (Gosewinkel 1998), bis vor wenigen Jahren außerhalb des Vorstellungsvermögens. Doch Selbstbeschreibungen fallen nicht als freischwebende Diskurse vom Himmel, sondern gründen auf sozialen Trägern und Akteuren. Die entscheidenden diskursprägenden kollektiven Akteure der Nation sind dabei klassischerweise „öffentliche Intellektuelle“ (Giesen 1999). In Einwanderungsgesellschaften wie den USA engagieren sich nicht nur nationale Intellektuelle, sondern immer auch Eliten mit Migrationshintergrund. „Ethnische Identitätsmanager“ (Giordano 1997) diskutieren auf Podien und schreiben Kolumnen. Sie stellen als Verbandssprecher öffentliche Forderungen, in denen sie um Anerkennung ihres Minderheitenstatus kämpfen und dabei ein kollektives Selbstbild der Einwanderungsgesellschaft zeichnen. Dies gilt in gewisser Hinsicht auch für die bundesrepublikanische Öffentlichkeit. Seit den letzten zwei Jahrzehnten artikulieren Sprecher von Einwandererverbänden als Teil der bundesdeutschen Zivilgesellschaft ihre Vorstellungen in den Medien (Rauer 2004b). So wie die öffentlichen Intellektuellen die kollektiven Grenzen der Nation rahmen und Zugehörigkeitskriterien konstruieren, so artikulieren ethnische Identitätsmanager die kollektiven Grenzen einer Einwanderungsgesellschaft. Über die Ego-Alter-Vorstellungen der Intellektuellen des nationalen Mehrheitsdiskurses ist bisher viel geforscht worden, über die öffentlich artikulierte Ego-Alter-Vorstellung der Minderheitenakteure wissen wir bisher nichts. Um zu verstehen, wie sich die Bundesrepublik zunehmend als Einwanderungsland konstituiert, ist es jedoch unabdingbar, sich den medialen Repräsentationen dieser Akteure zuzuwenden. Hierzu will dieses Buch einen Beitrag leisten. Analysiert werden die öffentlichen Forderungen und Kommentare zweier türkischer Dachverbände in bundesdeutschen Printmedien für den Zeitraum von 1995 bis 2004. Die Untersuchung stützt sich auf sämtliche Artikel, in denen Äußerungen der Dachverbände namentlich erwähnt wurden. Im Mittelpunkt der Fragestellung stehen dabei nicht nur die inhaltlichen Themenschwerpunkte, sondern auch die Identitäts- oder Integrationsvorstellungen der Verbände, die von den deutschen Printmedien aufgegriffen und diskutiert werden. Diese von den deutschen Printmedien als diskussionswürdig akzeptierten Ego-Alter-Unterscheidungen der Verbände repräsentieren also nicht nur eine Grenze der „imagined community“ (Anderson 1988) von Seiten der Einwandererverbände, sondern sind auch als minimaler Konsens einer sich mit Einwanderung und Integration auseinandersetzenden Öffentlichkeit zu interpretieren. 8
EINLEITUNG
Die Entscheidung, einen Medienkorpus über zehn Jahre systematisch zu untersuchen, in den sowohl die Mehrheits- als auch die Minderheitsmeinungen eingehen, d.h. einen Diskurs der Dachverbände, dessen Publizität auf den deutschen Printmedien beruht, basiert auf einer zentralen Vorannahme: Wenn die Bundesrepublik, wie zunhemend postuliert, ein Einwanderungsland sei, dann muss dies empirisch und methodisch auf neue Weise berücksichtigt werden. Um einem breiteren Publikum zugänglich zu sein, vermitteln sich die einwanderungspolitisch relevanten Beiträge der Verbände in erster Linie über deutsche Printmedien. Diese den Mehr- und Minderheitendiskurs miteinander verschränkenden Medienprodukte bilden daher den entscheidenden empirisch zu analysierenden Ort. Anders als sonst üblich wird hier nicht ein scheinbar homogener Minderheitendiskurs – in türkischsprachigen Zeitungen – einem Mehrheitsdiskurs – in deutschen Printmedien – kontrastiv vergleichend gegenübergestellt. Vielmehr wird von einer strukturellen Verflochtenheit der Minder- und Mehrheitsdiskurse ausgegangen. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass es relativ isolierte Minderheitsdiskurse nicht gäbe. Die Annahme besagt indes, dass für das migrationspolitische öffentliche Feld einer Einwanderungsgesellschaft solche Binnendiskurse nur von geringer Bedeutung sind. Wesentlicher sind vielmehr die „Schnittstellen“ und Überschneidungszonen dieser Diskurse. Anders formuliert: entscheidend für die öffentliche Dimension von Integration sind diejenigen Diskursinhalte, die die jeweiligen Einzelpositionen des Minder- und Mehrheitsdiskurses übergreifen. Diese Perspektive orientiert sich an dem Konzept der „demokratischen Staatsbürgerschaft“ von Chantal Mouffe. Mouffe begreift die Wirksamkeit von kollektiven Akteuren und Diskursen nicht in ihrer Binarität, sondern in ihrer Positionalität. Nicht die subjektiven Meinungen, sondern die Bündelung und Überschneidungen von Bedeutungssetzungen und Diskursen sind öffentlich und politisch relevant. Der migrationspolitische Diskurs wird dabei nicht als Ausdruck eines „einheitlichen Subjekts“, sei es eines Verbandes oder eines Nationalstaates, sondern als ein kommunikatives Gefüge verstanden. Dieses Gefüge setzt sich aus den multiplen und miteinander in Relation stehenden Argumentationsweisen – aus Subjektpositionen – zusammen. Die verschiedenen Positionen sind also nicht als unveränderliche monolithische Differenzen, sondern als prekär und disponibel zu verstehen. Sie werden, so Mouffe, „innerhalb bestimmter Diskurse hergestellt und immer nur prekär und vorübergehend an den Schnittstellen der Subjektpositionen vernäht […]“ (Mouffe 1993: 14). Entscheidend ist also die Analyse der Schnittstellen. Ansonsten würde die Analyse eine Dichotomie zwischen Mehr- und Minderheitsdiskurs monolithisch fortschreiben und damit den Blick von den potentiellen integrativen Ressourcen einer Einwanderungsgesellschaft ablenken. Wie die Analyse dieser diskursiven 9
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Schnittstellen konkret und empirisch zu operationalisieren ist, wird in dem Kapitel zu den Beobachtungsperspektiven (Kapitel 1) mit Blick auf neuere diskursanalytische Ansätze (Keller et al. 2005) ausführlich erläutert. Öffentliche migrationspolitische Diskurse sind grundsätzlich durch implizite Annahmen über das „Fremde“, die „Integrationswilligkeit“, die nationalen Identitäten und Minderheiten oder, wie zuletzt, durch Vorstellungen über Globalisierungs- und Transnationalisierungprozesse geprägt. Dies sind alles klassische und zentrale Themen der Soziologie. Gleichwohl unterscheiden sich die soziologischen Konzepte, trotz bisweilen gleichlautender Begriffe, erheblich von den öffentlichen Verwendungsweisen. Für eine Diskursanalyse muss deshalb vorab die in der Analyse verwendete genuin soziologische Bedeutung geklärt werden. Dies geschieht in den Kapiteln 2, 3 und 4 im ersten Teil dieses Buches. Die Diskussion der theoretischen Ansätze dient darüber hinaus nicht nur der Wiedergabe des bisherigen Forschungsstandes, sondern auch der Schaffung eines analytischeren und damit kompetenteren Deutungsvermögens angesichts der komplex miteinander verwobenen Argumentationsweisen. Um ein zentrales Beispiel zu nennen: In der Öffentlichkeit wird in den letzten 10 Jahren in den migrationspolitischen Debatte stets der Begriff „Integration“ verwendet. Was darunter zu verstehen ist, bleibt zumeist völlig ungeklärt. Die einen verstehen darunter offenbar die Anpassung der Migranten an die Mehrheitsgesellschaft, die anderen meinen hingegen den Erwerb von Bildungstiteln und konkurenzfähigen Kompetenzen, um nur zwei der gängigen Varianten zu nennen. Systematisiert werden die theoretischen Voraussetzungen gemäß ihrer jeweiligen Perspektive. Die hier gewählte Systematisierung unterscheidet nicht, wie sonst üblich, in Mikro-, Meso- und Makroansätze, welche sich in erster Linie deskriptiv auf die Größe des jeweils beobachteten sozialen Raumes beziehen. Vielmehr will die Systematisierung zusätzlich zu solchen Unterscheidungen die jeweiligen epistemologischen Grundlagen – die „Beobachterperspektiven“ (Luhmann 1998: 879-893) – herausarbeiten. Drei solcher Perspektiven werden im ersten Teil dieses Buches verhandelt: erstens der individualisierende Blick auf die Migranten, zweitens der nationalisierende Blick auf kollektive Identitäten und drittens der universalisierende Blick auf globale soziale Strukturen. Die erste Perspektive – die Individualisierung – beobachtet migrationsinduzierte Folgen anhand der Konzepte des „Fremden“ und des „Ausländers“. Dahinter verbergen sich die theoretischen Modellbildungen zur Marginalisierung und Assimilation (Kapitel 2). Die zweite Perspektive – die Nationalisierung – beobachtet dieselben migrationsinduzierten Folgen mit den Konzepten der kollektiven Identität und Ethnizität. Dies sind intersubjektive Modelle die sich mit kollektiv gültigen Grenziehungsprozessen zwischen einem sozialen 10
EINLEITUNG
Innen versus Außen sowie zwischen Mehr- und Minderheiten beschäftigen (Kapitel 3). Die dritte Perspektive – die Universalisierung – lenkt den Blick auf universale soziale Systeme und Räume. Dahinter stehen Theorien, die nach den objektivierten Strukturen in funktional differenzierten Gesellschaften und transnationalen Vergemeinschaftungen fragen (Kapitel 4). Im zweiten Teil des Buches wird nach einer methodischen Erläuterung die Analyse der medialen Repräsentation von türkischen Dachverbänden vorgenommen. Die empirischen Daten beruhen auf einer Gesamterfassung von vier überregionalen Tageszeitungen über einen zehnjährigen Zeitraum. Der Zeitraum erlaubt nach Transformationen des migrationspolitischen Feldes innerhalb dieser Periode zu fragen. Für die Analyse wurden sämtliche Artikel ausgewählt, die zwei maßgebliche einwanderungspolitische Dachverbände, entweder die Türkische Gemeinde in Deutschland oder den Türkischen Bund Berlin-Brandenburg erwähnten (Kapitel 5). Die Analyse der Daten erfolgte in zwei Schritten. Zunächst wurden sämtliche Artikel konventionell inhaltsanalytisch vorkodiert, um die allgemeine mediale Präsenz der Verbände zu bestimmen (Kapitel 6). Anschließend wurden die drei häufigsten migrationspolitischen Themenfelder der Forderungen der Verbände qualitativ rekonstruiert und analysiert (Kapitel 7). Das Buch endet mit einer die Beobachterperspektiven wieder aufgreifenden diskurstheoretischen Deutung. Hier werden die drei wichtigsten Diskurse mit Blick auf ihre implizit vorausgesetzten Ego-Alter-Relationen interpretiert (Kapitel 8). Eine solche in zwei Schritten sich vortastende induktive Vorgehensweise erwies sich auch deshalb als notwendig, weil keine vergleichbaren Medienanalysen zu Verbänden vorlagen, auf deren methodische Instrumentarien hätte zurückgegriffen werden können. Folgende Ergebnisse lassen sich vorab und zur weiteren Orientierung abstecken. Erstens: Bei einem Vergleich der quantitativen Präsentationsmuster der Berichterstattung zeigen sich kaum Unterschiede bei der redaktionellen Ausrichtung verschiedener Zeitungen. Dieser Befund rechtfertigt es, von einem verstetigten Diskurs der türkischen Dachverbände in deutschen Printmedien auszugehen. Zweitens: Bei der inhaltlichen Analyse kristallisierten sich drei diskursive Themenfeldern als quantitativ und qualitativ am bedeutsamsten heraus: Staatsbürgerschaft, Islam und Integration. Im Staatsbürgerschaftsdiskurs thematisieren die Verbände das Einwanderungsgesetz und die Legalisierung der doppelten Staatsbürgerschaft. Im Diskurs zum Islam werden Topoi wie das Kopftuch, der bekennende Religionsunterricht an staatlichen Schulen sowie der islamistische Terrorismus verhandelt. Im Integrationsdiskurs formulieren die Verbände Forderungen zu Integrationskursen, zu Bildungseinrichtungen sowie anderen Formen des Kompetenzerwerbs. Drittens: Allgemein betrachtet spiegelt sich in diesen drei Diskursen ein Paradigmenwechsel von der alten „Ausländerpolitik“ zu einem neuen Feld – der „Integrationspolitik“ – wieder. Aus vormaligen Ausländern werden in der 11
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Integrationspolitik Einwanderer. Besonders bemerkenswert erscheint hier, dass dieser Paradigmenwechsel durch die türkischen Dachverbände inhaltlich vorformuliert und damit selbst mitgeformt wurde. An die inhaltliche Rekonstruktion dieser drei Themenfelder knüpft abschließend eine die theoretischen Ansätze aufgreifende diskturstheoretische Deutung an. Hier lassen sich folgende Ergebnisse benennen: Der Integrationsdiskurs folgt individualisierenden Grenzvorstellungen, der Staatsbürgerschaftsdiskurs nationalisierenden Grenzvorstellungen und der Islamdiskurs universalisierenden Grenzvorstellungen. Als epistemologische Voraussetzung der Beobachterperspektiven zeigt sich, dass zwei wesentliche formativen Unterscheidungen sowohl das Feld der öffentlichen Migrationspolitik als auch die wissenschaftliche Beobachtung leiten: die Unterscheidung in additive und exklusive Konstruktionen von Ego-Alter-Verhältnissen. Der additiven Grenzbestimmung liegt eine Sowohl-Als-Auch-Logik, der exklusiven Grenzbestimmung liegt eine Entweder/Oder-Logik zugrunde. Im Integrationsdiskurs wird den Individuen die additive Fähigkeit zugerechnet, sowohl den Anforderungen der Herkunftskultur als auch denen der Ankunftskultur gerecht zur werden. Aus Sicht des migrierenden Individuums gilt also ein verdoppeltes, deutsch-türkisches Sowohl-Als-Auch als anschlussfähig. Im Staatsbürgerschaftsdiskurs teilen sich hingegen beide Formen je nach migrationspolitischer Orientierung auf. Die konservativen Stimmen betonen die exklusive Zugerhörigkeit im Sinne des Entweder/Oder, die sozialdemokratischen Stimmen plädieren für eine Verdoppelung der Staatsbürgerschaft. Der Islamdiskurs ist wiederum übereinstimmend nach der exklusiven Entweder/Oder-Logik geformt. Öffentliche Glaubensfragen gelten nicht als addierbar, sie schließen sich im Sinne eines Entweder/Oder wechselseitig aus. Insgesamt folgt der migrationspolitische Diskurs der Dachverbände in den deutschen Medien weder der Logik einer nationalen Homogenisierung, noch einer kulturellen Differenz. Nicht nationale Identität versus multikulturelle Differenz bestimmen die öffentliche Dimension von Integration, sondern additive und exklusive Unterscheidungskriterien.
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Teil I: Theoretische Voraussetzungen und Forschungsstand
1 . Be oba c ht ungs pe rs pek tive n
Die interdisziplinäre Migrationsforschung hat sich während der letzten Jahre zunehmend ausdifferenziert. So fällt auf, dass neben dem Forschungsinteresse für die Integration und die sozialen Kompetenzen der Eingewanderten zunehmend auch die institutionellen und medial kodierten Grenzziehungen in den Blick geraten. Dieses verstärkte Interesse widmet sich dabei auch immer wieder den medialen Repräsentationen, in denen sich die Vorstellungen von sozialen Grenzen der Gemeinschaft ausdrücken. Die Überzeugung solcher diskursanalytischer Studien ist, dass in den Medien öffentliche Unterscheidungslogiken zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“ nicht nur verwendet, sondern auch diskutiert und potentiell verändert werden. Die medialen Grenzziehungen entfalten dabei ihre sozialen Effekte unabhängig von Kompetenzen und Vorstellungen der beteiligten Individuen. Öffentliche Diskurse folgen einer Eigenlogik. Diese Logik prägt den Blick der rezipierenden Individuen auf die soziale Welt. In der Integrationsforschung werden zwei Formen der „Integration“ unterschieden. Erstens die Integration der Individuen als „Sozialintegration“ und zweitens das reibungslose Zusammenspiel gesellschaftlicher Institutionen und Wertsysteme als „Systemintegration“.1 Die Medienanalysen beschäftigen sich gemäß dieser Unterscheidung mit den systemintegrativen Effekten von Wertvorstellungen. Sie fragen nach öffentlichen Grenzziehungen und Unterscheidungen zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“.
1
Für einen Überblick zu dieser Unterscheidung vgl. Friedrichs/Jagodzinski (1999). Sozialintegration befasst sich mit den Relationen von individuellen Akteuren zu den „impersonal rules“ einer stratifizierten Gesellschaft (Lockwood 1996: 534). Die Systemintegration befasst sich mit dem Konfliktlösungspotential von separierten sozialen Systemen. Allerdings ist der Systembegriff irreführend, da sich der Systembegriff nicht immer auf die Luhmansche Systemtheorie bezieht. 15
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Bei den Fragen nach der Systemintegration kommt also nicht nur institutionellen Regulierungen, sondern auch kollektiven Akteuren und der medialen Öffentlichkeit eine zentrale Rolle zu. Die Sprecher von Verbänden prägen die öffentliche Meinung maßgeblich mit und nehmen auf diesem Weg Enfluß auf die politische Willensbildung. Die Frage nach ihrer Einbeziehung in die öffentlichen Diskurse ist auch deshalb eine Frage nach der Systemintegration eines Einwanderungslandes. Dieser Aspekt der Systemintegration wurde in der bisherigen Forschung jedoch noch nicht ausreichend beantwortet. Zwar wurde der nationalen Öffentlichkeit eine große Aufmerksamkeit gezollt, die medialen Diskurse der Einwanderungsverbände sind hingegen unbeforscht. Die bisherigen Studien widmeten sich entweder den internen Öffentlichkeiten der Migranten oder der Berichterstattung über sie in den Medien der Ankunftsgesellschaft. Eine Analyse der Repräsentation kollektiver migrationspolitischer Akteure in der Öffentlichkeit der Aufnahmegesellschaft fehlt. Diese Lücke versucht dieses Buch zu schließen. Methodologisch orientierte sich die Analyse an kommunikations- und rezeptionstheoretischen Prämissen. Die grundlegende Annahme lautet, dass Figurationen wie das „eigene Wir“ und das „fremde Sie“ nicht als Essenzen, sondern Beziehungskategorien aufzufassen sind. Das Fremde resultiert aus der Imagination des Eigenen. Die Identität von „Ego“ resultiert aus dem Blick auf die Differenz von „Alter“. Es existiert also weder Ego noch Alter an sich. Vielmehr ist diese Unterscheidung das Resultat von sozialräumlich bedingten Beobachtungsperspektiven (Bourdieu 1999). Es handelt sich um eine soziale Praxis des Benennens und nicht um eine natürliche Unterscheidung. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass die Bedeutungen dieser Beobachtungsperspektiven je nach situativer An- und Abwesenheit der Akteure differiert (Eder/Schmidtke 1998; Schlögl 2004a). Situationen in denen Ego und Alter unter Beobachtung eines Dritten kommunizieren, unterscheiden sich von privaten Begegnungen oder von Situationen, in denen Ego über Alter während dessen Abwesenheit spricht. Die Situation, in denen alle drei, vermittelt über die Medien, anwesend sind – Ego, Alter sowie die Rezipienten – sind die voraussetzungsreichsten. Sie stellen den höchsten Anspruch an eine konsensuelle Selbstbeschreibung einer Gesellschaft als „Einwanderungsgesellschaft“. Diese indirekt dialogische Kommunikationssituation ist für die Beantwortung der Frage nach der öffentlichen Dimension der Integration zentral und wurde daher für die vorliegende Untersuchung als Gegenstand der Analyse ausgewählt. In den folgenden Kapiteln werden einführend dieser Zusammenhang von medialer Öffentlichkeit und der Rolle, die kollektive Akteure, wie die einwanderungspolitischen Dachverbände, in dieser Öffentlichkeit spielen, ausführlicher erläutert. Dabei wird besonders auf die voraussetzungsreiche kommunikative Situation, der ein eigener öffentlicher Beobachterstatus zuzurech16
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
nen ist, eingegangen. Im Anschluß daran wird der Stand der Forschung zu diesem spezifischen Forschungsgegenstand und der allgemeinen Forschung zu ethnischen Vereinen und Verbänden zusammengefasst.
K o l l e k t i v e Ak t e u r e i n d e r m e d i a l e n Ö f f e n t l i c h k e i t Methodologisch müssen in einer mediensoziologischen Untersuchung besondere Bedingungen berücksichtigt werden. Wenn davon ausgegangen wird, dass Ego und Alter ausschließlich als wechselseitiges Beobachtungsverhältnis, d.h. als „Relation“ existieren, muss dieses Verhältnis auch in seiner Wechselseitigkeit untersucht werden. Es ist also zu vermeiden, sich lediglich einer der beiden Seiten zuzuwenden oder aber die soziale Grenzziehung zwischen beiden methodisch unreflektiert einfach zu übernehmen und damit zu reifizieren. Vielmehr ist das Ziel der Untersuchung, die sich überschneidenden und miteinander in Beziehung stehenden Subjektpositionen inhaltlich und diskursiv möglichst präzise, d.h. in ihrer Qualität als Beziehungs- und Überschneidungszone, zu erfassen. In der Methodologie wird dieses Problem allgemein unter dem Stichwort „Relationalität“ diskutiert. Das Konzept der Relationalität war bereits für die Klassiker wie Max Weber und Georg Simmel zentral (Matthes 1992: 96), geriet allerdings im Zuge des in der empirischen Soziologie so dominanten methodologischen Individualismus in Vergessenheit. Charles Tilly schlägt daher einen „renewed relational realism“ vor (Tilly 2000a: 785). Um die Schwierigkeiten des methodologischen Individualismus zu überwinden, so Tilly, sollte sich die Methodologie in neuer Weise auf die zentralen Bestimmungen der Relationalität des Sozialen bei den soziologischen Klassikern zurückbesinnen. Bereits Karl Mannheim hob hervor, dass „Relationalität“ keinesfalls mit „Relativität“ zu verwechseln ist (Mannheim 1982; vgl. Suber 2007: 391-395). „Relativ“ meint „individuell standpunktabhängig“, wobei der jeweilige Standpunkt willkürlich, d.h. dezisionistisch zu bestimmen ist. Der Relativitätsbegriff ist dem methodologischen Individualismus zuzuordnen. Der Relationalitätsbegriff geht hingegen von der Wirksamkeit von Strukturen aus. Er wäre, um in der Begrifflichkeit zu bleiben, dem methodologischen Strukturalismus zuzuordnen. Nur sind relationale Strukturen nicht eins-zu-eins im Sinne eines Ursache-Wirkungsverhältnisses zu verstehen, wie es bisweilen dem kognitionslogischen Strukturalismus von Claude Levi-Strauss vorgeworfen wurde (Bourdieu 1974). Der relationale Strukturbegriff geht nicht davon aus, dass die Handlungen der Individuen durch Strukturen determiniert sind. Dieser problematische Determinismus mag auch ein Grund für die Verständnisschwierigkeit der Differenz von relativ und relational sein. Vielmehr wird in dem Relationalitätsbegriff angenommen, dass zeitliche Konstellationen mit sozialen Strukturen als 17
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wechselseitiges Bedingungsverhältnis analysiert werden müssen (Lepsius 1993). Was in einer Situation stigmatisierende Effekte hat, kann in der nächsten Situation charismatisierende Effekte haben (Goffman 1975; Lipp 1985). Daraus folgte häufig der Fehlschluss, dass Relationalität mit Relativität gleichzusetzen sei. Es wird davon ausgegangen, dass diese Effekte rein aus den individuellen Zuschreibungen der Akteure bestimmt werden können. Relational bedeutet dagegen, dass die Zuschreibungen nicht intentional, autonom und subjektiv, sondern durch situative Strukturierungen und zeitlich bedingte Konstellationen bestimmt sind. Methodologisch verwandt ist ein solcher „relationaler Realismus“ am ehesten mit der kulturpragmatischen „strukturalen Hermeneutik“ (Alexander 2000). Dieser Theoriestrang fokussiert das Verbindende zwischen Mikro und Makro sowie Struktur und Handlung (vgl. die Beiträge in dem Band: Alexander et al. 1987; Collins 1992 sowie dazu methodologisch Kelle/Erzberger 2000). Betont wird stattdessen die Zeitlichkeit und körperliche Anwesenheit, d.h. die situationslogische Verknüpfung zwischen diesen beiden Perspektiven. Zentral für alle diese Ansätze ist die Annahme, dass Subjektpositionen, d.h. die Formen der Realitätswahrnehmung und der Realitätssetzung durch diskursive Bedeutungsstrukturen geprägt sind, die nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Methodik erfordern (vgl. die Beiträge in dem Sammelband: Alexander et al. 2006). Es handelt sich also um diskurs- und kommunikationstheoretische Annahmen. Dies ist wohl der markanteste Unterschied zu den Grundannahmen des methodologischen Individualismus. Kommunikationsprozesse, Bedeutungsdefinitionen und symbolische Repräsentationen spielen dort eine untergeordnete Rolle. Im Anschluss an diese allgemeinen methodologischen Vorüberlegungen können drei methodische Grundbedingungen formuliert werden: Erstens: Soziale Konzepte wie das Eigene und Fremde oder kollektive Konstellationen wie Identität und Alterität sind Beziehungskategorien. Daraus folgt, dass im methodischen Setting beide Seiten, d.h. Ego und Alter in ihrem wechselseitigen Bedingungs- und Beobachtungsverhältnis analysiert werden müssen. Zweitens: Die jeweilige Struktur der Situationen unterscheidet sich je nach Anwesenheit der Akteure. Private Begegnungen zwischen Ego und Alter folgen einer anderen Logik als Situationen, die unter der Beobachtung Dritter, beispielsweise der Öffentlichkeit, stehen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Rezeptions- und Kommunikationsbedingungen der symbolischen Grenzdefinition zwischen Ego und Alter methodisch berücksichtigt werden müssen. Drittens: Die Grenzziehungen zwischen Ego und Alter sind stets Definitionskämpfen in spezifischen sozialen Situationen ausgesetzt. Sie unterliegen grundsätzlich einem prozessualen Wandel. Daraus folgt, dass die Zeitlichkeit 18
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bei der Analyse dieser symbolischen Grenzen berücksichtigt werden muss (Schlögl 2004b). Diese drei Grundbedingungen sollen nun im Bezug auf den konkreten Forschungsgegenstand eingehender beleuchtet werden. Im Zusammenhang von Migration und Ethnizität haben Klaus Eder und Oliver Schmidtke ein methodologisches Modell entwickelt, in dem insbesondere die ersten beiden Grundbedingungen ausdifferenziert werden (Eder/Schmidtke 1998). Das Modell argumentiert im Rahmen der „arenatheoretischen Perspektive“ auf Öffentlichkeit (Imhof/Kamber 2001: 425f). Unterschieden werden „vier Arenen der Konstruktion symbolischer Grenzen“ zwischen Ego und Alter (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Arenen der Konstruktion symbolischer Grenzen
Face-to-face Interaktion
Öffentliche Diskurse
Alter anwesend Dialogische Situationen
A 1: Lebenswelt: Strategien symbolischer Grenzziehungen zwischen Ego und Alter
B1: Kontroverse/Debatte: Deutungskämpfe um symbolische Grenzziehungen zwischen Ego und Alter
Alter abwesend Monologische Situationen
A2: Halböffentliche Begegnung: symbolische Grenzziehung durch exkludierende Praktiken Egos
B2: Institutionelle Definitionsmacht: symbolische Gewalt Egos gegenüber Alter
Quelle: Eder et al. (2004: 36) Auf der vertikalen Achse unterscheidet das Modell face-to-face Interaktionen von öffentlichen Diskursen. Auf der horizontalen Achse wird in Situationen differenziert, in denen Alter anwesend oder abwesend ist. Wenn Alter anwesend ist, dann handelt es sich um eine dialogische, wenn Alter abwesend ist, um eine monologische Kommunikationssituation. Das Modell unterscheidet also zwei Formen der Anwesenheit: Erstens eine körperliche Anwesenheit (face-to-face Interaktion) und zweitens eine kommunikative Anwesenheit (Präsenz Alters in der Kommunikationssituation). Die beiden Arenen „halböffentliche Begegnung“ (A2) und „institutionelle Definitionsmacht“ (B2) sind Situationen, in denen Alter kommunikationslogisch abwesend ist. Dies bedeutet, dass Alter nicht in die Lage ist, etwas zur 19
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Definition der Grenzbestimmung selbst beizutragen. Ego ist im Alleinbesitz der „means-of symbolic-production“ (Barth 1996; Alexander 2000) von kollektiven Grenzziehungen. Diese reichen von halböffentlichen Begegnungen bis hin zu institutionellen Kategorisierungen. Als Beispiel für den ersten Fall (A2) wären Praktiken des “otherings“ (Fabian 1983) im Alltag zu nennen. Diese reichen von dem berühmten „Stammtisch“ bis hin zu körperlichen Gewaltakten. Für den zweiten Fall (B2) wären öffentliche Äußerungen und Medienberichte anzuführen, in denen über „die Einwanderer“ als eine sich von Ego unterscheidende Kategorie kommuniziert wird. Aber auch institutionelle Regulierungen wie kategorial differenzierte Aufenthaltsrechte gehören in diese Arena. Diese Formen der „symbolischen Gewalt“ reichen also von der Formulierung des „lieben ausländischen Mitbürgers“ über die Berichte zu „kriminellen Ausländern“ bis hin zur Kategorie des „Wirtschaftsasylanten“, den es abzuschieben gelte. Über diese beiden Arenen der kommunikativen Abwesenheit Alters ist in der soziologischen Rassismus- und Flüchtlingsforschung sowie in der Labeling-Forschung sehr viel publiziert worden (allerdings ohne diese Situationen kommunikationstheoretisch zu systematisieren). Die Arenen „Lebenswelt“ (A1) und „öffentliche Debatte“ (B1) sind Situationen in denen Alter anwesend ist. Nur in diesen Fällen kann in einem wörtlichen Sinne von „Interaktionssituationen“ gesprochen werden. Alter und Ego haben wechselseitig die Möglichkeit, die jeweiligen ethnischen Grenzen zu definieren und zu bearbeiten. In diesen Situationen ist Alter zumindest prinzipiell ebenfalls im Besitz der means-of-symbolic-production. In den lebensweltlichen Situationen (A1) sind die Grenzkonstruktionenen, d.h. die „boundary-maintaining-factors“ (Barth 1996) durch strategische Grenzbearbeitungen geprägt. Diese können von Ignoranz im Sinne Goffmans (1980) bis hin zur Manipulation, zur „fabrication“, reichen. Ego und Alter befinden sich in diesen lebensweltlichen Begegnungen in einer präsentisch strukturierten Situation. Aufgrund dieser Gegenwärtigkeit haben die lebensweltlichen Situationen für kollektive Bedeutungsprozesse keine unmittelbaren Effekte. Gleichwohl können in der Summe solche Situationen sich habitualisieren und inkorporiert verdichten – ein Argument, das Pierre Bourdieu (1990), Erving Goffmans Ansatz weiterführend, vorgebracht hat. Nur über den mittelbaren Umweg der Habitualisierung können sich diese Formen der Grenzziehung also über kurz oder lang auch auf kollektive Bedeutungsprozesse niederschlagen. In der öffentlichen Debatte (B1) sind sowohl Ego als auch Alter kommunikativ präsent. Anders als in lebensweltlichen Situationen haben die kommunikativen Bestimmungen der Grenze zwischen Ego und Alter unmittelbar öffentliche, d.h. diskursive Effekte. Öffentliche Kontroversen und Debatten sind Situationen, in der die Auseinandersetzung um kollektive Grenzziehungen 20
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
„dialogisch“ strukturiert ist, so die berühmte, an dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Habermas 1981, 1990) orientierte idealtypische Annahme.2 In diesen Debatten sind sowohl staatliche als auch zivile Akteure wie Verbände etc. repräsentiert. Wichtig für den hier untersuchten Zusammenhang ist, dass in der Situation B1, aufgrund der diskursiven Anwesenheit beider Akteure, die Schnittstellen von den jeweiligen Subjektpositionen miteinander „vernäht“ werden. Daraus ergibt sich der hier empirisch privilegierte Blick auf die Situation B1. Viele der Debatten und Kontroversen werden vor allem in den öffentlichen Medien ausgetragen. Daher ist die dialogische Situation nicht notwendig an körperliche Präsenz gebunden, sondern wird über Texte und zitierte Aussagen auch indirekt ausgetragen. Mit Ausnahme der Talk-Shows im Fernsehen findet sich zwischen Aussage und Reaktion immer eine zeitliche Latenz. Entscheidend ist jedoch, dass sich, anders als in der lebensweltlichen Situation, die Debatte um die „richtige“ Grenzziehung immer auch an eine dritte Instanz, das Publikum, richtet. Sowohl Ego als auch Alter müssen die Bewertungen durch die Rezipienten, das Publikum, antizipieren und in ihren Deutungskämpfen berücksichtigen. Sie können zwar persönlich der Meinung sein, dass sich die Einwanderer beispielsweise „völlig assimilieren“ sollten. Ob diese Sichtweise aber vor den Reaktionen Alters und des Publikums bestand hat, ist keineswegs sicher. Dies ist ein weiterer Grund für die besondere empirische Relevanz der Situation B1. Die öffentlich debattierten Diskurse haben nicht nur kollektive Effekte aufgrund des massenmedialen Publikums, sie sind auch durch eine beständige Antizipation der Reaktion durch Alter geprägt. Diese beiden Fakto-
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An dieser Annahme entzündete sich eine Kontroverse, die hier bewusst ausgeklammert werden muss (vgl. dazu u.a. Schicha 2000; Meyer 2001). Dieser Annahme einer „deliberativen Öffentlichkeit“ wurde eine naive Normativität vorgeworfen, die mit den empirisch realen Machtverhältnissen der Öffentlichkeit nur wenig gemein habe. Der Hinweis, dass es sich um ein idealtypisches Konstrukt im Sinne Webers handelt, reicht offenbar nicht aus, um die Bedenken zu zerstreuen. Ein anderer Einwand lautet, dass Habermas die Ebene der symbolischen Repräsentation nicht berücksichtigt, d.h. es finden sich Debatten, in denen die Argumente nicht mit rationalen Geltungsansprüchen konfrontiert werden können (u.a. Alexander 1998). Diese wären nach Habermas außerhalb diskursiver Vernunft. Allerdings handelt es sich bei diesen Debatten leider oft um Themen mit einer außerordentlichen Relevanz, wie beispielsweise um religiöse Fragen. Doch diese Diskussion kann und soll hier nicht vertieft werden, vielmehr ist eine pragmatische Umgangsweise im Sinne Peters angebracht. Der Vorwurf der Normativität sollte nicht zu dem Schluss verleiten, „dass alle normativen Gehalte des Modells unplausibel wären“ (Peters 2002: 34). Vielmehr gelte es, das „personenbezogene Gleichheits- und Partizipationsideal zu ersetzen durch ein Prinzip der Offenheit oder Chancengleichheit für Themen, Perspektiven, Interpretationen, Ideen und Argumente“ (ebd.: 28). 21
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
ren wurden eingangs als erste und dritte Grundbedingung für eine methodische Annäherung an relationale Subjektpositionen formuliert. Daran anschließend ist die Frage zu klären, in welcher Form Alter in der Situation einer Debatte konkret „präsent“ ist. Die konkrete Anwesenheit Alters ist als eine sich in der Debatte niederschlagende argumentative Präsenz konzipiert. Gefragt werden soll also nach der „Definitionsmacht medienexterner Akteure“ (Imhof/Kamber 2001: 428). Dies bedeutet für die Operationalisierung, dass in der jeweiligen Debatte die Argumente Egos und Alters direkt oder indirekt in den Medien zitiert werden und dass die Argumente von Alter gekennzeichnet sind. Die Medienprodukte selbst, die Texte, sind als eine vermittelnde Instanz zu verstehen, die beide Positionen nicht nur darstellt, sondern jeweils auch als legitim oder illegitim bewertet. Nun sind nicht sämtliche in den Medien präsentierte Meinungen diskursrelevante Subjektpositionen. Anknüpfend an die Ansätze zur Zivilgesellschaft und „Neuen Sozialen Bewegungen“ ist davon auszugehen, dass insbesondere kollektive zivile Akteure relevant sind.3 Sie sind als Meinungsproduzenten für mediale Debatten konstitutiv. Sie verhindern, so ein Argument von Klaus Eder, nicht nur die Gefahr eines Öffentlichkeitsdefizits, sondern sie sind auch ein wesentlicher Faktor zur Beschleunigung sozialer Wandlungsprozesse (Eder 2002a). Im Rahmen einer allgemeinen Tendenz zur „Medialisierung der Politik“ wird diese Funktion auch zunehmend den vormals als „Lobyisten“ missachteten Interessenverbänden zugeschrieben (Hackenbroch 1998; Willems/Winter 2007: 33). Nur ist die Trennlinie zwischen sozialen Bewegungen und Interessenverbände allenfalls auf organisatorischer Ebene zu ziehen (ebd.: 23). Mit dieser Annahme zum Zusammenhang von kollektiven Akteuren, Massenmedien und sozialem Wandel ist auch die eingangs genannte dritte Grundbedingung von der Prozesshaftigkeit der jeweiligen Grenzziehungen angesprochen (vgl. auch die Beiträge in: Imhof et al. 2002). Wenn sich die inhaltlichen Bestimmungen von Ego und Alter grundsätzlich wechselseitig konstituieren, so haben diverse politische Ereignisse Konsequenzen für diese inhaltlichen Bedeutungsstrukturen in den Medien. Wenn beispielsweise im Namen des Islam ein Attentat verübt wird, so wird dies Auswirkungen auf die jeweiligen Grenzziehungen zwischen einer christlichen Mehrheit und einer muslimischen Minderheit haben. Methodologisch bedeutet dies, dass die Analyse Debattenverläufe in den Blick nehmen muss. Dabei kann es nicht nur um deduktive Auszählungen von 3
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Wie das Thema „Öffentlichkeit“ wird auch das Thema „Neue Soziale Bewegungen“ und „Zivilgesellschaft“ hier bewusst ausgeklammert. Zum Zusammenhang von Zivilgesellschaft und öffentlichem Agenda-Setting vgl. u.a. Rogers/Dearing (1996), Jacobs (1999: 361f), Eder (1999d), Viehöfer (2001) und Rauer (2004b).
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
Argumenten gehen, sondern der Bedeutungswandel der zentralen Konstruktionen von Ego und Alter muss ebenfalls berücksichtigt werden. Beispielsweise wäre zu vermuten, dass der Begriff „Integration“ im Jahre 1995, als in der Bundesrepublik noch ein ius sanguinis galt, eine andere Bedeutung hatte als nach der Einführung des ius soli im Jahre 1999. Die folgende Analyse beschränkt sich also auf eine Medienanalyse, in der die Situation B1 erfüllt ist, d.h. in der zivile kollektive Akteure als Repräsentanten von Alter argumentativ herangezogen werden. Darüber hinaus wird eine Verlaufsanalyse über einen Zeitraum von zehn Jahren vorgenommen. In diesen Zeitraum fallen zwei wichtige Ereignisse: Die deutsche Staatsbürgerschaftsreform und die globale Aufmerksamkeit gegenüber dem Islam aufgrund islamistischer Anschläge. Im Rahmen dieses so spezifizierten Forschungssettings kann die Frage nach der Relation und dem Wandel von diskursiven Grenzziehungen und sich überschneidenden Subjektpositionen innerhalb einer Einwanderungsgesellschaft geleistet werden.
Forschungsstand und Methodologie Empirische Untersuchungen zur Repräsentation von Einwandererverbänden in den Printmedien liegen im deutsch- und englischsprachigen Raum nicht vor. Dieses Forschungsdefizit gilt nicht nur für Einwandererverbände, sondern auch für den Zusammenhang von Verbänden und Massenmedien im Allgemeinen4: „Verbandskommunikation ist ein ausgesprochen schwach untersuchter Bereich“, urteilte kürzlich Gerhard Vowe in einer Diskussion zu diesem Aspekt der allgemeinen Verbandsforschung (Vowe 2007: 466). Die für dieses Buch relevante Forschungsliteratur ist also in angrenzenden Feldern zu suchen und lässt sich in zwei thematisch unterscheidbare Untersuchungsbereiche einteilen: erstens die Studien zur medialen Repräsentation von Einwanderern in den Medien des Ankunftslandes sowie zu so genannten „ethnischen Medien“ der Communities selbst. Letztere unterscheiden sich wiederum in transnationale Medien aus den Herkunftsländern und lokale Einwanderermedien. Zweitens sind die Studien zu „ethnischen Vereinen“ und zivilgesellschaftlichem Engagement zu nennen, die sich thematisch in herkunfts- und ankunftsorientierte Vereine untergliedern. Beide Untersuchungsbereiche werden im Folgenden kurz dargestellt und hinsichtlich der wichtigsten Befunde wiedergegeben.
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Als Ausnahme ist die quantitative Übersichtstudie von Hackenbroch (1998) zu nennen. Seit dem Jahr 2004 wird in Bielefeld und Berlin ein Projekt zu „Wirtschaftseliten“ durchgeführt. In dem Projekt wird inhaltsanalytisch auch die Repräsentation der Wirtschaftsverbände in den Medien berücksichtigt (Galonska/Rucht 2004). 23
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Einwanderer in den Medien Die allgemeinen empirischen Untersuchungen zur Repräsentation von Einwanderern in den Medien der Ankunftsländer sind zahlreich. Ebenso übereinstimmend sind die Ergebnisse (vgl. die Beiträge in Butterwegge et al. 1999 sowie in Schatz et al. 2000). Der öffentliche Diskurs ist durch eine symbolische „Einhegung des Anderen“ geprägt (Eder et al. 2004). Seit dreißig Jahren wird wiederholend bestätigt, dass die Medienberichterstattung eines kennzeichnet: das Negativbild der entweder „nicht integrierbaren kriminellen Einwanderer“ oder das Bild des Einwanderers „als Opfer“ seiner „kulturell identitären Spaltung“. Der Devianzdiskurs schlägt sich klassischerweise in der überproportionalen Berichterstattung über „kriminelle Ausländer“ nieder (Delgado 1972; Ruhrmann 1993; Predelli 1995; Galliker 1996). In den verwendeten Rahmungen und Metaphern symbolisieren die Einwanderer einen doppelten „Other“ der nationalen Gemeinschaft (Jung 1997). Sie vereinigen in einer symbolischen Figur sowohl den „Fremden“ als auch den „Devianten“ (Rauer 2004c). Auf diese Weise artikuliert sich ein sublimer rassistischer Diskurs (Jäger 2000). Zwar portraitieren die Medien auch häufig „erfolgreiche Migranten“, wie beispielsweise den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir5 oder den Reiseunternehmer Vural Öger, entscheidend ist jedoch, so Martin Sökefeld, dass diese „Vorzeigemigranten“ als Individuen erscheinen, während die Problemfälle als ein kollektives „Ausländerproblem“ repräsentiert werden. So gesehen, wird den Medien der gesellschaftliche Erfolg von Einwanderern „individualisiert“ und gesellschaftliches Scheitern „sozialisiert“ (Sökefeld 2004b: 163), und damit immer auch „ethnisiert“ (Butterwegge 1993). Aber auch bei anderen Themen überwiegt der Miserabilismus. Asta Vonderau beobachtet in ihrer Analyse, dass die Einwanderer nie als gleichberechtigte Diskursteilnehmer, sondern ausschließlich als Opfer ihrer gescheiterten Integration repräsentiert werden. Beispielsweise wurde während der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft auch den türkischen Einwanderern der zweiten Generation, die zur kulturellen Elite in Deutschland gehören, subtil ein „Leiden an ihrer gespaltenen Identität“ unterstellt, um das gewohnte Bild der „gescheiterten Integration“ nicht zu gefährden (Vonderau 2004: 101). Auch Wolf-Dieter Bukow und Erol Yildiz zeigen in ihrer Studie zum selben Thema, dass stets vor „doppelten Loyalitäten“ und der daraus resultierenden „Gefährdung der deutschen Identität“ gewarnt wurde (Bukow/Yildiz 1999: 58). Die von der Gesetzesänderung „Betroffenen“ werden in den Medien
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Zur öffentlichen Funktion und Symbolizität des „anatolischen Schwaben“ Özdemir in der Bundesrepublik vgl. Lanz (2004).
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
kaum selbst als aktive öffentliche Diskursteilnehmer repräsentiert. Jede Überschneidung von Subjektpositionen ist damit von vornherein verwehrt. Ähnliches galt für die bundesrepublikanische Integrationsdebatte Mitte der neunziger Jahre. Hier dominierte die Rahmung der „Arbeitslosigkeit“ die Vorstellung von (Des-)Integration. Die Meinungen der Migranten zu ihrer Integration wurden ausgeblendet (Rauer/Schmidtke 2001). Allerdings lässt sich auch in den Folgejahren ein interessantes, gegenläufiges Ergebnis beobachten. So kommt Reiner Geißler in einer quantifizierenden Inhaltsanalyse zur Bewertung von Migranten vor und nach der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft zu dem Ergebnis, dass nach der Debatte Migranten sehr viel positiver bewertet werden. Während der hitzigen Debatte, so die Deutung von Geißler, wurden „viele Printmedien aus ihrer üblichen negativistischen Routine herausgerissen und dazu veranlaßt, ihr Bild vom Migranten mit zusätzlichen Differenzierungen und mit mehr Ausgewogenheit zu versehen“ (Geißler 2000: 139). Einschränkend mahnt Geißler an, dass der Langzeiteffekt dieses medialen Ereignisses noch zukünftiger empirischer Untersuchungen bedarf (ebd.). Ein weiterer Diskursstrang thematisiert wiederkehrend das „Scheitern des Multikulturalismus“. In mehreren Studien wurde die paradigmatische Wirkungsgeschichte von zwei Leitartikeln im Wochenmagazin „DER SPIEGEL“ nachgezeichnet. In diesem Diskurs sollten Metaphern wie „Zeitbomben“ und „gefährlich fremd“ die Gemüter der Leser erhitzen (Sarigöz 1999: 9; Hentges 1999: 29). Obwohl der SPIEGEL-Artikel explizit immer wieder als Meilenstein der Aufkündigung der multikulturellen Gesellschaft zitiert wurde, blieb es doch nur eine Position in dem Multikulturalismusdiskurs. Die konservativen Zeitungen wie die FAZ und WELT hielten sich in der Regel bei dem Thema zurück, die taz und die SZ wendeten sich bisweilen explizit gegen diese skandalisierende Rahmung. Reflexiv wurde dem SPIEGEL entgegenhalten, dass diese Art der Berichterstattung „populistisch und gefährlich sei“ (Sarigöz 1999: 26). Insgesamt bewegten sich die Gegner und Befürworter auf zwei Seiten einer polarisierten, routinierten Debatte, in der den Stimmen der Einwanderer selbst kaum Gewicht zugemessen wird. Teildiskurse zu angrenzenden Themen, wie die „Berliner Getthoisierungsdebatte“ im Jahre 1997 folgten dieser Dichotomie. Einerseits wurde das „Schreckgespenst“ der „Ausländergetthos“ gezeichnet, in denen „Überfremdung“ und „Verslumung“ drohe (Caglar 2001), andererseits stellten Artikel, namentlich aus dem linksliberalen medialen Spektrum, diesem Devianzdiskurs das gegenteilige Bild der kreativen, bunten, multikulturellen Gesellschaft entgegen (Rauer 2004a). Ein ebenso abwertender Diskursstrang findet sich in der Berichterstattung zum Islam. Auch dieser Diskurs ist durch die Figur des „doppelten Anderen“ charakterisiert, allerdings nicht nur durch die Darstellung von „Kriminalität 25
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
und Devianz“, sondern aufgrund der Religion. Die muslimischen Einwanderer sind in der medialen Perspektive „doppelt fremd“, „weil sie nicht nur aus einem anderen Land stammen, sondern auch noch einer anderen Religion angehören, dem Islam“ (Sökefeld 2004a: 10). Der Islamdiskurs verdichtet sich seit mindestens einem Jahrzehnt in der so genannten „Kopftuchdebatte“, die sich allerdings nicht nur auf die Bundesrepublik beschränkt, sondern auch auf Frankreich und Großbritannien erstreckt. Es zeigt sich, so Schirin Amir-Moazami (2005), dass in der deutschen und französischen Öffentlichkeit das Kopftuch als die symbolische „Gegenkategorie“ des jeweiligen Säkularisierungsverständnisses repräsentiert wird. Das Kopftuch gilt als das Symbol (Wild 2004) des kulturell Anderen schlechthin. Diese Sichtweise ist umso problematischer, als die Bedeutung des Kopftuchtragens bei den Einwanderinnen in der Öffentlichkeit nicht nur als Symbol rückständiger Herkunftsorientierung zu interpretieren sei, sondern auch als ein Symbol wachsender Partizipation. Schließlich finden sich drei Studien, in denen der quantitative Anteil ethnischer Vereine an der Gesamtberichterstattung über Einwanderer thematisiert wird. Im Ergebnis zeigt sich, dass die türkischen Akteure mit Abstand die am häufigsten repräsentierte Gruppe in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bilden.6 Allerdings wird die Berichterstattung zu den Verbänden und Vereinen bisher nicht inhaltlich qualitativ analysiert (Koopmans/Statham 1999a; Eder et al. 2004; Rauer 2004b). Ein weiteres großes Forschungsfeld beschäftigt sich mit der Nutzung und Struktur der Minderheitenmedien. Diese werden wahlweise als „ethnische“ bzw. „transnationale Medien“ bezeichnet. Zunächst ist hier festzustellen, dass inhaltliche Analysen eher rar sind. Stattdessen finden sich vor allem theoretisch programmatische Ansätze und Studien, die die Netzwerk- und Nutzungsstrukturen analysieren und bewerten. In einem solchen programmatischen Überblick zum Thema „Minority Language Media“ stellt Mike Cormack (1998) fest, dass die systematisch vergleichende Forschung erst in ihren Anfängen begriffen ist, gleichwohl gäbe es ein zentrales Forschungsproblem. Das Problem bestehe in Europa vor allem in der außerordentlichen Kontextgebundenheit der „ethnischen Medien“. Beispielsweise treffen in Nordskandinavien „samische Medien“ auf völlig andere Bevölkerungs- und Territorialstrukturen als insulare „sardische Medien“. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung in „indigene Medien“ und „nicht-indigene Medien“. Letztere, die Medien der so genannten „neuen Minderheiten“, wie den „Indern in Großbritannien“ oder
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Der Anteil an der migrationspolitischen Gesamtberichterstattung betrug in etwa sechs bis sieben Prozent (Koopmans/Statham 1999a; Rauer 2004b).
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
den „Türken in Deutschland“, erweisen sich als erfolgreicher und stoßen auf weniger Widerstand von Seiten der jeweiligen Nationalstaaten (ebd.: 37). Dies hängt vor allem mit der unterschiedlichen Struktur der Minderheiten zusammen. So besteht gegenüber den indigenen Minderheiten von Seiten der Nationalstaaten die Sorge vor einer medial mobilisierten, separatistischen Bewegung. Bei den immigrierten Minderheiten fehlt diese Sorge. Zudem leben die eingewanderten Minderheiten räumlich dispensiert, so dass ein eigenes Mediensystem auf größere Resonanz stößt als bei den auf einem Territorium lebenden indigenen Minderheiten. Inzwischen, durch die digitalen Satellitentechnologien, hat sich der Trend von den „ethnischen Medien“ zugunsten der Medien aus den Herkunftsländern verstärkt. Der Transnationalisierung von Medien aus den Herkunftsländern sind immer weniger Grenzen gesetzt. Beispielweise nutzen in Großbritannien die pakistanischen Migranten Nachrichtensendungen in Urdu, in Deutschland türkische Migranten beliebige türkische Nachrichtensendungen (Caröe-Christiansen 2004: 192). Migranten sind dabei immer weniger auf speziell für die Diaspora produzierte „ethnic media“ angewiesen, sie können unter den Medien der Herkunftsländer frei wählen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Produktionsseite der Herkunftsmedien. Die Herkunftsmedien passen zunehmend ihr Programmformat thematisch an die Bedürfnisse der „expatriates“ in Europa an (ebd.: 202). Auch hier zeigt sich, dass sich nicht nur Fernsehformate wie CNN oder MTV globalisieren (Chalaby 2003), sondern auch lokale Formate transnationalisieren. Wie noch in den folgenden theoretischen Kapiteln weiter ausgeführt wird, führt die mediale Globalisierung also keineswegs zur kulturellen Homogenisierung, sondern zu einer lokalspezifischen transnationalen Überschneidung. Zur inhaltlichen Dimension der transnationalen Medien ist die Forschungslage eher spärlich. Einige Studien finden sich zu den „ethnischen Medien“ der Ankunftsländer (Güntürk 2000; Greger/Otto 2000). Um nur zwei Beispiele zu nennen: Am Beispiel der Hürriyet in Deutschland zur Kindervisumdebatte (1997) konnte Ingela Naumann (2004) zeigen, dass die nationalen deutschen Medien und die ethnischen Medien sich wechselseitig beobachten. Am Beispiel der Verbandsgründung der Aleviten in Deutschland zeigte Sökefeld (2004b), dass von Seiten der Hürriyet eine massive Kampagne gegen diese Gründung gestartet wurde, weil man von türkischer Seite eine separatistische Bewegung befürchtete. Hier sind türkische und einwanderungspolitische Positionen über ein ethnisches Medium auf komplexe Weise miteinander verwoben. Eine ähnliche Rolle spielte die Hürriyet anlässlich des Versuchs, einen gemeinsamen türkischen Dachverband in der Bundesrepublik zu gründen (Oestergaard-Nielsen 2003). Darüber hinaus kommt den transnationalen Medien im Kontext des Islams eine signifikante Rolle zu. Die muslimischen Verbände, so Yasemin Soysal, 27
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
gründen ihre Gemeinschaft auf einer öffentlichen „Partizipation jenseits des nationalen Raumes“ (Soysal 1997: 519). Die zentrale Ressource eines islamischen „border crossing“ und die Emergenz der, wie Stefano Allievi sie nennt, religiösen „neo-communities“ bilden in erster Linie die sich ausdifferenzierende islamische Medienlandschaft in Europa (Allievi 2003: 15-20). In diesem Rahmen konstituieren die islamischen Fernsehprogramme inzwischen einen eigenen „religiösen Diskurs“ (Bentzin 2003). Bisweilen identifizieren die Studien gar die Herausbildung eines kosmopolitisch europäischen Islam (Amiraux 1997) oder aber – dieses verneinend – eine spezifisch nichtwestliche, religiöse Tradierung, die im Anschluss an Shmuel Eisenstadt und Talal Assad als „multiple traditions“ interpretiert werden muss (Salvatore/Amir-Moazami 2002). Zusammenfassend lässt sich für die erste Gruppe der Forschungen zum Thema Medien und Migration ein einhelliges Resultat konstatieren. Die Repräsentation von Einwanderern in den Medien des Aufnahmelandes ist unverhältnismäßig negativ, miserabilistisch und symbolisch exkludierend. Im Falle der ethnischen Medien fehlen zumeist systematisch inhaltliche Studien. Diese liegen bisher nur für die Medien der Aufnahmegesellschaft vor. Betont werden soziale Probleme, Kriminalität und kulturelle Identitätskonflikte. Die positiven Beispiele für eine gelungene Inklusion werden hingegen individualisiert. Allerdings, so ist einzuwenden, sind diese empirisch nicht anzuzweifelnden und wichtigen Ergebnisse auch einem gewissen methodologischen Blick geschuldet. Ausgewählt werden vor allem Artikel, die ethnisierend polarisieren wie beispielsweise im Falle der SPIEGEL-Debatte zum Scheitern des Multikulturalismus oder der Debatte über Kriminalität. Die alltägliche Berichterstattung gerät bei diesen Analysen außergewöhnlicher Fälle aus dem Blick. Aber auch die quantitativ kontrollierten, induktiv themenunspezifischen Studien konzentrieren sich auf Issues. Nach der inhaltlichen Repräsentation von einwanderungspolitischen Akteuren wird nur selten gefragt. Eine akteursorientierte Perspektive ist jedoch, wie im Teil I dieses Buches noch mehrfach ausgeführt wird, für das Verständnis von Subjektpositionen zentral. Die nicht-intendierten Nebenfolgen einer die Akteure ausblendenden, rein themenspezifischen Herangehensweise bestehen darin, dass zwar beklagt wird, dass die Migranten überproportional als passives Opfer oder als kriminelle Täter dargestellt werden, sie allerdings durch diese Resultate wiederum zu „Opfern“ werden – nur diesmal zu Opfern der Medien. Möglicherweise finden sich jedoch bisher unbemerkte öffentliche Repräsentationen von Einwanderern, die das einhellig konstatierte Viktimisierungsschema durchbre-
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BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
chen. Auch aus diesem Grund widmet sich die vorliegende Studie den Repräsentationen von Einwandererverbänden in den Medien.
Ethnische Vereine und zivilgesellschaftliches Engagement Ein weiteres Forschungsfeld nimmt die ethnische Vereinsbildung und das zivilgesellschaftliche Engagement von Zuwanderern in den Blick. Doch auch hier liegt der Forschungsschwerpunkt weniger auf den Verbänden als vielmehr auf den Vereinen. Auch in diesem Fall muss auf angrenzende empirische Felder verwiesen werden. Zunächst wird kursorisch auf die Unterscheidung von Verbänden und Vereinen eingegangen, um anschließend die empirische Forschungslage zu den Vereinen kurz zu umreißen. Verbände unterscheiden sich von Vereinen in der Regel dadurch, dass sie einerseits aus Zusammenschlüssen von Vereinen bestehen und sich andererseits als Interessengruppe politisch und öffentlich engagieren (Edwards et al. 2001). Gesellschaftspolitische Verbände und Assoziationen sind also in weit größerem Ausmaß als die sozialintegrativen lebensweltlichen Vereine von öffentlicher Präsenz und medialer Anerkennung abhängig (Vowe 2007). Zwar ist dieser Zusammenhang im Falle von Verbänden nur wenig systematisch empirisch beforscht worden (für eine der wenigen Ausnahmen: Hackenbroch 1998), jedoch finden sich zahlreiche Arbeiten zum wechselseitigen Bedingungszusammenhang von Medien und sozialen Bewegungen (Gerhards et al. 1998; Eder 1999d), die, wie bereits erwähnt, auch für Verbände gelten. In einem Überblick über die Forschungslage zu Verbänden in Europa verweist Werner Reutter darauf, dass in der politikwissenschaftlichen Forschung zu Verbänden die „pluralismustheoretischen“ und „korporatismustheoretischen“ Ansätze inzwischen von „Sozialkapitaltheorien“ abgelöst wurden (Reutter 2001: 9). Auf die Darstellung des Sozialkapitalkonzepts soll hier verzichtet werden (vgl. Braun 2001; Nauck 2004; Rauer 2004b sowie die Beiträge in: Weiss/Thränhardt 2005)7. Stattdessen beschränkt sich die Darstellung auf die relevante empirische Literatur zu diesem Stichwort. 7
Als Klassiker gelten Bourdieu (1983), Coleman (1988) und Putnam (2001), in deren Ansätzen der Begriff aber nur eingeschränkt Vergleichbares bedeutet. Für Coleman sind soziale Kapitalien Ressourcen, die Kontroll- und Informationskosten minimieren, indem sie, vermittelt über ein institutionalisiertes Beziehungsnetz, Vertrauen schaffen. Da soziales Kapital ausschließlich als „Beziehung zwischen Personen“ existiert, ist es, anders als ökonomisches oder humanes Kapital, weniger greif- und messbar (Coleman: 1988: 98). Putnam betont dagegen den Zusammenhang zwischen Engagement und Demokratie. Sozialkapitalien stellen „wichtige Werte“ dar, die in Krisensituationen helfen, „Armut und Verwundbarkeit zu begegnen“ (Putnam 2001: 20f). Putnam wurde vorgeworfen, er reduziere Sozialkapital auf seine positiven Effekte (Portes/Landolt 1996). Inzwischen hat Putnam weiter in „social bridging“ und „social bonding“ differenziert. „Social bonding“ ist innenorientiert. Es richtet sich auf die Vortei29
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Unter dem Stichwort „Sozialkapital“ bzw. „ethnische Vereine“ finden sich seit den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Arbeiten. Insgesamt ist die ethnische Vereinslandschaft ähnlich funktional differenziert wie die der deutschen Mehrheitsgesellschaft. So existieren Kultur-, Eltern-, Sport-, Frauen-, Akademiker- und Studentenvereine sowie parteinahe Organisationen und Unternehmerverbände (Aydin 1999; Diehl 2002). Zudem gelten die türkischen Selbstorganisationen bei den Migranten, wie vergleichende quantitative Studien zeigen, als die wichtigsten Vertreter zur Wahrung eigener Interessen (Berger et al. 2004; Diehl 2004). Claudia Diehl hat zu diesen Studien einen detaillierten Überblick erstellt und dabei fünf verschiedene Forschungsbereiche identifiziert: So findet sich erstens eine umfangreiche Literatur zur Funktion der Vereine als Selbsthilfe, Freizeitgestaltung, Dienstleistung und Interessenvertretung, zweitens zur Organisationsstruktur und institutionellen Interaktion mit den Institutionen der Aufnahmegesellschaft, drittens zu muslimischen Dachverbänden und den Beziehungen zu Vereinen in der Türkei, viertens Vergleiche zwischen der Vereinsstruktur unterschiedlicher nationaler Herkunftsgruppen und Erklärungsversuche dieser Differenzen und fünftens eine Diskussion zu möglichen integrativen und desintegrativen Auswirkungen des Engagements auf die Einwanderer (Diehl 2002: 22f). Inzwischen ist dieser Liste ein sechster Bereich hinzuzufügen: ethnologische Feldstudien zu transnationalen Netzwerkbildungen in Vereinen und Verbänden (Oestergaard-Nielsen 2003; Cappai 2005). Als ein wichtiger Beitrag wird immer wieder die vergleichende Studie „Selbstorganisation ethnischer Minderheiten“ (Fijalkowski/Gillmeister 1997b) hervorgehoben. Das Ergebnis besagt, dass die ethnische Vereinsbildung vor allem eine Ressource zur sozialstrukturellen Positionierung von Zuwanderern darstellt. Im Falle hoher „Assimilationswilligkeit“ beginnt sich nach einer anfänglichen „ethnischen Mobilisierungsphase“ eine integrative „ethnopolitische und ethnoprivate Orientierung“ durchzusetzen. Im Falle einer „geringen Assimilationswilligkeit“ orientieren sich die Vereine an „ethnotraditionalen und/oder exilpolitischen“ Zielvorstellungen (Fijalkowski 2001: 179). Letzteres, die traditionale Herkunftsorientierung, traf in der Vergangenheit und zum Teil noch heute für die türkischen Berliner zu. Allerdings mahnt Fijalkowski, dass man mit vorschnellen „Generalisierungen“ sehr vor-
le der eigenen Mitglieder. „Social bridging“ ist außenorientiert und fördert öffentliche Güter (Putnam 2001: 28). Bourdieu definiert Sozialkapital hingegen als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von […] institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983: 190). Daher beruhen Sozialkapitalbeziehungen nicht nur auf Tauschbeziehungen, sondern auch auf öffentlich anerkannten Gruppenrepräsentationen (Faist 1996). Bourdieus Ansatz nimmt also auch Anerkennungsprozesse in den Blick. 30
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sichtig sein müsse und weiterer vergleichender Forschungsbedarf bestünde (ebd.). In einer weiteren vergleichenden Studie konnte nachgewiesen werden, dass sich polnische, russlanddeutsche und türkische Vereine und Verbände hinsichtlich ihrer Interessenpolitik unterscheiden. Während für die polnischen und russlanddeutschen Vereine eine öffentliche Sichtbarkeit als unerwünscht galt, sahen die türkischen Verbandsvertreter in der Öffentlichkeit eine Chance, ausgrenzende Strukturen politisch zu thematisieren und damit zu beheben (Rauer 2004b). Diesem aufnahmelandorientierten Engagement steht jedoch eine sehr restriktive Politik in Deutschland gegenüber, die einwandererspezifische politische Partizipation kaum ermöglicht (Diehl 2002). Ansonsten gilt den islamischen Vereinen ein umfangreiches Forschungsinteresse (Karakasoglu-Aydin 1996). Die Hinwendung zu den islamischen Verbänden und deren Auffassung einer europäischen Staatsbürgerschaft hat Valérie Amiraux untersucht, die ihren Aufsatz mit der so provokanten wie bezeichnenden Formulierung eröffnet: „Most research questions of immigration and Europe regard immigrants as victims of ‚obscure forces they cannot understand‘“ (Amiraux 1997: 245). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich insbesondere die türkisch-islamischen Assoziationen in Deutschland als Repräsentanten einer Europäisierung begreifen, die über eine national-religiöse Prägung weit hinausweist und als eine „kosmopolitisch-religiöse“ Orientierung begriffen werden muss (ebd.: 258). In anderen Studien wird von zahlreichen islamischen Organisationen berichtet, die entweder rechtsextreme bis antisemitische und/oder nationalistische Ziele verfolgten (Heitmeyer/Dollase 1996). Bei den nationalistischen und zum Teil antisemitischen Vereinen wird die Gefahr einer Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft am größten eingeschätzt (Fijalkowski 2001). Allerdings sind zahlreiche islamische Organisationen offen für verschiedene Nationalitäten und weder ethnisch noch nach dem Herkunftsland strukturiert. Gerade diese Vereine verstehen sich als eine Alternative gegenüber den Integrationsangeboten der Mehrheitsgesellschaft (Çetinkaya 2000). Die Beantwortung der Frage, inwiefern die einzelnen Vereine sich von der Mehrheitsgesellschaft abwenden, hängt dabei nicht nur von den einzelnen Organisationen ab, sondern hat sich auch im Laufe der Migrationsgeschichte gewandelt. Als der Gastarbeiter-Status dominierte, orientierten die Vereine ihr Engagement in Richtung Herkunftsland. Als sich mit den 70er Jahren der Lebensmittelpunkt immer mehr nach Deutschland verlagerte, wandten sich die Vereine den migrationsrelevanten und politischen Belangen auch in der Bundesrepublik zu (Özcan 1989; Blaschke 1988). Hinsichtlich der Bildung eines repräsentativen Dachverbandes gestaltete sich eine Einigung als außerordentlich schwierig. Nach wie vor fehlt eine überregionale, koordinierende Organisation, die von allen Akteuren als solche 31
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akzeptiert ist. „Ethnic leaders“ konkurrieren um lokale Vormacht, wodurch die inklusiven Effekte einzelner Verbände bisweilen stark eingeschränkt sind (Unbehaun 1997; Yalçin-Heckmann 1998). Der direkte politische Einfluss der Verbände und Ausländerbeiräte auf die nationale Politik wird als „gering“ eingeschätzt (Bommes 1992). Vielmehr haben die Verbände die „symbolische Funktion“, die „Belange der Migranten öffentlich darzustellen“ (Bommes 2004: 61-62). Gerade in diesem Zusammenhang, so Bommes weiter, „wird sich die Bedeutung insbesondere der türkischen Migranten verstärken“ (ebd.: 61). Michael Hunger interpretiert die Verbände und Vereine als die zentralen Orte einer „ethnischen Öffentlichkeit“ und fordert daher eine „radikale Öffnung der deutschen Öffentlichkeit für die Belange der Einwanderer“ (Hunger 2004: 27). In jüngster Zeit hat sich schließlich der sogenannte „transnational turn“ (vgl. das Unterkapitel: Raum) auch auf die Forschung zu ethnischen Verbänden und Vereinen ausgewirkt. Eva Oestergaard-Nielsen (2003) hat in diesem Zusammenhang die transnational verflochtene Politik kurdischer und türkischer Vereinigungen in der Bundesrepublik herausgearbeitet. So gilt für den kurdischen Fall, dass sich das politische Engagement sowohl in Deutschland als auch in der Türkei artikuliert und wechselseitig bestimmt. Gabriele Cappai (2005) hat in ihrer Feldforschung zu einem sardischen Circolo in Deutschland und Sardinien die vielfältigen Bedingungen des „migratorischen Dreiecks“ aus Herkunfts- und Ankunftsland sowie der Migrantenorganisation untersucht. Insgesamt zeigt dieser Überblick, dass Untersuchungen zu Vereinen zahlreich sind, dass aber ein Mangel an empirischen Untersuchungen zur symbolischen, kommunikativen und öffentlichen Funktion der Verbände herrscht. Es ist nach wie vor ungeklärt, wie die Selbstorganisationen der türkischen Zuwanderer im gesellschaftlichen Diskurs des Aufnahmelandes repräsentiert sind und wie diese Repräsentation in der medialen Öffentlichkeit bewertet wird (Çetinkaya 2000: 107).
Diskursanalysen In diesem Buch wurde mit der Frage nach der medialen Repräsentation von einwandererpolitischen Verbänden ein Forschungsgegenstand gewählt, zu dem also keine direkten Vorläufer existieren, auf die methodisch Bezug genommen werden kann. Daher ist es vorab notwendig, die methodisch angrenzenden Felder zu benennen, um daran anschließend den gewählten methodischen Zugang zu begründen. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang zu diskutieren: Die Frage nach einer akteurszentrierten „frame analysis“ soll im Rahmen der jüngsten Diskussion um die „political claims analysis“ beantwortet werden. Beide Me32
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
thoden stammen aus dem Forschungsfeld, das sich mit sozialen Bewegungen, Protestereignissen und Mobilisierungen befasst.
Rahmenanalyse Methodisch orientiert sich die hier vorgenommene empirische Analyse an der aus der Forschung zu sozialen Bewegungen stammenden frame analysis (Goffman 1980; Snow et al. 1986; Gamson/Modigliani 1989; Benford/Snow 2000; Donati 2001). „Frames“ oder „Rahmen“ werden als „interpretative Schemata“ verstanden, die die Komplexität eines politischen Ereignisses oder einer Situation reduzieren und mit einem spezifischen sozialen Sinn verknüpfen (Snow/Benford 1992: 135f).8 Die Methode folgt damit dem später noch zu erläuternden, bedeutungsorientierten Kulturbegriff (Kapitel 2). Das Konzept der frames, bisweilen auch als „interpretive schemes“ (Tuchman 1989: 619) bezeichnet, geht auf Goffman zurück. Dazu heißt es bei Goffman: „Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewisser Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente [...] nenne ich ‚Rahmen‘.“ (Goffman 1980: 19) Rahmen und Rahmungen dienen der Verstetigung von Sinnstrukturen. Sie werden als unwandelbare Bedeutungen einer Situation vorausgesetzt. Die gerahmte Situation unterliegt jedoch gleichzeitig immer auch Fragilitäten oder Kontingenzspielräumen (Willems 1996). Das Rahmenkonzept ist demnach sowohl struktural, prozessual als auch situational zu begreifen. Im Fall eines kontingenten Ereignisses versagt die vorstrukturierte und vorstrukturierende „Definition der Situation“. Einem solchen Anlass wird mit neuen Rahmungen oder „Rahmentransformationen“ als Versuchen einer ReDefinition begegnet (Goffman 1980: 54f). Die Rahmenanalyse bezieht sich daher nicht in erster Linie auf die lexikalische Wortbedeutung, sondern auf die selektiven Interpretationen und Kontextualisierungen der jeweiligen „Situationsdefinitionen“: „the basic referent […] refers to an interpretive schemata that simplifies and condenses ‚the world out there‘ by selectively punctuating and encoding objects, situations, events, experiences, and sequences of action within one’s present or past environment.“ (Snow/Benford 1992: 135) Die Annahme ist, dass es sich bei den verschiedenen Topoi, „MetaRahmen“ oder Diskursen um eine „öffentliche Resonanzstruktur“ (Gamson/Modigliani 1989) handelt, auf die bei den jeweiligen konkreten Debatten, den so genannten „issue-cicles“, zurückgegriffen wird. Solche Meta-Rahmen oder Diskurse sind auch als das narrative „opus operatum“ (Viehöfer 2001) zu
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Für einen jüngeren Überblick zur Forschungsliteratur, die sich mit Rahmungsprozessen und sozialen Bewegungen befasst vgl. Benford/Snow (2000). 33
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
verstehen, das die jeweiligen Debatten um spezifische Ereignisse vorstrukturiert. Der „modus operandi“ (ebd.), d.h. der inhaltliche Zuschreibungsprozess, speist sich aus diesen Metarahmen. Metarahmen bilden den diskursiven Erfahrungsraum für die kontextspezifischen Deutungshorizonte. Anders formuliert: Die Metarahmungen stellen implizit diskursive Regeln des Aussagbaren auf (Foucault 1991). Aus diesen unausgesprochenen Regeln speisen sich die Aufmerksamkeitsökonomien der jeweiligen Debatten und Agenda-SettingProzesse (Rogers/Dearing 1996). Wird beispielsweise ein niederländischer Filmemacher von einem Migranten der zweiten Generation aufgrund von blasphemischen Filminhalten erschossen („Ereignis“), so greift der anschließende Agenda-Setting-Prozess wahlweise auf die diskursiv als legitim geltenden Meta-Rahmen, wie in diesem Fall entweder „Integration“ oder „Multikultur“, zurück. Dabei zieht die Debatte aufgrund des aktuellen Ereignisses Rückschlüsse auf den Zustand der Gesamtgesellschaft im Kontext von Einwanderung im Allgemeinen und in Bezug auf die Immigranten im Besonderen. Die Metarahmen werden entweder bestätigt, verworfen oder neu definiert. Eine solche Rahmungstransformation lautet beispielsweise: „Angesichts des Ereignisses ist die Integration der Ausländer gescheitert“ oder aber: „Die multikulturelle Gesellschaft in den Niederlanden war purer Schein“. Allgemein besagt die Annahme, dass die Metarahmungen in den jeweiligen Kontexten zunächst de- und anschließend wieder re-kontextualisiert werden. Im Zuge dieses Prozesses ereignen sich symbolische Bedeutungsverschiebungen (Schneider 2004) und Transformationen der Metarahmen.9 Da in dieser Arbeit ein Zeitraum von zehn Jahren untersucht wird, ist die methodische Konzeptualisierung von Rahmentransformation von besonderer Relevanz. Die Frage nach der Transformation von Rahmungen wurde ausführlich von David Snow et al. (1986) weiterentwickelt und empirisch umgesetzt. Der Ansatz verbindet mikrosoziologische, sozialpsychologische Perspektiven mit der Frage nach den ursächlichen Faktoren von kollektiver Mobilisierung und politischer Partizipation. Snow et al. stellen dabei ein methodisches Instrumentarium bereit, mit dem Gruppenprozesse unter der Frage analysiert werden, wie vormals als miteinander unvereinbar geltende Defini9
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Goffman unterscheidet „primäre Rahmen“ von „Rahmentransformationen“. Primäre Rahmen untergliedern sich in natürliche und soziale Definitionen einer Situation. Im Rahmen natürlicher Deutungen wird ein Ereignis in einem Wirklichkeitsbezug wahrgenommen, in dem die vollständige Determination durch Naturgesetze vorausgesetzt wird. Soziale Rahmen „liefern einen Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen [...] des Menschen beteiligt sind.“ (Goffman 1980: 32). Rahmentransformationen beschreiben den Wechsel von primären Rahmen in einen anderen Bedeutungszusammenhang. Diese Transformationen werden durch „keys“ vollzogen (Goffman 1980: 54f). Zeitliche Transformationen berücksichtigt Goffman nicht.
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
tionen ein und derselben Situation durch einen sequenziellen Prozess mit einem neuen konsensstiftenden „Meta-Rahmen“ definiert werden. Diesen Prozess nennen Snow et al. „Frame Alignment“. frame alignment bildet die „conceptual bridge, linking social psychological and resource mobilization on movement participation“ (Snow et al. 1986: 464). Der Ansatz des frame alignment ist für den in dieser Arbeit analysierten Forschungsgegenstand jedoch aus zweierlei Gründen ungeeignet. Erstens handelt es sich bei den untersuchten Medientexten nicht um mikrosoziologisch und sozialpsychologisch analysierbare Daten und zweitens wurde mit einer Zeitungsanalyse über zehn Jahren eine Perspektive gewählt, in der sich die Rahmentransformationen nicht in einer direkten und unmittelbaren Interaktion vollziehen. Statt der Anwendung eines mikrosoziologischen, deduktiven Modells wurde deshalb induktiv versucht, zunächst verschiedene Zeitperioden zu unterscheiden und gemäß des Kontextes und der jeweiligen Bedeutungsrahmung den Wandel zu sequenzieren. Aus Ermangelung an Vorläuferstudien zu einem ähnlichen empirischen Gegenstand erforderte die Analyse zunächst eine methodisch sowohl offen explorative als auch detailliert qualitative Interpretationsstrategie.10 Wie noch erläutert wird, gilt für die politische öffentliche Partizipation von Migranten zudem weniger eine Logik der charismatischen sozialen Bewegung, wie sie die klassische frame analysis untersucht, sondern ein Identitätsmanagement durch Eliten und Verbände (vgl. Kapitel 2, Unterkapitel: Ethnizität). Aus diesem Grund erschienen auch die weiteren Ausdifferenzierungen der frame analysis durch Gamson und Modigliani als ungeeignet.11 Beibehalten wird jedoch die qualitative Perspektive der frame analysis auf die jeweiligen Kodierungen als „Definitionen von Situationen“, d.h. als Definitionen von Akteuren und Ereignissen. Dabei stehen die Frage nach den Rahmen der Grenzziehung zwischen Ego und Alter sowie die Akteurszuschreibungen im Vordergrund. Als Interpretationsgrundlage dienen hierzu die sechs
10 Beispielsweise wurde der Integrationsrahmen nicht als solcher explizit debattiert, sondern je nach Situation und Zeitpunkt implizit mit einer anderen Bedeutung belegt. 11 Beispielsweise unterscheiden Gamson und Modigliani in „reasoning-devices“ und „framing-devices“. framing-devices suggerieren, wie man über einen bestimmten Sachverhalt zu denken hat, und reasoning-devices schlagen vor, was aufgrund der Definition dieses Sachverhalts getan werden sollte. Als framingdevices werden fünf unterschiedliche Typen identifiziert: „metaphors, exemplars (i.e., historical examples from which lessons are drawn), catchphrases, depictions, and visual images (e.g. icons)“. Für die reasoning-devices unterscheiden sie drei Modi: „roots (i.e., causal analysis), consequences (i.e., a particular type of effect), and appeals to a principle (i.e., a set of moral claims)“ (Gamson/Modigliani 1989: 3-4). 35
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
im theoretischen Teil entwickelten Unterscheidungen und Konzeptualisierungen. Schließlich ist noch ein weiterer Aspekt hervorzuheben: Die in der vorliegenden Studie untersuchten Rahmungen von einwanderungspolitischen Verbänden kommentieren und rahmen nicht nur Ereignisse und Identitäten, sondern verknüpfen diese mit expliziten politischen Forderungen. Die politischen Forderungen von institutionalisierten und organisierten Interessengruppen wurden, im Gegensatz zu den lose institutionaliserten sozialen Bewegungen, bisher kaum thematisiert (Vowe 2007). Im folgenden Kapitel soll deshalb eine aktuelle methodische Auseinandersetzung zum Verhältnis von Rahmenanalyse und political claims analysis diskutiert werden.
Political Claims Analyse In einem methodologischen Aufsatz zur sozialwissenschaftlichen Mobilisierungsforschung unterscheiden Ruud Koopmans und Paul Statham zwei maßgebliche Ansätze: die „Political Event Analysis“ und die „politische Diskursforschung“. Erstere, die Protestereignisforschung, widmet sich auf einer quantitativen Datenbasis dem Zusammenhang von sozialen Mobilisierungszyklen und politischen Opportunitätsstrukturen (Tilly 1978; Tarrow 1989) und klammert den diskursiven Bedeutungsaspekt weitgehend aus. Letztere, die politische Diskursforschung, ist durch die frame analysis charakterisiert. Sie widmet sich auf einer qualitativen Basis den Bedeutungsdimensionen von Mobilisierungsprozessen und politischen Forderungen und klammert den Akteursaspekt weitgehend aus. Beide Forschungsrichtungen zeichnen sich zwar durch die gemeinsame Grundannahme aus, dass politischer und gesellschaftlicher Wandel durch mobilisierte soziale Bewegungen vorangetrieben werden, jedoch sind beide Ansätze durch die jeweiligen Auslassungen zu reduktionistisch, um das Phänomen erschöpfend erklären zu können (Koopmans/Statham 1999b: 203-204).12 Koopmans und Statham kritisieren an beiden Ansätzen weiter, dass sich die Analysen zeitlich auf die politischen Ereignisse und die Mobilisierungsphasen reduzieren und damit die politischen Organisationen und die an die Protestphase anschließenden Institutionalisierungsprozesse ausklammern (ebd.: 205-207). Eine solche in doppelter Weise reduzierte Perspektive verliert zum einen die langfristigeren Wandlungsprozesse aus dem Blick und ignoriert zum anderen die Bedeutung von institutionalisierten Organisationen für diese Prozesse: „Conventional protest event analysis stops recording chal-
12 Wobei wie häufig in solchen Überblicksdarstellungen die Feinheiten reduziert werden müssen. So hat sich Tarrow ebenfalls den symbolischen Rahmen von Mobilisierung gewidmet (Tarrow 1992). 36
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
lenges which take on institutional forms, i.e., when they are likely to be more important and powerful in a substantive sense.“ (ebd.: 206) In ihren eigenen Analysen zur ethnischen Mobilisierung in Großbritannien und Deutschland bezogen Koopmans und Statham diese Akteure mit ein und konnten zeigen, dass den institutionalisierten Akteuren, d.h. den zivilen und staatlichen Organisationen, eine erhebliche (de-)mobilisierende Bedeutung zukommt (Koopmans/Statham 1999a). Dabei beobachteten sie, dass die Dichotomie zwischen der „etablierten Politik“ und ihren unorganisierten zivilen „Herausforderern“ nicht der Realität entspricht. Vielmehr ist der Prozess durch Überkreuzungen und wechselseitige Beeinflussungen zwischen diesen beiden „Lagern“ gekennzeichnet.13 Indem sich die Forschungen auf die Protestzyklen und unmittelbaren Ereignisse beschränken, geraten diese verflochtenen Wirkungsgeschichten und ihr Wandel aus dem Blickfeld. Die Hervorhebung des Akteursaspekts ist besonders im Migrationsfeld bedeutsam. Wie erwähnt, konstituieren sich die Einwanderer westlicher Nationalstaaten nur selten als eine soziale Bewegunge, sondern eher als ein institutionalisierter Verband (Giordano 1997; vgl. auch Kapitel 3). Kollektive Akteure jenseits der sozialen Bewegungen bilden ebenfalls einen wesentlichen Bestandteil politisch ziviler Diskursformationen. Leider werden sie sowohl in der klassischen „Protest-Event-Analysis“ als auch in der klassischen frame analysis zu häufig übergangen. Koopmans und Statham konnten zeigen, dass ein enger Wirkungszusammenhang zwischen den öffentlich artikulierten diskursiven Claims, den jeweiligen politischen Verbänden und Parteien und der Mobilisierungsintensität besteht (Koopmans/Statham 1999a/b). Sie schließen daraus, dass die Analyse von diskursiven Rahmen nicht losgelöst von institutionell verfassten kollektiven Akteuren erfolgen darf. Diese Hinwendung zu institutionalisierten kollektiven Akteuren hat methodisch die Konsequenz, dass die diskursiven Rahmen – die frames – eng mit der Sprecherposition der institutionalisierten Akteure verknüpft werden müssen. Insgesamt beruhen soziale Mobilisierung und politischer Wandel demgemäß nicht nur auf der Relation zwischen Protestereignissen und Opportunitätsstrukturen zu medialen Rahmungen. Laut Koopmans und Statham stehen alle drei Elemente – Opportunitätsstrukturen, Akteure und Diskurse – miteinander in einer Wechselwirkung. Da die institutionalisierten Akteure sich zu13 Zudem muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Gründung zivilgesellschaftlicher Organisationen, wie beispielsweise Greenpeace oder Amnesty International, sich in der Regel aus zuvor nicht organisierten sozialen Bewegungen konstituierten. Es existiert dazu zwar keine Analyse, jedoch ist zu vermuten, dass dies eingeschränkt auch für die Gründung der Türkischen Gemeinde e.V. gilt. Im Rahmen der rassistischen Gewalttaten gegen Einwanderer Anfang der neunziger Jahre entstand eine antirassistische soziale Bewegung, die gegen Ende des Jahrzehnts wieder abebbte. 37
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
meist erst nach dem „Event“ konstituieren, folgt aus dieser Konzeption auch, dass der Zeitraum der Analysen auf die Phase nach den Ereignissen ausgedehnt werden muss. Nur wenn diese vier notwendigen methodologischen Bedingungen erfüllt sind, sind kausal erklärende Aussagen zum politischen Wandel und zur Mobilisierung möglich. Mit diesem state of the art der sozialen Protest- und Mobilisierungsforschung verbindet die vorliegende Arbeit sowohl eine Nähe als auch eine Distanz. Die Nähe besteht in der Verknüpfung von öffentlichen Diskursen und relevanten Akteuren, eine weitere Nähe im vorgeschlagenen Zeitlichkeitsaspekt. So beschränkt sich auch die vorliegende Analyse zeitlich nicht auf einzelne Ereignisse, sondern umfasst einen durchgängigen Zeitraum von zehn Jahren. In diesen Zeitraum fielen verschiedene politische Ereignisse und Gesetzesänderungen, die mit einem Wandel der einwanderungspolitischen Opportunitätsstrukturen einhergingen.14 Gleichwohl waren leider nicht alle Vorschläge und Bedingungen des state of the art in dieser Studie umsetzbar. Dies gilt in erster Linie für die von Koopmans und Statham anvisierte Verbindung zwischen symbolisch diskursivem Wandel und quantitativ kausalen Erklärungen. Eine quantitativ signifikante Aussagekraft beanspruchende Analyse müsste nicht nur die Akteursperspektive erheblich erweitern, sondern auch die jeweiligen Polity-Prozesse mit einbeziehen. Die Studie dürfte sich zudem weder auf eine Medienanalyse noch auf einen oder zwei kollektive Akteure beschränken. Diese Erweiterung konnte aus folgenden Gründen nicht geleistet werden: Zum einen erstreckt sich die Medienstudie über einen langen Zeitraum und nimmt somit den diskursiven Wandel in den Blick. Wenn für jedes dieser Jahre die Polity-Prozesse eigens empirisch analysiert werden müssten, und darüber hinaus sämtliche an den Diskursen beteiligte Akteure, dann wäre das Vorhaben rein arbeitsökonomisch zum Scheitern verurteilt. Forschungsziel und Fragestellung sind daher bescheidener. Auf die kausal erklärende Beantwortung des Wandels und der Mobilisierung des migrationspolitischen Feldes in der Bundesrepublik wird verzichtet. Des Weiteren wird versucht, einen divergenten Aspekt dieses Wandels in den Blick zu nehmen. Nicht die Mobilisierung, sondern die symbolische Repräsentation zweier einwanderungspolitischer Interessenverbände in den deutschen Medien, d.h. zwei bereits institutionalisierte kollektive Akteure, steht 14 Beispielsweise fand das Gesetz zur Staatsbürgerschaftsreform – die „doppelte Staatbürgerschaft“ – statt und die Mobilisierung der parlamentarischen Opposition gegen das Gesetzesvorhaben in den Jahren 1998 bis 1999. Die Diskussion der Folgejahre um ein Einwanderungsgesetz bildete die Grundlage, das Integrationskonzept neu zu definieren und zu debattieren. Auch setzt die Analyse zeitlich mit dem Institutionalisierungsprozess der „ethnisierten Konflikte“ in der Bundesrepublik im Jahre 1995 (Brosius/Esser 1995), d.h. mit der Gründung der Türkischen Gemeinde e.V. ein. 38
BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN
im Vordergrund der Analyse. Diese Beschränkung der Perspektive erlaubt, im Gegensatz zu quantitativen Studien, qualitative Aussagen über die Partizipation von migrationspolitischen Interessenverbänden in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu treffen. Durch die methodische Beschränkung ergibt sich also auch ein inhaltliches Surplus: Die Analyse muss sich nicht auf bloße quantitative Zählungen beschränken, sondern kann ein komplexes Bild dieser diskursiv vermittelten Akteursposition nachzeichnen. Wie erwähnt erweisen sich die Instrumente einer klassischen political claims analysis, die Quantifizierungen, für eine Untersuchung über längere Zeiträume zu statisch. Bestimmte politische Forderungen zu isolieren, zu kategorisieren und zu quantifizieren ist im Falle einer chronologisch konzipierten Verlaufsanalyse nicht aussagekräftig genug. Das Problem besteht darin, dass sich die einzelnen Rahmungen trotz des identischen Begriffs, d.h. bei gleich bleibender lexikaler Verwendung, in ihrer konnotativen Bedeutung potentiell modifizieren. Dieses Problem wurde bisher, auch bei den zeitlich diachronen political claims analyses ignoriert (Gerhards et al. 1998).15 Da ein solcher Wandel erfasst werden soll, beschränkt sich die Analyse auf wenige Text- und Akteursgattungen und verzichtet auf „erklärende“, d.h. statistisch signifikante Aussagen. Es handelt sich insgesamt also nicht um eine quantitativ erklärende, sondern um eine qualitativ explorative Studie. Daher sei noch ein letztes Wort zur Überführung der Daten in eine quantitative Analyse gesagt. Zwar zählt die Grundgesamtheit der Artikel weit über n=500, jedoch bestehen bei einem sich rein auf Mediendaten stützenden Sample Bedenken gegenüber einer quantitativ behaupteten Signifikanz. Die Daten beruhen auf einer Bedeutungsanalyse und die Artikelanzahl ist von historisch variablen Ereignissen und sich dementsprechend wandelnden Rahmen geprägt. Hier eine repräsentative Wahrscheinlichkeit zu behaupten oder das Gegenteil zu zeigen, würde der qualitativen Bedeutungsanalyse nicht gerecht werden. Die einzige numerische Repräsentation, die hier als aussagekräftig angeführt wird, ist eine grobe quantifizierende Orientierung über absolute Zahlen und relative prozentuale Verteilungen der Themenfelder. Die Prozentangaben dienen der explorativen Orientierung. Alle weiteren Ansprüche nach statistischer Wahrscheinlichkeit würden bei einer prozessualen Verlaufsanalyse einen übertriebenen Erklärungsgehalt suggerieren. Nach diesen methodologi-
15 Beispielsweise bedeutet der Rahmen „Integration“ im Jahre 1995 etwas anderes als im Jahre 2004. Im Jahre 1995 gab es weder ein Einbürgerungs- noch ein Integrationsgesetz. Mit der Debatte um diese Gesetze bleibt zwar der Begriff lexikalisch gleich, doch transponiert er seinen konnotierten Bedeutungsgehalt. Einer Quantifizierung von Integrationsforderungen im Sinne von frames oder claims würde dieser potentielle Bedeutungswandel entgehen. 39
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
schen Vorüberlegungen werden in den folgenden drei Kapiteln maßgebliche theoretische und migrationssoziologische Konzepte diskutiert.
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2 . Individua lisierung
In diesem Kapitel werden zwei Konzepte vorgestellt, die, bei allen theoretischen Differenzen, einen gemeinsamen individualisierungstheoretischen Blick auf Migrationsprozesse werfen: Die Marginalisierung des „Fremden“ und die Assimilation des „Ausländers“. Den beiden Konzepten ist gemeinsam, dass dem Individuum handlungstheoretische Eigenschaften zugerechnet werden, die als Basis für die gängigen Integrationsmodelle dienen. Gleichzeitig sind beide Konzepte in der politischen und medialen Öffentlichkeit präsent. Die Vorstellungen, die in den Medien über die Kompetenzen der „Fremden oder Ausländer“ herrschen, prägen maßgeblich den politischen Entscheidungsprozeß mit. Wird beispielsweise das wandernde Individuum als „integrationswillig“ gedacht, wie es oft im migrationspolitischen Diskurs heißt, dann wäre zunächst zu klären „in was“ es sich integrieren „will“, und was eine solche „Willigkeit“ in diesem Kontext eigentlich meinen könnte.1 In einem ersten Schritt werden die klassischen Ansätze zum Konzept des „Fremden“ unter dieser Fragestellung diskutiert. Die beiden Ansätze, der „Marginal Man“ von Robert E. Park und „Der Fremde“ von Alfred Schütz, sind paradigmatisch, weil sie die Situation des Fremden mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten durch ein Individualkonzept entwarfen, das für den methodologischen Individualismus in der Migrationssoziologie prägend sein sollte. In beiden Ansätzen ist ein Großteil der späteren Grundannahmen angelegt, die dort allerdings nicht mehr als diskussionswürdig erachtet, sondern als Wissen vorausgesetzt werden. Dieses erste kurze Unterkapitel bildet also ein theorie-historisches Prolegomenon vor der Darstellung der aktuellen migrationssoziologischen Konzeptbildung.
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Eine solche Frage ist selbstverständlich nicht auf die Migrationsforschung begrenzt. Vgl. zu unterschiedlichen, impliziten Voraussetzungen des „Individuums“ bei den Klassikern der Sozialtheorie: Schroer (2001). 41
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Anschließend in einem zweiten Schritt werden aktuell wichtige einwanderungsoziologische Modelle vorgestellt. Dabei handelt es sich einerseits um das Desintegrationsmodell und andererseits um das Assimilationsmodell. Aufgrund der großen Bedeutung für die empirische Forschung müssen beide Modelle nicht nur definiert, sondern vor dem Hintergrund der vorhandenen kritischen Literatur reflektiert werden. In die Kritik geriet insbesondere die Verbindung des methodologischen Individualismus mit den Fragen der nationalen Grenzziehungen. In beiden Modellen ist die Beobachterperspektive auf migrationsinduzierte Folgen für die Sozialitiät individualisiert. Das Individuum, seine Kompetenzen, Sichtweisen und Opportunitäten gelten als entscheidend für diese Ansätze, nicht die Diskurse und kulturellen Deutungsmuster der Gesellschaften, in die sich Einwander potentiell integrieren oder gar assimilieren.
„Der Fremde“: marginalisiert oder modernisiert Die Migrationssoziologie besitzt im eigentlichen Sinne keine Tradition eines klassischen Theoriekanons. Von disziplinbegründenden „Urtexten“, d.h. von Ansätzen, denen bis heute eine unumstrittene herausragende Bedeutung zukommt, ist in der aktuellen Literatur nur selten die Rede. Jedoch besitzen die beiden im Folgenden vorgestellten Ansätze eine exemplarische Bedeutung: „Human Migration and the Marginal Man“ von Park (1928) und „Der Fremde“ von Schütz (1972)2 sind für die Migrationssoziologie deshalb bezeichnend, weil sie den Verlust der kulturell vertrauten Einbettung jeweils auf unterschiedliche, ja nahezu konträre Weise deuten. Während Park eher die positiven Folgen von Migrationserfahrungen in den Blick nimmt, die lediglich im Falle ungünstiger Umstände in negative Folgen umschlagen, so ist für Schütz Migration eine Defiziterfahrung, die per se soziale Kosten verursacht. Beide Sichtweisen finden sich auch in der heutigen Migrationsforschung in ähnlicher Weise wieder. Um diese Positionen herauszuarbeiten, werden beide Ansätze im Folgenden auf ihre jeweiligen Vorstellungen vom eingewanderten Individuum und auf ihre Annahmen der kollektiven Bindungen hin analysiert. Die Analyse beschränkt sich also gewissermaßen darauf, die in den Texten selbst entfalteten theoretischen Beobachtungspositionen herauszuschälen.3 2 3
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Der Text wurde ursprünglich im Jahre 1944 verfaßt. Simmels „Exkurs über den Fremden“ (Simmel 1992: 764-771) müsste, so könnte es zumindest auf den ersten Blick erscheinen, auch in diesem Kontext erörtert werden. Allerdings beschäftigt sich das Simmelsche Fremdheitstheorem nicht mit dem Individuum, sondern mit strukturellen Konstellationen. Diese werden im Kapitel „Universalisierung“ im Zusammenhang von Systemdifferenz und Transnationalisierung erläutert.
INDIVIDUALISIERUNG
Fremdheit als Modernisierung Am Beginn der soziologischen Beobachtung von Einwanderungsprozessen steht die Unterscheidung von traditioneller versus moderner Migration. Park datiert den Beginn der „modernen Migration“ auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Während die „Völkerwanderungen“ die traditionellen Migrationsprozesse charakterisierten, ist die moderne Migration durch das Wandern von einer großen Anzahl an Individuen und Privatpersonen gekennzeichnet (Park 1928: 884-885). Im Falle der traditionellen Völkerwanderungen wurden die gemeinschaftlichen Bindungen, Sitten und Bräuche an den Zielort verlagert. Die Gemeinschaft wanderte als Ganze mit. Am Zielort kam es zwar zu Anpassungs- und Akkulturationsprozessen, diese hatten jedoch keine Folgen für die einzelnen Individuen. Die Individuen konnten ihre gewohnten kulturellen Muster beibehalten, da mit ihnen die Gesamtgesellschaft aus- und eingewandert ist. Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft waren identisch. Demgegenüber sind die Individuen in der modernen Migration auf sich allein gestellt. Die wandernden Personen der modernen Migration werden unmittelbar bei ihrer Ankunft mit den Traditionen und Sitten der Ankunftsregionen konfrontiert. In diesem Fall kommt es zur „Assimilation“ von Individuen und nicht zur „Akkulturation“ von Gemeinschaften.4 Im Gegensatz zu den traditionellen Völkerwanderungen besteht für die individuell wandernden Personen der Moderne keine Möglichkeit, an den sakralen gemeinschaftstiftenden Vorstellungen und Ritualen ungebrochen festzuhalten oder sie allmählich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Stattdessen kommt es bei der modernen Migration zu einer zwangsläufigen und abrupten Loslösung, die Park jedoch nicht nur als Krise, sondern auch als „Befreiung“, d.h. als Individualisierungsprozess begreift (ebd.: 886). Zwar ist dieser befreiende Individualisierungsprozess durch eine anfängliche Krise und eine „moralische Desorientierung“ geprägt, doch diese bildet nur eine Übergangsphase. Nach dieser Übergangsphase stellt sich eine neue und autonomere Form der sozialen Identität her (ebd.: 886). 4
Im Falle von Kollektivmigration kam es zu Anpassungsprozessen, die meistens durch Überlagerungen und selektive Übernahmen von kulturellen Formen der Ankunftskultur gekennzeichnet waren. Zumal, wenn die Migration in Form einer Eroberung vonstatten ging. Park nennt dies daher auch nicht Assimilation, sondern „Akkomodation“ oder „Akkulturation“. Zusammen mit Burgess entwickelte Park ein umfassendes Modell zu diesen Wanderungsprozessen, deren Begrifflichkeit, Assimilation, Anpassung und Angleichung (Park/Burgess 1921) ein klassisches Paradigma der Migrationsoziologie bildete. Die Begriffe „Assimilation“ und „Akkulturation“ werden nahezu synonym verwendet. Gordon merkte an, dass Anthropologen und Ethnologen zumeist eher „Akkulturation“ verwenden, während Soziologen den Begriff „Assimilation“ bevorzugen (Gordon 1964: 61). 43
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Die Aus- und Einwanderung von Individuen birgt stets krisenhafte Übergangsphasen. Gelingt es den Einwanderern jedoch, diese zu vermeiden oder zu bewältigen, dann erfolgt ein Zuwachs an individueller Autonomie. Moderne Migration befreit das Individuum demnach aus traditionellen Gemeinschaftsbindungen. Die mit der Wanderung einhergehende Fremdheitserfahrung verursacht nicht nur krisenhafte kulturelle Missverständnisse, sondern sie setzt ein Selbstverwirklichungspotential der Individuen frei. Park nimmt folglich nicht nur die negativen Folgen von Migration und Fremdheit in den Blick, sondern auch deren Nutzen. Daran schließt Parks zweites prominentes Argument an. Bedingt durch den individuell erfahrenen kulturellen Wechsel fördert Migration die Skepsis gegenüber kollektiv tradierten Glaubenssystemen generell. Daher hat Migration auch eine entscheidende Bedeutung für den modernen Säkularisierungsund Individualisierungsprozess.5 Park versucht mit dieser Annahme den zeitgenössischen Theorien zu widersprechen, die behaupten, dass der Zivilisationsprozess durch vernunftgeleitete Aufklärung oder durch soziale Bewegungen und Revolutionen bedingt sei. Park sieht dagegen in der durch die Massenmigration verursachten Fremdheitserfahrung der letzten zwei Jahrhunderte nicht nur eine Beschleunigung, sondern auch die individualisierende Moderne begründet. Obwohl er es so nicht formuliert, liegt es nahe, dass für Park die Einwanderungsgesellschaften den modernen Normalfall darstellen.6 Die sich über ihr kollektives Erbe definierenden Nationalstaaten sind in diesem Sinne eher als eine traditionelle und damit vormoderne Form der Vergemeinschaftung zu begreifen. Allerdings kann diese normativ positiv zu bewertende Entwicklung auch scheitern. Dies ist das dritte Argument bei Park. Statt zu einer „Befreiung“ aus der tradierten Gemeinschaft und einer anschließenden Assimilation in die 5 6
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Merkwürdigerweise wird dieses Argument bei der Darstellung von Parks Ansatz oft unterschlagen (so beispielsweise Han 2000: 216-217). Unschwer lässt sich aus dieser Einschätzung der US-amerikanische Kontext herauslesen. Die Diskussion über eine amerikanische Nationalität kreiste um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert um Fragen nach Einwanderung und unterschiedlichen Ethnizitäten. Dieses zunehmende Problembewusstsein ist auf die Spezifität des nordamerikanischen Nationbuilding zurückzuführen. Im Gegensatz zu den europäischen Nationen fällt in den USA die Geschichte der Immigration mit der Nationalgeschichte zusammen (Sollors 1996). Anders als in Europa, wo sich die Nationalstaaten weiterhin auf eine „normal heartland identity“ im Gegensatz zu „devianten Minderheiten“ beriefen, wurde in den USA eine Selbstdefinition nach europäischem Muster immer inadäquater: „In America, ethnicity can be conceived as deviation and as norm, as characteristic of minorities and as typical of the country“ (Sollors 1996: xi). Die Diskussion um die Frage nach der amerikanischen Identität brachte Margaret Mead mit den Worten: „We Are All Third Generation“ auf den Punkt (Mead 1942: gleichlautender Titel).
INDIVIDUALISIERUNG
neue Gemeinschaft, verharren die Eingewanderten im Falle ihres Scheiterns in einer Zwischensituation. Aus dem vermeintlichen Individuum wird ein marginal man – ein Begriff, der fortan Berühmtheit erlangte. Eine solche Marginalisierung entsteht immer dann, wenn der individuelle Prozess der Befreiung und Loslösung von der Herkunftskultur nicht mit der erforderlichen Anpassung an die Aufnahmekultur einhergeht. Die „moralische Desorientierung“ verstetigt sich und die Zugewanderten leben „on the margins of two cultures“ (ebd.: 890). Eine solche Existenz an den Rändern zweier Kulturen verursacht eine „permanente Krise“. Da in dieser Krise zwei Welten unvermittelbar aufeinander treffen, sind Loyalitätskonflikte zwischen den alten und neuen Vergemeinschaftungsformen die Folge. Statt der individuellen Autonomieerfahrung entsteht eine kulturelle Destabilisierung, die zu einer anomischen Orientierungslosigkeit führt. Der marginal man lebt mit seiner „gespaltenen“ Identität in einer „kulturell hybriden“ Situation (ebd.).7 Was sind für Park die maßgeblichen Ursachen, weswegen Migration statt zu einer progressiven zivilisierenden Erfahrung zu einer marginalisierten permanenten Krise führt? Die Assimilation scheitert, so die Antwort, wenn die sozialräumliche Segregation im Aufnahmeland den Individualisierungsprozess verhindert. Beispiele für Hemmnisse sind Ghettobildungen, in denen den alten Herkunftstraditionen und Wertvorstellungen weiterhin soziale Geltung zukommt. Bei Segregation und Ghettobildung, so wäre Parks These weiterzudenken, handelt es sich eher um eine traditionelle Völkerwanderung als um eine moderne Einwanderungssituation. Die Individualisierung, d.h. die Befreiung und Loslösung der Migranten aus überkommenen traditionellen Werten, wird aufgrund sozialräumlicher Konzentration erschwert – wenn nicht gar verunmöglicht. Letztlich zeigt sich, dass Park die Spannung zwischen individueller Wanderung und vergemeinschafteten Kollektiven mit dem Konzept eines starken autonomen Individuums auflöst. Dabei konzipiert er das moderne Individuum nicht nur als Konsequenz einer gelungenen Migrationserfahrung, sondern auch als deren Ursache. Das Individuum an sich existiert bei ihm bereits in der traditionellen Welt, allerdings wird es durch starre Vergemeinschaftungsformen daran gehindert, sich als ein selbstbestimmtes Individuum im wörtlichen Sinne zu verwirklichen. Das durch Traditionen verschüttete Individuum verwandelt sich erst durch die Migrationserfahrung zum Individuum an und für sich.
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Die zentrale Frage, die sich an dieses Theorem anschließt, ist, ob ein hybrides gespaltenes Selbst zwangsläufig „gescheitert“, d.h. weniger autonom oder individualisiert sein muss. Zum theoretischen Hintergrund von Park: Makropoulos (1996). 45
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Das sich so verwirklichende Individuum trägt darüber hinaus nicht nur zu seiner eigenen „Befreiung“ bei, sondern fördert auch die allgemeine Modernisierung der Ankunftsgesellschaft. Falls der Individualisierungsprozess aufgrund zu starker Herkunftsbindungen ausbleibt, entwickelt sich statt eines autonomen Individuums der marginal man. Park sieht das autonome Individuum also durch eine zu starke soziale Integration gefährdet. Die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft verläuft dabei unilinear. Die traditionelle Gemeinschaft übt die Spannung aus, das Individuum muss sich davon lösen, um frei zu sein.
Fremdheit als Anomalie In der weiteren Rezeption geriet der modernisierende Aspekt von Migrationsprozessen in Vergessenheit. Der Fremde wurde durch die stets drohende Marginalisierung zu einer sozialen Anomalie. Exemplarisch kann diese sich allgemein durchsetzende Sichtweise an Schütz’ Aufsatz „Der Fremde“ (1972) erläutert werden.8 Achtzehn Jahre nach dem Erscheinen von Parks marginal man entwickelt Schütz nur einen Aspekt von Parks Thesen weiter, den anderen lässt er fallen.9 Schütz nimmt das Konzept des marginal man auf, deutet es jedoch anders. Für ihn besteht die Bannung der Marginalisierungsgefahr nicht mehr in der Emanzipierung des Individuums von Gemeinschaftsbindungen, sondern in der Anerkennung des Fremden durch die Gemeinschaft. Dementsprechend lautet Schütz’ allgemeine Definition des Fremden: „[…] der Begriff ‚Fremder‘ [soll] einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation bedeuten, der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte“ (Schütz 1972: 53). Fremdheit verursacht ein Anerkennungsproblem, so wäre Schütz’ erste These zusammenzufassen. Doch wie konzipiert Schütz’ die Gruppe, der sich das fremde Individuum „dauerhaft“ nähert? Anders als bei Park ist Migration für Schütz nicht als eine Übergangssituation zwischen einer traditionalen Herkunftsbindung und einer modernen Ankunftsgesellschaft charakterisiert. Schütz rückt von diesem historisierenden und strukturtheoretischen Aspekt ab. Stattdessen konzipiert er die Spannung zwischen individueller Fremdheitserfahrung und kollektiven Strukturen wissenssoziologisch. So definiert er die kollektive Gruppe als eine Gemeinschaft von „Insidern“, die über geteilte „kulturelle und zivilisatorische 8 9
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Für ein aktuelles Beispiel vgl. die ausführliche Darstellung von Parks marginal man bei Han (2000: 216-221). Dies ist sicherlich auch dem theoretischen Hintergrund geschuldet, der sich aus eher sozialpsychologischen und wissenssoziologischen Ansätzen zusammensetzt und daher an Evolutions- oder Modernisierungsproblematiken kein Erkenntnisinteresse hat.
INDIVIDUALISIERUNG
Muster“ verfügt (ebd.: 58). Dieser „in-group“ (ebd.: 64) steht der Fremde als Außenseiter gegenüber. Nicht seine Herkunftsbindung ist das Problem des Fremden, sondern sein grundlegender kommunikativer Ausschluss. An dieser Stelle ist es wichtig hervorzuheben, dass für Schütz „Kultur“ nicht inhaltlich, sondern funktional zu verstehen ist. Kultur hat die Funktion, Bedeutungshorizonte bereitzustellen, um das Verstehen und die Erwartbarkeit von Handlungen in alltäglichen Interaktionsprozessen zu erleichtern. Die zugrunde liegende Annahme ist dabei, dass jede Interaktionsituation grundsätzlich durch eine Ambivalenz und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet ist. Kulturelle Muster lassen nach Schütz dieses Ambivalente oder, in seinen Worten, „das Fragwürdige“ als etwas „Selbstverständliches“ erscheinen (ebd.: 58). Um als selbstverständlich zu gelten, müssen kulturelle Muster oder Wissensformen keineswegs situationsadäquat oder gar realitätsnah sein, vielmehr ist entscheidend, dass sie von allen Mitgliedern der sozialen Gruppe geteilt und als gültiges Wissen anerkannt werden. Der funktionale Nutzen solcher Muster ergibt sich schlicht daraus, dass sie in den sich permanent wandelnden Interaktionssituationen die Handlungs- und Interpretationsweisen der beteiligten Akteure voraussagbarer gestalten. Geteiltes kulturelles Wissen steigert also nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass Alter von Ego richtig verstanden wird, sondern auch, dass Ego auf die Aussage oder Handlung von Alter in einer sowohl für Ego als auch für Alter erwartbaren Weise reagiert. Kulturelle Muster sind also interpretations- und handlungsleitende Wissensformen. Sie beruhen auf einem, wie Schütz es im Anschluss an Max Scheler nennt, „Denken-wie-üblich“ (ebd.: 58). Dabei unterscheidet Schütz vier verschiedene situative Grundbedingungen, die die verstehensfördernde Funktion dieser Interpretations- und Wissensformen gewährleisten. Die erste Grundbedingung besagt, dass es den Interaktanten überzeugend erscheinen muss, dass sich die jeweiligen Situationen in ähnlicher Form bereits in der Vergangenheit zutrugen und sich wahrscheinlich auch in Zukunft in ähnlicher Weise zutragen werden. Zweitens muss für die Interaktanten das bisher gelernte Wissen als verlässlich erscheinen. Es ist unerheblich, ob sie dieses Wissen durchdrungen oder vollständig verstanden haben, wesentlich ist lediglich, dass sie wissen, wann dieses Wissen in einer Situation als angemessenes Wissen gilt. Daraus folgt drittens, dass ein vages Wissen über den allgemeinen Typus einer Situation ausreichen muss, um sich angemessen verhalten zu können. Schließlich dürfen viertens weder die interpretations- und handlungsleitenden Wissensformen noch die ersten drei Grundannahmen als eine private oder individuelle Grundannahme gelten. Es muss der Eindruck gewahrt sein, dass die Grundannahmen von sämtlichen Mitgliedern der Gruppe nicht nur geteilt, sondern auch als allgemeingültig und dauerhaft anerkannt werden (ebd.: 58-59).
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Ist ein Fremder mit diesen Situationen innerhalb einer in-group konfrontiert, so erscheinen ihm ihre kulturellen Muster und situativen Grundbedingungen in einer reziproken Bedeutung. Das allgemeine „Denken-wie-üblich“ ist für ihn „unüblich“. Die kulturellen Muster, die das Fragwürdige als etwas Selbstverständliches erscheinen lassen, sind ihm fragwürdig. Die den reibungslosen Ablauf von Interaktionen gewährleistende Funktionalität stellt sich dem Fremden als ein dysfunktionaler Mehraufwand dar. Für ihn ist dabei die Wahrscheinlichkeit, Handlungsinterpretationen und Reaktionen in einer Situation voraussagen zu können, umso niedriger, je fremder er der in-group ist. Zudem tendiert er dazu, allgemeingültige Situationstypen zu individualisieren, d.h. es fällt ihm schwer, allgemeine Akte von individuellen Handlungen oder außerordentliche Ereignisse von alltäglichen Geschehnissen zu unterscheiden. Aufgrund dieses kommunikativen Solipsismus erwächst dem Fremden in jeder Interaktionssituation ein ungleich höherer Aufwand als den Mitgliedern der in-group (ebd.: 60-69). Schütz’ zweite These lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Migration ist mit erhöhten Interaktionskosten für das migrierende Individuum verbunden. In der Assimilation sieht Schütz die einzige Möglichkeit, diese erhöhten Interaktionskosten zu senken. Schlägt die Assimilation fehl, so lautet seine dritte These, dann führt dies zu Marginalisierung, wobei Schütz die These dahingehend verstärkt, dass diese Marginalisierung mit einer fundamentalen Loyalitätsproblematik des Einzelnen einhergeht: „Die zweifelhafte Loyalität des Fremden ist leider sehr viel mehr als ein Vorurteil seitens der fremden Gruppe. Dies ist besonders in den Fällen wahr, wo sich der Fremde als unwillig oder unfähig erweist, die neuen Zivilisationsmuster vollständig anstelle der der Heimatgruppe zu setzen. Dann bleibt der Fremde das, was Park und Stonequist treffend einen ‚marginal man‘ genannt haben, ein kultureller Bastard an der Grenze von zwei verschiedenen Mustern des Gruppenlebens, der nicht weiß, wohin er gehört.“ (Schütz 1972: 68)
Hier wird der marginal man als „kultureller Bastard“ noch pejorativer betrachtet als Parks „cultural hybrid“ (Park 1928: 890). Diese Differenz mag allerdings einer sprachlichen Unachtsamkeit von Schütz oder den damaligen Diskursgewohnheiten geschuldet sein.10 Doch diese metaphorische Differenz 10 Es sollte nicht gänzlich unerwähnt bleiben, dass der Assimilationsdiskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere durch die Thematik der so genannten „jüdischen Minderheit“ geprägt war. Auch Park entwickelt seine These vom dauerhaften marginal man am Beispiel der jüdischen Einwanderer (Park 1928: 890). Obwohl Schütz diesen Bezug nicht explizit vornimmt, bewegt er sich mit seiner Metapher des marginal man als einem „illoyalen kulturellen Bastard“ im Rahmen dieses Diskurses. Schütz, der aufgrund seines jüdischen Hintergrunds von Wien in die USA fliehen musste, konnte die Gefahr, die solche 48
INDIVIDUALISIERUNG
könnte auch mit der im Vergleich zu Park negativeren Sichtweise auf den Fremden zusammenhängen. Kulturelle Wandlungen und somit auch Migration sind bei Schütz ausschließlich als „Krisen“ konzipiert (Schütz 1972: 59). Anders als bei Park bildet Migration keine Ressource für eine zunehmende Autonomie der Individuen und der Motor einer allgemeinen, fortschreitenden Modernisierung der Gesellschaft. Die postmigratorische Situation ist lediglich mit kommunikativen Mehrkosten und Anerkennungsdefiziten verbunden. Das von seinen Herkunftszwängen befreite Individuum Parks wird bei Schütz zum „kulturellen Bastard“ und damit zum „anomalen“ Individuum. Migration wird zunehmend als soziale Funktionsstörung und nicht mehr als individualisierender Befreiungsprozess betrachtet.11 Schütz’ Konzept des Fremden löst die Spannung zwischen der individuellen Migrationserfahrung und den kollektiven Bindungen nicht inhaltlich oder makrostrukturell, sondern wissens- und kommunikationstheoretisch. Er generalisiert die marginalisierte Situation des Fremden. Marginalisierung ist keine sozialstrukturelle Devianz, sondern eine allgemeine kommunikative Anomalie jedes Fremden. Nur durch Assimilation lässt sich dieses allgemeine Defizit bannen. Anders als bei Park soll sich das Individuum jedoch nicht durch Assimilation von kollektiven Gemeinschaftsbindungen generell emanzipieren, sondern es soll seine Interaktionsmehrkosten senken, um im Anschluss daran von der Gemeinschaft Anerkennung erfahren zu können. In diesem Prolegomenon zur migrationssoziologischen Modellbildung zeigen sich insgesamt zwei zentrale Positionen: erstens die Position der Emanzipierung versus Problematisierung von Wanderungsphänomenen und zweitens die Position zu den Wandlungsvermögen von Ego und Alter. Wie hier exemplarisch gezeigt wurde, wird der von Park prominent vertretenen These der emanzipierenden Effekte von Migrationsbewegungen durch Schütz mit einer reinen Defizitdiagnose begegnet. Migration erzeugt bei Letzterem Interaktionkosten und Anerkennungskonflikte. Eine ähnliche Differenz ergibt sich bei der unterschiedlichen Zuschreibung des Wandlungspotentials von Ego und Alter. Während sich bei Park sowohl Alter als auch Ego durch Migrationsprozesse transformieren, verlagert Schütz die Idee des holistischen und reifikatorischen Konzepte implizieren, wohl noch nicht sehen. Dass die Problematik von Assimilationsdiskursen allerdings in der bundesrepublikanischen Nachkriegsoziologie trotz des Hintergrunds der deutschen Geschichte keinerlei Misstrauen erregte, sondern ungebrochen auf die „Gastarbeiter“ übertragen wurde, passt zwar zum amnestischen Denken-wie-üblich in der langen Nachkriegszeit, ist aber dennoch aus der heutigen Perspektive recht verwunderlich. 11 Es ist bemerkenswert, dass Parks modernisierungstheoretisches Argument nicht fortgeführt wurde. Erst in jüngerer Zeit gibt es Tendenzen, die eine solche Sichtweise wieder verstärkt vertreten (Dangschat 1998; Weiß 1999; Thränhardt 2005). 49
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Wandels allein auf das fremde Individuum. Das Kollektiv, sei es die Ankunftsgesellschaft oder die in-group, wird als stabil, das Individuum als dynamisch konzipiert. Diese auf Ego und Alter ungleich verteilten Wandlungspotentiale prägten die nachfolgende Migrationssoziologie maßgeblich im Sinne einer methodologisch individualistischen Perspektive. Aktuell wäre Park im Rahmen der pluralistischen Richtung und Schütz im Rahmen der assimilationistischen Richtung zu verorten (vgl. zu dieser Unterscheidung: Gans 1997; Brubaker 2001; Bommes 2002a).
„ D e r Au s l ä n d e r “ : d e s i n t e g r i e r t o d e r a s s i m i l i e r t Die migrationssoziologischen Integrations- und Assimilationskonzepte versuchen, aufbauend auf Park und Schütz, die zeitliche Sequenz von individuellen Eingliederungsprozessen zu modellieren. Die bei Schütz noch eher allgemein anklingende Vorstellung von Assimilation wird um den Aspekt des nationalen Aufnahmestaates konkretisiert und erweitert. Die aktuelle Forschung ist durch zwei zentrale Modellbildungen geprägt: Erstens durch das Desintegrationsmodell (Bohle et al. 1997; Anhut/Heitmeyer 2005) und zweitens durch das Assimilationsmodell (Esser 1980, 1999).12 Beide erlangten in der empirischen Forschung großen Einfluss und sind in abgewandelter Form auch Teil des öffentlichen Einwanderungsdiskurses. Aus diesen Gründen ist eine ausführlichere Diskussion unerlässlich. Für die multidimensionalen systemischen Integrations- oder Inkorporierungsansätze, die sich eher verschiedenen strukturalen Konstellationen zuwenden, gilt dies nicht. Daher werden sie hier ausgeklammert.13 Die Desintegrations- und Assimilationsmodelle knüpfen zwar an die Tradition von Park und Schütz an; gleichwohl finden sich auch Differenzen. So betont das Desintegrationsmodell stärker das strukturelle Moment der Solidarität durch Arbeitsteilung im Anschluss an Emile Durkheim. Im Assimilationsmodell wird der Integrationsprozess hingegen über die sukzessive sozialstrukturelle Kompetenz des rational entscheidenden Individuums erklärt. Obzwar beide dem methodologischen Individualismus verpflichtet sind, unterscheiden sich dennoch die Beobachterperspektiven voneinander.
12 Hier muss einschränkend erwähnt werden, dass sich diese Unterteilung auf den deutschsprachigen Raum bezieht. Die im englischsprachigen Raum aktuellen Ansätze unterscheiden sich davon und werden vor allem in den Kapiteln zu Ethnizität und Transnationalisierung vorgestellt. 13 Vgl. für einen Überblick Han (2000). Für einen aktuellen allgemeinen Vergleich zu den (Des-)Integrationstheorien vgl. Imbusch/Rucht (2005). Für eine allgemeine Diskussion zum Assimilations- und Integrationsbegriff siehe u.a. Peters (1993), Münch (1997), Krauss (1997), Dubiel (1999), Rauer/Schmidtke (2001), Schwinn (2001), Bommes (2004) und Faist (2004). 50
INDIVIDUALISIERUNG
Das Desintegrationsmodell Das aktuelle mit dem Namen Wilhelm Heitmeyer verbundene Desintegrationsmodell verbindet das Konzept der Marginalisierung mit dem von Durkheim geprägten und Robert Merton weiterentwickelten Konzept der Anomie.14 Durkheims zentrale These besteht in der grundlegenden Annahme einer Ungleichzeitigkeit im Zuge des Modernisierungsprozesses. Er geht davon aus, dass die zunehmende Geschwindigkeit des soziokulturellen Wandels der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mit dem Wandel der individuellen Werthaltungen einhergeht. Die moderne arbeitsteilige Gesellschaft entwertet traditionelle Moralvorstellungen, ohne den Individuen gleichzeitig neue, an die Bedingungen der funktionalen Differenzierung angepasste Werte übermitteln zu können (Durkheim 1999b).15 Durkheim bezeichnet den Wandel von traditionaler Vergemeinschaftung zu moderner Vergesellschaftung mit der berühmten Unterscheidung in mechanische und organische Solidarität. In der traditionellen Gemeinschaft der räumlichen Nähe herrsche ein System „mechanischer Solidarität oder Solidarität aus Ähnlichkeiten“ (ebd.: 118). In der modernen Gesellschaft versage dieser Mechanismus. Durkheim konzipiert daher ein funktionales Äquivalent, die „organische Solidarität“ (ebd.: 162). Die organische Solidarität generiert sich aus der Arbeitsteilung und der daraus resultierenden wechselseitigen Abhängigkeit. Das Wissen um dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein erzeugt ein Solidaritätsband und bildet die moralischen Grundlagen in einer modernen Gesellschaft: „Durch [die Arbeitsteilung] wird sich der Mensch seiner Abhängigkeit gegenüber der Gesellschaft bewusst; ihr entstammen die Kräfte, die ihn zurückweisen und in Schranken halten. Mit einem Wort: Dadurch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung.“ (Durkheim 1999b: 471)
14 Unter „Anomie“ wird ein individuelles Handeln verstanden, das von den jeweils gültigen gesellschaftlichen Normen und Verhaltenkodices des Kollektivs abweicht (Orru 1983). Die Erklärungen zur Entstehung anomischer Zustände variieren. Indikatoren für Anomie sind eher breit definiert. Sie reichen von Kleinkriminalität, über Gewalt bis, wie bei Durkheim, zu Selbstmord. Anomie als Überbegriff bezeichnet immer auch den Niedergang gesellschaftlicher Moral und Ordnung in Gestalt gesellschaftlicher Desintegration. 15 Durkheim sieht in der Arbeitsteilung sowohl eine Gefahr als auch integratives Potential. Durch den Übergang von der traditionalen „mechanischen Solidarität“ zur modernen „organischen Solidarität“ könne die desintegrative Gefahr gebannt werden. Allerdings müsse es zu einem Prozess der Gleichzeitigkeit kommen, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Unterschiedliche Geschwindigkeiten hätten anomische Folgen. 51
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Merton (1938) greift einen von Durkheim nur beiläufig erwähnten Aspekt eines Gleichgewichts zwischen Distribution und Konsumption auf. Eine Gesellschaft ist nach dieser Gleichgewichtsvorstellung nur dann integriert, wenn zwischen den individuellen Bedürfnissen und den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln, diese Bedürfnisse zu befriedigen, ein Gleichgewicht besteht. Im Falle eines Ungleichgewichts („Disbalance“) erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für anomisches Handeln.16 Das aktuelle Desintegrationstheorem knüpft an diese beiden Anomiekonzepte unmittelbar an und entwickelt sie weiter (Heitmeyer 1997a; Bohle, Heitmeyer, Kühnel/Sander 1997; Anhut/Heitmeyer 2005). Allerdings wird nicht mehr von einem homogenen kulturell-normativen Moralkanon ausgegangen, sondern die strukturellen Einflüsse der Gesellschaft auf die Individuen werden in systemische „Funktionsbereiche“, „spezifische Personengruppen (Bevölkerungssegmente)“ oder in „Milieus“ sub-differenziert (Bohle et al. 1997: 56-57). Desintegration setzt sich aus einer Spannung zwischen sozioökonomischem Status, kulturellen Normen und Zielvorstellungen, aus einer Schwächung von sozialen Bindungen und Interaktionen („Kohäsion“) sowie von „Regulationsmechanismen“ bei Konflikten zusammen (ebd.: 60). Desintegration beginnt im Falle einer „Schwächung der regulativen Kraft sozialer Normen bzw. ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung“ (ebd.: 61). Übertragen auf den Bereich Migration wird auf der Grundlage dieses Modells beispielsweise erklärt, warum jugendliche Migranten der dritten Generation ein weitaus „höheres Gewaltpotential“ als ihre deutschen Altersgenossen haben (Heitmeyer 1997c: 640): Von den sinkenden sozialstrukturellen Integrations- und Aufstiegschancen in der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft sind die Migranten besonders negativ betroffen, da sie direkt mit der Mehrheit um Arbeitsplätze konkurrieren und zugleich den traditionellen Gemeinschaftsorientierungen der jeweiligen Migrantengruppen verpflichtet sind. Gleichzeitig gibt es für sie keine Heimkehroption, da sie bereits in der Bundesrepublik geboren und „partiell“ (ebd.) integriert sind. So würde bei der dritten Einwandergeneration das „Anomiepotential angeheizt […], da sie sich in unvergleichlicher Weise auf die Mechanismen der Mehrheitsgesellschaft einlässt und direkte Heimkehrwünsche – wohin auch – erst gar nicht entwickelt“ (Heitmeyer 1997c: 640). Das Modell geht davon aus, dass sich anomische Zustände am Ende einer so genannten desintegrativen „Negativspirale“ einstellen. Sozialstrukturelle 16 Darüber hinaus bestimmt Merton anomisches Handeln genauer. Er entwickelt eine Typologie diverser individueller Reaktionsmuster, die von Anpassung, Ritualismus, Innovation, Rückzug bis zur Rebellion reichen. Fallen beispielsweise die Ziele bei gleichzeitig andauernder Gültigkeit der Mittel weg, so führt dies zu einem mechanischen Ritualismus. Fallen hingegen die Mittel bei andauernder Gültigkeit der Ziele weg, so kommt es zur Innovation (Merton 1938: 675-679). 52
INDIVIDUALISIERUNG
Benachteilung und mangelnde Konkurrenzfähigkeit führt zu einem Rückzug der Zugewanderten in die eigene community und verringert die Intensität der integrativen Interaktionen mit der Mehrheitsgesellschaft. Dieser Rückzug steigert wiederum die mangelhafte Kompetenz und die sozialstrukturelle Benachteiligung. Daraus resultiert eine Ausgrenzungserfahrung, die zu einer normativen Bindungslosigkeit führt, die ihrerseits Radikalisierungen verschiedenster Art intensiviert, seien es kriminelle „Jugendbanden“ oder „religiöser Fundamentalismus“. Darauf reagiert die Mehrheitsgesellschaft wiederum mit stärkerer Ausgrenzung und „Fremdenfeindlichkeit“, die im Gegenzug nochmals die bereits vorhandene Radikalisierung und den Rückzug in die eigene community verstärkt (ebd.: 640f). In seiner „Quintessenz“ verlagert das Modell also „den Fokus auf eine sozialisationstheoretische Perspektive“ und fragt danach, wie es „zur Ausbildung individueller Zurechnungsmuster, sozialer Kompetenzen und emotionaler Sicherheit“ kommt (Anhut/Heitmeyer 2005: 79).17 Der Blick auf die Folgen von Migration ist damit sehr stark individualisierend. Die Aufnahmegemeinschaft reduziert sich wie schon bei Schütz lediglich auf „Gruppen“.18 Um ein häufiges Missverständnis zu vermeiden, soll an dieser Stelle betont werden, dass die klassische Anomie-Theorie nicht von einem inhaltlich moralischen Wertekanon ausgeht, sondern die desintegrativen Faktoren als Beziehungskategorien bestimmt. In der Rezeption von und Kritik an Durkheim, so Hans-Peter Müller und Michael Schmid, ist dies viel zu häufig übersehen worden (Müller/Schmid 1999: 489). Auch Mertons Ansatz bezieht die kulturelle Ebene oder die symbolischen Mittel, an denen sich Individuen orientieren, mit ein, ohne diese ethisch zu bestimmen. Der inhaltliche Wertekanon ist bei beiden Klassikern letztlich kontingent.
Das Assimilationsmodell Eine ähnliche Akzentuierung von individueller Migrationserfahrung und kollektiven Integrationsvorstellungen besteht in dem zweiten zentralen integrati17 „Damit“, so Anhut und Heitmeyer weiter, „würde eine kontrolltheoretische Betrachtung in den Vordergrund rücken“ (Anhut/Heitmeyer 2005: 79). 18 So heißt es dazu: „Erklärungsgegenstand des […] Desintegrationsansatzes sind die verschiedenartigen Phänomene der Gewalt(-kriminalität), des Rechtsextremismus, der ethnisch-kulturellen Konflikte und Abwehr schwacher Gruppen. Sie können […] als je spezifische, problematische Verarbeitungsmuster individueller bzw. sozialer Destintegrationszustände gesehen werden.“ (Anhut & Heitmeyer 2005: 75) Diese globale Anwendung des Modells auf verschiedene Gemeinschaften ist doppeldeutig. Einmal führt Desintegration zur DeIdentifizierung mit dem an der Misere „schuldigen Kollektiv“ und einmal zur Identifizierung. Der individualisierte Beobachterstandpunkt läuft bisweilen Gefahr, strukturelle Unterschiede zu nivelieren. 53
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onssoziologischen Theorem, dem Assimilationsmodell. Ähnliche Modelle und die weiteren Ausdifferenzierungen dieses Konzepts bleiben im Folgenden jedoch unbeachtet. Vielmehr werden hier anschließend drei verschiedene Kritiken an dem Modell vorgestellt, die in ähnlicher Weise auch den öffentlichen medialen Diskurs prägen: erstens die Kritik von Seiten des Multikulturalismus, zweitens die Kritik von Seiten der empirischen Migrationssoziologie und drittens die aktuellste, inzwischen als „New Assimilation“ bezeichnete, kritische Neuformulierung des Konzepts. Das Assimilationsmodell wird mit dem klassischen Werk von Milton Gordon (1964) „Assimilation in American Life“19 verbunden, das im deutschsprachigen Raum durch Hartmut Esser (1980) Bekanntheit errang. Gordons Assimilationskonzept schließt eng an die Parksche Idee der Modernisierung der Ankunftsgesellschaft durch Migration an. Assimilation wird von Gordon als ein Prozess verstanden, der die vormodernen traditionalistischen und rassistischen Vorurteile der amerikanischen Gesellschaft abbauen soll. So heißt es im Buch: „This book is concerned, ultimately, with problems of prejudice and discrimination arising out of difference in race, religion, and national background among the various groups which make up the American people.” (Gordon 1964: 3) Soziokulturelle Differenz, so ist die Grundannahme zusammenzufassen, erzeugt Diskriminierungen und Vorurteile und ist daher konfliktträchtig. Soziokulturelle Homogenität entzieht den Konfliktursachen die Grundlage. Der Schlüssel zur Konfliktvermeidung ist daher die Assimilation, weil sie Differenz in Homogenität überführt. Gordon konzeptualisiert Assimilation mit explizitem Anschluss an Park20 folgendermaßen: „Assimilation has not taken place, it is asserted, until the immigrant is able to function in the host community without encountering prejudiced attitudes or discrimination behaviour.“ (Gordon 1964: 63) Ursprünglich ist der Begriff also konflitktheoretisch im Sinne eines Abbaus wechselseitiger Diskriminierungen unterschiedlicher ethnischer Gruppen gefasst. Das normative Ziel des Modells ist der Abbau von Diskriminierungen und Vorurteilen, und nicht die Auflösung einer Minderheit in die Kultur der Mehrheit. Zwar arbeitet Gordon mit dem Konzept einer „core group“, der in den USA eine dominante Rolle zukommt („white anglo-saxon Protestants“, ebd.: 74). Allerdings wird auch diese Gruppe als eine „ethnische Gruppe“ unter anderen und nicht als Endpunkt der Assimilation verstanden. Ziel ist vielmehr eine neue „American Nationality“, in der sich sämtliche ethnische Gruppen zu einer „neuen nationalen Identität verschmelzen“ (ebd.: 27).
19 Der überwiegende Teil des Buches wurde bereits im Jahre 1955 unter einem anderen Titel gedruckt. 20 Er zitiert Parks Definitionen des Assimilationskonzepts und fasst diese anschließend zusammen (Gordon 1964: 60-63). 54
INDIVIDUALISIERUNG
In dem Modell werden also sämtliche Gruppen – „Jews, Catholics, white Prostestants, or any other ethnic group“ (ebd.: 259) – prinzipiell gleichgewichtet.21 Die ethnischen Gruppen bilden gemeinsam das „neue Amerika“. Sie lernen nicht nur neue Verhaltensweisen, sondern emergieren durch „intermarriage“ sowie durch religiöse Konversionen eine zukünftige amerikanische Identität (ebd.: 70). Am Ende dieses berühmten „melting pots“ wären den Vorurteilen, der Diskriminierung und der Apartheid die soziokulturellen Grundlagen entzogen. Die Metapher „melting pot“ wurde durch Israel Zangwills gleichnamiges Drama aus dem Jahre 1908 populär (ebd.: 120; Bischoff/Mania 1991: 528).22 Dort heisst es: „America is God’s crucible, the great Melting Pot where all the races of Europe are melting and re-forming! […] Ah, Vera, what is the glory of Rome and Jerusalem where all nations and races come to worship and look back, compared with the glory of America, where all races and nations come to labour and look forward“ (Zangwill 1909: 37 sowie 99, zit. in Gordon 1964: 121, Hervorh. V.R.).
Das an die melting pot-Idee anschließende Assimilationskonzept ist also anfänglich eine antirassistische, radikal egalitäre und zukunftsbezogene Narration: „nations come to labour and look forward“. Das Gordonsche Assimilationsmodell bezieht sich also nicht auf einen europäischen Nationalstaat, in dem grundsätzlich in den Kategorien von historisch vorgängiger „normaler Mehrheitsidentität“ und zugewanderter „anormaler Minderheitsidentität“ gedacht wird.23 Diese Differenz ist zu beachten, wenn das Modell auf den europäischen Kontext übertragen wird. Wird diese Differenz ignoriert, ändert das Modell implizit seine Zielrichtung. Im europäischen Kontext wird aus einer Konflikttheorie und einer Zukunftsorientierung 21 Die „Ethnic Identity of an American“ setzt sich aus den berühmten konzentrischen Kreisen zusammen. Das Selbst als innerster Kern wird umringt von der jeweiligen nationalen Herkunft („English, German, Italian, Irish etc.“). Diese werden wiederum umringt von der jeweiligen Religion („Protestant, Catholic, Jew, etc.“). Der nächste Ring wird von Gordon als „Race“ bezeichnet („White, Negro, Mongoloid“). Den äußersten Ring bildet schließlich die „American Nationality“ (Gordon 1964: 27). 22 Der Begriff des „melting“ wurde bereits im 18. Jahrhundert in Amerika verwendet. Der Diskurs ist also älter. Nur das populäre Schlagwort „melting pot“ stammt aus Zangwills Drama (Bischoff/Mania 1991). 23 In diesem Zusammenhang ist die ausdrückliche Erwähnung und Zitation von Zangwills Schlagwort bei Gordon nicht ganz irrelevant. Denn im Gegensatz zu anderen Verwendungsweisen des Begriffes „Assimilation“, der offenbar oftmals eine Anpassung an die weiße protestantische Mittelschicht implizierte, steht Zangwill explizit für eine „gleichberechtigte Fusion“ der ethnischen Gruppen (Bischoff/Mania 1991: 529). 55
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
die kulturelle Anpassung von Minderheiten an die historische Kontinuität der nationalen Mehrheit. Die ethnische Gruppe muss demnach in die jeweilige Nationalität aufgehen. Dies hat zur Folge, dass alle ethnischen Gruppen keine „neue deutsche“ oder gar „neue europäische Identität“ bilden können. Dieser Unterschied bleibt leider bei dem Transfer des Modells auf den europäischen Kontext unberücksichtigt. Diese Ausklammerung hat jedoch Folgen für die kritische Rezeption. Das an Gordon anschließende, aktuell in der deutschen empirischen Forschung verwendete Assimilationsmodell geht von einem chronologischen, in vier Stufen zu unterteilenden Prozess aus.24 Das Modell operiert mit einer Wahrscheinlichkeitslogik, d.h. die jeweils erreichte Stufe der Assimilation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Stufe vollzogen wird, etc. (Esser 1980: 221-231; vgl. Tabelle 2): Der erste Schritt auf dem Weg der Assimilation ist der Erwerb kognitiver Kompetenzen. Für die erste Stufe der Assimilation müssen Anreize vorhanden sein, damit sich die „Ausländer“ um den Erwerb der kulturellen und sozialen Fertigkeiten, des Sprachvermögens sowie der üblichen Normen und Verhaltensweisen bemühen. Scheitert bereits diese erste Stufe, so führt dies unweigerlich zu der von Park beschriebenen „Marginalisierung“ (Esser 2001: 19; Kecskes 2000). Gelingt stattdessen die, um eine Formulierung von Schütz zu bemühen, Aneignung der im Aufnahmeland gültigen Interaktionsstrukturen, so ist damit die Vorraussetzung für die nächste Stufe, die strukturellen Assimilation, erfüllt. Der Zugewanderte hat sich die notwendigen kognitiven Voraussetzungen geschaffen, damit er nunmehr konkurrenzfähig am Erwerbsleben der Ankunftsgesellschaft partizipieren, Bildungstitel erwerben und seine subalterne sozialstrukturelle Position durch vertikale Mobilität verlassen kann. Die Höhe der strukturellen Assimilation korreliert dabei mit der Höhe der kognitiven Assimilation. Je kompetenter die kognitiven Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft beherrscht werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Einwanderer aus der „Ethnisierungsfalle“ befreien können. Bei diesem Verständnis struktureller Assimilation handelt es sich zunächst um eine gewöhnliche Beobachtung, die in der Forschung zur sozialen Ungleichheit – auch für Nicht-Einwanderer – vielfach belegt ist (u.a. Bourdieu 1987). Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Einwanderer entweder keinen ausreichenden Anreiz oder aber schlechtere Ausgangsbedingungen vorfinden. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit der „ethnischen Unterschichtung“ (Esser 1999). Scheitert also die strukturelle Assimilation, so verbindet sich sozialstrukturelle Ungleichheit mit ethnischer Ungleichheit. Das 24 Bei Gordon finden sich noch sieben Stufen. Die fünfte bis siebente Stufe beinhalten: „absence of prejudice“, „absence of discrimination“ und „absence of value and power conflict“ (Gordon 1964: 71). 56
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Resultat dieser doppelten Differenz, d.h. der ethnischen und zugleich sozialstrukturellen Differenz, ist eine sozialkulturelle „Stratifizierung“ der Gesellschaft (Esser 2001: 19). Gelingt hingegen die sozialstrukturelle Assimilation der Einwanderer, so ist damit die Chance für das Erreichen der dritten Stufe, die soziale Assimilation, erhöht. Nachdem die vertikale Mobilisierung realisiert wurde, besteht anschließend die Möglichkeit einer horizontalen Mobilität der Zuwanderer. Leben die Einwanderer in ethnischen Enklaven, so lösen sich diese vor allem durch interethnische Kontakte auf. Förderlich für die interethnischen Kontakte ist die Gewährung umfassender politischer Partizipationsrechte, wie aktives und passives Wahlrecht bzw. die Einbürgerung. Bleiben die Anreize für interethnische Kontakte durch eine solche Partizipation aus, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften horizontalen „Segmentation“ der Gesellschaft (Esser 2001: 19; Kecskes 2000). Insbesondere die Segmentationsthese ist explizit gegen die Forderungen des klassischen Multikulturalismus gerichtet: Jede Form von Minderheitenrechten oder -pflichten fördert eine horizontale Differenzierung des Nationalstaates und damit die Desintegration der Gesellschaft (Esser 1998). Mit der De-Segmentation, d.h. der Auflösung der Herkunftsbindungen und ethnischen Enklaven wird die vierte und letzte Stufe der Assimilation vollzogen: die Identifikation mit dem Aufnahmeland. Die Zugewanderten orientieren sich kulturell nicht mehr an der Herkunftsgemeinschaft, sondern an der kulturellen Identität des Aufnahmelands. Damit sind sie vollständig assimiliert. Damit ist jedoch auch impliziert, dass mit Abschluss dieses Prozesses die Kultur des Herkunftslandes vollständig aufgegeben wurde. Strenggenommen müsste eigentlich auch die Herkunftsreligion damit abgelegt werden. Diese Frage wird jedoch kaum explizit gestellt. Insbesondere in dieser Frage verbirgt sich jedoch das erhebliche Konfliktpotential des Modells, wenn es denn öffentlich konsequent ausformuliert werden würde. Tabelle 2: Das Assimilationsmodell (nach Esser 1980: 221 sowie 231) kognitive Assimilation oder Marginalisierung strukturelle Assimilation oder Stratifizierung soziale Assimilation oder Segmentierung identifikative Assimilation [oder … ?]
Erlernen kultureller und sozialer Kompetenzen wie Sprache, Normen, Verhalten Abbau sozialer Ungleichheit durch sozialstrukturelle vertikale Mobilität, De-Segregation De-Segmentation durch horizontale Mobilität, Partizipation, Ausbau interethnischer sozialer Beziehungen und Interaktionen Aufgeben der Herkunftsorientierung und der ethnischen Gruppe zugunsten der Majoritätskultur im Aufnahmeland
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Grob zusammengefasst lautet die allgemeine Grundannahme des Modells, dass identifikative Assimilation dann wahrscheinlicher ist, wenn die Individuen bestimmte, in der Aufnahmegesellschaft geteilte soziale und kulturelle Kompetenzen beherrschen und gleichzeitig Bedingungen antreffen, gemäß derer es für sie von größerem Nutzen ist, sich diese Kompetenzen anzueignen. Die Analogie zu Parks und Schütz’ Fremdheitskonzept ist hier unübersehbar. Die höheren Interaktionskosten des Fremden lassen sich nur durch einen Erwerb der in der in-group gültigen Kompetenzen reduzieren. Damit die Individuen sich für einen solchen Kompetenzerwerb entscheiden, bedarf es ihrer sozialstrukturellen Einbeziehung in die Mehrheitsgesellschaft. Leben sie in einem Ghetto innerhalb ihrer Herkunftscommunity, so fehlt ihnen der assimilative Anreiz. Die Hypothese, dass ein eingewanderter Gemüsehändler im Kontakt mit seinen einheimischen Kunden einen Anreiz hat, die Preise in einer den Kunden geläufigen Sprache nennen zu können, bedarf zunächst keines aufwendigen theoretischen Raisonnements. Gegen eine solche Idee von Assimilation ist nichts einzuwenden. Voraussetzungsreicher wird das Modell erst mit seiner sequenziell argumentierenden Pfadabhängigkeit. So wird angenommen, dass der „ausländische“ Gemüsehändler sich, wenn er denn alle Kompetenzen erworben hat und seine politischen Partizipationschancen wahrnimmt, mit den Einheimischen fortan eins wähnt. Die „identifikative Assimilation“ ist das Ziel des Modells. Damit wird eine linear kausale Abfolgelogik suggeriert, die vom rationalen Erwerb individueller Kompetenzen bis hin zu kollektiven Identifizierungen einen Erklärungsanspruch erhebt. Diese Linearitätsannahme ist keineswegs selbstverständlich, sondern ist dem rationalistischen Kulturund Identitätskonzept geschuldet. Kompetenzerwerb mag der rationalen Entscheidung der Individuen unterliegen, nicht jedoch die Wahl ihrer kollektiven Herkunftsidentität. Kollektive Identität ist weder eine sozialpsychologisch erklärbare Gefühlskategorie noch eine Entscheidungskategorie rationaler Wahl, sondern eine Kategorie des individuellen und kollektiven Erfahrungs- und Erwartungshorizonts. Erfahrungs- und Erwartungshorizonte konstituieren sich interaktiv. Sie werden weder individuell gefühlt noch rational entschieden (vgl. Schneider 2004). Während die ersten drei Schritte des Modells klassisch auf der Ebene der Verringerung von sozialer Ungleichheit argumentieren und das normative Ziel der Egalisierung und Chancengleichheit begründen, so erscheint die identifikative Assimilation weder argumentativ zwingend noch definitorisch präzisiert. Sie wird lediglich ex negativo als Konfliktvermeidung angedeutet: Wenn die identifikativen Differenzen sich verflüchtigten, dann gäbe es auch keine „ethnischen Konflikte“ mehr. Zudem ist eine solche Annahme der Konfliktvermeidung eine für den amerikanischen Kontext zugeschnittene Vermutung. In Europa müsste die Spezifik und Konfliktträchtigkeit der nationalen 58
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Mehrheitsidentität diskutiert werden. Um die identifikative Assimilation quantitativ zu erfassen, reicht es beispielsweise nicht, jugendliche Immigranten danach zu fragen, welchen Vornamen sie ihren Kindern geben würden, um dann aus der relativen Fremdheit der jeweiligen Namen auf den Zustand der identifikativen Assimilation zu schließen.25 Diese theoretische Leerstelle findet zudem in den jeweiligen Bezeichnungen der Dissimilation, d.h. der assimilativen Antonyme ihren Ausdruck. Scheitert die erste Stufe, so führt dies zur Marginalisierung, scheitert die zweite Stufe, so folgt eine Stratifizierung, und scheitert die dritte Stufe, so resultiert daraus eine Segmentierung. Für das Scheitern der vierten Stufe findet sich kein Antonym. Als Antonym bliebe offenbar nur der „ethnische Konflikt“ (u.a. Kecskes 2000). Nur findet sich dieser bereits in jeder der vorherigen Stufen. Bei der vierten Stufe scheint daher ein Fragezeichen angebracht (vgl. Tabelle 2). Nach der Idee des Gesellschaftsvertrags wäre der dritten Stufe nichts hinzuzufügen. Auch nach dem universalistischen Egalitätsprinzip ist es ausreichend, das Modell auf der dritten Stufe enden zu lassen. Warum zusätzlich eine identitäre Vereinheitlichung notwendig ist, wenn die politischen Partizipationsrechte und -pflichten vorhanden sind, bleibt aus der individualisierten Beobachterperspektive unklar. Die aus dem amerikanischen Modell stammende konflikttheoretische Annahme wird auf den europäischen Fall der Nationalstaaten also schlicht übertragen – nur, dass hier nicht eine „neue“ Identität des Ankunftslandes, sondern der Erhalt der alten nationalen Identität das Ziel ist.26 Diese Leerstelle des Modells bietet die Gelegenheit für zum Teil polemische Gegenpositionen.27 Die Kritik in der Forschungsliteratur lässt sich in drei Gruppen gliedern: Erstens findet die Kritik ihre stärkste Ausformung im Ansatz des Multikulturalismus und der Forderung nach kultursensitiver Anerkennung von Differenz. Diese Kritik richtet sich gegen die vierte Stufe des Assimilationsmodells. Allerdings liegt ihr ein ähnlich problematischer Kul-
25 Im Sinne des Gordonschen Assimilationskonzepts wäre hingegen die Frage entscheidend, ob auch deutsche Eltern ihren Kindern türkische Vornamen geben würden oder aber, ob sich die Vornamen eher globalisieren. In Deutschland ist Ersteres beispielsweise unüblich (Gerhards/Hackenbroch 1997). 26 Noch ausgeprägter ist die Differenz des Konzepts der identifikativen Assimilation zur migrationssoziologischen Modernisierungsthese Parks. Wenn Assimilation nur die Übernahme oder Einverleibung der Sitten und Bräuche der Aufnahmegesellschaft seitens der Zuwanderer bedeuten würde, dann wäre Park zufolge auch die Chance zur gesellschaftlichen Innovation verspielt. 27 Für einen Überblick dieser Kontroverse in den USA, wo dieser Streit unter den Stichworten „assimilationism“ versus „pluralism“ ausgefochten wurde, siehe Gans (1997). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Positionen des pluralism älter sind als der Multikulturalismus. 59
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turbegriff wie dem Assimilationsmodell zugrunde, weshalb sie inzwischen selbst der Kritik anheim gefallen ist. Die zweite Kritik, die unter dem Stichwort „Binnenintegration“ vor allem im deutschsprachigen Raum diskutiert wurde, richtet sich gegen die ersten drei Stufen des Modells. Hier werden aus einer empirischen Perspektive die integrative Funktion von ethnischen Enklaven und die synergetischen Effekte sozialräumlicher Nähen von Zugewanderten betont. Schließlich findet sich drittens eine neue Richtung, die versucht, die problematischen normativen Voraussetzungen des Modells zu entschärfen. Die verstreuten Ansätze werden bisweilen unter dem Begriff „new assimilation“ subsumiert. Alle drei Kritiken sollen im Folgenden kurz skizziert werden.
Kritik I: Multikulturalismus statt Assimilation Im Bereich der Migrationssoziologie war die Kritik am Assimilationskonzept zunächst amerikanisch geprägt.28 Das Konzept stieß bereits in den sechziger Jahren auf massiven Widerspruch, der Anfang der siebziger Jahre unter dem Namen „Multikulturalismus“ nicht nur in die Wissenschaft, sondern in Ländern wie Kanada und Australien auch in die Gesetzgebung Eingang fand. Erst gegen Ende der achtziger Jahre setzte diese Kritik auch in der deutschsprachigen Soziologie ein (Leggewie 1991).29 Die multikulturalistischen Einsprüche gegen das Assimilationskonzept sind durch zwei Argumente charakterisiert: Erstens orientiere sich Assimilation einseitig an den individuellen Fremden und blende das „nichtfremde“ Kol-
28 In der Bundesrepublik wurde das nationale Kollektiv sehr viel länger als unveränderlich und exklusiv vorausgesetzt. In Gestalt des „Nationalstaats“ stellte dieses Kollektiv die Bedingungen, in das sich die individualisierten Immigranten „assimilieren“ sollten. Das Konstrukt „nationale Identität“ wurde innerhalb der bundesrepublikanischen Integrationsforschung dementsprechend nicht selbst zum Gegenstand der Forschung (vgl. u.a. Thränhardt 1995). 29 Zunächst wurde die Kritik von Seiten des Multikulturalismus und später von Seiten des Transnationalismus vorgebracht. Allerdings wäre es zu unterkomplex, wie Historiker zeigen (Bade 1983; Herbert 1986), die Einwanderungsgeschichte in Deutschland schlicht als nationalistischen Sonderweg zu etikettieren. Um ein Beispiel zu geben: In einem Vergleich der deutschen Ausländerpolitik mit der kanadischen Immigrationspolitik zeigt sich, dass es in Kanada bis in die fünfziger Jahre nicht akzeptiert wurde, „nicht weiße“ Einwanderer zuzulassen, während es in Deutschland in den fünfziger bis siebziger Jahren unvorstellbar schien, „Nicht-Deutsche“ zuzulassen. Die Integration der weißen Immigranten war in Kanada indes ebenso problemlos, wie die Integration der Vertriebenen und Aussiedler in Deutschland (Triadafilopoulos in seinem Vortrag „Comparative Citizenship – Canada and Germany“ auf der Tagung: „Citizenship – Ethnos – Multiculturalism“ in der Canadian Embassy Berlin, 07.-09.11.2005). 60
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lektiv, beispielsweise die „Kultur“ der nationalen Mehrheitsgesellschaft aus30, und zweitens sei Assimilation „ethnozentrisch“, weil es Migranten ausschließlich aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft problematisiere und normativ beurteile. Als in den USA in den sechziger Jahren das Buch „Beyond the MeltingPot“ (Glazer/Moynihan 1963) erschien, in dem die Kritik erstmalig vorgebracht wurde, unterschied sich diese nicht von der normativen Zielrichtung des Assimilationskonzepts Gordons, dem Abbau von Diskriminierung und Vorurteilen. Was sich unterschied, war die Antwort auf dieses Problem. Anders als Gordon glaubten Glazer und Moynihan nicht mehr an die Realisierung der Homogenitäts-Utopie. Der melting pot erwies sich für sie als unerfüllbarer amerikanischer Traum. Dem egalisierenden melting pot stellten sie die multikulturelle „salad bowl“ gegenüber. Ihre Skepsis stand am Anfang eines sich zu jener Zeit in den Geisteswissenschaften abzeichnenden epistemologischen Paradigmenwechsels: dem „differentialist turn“ (Brubaker 2001: 531). Statt der universalisierenden Gleichheit betonte der differentialist turn die Normalität des Heterogenen und der kulturellen Vielfalt. Nicht der Abbau dieser Differenzen durch Assimilation, sondern die Toleranz gegenüber dem ethnisch und kulturell Anderen war daher anzustreben, sollte Diskriminierung vermieden werden. Aus der Enttäuschung am Scheitern der kulturellen Homogenisierung wurde das Lob der kulturellen Differenz. Nicht die kulturell homogene Gesellschaft von Gleichen und Gleichen, sondern die Anerkennung des Rechts auf Differenz schien geboten (Minow 1991). Diese Forderung schloss nicht nur das Recht auf Differenz von Immigranten ein, sondern bezog sich auch auf Fragen aus dem Gender-Bereich, wie Homosexualität oder Feminismus etc. (Young 1990). Unterschiedliche Identitäten sollten nicht geschliffen werden, sondern im Zuge der Anerkennung der jeweiligen Differenz in einen politischen Austausch treten (Taylor 1993). Insbesondere im Sinne einer modernen, demokratisch verfassten Zivilgesellschaft würden plurale Identitäten keineswegs einer Integration im Wege stehen, sondern könnten zur Partizipation beitragen (Somers 1994). Die Argumentation des Multikulturalismus richtete sich auch gegen einen universalistischen Gerechtigkeitsbegriff, der davon ausgeht, dass öffentliche Institutionen automatisch egalitär handeln, wenn sie neutral gegenüber Sprache, Identität, religiösen Feiertagen etc. sind (Kymlicka 1997). Die rationale bürokratische Herrschaft „ohne Ansicht der Person“ (Max Weber) übersieht, so das Argument, die fehlende Anerkennung von Identitäten unterhalb des Nationalstaates. Überdies berge der universalistische, egalitäre Individualis30 Vgl. für einen guten Überblick zur relevanten Literatur: Albrow (1997: 290296). 61
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mus, der u.a. Park und Gordon vorschwebte, die Gefahr, den für eine Zivilgesellschaft unverzichtbaren, am Gemeinwohl orientierten sozialen Sinn zu zerstören (Taylor 1993). In den neunziger Jahren avanciert der Multikulturalismus zu einem „conventional wisdom“ (Brubaker 2001: 532). Im Bezug auf die neue Sensibilität gegenüber kultureller Differenz hat der Multikulturalismus den „Krieg“ gewonnen (Kymlicka 1999: 112). In allen westlichen Staaten finden sich inzwischen mehr oder weniger ausgeprägte partikularistische und kultursensitive Rechte. Fast vierzig Jahre nach der ersten Kritik stellt Nathan Glazer unmissverständlich, wenn auch nicht ohne „sarkastischen Unterton“, fest: „We Are All Multiculturalists Now“ (Glazer 1997)31. Die Frage sei nun nicht mehr, ob der Multikulturalismus richtig sei, sondern welche Regulierungen geboten und wie mit seinen „Paradoxien“ oder unlösbaren „Dilemmata“ umzugehen sei (Shachar 1999; Modood 1994; Radtke 1991).32 Doch ebenso wie sich das Konzept – vor allem im angloamerikanischen Raum – durchgesetzt hat, hat es inzwischen in der sozialwissenschaftlichen Literatur an Akzeptanz eingebüsst. Ironischerweise ist dieser Plausibilitätsverslust, wie beim Assimilationsmodell, vor allem dem statischen Kultur- und Identitätskonzept geschuldet. Darüber hinaus wird das Konzept für seine Indifferenz gegenüber den Fragen nach ethnischer Schichtung und sozialstruktureller Ungleichheit kritisiert. Im Rahmen des ersten Arguments, dem statischen Kultur- und Identitätsbegriff, wird darauf verwiesen, dass dem Multikulturalismus eine Vorstellung klar abgrenzbarer kultureller Einheiten zugrunde liegt. Dies habe nicht intendierte ideologische Nebenfolgen zur Konsequenz. Eine solche Nebenfolge ist die Reifikation von homogenen, ahistorischen Kulturen (Terkessides 2001)33. Für Ulrich Beck birgt er gar die Gefahr der Entindividualisierung der Gesellschaft: „Weil der Multikulturalismus gleichsam den Nationalismus nach innen vervielfacht, also einen widersprüchlichen nationalen Multinationalismus behauptet, ist er ein Gegner der Individualisierung“ (Beck 2004: 105). Durch das statische Kulturkonzept fördert der Multikulturalismus das Problem der Ethnisierung in modernen Gesellschaften, obwohl er, zumindest 31 Vgl. dazu Brubaker 2001: 531f. 32 Vgl. kritisch zu den Dilemmata zwischen Partikularismus und Multikulturalismus auch Radtke (1992) sowie Eder (1999b). Paradox ist zum Beispiel, wenn ein kultursensitives Partikularrecht auf der Ebene der Staatsbürgerschaft ein Grundrecht, wie etwa „Gewaltlosigkeit in der Familie“, verletzt (Shachar 1999: 88f). 33 Die Kritik an der Kulturzentriertheit der Einwanderungsdebatte ist für Terkessides nicht auf den Multikulturalismus beschränkt, sondern gilt auch für das Assimilationskonzept, weil beide zwischen den untauglichen Konzepten „Multikulti“ und „Integration“ schwanken. Das gleiche gelte für Ersatzbegriffe wie “ „Interkulturalität“ (Terkessides 2001). 62
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in seiner liberalen Ausprägung, für mehr Gleichberechtigung und Anerkennung eingetreten war (Vermeulen 1999). Diese Kritik gilt auch den avanciertesten Ansätzen des Multikulturalismus von Will Kymlicka und Charles Taylor. So lautet ein Einwand von Andreas Reckwitz, dass es sich bei beiden Ansätzen letztlich um ein auf Herder zurückgehendes „pluralistisches Homogenitätsmodell“ von Kultur handelt (Reckwitz 2001: 181). Taylor und Kymlicka seien einem „totalitätsorientierten Kulturbegriff“ verpflichtet, der die Entwicklung des „cultural turn“, d.h. einen bedeutungsorientierten Kulturbegriff, in den Sozialwissenschaften verschlafen hat (ebd.: 185). Ein solcher interpretativer Kulturbegriff ist weniger an sozial kompetentem Wissen der Individuen orientiert, vielmehr begreift er Kultur als eine intersubjektiv geteilte Vorstellung von Bedeutungstaxonomien. Damit sind Überschneidungen verschiedener kultureller Bedeutungskategorien prinzipiell möglich, auch innerhalb des Sinnhorizontes eines Individuums. Übertragen auf das Problem des Multikulturalismus schlägt Reckwitz vor, dass anstatt des klar umgrenzten pluralen Multikulturalismus von einem Modell der „Konstellation kultureller Interferenzen“ auszugehen sei (ebd.: 188). Darunter fasst er die Überschneidungen und simultanen Effekte „unterschiedlicher, die Lebensführung anleitender Wissensordnungen“ (ebd.: 190). Mal handeln Individuen nach der einen Ordnung, mal nach der anderen und mal aus einem pragmatischen Kompromiss heraus. „Kultur“ wird damit zu einer kontextuellen Perspektive. Darüber hinaus wird in der Kritik auf die Blindheit des Multikulturalismus gegenüber sozialstruktureller Ungleichheit verwiesen. Multikulturalismus begünstige eine ethnische Schichtung, in der sich die Einwanderer nunmehr teils gezwungen, teils freiwillig wiederfänden (Vermeulen 1999). Beispielsweise führe der Multikulturalismus zu der Vorstellung, dass muslimische Einwanderer nicht integrierbar seien, und vergesse dabei, dass in der Geschichte der modernen Nationalstaatsbildung sozialkulturelle Differenz durch die Integration der Arbeiterklasse oder der religiösen Minderheiten durch multiple Institutionalisierungsprozesse entschärft wurde (Esch 2004). Indem der Multikulturalismus also versuchte, das kulturtheoretisch vorreflexive Assimilationskonzept mit einem statischen Kulturbegriff zu widerlegen, verlor seine Kritik selbst an Plausibilität.34 34 Bisweilen wird inzwischen das Konzept der „hybriden Identität“ favorisiert. Die bisweilen naive diskursive Dichotomisierung von „,guten‘ hybriden Identitäten versus ‚schlechten‘ essentialistischen Identitäten“ übersieht jedoch, dass Identität grundsätzlich in- und exklusiv ist und daher niemals grundsätzlich gut oder grundsätzlich schlecht sein kann (Erel 2004: 61). Ob hybrid oder homogen, Identitäten beruhen immer auf Aus- und Eingrenzungsprozessen (Räthzel 1999: 207; Ha 1999). Ursprünglich war das Konzept des „cultures in between“ als eine Form des Widerstandes gegen die homogene Definitionsmacht der nationalen 63
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Kritik II: Binnenintegration statt Assimilation Der zweite Kritikstrang richtet sich weniger gegen die vierte Ebene der identifikativen Assimilation, sondern setzt bereits bei den ersten drei Stufen an. Bezweifelt wird die Annahme, dass jede Form der ethnischen Enklavenbildung notwendig negative Effekte nach sich ziehen muss. Darüber hinaus werden dem Modell ein reduktionistischer „methodologischer Nationalismus“ und ein implizit normatives othering der Migranten vorgeworfen. Anfang der achtziger Jahre formulierte Georg Elwert (1982) die Frage, ob sich die gesellschaftliche Integration der Zuwanderer nicht auch durch „Binnenintegration“, d.h. auch in ethnischen Enklaven vollziehe. Die These lautete, dass durch die Integration in eine ethnische community die Ausgrenzungserfahrungen effizienter kompensiert würden, als wenn die Immigranten von Beginn an auf sich allein gestellt wären. Die sozialräumliche Bündelung von Einwanderern müsse keineswegs grundsätzlich zur sozialen Desintegration führen. Im Zuge der empirischen Untersuchungen entwickelte sich in diesem Kontext eine generelle Skepsis gegenüber der im Assimilationsmodell unhinterfragt vorausgesetzten Untersuchungseinheit der „ethnischen Gruppe“. Der quantitative Blick führt dazu, die ethnische Gruppe als „relevante soziale Einheit“ zu setzen, ohne diese Setzung methodisch und empirisch selbst einzuholen. So weist Thomas Faist darauf hin, dass Ethnizität nicht, wie im Assimilationsmodell, mit kollektiver Identität oder Kultur gleichgesetzt werden darf. Ethnische Minderheitsidentität verschwindet nicht automatisch mit dem Erlernen der kulturellen Kompetenz, der Aneignung einer Zweitsprache oder interethnischen Beziehungen. Vielmehr unterliegt ethnische Identität, wie die nationale Identität auch, dynamischen Prozessen und bildet sich in Reaktion auf die jeweiligen symbolischen Grenzziehungen der Gesamtgesellschaft (vgl. dazu ausführlicher das Kapitel 3): „In essence, ethnicity expressed as collective can be preserved or invented for reasons that may have little to do with inherited culture […]. Unlike language, which changes in a linear fashion – the longer you stay, the better you tend to speak it – collective self-identities vary significantly over time. Here we are not confronted with linear developments but with reactive developments.“ (Faist 2000a: 284)
europäischen Identität konzipiert (Bhabha 1996). Das Problem ergibt sich jedoch daraus, dass diese Positionierungen an einen spezifischen Kontext gebunden sind. Die Generalisierung des „in betweens“ ist dabei theorielogisch auf die anderen Identitäten, „zwischen“ denen es sich positioniert, angewiesen. Daher gerät die Generalisierung von Hybridität bisweilen ungewollt in ähnliche Dilemmata wie der Multikulturalismus. 64
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Bei qualitativen und ethnographisch angelegten Untersuchungen erweisen sich zudem „transethnische Netzwerke“ als eine weitaus effizientere sozialstrukturelle Integrationsressource, ohne dass es zu einer De-Ethnisierung der beteiligten Gruppen komme (Faist 1996; 2004; Wimmer 2002). Mit dem individualzentrierten Assimilationsmodell geraten diese Netzwerke und zivilgesellschaftlichen Vergemeinschaftungen, wie zum Beispiel ethnische Vereine oder Assoziationen, a priori aus dem Blickfeld (Fijalkowski 2001; Berger et al. 2004; Rauer 2004b). Zusammengefasst lautet die Argumentation, dass sich Binnenintegration in eine ethnische community und die Ausbildung transethnischer Netzwerke keineswegs wechselseitig ausschließen, sondern dass es sich um parallele und sich gegenseitig synergetisch ergänzende Prozesse handelt. Schließlich richtet sich die Kritik gegen das im Assimilationskonzept zugrunde gelegte Bild der „Gesellschaft als Container“. Die Containervorstellung suggeriere, dass die Nation vermeintlich feste Außenwände habe und innen mit einer homogenen Flüssigkeit – alias „nationale Gesellschaft“ – gefüllt sei. Das Containerbild wird daher mit Blick auf den methodologischen Individualismus als „methodologischer Nationalismus“ kritisiert35 (Glick Schiller et al. 1997; Faist 2004: 336; Beck-Gernsheim 2004). Dieser methodologische Nationalismus gehe von einer falschen Ableitungslogik aus. In ihm definiert der Nationalstaat „die Nationalgesellschaft und nicht umgekehrt“ (Beck 2004: 44). Dadurch, so Beck, setzt sich „ein territoriales Verständnis von Gesellschaft durch, das auf staatlich konstruierten und kontrollierten Grenzen beruht. […] Soziale Beziehungen und Symbole, die diese Zuordnung von Territorium und Staat unterlaufen oder quervernetzen, fallen durch das Wahrnehmungsraster“ (ebd.: 44-45). Mit der Absolutsetzung der nationalen Assimilation der Einwanderer operiert das Modell mit einem „impliziten Normativismus“ und einer nationalstaatlichen ethnozentristischen Teleologie (Dangschat 1998: 59, vgl. allgemein: Gans 1997). Es zählt ausschließlich die Identität der „schon immer“ ansässigen Mehrheit, während die Perspektive auf die Einwanderer durch „Miserabilismus“ charakterisiert ist. Dieser Miserabilismus verstärkt das Bild von Migranten als „passive Opfer“ (Amiraux 1997: 245), die prinzipiell zur „Anomie verdammt seien“ (Giordano 1988: 274-249, zit. in Dangschat 1998: 44). Die Idee, dass Migrationserfahrung nicht grundsätzlich defizient, sondern auch als befreiende Autonomie erlebt wird, wird verkannt (Weiß 1999). So lautet eine zusammenfassende Kritik: „Im methodologischen Nationalismus werden deutsch-türkische Sowohl-als-auch-Lebensformen entweder in dem einen oder dem anderen nationalen Bezugsrahmen verortet und analysiert [… und] mit Mangel- und Ne35 Der Begriff des „methodologischen Nationalismus“ wurde wohl zuerst von Martin verwendet (vgl. Faist 2004: 336). Für einen weiteren Überblick der relevanten Literatur vgl. Beck (2004: 44, Fußnote 6). 65
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gativattributen gekennzeichnet, die den mononationalen Einheitsblick voraussetzen.“ (Beck 2004: 15)
Kritik III: „New Assimilation“ Im Zuge dieser Debatten und dem allgemeinen Unbehagen an Assimilation und an den „nicht-intendierten Nebenfolgen“ des multikulturellen DifferenzDiskurses zeichnet sich in den letzten Jahren ein „Return of Assimilation“ ab (Brubaker 2001). Es wird versucht, das Assimilationsmodell zu modifizieren (Bommes 2002a). Die Idee der „new assimilation“ versucht, den Assimilationsansatz von seiner nationalen Teleologie und seinen kulturellen Essentialisierungen zu befreien. Gleichzeitig soll an der Problematisierung der Gefahr ethnischer Schichtung und sozialer Exklusion festgehalten werden. Die Vorschläge beziehen sich einerseits auf die kollektiven Voraussetzungen des Modells und andererseits auf die individuellen handlungstheoretischen Grundannahmen (im Folgenden grob orientiert an Brubaker 2001: 542-544). In Bezug auf die kollektiven Bindungen und Voraussetzungen wird erstens argumentiert, dass der nationale Mythos des melting pots und seine funktionalen Äquivalente aus dem Umkreis einer organizistischen Metaphorologie (mechanische Solidarität etc.) theoretisch und empirisch obsolet sind. Die Idee einer vollständigen und endgültigen „Assimilation“ der Individuen in einen „Container“ oder einen „Organismus“ ist irreführend. Stattdessen sollte mit dem Modell nach der Angleichung von spezifischen Ressourcen, Kapitalien und Chancen gefragt werden. Zweitens sind kollektive Prozesse nicht auf isoliert konzipierte Individuen zu übertragen. Beispielsweise sind intermediäre Strukturen wie Generationsfolgen zu berücksichtigen (Steinbach/Nauck 2004). Assimilation ist immer ein „multigenerationaler“ Prozess (Brubaker 2001: 543). Einwanderungsgenerationen assimilieren sich „in die Gesellschaft“, gleichzeitig dissimilieren sie sich im Zuge dieses Prozesses voneinander. So finden sich bei der dritten Generation oftmals Prozesse der „Re-Ethnisierung“, die mit der kategorial indifferenten Pfadabhängigkeit des Modells nicht erklärt werden können. Die intergenerationale Konfliktträchtigkeit von Assimilation sollte daher Teil des Modells sein. Drittens sollte das Problem der sozialstrukturellen Ungleichheit nicht mit der Frage nach kultureller Differenz vermengt werden. Die sozialstrukturell bedingten Ausgrenzungsprozesse, die mit den Namen „Segregation“, „Stratifikation“ oder „Marginalisierung“ verbunden werden, sind nur in einem sozioökonomischen Sinne ein Antonym von Assimilation. Die Kausalitätsannahmen zur kulturellen und identitätslogischen Pfadabhängigkeit sind unplausibel.
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Schließlich zielt ein viertes Argument auf ein adäquateres Verständnis von kollektiver Identität im Rahmen von Assimilationsprozessen. Assimilation sollte nicht als „Einhegung“ eines passiven Objektes (Eder et al. 2004), sondern als Ermöglichung eines aktiven, sozialen Handelns von Subjekten im Sinne Parks verstanden werden. Rogers Brubaker schlägt in diesem Rahmen vor, die „transitive“ Bedeutung von Assimilation zugunsten einer „intransitiven“ Konzeption aufzugeben (Brubaker 2001: 542).36 Abschließend lässt sich mit Blick auf die Ego-Alter-Unterscheidung feststellen, dass sowohl im Desintegrationstheorem als auch im Assimilationsmodell der bei Park und Schütz angelegte methodologische Individualismus fortgeführt und um einen methodologischen Nationalismus erweitert wird. Beide Theoreme setzen ein relativ autonom handelndes Individuum als Alter voraus. Die Schwierigkeiten beider Ansätze liegen in der theoretischen Verknüpfung der Individuen mit den kollektiven Strukturen und den Vergemeinschaftungsprozessen von Ego begründet. Kulturelle Werte und kollektive Identitätsbezüge werden aus den sozialen Integrationsstufen abgeleitet. Die „Kultur Egos“ ist nicht selbst Gegenstand der methodologischen und empirischen Konzeptualisierung. Durch diese (De-)Thematisierung wird das Aufnahmekollektiv, d.h. der Ort der Sesshaften, zur terra incognita der Integrations- und Assimilationsforschung. Beide Modelle handeln sich den Vorwurf eines nicht bedeutungsorientierten Begriffs von Kultur und kollektiver Identität ein. Ein Grossteil der Kritik, die sich in dem Vorwurf des „methodologischen Nationalismus“ artikuliert, ist auf diese Leerstelle zurückzuführen. Der Vorwurf des „methodologischen Nationalismus“ besagt nicht, dass die theoretischen Ansätze „nationalistisch“ sind, sondern er weist auf den beschränkten Theorierahmen hin. Die Fragen nach Migration und Integration, die per Definition national grenzüberschreitend sind, erfordern eine soziologische Reflexion über diese Grenzen hinaus. Die nationalen Grenzen dürfen offenbar keinesfalls mit den Grenzen des soziologischen Gesellschaftsbegriffes übereinstimmen, da ansonsten ein historisch relativ begrenzter Sachverhalt mit einer gesellschaftstheoretischen Grundbedingung verwechselt wird. Letztere Problematik wird in dem folgen-
36 Übertragen auf das Assimilationsmodell bedeutet diese Überlegung, dass bei einem transitiven Modell die Identität des assimilierenden Kollektivs unhinterfragt und zeitlos feststeht. Es stellt sich lediglich die Frage nach dem Wie der Assimilation in diesen ahistorischen Identitätskern. In einem intransitiven Gebrauch werden Migranten nicht „als Individuen“ passiv assimiliert, sondern es sind die sozialen Handlungen dahingehend zu befragen, welche assimilierenden oder dissimilierenden Effekte sie jeweils haben (Brubaker 2001: 542). 67
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
den Kapitel unter dem Stichwort „Nationalisierung“ – im Sinne von nationalisierten theoretischen Perspektiven – weiter vertieft.
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3. Nationalisierung
„Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ (Bertold Brecht)1
In diesem Kapitel werden zwei Ansätze vorgestellt, die weniger die handlungstheoretische Kompetenz des Individuums, als die intersubjektiven kollektiven Vorstellungen in den Blick nehmen. Den Ansätzen ist gemeinsam, dass sie unterschiedliche Grenzziehungen identifizieren, deren soziale Wirksamkeit sich unabhängig von den Intentionen der beteiligten Individuen entfaltet.2 Beide Ansätze, kollektive Identität und Ethnizität, werden darüber hinaus auch in Einwanderungs- und Migrationsdiskursen verwendet. Hier beziehen sie sich zumeist auf die Einheit der „Nation“. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erläutert, ist die Nation jedoch nur eine kollektive Einheit unter vielen anderen. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, besteht die Gefahr des „methodologischen Nationalismus“. Die Tatsache, dass die Einwanderungsprozesse zumeist nationalisierte Diskurse auslösen, muss analyisert, d.h. darf keinesfalls einfach vorausgesetzt werden. Eine präzise Begriffsklärung dieser öffent-
1 2
Bertolt Brecht (1967): Flüchtlingsgespräche (Gesammelte Werke, XIV, Prosa 4). Frankfurt/M., S. 1383. Klassischerweise werden die Individualkonzepte auch „Handlungstheorien“ genannt und die kollektiven Konstellationen „Strukturtheorien“. Diese Begrifflichkeit ist jedoch veraltet, da sämtliche neuere Ansätze jeweils Elemente beider Richtungen enthalten. Treffender ist daher eine Begrifflichkeit, die sich auf die jeweiligen Beziehungsformen, d.h. auf die Konstellation der theoretischen Elemente bezieht. Struktur und Handlung sind zu unterkomplex (Collins 1992). 69
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
lich so unterschiedlich wie häufig verwendeten Konzepte ist daher unerlässlich. Die Konzepte Identität und Ethnizität beziehen sich in ihrem sozialwissenschaftlichen Gebrauch zunächst auf die Voraussetzung eines subjektiven, handlungsmächtigen und kollektiven Selbst. Das Identitätskonzept lenkt den Blick auf Prozesse, die dieses Selbst über die Abgrenzung zu einem Außen konstruieren. Das Ethnizitätkonzept beschreibt hingegen die Subjektformationen die sich durch die Grenzziehung und Mobilisierung zwischen zwei Gruppen konstituieren. Nationale Grenzen sind dabei zunächst völlig irrelevant. Beide Ansätze ermöglichen eine Beobachterposition auf Prozesse der Nationalisierung von migrationsinduzierter Sozialität. Das Konzept der Ethnizität befasst sich dabei mit der spezifischen intersubjektiven Situation, in der zwei kollektive Gruppen miteinander interagieren. In den öffentlichen Einwanderungsdiskursen handelt es sich dabei zumeist um die semantische Unterscheidung zwischen einer nationalen Mehr- und einer ethnischen Minderheit. Wie die im Folgenden diskutierten Ansätze zeigen, ist dieser öffentliche Verweis auf Ethnizität dabei immer auch ein Verweis auf eine asymmetrische Beobachterperspektive. Die nationalisierte Mehrheit gilt als Norm, die ethnisierte Minderheit als Abweichung.
Identität: kulturelle Kodierung statt Natur So sehr sich die einzelnen Definitionsversuche zur kollektiven Identität unterscheiden, so sehr scheint sich ein Konsens hinsichtlich der Grundannahmen gebildet zu haben: Kollektive Identität ist eine soziale Konstruktion. Sie konstruiert sich durch subjektiven Glauben, wie bereits Max Weber konstatierte (Weber 1980), durch Diskurse (Foucault 1991; Jäger 1997) oder durch kollektive Handlungen wie Rituale, Performanzen etc. (Durkheim 1981; Alexander et al. 2006).3 Die übergreifende These besteht darin, dass sich die von einer sozialen Gruppe geteilte Bedeutungsstruktur grundsätzlich von der Summe des individuellen Bewusstseins unterscheidet (Friedmann 1994; Gilbert 2000). Fragt man nach den sozialen Bedingungen und nach den Konstruktionsprozessen der geteilten Bedeutungsstrukturen, so fragt man im Allgemeinen nach kollektiver Identität. 3
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Gesellschaft und Gemeinschaft konstituieren sich nach Durkheim beispielsweise durch gemeinsames Handeln (Durkheim 1981). Weber hat darauf insistiert, dass es keine „‚handelnde‘ Kollektivpersönlichkeit“ (Weber 1980: 6) gibt. Kollektivität konstituiert sich ausschließlich durch einen subjektiven „Gemeinschaftsglauben“ (ebd.: 237). Allerdings kritisiert Weber mit der „Kollektivpersönlichkeit“ die zu seiner Zeit vorherrschende Vorstellung eines natürlichen, kollektiven Bewusstseins und nicht, wie in der Literatur bisweilen behauptet (vgl. Gilbert 2000: 143), dass jegliche kollektive Handlung grundsätzlich ein Resultat von individuell handelnden Personen sei.
NATIONALISIERUNG
Methodologisch verlangt diese Einsicht, die Konstruktion kollektiver Identität sowohl aus einer intersubjektiven als auch aus einer diskurstheoretischen Perspektive in den Blick zu nehmen. Es wäre also völlig fehlgeleitet von „der“ kollektiven Identität zu sprechen. Identität ist nicht ein statisches, über messverfahren objektivierbares „Ding“ (Giesen 1991). Identität exisitert nur als Imaginäres. Das Konzept ermöglicht vielmehr gerade die Vorstellungen zu analysieren, die das Soziale zu einem statischen Objekt, zu einem dinghaften Subjekt „verdinglichen“. Dazu heißt es in einer Formulierung von Chantal Mouffe: „Nur mit einer nicht-essentialistischen Vorstellung des Subjekts, die sich die psychoanalytische Einsicht zu eigen macht, daß alle Identitäten Identifikationsformen darstellen, können wir die Frage nach der politischen Identität in einer fruchtbaren Weise stellen.“ (Mouffe 1993: 14) Im Rahmen der soziologischen Klassiker ist der Terminus „kollektive Identität“ in diesem Sinne als eine Kategorie zur Analyse von sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen zu begreifen. Die soziale Ordnung, so Edvard Shils, beruht auf der „Dialektik“ von Kohärenz und Chaos, Gerechtigkeit und Willkür, Kontinuität und Ereignis (Shils 1965: 203). Die zentrale Annahme von Emile Durkheim (1981) besteht darin, dass in vormodernen Zeiten die soziale Ordnung bei Katastrophen oder Anomie durch die Vorstellung einer sakralen, göttlichen Ordnung garantiert wurde. Diese sakrale Ordnung war aufgrund ihrer dem weltlichen Alltag enthobenen Geltungsansprüche – ihrer Transzendenz – nicht anfällig für weltliche Zusammenbrüche und Willkür. Im Zuge der modernen Säkularisierung erodierten jedoch diese transzendenten Ordnungsgaranten. An die Stelle des Sakralen trat, so lautet Durkheims These, „die Gesellschaft“ selbst (vgl. Orru 1983: 499). Fortan war die unwandelbare Identität der Gesellschaft der Garant für die Kontinuität der sozialen Ordnung. Mit der aufklärerischen Moderne wird die göttliche Transzendenz zu einer nationalisierten, staatlichen Transzendenz.4 Kollektive Identität ist eine Vorstellung, die soziale Ordnung über die kontrafaktische Voraussetzung einer kohärenten, unveränderlichen Sozialität garantiert. Die Imagination einer mit sich selbst über Zeit und Raum identischen Gemeinschaft stellt den als unhintergehbar geltenden und damit sakralisierten Bedeutungshorizont für die profane soziale Ordnung bereit.5 Nicht aus rationaler Wahl, sondern aufgrund dieser öffentlich nicht zur Disposition ste4 5
Eisenstadt (1982) hat diesen Gedanken mit seiner Theorie der „Achsenzeit“ prominent weiter entwickelt. Unter einem sakralen Bedeutungshorizont sind nach Durkheim Strukturen zu verstehen, die kulturelle Werte und Normen legitimieren und garantieren. Sakralität oder, in Durkheims Formulierung, das „Heilige“ sind den Werten und Normen, mit denen der methodologische Individualismus argumentiert, daher grundsätzlich vorgängig (Durkheim 1981: 64-65). 71
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
henden „Ordnung“ sind Individuen bereit, sich für die weltliche Gemeinschaft aufzuopfern oder sich, gegen ihre persönlich individuellen Interessen für das Gemeinwohl zu engagieren etc. (Shils 1965: 205). Mit dieser Sakralisierung der Gemeinschaft selbst wird auch die öffentliche Bedeutung von Migration, Fremdheit und kultureller Differenz deutlich. So hat Zygmunt Bauman darauf hingewiesen, dass „der Fremde“ die sakralen Ordnungshorizonte bedroht (Bauman 1995: 271-277). Der Fremde stellt die gesellschaftliche Ordnung bloß, in ihm verkörpert sich die Frage nach dem Kontingenzcharakter der Ordnung, die immer auch ein Zweifeln an ihrer unhinterfragbaren Geltung ist.6 Im methodologischen Individualismus wird dieser Zweifel in die Figur des Fremden rückverlagert. Seine symbolische Verkörperung des Kontingenzcharakters wird zu einem individuellen Denken-wie-unüblich und zu einer mangelnden Kompetenz (vgl. das Kapitel 2).7 Ein als „defizitär“ geltendes Individuum bedroht nicht mehr die Unhinterfragbarkeit der willkürlich gesetzten Ordnung, sondern bestätigt indirekt deren vermeintliche „natürliche“ Geltung. Kritisch wurde im Bezug auf das Konzept der kollektiven Identität bisweilen auf die Gefahr der „Reifikation“ hingewiesen (Brubaker/Cooper 2000). Es würde, so die Kritik, die kontrafaktische „Gemachtheit“ und grundsätzliche „Fluidität“ von kollektiven Selbstdefinitionen eher verdecken als aufdecken (Wagner 1998; Ha 1999; Niethammer 2000). Dieser Kritik wäre zuzustimmen, wenn das Modell nicht – wie hier – im Sinne Webers als „subjektiv gemeinter Sinn“ verstanden werden würde. Nach Weber ist kollektive Identität nicht beständig, sondern sie dient der Vorstellung von Beständigkeit. Alltägliche, einem situationalen Wandel unterworfene autonome Selbstbestimmung ist nur möglich, weil gleichzeitig eine kontinuierliche, indisponible Identität als Vorstellung vorausgesetzt wird. Identität ist also als der Glaube an die Unveränderlichkeit zu verstehen – nicht als die Unveränderlichkeit selbst. 6
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Eine in weiten Teilen mit Baumans These übereinstimmende Theorie zum Phänomen der sozialen Ordnung und der Fremdheit hat Bernhard Waldenfels entwickelt. Mit Rückgriff auf Husserl und Foucault zeigt er, dass der Fremde die Verdrängung des Kontingenzcharakters der gültigen Ordnung irritiert. Der Fremde wird zum Fremden, indem er durch seine Anwesenheit und seine Unvertrautheit mit der Ordnung demonstriert, dass die Ordnung auch anders sein könnte. Dabei markiert die Grenze die Ordnung und ist gleichzeitig ihr Schatten (Waldenfels 1997). Dies ist auch der Grund für den übermäßig hohen Nachrichtenwert von „kriminellen Ausländern“ in der Öffentlichkeit. Der die Ordnung „irritierende Fremde“ wird durch eine permanente öffentliche Repräsentation seiner Normverletzung zu einem die Ordnung bestätigenden „devianten Individuum“. Diese Berichte haben die rituelle Funktion der kollektiven Selbstbestätigung (vgl. dazu Rauer 2004c).
NATIONALISIERUNG
Diese Ansätze Durkheims und Shils wurden inzwischen wieder im Kontext makrosoziologischer Kulturtheorien aufgegriffen (Alexander et al. 2006). Bernhard Giesen entwickelt beispielweise eine Typologie, die die kontraintuitive Beobachtung erklärt, dass sich reale historische und kulturelle Differenzen durch soziale Handlungen und symbolische Kodierungen zu einer transzendenten Gleichheits- und Kontinuitätsvorstellung transformieren. Diese imaginäre Vorstellung ist nicht Resultat der Summe von individuellen Emotionen, sondern stellt sich stets aufs Neue über die kommunikative „Bestimmung und Neubestimmung“ der Grenzen dieser zeitlichen und räumlichen Kontinuität her. Wenn Individuen mit Anderen kommunizieren, so müssen sie immer eine Vorstellung von der Kontinuität ihrer selbst und ihrem Kommunikationspartner voraussetzen. Diese Vorstellungen beruhen bei Individuen auf den biographischen Erzählungen, in denen das Selbst und seine sozialen Handlungen aus einer räumlichen und zeitlichen Diskontinuität in eine Kontinuität überführt werden. Dies gilt analog für die Kommunikation und Narration von Gruppen und kollektiven Akteuren: „Wie eine individuelle Biographie bestimmte Phasen der Selbstfindung und Identitätsformation kennt, so finden sich auch in der Geschichte sozialer Beziehungsnetze besondere Perioden und Räume, in denen Kommunikation sich auf die Bestimmung und Neubestimmung der Außengrenzen und des kollektiven Selbst richtet.“ (Giesen 1999: 23) Auch die kollektiven Akteure müssen also von sich und den Anderen eine gewisse räumliche und zeitliche Stabilität voraussetzen, damit eine sinnhafte Kommunikation wechselseitiger Geltungsansprüche möglich ist. Ansonsten käme es zum Abbruch der Kommunikation. Aus diesem Problem entstand der klassische Begriff des „Subjektes“. Nicht jede kollektive Handlung oder jeder Diskurs verstetigt dabei automatisch kollektive Identität zu einem Subjekt. Vielmehr sind es nur diejenigen, die die Grenzen der Zugehörigkeit des fraglichen Kollektivs definieren oder praktizieren und damit soziale Interaktion zwischen sozialen Gruppen ermöglichen. Ansonsten setzen sich die einzelnen Akteure aus verschiedenen sich überschneidenden Subjektpositionen zusammen, die weder kohärent, noch statisch oder essentiell zu begreifen sind. Die historisch und kulturell variierenden kollektiven Identitätsformen unterscheiden sich zuforderst also durch die verdinglichten Grenzziehungen. Jedes Kollektiv „bündelt“ dichotome Vorstellungen der Zugehörigkeit und Muster der Grenzziehung. Solche Bündelungen klassifizierender Dichotomien nennt Giesen „Codes“. Damit sind verbindliche Unterscheidungsmuster von Gemeinschaften gemeint, deren Differenzierungen als „natürlich“, d.h. als „unveränderlich“ gelten und denen deshalb verstetigende Effekte zukommen. Codes werden immer dann für das soziale Handeln wirksam, wenn sich deren „Konstruiertheit dem Blick der Akteure entzieht“ (Giesen 1999: 26). Idealtypisch lassen sich drei dominante Codes bei der Konstruktion kollektiver Iden73
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
titäten unterscheiden: der primordiale, der traditionalistische und der universalistische Code (ebd.: 24-68). Diese analytische Ausdifferenzierung des Identitätsbegriffes ist wichtig, da in den öffentlichen Diskursen alle drei Formen implizit der Argumentation zugrundeliegen und gleichzeitg, durch ihren Unausgesprochenheit, dem argumentativen Zugriff entzogen sind.
Primordiale Identität Von allen drei Codes verdinglicht der primordiale Code das Kollektiv am radikalsten. Der Primordialitätsbegriff knüpft zumeist an die Ausführungen von Shils an. Primordialität ist nach Shils eine weitere Differenzierung der Tönnies’schen Unterscheidung in Gemeinschaft und Gesellschaft (Shils 1957). Eine primordiale Gemeinschaft imaginiert ihre Identität über den Code einer biologischen Verwandtschaft, d.h. als Abstammungsgemeinschaft. Sie muss nicht auf realen Verwandtschaftsbeziehungen beruhen, sondern sie konstruiert sich als „verwandt“. Primordiale Identität ist also, in der Abwandlung der anthropologischen Terminologie, eine „familienoide“ Identität. Entscheidend ist dabei, so Shils, dass die soziale Beziehung als indisponibel, d.h. als unveränderlich und unveräußerlich betrachtet wird. Primordiale Identität erscheint wie eine natürlich entstandene, quasi organische Entität.8 Die Grenzbestimmung der Zugehörigkeit ist dementsprechend exklusivistisch. Entweder sind die Mitglieder im biologischen Sinne Teil dieses natürlichen Organismus oder sie sind es nicht. Jegliche rationale Entscheidung zum Beitritt in einen natürlichen Organismus ist undenkbar. Identitätsstiftend sind die Mythen vom Urvater und seinen von ihm abstammenden Nachfolgern, nicht diverse Verträge mit Nachbargemeinschaften. Der sakrale Kern der Primordialität definiert sich nicht über qualitative Graduierungen eines Mehr-oder-Weniger, sondern über ein radikales Entweder/Oder. So exkludierend die Grenze zum Außen gezogen wird, so egalitär wird der Innenbereich imaginiert. Der Binnenraum der primordialen Gemeinschaft bestimmt sich über eine radikale Gleichheitsvorstellung. Der Kodierungsmodus dieser Gleichheit ist die „Reinheit“ (Giesen 1999: 37). Diese egalitäre Binnenidentität konstituiert sich über ein dämonisches Außen. Die „Außenwelt“ besteht aus den „Vorstellungen eines übermächtigen, aber unsichtbaren Feindes, der die Lebenskraft und Reinheit der primordialen Gemeinschaft be8
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Bei Shils (und Parsons) sind es Studien zur Integration und Effektivität von Kampfgruppen in den deutschen, amerikanischen und russischen Armeen des Zweiten Weltkriegs, die zu dieser Differenzierung Anlass boten (Shils 1957). Die Beobachtung war, dass auch moderne Gesellschaften in bestimmten Situationen durch „primordiale, personale, heilige und zivile Bindungen“ konstituiert sind (ebd.). Die Dichotomie von „Gemeinschaft“ als integriertes und historisch frühes Stadium und die „moderne Gesellschaft“ als atomistisches und egoistisches Fragment hatte damit ausgedient.
NATIONALISIERUNG
droht“ (ebd.). Externe Kontakte werden als „Infizierungen“ oder „Kontaminierungen“ gedeutet, die grundsätzlich den Gemeinschaftsorganismus als Ganzes und damit jedes Mitglied gleichermaßen bedrohen. Als Beispiele sind Ideologien wie der „Volksstamm“, sich rassistisch definierende soziale Gruppen und Gemeinschaften zu nennen (ebd.: 42). Die Vorstellung des primordialen Kollektivs schlägt sich dementsprechend in spezifischen sozialen Praktiken der Grenzerhaltung nieder. Als Gegenmaßnahme, d.h. als symbolische Grenzsicherung dienen die vielfach in der ethnologischen Literatur beschriebenen Reinigungssymbole und -rituale (vgl. dazu vor allem Douglas 1976). In der Moderne sind diese Praktiken noch zum Teil im sogenannten „Gärtnerstaat“ vorfindbar, für den alles Fremde und Außenstehende als „Unkraut“ erscheint, das es „auszumerzen“ gelte. Resultate dieser Vorstellung sind „ethnische Säuberungen“ und rassistische Apartheidsysteme (Bauman 1995: 43-56). Bezogen auf die individualisierenden Konzepte des „Fremden“ und des „Ausländers“ lassen sich strukturelle Homologien für jeden einzelnen Kodierungstypus benennen. In der primoridalen Abstammungsgemeinschaft bleibt der Zuwanderer idealtypisch für immer ein außenstehender „Fremder“. Der Fremdheitsstatus gilt als unaufhebbar und überträgt sich potentiell auf die Kinder und Enkel. Die Sakralität der Abstammungsgemeinschaft kann das Außen lediglich mit dem radikalen Ausschluss9 denken. Grautöne verbieten sich aufgrund der streng dichotom begründeten Reinheitsvorstellungen.
Traditionalistische Identität Der zweite Kodierungstypus von kollektiver Identität ist traditionalistisch (Giesen 1999: 42-54). Im Gegensatz zu primordialen Gemeinschaften kodieren traditionalistische Gemeinschaften ihre Identität durchlässiger. Nicht die „Reinheit“ des Kollektivs ist das organisierende Prinzip dieser Konstruktion, sondern die „Vertrautheit“. Die Kenntnis der impliziten Regeln und das Wissen um die Routinen stellen das entscheidende Zugehörigkeitskriterium dar (ebd.: 42f). Es handelt sich nicht um eine organisch gedachte Gemeinschaft, sondern um eine Gemeinschaft, die sich über zeitliche und räumliche Kontinuität als Gemeinschaft „Gleicher“ identifiziert. Das Kollektiv ist deshalb eine Gemeinschaft, weil es sich eine gemeinsame Geschichte an einem spezifischen Ort und über eine kontinuierliche Zeit zuschreibt. Dementsprechend sind die sozial relevanten Praktiken der Aufrechterhaltung der traditionalen Identität mit „der Geschichte“ und mit Erinnerungsritualen verknüpft. Die „gemeinsame 9
In modernen Gesellschaften schlägt dies oft in Dämonisierung um, beispielsweise findet es sich in der Kriminalisierung der Zuwanderer wieder (Jäger 2000; Rauer 2004c). 75
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Geschichte“ der Gemeinschaft wird durch mnemonische Praktiken „vergegenwärtigt“ (Connerton 1989; Assmann 1999). Die Vergangenheit wird in den Dienst der Gegenwart gestellt. Auch auf der semantischen Ebene dominiert daher ein anderes Diskursgenre. Nicht der Mythos von Gründungs-, d.h. Urvätern ist entscheidend, sondern die narrative Repräsentation von Geschichtsereignissen. Narrationen sind grundsätzlich temporal. Dagegen konstruieren die mythischen Kodierungen eine metaphysische „zeitlose Vergangenheit“. Im Mythos, so Ernst Cassirer, „ruht sich die Vergangenheit als Beharrendes und Fragloses aus“ (Cassirer 1996: 131). Der Mythos überbrückt die alltägliche profane Gegenwart mit dem sakralen Ursprung der Gemeinschaft und stiftet eine unveränderliche Kontinuität der Gemeinschaft. Die narrative Kontinuität, die Historie, ist hingegen chronologisch linear und erlaubt deshalb ein Vorher und ein verändertes Nachher (Goody/Watt 1986). Aufgrund dieser Zeitlichkeit traditionalistischer Identität ist eine Inklusion von Fremden im Laufe der Zeit, d.h. mit zunehmender Vertrautheit, prinzipiell möglich. Eine strukturelle Homologie auf der individuellen Ebene für die sich traditional kodierenden Gemeinschaften ist die Figur des „Ausländers“. Aufgrund der Verzeitlichung der kollektiven Identität ist die Assimilation von Zugewanderten prinzipiell möglich, allerdings nur um den Preis einer temporalen Latenz langfristiger Anpassungsbemühungen. Der Ausländer bleibt solange ein exkludierter Fremder, bis seine Tradierung aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft vollzogen ist. Eine simple Einbürgerung oder Annahme der Staatsbürgerschaft reicht keineswegs aus. Das Wissen, die Routinen und Codes des traditionalen Kollektivs müssen erlernt werden. Erst nach diesem Lern- oder „Integrationsprozeß“ darf der Ausländer nach dieser Vorstellung ein Mitglied der Gemeinschaft werden. Er muss sich dabei oftmals einer Prüfung seiner individuellen Kompetenzen unterziehen. Geprüft wird zumeist sprachliches oder historisches Wissen.
Universalistische Identität Die dritte Form kollektiver Identität, die universalistische Vergemeinschaftung, kodiert sich über eine zukunftsorientierte Vorstellung von der Optimierung und der grenzenlosen Expansion der Gemeinschaft. Die zentralen Diskurse werden getragen von missionarischen Utopien (Giesen 1999: 54-69; vgl. auch Eisenstadt 1982) und monotheistischen (Assmann 2003), unsichtbaren Religionen (Luckmann 1991). Anders als beim Primordialismus ist das Sakrale nicht mehr auf die Reinheit der Gemeinschaft des Hier-und-Jetzt bezogen, sondern auf eine utopische, ideale Gemeinschaft der nahen oder fernen Zukunft. Als Beispiele wären nicht nur die drei Weltreligionen Christentum, 76
NATIONALISIERUNG
Islam und Judentum zu nennen, sondern auch die radikal aufklärerischen sozialen Bewegungen der Moderne. Die „Religion der Vernunft“ entäußerte sich in einer fundamentalistischen Politik des terreurs und reichte vom Jakobinismus bis zum Stalinismus. Nach Helmuth Plessners Bestimmung aus dem Jahre 1924 definieren sich Radikalismus und Fundamentalismus über eine Entgrenzung der räumlichen und zeitlichen, d.h. der weltlich profanen Wirklichkeit: „Radikalismus heißt Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee, die entweder rational oder irrational, aber in jedem Sinne unendlich ist.“ (Plessner 2002) Anders als im Primordialismus und Traditionalismus zielt die universalistisch kodierte Identität auf die Weltgemeinschaft. Sakral ist nicht mehr die bestehende oder vergangene soziale Ordnung, sondern die zukünftig zu errichtende Utopie. Eine universalistische Identität ist sozialräumlich auf die Entgrenzung des Integrationssbereichs ausgerichtet. Dies bedeutet, dass Fremde und Außenseiter grundsätzlich als „potentielle Mitglieder“ betrachtet werden (Giesen 1999: 56). Den Universalismus prägt eine expansive und holistische Integrationsvorstellung. Die strukturelle Homologie zu indiviuellen Figuren liegt in sich universalistisch konstruierenden Gemeinschaften in der Figur des religiösen, politischen oder kulturellen Missionars begründet. Durch die generelle Zukunftsorientierung und den Utopismus ist im Universalismus nicht die Vertrautheit das Kriterium, sondern der prinzipielle Glaube an eine aktiv zu verwirklichende Zukunft. Durch den Modus der Expansion besteht ein genuines Streben nach der Konversion des „Anderen“. Migranten gelten dementsprechend ab dem Zeitpunkt nicht mehr als Fremde oder Ausländer, an dem sie der Glaubensgemeinschaft, sei sie religiös oder politisch, beitreten. Bei dieser Form der Integration ist nicht die individuelle Kompetenz entscheidend, sondern eher der Glaube und das gesinnungsethische Bekenntnis zu den Werten der Gemeinschaft. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die drei Kodierungen von kollektiver Identität mit einem jeweiligen individuellen Anderen in einem homologen Verhältnis stehen. Primordiale Reinheit korrespondiert mit dem als nicht integrierbar geltenden „Fremden“, traditionalistische Vertrautheit korrespondiert mit dem qua Lernprozess zu intergrierenden „Ausländer“ und universalistische Mission korrespondiert mit den religiösen, politischen oder kulturellen Wert- und Glaubensbekenntnissen. Die Homologie ergibt sich aus der Übereinstimmung der kollektiven Kodierung mit der jeweiligen individuellen Konzeption des Anderen in Gestalt Alters. Homolog bedeutet, dass Alter jeweils das Konzept des Individuums repräsentiert, mit dem die jeweilige Gemeinschaft ihre Identität kodiert. Kodiert sie sich biologisch oder rassistisch, so ist das wandernde Individuum 77
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biologisch oder rassistisch als Anderes konstruiert, definiert sie sich temporal, so ist das Individuum temporalisiert, definiert sie sich über Werte, so wird der Andere zum Anderen durch seine differenten Werte. Im Falle einer nicht-homologen Beziehung ändert sich die Konzeption des Individuums. Beispielsweise bedeutet die Umstellung des Staatbürgerschaftsrechtes in der Bundesrepublik in den neunziger Jahren von einem auf Abstammung beruhenden ius sanguinis auf ein sich über Aufenthaltsdauer konstituierendes ius soli auch eine Umstellung einer primordialen auf eine traditionale Kodierung der nationalen Zugerhörigkeit.10 Auf den ersten Blick gilt für die drei Kodierungsformen eine historische Chronologie. Die primordialen Identitäten kennzeichnen eher die so genannten „einfachen“ Kulturen und die traditionalistischen Identitäten prägen eher die vormodernen, aber auch die nationalistisch segregierten modernen Kulturen. Universalistische Identifizierungen finden sich zwar bereits seit Beginn der Frühen Neuzeit, jedoch entfalteten sie erst im 20. Jahrhundert ihre prägende Kraft. Empirisch finden sich spezifische Kombinationen, in denen ein Typus stärker und die anderen Typen schwächer ausgeprägt sind. Es handelt sich also um Idealtypen im Weberschen Sinne.11 Kollektive Identität bezieht sich jedoch nicht nur auf Gemeinschaften im Gegensatz zur persönlichen Idenität der Individuen, sondern sie grenzt sich auch gegen andere kollektive Identitäten ab. So wie Individuen interagieren, so interagieren auf der symbolisch diskursiven Ebene auch Gemeinschaften miteinander. Falls solche Prozesse beobachtet werden, wird zumeist von „ethnischer Identität“ gesprochen. Im folgenden Kapitel wird diese Beobachterkategorie genauer diskutert.
Ethnizität: soziale Grenzziehung statt Kultur In Diskursen über Migrationsfolgen und Integration ist immer wieder von „ethnischen Gruppen“ die Rede. Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, bleibt dabei zumeist offen. Im Folgenden werden deshalb ausgewählte Konzeptualisierungen aus der soziologischen und ethnologischen Diskussion vorgestellt.
10 Diese Umstellung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Vorstellung der individuellen Sozialintegration wie im zweiten Teil dieses Buches noch näher erläutert wird. 11 Die Kodierungen sind im Weberschen Sinne idealtypisch zu verstehen. Empirisch finden sich spezifische Kombinationen, in denen ein Typus stärker und die anderen Typen schwächer ausgeprägt sind. Beispielsweise können universalistische Bewegungen in ihre expansiven Kodierungen primordiale und traditionalistische Elemente integrieren, wie es im Stalinismus und unter anderen Vorzeichen auch im Nationalsozialismus der Fall war. 78
NATIONALISIERUNG
Ethnizität zählt im Allgemeinen zu den als „gefährlich“ erachteten Ideen. Viele Publikationen reflektieren daher eine gewisse Sorge zu Beginn ihrer Ausführungen. Verwiesen wird entweder auf den eigenen dekonstruktivistischen Ansatz, der vor politischen Indienstnahmen schützen möge, oder aber darauf, dass es analog zu anderen politisierten Konzepten, wie beispielsweise dem Klassenbegriff, geboten sei, gerade wegen dieser Indienstnahme den Begriff aus der Wissenschaftssprache nicht zu tilgen, sondern ihn zu analysieren (Mouffe 1993; Ha 1999; Groenemeyer 2003). Letzterem Ansatz ist auch dieses Buch verpflichtet. Die Sorge vor einer politischen Instrumentalisierbarkeit spiegelt sich dabei in den wissenschaftlichen Konzeptualisierungen und Definitionen von Ethnizität wider. So wird in Überblicksdarstellungen immer wieder in zwei inkommensurable Lager zwischen einerseits „essentialistisch-primordialen“ und andererseits „konstruktivistisch-kognitiven“ Ansätzen unterschieden (Bukow 1998; Groenemeyer 2003: 21-22).12 Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei dieser Gegenüberstellung allerdings um eine Scheindichotomie. Sie beruht auf Fehlinterpretationen und theoretischen „Strohmännern“ (Jenkins 1997: 44-48). Zudem krankt die Debatte daran, dass „der primordiale Part, also die Ansicht, ethnische Bindungen seien anderen vorgängig, von niemandem vertreten wurde“ (Heinemann 2001: 113). Vielmehr betont bereits Shils, dass diese Bindungen „von den Beteiligten lediglich als primordial wahrgenommen würden“ (ebd.). Damit verschwindet der Unterschied zu Max Webers Bestimmung von Ethnizität als „geglaubte ‚Gemeinsamkeit‘“ (Weber 1980: 237). Bemerkenswerter Weise gilt ein solches Missverständnis nicht nur für die vermeintlich essentialistischen, sondern auch für die konstruktivistischen Ansätze von Geertz (1963) und Fredrik Barth (1996). Mal wird Barths Ansatz als „konstruktivistisch“, mal als „intentional instrumentalistisch“ (Groenemeyer 2003: 31-32), mal als „postmodern kulturalistisch“ (Bodemann 2005: 49-50) und schließlich sogar – wie sein vermeintlicher Antipode Geertz – als „essentialistisch“ qualifiziert (Abner Cohen 1974: xii; vgl. Jenkins 1997: 45). Diese außerordentlich bunte Deutungsweise ist zu polar, als dass sie nur auf die mangelhafte Lesequalifikation der Rezipienten zurückzuführen wäre. Vielmehr deutet sie an, dass mit Ethnizität eine Vergemeinschaftungsform angesprochen ist, die in sich selbst Widersprüchliches verbindet. Ethnizität lenkt die Aufmerksamkeit auf soziale Prozesse, in denen unveräußerliche und 12 Als Hauptvertreter des primordialen Ansatzes gelten dann missverständlicher Weise Autoren wie Shils (1957) und Geertz (1963). Bisweilen werden primordialistische Ansätze sogar mit dem „biologistischen“ bzw. „genetischen“ Ansatz in Verbindung gebracht (Esser 1996b: 71). Zu den Protagonisten des kognitivistischen Ansatzes zählen gemeinhin Weber (1980) und Barth (1996) sowie die handlungstheoretischen Ansätze rationaler Wahl (u.a. Esser 1996b). 79
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unverhandelbare Deutungsmuster mit manipulativen, ephemeren und mobilisierbaren Geltungsansprüchen ununterscheidbar verschmelzen. Ethnizität ist offenbar eine komplexe Kombination aus sowohl primordialen als auch intentionalen Subjektpositionen. Ethnizität gilt als zeitlos, d.h. der zivilen normativen Ordnung vorgängig und ist gleichzeitig hochgradig mobilisierbar und vergänglich (Jenkins 1997: 165-170). Die Debatte um das Ethnizitätskonzept rührt darüber hinaus auch von einer inhärenten Antinomie der theoretischen Begrifflichkeit her. Je nach verwendetem Kulturbegriff oder situationstheoretischer Perspektive unterscheidet sich die Vorstellung von einer „ethnischen Minderheit“. Im Folgenden werden drei solcher Vorstellungen präzisiert. Im ersten Abschnitt wird Geertz’ Konzept der „primordial ties“ mit Blick auf seinen Kulturbegriff ausgeführt. Im zweiten Abschnitt wird Barths Ansatz von „Ethnizität als soziale Grenzziehung“ erläutert. Darauf aufbauend wird im dritten Abschnitt ein beide Aspekte verbindender Ethnizitätsbegriff näher bestimmt.
Ethnizität als kulturelle Kategorie Der an Shils anknüpfende primordiale Ethnizitätsbegriff von Geertz bezog sich ursprünglich auf die Situation der neuen postkolonialen Nationalstaaten in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg. Geertz identifiziert in diesen neu gegründeten Nationalstaaten eine Differenz zwischen den schwach ausgeprägten „staatlich zivilen Bindungen“ und den stark ausgeprägten „primordialen Bindungen“ (Geertz 1963). Die maßgebliche und viel zitierte Definition ethnischer, d.h. „primordial ties“ lautete damals: „By a primordial attachment is meant one that stems from the ,givens‘-- or, more precisely, as culture is inevitably involved in such matters, the assumed ,givens‘-- of social existence: immediate contiguity and kin connection mainly, but beyond them the givenness that stems from being born into a particular religious community, speaking a particular language, or even a dialect of a language, and following particular social practices. These congruities of blood, speech, custom, and so on, are seen to have an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves.“ (Geertz 1963: 110)
Entscheidend für primordial gedeutete ethnische Bindungen ist in dieser Bestimmung nicht der „Inhalt“ einer sozialen Bindung (Abstammung, Sitten, Religion etc.), sondern ob diese Bindungen von den Akteuren als „natürlich gegeben“ wahrgenommen werden. Anders als zivile Bindungen, die als disponibel, d.h. „wählbar“ erscheinen, gelten primordiale Bindungen als indisponibel. Primordiale ethnische Bindungen, so Geertz’ zentrales Argument, sind nicht selbst essentiell, sondern sie erscheinen den beteiligten Akteuren 80
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als essentiell. Aufgrund ihrer als naturgegeben angesehenen Bindungskraft werden sie der zivilen, artifiziellen Ordnungsvorstellung als vorgängig angesehen. Identitätsrelevant ist bei „primordial ties“ daher nicht der inhaltlich zu bestimmende Wertehorizont, sondern es ist die „Bindung selbst“ (ebd.: 111). In ihrer scheinbar existenziellen Unverfügbarkeit liegt ihre außerordentliche und „zwingende“ soziale Macht begründet. Es fällt nicht ganz leicht nachzuvollziehen, warum dieses Ethnizitätskonzept in der Rezeption immer wieder als essentialistisch interpretiert wird. Diese Fehlinterpretation ist dem impliziten und immer noch unvertrauten bedeutungsorientierten Kulturbegriff geschuldet. Geertz unterscheidet grundsätzlich, wie auch im obigen Zitat, soziale Praktiken wie beispielsweise „Sprache, Sitten und Abstammungen“ von „Kultur“. Die Praktiken werden je nach Kontext unterschiedlich von den Akteuren gedeutet. Diese Bedeutungen der Praktiken bilden das jeweils zu analysierende kulturelle System. Geertz verwendet also einen, wie er sagt, „semiotischen Kulturbegriff“ (Geertz 1983: 21): „Kultur“ ist nach Geertz „keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten.“ Stattdessen ist Kultur ist ein „Kontext, ein Rahmen, in dem etwas verständlich“ (ebd.) wird. Nicht die Sprachen, Sitten oder Familienbande wären also der Indikator für eine primordiale Kultur. Primordial sind ethnische Bindungen erst dann, wenn sie kulturell in einem als unveräußerlich und gegeben verstandenen Rahmen gedeutet werden. Dies hat methodologische Konsequenzen. Die Analyse einer als „ethnisch“ wahrgenommenen Kultur kann sich nicht auf die Analyse der Praktiken beschränken, sondern sie besteht darin, so Geertz, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen […] zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen” (Geertz 1983: 30).13 Dabei steht dem adäquaten Begriffsverständnis wohl auch die deutsche Übersetzung entgegen. Das bereits genannte Beispiel „culture as the assumed ‚givens‘“ etc. wird, wie oben, mit dem Begriff „Vermutung“ übersetzt. Die Bedeutung von „assumed“ geht jedoch weit über „Vermutung“ hinaus. „Assumed“ bedeutet beispielsweise auch „die Realisierung einer Qualität durch 13 Kulturanalyse wäre also weniger als eine „dichte Beschreibung“ (ebd.: 21), sondern als eine „dichte Vermutung“ zu verstehen. Dies mag vordergründig an einen phänomenologischen Ansatz erinnern (Berger/Luckmann 1977). Der Hauptunterschied besteht jedoch in der semiologischen Perspektive der „dichten Beschreibung“ gegenüber der hermeneutischen strukturalen Analyse, die immer auch „protosoziologische“ tiefenstrukturelle Annahmen voraussetzt. Solche Voraussetzungen sind für Geertz ausgeschlossen. Eine Kulturanalyse muss sich an den Verstehensprozessen der Akteure orientieren. Sie ist also streng an eine Analyse der Beobachtungen erster Ordnung gebunden. Jegliche protosoziologischen Annahmen würden diesen Blick nur verstellen (so Geertz mündlich auf der „Konstanzer Meisterklasse“, September 2000, persönliche Notizen: V.R.). 81
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die Vorstellung dieser Qualität“ sowie „die Aneignung eines spezifischen Ausdrucks oder einer Praxis“.14 Demgemäß sind die ethnischen Praktiken und primordialen Deutungsmuster nicht selbst qua natura „gegeben“, wie es ein essentialistischer Ansatz postulieren würde, sondern sie werden je nach kulturellem Bedeutungssystem als solche angeeignet, iteriert und damit sozial realisiert. Daher ergeben sich die handlungsgenerierenden Strukturen nicht aufgrund ihrer „Essenz“. Dreißig Jahre nach dem ersten Text wiederholt Geertz, mit Blick auf seine Kritiker diese Perspektive noch unmissverständlicher: „by primordial loyalties is meant […] an attachment that stems from the subject’s, not the observer’s, sense of the ,givens‘ of social existence“ (Geertz 1993: 3).15 Eng mit seinem bedeutungsorientierten Kulturbegriff hängt auch Geertz’ intersubjektive situationstheoretische Perspektive auf Ethnizität zusammen. Er argumentiert, dass die jeweilige Realisierung primordialer Bindungen kontingent ist und je nach Akteuren, Situationen und Kontexten variiert: „The general strength of such primordial bonds, and the types of them that are important, differ from person to person, from society to society, and from time to time.“ (Geertz 1963: 110)16 Ethnisch primordiale Bindungen sind also weder inhaltlich a priori festlegbar, noch sind sie ahistorisch gültig. Mal bildet die gemeinsame Sprache den unveräußerlichen primordialen Horizont, mal die Religion und mal eine gemeinsame Geschichte etc.17 Die Unterscheidung in christliche versus muslimische Gruppen kann als ethnischer Marker relevant werden, muss es aber 14 „If something assumes a particular quality, it begins to have that quality“ oder „if you assume a particular expression or way of behaving, you start to look or behave in this way“ (vgl. Collins Dictionary 2000). 15 Geertz kommentiert diese Rezeptionsweise rückblickend: „[The] idea has been quite often misunderstood by social scientists aversive to anything that seems to suggest the rooting of human behavior in something other than individual preference, rational calculation, and utilitarian payoff. Designed to expose the artifactual, or as we would say now ‚constructed‘ […], nature of social identities, and to desegregate them into the disparate components out of which they are built, it was often seen to be doing just the opposite--ratifying them, archaizing them, and removing them to the realm of the darkly irrational.“ (Geertz 1993: 3) 16 Im Jahre 1993 heißt es dazu erläuternd: „Situations like that of the Ukraine, where (right now) language unites and religion divides, Algeria where religion unites and culture divides, China, where race unites and region divides, or Switzerland, where history unites and language divides, can be dealt with more precisely within such a frame.“ (Geertz 1993: 4) 17 Beispielsweise wäre ein für die USA geltendes Assimilationsmodell keineswegs ubiquitär übertragbar. Nach der obigen Aufzählung müsste das Assimilationsziel jeweils um „Religion“, „Sprache“ oder „Abstammung“ variiert werden. Allerdings würde dies methodologisch die Allgemeingültigkeit der dezisionistischen Handlungstheorie rationaler Wahl in Frage stellen. Auch dies mag also ein Grund für das ostentative Missverständnis gegenüber Geertz’ Ansatz sein. 82
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keinesfalls. Ob ein Indikator für eine primordiale oder eine zivile Bindung Bedeutung hat oder nicht, wird zu einer Frage der jeweiligen kulturellen Bedeutung. Insgesamt ist Geertz’ Ethnizitätsbegriff also eng an sein bedeutungsorientiertes Kulturkonzept gebunden. Kultur bezeichnet die jeweilige Bedeutungszuschreibung von Praktiken in Relation zur vorgestellten Gemeinschaft. Es handelt sich also weder um einen relativistischen noch um einen essentialistischen, sondern um einen kulturellen interpretatorischen Ansatz von Ethnizität.
Ethnizität als soziale Grenzziehung Ähnliche Irritationen – unter umgekehrten Vorzeichen – erregt Barths Ethnizitätsbegriff. Zwar wird Barths Ansatz bisweilen auch essentialistisch gedeutet, in der Regel verortet ihn die Rezeption jedoch im gegenteiligen Lager (vgl. Jenkins 1997: 44f). Ihm wird vorgeworfen, einem intentional instrumentellen Ethnizitätsverständnis im Sinne von rationaler Wahl den Weg zu bereiten. Irritation stiftete die folgende dem Geerz’schen Ansatz diametral zu widersprechen scheinende Bestimmung von Ethnizität: „The critical focus of investigation [ethnicity] becomes the ethnic boundary that defines the group, not the cultural stuff that it encloses.“ (Barth 1996: 300)18 Diese Aussage sorgte für Aufregung, weil sie, gegen Shils und Geerz, zu postulieren schien, „Kultur“ sei für ethnische Vergemeinschaftungsprozesse irrelevant (Cohen 1978). Tatsächlich handelt es sich bei diesem Ansatz jedoch ebenso wenig um einen Ansatz der rationalen Wahl, wie es sich bei Geertz um ein essenzialisierendes Konzept handelt. Barths Ansatz geht von der Annahme aus, dass kulturelle Grenzen keineswegs mit den ethnischen Grenzen identisch sein müssen. Ethnische Gruppen beruhen nicht auf tradierten kulturellen Differenzen, sondern auf boundary-maintaining-factors.19 Barths These besagt also, dass die Persistenz von ethnischen Grenzen nicht allein aus den Inhalten spezifischer Traditionen, Sitten und Bräuchen erklärt werden kann. Vielmehr muss die erstaunliche Stabilität von ethnisch definierten Gruppen mit deren jeweils spezifischen sozialen Grenzziehungspraktiken erklärt werden. Nicht Kultur, sonder soziale Grenzziehungen konstituieren Ethnizität. 18 Der Text von Barth wurde im Original bereits im Jahre 1969 publiziert. 19 Hier muss hervorgehoben werden, dass Barth, anders als Geertz, mit „cultural stuff“ keinen bedeutungsorientierten, sondern einen klassischen Kulturbegriff im Sinne von „customs“ meint. Die angloamerikanische „anthropology“ unterscheidet sich klassischerweise zwischen der britischen „social anthropology“ und der amerikanischen „cultural anthropology“. Zur Ersteren ist der Norweger Barth zu rechnen, zur Letzteren Geertz. Auch in diesem Zusammenhang ist die pejorative Formulierung Barths vom „cultural stuff“ zu verorten. 83
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Barth begründet diese These anhand eines methodologischen Arguments20 und eines Fallbeispiels: Im Sudan siedeln die Fur in Dörfern und leben von Landwirtschaft, während die angrenzenden Baggara nomadisch ihren Lebensunterhalt bestreiten. Aus Gründen von Landknappheit und Bevölkerungswachstum ist ein Teil der Fur darauf angewiesen, ihre Subsistenz nomadisch in den Gebieten der Baggara zu sichern. Diese nomadisch lebenden Fur wechseln ihre Identität und werden zu Baggara. Im Zuge dieser Transformation eignen sie sich sämtliche Rituale und Traditionen der angrenzenden Ethnie an (ebd.: 308-310). Im Handel mit den sesshaften Fur sprechen sie zwar ihre originäre Sprache, um die Interaktion „zu erleichtern“, bezeichnen sich jedoch selbst stets als Baggara (ebd.: 315). Das Fallbeispiel verdeutlicht für Barth, dass die traditionelle Gleichung der Stammesforschung „a race = a culture = a language“ empirisch unzutreffend ist (ebd.: 296). Nicht die kulturell tradierte Einheit erklärt die kulturelle Differenz zwischen den Fur und den Baggara, sondern die sozialstrukturellen Bedingungen wie Ressourcenknappheit, Regeln der kollektiven Landnutzung. Gemeinsam bilden sie ein, wie Barth es nennt, „polyethnic social system“ (ebd.: 302). Bei den boundary-maintaining-factors handelt es sich also um sozialstrukturelle Bedingungen, die die Regeln der ethnischen Grenzziehungen und -überschreitungen konstituiert.21 „Ethnizität“ ist damit weder mit der isolierten Geschichte und den historischen Inhalten einer „Kultur“ gleichzusetzen, noch mit einer reinen Kulturgeschichte allein zu erklären: „So when
20 In der Ethnologie galt die klassische Annahme, dass eine Isolation zur ethnischen Differenzierung führt (Sollors 1996). Barth war einer der Ersten, der dies als methodologischen Artefakt erkannte (Barth 1996: 314). Um die Kultur einer Ethnie zu erforschen, wurde versucht, diese möglichst „isoliert“ zu untersuchen. Abgelegene Inseln boten sich dafür besonders an. Dies hatte zur Konsequenz, dass kulturell geschlossene Einheiten als die alleinige Ursache für die Persistenz von Gruppengrenzen angesehen wurden (ebd.: 294-298). Die nicht auf Inseln durchgeführten Studien zeigten hingegen, dass sich der vom Forscher als ein und derselbe identifizierte „Stamm“ je nach Situation sowohl als „Stamm A“ als auch als „Stamm B“ bezeichnen kann. Diese auf den ersten Blick widersprüchliche Selbstdefinition wurde jedoch ignoriert. Das Problem umging der methodologische Imperativ, möglichst isolierte Stämme zu untersuchen (ebd.: 306-309). 21 Das „polyethnische soziale System“ erklärt sich in diesem Fallbeispiel zunächst aus der Differenzierung des Besitzes an Produktionsmitteln im Sudan. Agrarland wird bei den Fur nicht besessen, sondern als Gemeindeland geteilt, ebenso gilt dies für Weideland bei den Baggara. Zudem ist das Land weder transferierbar noch käuflich. Kommt es zu Überschüssen oder Engpässen bei den Produktionsmitteln (Acker oder Weide), dann können diese weder verpachtet oder verkauft noch erworben werden. Sie sind ausschließlich den beiden jeweiligen ethnischen Gruppen vorbehalten (Barth 1996: 308-310, 315). Aus diesem Grund ist für Barth auch die soziale Gleichung „a society = a unit which rejects or disciminates against others“ nicht universal gültig (ebd.: 296). 84
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one traces the history of an ethnic group through time, one is not simultaneously, in the same sense, tracing the history of ,a culture‘.“ (Barth 1996: 323) Barths Ansatz ist insofern wegweisend, weil er überzeugend zeigt, dass Ethnizität „als Einheit nur in Relation mit anderen Einheiten existent“ ist (Cohen 1978: 384). Seither besteht ein Konsens, dass es sich bei Ethnizität um die Konstruktion von „dissoziativen Identitäten“ handelt (Giordano 1997: 65). Nicht die kulturellen Traditionen und Bindungen, sondern die Abgrenzungen und Relationen sowie die Beobachterpositionen zwischen den Gruppen sind entscheidend: „Barths etischer Ethniebegriff – im Gegensatz zu einem essentialistischen, emischen Ethniebegriff – stellt darauf ab, dass der formale Akt der sozialen Handlung des Grenzziehens für die Bildung ethnischer Wir-Gruppen konstitutiv ist.“ (Kneer 1997: 93) 22 Nach Barth ist Ethnizität also weder kulturalistisch, noch rationalistisch bestimmbar. Ethnizität ist vielmehr eine Praxis des Unterscheidens und Katergorisierens von sozialen Gruppen. Ob eine irgendwie erkennbare kulturell bestimmbare Nähe oder Distanz zwischen den Gruppen herrscht ist für die ethnische Gruppenbildung irrelevant.
Ethnizität als nationalisierte Minderheit Gemäß den beiden bisher vorgestellten Ansätzen hat sich inzwischen die Überzeugung durchgesetzt, dass Ethnizität weder als „blind primordial“ noch als vollständig „rational“ oder „manipulierbar“ zu konzeptualisieren ist. Dieses Verständnis wird hier abschließend anhand der Konstruktion von ethnischen Minderheiten in modernen Nationalstaaten erläutert. Die Vorstellung von einer ethnischen Minderheit übt in öffentlichen Diskursen eine entscheidende kategorisierende Bennungsfunktion aus. Es ist bisher deutlich geworden, dass Ethnizität grundsätzlich sowohl primordiale als auch instrumentelle Anteile haben kann. Ethnizität ist intentional mobilisier- und konstruierbar und basiert dennoch auf der Vorstellung von natürlich gegebenen primordialen Identitäten. In diesem widersprüchlichen 22 Bei der Erklärung der grenzziehenden Praktiken scheiden sich allerdings wieder die Geister. Bei Barth bleibt eigentümlich offen, aus welchen Handlungsmotiven und Intentionen die ethnischen Grenzen aufrechterhalten werden. Daher können sowohl kulturkonstruktivistische als auch Theorien rationaler Wahl an Barths Ansatz anknüpfen. So entwickelte Esser im Anschluss an Barth ein Modell von ethnischen Konflikten. Ausgangspunkt ist, dass „Menschen stets rational handelnde Wesen“ sind (Esser 1996b: 66). Dies gilt auch für vermeintlich irrational erscheinende ethnische Konflikte. Allerdings müssen die rationalen Interessen im Falle ethnischer Konflikte an eine „kulturelle Gemeinsamkeit“ anknüpfen: „Ethnizität ist ex nihilo nicht einfach zu kreieren. Sie muss – auf der Grundlage von ‚Interessen‘ – immer an kulturelle Gemeinsamkeiten anknüpfen, die latent schon vorher bestanden haben“ (ebd.: 72). 85
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Sinne lautet eine der häufiger zitierten Begriffsdefinition von Richard Jenkins: „Somewhere between irresistible emotion and utter cynicism, neither blindly primordial nor completely manipulable, ethnicity and its allotropes are principles of collective identification and social organization in terms of culture and history, similarity and difference, that show little signs of withering away.“ (Jenkins 1997: 170) Diese Doppelbedeutung von primordialer unwandelbarer Ethnizität und intentionaler prozessualer Ethnisierung wird am Beispiel der Relation ethnischer Minder- und Mehrheiten besonders vakant. Zunächst kennzeichnet die Mehrheits/Minderheits-Relation eine strukturelle Asymmetrie.23 Mit dem Begriff der „Ethnizität“ hat der Begriff „Minderheit“ gemein, dass er nicht „substantiell“, sondern ausschließlich in „Relation“ (Kneer 1997: 88) zu einer anderen Gruppe bestimmt wird. Bei der näheren Bestimmung einer Minderheit als „ethnisch“ handelt es sich also um einen doppelten Grenzbegriff. Die „Minderheit“ existiert nur mit Blick auf die „Mehrheit“, und die Ethnizität ergibt sich nur aus der Interaktion zweier sozialer Gruppen. Aufgrund dieser Verdoppelung ist auch die normative Bedeutung „ethnischer Minderheiten“ bipolar. So lautet die Definition des „konstruktivistischen“ Minderheitenbegriffes24: „Minderheiten werden […] sozial erzeugt, hervorgebracht, konstruiert, indem eine Anzahl von Personen eben als Minderheit behandelt wird, also diskriminiert, benachteiligt, stigmatisiert oder umgekehrt als Gruppe mit bewahrens- und schützenswerten Merkmalen ausgezeichnet wird“ (Kneer 1997: 92). In einem Fall bildet Ethnizität eine „virtuelle Möglichkeit“ zur Realisierung einer primordialen Bindung (Jenkins 1997: 23 Der Begriff „Minderheit“ ist jedoch keineswegs eindeutig. Zudem wird er nicht nur im Kontext „ethnischer“ Minderheiten verwendet. Nach Kneer lassen sich vier verschiedene Verwendungsweisen unterscheiden: erstens eine quantitative Angabe von Gruppengrößen, zweitens eine in Abstimmungen und Wahlen unterlegene Gruppe, drittens eine Teilgruppe, die von der Mehrheit „benachteiligt“ wird, und viertens eine Anzahl von Personen, die im Vergleich zur Mehrheit besondere Merkmale aufweisen, die sie zu „bewahren“ versuchen (Kneer 1997: 86-90). 24 Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theorien finden sich drei verschiedene Konzepte von Minderheiten: erstens ein „analytischer“ Ansatz, zweitens ein „realistischer“ und drittens ein „konstruktivistischer“ Ansatz. Während der erste Ansatz bedeutet, dass die Minderheit eine reine Zuschreibung des (wissenschaftlichen) Beobachters ist, so geht der zweite von einer realen „Andersheit“ aus (bspw. kulturell bedingte „Solidaritäten“) (Kneer 1997: 91). Während der erste Ansatz die analytische Dimension verabsolutiert und somit die Zuschreibung als soziale Praxis negiert (denn nicht nur die wissenschaftlichen Beobachter praktizieren ethnisch-kulturelle Zuschreibungen, sondern auch die medialen Öffentlichkeiten), so verabsolutiert der realistische Minderheitenbegriff qualitative Differenzen. Daher ist für Kneer der „konstruktivistische Minderheitenbegriff“ am tauglichsten, die Schwächen der ersten beiden Ansätze zu vermeiden. 86
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167). Im anderen Fall dient Ethnizität zur Legitimation „rassistischer Praktiken“ (Weiß 2001). Diese grundsätzlich relationale Struktur von Ethnisierungsprozessen erfordert einen besonderen methodologischen Zugang. Die Methodologie muss in zweifacher Hinsicht die Grenzziehungen sozialer Situationen berücksichtigen: erstens die kategorialen Grenzen, die in sozialen Situationen zwischen Gruppen gezogen werden, und zweitens die exklusivistischen Zugangsbedingungen zu diesen kommunikativen Situationen selbst. Erstens ist die Situation einer modernen Gesellschaft dadurch gekennzeichnet, dass der Minderheitenstatus prinzipiell „kommunikativ zugewiesen“ wird (Kneer 1997: 92). Ethnizität ist immer eine kommunizierte Kategorie (Eder et al. 2002). Ob es sich bei dieser Zuweisung um eine Selbst- oder Fremdzuschreibung handelt, ist zunächst irrelevant. Relevant ist vielmehr die Analyse von Ethnisierungsprozessen als „definition of the situation held by social actors“ (Jenkins 1997: 18). Wohlgemerkt betont Jenkins in diesem Zusammenhang die „Definition der Situation von Akteuren“, nicht die Selbstdefinition von Individuen. Ethnisierungsprozesse realisieren sich über öffentlich artikulierte assumed ‚givens‘ der Akteure. Zweitens muss eine Analyse die boundary-maintaining-factors berücksichtigen. In modernen, massenmedial kommunizierenden Gesellschaften bestehen diese Faktoren in den exklusivistischen Zugangsbedingungen zu öffentlichen kommunikativen Situationen, in denen Gruppengrenzen zugewiesen werden. Die Mehrheitsgruppe hat zu diesen Situationen einen privilegierten Zugang.25 Dies ist prekär, da in diesen Situationen kategoriale Zuweisungen getroffen werden, die nicht nur für die anwesende Mehrheit, sondern auch für die abwesende Minderheit Bedeutung und Konsequenzen haben. Der Verweis auf Ethnizität bietet also immer dann die Möglichkeit zur Konstruktion einer nationalisierten Grenzziehung zwischen einer Mehr- und Minderheit, wenn die nationale Aufnahmegesellschaft in der Lage ist, die Werte und Ziele für beide Gruppen zu bestimmen. Die Kontrolle über die Öffentlichkeit, d.h. über die means-of-symbolic-production (Alexander 2000) ist also ebenso bedeutsam wie der Zugang und die Kontrolle der materiellökonomischen Ressourcen. Weist eine Mehrheitsgruppe einer Minderheitsgruppe kommunikativ kulturelle assumed ‚givens‘ zu, so muss sich die Minderheitsgruppe zunächst selbst ethnisieren, um auf diese Zuweisung im Namen der Gruppe reagieren zu können. Daraus ergibt sich ein grundsätzliches strukturelles Dilemma: Minderheiten müssen sich als Minderheit ethnisieren, um Zugang zu den öffentlichen means-of-symbolic-production zu erlangen. In diesem zirkulären 25 Hierzu heißt es bei Barth: „all sectors of activity are organized by statuses open to members of the majority group, while the status system of the minority has only relevance to relations within the minority.“ (Barth 1996: 316-317) 87
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Bedingungsverhältnis ist Ethnizität zugleich zugewiesen, an Interessen gebunden und durch asymmetrische Zugangsbedingungen bedingt.26 Daraus folgt, dass sich der Blick in erster Linie auf solche Situationen richten muss, in denen über die jeweiligen ethnischen Grenzen wechselseitig Definitionskämpfe ausgefochten werden: „the focus of attention then becomes […] the structured interaction between ,us‘ and ,them‘ which takes place across the boundary“ (Jenkins 1997: 18).27 Diese intersubjektiven kommunikativen Prozesse sind an spezifische soziale Trägergruppen gebunden. Nur ausgewählte kollektive Akteure sind in der Lage, Ethnisierungsprozesse zu initiieren, Grenzziehungen zu verschieben oder zu definieren. Allerdings setzen sich in modernen Gesellschaften nicht alle ethnischen Minderheiten in gleicher Weise einem Ethnisierungsprozess aus. Vielmehr werden in der Literatur zwei wesentliche soziale Trägerschaften unterschieden: einerseits separatistische ethnische Bewegungen und andererseits Verbände und Vereine von Immigranten (Giordano 1981). Ethnizität in urbanisierten Migrantensubkulturen folgt einer völlig anderen diskursiven Struktur als die Ethnizität in separatistischen sozialen Bewegungen. In Einwanderungsmilieus sind Ethnisierungsdiskurse nicht nur quantitativ sehr viel seltener, sondern sie artikulieren auch eine andere Zielvorstellung. Bei Einwandererverbänden soll die Selbstethnisierung vor allem die kulturelle Anerkennung als Subkultur durchsetzen, d.h. ihr Ziel ist der Schutz vor Diskriminierung und Marginalisierung (Yurdakul 2006, Elik 2006).28 Bei den separatistischen sozialen Bewegungen ist das Ziel eine ethnische Homogenisierung und die 26 Letztlich steht nur der Kosmopolitismus außerhalb dieses Ethnisierungszirkels. Der Kosmopolit wäre die einzige de-ethnisierte Figur. Er ist dies indes um den Preis des Ausschlusses aus kollektiv organisierten Ressourcen, Interessen und den öffentlichen „symbolic-means-of-production“. Wenn sich beispielsweise in Berlin-Kreuzberg eine Bar den Namen „…: vor Wien“ zulegt, dann handelt es sich nicht um ein ethnisiertes Zeichen, sondern um einen appellativen Signifikanten im Sinne von Barthes (1993: 106), der die Geschichte der Kategorisierung und Grenzziehung ethnischer Gruppen „be-deutet“. Diese ästhetisierte ludische bzw. ironische Zeichenpraxis verweist auf ein „Glück des Kosmopoliten“, der sich jeder kollektiven Einbindung enthoben sieht und sich dennoch für ethnische Grenzziehung interessiert. Ob es sich dabei um eine kosmopolitische Praxis von ethnischen Grenzziehungen handelt oder nicht, wäre also eine nicht ganz abwegige Frage. 27 Konsequenterweise wäre dies als ein kommunikationstheoretischer Ansatz von Ethnizität zu bezeichnen. Dies wurde inzwischen auch theoretisch weiter ausgearbeitet (Eder et al. 2002). Doch diese Fortführung sei hier ausgeklammert. 28 Wobei das Paradox der Selbstethnisierung als Bedingung für eine öffentliche Sprecherposition weiterhin gilt. Doch es gibt Ausnahmen: Vereine wie „KanakAttack“, die sich explizit nicht als „ethnischer Verein“ verstehen, weil ihr Ziel in der De-Ethnisierung besteht. Wie bereits der Name des Vereins zeigt, scheint dieser Weg aufgrund des Ethnisierungsdilemmas auf eine avantgardistisch ironische Praxis angewiesen zu sein. 88
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Durchsetzung eines eigenständigen Abstammungsprinzips, das je nach Kontext an ein ius soli oder ius sanguinis appelliert (Giordano 1981: 66-67). Während die Diskurse der Migranten Ethnizität also eher als Expertenwissen bei Integrationsfragen thematisieren, so zielen die separatistischen sozialen Bewegungen auf Dissoziation und kulturelle Differenz. Zusammenfassend ist zunächst hervorzuheben, dass mit Ethnizität – im Unterschied zu den drei Formen kollektiver Identität – grundsätzlich die Relation von zwei Kollektiven zueinander beschrieben wird. Das Modell von kollektiver Identität befasst sich mit einem Ego in Relation zu seinem Außen als Alter. Alter wird als Umwelt oder in Gestalt eines fremden Individuums wahrgenommen. Mit Ethnizität wird der methodologische Blick auf die Relation zwischen interagierenden bzw. sich voneinander abgrenzenden Gemeinschaften gerichtet. Bei Ethnizität wird also grundsätzlich nach der sozialen Grenzziehung von mindestens zwei kollektiven Identitätsformen gefragt. Wer von diesen beiden Gruppen als Ego oder Alter gilt, ist von den jeweiligen Beobachterperspektiven abhängig. In westlich geprägten Nationalstaaten herrscht eine besondere Form der Relation zwischen Ego und Alter. Es besteht eine nationalisierte Grenze zwischen einer Mehrheit und einer ethnischen Minderheit. Die Mehrheit ist im Besitz der means-of-symbolic-production und daher in der Lage, der Minderheit den ethnisierten Status von Alter öffentlich und diskursiv zuzuweisen. In diesen öffentlichen Kontexten handelt es sich also um eine Asymmetrie diskursiver Bennenungsmacht. Identität richtet den Blick auf Ego/Alter-Relation weniger im Sinne von Seinsunterscheidung, sondern im Sinne von Geltensunterscheidung. Die Einwanderergruppen befinden sich in einer kommunikativen Subjektposition, in der ihnen ein Status als Alter durch die fehlende Anerkennung von Ego zugewiesen wird. Sie „müssen“ sich selbst als ethnische Untergruppe innerhalb des nationalisierten Identitätsdiskurses repräsentieren. Die Minderheiten müssen sich ethnisieren, um eine legitime Sprecherposition zu erlangen. Bei dieser Art von Repräsentation handelt es nicht um die Konstruktion oder Imagination von ethnischer Reinheit. Die eingewanderten Gemeinschaften konstituieren sich als ethnisch definierte Andere, um das kommunikative Machtdefizit bei der Definition der eigenen Einwanderungssituation zu kompensieren.
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Die beiden abschließend zu definierenden Konzepte – System und Transnationalität – nehmen im Gegensatz zu den subjektivistischen Konzepten – Identität und Ethnizität – die objektivierten sozialen Formen in den Blick. Die Systemtheorie stellt die funktionale Differenzierung, der Transnationalismus die räumliche Differenzierung der Weltgesellschaft in den Mittelpunkt der Überlegungen. Beide Ansätze nehmen eine universalisierende Beobachterposition ein, die von den konkreten Subjektformen abstrahiert. Diese Konzepte finden sich, wie die zuvor diskutierten Konzepte auch, in den öffentlichen Einwanderungsdiskursen wieder, allerdings weniger unter diesen Begriffen, sondern unter der Metapher der „Globalisierung“. Das Konzept „System“ vertieft die differenzierungstheoretischen Annahmen aus Sicht der „Luhmann-Schule“ mit Blick auf die Migrationsproblematik. Die These von Niklas Luhmann und seinen Schülern besagt, dass nationalräumlich segregierte Vergemeinschaftungsprozesse in der Moderne zunehmend für die Integration an Bedeutung verlieren. Stattdessen beziehen sich die Systemgrenzen auf die Weltgesellschaft. Eine ähnlich ausgerichtete Universalisierung der Beobachterperspektive propagiert das Transnationlitätskonzept. Der „transnational turn“ wendet sich den weltweiten Migrationsprozessen aus einer raumtheoretischer Perspektive zu. Die These besagt, dass sich die einzelnen Funktionssysteme nicht so präzise voneinander abgrenzen lassen, wie es die Systemtheorie vorschlägt. Vielmehr kommt es zu Überschneidungen von transnationalen sozialen Feldern, in denen die „Transmigranten“ den gleichen Funktionssystemen doppelt angehören und aus anderen vollständig exkludiert sind. Statt einer funktionalen Differenzierung zeichnet sich eine transversale Differenzierung ab, die zunehmend die Reziprozitätsnormen der national segregierten Weltgesellschaft unterläuft.
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S ys t e m : f u n k t i o n a l e I n - u n d E x k l u s i o n statt Multikultur „[Dass] der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist, bildet die positive Bedingung dafür, dass er es mit andern Seiten seines Wesens ist: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt […] durch die Art seines NichtVergesellschaftet Seins.“ (Simmel 1992: 51)
Die Systemtheorie und ihre Konzeptualisierung einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft gehört nicht zum klassischen Theoriekanon der Migrationssoziologie. Auf den ersten Blick stehen Ethnisierungsprozesse und ethnische Gruppen quer zu einer funktionalen Differenzierung. Gleichwohl schärft der kommunikationstheoretische Blick der Systemtheorie die Aufmerksamkeit für die Frage einer angemessenen Konzeption von Assimilation und Integration in einer modernen Gesellschaft. Obwohl sich Luhmann migrationssoziologischen Fragen selbst nicht zuwendet, ist sein Ansatz in dieser Hinsicht weitergeführt worden. So hat Armin Nassehi Luhmanns Unterscheidung in In- und Exklusion aufgegriffen und als Alternative zum Assimilations- und Integrationsmodell ausformuliert. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die herkömmliche Vorstellung von Integration und Assimilation nicht eine zu starke Form von gesellschaftlicher Einbeziehung voraussetzt. Daran hat sich inzwischen eine Debatte entzündet, die hier jedoch ausgeklammert bleiben muss (vgl. Farzin 2006). Die umstrittene Abschwächung des Integrationsideals findet sich auch in der öffentlichen Debatte wieder, allerdings nicht unter dem Begriff der Inklusion, sondern als implizites Argument. Die Durkheimsche Frage nach der „mechanischen Solidarität“ wird von der Systemtheorie kommunikationstheoretisch gewendet. In den Blick gerät eine spezifische Konstellation kommunikativer Unterscheidungen. Gesellschaftliche Solidarität wird nicht auf die Summe individueller Einstellungen zurückgeführt (Lichtblau 1999; Viskovatoff 1999). Das, was gemeinhin unter identifikativer Assimilation, kollektiver Solidarität oder gesellschaftlicher Moral verstanden wird, definiert Luhmann als kommunikativ konstruierte soziale Realität, die ihren empirischen Ort im spezifischen Subsystem der Massenmedien hat. Im Rahmen dieser kommunikationstheoretischen Wende ändert sich die Perspektive auf die Integration von Migranten in zweierlei Hinsicht: Zum einen richtet sich die empirische Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Assimilation in einen Nationalstaat, sondern auf das Verhältnis von Exund Inklusion in funktionale Teilsysteme. Zum anderen muss die Relevanz von Migranten in der medialen Öffentlichkeit in die Analyse integriert werden.
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Segmentäre, stratifizierte und funktional differenzierte Gesellschaften Bevor der Begriff „Inklusion“ definiert wird, muss, um das Verständnis zu sichern, zunächst kurz in die Grundannahmen der Systemtheorie eingeführt werden. Die systemtheoretischen Kernannahmen beruhen auf einer Typologie von drei unterschiedlichen Integrationsmodi der Gesellschaft: die „segmentäre“, „stratifizierte“ und „funktional differenzierte Gesellschaft“ (Luhmann 1998: 634-775).1 Die segmentäre Differenzierungsform stellt historisch den ersten Typus dar: tribal differenzierte Gesellschaftssysteme. In segmentär differenzierten Gemeinschaften unterscheiden sich die jeweiligen Mitglieder eines Kollektivs nach der Leitdifferenz „innen/außen“. Entweder gehören sie der Gemeinschaft vollständig an oder sie sind ausschließlich der Umwelt zugehörig. Wer nicht Mitglied dieser Gemeinschaft ist, wird vollständig ausgeschlossen (Luhmann 1998: 634-661). Die segmentären Kollektive befinden sich zueinander in einem horizontalen Ungleichheitsverhältnis. Sie existieren unverbunden und isoliert nebeneinander, bei gleichzeitiger starker Integration nach innen. Typische Beispiele sind Verwandtschaftssysteme (Luhmann 1998: 635). Entscheidend für segmentäre Integration ist, dass die „Positionen von Individuen in der sozialen Ordnung fest zugeschrieben [sind] und nicht durch Leistung verändert werden [können]“ (Luhmann 1998: 636). Fremde sind in solchen Gesellschaften entweder als „ganze Person“ integriert oder vollständig exkludiert.2 Den zweiten Typus stellen die stratifizierten Gesellschaften dar. Stratifizierte Gesellschaften folgen einer geschichteten Differenzierungsform. Historisch zählen dazu die „Adelsgesellschaften“ (Luhmann 1998: 678). Anders als bei der segmentären Vergemeinschaftung besteht die Leitdifferenz nicht in einer horizontal-sakralen „Innen/Außen-Differenz“, sondern in einer vertikalhierarchischen „Oben/Unten-Unterscheidung“.
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Allerdings geht Luhmann von einer klaren chronologischen Abfolge und nicht von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus, was zumindest in dieser Abgrenzbarkeit empirisch bezweifelbar ist. Um dennoch mit anderen Systemen im Austausch sein zu können, gibt es, laut Luhmann, „symbolische Ausgestaltungen von Übergängen“ und einen „Sonderstatus für Fremde“ Luhmann 1998: 641). Diese Grenzen sind zugleich immer auch die „Grenzen des Sakralen“ (ebd.). Magische Rituale sind für Luhmann als eine Parallelisierung des „Unvertrauten mit dem Vertrauten“ zu verstehen. Auf den ersten Blick erinnert dies an die „primordiale Identität“ oder gar an die ethnologische „Isolationsthese“ der Stämme. Allerdings argumentiert die Systemtheorie nicht mit einer kulturellen Tradierung, sondern mit Kodierungen von Systemgrenzen. 93
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Die Schichtzugehörigkeit wird in diesen Gesellschaften über Klassenmerkmale wie Sprache, Kleidung, Bildungszugang etc. markiert. Entscheidend ist dabei, dass die Schichtzugehörigkeiten primordial durch „Geburt, d.h. familien- und personenbezogen vergeben werden“ (Luhmann 1998: 688). Soziale Schichten folgen einer Semantik der „Wohlgeborenheit“, d.h. sie werden als Folge „biologischer“ Ursachen gedeutet.3 Dies hat zur Folge, dass die Schichtzugehörigkeit eine als „natürlich“ definierte Ex- und Inklusionsgrenze im Sinne einer absoluten Entweder/Oder-Relation darstellt. Der Kontakt zwischen den geschichteten Ex- und Inklusionssphären besteht lediglich aus der Arbeitsteilung innerhalb eines „Haushalts“ (ebd.: 695).4 Diese Integrationsform bedeutet für Fremde, dass ihrer Einbeziehung prinzipiell so lange nichts entgegensteht, solange sie mit ihrer ganzen Person Teil des „Haushalts“ werden (Nassehi 1997b: 125). Ihre Integration betrifft sie als „ganze Person“, d.h. sie sind keine Dienstleister mit einem unabhängigen Privatleben, wie in der Moderne. Im Zuge der Moderne verliert diese ganzheitliche „räumliche Integration“ unter Anwesenden an Bedeutung (ebd.: 314).5 An ihre Stelle tritt die dritte Phase der gesellschaftlichen Differenzierung, die funktional ausdifferenzierten Teilsysteme. Die einzelnen Funktionssysteme spezialisieren sich auf bestimmte Problemstellungen wie beispielsweise Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien.6 Die Teilsysteme sind autonom und stehen, wie es bei Luhmann heißt, in einem System/Umwelt-Verhältnis zueinander. Jeder dieser Funktionsbereiche unterscheidet sich semantisch nach einer wechselseitig exklusiven Leitdifferenz, die sich über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien prozessiert (u.a. Luhmann 1998: 119ff, 678ff). Beispielweise gilt 3
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Die historisch stratifizierten Gesellschaften sind aufgrund dieser Schwerpunktsetzung daher nicht mit modernen Klassengesellschaften im Sinne Bourdieus (1987) vergleichbar, da nach Luhmann in modernen Gesellschaften nicht das Geburtsprinzip, sondern die funktionale Differenzierungsform vorherrscht. In einem Haushalt ist der Hausherr allen anderen in der Kernfamilie übergeordnet, ohne dass daraus eine Schichtunterscheidung abgeleitet wird und ohne dass die familienfremden Haushaltsmitglieder (Dienstpersonal etc.) zur gleichen Schicht wie die Hausherrenfamilie gehören. Für die stratifizierten Gesellschaften im Allgemeinen bedeutet dies wiederum, dass sich die Schichtung nicht auf „Individuen“, sondern, so Luhmann, auf „Haushalte bezieht“ (Luhmann 1998: 697). Räumliche Integration bedeutet, „dass die Freiheitsgrade der Systeme, als die Menge der Möglichkeiten, die sie realisieren können, abhängen von der Stelle im Raum, an der sie jeweils operieren, und damit von den jeweils besonderen lokalen Bedingungen. Jede Änderung dieser Bedingungen, jede Bewegung kostet Zeit und nimmt knappe Ressourcen in Anspruch“ (Luhmann 1998: 314). Die Spezialisierung erfolgt nicht über die zunehmende Rollendifferenzierung der Individuen, sondern ist ein selbstemergenter Makroprozess der Sinnselektion, den Luhmann „Autopoiesis“ nennt (u.a. Luhmann 1998: 65ff). Für einen kritischen Überblick zu diesem Theorem vgl. Viskovatoff (1999).
UNIVERSALISIERUNG
für das politische System ausschließlich das Leistungsmerkmal „Gewählt/nicht Gewählt“, während sich das Wissenschaftssystem rein über das Leistungsmerkmal „Wahr/Unwahr“ reguliert. Doch die Autonomie der Teilsysteme heißt nicht, dass sie nicht miteinander interagieren (ebd.: 776f). Der Kontakt zwischen den einzelnen Teilsystemen – die „strukturale Kopplung“ (ebd.: 92-119) – besteht aus wechselseitigen „Irritationen“ der Teilsysteme zueinander (ebd.: 779).7 In den folgenden Abschnitten wird sich auf diesen kommunikationstheoretischen Aspekt mit Blick auf Einwanderungsdiskurse beschränkt.
Die kommunikative Integration der Weltgesellschaft Aus dem systemtheoretischen Ansatz folgt, dass sich nur vormoderne Gesellschaften über die räumliche Unterscheidung von Nähe und Distanz integrieren. Die frühneuzeitlichen Städte waren „Anwesenheitsgesellschaften“ (Schlögl 2004a). Dies ändert sich mit der Moderne. Seit der Erfindung des Buchdrucks integriert sich die Gesellschaft immer weniger über räumliche Nähe, sondern über Kommunikationsprozesse. Die „räumliche Integration“ wurde von „kommunikativer Integration“ abgelöst (Luhmann 1998: 314, Hervorhebung V.R.). Der empirische Ort gesellschaftlicher Integration ist nicht mehr die städtische Piazza, sondern das Mediensystem und die massenmedial vermittelte „öffentliche Meinung“ (ebd.: 314-315). Für eine Soziologie der modernen Gesellschaft bedeutet dieser Wandel, dass das „Verständnis von Kommunikation“ zu einem „Verständnis von Gesellschaft“ wird (ebd.: 299). Die Grenzen der Gesellschaft fallen mit den Grenzen der Kommunikation in eins. Weder das Individuum noch eine ethnische Gemeinschaft oder der Nationalstaat können den methodologischen und theoretischen Ausgangspunkt bilden. Solche Begrenzungen des Forschungsgegenstandes kämen einer unzulässigen Reduktion des Gesellschaftlichen auf einen Teilbereich gleich. Zudem ist eine solche Perspektive einem isolationistischen „dinghaften“ (ebd.: 147) Verständnis von „Völkervielfalt“ verpflichtet (ebd.: 162). Der Gegenstand der soziologischen Analyse sind nicht die „Völker“ oder „Nationen“, sondern das „Sich-ereignen von Welt in der Kommunikation“ (ebd.: 150).
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Wie das Teilsystem selbst sind die Kodierungen nach einem Entweder/OderPrinzip strukturiert. Die unterschiedlichen Kodierungen konstituieren wiederum eine aus der Irritation resultierende jeweilige Spezialbeziehung der Teilsysteme zueinander. So koppeln und irritieren sich „Wirtschaft“ und „Politik“ über das Medium Geld im Sinne von Steuern und Abgaben. Die Ausgabe der Steuern ist eine politische Aufgabe, ohne dass dies im Gegenzug heißt, dass die Effizienz der Steuerausgaben nicht den Marktgesetzen unterliegt. 95
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Ohne hier ins Detail der Luhmannschen Kommunikationstheorie gehen zu können, sei lediglich hervorgehoben, dass sich das systemtheoretische Verständnis von Kommunikation keineswegs auf Sprache und Schrift beschränkt. Luhmann unterscheidet allgemein in einerseits „Verbreitungsmedien“ und „Erfolgsmedien“ andererseits (ebd.: 202-205). Mündliche Sprache, Bücher und Massenmedien sind Verbreitungsmedien, „Geld“ oder „physische Gewalt“ etc. sind Erfolgsmedien. Die Verbreitungsmedien stellen Informationen bereit, die Erfolgsmedien strukturieren Motivationen und Handlungen. Die Erfolgsmedien operieren unabhängig von Staatsgrenzen. Begrenzt werden sie vielmehr von der Reichweite ihres jeweiligen Funktionssystems. Die Funktionssysteme haben seit Beginn der Moderne die Tendenz, sich immer stärker zu globalisieren (ebd.: 171). Die räumliche Ausdehnung eines Funktionszusammenhanges schmälert dabei nicht die Wirkung der Erfolgsmedien. Jeder Preisverfall oder jede Preissteigerung hat prinzipiell Effekte für das gesamte Funktionssystem.8 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass, so Luhmann, das Globale bereits im Lokalen enthalten ist: „Geht man von Kommunikation als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern.“ (ebd.: 171) Die Weltgesellschaft ist in diesem Verständnis nicht auf global operierende Unternehmen, Migranten oder Organisationen begrenzt. Nicht die tatsächlichen, d.h. die räumlich gedachten Institutionen oder Personen sind globalisiert, sondern es sind die strukturierenden, symbolisch generalisierten Erfolgsmedien. Dieser kurze Exkurs genügt, um die systemtheoretische These von der prinzipiellen Deterritorialisierung der Gesellschaft zu plausibilisieren. Da aufgrund der funktionalen Deterritorialisierung des Sozialen dem Raum in der Moderne keine integrierende Bedeutung mehr zukommt, existieren in einem gesellschaftsrelevanten Sinne streng genommen auch keine „Migranten“ mehr. Ob sich eine Person im Raum bewegt oder sesshaft ist, hat für den Kommunikationszusammenhang der Erfolgsmedien keinerlei Bedeutung.9 Bei Migration handelt es sich maximal um eine funktionale räumliche Anpassung an die Systemanforderungen. Migranten würden erst als tatsächliche Ein- oder Auswanderer zu bezeichnen sein, wenn sie den Kommunikationszusammenhang der Erfolgsmedien verließen. Da die Grenzen dieses 8
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Problematisch ist in diesem Zusammenhang der Funktionsbegriff (Joas 1992). Doch hier ist vor allem der kommunikationstheoretische Apekt des Ansatzes wichtig. Tatsächlich beschränkt sich das Thema Migration bei Luhmann auf wenige beiläufige Bemerkungen zu historischen Wanderungsprozessen, denen er keinen eigenen Theoriestatus beimisst (vgl. Luhmann 1998: 797, 807, 1046 und 1055).
UNIVERSALISIERUNG
Kommunikationszusammenhangs mit den Grenzen der Weltgesellschaft identisch sind, dürfte sich die Migrationssoziologie konsequenterweise nur den Außerirdischen widmen.10 Eine identische Irrelevanz gilt konsequenterweise auch für den territorialen Nationalstaat als Garant für eine räumlich begrenzte Integration und gesellschaftliche „Solidarität“ (Durkheim 1999b: 471). Angesichts der globalisierten Funktionssysteme müsste das „Wissen um die wechselseitige Abhängigkeit“ globalisiert sein. Eine globale Solidarität und Identität hätte sich nach dieser These bereits zu Emile Durkheims Lebzeiten realisieren müssen, schließlich waren viele Funktionssysteme Anfang des 20. Jahrhunderts globaler vernetzt als heute (Osterhammel/Petersson 2003). Wenn sich nach wie vor die Empirie diesem theoretischen Schluss verweigert, so ist dies durch die theoretische Unterbestimmung des kollektiven „Wissens“ von der „Abhängigkeit“ geschuldet.11 Die Systemtheorie führt in dieser Frage nach der globalen Integration weiter. Im systemtheoretischen Verständnis wird das „Wissen um die Gesamtgesellschaft“, d.h. um die soziale Realität wie beispielsweise kulturelle Differenzen oder nationale Identitäten, in den Verbreitungsmedien, namentlich im Funktionssystem „Massenmedien“, erzeugt und konstruiert. Anders als im Desintegrationskonzept wird das übergreifende soziale Band – die kollektive Identität – also nicht als Produkt des individuellen Sozialisationsprozesses verstanden, sondern als eine semantische Unterscheidung im Kommunikationszusammenhang der Verbreitungsmedien. Kollektive Deutungsschemata wie „Kultur“ und „Identität“ werden zu einer sozialen Realität erst dann, wenn sie durch Massenmedien aufgenommen, verbreitet und ggf. modifiziert werden. In diesem Sinne heißt es bei Luhmann: „Die strukturellen Kopplungen zwischen den Individuen und der Gesellschaft betreffen die gesamte Realität. Das gilt für alle Gesellschaftsforma10 Diese Polemik soll schlicht auf die methodologische Problematik des Beobachterstandpunkts hinweisen. Wenn ein empirischer Gegenstand aus der raumtheoretischen Beobachterposition des methodologischen Nationalismus entwickelt wird, dann ergeben sich nicht nur andere Fragen, sondern auch andere Gegenstände. 11 Nach Luhmann liegt hier eine Verwechselung von Ursache und Wirkung zugrunde. Für Luhmann ist die Rollendifferenzierung eine Folge und keine Ursache der Systemdifferenzierungen (Luhmann 1998: 597): „Wir schränken den Begriff deshalb auf den Sonderfall der Systemdifferenzierung ein. Damit erschweren wir den leichtgängigen Schluß von Strukturproblemen gesellschaftlicher Differenzierung auf individuelles Verhalten. Das soll selbstverständlich nicht ausschließen, auch von Rollendifferenzierungen oder von differenziertem Geschmack […] zu sprechen. […] Die These der folgenden Untersuchungen ist jedoch, daß andere Differenzierungen sich als Folgen von Systemdifferenzierungen einstellen, also durch Systemdifferenzierungen erklärt werden können.“ (Luhmann 1998: 596-597) 97
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tionen. Die Massenmedien variieren jedoch die strukturellen Bedingungen dieser strukturellen Kopplungen, weil sie sowohl den Bedarf für Schemata als auch deren Angebot verändern.“ (Luhmann 1995: 205) Die Kommunikationsmuster der Massenmedien bilden damit den methodologischen Ausgangspunkt für die Analyse von kollektiv gültigen Kategorisierungen und normativen Deutungsschemata.12 Damit ist aus Sicht der Systemtheorie festzuhalten, dass in der Moderne das Wissen um die wechselseitige Abhängigkeit, d.h. über „die Gesellschaft“, weder räumlich noch organisch, sondern massenmedial vermittelt ist. Im folgenden Abschnitt wird auf die konkreten Konsequenzen dieser These für die Konzepte „Multikulturalismus“ und „Assimilation“ näher eingegangen.
Multi/Kultur als mediale Unterscheidung Der kommunikationstheoretische Ansatz hat entscheidende Konsequenzen für das vorausgesetzte Kulturkonzept einer Gesellschaft. Die Perspektive der Systemtheorie auf die Fragestellung nach kultureller Differenz wird von Nassehi am Beispiel der bundesrepublikanischen Debatte um den Multikulturalismus entwickelt. Die Debatte zeichnet sich dadurch aus, dass Assimilationisten und Multikulturalisten, so kontrovers sie auch immer ihre eigene Position vortragen, einen in identischer Weise territorial verdinglichten Kultur-, Identitätsund Gesellschaftsbegriff voraussetzen (Nassehi 1997a). Die Gegner sehen im multikulturellen Kontakt die Gefahr des Verlustes einer national homogenen Identität, die Befürworter bewerten denselben multikulturellen Kontakt als „Bereicherung“ und „Vielfalt“ der Lebenswelt. Es handelt sich also um zwei Seiten derselben Sichtweise, lediglich die politischen und normativen Bewertungen unterscheiden sich: „Kultur“ und „Identität“ werden als räumlich konstituierte Gegebenheit vorausgesetzt (ebd.: 180-
12 Die diesen Zusammenhang zusammenfassende These Luhmanns lautet bekanntlich, dass unser Wissen von der Welt und der Gesellschaft aus den Massenmedien stammt. Allerdings wird häufig die Fußnote zu dieser Aussage unberücksichtigt gelassen. So heißt es dort: „Das gilt auch für die Soziologen, die ihr Wissen nicht mehr im Herumschlendern und auch nicht mit bloßen Augen und Ohren gewinnen können. Gerade wenn sie die so genannten empirischen Methoden anwenden, wissen sie immer schon, was sie wissen und was sie nicht wissen – aus den Massenmedien.“ (Luhmann 1995: 9, Fußnote 1) Wenn, wie Luhmann hier behauptet, nicht nur die Realität der Gesellschaft, sondern auch die soziologischen Fragestellungen und analytischen Schemata aus dem massenmedial vermittelten Wissen generiert werden, dann muss sich die empirische Soziologie auch dieser strukturellen Voraussetzung stellen und methodologisch die Massenmedien als Forschungsgegenstand und als Forschungsfragen konstituierend in die Analyse einbeziehen. 98
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188).13 Dieser Antagonismus ist mit einem kommunikationstheoretischen Verständnis von Gesellschaft und Kultur überwindbar. „Kultur“ ist als semantische Unterscheidung zu verstehen, mit der etwas bezeichnet wird (hier: „Kultur“) und etwas nicht bezeichnet wird (hier: „Natur“). Kultur kann nicht objektiv als ontologische Realität existieren. Erst wenn in der sozialen Kommunikation etwas als eine „Kultur“ unterschieden und damit implizit von anderen Kulturen abgegrenzt wird, gibt es „Kulturen“. Die „Kultur“ einer sozialen Gruppe ist weder der semantischen Unterscheidung von Kultur/Natur noch von Kultur/Kultur vorgängig. Nassehi verweist in diesem Zusammenhang auf eine analoge Bestimmung von Clifford Geertz, der Kultur „als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen“ fasst (Geertz 1983: 21). Methodologisch formuliert nutzt die Kulturbeschreibung ein System auslegbarer Zeichen, um ein System ausgelegter Zeichen zu beschreiben.14 Entscheidend für den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff ist, dass die „symbolische Konstruktion der Wirklichkeit nicht auf der Ebene des Bewusstseins oder des Unbewussten von Akteuren“ beobachtbar ist (Reckwitz 2005: 98). Vielmehr hat sie ihren sozialen Ort in kommunikativen Unterscheidungen. Die Kulturen werden medial repräsentiert, sie sind nicht aus der Summe der identifikativen Emotionen von Akteuren ableitbar. Dieser bereits erläuterte bedeutungsorientierte Kulturbegriff (vgl. Kapitel 3) wird im Rahmen der Systemtheorie funktional gewendet. Wie andere Formen der Bezeichnung auch, dient die Unterscheidung in Kulturen einer spezifischen Form von Komplexitätsreduktion durch Identitätsbehauptungen. Die Systemtheorie begreift die Funktion von Kulturen demgemäß als „eine besondere Form der gesellschaftlichen Erzeugung von Identitäten und Differenzen, die die Welt dadurch bestimmbar machen, dass Möglichkeitsräume eingeschränkt werden“ (Nassehi 1997a: 188). Diese komplexitätsreduzierende Funktion ist eng an eine kontingenzreduzierende Funktion gekoppelt. Aus vielen potentiellen Unterscheidungen wird eine heraus gegriffen, um die Willkür von Interpretations- und Identifikationsmöglichkeiten zu vermindern. Durch kulturelle Unterscheidungen „werden bestimmte Anschlussformen wahrscheinlicher, und die prinzipielle Un13 Verglichen mit dem im Kapitel 3 vorgestellten Konzept der Identität ist zu konstatieren, dass der Multikulturalismus somit primordiale und traditionale Identitäten verallgemeinert und als unveränderlich und gegeben voraussetzt. Universalistische Identitäten, wie beispielsweise der Islam, geraten völlig aus dem Blick oder werden unter die beiden anderen Identitätsformen subsumiert. Im Vergleich zum Ethnizitätskonzept gedeutet, sitzt der Multikulturalismus damit dem Artefakt der klassischen ethnologischen „Isolationsthese“ auf. 14 Hier steht Luhmanns berühmtes Diktum von der Soziologie als „Beobachtung zweiter Ordnung“ Pate. Soziologie beobachtet und unterscheidet Sinnsysteme, die ihrerseits auf Beobachtungen beruhende Unterscheidungen treffen. 99
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endlichkeit im potentialis wird auf eine strukturgebende Endlichkeit, d.h. Bestimmbarkeit der Welt in realis limitiert“ (ebd.). In der modernen Weltgesellschaft wäre die nationale kulturelle Identität beispielsweise als ein komplexitäts- und kontingenzreduzierender Kompensationsversuch, auf den Zusammenbruch religiöser Unterscheidungen im Zuge der Säkularisierung reagierend, zu verstehen. Die Nationalkultur dient als eine Ersatzreligion. Nationale Kultur oder ethnische Kultur kann also niemals eine sozialtheoretisch allgemeingültige Kategorie sein, sondern bleibt eine kommunikative Unterscheidung der medialen Beobachter. Die Gegner und Befürworter des Multikulturalismus streiten sich daher um des Kaisers neue Kleider. Die Säkularisierung von der „Nationalkultur“, so Nassehi, steht immer noch aus (Nassehi 1997a: 199).15 Die soziologische Teleologie der nationalen identifikativen Assimilation wäre nach dem bisher Gesagten als eine Verwechslung der Theorie mit empirischen historischen Artefakten zu interpretieren. Mit dieser kommunikationstheoretischen Bestimmung von kulturellen Unterscheidungen wird das klassische Assimilations- und Integrationsmodell der Migrationssoziologie fragwürdig. Um die Integration einer Gruppe zu sichern, wird eine arbiträre kontingente Unterscheidung aus vielen möglichen Unterscheidungen unhinterfragt vorausgesetzt. Potentiell ließe sich jederzeit die reale nationale Kultur wieder in eine potentiale Kultur zurückverwandeln, um an dessen Stelle eine andere reale Kultur zu unterscheiden. Die reale Kultur hängt lediglich von der Verstetigung der kommunikativen Unterscheidung ab, sie selbst hat keinen integrativen Mehrwert.16
15 Demgegenüber argumentieren der methodologische Nationalismus und sein multikulturelles Pendant mit einem verdinglichten Kulturbegriff. Dieser Kulturbegriff ist, so Nassehi, einem veralteten Parsonschen Strukturfunktionalismus verpflichtet, „der sich gesellschaftliche Ordnung nicht anders denken konnte als nach dem Modell des Nationalstaats, nämlich integriert durch gesellschaftliche Gemeinschaft und einen gemeinsamen Wertehimmel“ (Nassehi 1997: 193). Indem Parsons die soziale Ordnung an die Kultur des Nationalstaates koppelte, argumentierte er letztlich im Rahmen einer vormodernen räumlichen Gesellschaftstheorie. Zum Zusammenhang von Säkularisierung, Nationalstaat und einem transnationalen Europa vgl. Eder (2002b). 16 Eine solche Definition von Kultur als Komplixitäts- und Kontingenzreduktion erscheint nur auf den ersten Blick mit den Interaktionskosten reduzierenden kulturellen Mustern des methodologischen Individualismus zu konvergieren (vgl. das Kapitel: Individualisierung). Der Fremde wird aufgrund der bewussten oder unbewussten Handlungen der Akteure zu einem Outsider. Bei der kulturellen Funktion von Komplixitäts- und Kontingenzreduktion handelt es sich indes nicht um ein sozialpsychologisches Bewußtstseinsphänomen, sondern um eine kommunikative Unterscheidung. Identitätssemantik dient dazu, Selbst- und Fremdbeschreibungsvarianten zu limitieren. Aus diesen Unterscheidungen leitet sich kein unmittelbares Handlungsbewusstsein ab. 100
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Gleichwohl bleibt die Frage nach Integration vakant. Im folgenden Kapitel wird deshalb das von Seiten der Systemtheorie als Alternative vorgeschlagene Inklusionskonzept diskutiert (vgl. Nassehi 1997a, 1997b; Stichweh 1998).
Inklusion statt Integration Aus einer system- und kommunikationstheoretischen Perspektive vermengt der klassische Assimilations- und Integrationsbegriff analytisch und theoretisch nicht zusammengehörende Anforderungen an die Individuen. Die kollektive Identifikation und kulturelle Anpassung bezieht sich auf eine Integration in die Unterscheidungen der Verbreitungsmedien. Die sozialstrukturellen Kompetenzen beziehen sich demgegenüber auf Integrationen in die Erfolgsmedien. Der methodologische Individualismus verlagert diese völlig unterschiedlichen empirischen Orte in das Individuum. Den Individuen wird damit eine Integrationsleistung abverlangt, die sich mit den Anforderungen einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht vereinbaren lassen. Das vollständig ungeteilte, autonome, in alle Funktionsbereiche integrierte Individuum erinnert an eine romantische Anthropologie der Gegenaufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Um diese fehlleitende holistische Bedeutung des Integrationsbegriffes zu vermeiden, hat Luhmann den Parkschen Inklusionsbegriff aufgegriffen und folgendermaßen neu definiert: „Inklusion“ bedeutet ein „Kommunikationszusammenhang“, in dem „Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden“ (Luhmann 1994: 20; vgl. Nassehi 1997b: 121). Dieser kommunikationstheoretisch gewendete Inklusionsbegriff verdeutlicht unmittelbar, dass die Individuen nicht in allen Funktionssystemen gleichermaßen für „relevant“ gehalten werden können. In einer funktional differenzierten Gesellschaft sind Inklusionen notwendiger Weise an Exklusionen gebunden (unter einem anderen Blickwinkel findet sich dieses Argument bereits bei Georg Simmel und Robert E. Park). Anders als die Integration in den Haushalt der stratifizierten Gesellschaft, bedeutet moderne Erwerbsarbeit nicht, dass die Erwerbstätigen auch moralisch und lebensweltlich in das Unternehmen „integriert“ sind. Ökonomische Inklusion in ein Unternehmen setzt keineswegs die Relevanz der familiären persönlichen oder kulturellen Situation voraus. Vielmehr ist ein spezifisches Maß an Exklusion aus persönlichen Bindungen oder kulturellen Spezifika für die Funktionalität des Teilsystems erforderlich. Exklusion bedeutet nicht mangelhafte Solidarität oder Anomie, sondern eine strukturelle, funktionale und freiheitsermöglichende Notwendigkeit im Sinne von Simmel (vgl. Reckwitz 2001). Inzwischen wurde auf die systemtheoretische Kritik am Assimilationskonzept reagiert. Erwidert wurde, dass ein solches Inklusionskonzept ledig101
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lich migrationssoziologische Teilbereiche abdecke. Dagegen sei das Assimilationskonzept verallgemeinerbarer und umfassender (Esser 1999).17 Gleichwohl ist dies nur umfassender im Rahmen des Nationalstaats, nicht mit Blick auf eine Weltgesellschaft, die die Systemtheorie im Blick hat. Die Individuen sind in mehrere universale Teilsysteme funktional inkludiert ohne in toto assimiliert zu sein. Anders als in der segmentären oder stratifizierten Gemeinschaft stehen sich in einer funktional differenzierten Weltgesellschaft also nicht mehr vollintegrierte Individuen und desintegrierte Individuen gegenüber, sondern die In- und Exklusionsgrenzen schneiden sich im Individuum selbst: „Die moderne Gesellschaft [verlangt] von Personen eine gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft. Während solche Mischexistenzen für vormoderne Gesellschaften nahezu ausgeschlossen waren, bringt die moderne Gesellschaft eine Form der Multiinklusion hervor, weil sie Personen nicht mehr nur einem gesellschaftlichen Teilsystem zuordnen kann.“ (Nassehi 1999: 113)
Übertragen auf das Modell kollektiver Identitäten hieße dies, dass das Eigene nicht mehr vom Anderen abgegrenzt wird, sondern dass das Andere im Eigenen dividiert und partialisiert wird. Um diesen Unterschied auf Seiten der Individuen zu verdeutlichen, schlägt Nassehi einen weiteren Neologismus vor. Anstatt von einem „unteilbaren“ Individuum auszugehen, sollte das „Teilbare“ betont und auf das Präfix „In“ innerhalb des Begriffes „Individuum“ verzichtet werden. In funktional differenzierten Gesellschaften integrieren sich nicht „Individuen“, sondern es inkludieren sich „Dividuen“ (Nassehi 1997b: 125). Die holistische Integration von Individuen existierte nur in den segmentären und stratifizierenden Gemeinschaften. In modernen Gesellschaften bedürfen die Dividuen daher auch keiner organischen Solidarität im Sinne Durkheims18: „Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, daß man einer und nur einer Gruppe angehörte“ (Luhmann 1994: 20; Nassehi 1997b: 124). Allerdings reduziert sich bei Luhmann die Frage nach einer systemtheoretischen Bestimmung von Integration nicht auf diese Bestimmung. So unter17 Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion zu kommentieren. Zu bedenken aber wäre, dass der „weitere Integrationsbegriff“ mit seinen assimilatorischen Imperativen vor allem normativ voraussetzungsreicher ist. Assimilation ist auf eine normative Zielvorstellung von der „richtigen Gesellschaft“ angewiesen, was die Allgemeingültigkeit erheblich einschränkt. 18 Die Begriffe der „strukturalen Kopplung“ und „Autopoiesis“ ersetzen daher auch, so Luhmann, die klassischen Begriffe der Differenzierung und Systemintegration. Es gehe nicht mehr um die Diskussion der Frage nach Differenzierung einerseits und Integration der Teile andererseits, die die klassische Soziologie von Durkheim bis Parsons geprägt hat (Luhmann 1998: 778). 102
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scheidet Luhmann in einem anderen Text in die moralische Integration der Funktionssysteme einerseits und die kommunikative Praxis andererseits. Während für die Inklusion in Funktionssysteme die partiale Dividualität gilt, so gilt für die kommunikative Praxis nach wie vor die Inklusion der „ganzen Person“: „[…] eine in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft muß auf eine moralische Integration verzichten. Aber zugleich behält sie die kommunikative Praxis bei, Menschen durch Konditionierung von Achtung und Mißachtung als ganze Personen anzusprechen. Moralische Inklusion also wie gehabt, aber ohne moralische Integration des Gesellschaftssystems.“ (Luhmann 1990: 25)
Gemäß Luhmann sind die Inklusion von Dividuen in die Funktionsmedien und die Inklusion von Individuen in die Verbreitungsmedien getrennt voneinander zu betrachten. In den Funktionsmedien wird nicht moralisch zwischen „gut und schlecht“ unterschieden. Die moralische Dimension ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Sie ist jedoch nach wie vor in der kommunikativen Praxis der Verbreitungsmedien relevant. Dort werden „ganze Personen“ nach moralischen Kriterien von Achtung und Missachtung und demzufolge auch nach kulturellen Kriterien von dem Eigenen und dem Fremden unterschieden. Auf diese Weise ist die eingangs gestellte Frage beantwortet, warum es in modernen Gesellschaften Migranten „gibt“, obwohl es sie in einer funktional differenzierten Gesellschaft eigentlich nicht geben dürfte. Ihrer Inklusion in die Teilsysteme steht funktional nichts im Wege, sie erzeugen keinerlei Irritation in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Erst durch die kommunikative Praxis der Verbreitungsmedien werden sie als „Migranten“ im Funktionszusammenhang „relevant“.
Migranten in der Systemtheorie Mit Blick auf das zu integrierenden Individuum lassen sich abschließend aus der systemischen Konstellation von In- und Exklusionformen strukturelle Homologien der jeweiligen Migrationsformen ableiten. In der segmentär differenzierten Gesellschaft bedingt die Leitunterscheidung von Innen/Außen, dass Migranten als die klassischen „Fremden“ außerhalb sämtlicher Segmente stehen. Sie treffen auf jeweils spezifisch sakral kodierte und daher unüberwindbare Grenzen. Sämtliche Rituale und das „Denken-wie-üblich“ wären die unbedingten Voraussetzungen ihrer eigentlich nicht vorgesehenen Integration. In einer stratifizierten Gesellschaft können sich die Migranten hingegen im Sinne der „Ausländer“ über Arbeit und eine spezifisch subalterne soziale Position integrieren. Die soziale Grenze ist zwar durchlässiger, allerdings ist 103
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sie an den Verzicht auf den ehemaligen Sozialstatus, auf die Herkunftsmoral und den Herkunftsglauben gebunden. Die Personen zahlen ihre Integration mit dem Verlust autonomer Exklusionssphären. Sie sind vollständig integriert. In der funktional differenzierten Gesellschaft verliert die räumliche Bewegung der Migranten an Relevanz. Ihre Zugehörigkeit bestimmt sich über ihre Teilinklusion in bestimmte Subsysteme. Gleichzeitig wird ihnen ein Exklusionsbereich des „Nicht-Vergesellschaftet-Seins“ zugestanden. Ihre persönliche Herkunft oder Praxis als Migranten ist irrelevant, da sie sich in ihrer Dividualität keineswegs von den Sesshaften unterscheiden. So wie für die Inklusion der sesshaften Dividuen keine Totalassimilation gilt, so gilt dies auch nicht für die Migranten. Sie partizipieren an Teil-Systemen, ohne dass sie sich an sämtliche lebensweltliche und moralische Eigenheiten der Ankunftsgesellschaft anpassen müssten. Allerdings bleibt hier eine Frage offen. So wäre zu klären, ab wann die multiplen Inklusionen nicht mehr für eine Vergesellschaftung der Dividuen ausreichen, d.h., ob eine kritische Grenze der Minimalinklusion bestimmbar wäre. So wie in segmentären Gemeinschaften die Migranten bei mangelnder Totalassimilation ewig Fremde bleiben und in stratifizierten Haushalten sie zumindest eine Arbeit annehmen müssen, um integriert zu sein, so könnte prinzipiell auch die Multiinklusion scheitern. Eine annährende Antwort auf diese Frage findet sich in Luhmanns Konzept der „Totalexkludierten“ in brasilianischen Slums (Luhmann 1994). Die Totalexklusion ergibt sich dann, wenn eine Person in keinem Kommunikationsbereich als relevant erachtet wird. Totalexkludierte existieren für das Funktionssystem nur als bloße räumlich anwesende Körper. Die von Luhmann beschriebenen Totalexkludierten gleichen der Figuration, die Heinz Bude (1998) als „transversale Kategorie“ der „Überflüssigen“ bezeichnet hat.19 In der Moderne wurde, wie erwähnt, die räumliche Integration der Gesellschaft durch die öffentliche Kommunikation abgelöst. Durch ihr Herausfallen aus jeglichen Funktionszusammenhängen ist ihre Relevanz auf ihre bloße räumliche Anwesenheit reduziert. Sie sind nichts anderes als körperlich anwesende „Individuen“. In diesem Sinne bilden die total Exkludierten das strukturell homologe Individualkonzept der funktional differenzierten Gesellschaft. Das Dividuum wird zu einem funktional entdifferenzierten, körperlich anwesenden Individuum, weil es in allen Kommunikationsmedien für irrelevant erachtet wird.
19 „Überflüssige“ existieren keineswegs nur in den Slums der Dritten Welt. Dies ist ein Konzept, dass auf den von Offe (1994) entwickelten Begriff des „modernen Barbaren“ zurückgeht (vgl. ausführlicher: Rauer 2004a). Die Kategorie der Überflüssigen unterscheidet sich von den klassischen Armen durch ihre symbolische Verkörperung totaler Funktionslosigkeit. 104
UNIVERSALISIERUNG
Migranten werden schnell als total Exkludierte oder Überflüssige wahrgenommen. In der Regel gelten nur die Funktionsträger, wie die Gastarbeiter oder IT-Experten als relevant. Sie sind in ein Subsystem teilinkludiert und werden im Rahmen dieser Funktion als „Arbeiter“ oder „Experte“ kategorisiert. Daher ist die Wahrscheinlichkeit im Falle des Arbeitsplatzverlustes für die Migranten in den Status des Total-Exkludierten oder „Überflüssigen“ zu geraten besonders hoch. Doch diese Form der Exklusion gilt nur für die Funktionsmedien. In den Verbreitungsmedien gilt eine andere Logik. Wie erwähnt wird in den Verbreitungsmedien moralische Integration weiterhin mit Blick auf die „ganze Person“ als Individuum oder auf die „ganze Gesellschaft“ als Nation thematisiert. Die Verbreitungsmedien übernehmen also nicht die Logik der Funktionsmedien und der Dividuen, sondern sie repräsentieren weiterhin in der Logik der Individuen und kulturellen Identitäten. Wenn Migranten in diesen Verbreitungsmedien thematisiert werden, dann entweder als funktionale Kategorie im Sinne ihrer Funktion, d.h. als „Gastarbeiter“ oder „IT-Experte“. Wenn sie jedoch länger in einem Land leben und dort, wie alle anderen auch, keine spezifische Funktion mehr ausüben, dann werden sie zur bloßen „ethnischen Gruppe“. Ethnische Gruppen sind aus Sicht einer nationalen Kultur „überflüssig“. Migranten sind nur als Funktionsträger „relevant“, nicht als Ethnie. Sobald Migranten keine spezifische Funktionslücke mehr ausfüllen, werden sie für die nationalen Verbreitungsmedien irrelevant und fortan als symbolisch „Überflüssige“, d.h. als ethnische Minderheit repräsentiert.20 Wenn in den Verbreitungsmedien die Exklusion der Migranten in ihrer Irrelevanz gründet, dann stehen ihnen prinzipiell nur zwei Möglichkeiten, sich in der öffentlichen Kommunikation Relevanz zu verschaffen, offen, die eigentlich keine Möglichkeiten sind: entweder über selbstexkludierende Devianz (Terrorismus etc.) oder als selbstethnisierter kollektiver Akteur und ein symbolisches othering in der Öffentlichkeit.21 Im Falle von Devianz droht Total-Exklusion
20 In der Systemtheorie wird die soziale Ordnung der modernen Gesellschaft nicht als sakral, sondern als funktional konzipiert. Wie erläutert, dient Sakralität und Identität der Vorstellung von Beständigkeit der sozialen Ordnung, sie sind nicht die Beständigkeit selbst (vgl. das Kapitel: Nationalisierung). Übertragen auf den bedeutungsorientierten Kulturbegriff der Systemtheorie würde dies bedeuten, dass die Funktionalität einer Gesellschaft nicht die Funktion der Gesellschaft selbst ist, sondern der Vorstellung von ihrer funktional gesicherten Ordnung dient. Im Rahmen der sakralisierten sozialen Ordnung ist das Andere der Ordnung das Dämonische, Inkommensurable oder das Kontingente. Im Rahmen der funktionalisierten sozialen Ordnung ist das Andere also das „für irrelevant Gehaltene“, d.h. das Inkommunikable und „Überflüssige“. 21 An dieser Stelle ist es problematisch, dass die systemtheoretische Perspektive kollektive Akteure als des „Kaisers neue Kleider“ missachtet (Eder 1999a). Vgl. 105
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
durch Abbruch der Kommunikation. Als kollektiv kommunizierender Akteur besteht hingegen zumindest die Möglichkeit an der jeweiligen Bestimmung der multiplen In- und Exklusionsformen kommunikativ zu partizipieren und zu modifizieren. Die Gründung ethnischer Verbände ist so gesehen auch systemtheoretisch als der Ausweg aus dem Ethnisierungsparadox zu begreifen. Die mediale Öffentlichkeit bildet daher den zentralen kommunikativen Ort, an dem eine real existierende Kultur durch eine bis dato nur potentiell existierende Kultur kommunikativ de-realisiert werden könnte. Einfacher ausgedrückt: In den Massenmedien werden die in- und exklusiven ethnisierenden Grenzen gezogen, weshalb sie sich in den Massenmedien potentiell auch neu und anders konstruieren lassen.22 Zusammenfassend findet sich in der Systemtheorie zunächst eine universalisierende Perspektive auf Alter, die dessen radikales Ent-othering bedeutet. Das systemtheoretische Dividuum ist auf eine Simultanität von inklusivem Ego und exklusivem Alter angewiesen, um den Anforderungen der differenzierten Funktionssysteme gerecht werden zu können. Die kommunikationstheoretisch gefasste Unterscheidung in inklusive Relevanz und exklusive Irrelevanz schärft den Blick für die Seiten des Einzelnen, die, mit Simmel gesprochen, nicht Element der Gesellschaft sind und damit die Bedingung für die Art seines Vergesellschaftet-Seins bilden. Das Nicht-Vergesellschaftet-Sein ist nicht der andere Fremde, den es in Ego zu transformieren gelte, sondern es ist ein konstitutiver Teil Egos. Im Rahmen der Systemtheorie geraten also die Bedingungen für die Kommunikation und Konstruktion von universalen Grenzziehungen in den Blick. Damit ergänzt sie perspektivisch das Ethnizitätskonzept, das die objektivierten Bedingungen der Kommunikationsteilnehmer in diesem Grenzziehungsprozess betont. Die Bedingungen der Kommunikation über globale Grenzziehungen ist an die Relevanz geknüpft, die ihnen in den öffentlichen Verbreitungsmedien zugerechnet wird. Kulturelle Differenz, kollektive Identität oder die Zugehörigkeitsbedingungen von Migranten in einem Nationalstaat werden als Kodierungen in den Massenmedien vermittelt. Die Unterscheidung in Ego und Alter wird in modernen funktional differenzierten Gesellschaften erst durch die massenmediale Vermittlung zur allgemein gültigen sozialen Realität. Das bedeutungsorientierte Identitäts- und Kulturkonzept ist nicht essentiell zu verstehen, sondern als Folge von Kontingenzreduktionen zu begreifen. zum Zusammenhang von sozialem Gedächtnis und Medien Assmann/Assmann (1994). 22 Auch bei Nassehi wird die „Öffentlichkeit“ aus Mangel an „anderen Alternativen“, als einzige, wenn auch „altmodische Dimension“ genannt (Nassehi 1999: 240). 106
UNIVERSALISIERUNG
Die reale kulturelle Bestimmung wird aus potentialen Bestimmungen kommunikativ unterschieden und lässt sich daher kommunikativ auch „anders unterscheiden“. Deshalb bilden die Massenmedien aus einer systemtheoretischen Perspektive den bevorzugten Ort der empirischen Analyse von Einwanderungsgesellschaften. Migranten sind als Dividuen in den Funktionsmedien irrelevant, in den Verbreitungsmedien werden sie jedoch als „das Andere“ weiterhin kommunikativ kategorisiert. Die Integration über den Raum, die nach Luhmann mit der Erfindung des Buchdrucks endete, hat nach wie vor als symbolische Repräsentation in Gestalt des Nationalstaates und seiner Überschreitungspraxen eine große Bedeutung. Dass räumliche Integration den Anforderungen der Funktionssysteme widerspricht, ändert nichts an der Bedeutung des Raumes für die öffentliche Kommunikation in den Verbreitungsmedien. Abschließend wird ein weiterer universalisierender Ansatz diskutiert, der diese raumtheoretische Beobachtungsposition in den Mittelpunkt der Überlegung rückt: der Transnationalismus.
Raum: Transnationalität statt H e r - u n d An k u n f t s g e s e l l s c h a f t „All the human associations which it is worth while for sociologists to study at present scale up to or down from states. Not ignoring international and transnational associations, we find it probable that most progress will be made toward ultimate comprehension of the larger whole be limiting investigations pretty closely for a while to these grand divisions of the whole.“ (Albion Small 1901: 528)
Bisweilen dauert eine „Weile“ neunzig Jahre. Die „großen Teile des Ganzen“ – die Nationalstaaten – bildeten in jenen zurückliegenden Jahrzehnten den privilegierten Gegenstand und Bezugspunkt der Forschung. Allerdings erwiesen sie sich empirisch auch als faszinierende Integrationsmaschinen, in deren Namen immerhin gearbeitet, berentet, umverteilt, gekämpft, gestorben und gemordet wurde. Einem zentraleren empirischen Objekt konnte sich die Soziologie wohl kaum zuwenden. Erst in den letzten Jahrzehnten hegt sich der Verdacht, dass nicht alles an dieser Integrationsmaschine mit der inneren Mechanik der Maschine selbst erschöpfend erklärt werden kann. Seither richtet sich der Blick vermehrt auf die Unterscheidungen, sozusagen auf die „divisions of these grand divisions“ selbst. In den Blick gerieten zunehmend Phänomene, die aufgrund ihrer kategorialen Ortlosigkeit mit dem liminalen Präfix „trans-“ belegt wurden. In einer Definition von Aihwa Ong heißt es dementsprechend: „Das Präfix trans bezeichnet Bewegungen über einen Raum und über Grenzen hinweg sowie 107
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die Veränderung des Charakters einer Sache“ (Ong 2005: 11). Begriffe wie die des „Transnationalen“, des „Transstaatlichen“, des „Translokalen“ oder des „Transmigranten“ richten den methodologischen Blick auf die objektivierten Strukturen des Dazwischens, des Hier-Wie-Dort und des Sowohl-AlsAuch. Zum Forschungsgegenstand wird das, was sich zunächst weder dem einen noch dem anderen der „großen Teile“ eindeutig zurechnen lässt. Oder um es systemtheoretisch zu formulieren, der Blick richtet sich auf das bisher Nichtkommunizierte, d.h. auf das, was durch die Maschen der großen komplexitätsund kontingenzreduzierenden Bedeutungsnetze der nationalen Kulturen fiel. Um diese Blickverschiebung vorzunehmen muss die Beobachterposition, wie in der Systemtheorie, universalisierend vorgehen. Die Grenzen der Gesellschaftsanalyse dürfen nicht mit den Grenzen der Nationalstaaten zusammenfallen. Im Gegensatz zu dem Präfix „post“ in „postmodern“ oder „postnational“ wechselt der Begriff des Transnationalen von einer zeitlichen zu einer räumlichen Theoriekonzeption. Im Allgemeinen wird nach Netzwerken, kollektiven Akteuren, öffentlich kommunizierten Bedeutungen, symbolischen Repräsentationen und Identitäten gefragt, die die nationalstaatlichen Grenzen dauerhaft überschreiten. Transnational besagt also nicht, dass den Nationalstaaten fortan keine theoretische oder empirische Bedeutung zukäme. Vielmehr stellen die Ansätze neue Fragen an die Grenzen der Institutionalisierung von Sozialität. Im Zuge der methodologischen Nationalisierung hatte sich die empirische Sozialforschung daran gewöhnt, dass ihre Forschungsgegenstände „sesshaft“ sind und sich einer jeweiligen Institution oder einem empirischen „Feld“ zuordnen und dort beobachten lassen. Dies gilt letztlich auch für die eindeutig zu bestimmenden Grenzen der funktionalen Differenzierung in der Systemtheorie. Demgegenüber sind die Ansätze zum Transnationalismus einem interpretatorischen Kulturkonzept verpflichtet (u.a. Faist 2000d: 215; Werbner 1999). Im Kontrast zu den klassischen Ansätzen „torpedieren“, so Andreas Reckwitz, kulturelle Perspektiven die „Logik der Grenzerhaltung durch den Verweis auf eine Logik von Grenzüberschreitung“. Sie wenden sich den Akteuren und Subjektpositionen zu und lenken den Blick auf „den konflikthaften, uneinheitlichen Charakter der Moderne angesichts verschiedener kultureller, historischer, klassenspezifischer und geographischer Logiken“ (Reckwitz 2004: 215-216). Die Institution des Nationalstaats fällt damit unter eine von vielen untersuchenswerte geographische Logik. Anstatt von einer singulären, national bzw. funktional differenzierten Moderne gehen transnationale Ansät-
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UNIVERSALISIERUNG
ze von „multiplen Modernen“23 aus (Eisenstadt 2000; Randeria 1999; Salvatore/Amir-Moazami 2002; Hannerz 2005).
Begriffliche Abgrenzungen Unter der Bezeichnung „transnational studies“ wird ein disparates theoretisches und empirisches Forschungsfeld subsumiert. Dies erfordert vorab eine begriffliche Präzisierung. Zunächst ist auf die spezifische Bedeutung von Transnationalisierung in Abgrenzung zu auf den ersten Blick synonym erscheinenden Begriffen wie Globalisierung, Internationalisierung und Diaspora hinzuweisen.24 Laut Hannerz (1998: 236-237) unterscheidet sich „Transnationalisierung“ von dem Konzept „Globalisierung“ aufgrund der jeweils beobachteten räumlichen Reichweite. Der Begriff „Globalisierung“ wird auf weltumspannende oder zumindest „transkontinentale Prozesse“ angewendet, während mit „Transnationalisierung“ auch Relationen von räumlich geringerer Reichweite, wie beispielsweise bi-nationale Beziehungen, bezeichnet werden. Transnationale Beziehungen sind räumlich universal, d.h., sie können global oder transkontinental sein, müssen es aber nicht. Von „internationalen“ Beziehungen unterscheiden sich „transnationale“ Beziehungen durch die Hinwendung zu anderen Akteursgruppen. Die internationale Perspektive nimmt Nationalstaaten und deren Regierungen in den Blick, die transnationale Perspektive beschreibt sämtliche grenzüberschreitenden Akteure und sozialen Handlungen oberhalb oder unterhalb der staatli-
23 Eisenstadt definiert diese Annahme wie folgt: „The idea of multiple modernities presumes that the best way to understand the contemporary cultural world – indeed to explain the history of modernity – is to see it as a story of continual constitution and reconstition of a multiplicity of cultural programs.“ (Eisenstadt 2000: 2) 24 Auf die Darstellung anderer Forschungsfelder innerhalb des transnationalen Paradigmas muss hier verzichtet werden. Laut Hannerz (1998: 239-240) lassen sich innerhalb des transnationalen Paradigmas neun verschiedene Forschungsperspektiven unterscheiden: 1. der transnationale Einfluss auf Gemeinschaften, 2. die transnationale Bewegung von kulturellen Objekten und Gütern, 3. transnationale Organisationen und Unternehmen, 4. transnationaler Tourismus, 5. Diasporas, 6. Border Studies, 7. Translocalities (World Cities, World Fairs), 8. transnationale Medien sowie Cyberspace und 9. transnationale soziale Räume bzw. Transmigranten. Für die hier relevante Fragestellung sind in erster Linie nur die Genres 8. (Medien) und 9. (Migranten) wichtig. Ein transnationales Genre bleibt bei Hannerz unerwähnt: Die großen monotheistischen Religionen wie Christentum und Islam. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass der Text aus dem Jahre 1997 stammt. Seit dem Jahr 2001 hat sich hier Forschung wie beispielsweise zu „Muslim Networks and Transnational Communities“ (Allievi 2003) etabliert. 109
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chen Institutionen. Untersucht werden „Verflechtungen“25 von u.a. migrierenden Individuen, Netzwerken und kulturellen Objekten sowie grenzüberschreitend organisierte Unternehmen, ethnische Assoziationen und Medien etc. (ebd.: 237). Schließlich unterscheidet sich Transnationalität vom Begriff der „Diaspora“ – auch wenn viele Autoren beide Konzepte synonym verwenden.26 Statt jedes transnationale Netzwerk als Diaspora zu bezeichnen, sollte, so Ulf Hannerz, der Begriff auf eine „traumatisch“ bedingte kollektive Erinnerung an das Herkunftsland beschränkt bleiben (Hannerz 1998: 241). Dies ist beispielsweise in der jüdischen und armenischen Diaspora der Fall, in denen sich andere, davon zu differenzierende (Re-)ethnisierungsprozesse ergeben.27 Wenn sämtliche transnationale Felder als Diaspora bezeichnet oder miteinander verglichen werden, führt dies zu konzeptuellen Missverständnissen. Im Gegensatz zur Diaspora sind transnationale soziale Felder weder durch einen historischen Ausnahmezustand im Herkunftsland bedingt noch notwendigerweise durch eine ausgeprägte gemeinsame kollektive Erinnerung gekennzeichnet28: „Transnational communities are arguably a broader term than diaspora and have less historical baggage making the term more applicable to the new way of looking at migrants“ (Oestergaard-Nielsen 2003: 15). Falls sich aus den bestehenden Netzwerken im Laufe der Zeit traditionelle, über expressive Vergangenheitsbezüge konstituierende Gemeinschaften ausbilden, so wird bisweilen auch von „Neuer Diaspora“ gesprochen (Moosmüller 2002). 25 Zu den Begriffen der „Verflechtung“ und der „verwobenen Moderne“ vgl. Randeria (1999), Werner/Zimmermann (2002), für den Bereich Migration und „verwobene Geschichte“ Juneja-Huneke (2004). Der Begriff der translokalen Verwobenheit bezeichnet eine Umkehr bisheriger Kausalitätsannahmen: „Historische Strukturierungen und Ereignisse werden zunächst nicht als Voraussetzung, sondern vielmehr als Ergebnis der […] räumlichen Bewegungen betrachtet. Translokalität wird also relational, nicht absolut, verstanden und betont die Grenzüberschreitung, die daraus entstehenden Spannungen und deren Ergebnisse.“ (Freitag/Oppen 2005). 26 So schreibt beispielsweise Berking über eine „indische Diaspora“, die „von Sydney bis Silicon Valley“ reicht, und setzt diese mit der „jüdischen Diaspora“ in den USA gleich (Berking 2003: 254). 27 Gleichwohl ist die Sichtweise eines kulturellen Traumas standpunktabhängig. So wird beispielsweise von Hall und Gilroy eine traumatische postkoloniale afrikanische „schwarze Diaspora“ thematisiert. Dabei handelt es sich um eine „historische Rekonstruktion des Atlantik als eines Raums der Bewegung, der Vernetzung und komplexer Subordinationsstrukturen“ (Ong 2005: 22-23). Für die familiäre, netzwerkartige „chinesische Diaspora“ gilt eine solche traumatische Diaspora-Identität wiederum nicht (ebd.: 23). Die Grenzen sind fließend. 28 So zeigt Bodemann, dass die deutschen Juden aufgrund ihrer besonderen Geschichte eine völlig andere Diaspora-Identität ausbilden als die amerikanischen Juden (Bodemann 2005: 52-54). Dies verdeutlicht, dass Barths Ansatz der Konstruktion von „Ethnizität und der damit einhergehenden These einer globalen Homogenisierung sowie Becks Kosmopolitismus“ nicht zutrifft (ebd.: 50). 110
UNIVERSALISIERUNG
Transnationale Felder sind also auch in diesem dritten Sinne ein universaleres Konzept. Nicht alles, was als transnational definiert und ausgerufen wird, ist ein neuartiges oder bisher unerforschtes soziales Phänomen. Eine der klarsten Begriffsdefinitionen von „Transnationalität“ wurde beispielsweise bereits im Jahre 1931 formuliert: „We talk of British, French or German trade, but properly speaking it does not exist. There is not such company as John Bull Ltd.; France is not a ,Société Anonyme‘ doing business. What happens is something like this: An Argentine farmer sells beef to Great Britain and with the proceeds he takes a trip to Europe in a British ship with his wife and family. His wife buys dresses in Paris. The money so received is spent on petrol from Mexico, an electrical motor in Essen, coffee from Brazil, or paying the interest in debentures of the British railway in Argentina. Is this French, German, Brazilian or Mexican trade? If we were as careful as we might be in terms, we should not speak of international trade, but of transnational trade.“ (Angell 1931: 79)
Diese Begriffsdefinition ist hier zwar auf ökonomische Prozesse des Handels beschränkt, entscheidend ist jedoch, dass eine reifizierende Perspektive auf Nationen – „France doing business“ – zugunsten eines Verflechtungsansatzes und translokaler Verwobenheit verabschiedet wird. Das Transnationale ergibt sich aus einem Beziehungsnetz zwischen dem mexikanischen Benzin und dem Elektromotor aus Essen, da beide Güter mit in Argentinien verdientem Geld, das in Paris ausgegeben und eingenommen wurde, bezahlt werden. Der Begriff des Transnationalen ist also keineswegs ein historisches Novum, er wurde lediglich für lange Zeit in der Migrationsforschung ignoriert.29 29 Weder „Globalisierung“ noch „Transnationalisierung“ sind historisch neue Phänomene. Die Nationalisierung Europas setzte in der Frühen Neuzeit ein. Des Weiteren insistieren Historiker, dass Globalisierung eine lange Geschichte hat, die bis in die Antike zurückreicht und in Phasen verlief (Albrow 1998; Torpey 2000; Osterhammel 2001; Wirz 2001 sowie die Beiträge in: Kaelble et al. 2002). Im Sinne einer Periodisierung wird vorgeschlagen, verschiedene Ebenen der Globalisierung zu unterscheiden (Osterhammel/Petersson 2003): Die ökonomische Globalisierung besteht nicht aus dem Fernhandel, sondern aus der zunehmenden Autonomie der Wirtschaft gegenüber den Nationalstaaten. Wenn man unter Globalisierung eine narrative Selbstbeschreibung versteht, dann findet sie sich spätestens im antiken Rom oder im konfuzianistischen „Reich der Mitte“ Chinas. Wenn man hingegen streng räumlich geographisch argumentiert, dann beginnt die Globalisierung mit der ersten nautischen Erdumrundung. Würde man hingegen Globalisierung phänomenologisch visuell fassen, wäre der erste Blick aus dem Weltall, d.h. die Raumfahrt, als Beginn der Globalisierung anzusehen (Dahrendorf 1998). Randeria (1999) argumentiert am Beispiel Großbritanniens und Indiens, dass die nationalstaatliche Identität durch globale Verflechtung entstand. In der Kulturgeographie wird Globalisierung hingegen interdependent bestimmt: Die Beobachtung ist, dass sich auf Seiten der globalisierten 111
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Solange diese transnationalen Zusammenhänge auf das System der Ökonomie bezogen sind, unterscheiden sie sich allerdings kaum von Luhmanns funktional differenzierter Weltgesellschaft und dem Erfolgsmedium „Geld“. Wie erwähnt, ist nach Luhmann in jedem einzelnen lokalen Kaufakt grundsätzlich „Weltgesellschaft“ enthalten. Schwieriger wird es, wenn diese Idee der „Verflechtung“ auf „Menschen“, d.h. auf individuelle oder kollektive Akteure und deren identitäre kulturelle Bedeutungssysteme und auf die Verbreitungsmedien angewendet wird. Hier wird die „moralische Integration der ganzen Person“ in Frage gestellt (vgl. das Kapitel 3: Unterkapitel System). Um diese Frage geht es in den im folgenden Unterkapitel vorgestellten Konzepten.
Transnationale soziale Räume Wenn in aktuellen Forschungsübersichten zum „transnational turn“ (Luethi 2005) von den Anfängen des neuen migrationssoziologischen Paradigmas die Rede ist, dann wird zumeist auf einen anthropologischen Text von Nina Glick Schiller et al. aus dem Jahre 1991 verwiesen (Pries 1996). Der Text beruht auf den Ergebnissen mehrerer ethnographischer Studien zu Einwanderercommunities in New York. Vermutlich bedurfte es eines ethnographischen Blicks auf eine world city, um transnationale Strukturen zu entdecken. So sahen sich die Autorinnen bei ihrer Feldforschung mit dem Problem konfrontiert, dass ihre New Yorker Informanten während des Untersuchungszeitraums häufig in ihren Herkunftsländern weilten und dass politische Akteure aus den Herkunftsländern aktiv mit den Assoziationen in New York kooperierten. Zu beobachten war ein „soziales Feld“, dessen Ausdehnung weder auf New York noch die Vereinigten Staaten beschränkt war, sondern die jeweiligen Herkunftsländer mit umfasste. Dabei war häufig nicht zu bestimmen, wer von den Akteuren ein Migrant, ein Pendler oder Geschäftsmann war und wer sich für welches Land wie politisch, wie ökonomisch einsetzte (ebd.: 2-5). Die Akteure dieses sozialen Feldes waren häufig in beide Länder „integriert“ und identifizierten sich mit den Problemen beider Länder (Glick Schiller et al. 1991: 2-4): „The same individual may attend a meeting of U.S. citizens of the same ‚ethnic group‘, be called as a New Yorker to speak to the Mayor of New York about the development of ‚our city‘, and the next week go ‚back home‘ to Haiti, St. Vincent, or the Philippines and speak as a committed nationalist about the development of ‚our nation‘. A migrant may pray in a multi-ethnic congregation that identifies itself as a common community in Christ, attend rallies for racial empowerment that emphasize Ökonomie absolute Wahlfreiheit des Standortes und auf Seiten der Staaten absolute Standortabhängigkeit wechselseitig akkumulieren (Scholz 2004). 112
UNIVERSALISIERUNG
Black or Asian identities, and dance at a New Year’s Eve ball organized for member of the migrant’s ‚own‘ ethnic community. This same person may swear allegiance to his or her fellow workers at a union meeting in the United States while sending money back home to buy property and become a landlord.“ (Glick Schiller et al. 1991: 2-4)
Diese Passage ähnelt dem oben zitierten Plädoyer aus dem Jahre 1931 – der Unterschied besteht einzig darin, dass es sich hier nicht um Güterverkehr, sondern um soziale Akteure handelt. Ebenso unzutreffend wie der Begriff „internationaler Handel“ wäre nach dieser Logik die Bezeichnung „internationale Migration“.30 Glick Schiller et al. argumentieren, dass das Bild vom Migranten als Entwurzelten, Zerrissenen, der sich mühsam eine neue Kultur erarbeiten müsse, auf große Teile der aktuellen Einwanderungspopulationen nicht mehr zutrifft. Stattdessen entsteht eine neue migrierende Gruppe, deren Netzwerke, Handlungen und strukturelle Einbindungen die „Heimatgesellschaft und gastgebende Gesellschaft umfasst“ (ebd.: 1). Die Migranten lösen sich weder von der Herkunftskultur, noch stehen sie als kognitiv und kulturell „Fremde“ der Ankunftskultur gegenüber. Vielmehr „schneidet“ ihre Lebenswelt die nationalen Grenzen und verbindet beide Gesellschaften miteinander. Die Dichotomie zwischen Ein- und Auswanderern bzw. zwischen Ein- und Auswanderungsland erodiert zugunsten eines dritten sozialen Feldes. Diese neue Situation wird mit den Neologismen des „transnationalism“ – und des „transmigrant“ bezeichnet (ebd.). Seit dieser programmatischen Pilotstudie haben sich inzwischen drei konzeptionelle Neuorientierungen herauskristallisiert: 1. eine zunehmende Dissoziation der Grenzen der Gemeinschaften von den Grenzen ihrer kulturellen Bedeutungsnetze; 2. die Multiplikation und Dezentralisierung von Orten der sozialen Integration und Inklusion und 3. die Gleichzeitigkeit und Überlagerung von Situationen, in denen sich eine Gruppe als ethnische Minderheit und als nationale Mehrheit konstituiert. Die These von der Dissoziation zwischen Gemeinschaftsgrenzen und Kulturgrenzen (1) wurde von Arjun Appadurai formuliert. Appadurai entwickelte den Begriff der transnationalen „ethnoscapes“ und „mediascapes“ im Sinne einer dyslokalen transnationalen imagined community. Die These besagt, dass durch die medial verbreiteten Vorstellungen eine zunehmende Disbalance zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont besteht. Ein alternatives Leben kann in den entlegensten Winkeln der Erde tagtäglich über Verbreitungsmedien imaginiert werden. Die ehemals territoriale Übereinstimmung 30 Wer „Nationen“ als distinkte, strukturelle Einheiten vergleicht, erhält als Resultat selbstverständlich wieder „die Nation“. Auf diese latente „Ahistorizität“ wird immer wieder hingewiesen (Tilly 2002). 113
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zwischen dem lebensweltlichen Erfahrungsraum einerseits und den diese Erfahrungen transzendierenden Bedeutungsnetzen, den mythischen Erzählungen und Riten andererseits, besteht nicht mehr. Das von den Metropolen weit abgeschiedene Leben kann durch den Vergleich mit den weltweit verfügbaren medialen Vorstellungswelten eines „anderen Lebens“ als ein kontingentes, d.h. nicht schicksalshaftes Leben erfahren werden.31 Die bei Benedict Anderson noch an das lesende Publikum adressierte imagined community wird durch die elektronischen Bildmedien zu einer die Sprachgrenzen überschreitenden „visual community“. Zu beobachten ist die Gleichzeitigkeit und die Überlagerung von lokalen Gemeinschaftspraktiken und globalen kulturellen Bedeutungssystemen (Kearney 1995). Im Zuge dieses „enlargement of meaning“ (Aksoy/Robins 2003) wird auch klassische Differenz zwischen Zentrum und Peripherie zunehmend miteinander „verwoben“ (Bhabha 1996; Faist 2000c: 376). Durch die transnationale Dissoziation des „kognitiven Raumes“ in einen „awareness space“ und einen „action space“ (Pries 2001: 29-30) entstehen neu verknüpfte kulturelle Bedeutungsnetze, die jeweils lokal auf spezifische Weise adaptiert werden. Immer wieder wird insistiert, dass dieser Prozess keinesfalls zu einer kulturellen globalen Homogenisierung führt (Soysal 2001). Nicht die Vereinheitlichung, sondern die „Kreolisierung“ (Hannerz 1992, 2005: 467-473) oder der „Synkretismus“ (Faist 2000d: 214-217), um nur einige Begriffe dieser pluralen Konzepte zu nennen,32 sind das Resultat der Ausweitung kultureller Bedeutungsnetze. Entscheidend für diese räumliche Extension kultureller Bedeutungsnetze ist, dass sie bereits in den Herkunftsländern, d.h. bereits vor der potentiellen Migration der Individuen angeeignet werden. Damit ist nicht nur die klare dichotome Unterscheidung zwischen Her- und Ankunftskultur der Migranten nicht mehr zeitgemäß, sondern auch das Konzept des kulturellen Fremden muss neu überdacht werden, zumal, so eine aktuelle Survey-Studie, die Transnationalisierung der Lebenswelt zunehmend auch die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft betrifft (Mau 2007). 31 Darüber hinaus ergänzt Hannerz, dass diese global verfügbaren Imaginationen nicht nur für positive „Alternativen“ der Lebensführung gelten, sondern auch für negative wie „scenes of disaster, war, and suffering“ (Hannerz 1998: 245). Die Erfahrungshorizonte negativer Transzendenz sind global verfügbar und formen somit den Erwartungshorizont der Individuen. Seit dem Jahr 2001 ist auch für Hannerz der rein kulturelle Begriff des Kosmopoliten, wie er es selbst zuvor entwickelt hatte, um den Aspekt „kreativer Politik“ zu erweitern (Hannerz 2005: 479-481). 32 Die Begriffe „hybridity, collage, melange, hotchpotch, synergy, bricolage, masitcate, mineralization, syncretism, transculturation, third cultures“ (Hannerz 2005: 470) betonen, dass Globalisierung nicht zu einer kulturellen Homogenisierung, sondern zu einer jeweils lokal spezifischen Form der Aneignung führt. 114
UNIVERSALISIERUNG
Diese Prozesse der Kreolisierung und des enlargements of meaning haben Konsequenzen für die migrationssoziologische Assimilations- und Integrationstheorie (2).33 Das Herkunftsland lässt sich nicht mehr als Ort kultureller Rückorientierung tradierter Identitäten interpretieren (Pries 1997). Die Auffassung von Assimilation, die mit einer sozialstrukturellen Vertikalmobilität beginnt und mit der „Identifikation mit dem Ankunftsland“ endet, entspricht nicht den empirisch zu beobachtenden sozialen Beziehungen der Migranten (Wimmer 2002: 12-16). Vielmehr zeigen die empirischen Untersuchungen, dass die Frage nach sozialer Integration eng an die spezifische Geschichte der jeweiligen Migrationsnetzwerke gebunden ist (Portes 1995; Fassmann 2002). Des Weiteren ist nicht die Nationszugehörigkeit, sondern die zeitliche und räumliche Beschaffenheit einer Ankunfts- und Herkunftsgruppe für die soziale Integration ausschlaggebend.34 Zu Beginn der Auswanderungsgeschichte einer community migrieren eher Angehörige der mittleren Schichten, da sie den finanziellen Aufwand besser abfedern können. Aufgrund der Beziehungen, d.h. des Sozialkapitals der ersten Einwanderer zu ihrer Herkunftsgemeinde und zu Nicht-Eingewanderten in der Ankunftsregion verringern sich der ökonomische Aufwand und das Risiko für die Nachziehenden. Deshalb entschließen sich in einer späteren Phase auch subalternere Schichten zur Auswanderung, und zwar wandern sie in dieselben Regionen und ökonomischen Nischen wie ihre Vorgänger. Der Anreiz besteht in der raschen Integrationsmöglichkeit in die bereits bestehenden Strukturen. Dies führt zu lokalspezifischen Akkumulationen und zur Verstetigung von Aus- und Einwanderungsgemeinschaften (Durand/Massey 1992). Die Migranten sind sowohl im Herkunfts- als auch im Ankunftsland „in ein mehr oder weniger engmaschiges Netz von communities eingewoben, die ihre eigene Migrationsgeschichte […] haben“ (Pries 2001: 34). Jedes Modell zur sozialen Integration und Assimilation muss also diese Zwischenräume und deren spezifische Geschichte berücksichtigen (Pieterse 1998; Fassmann 2002). „Doing assimilation“ in den Kategorien des Entweder/Oder wird durch die Inklusion des Sowohl-Als-Auch ersetzt. Damit sind die Grenzen des vorausgesetzten Gesellschaftsbegriffes vom „nationalen Container“ infrage gestellt. Über Netzwerke konstituiert sich ein soziales Feld, das die beiden „Gesellschaftscontainer“ gewissermaßen von „unten“ verbindet (Goldring 1998).
33 Für einen ausführlichen Überblick der aktuellen Theorien und empirischen Resultate siehe Faist (2004). 34 Dazu heißt es bei Durand und Massey: „The changing selectivity of migration results from the growth and elaboration of migrant networks, which are composed of ties of kinship, friendship, and paisanaje (shared community origin) between migrants and nonmigrants located in the United States and Mexico.“(Durand/Massey 1992: 17) 115
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Daraus folgt schließlich die Gleichzeitigkeit von ethnischer Minderheitsund Mehrheitskultur (3). Es ist nicht mehr ausreichend Ethnizität als „invented“ und „imagined“ und als Reaktion auf die Opportunitätsstrukturen im Aufnahmeland zu begreifen. Vielmehr muss sich die empirische Forschung der kulturellen Strukturen dieses gesamten transnationalen Feldes widmen. Transnationale Ethnizität kann nicht mehr nur als eine Herkunftsidentität konzipiert werden, sondern sei, so Jan Nederveen Pieterse (2003: 29), von vornherein als Resultat einer transkulturellen sozialen Interaktion – „across cultural differences and boundaries“ – zu begreifen. Aus einer einzigen kulturellen Grenzziehung und Differenz werden spezifische Grenzsituationen, die jeweils eigene soziale Handlungsmuster erzeugen. Insbesondere der Zusammenhang von „ethnicity“ und „agency“ rückt damit in den Vordergrund der Analyse (Glick Schiller et al. 1991: 17f). Ethnizität wird in den unterschiedlichen Orten durch unterschiedliche Weisen der kollektiven Grenzmarkierung eingesetzt. Ethnizität ist nicht nur von den Minderheitsgesetzen der Mehrheitsgesellschaft abhängig, sondern sie ist eine sich jeweils anpassende, handlungsgenerierende Ressource in mehr als einer Kultur. Mal ist Ethnizität identisch mit der Mehrheitskultur (in Haiti), mal ist sie Teil einer Minderheitskultur (in New York). Oder sie ist gar in beiden Fällen Teil einer Minderheitskultur wie beispielsweise die Kurden in Deutschland und der Türkei oder die Kabylen in Frankreich und Algerien (Kastoryano 2004: 68-69; OestergaardNielsen 2003: 67-69).35 Insgesamt werden die Differenzen zwischen ethnischer Mehr- und Minderheitsidentität nicht „eingeschmolzen“, sondern sie verdoppeln sich. Mit „Überraschung“ wurde festgestellt, dass die „Gastarbeiter“ „nach der dritten Generation bikulturell orientiert sind, dass sie sich ihren Herkunfts- und ihren Aufnahmestaaten gegenüber loyal verhalten und sich in beiden Gesellschaften zu Hause fühlen“ (Fassmann 2002: 357-358). Wie diese vielfachen empirischen Studien belegen, lässt sich die transnationale Identität ethnischer Minderheiten kaum assimilieren, wohl aber duplizieren. Eine solche Verdoppelung von sozialstrukturellen Kompetenzen, sozialen Orten und Identitäten heißt jedoch nicht im Umkehrschluss, dass Transmigranten grundsätzlich als Kosmopoliten handeln müssen, wie bisweilen angedacht wird (Beck 2004; Hannerz 2005). Ebenso wenig ist ihnen zwangsläu35 Die Situation verkompliziert sich häufig dadurch, dass aus einer Herkunftsnation sowohl Angehörige der Mehrheits- als auch der Minderheitskultur transnationale Beziehungen erhalten. Als beispielsweise Vertreter von kurdischen und türkischen Vereinen versuchten, einen gemeinsamen Dachverband zu gründen oder zumindest zu kooperieren, wurde von kurdischer Seite die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit dem Argument begründet, dass es inkongruent sei, wenn in Deutschland für die Einführung eines Türkischunterrichts gestritten werde und gleichzeitig in der Türkei die kurdische Sprache unterdrückt werde (Oestergaard-Nielsen 2003: 67-69). 116
UNIVERSALISIERUNG
fig eine „hybride Widerstandsidentität“ und ein „befreiendes Potential“ zu eigen, wie andere Studien implizit zu suggerieren scheinen (vgl. dazu kritisch: Faist 2000b). Ihre Situation ist aufgrund der doppelten Inklusion jedoch universalisierter als im Assimilationsmodell angenommen. Transmigranten können wahlweise kosmopolitische Praktiken im einen Land mit nationalistischen Praktiken im anderen Land kombinieren. Entscheidend sind also die Multiplikationen von Subjektpositionen und die situativen Praxen der Grenzüberschreitungen, nicht ein genuiner Kosmopolitismus.36
Das Repräsentationsproblem transnationaler sozialer Räume Die empirischen Beobachtungen einer zunehmenden Bedeutung transnationaler sozialer Bindungen wurden inzwischen auch von vormaligen Skeptikern anerkannt. Weitaus umstrittener ist die Beurteilung eventueller theoretischer Konsequenzen und normativer Bewertungen. Besonders das Verhältnis zwischen nationaler Staatsbürgerschaft und transnationalen Inklusionsformen bietet Anlass zu Kontroversen. Die komplexe Diskussion lässt sich anhand zweier Dimensionen vereinfachend zusammenfassen (Tabelle 3): zum einen in der Frage nach der Legitimität einer transnationalen Staatsbürgerschaft (Zeile 1) und zum anderen in der Frage nach einer transnationalen Öffentlichkeit und symbolischen Repräsentationen (Zeile 2). Beide Themenspektren lassen sich nach drei jeweils vorausgesetzten Differenzierungskonzepten untergliedern: erstens die klassischen Argumente des methodologischen Nationalismus von der Unüberwindbarkeit der national differenzierten Weltgesellschaft (Spalte A); zweitens die Kritik an der Idee einer transnational differenzierten Gesellschaft (Spalte B); drittens die Antwort auf die Kritik mit Verweis auf empirisch emergente Strukturen wie doppelte Staatsbürgerschaft und grenzüberschreitende Assoziationen. Diese Antwort soll unter dem Begriff der „transversalen“ Differenzierung der Weltgesellschaft zusammengefasst werden (Spalte C).
36 So schreibt beispielsweise Osterhammel hierzu: „[…] durch Bilingualität und die Ausbildung multipler Identitäten werden individuelle und kollektive Lebensformen ermöglicht, die sich keineswegs in der dünnen Luft eines entrückten Kosmopolitismus realisieren, sondern in unentwegter Grenzüberschreitung zwischen weiterhin national verfassten Gesellschaften und Kulturen.“ (Osterhammel 2001: 473, Fußnote 15) 117
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 3: Typologie der Beziehungen (trans-)nationaler Inklusionsbedingungen
Politische Inklusion (1) Öffentliche Identitäten (2)
Nationale Differenzierung (A)
Transnationale Differenzierung (B)
Transversale Differenzierung (C)
(A1) Singuläre Staatsbürgerschaft
(B1) Dissoziation von „Recht und Pflicht“
(C1) Multiple Staatsbürgerschaften
(A2) Ethnische Repräsentation
(B2) Dissoziation von Repräsentationen
(C2) Assoziierte Repräsentation
Die gängigste Kritik am Transnationalismus wird von Seiten der klassischen Assimilations- und Integrationstheorie und vom methodologischen Nationalismus vorgebracht. Seit seiner Entstehung, so lautet das erste Argument (A1) zusammenfassend, garantiert der Nationalstaat die Reziprozität von Rechten und Pflichten seiner Bürger (bspw. Steuern gegen Wahlrecht und soziale Sicherheit). Diese Funktion wird mit dem Begriff der „Staatsbürgerschaft“ in seiner umfassenden Bedeutung von „citizenship“ (T.H. Marshall 1964) bezeichnet. Die Kritiker insistieren, dass auch die Transmigranten darauf angewiesen sind, die kognitiven Kompetenzen ihres zweiten Lebensraumes zu beherrschen. Sprachen müssen erlernt, Bildungstitel erworben und politische Partizipation durch Staatsbürgerschaft legitimiert werden (Joppke 1999). Durch die individuelle Verdoppelung der Inklusionsbedingungen verschwindet das Problem ihrer sozialstrukturellen ethnischen Schichtung und politischen Partizipation nicht – lediglich der Erwartungshorizont potentieller Inklusionsoptionen weitet sich aus. Ohne die staatsbürgerliche Mitgliedschaft ist der Prozess sozialer Mobilität und Integration – ungeachtet etwaiger transnationaler Bindung – grundsätzlich erschwert (Bös 2001; Bommes 2002a). In ähnlicher Weise bleibt auch das Problem der Anerkennung von Minderheitsidentitäten vakant (A2). Trotz ihrer transnationalen Extension sind die ethnischen Gruppen im Einwanderungsland weiterhin auf eine adäquate Repräsentation in der nationalen Öffentlichkeit angewiesen (Faist 2000d: 208209; Favell 1997). Ohne eine inklusivistische Form öffentlich repräsentierter Identität werden auch transnationale Communities im Aufnahmeland von vornherein „symbolisch exkludiert“ (Eder et al. 2004). Trotz dieser berechtigten Einwände entfalten transnationale Lebensformen, wie gezeigt, eine weitergehende Eigengesetzlichkeit, die nicht ignoriert
118
UNIVERSALISIERUNG
werden kann. Darauf reagiert der zweite Kritikstrang mit einer allgemeinen Defizithypothese (Spalte B). Wenn als Bedingung zum Erwerb der neuen integrativen Staatsbürgerschaft gesetzt ist, dass die alte abzugeben sei, entscheiden sich Transmigranten tendenziell gegen die neue Staatsbürgerschaft (Thränhardt 2003; Faist 2000d). Für diese Gruppe gilt fortan eine Staatsbürgerschaft, in der die Reziprozität von Rechten und Pflichten transnational dissoziert ist (B1). Die Bedeutung einer Verstetigung dieser Dissoziation wird anhand eines fiktiven Fallbeispiels deutlich: Ein in Deutschland dauerhaft verbliebener ehemaliger Gastarbeiter, Inhaber der türkischen Staatsbürgerschaft, zahlt in Deutschland Steuern ohne, wie von T.H. Marshall vorgesehen, über die Verwendung seines Steuergeldes per Wahl mitbestimmen zu dürfen. Allerdings darf er über die Ausgaben der türkischen Steuergelder – die er gar nicht zahlt – mit abstimmen. Er bestimmt in dem politischen Subsystem, für das er keine Steuern zahlt, bei den Steuerausgaben mit und darf dies in dem anderen Subsystem, in dem er Steuern zahlt, nicht. Bei diesem alltäglichen Beispiel unterbrochener Reziprozitätsnormen handelt es sich nicht um die partiellen In- und Exklusionen eines Dividuums in verschiedene Subsysteme, sondern um eine Dissoziation von Ex- und Inklusionsverhältnissen. Im Gegensatz zu Dividuen sind Transmigranten in zwei gleichartige Subsysteme („Politik“ und „Politik“) teilweise in- und exkludiert. Nur sind aufgrund der sozialräumlichen Dissoziation die beiden gleichartigen Subsysteme nicht struktural miteinander verkoppelt. Die Teilexklusion aus dem einen kann nicht durch die Teilinklusion in dem anderen Subsystem kompensiert werden (Steuerzahlungen durch Wahlrecht). Solche transnationalen Lebenswelten des „Dazwischen“ stehen damit quer zur funktionalen Ordnung der Gesellschaft.37 In analoger Weise gestaltet sich die Defizithypothese auf der Ebene der symbolischen Repräsentation (B2). Von Seiten des Transnationalismus wird konstatiert, dass die Netzwerke der subalternen Gruppen (Arbeitsmigranten, Flüchtlinge etc.) die nationale Differenzierung der Weltgesellschaft zunehmend ablösen. An die Stelle der nationalen Integrationsregime trete, so die normative Hoffnung, eine kosmopolitische universale Vergesellschaftungsform (Beck 2004; Hannerz 2005). In „Flexible Staatsbürgerschaften“ hat Aihwa Ong kritisiert, dass eine solche transnationale Netzwerkgesellschaft 37 Im Gegensatz zum Inklusionsmodell der Systemtheorie ergeben sich im Rahmen des Assimilationsmodells auf den ersten Blick kaum Schwierigkeiten. Hier ist der Gastarbeiter schlicht auf der zweiten Stufe der Assimilation verharrt. Seine unterbrochene Assimilation wäre als Scheitern zu beurteilen. Nur hat der lediglich ökonomisch „vollassimilierte“ „Gastarbeiter“ vielleicht gar kein Interesse seine Rentenzeit im kalten Deutschland zu verbringen und verzichtet deshalb auf den Staatsbürgerschaftswechsel. Im Sinne rationaler Wahl kann von Scheitern also keine Rede sein. Zum „Paradox“ von transnationaler und kultureller Integration in Europa vgl. weiterführend Eder (1999c). 119
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
nicht nur für die subalternen Gruppen gelte, sondern in einem viel stärkeren Maße auch für die ökonomischen Eliten (Ong 2005). Die transnationalen Ansätze erwecken, so ihre an Appadurai und Glick Schiller et al. adressierte Kritik, „den irreführenden Eindruck, jeder könne in gleicher Weise von Mobilität und modernen Kommunikationsmitteln profitieren, und Transnationalität sei für alle Menschen etwas befreiendes“ (ebd.: 21). Stattdessen zeige sich am Beispiel der so genannten „Auslandschinesen“ in Südostasien, dass sich ein hochgradig stratifiziertes und exklusives System transnationaler „Brüderlichkeit“ herausgebildet hat, das aufgrund jeweils opportuner Staatsbürgerschaften jegliche Reziprozität im Sinne von citizenship unterläuft (ebd.: 83-121).38 Übertragen auf die systemtheoretische Begrifflichkeit hieße Ongs Argument, dass sich inmitten einer funktional differenzierten Moderne transnationale Netzwerke im Sinne der Luhmannschen stratifizierten Vormoderne als „Hausalt“ bilden. Diese haushaltartigen Netzwerke sind unsichtbar und damit der öffentlichen Kommunikation prinzipiell entzogen. Sie lassen sich weder debattieren noch in den Kreislauf gesellschaftlicher Reziprozitätsnormen einbinden. Dieses demokratische Defizit flexibler Staatsbürgerschaft resultiert aus dem Zusammenhang zwischen Politik und der Notwendigkeit ihrer öffentlichen Visualisierung. Die unsichtbar vernetzten „brüderlichen Haushalte“ Südostasiens repräsentieren sich weder symbolisch noch argumentativ, sondern handeln jenseits einer beobachtenden Öffentlichkeit. „Politik“ als polis (Öffentlichkeit) steht zur „Wirtschaft“ als oikos (Haushalt) in einem komplementären Verhältnis. Politik, so Karl-Siegbert Rehberg, ist „notwendig ‚öffentlich‘, schafft Formen instituierter Öffentlichkeit und der ‚Visibilität‘ von Herrschaftsbeziehungen“ (Rehberg 1995: 196; vgl. auch Münkler 1995). In einer transnationalen, sich vernetzenden Vergemeinschaftung ist diese öffentliche Komplementarität nicht mehr gegeben. Insgesamt bieten die bisherigen sozialtheoretischen Modelle, die entweder über nationale Öffentlichkeit oder über strukturale Kopplung argumentieren, keine hinreichenden Perspektiven auf transnationale empirische Phänomene.
38 Dies gilt unter umgekehrten Vorzeichen, so eine andere Kritik, auch für die subalternen Schichten. Während für die transnationalen Eliten die Vernetzung eine Bedingung ihrer Entbundenheit von reziproken, d.h. ihrerseits zu erbringenden Gegenleistungen darstellt, so sind die transnationalen Netzwerke der subalternen Schichten als eine Kompensation nationaler Exklusion zu begreifen. So heißt es in einer Kritik bei Bommes: „Die nationalstaatlich verfassten Wohlfahrtsregime sind die Bedingung dafür, dass sich Netzwerke bei jenen bilden, die aus den anderen vorgängigen Systemen ausgeschlossen wurden“ (Bommes 2003: 102). Ebenso wird eingewendet, dass das Argument der „Transnationalisten“ suggeriere, dass die Netzwerke und der transnationale Raum den anderen Strukturen vorausgehe – dass er die Ursache und nicht der Effekt von national konstituierten Sozialstrukturen sei. Ein solcher transnationaler Raum sei ein „Mythos“ (ebd.). 120
UNIVERSALISIERUNG
Angesichts dieses drohenden Scheiterns der gewohnten Erklärungsmuster wäre es jedoch vorschnell, die existierenden transnationalen Felder von vornherein als normativen other auf dem Altar des methodologischen Nationalismus zu opfern. Abschließend sollen daher unter dem Begriff der „transversalen Differenzierung“ zwei empirische Argumente für eine andere Sichtweise auf transnationale Vergesellschaftung vorgestellt werden (Spalte C).
Transversale Differenzierung Im Gegensatz zu vertikaler und horizontaler Differenzierung betont der Begriff „transversale Differenzierung“ die Ex- und Inklusionsprozesse von „querläufigen Vergesellschaftungen“ (Tenbruck 1992: 14; Matthes 1992: 94).39 Das Konzept der transversalen Differenzierung negiert dabei weder die empirische Evidenz einer vertikal stratifizierten, d.h. sozioökonomischen Differenzierung, noch die einer horizontal segmentierten, d.h. ethnisch-nationalen Differenzierung. Vielmehr eröffnet das Konzept eine Perspektive auf die Relationen zwischen diesen beiden Differenzierungsformen. Von dem klassischen Modell eines stratifizierten sozialen Raums (Bourdieu 1987) unterscheidet sich die transversale Perspektive, weil sie davon ausgeht, dass sowohl transnationale Eliten als auch transnationale subalterne Schichten nicht nur in einem einzigen sozialen Raum positioniert sind. Stattdessen bewegen sie sich zwischen mindestens zwei unterschiedlich geschichteten Räumen. Sie können potentiell eine höhere soziale Position in einem sozialen Raum einnehmen, während sie zugleich in dem anderen subaltern positioniert sind. Von der funktionalen Differenzierung (Luhmann 1998) unterscheidet sich die transversale Perspektive, weil sie die „Multiplikation“ (Koenig 2003) gleichartiger, über den sozialen Raum verteilter Subsysteme (nationale Politik 1 und nationale Politik 2) in die Analyse mit einbezieht. 39 „Transversal“ bedeutet wörtlich: „querlaufend, senkrecht zur Ausbreitungsrichtung stehend, schräg“ (Duden Bd. 5 1990). Vgl. zu dem Begriff auch Bude (1998). Bude verwendet den Begriff zur Kennzeichnung einer neuen Kategorie des sozialen Außenseiters, des „Überflüssigen“. Der Begriff „transversal“ stellt die Besonderheit dieser sozialen Exklusionssituation gegenüber horizontalen (segmentären) und vertikalen (stratifizierten) Exklusionen heraus. Anders als horizontale oder vertikale Differenzierung bedeutet transversale Differenzierung für Bude, dass sich die Exklusion sowohl „oben“ als auch „unten“ oder „segmentär“ ereignen kann, wobei Bude bisher kein theoretisches Konzept dieser Makrostrukturen formuliert hat. Ohne ein makrosoziologisches Integrationsoder Inklusionsmodell bleibt der Begriff unklar, so eine Kritik von Dirk Baecker (Baecker et al. 1998: 67-69). Es spricht vieles dafür, dass sich der Begriff erst im Zuge des transnational turn auch gesellschaftstheoretisch anwenden lässt. Die Dissoziation von awarness space und action space im Zuge der Ausweitung von Bedeutungsstrukturen lässt eine transversale soziale Differenzierung erst plausibel erscheinen, ohne dabei auf Migranten beschränkt sein zu müssen. 121
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Schließlich unterscheidet sich eine transversale Differenzierung auch von dem Konzept der Transnationalität, weil sie grundsätzlich die Interaktionen und Relationen zwischen nationalen und transnationalen Vergemeinschaftungsprozessen betont. Transnationale Eliten agieren immer auch national, auch wenn sie transnational vergemeinschaftet sind. Sie adressieren nationale Öffentlichkeiten oder fordern doppelte Staatsbürgerschaften, die, je für sich genommen, nationale Staatsbürgerschaften sind. Die Perspektive einer transversalen Differenzierung fragt also grundsätzlich nach den quer verlaufenden Relationen zwischen nationalen und transnationalen Strukturen, ohne das eine durch das andere zu ersetzen und damit implizit zu negieren. Eine exemplarische Form transversaler Differenzierung wäre die „doppelte Staatsbürgerschaft“ (C1), weil sie „zwischen den Dichotomien nationaler und post-nationaler Staatsbürgerschaft“ (Faist 2000b: 130) als eine dritte Form positioniert ist.40 Die „doppelte Staatsbürgerschaft“ ist eine institutionelle Notwendigkeit und reagiert auf den zunehmenden globalen Trend, dass sich nicht mehr „sämtliche sozialen Bindungen der BürgerInnen in einem singulären nationalen Staatsraum vollziehen“ (Faist 2000b: 130). Gegenüber den Annahmen der post-nationalen Staatsbürgerschaft im Sinne von Menschenrecht (Soysal 1994) ist das Konzept der doppelten Staatsbürgerschaft realistischer. Es verfällt nicht der „Illusion“, so Faist, „Nationalität sei als Ausdruck von An- und Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft gegenüber kosmopolitanen Solidaritäten zurückgetreten“ (Faist 2000b: 130). Zumindest ist sie integrationsfördernder als die alte Regelung in der Bundesrepublik, bei der die Einwanderer ein kommunales Wahlrecht innehaben, ohne die Staatsbürgerschaft zu besitzen.41 Faist führt eine Reihe von Argumenten für und wider die doppelte Staatsbürgerschaft an, die hier nur kurz angerissen werden können. Von Seiten der Gegner wird zumeist das Loyalitätsargument im Falle eines potentiellen Krieges vorgebracht: „Die askriptiven und exklusiven Merkmale von Gruppen dienen u.a. dazu, die Loyalität ihrer Mitglieder zu gewinnen und zu erhalten“ (ebd.: 133). Dieses Argument wird allerdings in den „OECD-Ländern“ zu40 Wobei einschränkend erwähnt werden muss, dass Faist nicht selbst von „transversaler Differenzierung“, sondern, in Absetzung zum Begriff der Transnationalität, von „transstaatlichen sozialen Räumen“ spricht (Faist 2000a, 2000b). Mit der Begriffsverschiebung von „transnational“ zu „transstaatlich“ sind zwar nationale staatliche Strukturen mit einbezogen, weshalb sie eine sinnvolle Präzisierung darstellt, allerdings wird damit der gesamte transnationale Ansatz auf die Ebene der Staatlichkeit bezogen und somit auf ein Subsystem reduziert. Transversale Differenzierung umfasst demgegenüber auch die Institutionen nichtstaatliche Strukturen und ist daher umfassender (vgl. Dierkes/Koenig 2006). 41 Balibar (2004) und Brubaker (2001) haben diese Form einer auf Teilrechten beruhenden Inklusion als „deutsches migrationspolitisches Apartheidsregime“ bezeichnet. 122
UNIVERSALISIERUNG
nehmend unbedeutend, da Kriege hier unwahrscheinlich sind. Aber auch in anderen Fällen, wie dem ersten Irakkrieg, galt die Loyalität der irakischamerikanischen Doppelstaatler dem demokratischen Staat USA (ebd.). Für die Ängste der sozialtheoretischen Bellizisten, dass im Falle eines Krieges „niemand hingehen“ würde, weil zwei Staaten jeweils gegen ihre eigenen Bürger kämpfen, besteht also wenig Anlass. Ein zweites Argument gegen die doppelte Staatsbürgerschaft besagt, dass die Verdoppelung zu einem instrumentellen Umgang führe. Ein solcher instrumenteller Umgang zeigt sich auf der Ebene der transversal vergesellschafteten Eliten (Ong 2005: 9). Für die sozialstrukturell schwächer gestellten Migranten gilt dies jedoch nicht. Vielmehr eröffnet die doppelte Staatsbürgerschaft die Möglichkeit zur politischen Partizipation und zur Inklusion ins Ankunftsland. Sie bietet einen Vorteil, wohingegen der Anreiz, die Staatsbürgerschaft sonst zu erwerben, in der Regel nicht sehr ausgeprägt ist. Die Unterschiede zu anderen Aufenthaltsgenehmigungen sind ökonomisch marginal. Für die transversale Integration sind jedoch gerade die politischen Partizipationsrechte im Sinne einer staatsbürgerlichen Reziprozität entscheidend: Staatsbürgerschaft ist die „Voraussetzung für die Integration ins politische Gemeinwesen und nicht deren krönender Abschluß“ (Faist 2000b: 138). Insgesamt bietet die doppelte Staatsbürgerschaft eine realitätsnahe Möglichkeit zur legitimen Institutionalisierung von transversal differenzierter Vergemeinschaftung, weil sie nationale und transnationale Strukturen überbrückt und institutionell miteinander verbindet.42 Damit ist jedoch noch nicht das Problem der symbolischen Repräsentation und Visualisierung von transversalen sozialen Feldern angesprochen (C2). Aktuell besteht die einzige empirisch vorzufindende transnationale Repräsentation in Assoziationen. Darunter fallen nicht nur die viel beachteten supranationalen NGOs und sozialen Bewegungen (Eder 2002; Beck 2004), sondern auch die auf das Ankunftsland bezogenen Immigrantenverbände und Vereine. Zu den Vereinen und Verbänden liegt inzwischen umfangreiche empirische Literatur vor. Allerdings stellen die meisten Studien nicht die Frage nach der transversalen Interaktion von nationalen und transnationalen Strukturen, sondern fragen nach der Form der innerethnischen Orientierung der Vereine (u.a. Fijalkowski/Gillmeister 1997a; Unbehaun 1997; Yalçin-Heckmann 1997; 42 Auch auf Seiten der Einwanderungsländer bestehen erhebliche Vorteile. Doppelte Staatsbürgerschaft senkt nicht nur die Schwelle der Beantragung im Einwanderungsland, sie bietet auch die Möglichkeit, die transnationalen Netzwerke effektiver zu nutzen. Darüber hinaus zeigen zahlreiche Beispiele, dass die Doppelstaatler fundamentalistische Strukturen im Herkunftsland mildernd beeinflussen (Faist 2000d: 136). Die islamische deutsch-türkische Mili Görus ist nur eines dieser Beispiele. Schließlich gilt auch, dass „mehrfache Identitäten dazu verhelfen können, interstaatliche Spannungen durch transstaatliche Bindungen abzumildern“ (ebd.: 137). 123
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Diehl 2002; Cappai 2005). Die Studien kreisen um die Frage, ob die Vereine herkunfts- oder ankunftsorientiert sind, ob sie politisch im Heimatland engagiert sind, ob sie sich sozial betätigen und in welcher Form sie zur Integration der jeweiligen Migrantengruppe im Einwanderungsland beitragen. Unberücksichtigt bleibt, dass die Verbände und Vereine nicht nur Sozialarbeit für Individuen leisten – sie sind auch entscheidende kulturelle Bedeutungsproduzenten im Rahmen öffentlicher Visualisierung.43 Wenn „Kultur“ und „kollektive Identität“ als kommunikative Kodierung in den öffentlichen Verbreitungsmedien zu begreifen sind, dann sind die Assoziationen entscheidende Akteure innerhalb einer transversal differenzierten Gesellschaft. Staatsbürgerschaft im Rahmen eines „politischen Transnationalismus“ ist, so Jose Itzigsohn, vor allem an die Migrantenorganisationen gebunden: „Immigrant organizations […] extend the field of citizenship“ (Itzigsohn 2000: 1140). Ausschlaggebend ist dabei ihre Funktion des „transnational claimsmaking“ (Oestergaard-Nielsen 2003: 13). Während die transnational verfügbaren Medien als eine Extensivierung kultureller Bedeutung zu begreifen sind (Aksoy/Robins 2003), sind die Immigrantenorganisationen als eine Extensivierung von „Agency und Citizenship“ zu interpretieren: „immigrant voluntary associations constitute an avenue for […] transborder organization and activity” (Kastoryano 2004: 66). Sie bilden eine Ressource zur Anerkennung und Bedeutungsproduktion zwischen Individuen und kollektiven Identitäten in einer transnationalen Arena „öffentlichen Handelns“ (Faist 2000d: 215; Levitt/Dehesa 2003: 606). Dem ist hinzuzufügen, dass die öffentlich kommunizierenden Einwandererverbände grundsätzlich in den jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten sichtbar sind. Sie visualisieren und repräsentieren transnationale Netzwerke in der nationalen Öffentlichkeit. Die Verbände verbinden daher nicht nur „Individuen“ mit „transnationalen kollektiven Identitäten“, sondern sie verknüpfen auch die nationale öffentliche Arena mit transnationalen sozialen Feldern. Neben der doppelten Staatsbürgerschaft bilden sie damit die zweite wesentliche Institution in einer zunehmend transversal differenzierten Gesellschaft. Sie tragen dazu bei, das „Dilemma“ zwischen nationaler Identitätsmobilisierung und transnationaler Institutionsbildung (Eder 2002) zu mildern. Insgesamt verzichtet die transversale Perspektive im Anschluss an die Systemtheorie auf die Idee einer starken moralisch-holistischen Sozialintegration. Zudem trägt das transversale Differenzierungskonzept der Beobachtung Rechnung, dass die transnationalen Felder nicht in virtuellen „Zwischenräumen“ schweben, sondern immer räumlich verortet sind. Die Einwandererverbände sind weder auf den nationalen Raum beschränkt, noch befinden sie sich 43 Mit Ausnahmen von Koopmans/Statham (1999a) liegen hierzu keine systematischen Studien vor. 124
UNIVERSALISIERUNG
in einem virtuellen transnationalen Raum. Sie stellen vielmehr eine kommunikative „Querverbindung“ zwischen transnationalen Lebensformen und nationalen, öffentlichen Arenen her. Zusammenfassend ist zu betonen, dass der transnational turn das in der Systemtheorie bereits angelegte universalisierende Ent-othering von Alter raumtheoretisch fortschreibt. Der von Park und Alfred Schütz konzeptualisierte „Fremde“ büßt zunehmend seinen Theoriestatus ein. Fremdheit gilt immer weniger als ein theoretisch relevantes Phänomen, sondern als eine kommunikative Form unter anderen Formen in der Weltgesellschaft. Über die Verbreitungsmedien partizipiert Alter an Egos kulturellen Bedeutungsnetzen bereits vor der Migration. Ego und Alter sind nicht mehr dichotom als Eigenes und Fremdes unhinterfragt voraussetzbar. Vielmehr werden sie als miteinander verflochtene Strukturen gedacht, die sich in spezifischen sozialen Gefügen als dichotome Unterscheidung potentiell entflechten. Ebenso erodiert die Trennschärfe des Konzepts der sozialen Assimilation. In einer sich zunehmend transversal differenzierenden Gesellschaft sind Ego und Alter nicht mehr eins zu eins auf Sesshafte und Wandernde applizierbar. Transmigranten gelten je nach Aufenthaltsort und Zeitpunkt mal als Ego und mal als Alter. Durch diese Multiplikation sozialer Orte wird das Ziel einer einzigen identifikativen Assimilation obsolet. Analoge Grenzüberschreitungen zwischen Ego und Alter gelten auch für die „ethnische Minderheit“. Hier herrscht eine topologische und temporale Form des Sowohl-als-auch. Je nach Aufenthaltsort und Situation wandelt sich ein Minderheitenstatus in einen Mehrheitsstatus. Alter ist in der sozialen Praxis nicht notwendig an eine Minderheitenidentität gekoppelt, vielmehr überschneiden sich Minderheits- und Mehrheitspositionen je nach räumlicher Situation und sozialer Praxis. Diese Zone der Ununterscheidbarkeit und der Grenzüberschneidung zwischen Ego und Alter erfordert theoretisch eine neue Konzeptualisierung des Differenzierungsmodells. Der Begriff der „transversalen Differenzierung“ bietet sich hier an, da er die beschriebenen Spezifika in den Blick rückt, ohne dabei die vertikalen und horizontalen Differenzierungsformen aus den Augen zu verlieren. Theoretisch zeichnet sich dabei ein universaler „return of space“ ab. Die Systemtheorie ließ den Raum als strukturierendes Moment sozialer Integration mit der Frühen Neuzeit enden. Die „Weltgesellschaft“ ist jedoch nicht durch ein jeweils singuläres Subsystem differenziert, sondern durch räumlich segregierte, gleichartige Subsysteme. Transmigranten sind ohne eine theoreti-
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sche Hinwendung zur strukturierenden Funktion des Raumes nicht beobachtbar.44 Die vormals vom Nationalstaat getragenen öffentlichen Repräsentationsformen müssen neu überdacht werden. Transversale Vergemeinschaftungen sind zunächst unsichtbar. Sie liegen quer zu den repräsentativen Institutionen und Öffentlichkeiten der segmentär begrenzten Nationalstaaten. Als einzige Institution, die dieses Defizit prinzipiell aufheben könnte, werden transnationale Organisationen und Verbände genannt. Die Einwandererverbände charakterisiert dabei eine Doppelfunktion. Sie symbolisieren sich selbst als Alter durch ihre Herkunftsethnizität und bilden gleichzeitig – als öffentliche Akteure – einen Teil von Egos Kommunikationszusammenhang. Verbände reagieren auf die transversale Differenzierung, indem sie eine Verbindung zwischen nationalen Arenen und transnationalen sozialen Feldern herstellen und diese Interaktion öffentlich repräsentieren. Eine zweite Reaktion auf die unterbrochenen Reziprozitäten der transnationalen Differenzierung stellt die doppelte Staatsbürgerschaft dar. Ihre zunehmende Bedeutung ist weder im Rahmen des methodologischen Individualismus noch des methodologischen Nationalismus zu erklären. Nur mit einer raumtheoretischen Perspektive lässt sich ihre Bedeutung für die zunehmend komplexen Reziprozitätsnormen der Weltgesellschaft beobachten. Die doppelte Staatsbürgerschaft und die Einwandererverbände bilden zurzeit die einzige sich abzeichnende realistische Möglichkeit, wie unsichtbare und dissoziierte „Zwischenräume“ in öffentlich kommunizierbare Repräsentationen verwandelt werden können. Es ist daher unerlässlich, deren öffentliche Repräsentationsformen und migrationspolitische Diskurse in einer Einwanderungsgesellschaft empirisch zu analysieren.
44 Neben dieser Differenz haben die Transmigranten mit den Dividuen nur eins gemein: Beide bilden nicht das „Andere“ der sozialen Ordnung. Sowohl Transmigranten als auch Dividuen sind weder „fremd“ und „dysfunktional“, noch müssen sie kulturell „erzogen“ und „eingehegt“ werden. 126
Teil II: Die Verbände in den Medien
5 . Methodik
Verbände und Medien Als Gegenstand der empirischen Analyse werden in diesem zweiten Teil des Buches die medialen Nennungen von drei türkischen Interessenverbänden in deutschen Printmedien dargestellt: Der „Türkischen Bund BerlinBrandenburg“ (TBB), die „Türkische Gemeinde in Berlin“ (TG-Berlin) und die „Türkische Gemeinde in Deutschland“ (TG-D). Die Verbände sind Dachverbände, d.h. Zusammenschlüsse von einer unterschiedlich großen Anzahl türkischer Vereine in der Bundesrepublik. Der TBB gründete sich im Jahr 1991. Die Zahl der dem Dachverband angeschlossenen Mitgliedsorganisationen beläuft sich auf etwa zwanzig Vereine. Unter den Mitgliedern befinden sich ein „türkischer Elternverein, verschiedene alevitische Kulturvereine, diverse Sport- und Musikvereine sowie der Verein türkisch-deutscher Kaufleute“ (FAZ 01.12.2001). Der Verband versteht sich als „überparteiliche“ und „aktive Interessenvertretung“ der in Deutschland lebenden Einwanderer. Aufgrund seines „demokratischlaizistischen Weltbildes“ repräsentiert der Verband im Jahre 2001 „nach eigenen Schätzungen“ etwa „ein Drittel der türkischen Bevölkerung in Berlin“. Als wichtigstes Ziel nennt der Verband „die rechtliche und soziale Gleichstellung von Türken in Deutschland“. Im Gründungsjahr hatte der Verband eine halbe und im Jahr 2001 neunzehn hauptamtliche Mitarbeiterstellen. (ebd.) Im Jahre 1995 gründete sich der bundesweite Dachverband, die TG-D. Vorbild bei der Gründung war, so die Selbstbeschreibung, der „Zentralrat der Juden in Deutschland“. Die FAZ berichtete ausführlich von dem Gründungsereignis. Es wurde betont, dass der Verband sich ausschließlich den Angelegenheiten der Einwanderer in der Bundesrepublik widmete: „In den politischen, religiösen, ethnischen Konflikten der Türkei will man strikte Neutralität bewahren.“ (FAZ 14.11.1995) „Weder Rechte noch Linke, weder Kurden
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noch Alewiten, weder Gläubige noch Agnostiker sollen ausgegrenzt werden“ (FAZ 01.12.1995). Daneben enthielt die Satzung ein „Bekenntnis zu Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaat“ und den Anspruch als „eine wirklich repräsentative Organisation“ und „Vertretung der Einwohner Deutschlands türkischer Herkunft“ der deutschen und türkischen Regierung gegenüber treten zu können. Der Verband setze sich „für die Gleichstellung und Integration der Deutschland-Türken ein“ (ebd.). Allerdings betont der Verband auch, wie die FAZ im Jahre 2002 schreibt, „in ihrem Programm immer wieder die Bedeutung der ursprünglichen kulturellen Identität der Einwanderer“ (FAZ 29.04.2002). Von im Jahre 1995 schätzungsweise 3000 und im Jahre 2002 etwa 5000 türkischen Vereinen sind etwa 200 Vereine unter dem Dach der TG-D versammelt. Die TG-Berlin hat, entgegen der Namensgleichheit, nichts mit der TG-D gemein und ist auch nicht Mitglied in der bundesweiten TG-D. Demgegenüber ist der TBB Mitglied des Verbandes. Bei den Verbänden handelt es sich also um Mischformen, deren Interessen und Mitgliedschaften sich teilweise überschneiden. Religiöse Gruppen, wie beispielsweise einige alevitischen Vereine, sind oder waren Mitglied in den Dachverbänden (OestergaardNielsen 2003). Der Islamunterricht in Deutschland wird indes, um ein Beispiel zu geben, nicht von der Türkischen Gemeinde, sondern von der Islamischen Föderation geleistet, die keine nationale Herkunftsbindung aufweist und auch kein Mitglied in einem der Dachverbände ist. So hinkt der Vergleich mit einer anderen öffentlich sichtbaren Organisation, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, erheblich. Von anderen Sprechern und Vereinen wurde beiden Verbänden immer wieder der „Alleinvertretungsanspruch“ für die türkische Minderheit in Deutschland abgesprochen (u.a. SZ 31.08.1999).1 Bereits im Gründungsjahr bezichtigten Kritiker anderer türkischer Vereine die TG-D einer „ungeheuren Anmaßung“ und warfen ihr vor als „Werkzeug Ankaras“ eine „nationalistische Lobby“ zu bilden (FAZ 01.12.1995; vgl. auch Oestergaard-Nielsen 2003). 1
Die harsche Kritik stammte vor allem von linken und kurdischen Organisationen. Angemahnt wurde, dass die aus der Türkei stammenden Migranten einen zu pluralen politischen, religiösen und ethnischen Hintergrund hätten, um eine einzige Dachorganisation zu schaffen. Der im Jahre 1993 gegründete „Rat der türkischen Staatsbürger“ hatte sich selbst bereits zum Repräsentanten aller türkischen Staatsbürger in Deutschland erklärt. Allerdings gelang es nur „right wing“ und „Sunni Muslim organizations“ unter einer Dachorganisation zu versammeln (Oestergaard-Nielsen 2003: 67). Aufgrund des Problems, zwei Dachorganisationen zu haben, wurden drei gemeinsame Treffen zwischen dem RTS, der TG-D und anderen Gruppen organisiert. Der Konsens scheiterte bereits an der Frage, wie im Zuge einer antirassistischen Kampagne der Begriff „Rassismus“ zu definieren sei (ebd.: 67-68).
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Formal-juristisch ist dieser Anspruch tatsächlich nicht erfüllt. Streng genommen sind alle drei Verbände „Interessenvertretungsverbände“ die das Ziel haben „Öffentlichkeitsarbeit für die Interessen der türkischen Minderheit“ zu leisten, ohne allerdings ein repräsentativ gewähltes Mandat einer juristisch anerkannten „türkischen Minderheit“ in der Bundesrepublik inne zu haben.2 Insgesamt jedoch waren die Kritiken in den Medien sehr gering. Als 1997 der TBB nicht an der Podiumsdiskussion zum Thema „Ambivalenzen des Minderheitenlobbyismus – Zur Funktion türkischer Interessenverbände“ teilnahm, kam es zu einem Schlagabtausch mit der taz. So hieß es in der taz unter der Überschrift: „Nicht interessiert: Interessensverbände: […]. Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob sich junge Deutsch-Türken noch durch ethnisch definierte Organisationen vertreten fühlen.“ (taz 12.03.1997a), worauf der TBB mit einem öffentlichen Brief verärgert reagierte (taz 03.04.1997). Doch diese in der Frage der Podiumsdiskussion und in einem Kommentar in der taz (taz 12.03.1997b) anklingende Skepsis gegenüber sich „ethnisch definierenden Organisationen“ verschwand in den folgenden Jahren aus der Presse. Wie die Analyse zeigt, werden die Verbände nicht nur in der Öffentlichkeit repräsentiert, sondern es werden auch ihre Meinungen und migrationspolitischen Forderungen wahrgenommen und stets wohlwollend diskutiert. Beispielsweise findet sich in der FAZ ein ausführlicher Artikel anlässlich des zehnjährigen Bestehens des TBB: „Die Idee, einen Dachverband für die früher unabhängig voneinander agierenden türkischen Organisationen zu schaffen, entstand in den achtziger Jahren. Am 1. Dezember 1991 wurde sie mit dem ‚Bund der Einwanderer/innen aus der Türkei in Berlin‘, der sich später in ‚Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg‘ umbenannte, umgesetzt. Gegenwärtig sind dem Verein neunzehn Mitgliedsorganisationen angeschlossen, die zusammen etwa 5000 Mitglieder haben.“ (FAZ 01.12.2001)
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Als die TG-D im Jahre 2000 nochmals alle verschiedenen Organisationen einlud, nicht nur den nationalkonservativen RTS, sondern auch religiöse Organisationen wie die DITIB, ging dies sowohl für einige Linke Organisationen als auch die kurdische KOMKAR zu weit. Letztere verabschiedete eine Presseerklärung mit folgendem Wortlaut: „[We] cannot understand a person who is supporting and defending Turkish mother tongue teaching in Germany but not supporting and defending education for Kurdish children in Kurdish language in Turkey. This is a kind of double-dealing policy“ (KOMKAR in Evrensel, 80.07.2000, zit. in Oestergaard-Nielsen 2003: 69). Die ethnischen Minderheiten aus dem Herkunftsland haben unter umständen eine differenzierende Wirkungen und erschweren die Organisation einer gemeinsamen Repräsentation als „die ethnische Minderheit“ im Ankunftsland. Doch dies kann hier nicht weiter vertieft werden (vgl. allgemein zu den Interviews mit Aktivisten: OestergaardNielsen 2003). 131
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Ihnen ist also allein ein symbolischer und keine formal-juristischer Vertretungsanspruch zu Eigen. Dies wäre in der Bundesrepublik auch kaum möglich, solange ihnen nicht ein Minderheitenstatus im Sinne des Europäischen Rechts zugestanden werden würde. Nur der dänischen und slawischen Minderheit ist ein solcher Status zugestanden. Der „jüdischen Gemeinde in Deutschland“ ist der Status freigestellt. Der türkischen Gemeinde ist dieser Status, obwohl anfangs von einigen Vertretern gefordert, verwehrt. Bei dem TBB und der TG-Berlin handelt es sich um Dach- bzw. Interessenverbände, die sich eigentlich regional auf die Bundesländer Berlin und Brandenburg beschränken. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums hatte die TG-Berlin noch eine große Bedeutung für die Medien. Allerdings spaltete sie sich gegen Ende der neunziger Jahre und verlor an Einfluss (taz 24.02.1997). Da beide Verbände durch die Region Berlin geprägt sind, aber dennoch überregional und bundesweit in der Presse wahrgenommen wurden, war es unerlässlich, beide Verbände zunächst in die Analyse einzubeziehen. Die TGBerlin gründete sich im Jahr 1985. Im anschließenden Unterkapitel wird gezeigt, dass ihre Bedeutung im Laufe der neunziger Jahre stark abnahm. Für eine inhaltliche Analyse über zehn Jahre war die Bedeutung der TG-Berlin im Vergleich zu den beiden anderen Verbänden zu gering. Sie wird daher in der qualitativen Analyse nicht miteinbezogen.
Daten und Kodierung In einem kürzlich publizierten methodologischen Aufsatz zur Qualität und Bedeutung von quantitativ genutzten „Newspaper Data“ in den Sozialwissenschaften, kommen David Ortiz, Daniel Myers, Eugene Walls und Maria-Elena Diaz zu einem ernüchternden Ergebnis: „no matter how we improve our collection of newspaper data via more comprehensive data collection or better sampling, we will never be able to remove the fundamental source of bias – the practices of newspaper reporters and editors“ (Ortiz et al. 2005: 412). Qualitativ und diskursanalytisch ausgebildete Soziologen und Soziologinnen mögen sich bei dieser Feststellung verwundert die Augen reiben. Welcher Wahrheitsbegriff, welcher Realitätsanspruch, so würde die Frage lauten, liegt diesem „bias“ zugrunde? Spätestens seit Michel Foucaults (1991) Diskursbegriff ist der Glaube an die wahre und objektive Widerspiegelung der „Welt da draußen“ in Texten und Aufschreibsystemen – sei es der Medien oder anderen Textgattungen – in arge Nöte geraten. Der Autor eines jedweden Textes muss notwendiger Weise selektieren. Die Welt ist nicht im Maßstab 1:1 repräsentierbar, schon gar nicht mit Texten und Zahlen. Damit ist der bias grundsätzlich in jedem Text konstitutiv enthalten. Wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive, beschreiben Niklas Luhmann (1995) und Jürgen Habermas (1988) ebenfalls dieses Gesetz. Luhmann 132
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hat wiederkehrend auf die notwendige Komplexitätsreduktion von Aufschreibsystemen im Besonderen und von kulturellen Bedeutungen im Allgemeinen hingewiesen. Eine bedeutungsorientierte Diskursanalyse ist nichts anderes, als nach den Selektionskriterien dieser biases zu fragen. Der bias ist kein methodisches „Problem“, sondern Teil des Forschungsgegenstandes (Foucault 1991). Gleichwohl ist die Bemerkung von Ortiz et al. nicht gänzlich zu ignorieren. Zunächst bestätigt sie die bereits geäußerte Skepsis gegenüber quantifizierend behaupteter Signifikanz der Medienanalysen. Entweder die Berechnungen gehen von einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus, dass die Berichterstattung den realen Ereignissen annähernd, d.h. zu einem gewissen vorhersagbaren Prozentsatz, entspricht oder sie verwirft diesen Realitätsanspruch. Im Falle der Bejahung wäre es möglich, von den Medienartikeln auf die soziale Realität zu schließen. Leider lassen die von Ortiz et al. vorgestellten Analysen diese Schlussfolgerung nicht zu. Der Fehlerquotient der Medienberichterstattung, beispielsweise gegenüber Protestereignissen, ist nicht kontrollierbar. Zwar finden sich gewisse Vorhersagbarkeiten gestattende Tendenzen bei der Themenselektion (räumliche Nähe zum Ereignis etc.), doch sind auch diese, über einen längeren Zeitraum betrachtet, instabil. Mediendaten, beispielsweise zu politischen Protestereignissen, verweisen soziologisch gewendet nicht auf die reale Häufigkeit von Protestereignissen, sondern auf die mediale Häufigkeit der Berichterstattung zu Protestereignissen. Medienartikel repräsentieren keine soziale Realität, sondern eine mediale Realität. Soziologisch sind Mediendaten nur eine soziale Realität, weil sie Teil der sozialen Kommunikation sind. Sie sind jedoch keine Realität für etwas anderes. Daher ist es auch problematisch, signifikante Prädiktoren für eine zeitlich höchst variable Berichterstattungsweise zu bemühen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Medien bei einer Wiederholung dieses Ereignisses identisch berichten, ist bereits durch das Neuheitsprinzip der Nachrichtenwerttheorie gering. Die Liste der weiteren Variationen wäre zu lang, um sie vollständig aufzuzählen (vgl. Ortiz et al. 2005).3 Wenn die Medien nicht auf die Realität „da draußen“, sondern auf sich selbst verweisen, so sind sie methodologisch auch als solche zu analysieren: „When newspaper data are used in this manner – to represent what appears in the media rather than as a proxy for some underlying social phenomenon,
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Neben der geographischen Distanz zum Geschehen (Ortiz et al. 2005: 410) und der Intensität des Ereignisses variieren die Faktoren gemäß der sich stets wandelnden Einflüsse wie Leserschaftsinteressen, Unternehmensinteressen der Verlage, mediale Routinen, politische Vorlieben bzw. direkte Einflussnahmen etc. (ebd.: 404-407). 133
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many of the concerns related to selection bias are eliminated or, at least markedly reduced“ (Ortiz et al. 2005: 412). Doch auch eine solche diskursanalytisch gewendete, qualitative Perspektive ist nicht vor biases gefeit. Auch Diskursanalysen wählen bestimmte Artikel aus und lassen andere unbeobachtet. Dies führt sie zwar nicht zu dem Fehlschluss einer vermeintlich in den Medien aufzufindenden sozialen Realität „da draußen“, jedoch kann es zu falschen Schlüssen der medialen Realität, d.h. des medialen Diskurses selbst führen. Dieses Problem gilt, wie bereits erwähnt, sogar für die empirische Soziologie im Allgemeinen. Weil wir das, „was wir über die Welt wissen“ nur durch die „Massenmedien wissen“ (Luhmann 1995: 9), ist jede soziologische Empirie mit dem selection bias der Massenmedien imprägniert, denn, so Luhmann weiter: „Das gilt auch für die Soziologen […]. Gerade wenn sie die so genannten empirischen Methoden anwenden, wissen sie immer schon, was sie wissen und was sie nicht wissen – aus den Massenmedien“ (ebd.: Fußnote 1). Weil jede empirische Fragestellung durch das massenmedial vermittelte Wissen geprägt ist, gelten die methodischen Probleme nicht nur für die Medienanalyse, sondern für die empirische Soziologie im Allgemeinen. Der in diesem Buch unternommene Versuch, sechs soziologische Konzepte zur Migration mit den sozialen Beschreibungskategorien der Massenmedien zu interpretieren und abzugleichen, stellt daher auch eine wissenssoziologische Einsicht bereit, die über den inhaltlichen Aspekt des jeweils analysierten Diskurses hinausweist. In den folgenden Kapiteln werden drei wesentliche methodische biases dargestellt, die sich vordergründig zwar nur auf die Methodik einer Medienanalyse beziehen, implizit jedoch auch für das Verhältnis von empirischer Soziologie und Massenmedien im Allgemeinen gelten. Dabei handelt es sich um den selection bias erster Ordnung (Themen- bzw. Textauswahl), den selection bias zweiter Ordnung (Daten- bzw. Zeitungsauswahl) und den selection bias dritter Ordnung (Typologie bzw. Textsequenzauswahl und computerunterstützte Kodierung). Jeweils anschließend werden die in dieser Studie verwendeten Vermeidungsstrategien gegenüber diesen methodischen Artefakten diskutiert.
Artikelauswahl Das methodische Feld der Textauswahl, d.h. der Quantität, Gattung und Interpretation ist in der Diskursanalyse umstritten. Hier ist nicht der Ort, die divergierenden und konkurrierenden Ansätze darzustellen. Die Einen beschränken sich bei der Textauswahl auf einen einzigen Zeitungsartikel, unterziehen diesen einer linguistischen Tiefenanalyse und beschreiben detailliert den unmit134
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telbaren sozialen Kontext (van Dijk 1993; Jäger 1997), die Anderen wählen randomisiert hunderte von Artikeln zu einem Thema aus, zählen methodisch kontrolliert Begriffe und Wortkombinationen (Franzosi 1995; Galliker 1996). Zwischen diesen beiden Polen sind die rahmenanalytischen Ansätze positioniert (Goffman 1980; Gamson/Modigliani 1989; Koopmans/Statham 1999a; Donati 2001). Nun gibt es zwei Wege, das methodische Problem der Textauswahl zu lösen: entweder mit einer methodologischen Doxa oder über den Versuch, anhand der jeweiligen Fragestellung die Auswahlstrategie diskursanalytisch zu begründen. Letzteres soll hier versucht werden. Für die Analyse der Repräsentation von Einwandererverbänden in bundesrepublikanischen Printmedien über den Zeitraum von zehn Jahren ist die tiefenstrukturelle, linguistische Analyse einiger weniger Artikel nicht geeignet. Dies wäre nur möglich, wenn auf die Frage nach der Akteursperspektive und dem zeitlichen Wandel verzichtet und stattdessen vom „migrationspolitischen Diskurs“ gesprochen werden würde, der sich, so die Meinung der tiefenanalytischen Methode, bereits in wenigen Artikeln artikuliere. Ein solches Vorgehen setzt jedoch ein erhebliches Vor- und Kontextwissen voraus, wobei die Herkunft dieses Kontextwissens zumeist nicht selbst methodologisch transparent ist.4 Auf der anderen Seite können keineswegs alle Artikel einer Zeitung ausgewählt werden. Jede selection hat also grundsätzlich einen bias (Ortiz et al. 2005: 402). Dieses Problem ist nicht „an sich“ zu lösen. In der Sprache der Medienanalyse heißt es auch inhaltlicher bzw. themenspezifischer selection bias, der hier als „selection bias erster Ordnung“ bezeichnet wird.5 Dabei wird die Entscheidung zur Auswahl bestimmter Artikel so organisiert, dass sie sich möglichst unabhängig vom eigenen „Kontextwissen“ und eigenen Vorurteilen vollzieht. Es sollte methodisch ein Verfahren angewendet werden, das die Analysierenden dazu zwingt, auch Themen und „issues“ zu berücksichtigen, von denen er oder sie entweder nichts wusste oder für die er oder sie sich bisher nicht interessierte. Um dies zu sichern, wurden für die vorliegende Studie als Grundgesamtheit sämtliche Artikel im Zeitraum von zehn Jahren ausgewählt, in denen die zwei meistzitierten türkischen Dachverbände erwähnt werden. Damit ist der selection bias nicht überwunden, sondern auf die Akteure, d.h. auf die Ver4
5
Die Gefahr besteht beispielsweise darin, die bereits angesprochene „Opferperspektive“ auf Migranten auch für den Fall der Medienberichterstattung zu reproduzieren. Aufgrund des inkorporierten Kontextwissens des Interpretierenden werden selektiv die Artikel zur Analyse ausgewählt, die beispielsweise eine besondere rassistische Struktur aufweisen. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass diese Artikel nicht existieren, ganz im Gegenteil, nur besteht die Gefahr, die Analyse auf diese Viktimisierung zu beschränken. Der selection bias erster Ordnung besteht in der selektiven Themenauswahl durch die Zeitungen selbst (Ortiz et al. 2005: 402). 135
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bände, „verschoben“. Ein solcher sowohl theoretisch als auch empirisch geleiteter bias hat jedoch zwei Vorteile: Er ist erstens theoretisch begründbar – die Annahme besagt, dass Verbände bei Ethnisierungsprozessen eine zentrale Funktion einnehmen –, und er ist zweitens methodisch kontrolliert – die Textauswahl ist nicht unmittelbar und intransparent von den jeweiligen inhaltlichen Interessen und dem Vorwissen der Analysierenden abhängig. Um ein gegenstandsnahes Beispiel zu nennen: Wenn die deutsche Kopftuchdebatte in der Bundesrepublik untersucht werden soll, dann entscheidet bereits die Artikelselektion über das Ergebnis. Normalerweise werden Berichte, Kommentare und Reportagen zum „Kopftuchstreit“ randomisiert ausgewählt, kodiert und in ihrem Gesamtbild gedeutet. Das Ergebnis lautet dann beispielsweise, dass die deutschen Medien dem „Kopftuchproblem“ im Besonderen und damit den Einwanderern und der Fremdheit im Allgemeinen mit Intoleranz und Exklusion begegnen. Es entsteht eine Dichotomie zwischen den „fremden Muslimen“ als Opfern und dem „deutschen hegemonialen Diskurs“ als Täter (Amir-Moazami 1999). Gleichzeitig ist es jedoch auch möglich, dass beispielsweise die türkischen Verbände sich gegen das Kopftuch aussprechen und die islamischen Verbände dafür. In diesem Fall ergäbe sich ein anderes Bild. Es stehen sich nicht mehr ausschließlich die dominante Mehrheit und die dominierte Minderheit gegenüber, sondern der Diskurs unterscheidet sich nach säkularen und orthodoxen Positionen. Bei der orthodoxen Position sind durchaus auch christliche, d.h. „deutsche“ Debattanten vertreten. Ethnisierte Diskurse kreuzen sich mit religiösen Diskursen. Auf beiden Seiten sind beide „Ethnien“ vertreten. Die Einwanderer sind hier weder eine homogene diskursiv ausgegrenzte Figur, noch bilden sie eine kulturelle Einheit. Wenn diese die ethnischen Grenzen überkreuzenden Positionen aus dem Blick geraten, laufen die Diskursanalysen Gefahr, eine ethnische Grenze zu reifizieren und mit Viktimisierungen symbolisch zu verstärken, obwohl sie in der Auswertung der Ergebnisse diesen Zustand als medialen Ausgrenzungdiskurs selbst identifizieren. Das Beispiel zeigt, wie eine randomisierte thematische Artikelauswahl einen medialen bias reproduzieren kann. Eine akteurspezifische Artikelauswahl ist nun keineswegs frei davon, jedoch produziert sie einen transparenteren und präziser kontrollierbaren bias. Sie umfasst thematisch sämtliche Themen und Meinungen eines Akteurs und zwingt die Analysierenden zu deren Berücksichtigung, auch wenn sie ihnen als irrelevant erscheinen mögen. Gleichzeitig sind die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit präziser gezogen. Es handelt sich nicht um „den Kopftuchdiskurs“, sondern um die öffentlichen Rahmungen von präzise benennbaren Akteuren in der Kopftuchdebatte. Je nach Anzahl der einbezogenen Akteure lässt sich das jeweilige Bild graduell als „der Dis-
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kurs“ beschreiben (christlich-muslimischer, politisch-ziviler Diskurs etc.) und verleitet nicht zu vagen Verallgemeinerungen „des Diskurses“. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen beruht die vorliegende Auswahlstrategie auf einer Vollerhebung aller Artikel eines Zeitraumes von zehn Jahren, in denen zwei Akteure namentlich erwähnt werden. Der Erhebungszeitraum erstreckt sich von 1995 bis 2004. Eine solche Selektionsstrategie ist allerdings an die Existenz einer elektronischen Datenbank geknüpft, die einen weiteren, in diesem Fall technisch bedingten selection bias bei der Artikelauswahl bedeutet. Verwendet wurde die Datenbank LexisNexis. Diese Datenbank kann zurzeit als die verlässlichste Ressource des Artikelsamplings bezeichnet werden, da sie im Gegensatz zu den CD-ROM gestützten Datenbanken, die von den einzelnen Zeitungen vertrieben werden, eine identische Suchmaske für alle ausgewählten Zeitungen bietet. Dies bietet den Vorteil, für alle Zeitungen die gleiche Suchwortkombination verwenden zu können. Obzwar systematische Studien zur Zuverlässigkeit von LexisNexis derzeit fehlen, weist vieles daraufhin, dass auch diese Datenbank Probleme aufweist, beispielsweise die Auslassungen von bestimmten Zeitungen oder Zeiträumen (Ortiz et al. 2005: 403). Zudem sind nicht für sämtliche Zeitungen alle Jahrgänge gleichermaßen vorhanden (ebd.). Dieses Problem lässt sich lösen, indem jede einzelne Zeitung für den gesamten Zeitraum vorab getestet wird. Darüber hinaus ergaben sich mit LexisNexis Schwierigkeiten bei der Artikelauswahl (Retreaval). Die in dieser Studie verwendeten Suchworte lauteten beispielsweise: „türkische* gemeinde*“ sowie „türkische* bund*“. Dabei wurden falsch-positive Artikel ausgewählt, die nur manuell zu korrigieren waren. Die Hauptfehlerquelle war nicht technisch, sondern lexikalisch durch das Suchwort „türkische gemeinde“ bedingt. Dieser Begriff dient auch als allgemeine Bezeichnung für die türkische community in Deutschland.6 Eine andere falsch-positive technisch bedingte Fehlerquelle waren die Umlaute „ü“ und „ue“. So wählte die Suchmaschine, teilweise zweimal dieselben Artikel aus, obwohl in der Suchmaske lediglich der Umlaut „ü“ verwendet wurde. Doch stellte eine solche breite Suchstrategie sicher, dass kein Artikel übersehen wurde.
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Zudem ergab sich das Problem, dass auch Regionalverbände aus anderen Bundesländern, wie TG-Rhein-Ruhr, TG-Hamburg, TG-Bayern oder TG-SchleswigHolstein mit in das Sample gerieten. Da ihre zahlenmäßige Erwähnung in den zehn Jahren jedoch zu vernachlässigen ist, kann hier keine gesonderte Analyse vorgenommen werden. Die Artikel wurden deshalb aus dem Untersuchungssample wieder exkludiert. Die Vergleichbarkeit ist damit insofern gesichert, als dass zunächst zwei länderspezifische Verbände, der TBB und die TG-Berlin (die kein Mitglied in der TG-D ist), d.h. des gleichen Bundeslandes, untereinander verglichen wurden. Anschließend konnte dann ein weiterer Vergleich mit dem deutschlandweiten Verband, der TG-D vorgenommen werden. 137
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Eine weitere technische Fehlerquelle der Datenbank bestand in der falschen Datierung und Doppelzählung sämtlicher taz Artikel von September bis August 2000 und 2003. Auch dieses Problem ließ sich manuell beheben und betraf zudem nur diese beiden Jahre. Falsch-positive Artikel lassen sich manuell korrigieren, falsch-negative nicht. Die manuelle Durchsicht und Korrektur ist zwar arbeitsintensiv, jedoch zuverlässig.
Zeitungsauswahl Eine weitere Verzerrungsgefahr ergibt sich durch die Auswahl der Zeitungen. Viele Analysen untersuchen jeweils ein oder zwei Leitmedien (Gerhards et al. 1998; Koopmans/Statham 1999a; Van de Steeg et al. 2003). Im Falle der USA liegen inzwischen ernüchternde Analysen zur dieser Strategie bezüglich der New York Times und der Washington Post am Beispiel ihrer Berichterstattung von Protestereignissen vor (vgl. Ortiz et al. 2005: 408-411). Als problematisch erwies sich vor allem, dass die Selektivitiät der Berichterstattung nicht stabil ist, d.h. es konnten keine systematischen Auslassungen festgestellt werden, sondern die Auslassungen variierten über die Zeit und gemäß der Themen. Für die deutschen Leitmedien liegen vergleichbare Studien nicht vor. Eine Möglichkeit, um das Problem zumindest zu minimieren, besteht in der Ausweitung der untersuchten Zeitungen. Für die Analyse der deutschen Medienrepräsentation wurden daher vier überregionale Tageszeitungen ausgewählt: die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Süddeutsche Zeitung (SZ), DIE WELT (WELT) und die tageszeitung (taz). Die FAZ und die SZ gelten als die zentralen, so genannten „Qualitätszeitungen“ in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Als „Prestigemedien“ kommt ihnen ein herausragender Einfluss in der Medienlandschaft zu. Ihre Themen „diffundieren“ in andere Medien (Gerhards et al. 1998: 190-193). Auch zeigen empirische Untersuchungen, dass die FAZ und die SZ bei Journalisten als wichtigste Referenzmedien gelten (Kepplinger 1994). Unter den Bundestagsabgeordneten sind sie die meistgelesenen Zeitungen (Wittkämper et al. 1992). Gemeinhin wird die FAZ eher einer konservativen und die SZ eher einer liberalen redaktionellen Linie zugeordnet. Empirische Analysen zeigen jedoch auch, dass solche ideologischen Präferenzen sich anhand der Artikelstruktur kaum nachweisen lassen. Die Differenzen zwischen den beiden Zeitungen erwiesen sich teilweise nur als sehr schwach, teilweise den politischen Lagern zuwiderlaufend, d.h. als empirisch nicht signifikant (Gerhards et al. 1998: 9599). Die beiden anderen für diese Analyse ausgewählten Zeitungen, die taz und die WELT gelten nicht als Prestige- und Referenzmedien. Beide Zeitun138
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gen sind für die Analyse insofern aussagekräftig, weil ihrer jeweiligen redaktionellen Linie eine noch polarere ideologische Präferenz zugeschrieben wird. Die taz gilt als dem linksalternativen Milieu und der Partei der Grünen zugehörig, während die WELT dem rechtskonservativen und wirtschaftsliberalen Lager zugerechnet wird. Andere empirische Untersuchungen zeigen indes, dass auch diese Differenzen weniger ausgeprägt sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag (Rauer 2004c; Rauer 2004a).
Computergestützte Kodierung Die Kodierung der einzelnen Artikel ist ein weiterer Schritt, bei dem ein grundsätzlicher selection bias droht. Seit der Grounded Theory besteht Konsens darüber, dass ein rein deduktives Verfahren den Weg vor unerwarteten neuen Ergebnissen versperrt und für eine qualitative Methode unpraktikabel ist. Vollständig induktive Vorgehensweisen sind jedoch ebenso eine naive wie forschungspraktisch unrealistische Utopie (Glaser/Strauss 1967). Eine „inductivist research strategy which demands an empty head instead of an ‚open mind‘“ (Kelle 2005) ist nicht nur arbeitsökonomisch kaum durchführbar, sondern auch eine epistemische Illusion. Jeder Kodierprozess ist durch ein begriffliches Vorwissen vorstrukturiert. Im Falle der qualitativen Kodierung großer Textmengen besteht das Hauptproblem darin, dass zu Beginn eines bedeutungsorientierten Kodierprozesses noch nicht gewusst werden kann, welche kategorialen Unterscheidungen von Bedeutung existieren werden und welche nicht. Um dieses Problem zu minimieren, wurde deshalb zunächst nach inhaltsanalytischen Themenspektren offen vorkodiert. Anschließend wurde in einem zweiten Durchgang der Kategorienbaum spezifiziert. Grundsätzlich wurden in beiden Durchläufen sämtliche Artikel vollständig gelesen. Die Sequenzen, in denen die Verbände explizit erwähnt wurden, wurden ohne Ausnahme kodiert, die Kontextsequenzen nur gemäß der inhaltlichen Relevanz. Damit ist ein hoher Grad an „Zwang“ zur inhaltlichen Systematik, trotz zunächst induktiver und offenerer Kodierbaumerstellung, gesichert. Zwei Durchgänge erwiesen sich für eine interpretierende Bedeutungsanalyse von medialen Rahmen aufgrund des Wissenszuwachses während des Kodierprozesses als unumgänglich. Erst nach Abschluss der inhaltsanalytischen Vorkodierung können die einzelnen Textstellen in einem zweiten Gesamtdurchgang sukzessiv auf wenige Oberkategorien reduziert werden. Zwei vollständige Durchgänge sind zwar arbeitsökonomisch mit einem hohen Aufwand verbunden – um eine qua-
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litativ angemessene Analyse der Bedeutungen durchführen zu können, erwiesen sie sich jedoch als unvermeidlich.7 Sämtliche Artikel wurden mit Unterstützung des Computerprogramms „MAX.QDA“ (ehemalig: Winmax) kodiert. Die Anwendung von computergestützten Verfahren in der qualitativen Forschung stieß lange Zeit auf Skepsis. Traditionell wurden Computer nur für rein quantitative Inhaltsanalysen verwendet. Der zentrale Unterschied zwischen quantitativen und qualitativen Programmen besteht darin, dass die quantitativen Programme (SPSS) für die Analyse von Daten genutzt werden, während die qualitativen Programme (Max.QDA, QSR-NUD.ist und Atlas.ti) vor allem für die Strukturierung und Organisation der Text-Daten zu verwenden sind (Kelle 2000: 488).8 Inzwischen hat der technische Fortschritt der vorhandenen qualitativen Software die anfängliche Skepsis weitgehend zerstreut. So findet sich bereits seit einigen Jahren in der Literatur eine Reihe von Argumenten, die die Vorteile der computergestützten Verfahren hervorheben (Franzosi 1995). Sowohl aus der eigenen Erfahrung als auch anknüpfend an die Literatur zu diesem Thema sind insbesondere die folgenden Vorteile zu nennen (Kuckartz 1999; Plaß/Schetsche 2000; Lüders 2000): In relativ kurzer Zeit können nicht nur größere Textmengen analysiert werden, sondern dieselben Datensätze lassen sich, wenn es geboten erscheint, sowohl mit quantitativen als auch mit qualitativen Methoden bearbeiten. Des Weiteren ist der Kodierprozess transparenter, da in jedem Stadium der Analyse ohne jeden zeitlichen Aufwand die Möglichkeit besteht, bis auf die Basiseinheit, d.h. den Originaltext, zurückzugreifen. Dies verbessert nicht nur die Möglichkeiten der Fehlerkontrollen, sondern erleichtert ein theoriegeleitetes, gemischt deduktiv-induktives Kodierverfahren. Zudem ist das Problem, dass inmitten des Kodierprozesses ein unvorhergesehenes, jedoch relevantes Thema erscheint, leichter lösbar. Dies gilt zuforderst für die Schwierigkeit, dass oft nicht beurteilt werden kann, ob es sich lediglich um Einzelfälle handelt, oder ob sich das Thema im Laufe des Kodierprozesses auch in anderen Texten als bedeutsam erweist. In diesen Fällen erleichtert das computergestützte Analysieren die probabilistische Integration dieser Themen in die Gesamtanalyse durch die Möglichkeit der Rekodierung. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: In kürzester Zeit können unterschiedliche Kodierungen zusammengefasst werden, falls sich die gewählte Unter7
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Deshalb wurden die drei häufigsten Oberkategorien sowohl einer deskriptiven klassischen Inhaltsanalyse (Früh 2001) als auch einer qualitativen Rahmenanalyse unterzogen. Die deskriptive inhaltliche Darstellung bietet gewissermaßen den diskurseigenen Kontext für die symbolische Dimension der Rahmungen. Beide Schritte wurden in der Darstellung der jeweiligen Analysen als voneinander getrennt ausgewiesen. Allerdings lassen sich in den meisten qualitativen Programmen die Daten in eine quantitativ gut zu bearbeitende Form, bspw. in SPSS transformieren.
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scheidung nicht bewährte, ohne dass bei dieser Zusammenfassung der Rückgriff auf die ehemalige Unterscheidung und auf den Basistext verloren geht. Schließlich besteht ein weiterer Vorteil darin, dass durch den beliebig erweiterbaren hierarchischen Kodierbaum eine große Anzahl an Feinunterscheidungen möglich ist, ohne dass diese große Anzahl die Übersicht zu den wesentlichen Themenbereichen beeinträchtigt. Insgesamt sind also nicht nur die Reflexivität und die Transparenz des Kodierungsprozesses erhöht, sondern auch die Möglichkeit gegeben, einen hohen Grad an Detailgenauigkeit und Präzision der Kodierung zu erreichen, ohne sich im Gegenzug in dieser Komplexität zu verlieren. Welche negativen Effekte sind anzuführen? Zunächst ersetzt das Programm in keiner Weise die analytische Kompetenz des Kodierenden. Sämtliche Probleme und Lösungsmöglichkeiten, die bereits Glaser und Strass thematisiert haben, sind diesbezüglich weiterhin gültig. Allerdings besteht die Gefahr, dass die methodologischen Annahmen, mit denen die Software entwickelt wurde, in einer „unreflektierten Weise“ genutzt werden (Kelle 2000: 500). Dies gilt nicht nur für die von den Programmen angebotenen Verknüpfungslogiken, die, so die eigene Erfahrung mit Max.QDA und QSR-NUD.ist, äußerst empfindlich auf zufällige Differenzen reagieren und daher nur mit großer Vorsicht zu verwenden sind. Vielmehr gilt dies auch bereits für die in den Programmen hierarchisch angelegte Verzeichnisbaumlogik. Diese Logik suggeriert, dass beispielsweise lexikalisch analoge Begriffe immer unter die gleiche Kategorie zu subsumieren sind. Dadurch besteht die Gefahr, entweder den Kontext zu vernachlässigen oder einen Bedeutungswandel zu übersehen. In Bezug auf die Frage nach einem Bedeutungswandel bewährt sich das Programm allerdings insofern, dass ohne jeden Mehraufwand die jeweiligen Textstellen einer Kategorie und gleichzeitig den jeweiligen Erscheinungsjahren zugeordnet werden können. Des Weiteren sind an die jeweiligen Textstellen Memos anhängbar, die vorläufige Bedeutungsdimensionen als solche ausweisen und daher später ohne großen Aufwand überarbeitbar sind. Bei der anschließenden Interpretation können so die quantitative Konjunktur und der qualitative Bedeutungswandel eines Begriffes unter jeweils sich im Kodierprozess neu ergebenden Fragstellungen und stets im Rückbezug zum Basistext flexibel en bloc analysiert werden.
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6. Me diale Präse nz de r Verbände
Ab s o l u t e D i m e n s i o n In dem Zeitraum vom 01.01.1995 bis zum 31.12.2004 fanden sich in den Zeitungen FAZ, SZ, WELT und der taz insgesamt N=811 Artikel, in denen einer der drei Verbände genannt wurde. Pro Jahr erschienen in der Summe der vier Zeitungen etwa 80 Artikel. Die Häufigkeit variierte dabei zwischen N=47 Artikel im Jahre 1995 und N=165 Artikel im Jahre 1999. Im Jahre 2004 fand sich ein weitere Häufung von 123 Artikeln (vgl. Tabelle 4).1 Tabelle 4: Nennung der Dachverbände TG-D, TG-Berlin und TBB insgesamt im Zeitraum 1995-2004 pro Artikel (N=811) 200 150 100 50 0 1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Es zeigt sich also seit dem Jahr 1995, dem Gründungsjahr des Türkischen Bundes, eine Stetigkeit der medialen Aufmerksamkeit. Die außerordentliche Häufigkeit im Jahre 1999 ist in erster Linie durch das Erdbeben in der Türkei und die Reform des Staatsbürgerschaftrechtes in der Bundesrepublik bedingt, 1
Die Daten beruhen auf einer Volltextanalyse der Datenbank LexisNexis und einer anschließenden manuellen Fehlerkorrektur der falsch-positiven Ergebnisse. 143
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
während im Jahre 2004 verschiedene, thematisch etwa gleich gewichtete Ereignisse zu der besonderen Häufigkeit beitrugen. Hierzu zählten das Attentat auf Theo van Gogh in den Niederlanden, die Debatte um die Kopftuchverbote und um den bekennenden islamischen Religionsunterricht in den Bundesländern sowie die Diskussion um einen künftigen Beitritt der Türkei in die Europäische Union.
Vergleichende Dimensionen Zunächst bietet es sich an, die sozialräumlich analogen Verbände, den TBB und die TG-Berlin isoliert miteinander zu vergleichen. Beide Verbände sind laut ihres Namens länderspezifisch auf die Region Berlin-Brandenburg begrenzt und stehen damit in einem direkten Konkurrenzverhältnis, politische Themen, Debatten und Kommentare in den Medien zu etablieren. Es wurde bereits erwähnt, dass sich beide Verbände in ihrem Selbst- aber auch im Fremdverständnis politisch in eher konservativer (TG-Berlin) und eher liberal, sozialdemokratischer (TBB) Ausrichtung unterscheiden. Bereits rein quantitativ ist das Ergebnis überraschend asymmetrisch. Bezogen auf die mittlere Häufigkeit während des gesamten zehnjährigen Berichtszeitraums wird der TBB viermal häufiger erwähnt als die TG-Berlin.2 Differenziert nach der relativen Häufigkeit pro Jahr zeigt sich darüber hinaus, dass sich die Asymmetrie ab dem Jahr 1997 etwa gleich bleibend vergrößerte (vgl. Tabelle 5). Während der Anteil der Nennungen der TG-B in den Jahren 1995 und 1996 noch bei 37 bzw. 41 Prozent lag, pendelt sich ihr relativer Anteil in den Folgejahren zwischen 22 und 4 Prozent ein. An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass sich, vergleicht man lediglich die beiden regionalen Verbände miteinander, eine eindeutige Präferenz für den liberalen TBB herausstellt. Diese quantitative „Unausgewogenheit“ der beiden miteinander konkurrierenden Interessenverbände wirft Fragen an die jeweiligen Inhalte und Rahmungen der Verbände auf. Es wäre also in der folgenden Analyse zu klären, warum bestimmte migrationspolitische Repräsentanten und deren Themen in der Presse stärker berücksichtigt werden als andere. Diese Präferenz für die eine migrationspolitische Richtung könnte die in der deutschen Öffentlichkeit als legitim angesehene Migrationspolitik von Einwanderern erhellen. Allerdings tendiert die Repräsentation der TG-Berlin annähernd gegen Null. Auch spaltete sich der Verband nach einem Streit nochmals auf. Aus diesen Gründen wird auf die inhaltliche Tiefenanalyse der Rahmungen der TGBerlin im zweiten Teil dieser Arbeit verzichtet.
2
Vgl. Anhang: Tabelle 19.
144
MEDIALE PRÄSENZ DER VERBÄNDE
Tabelle 5: Relative Häufigkeit der TG-Berlin und TBB pro Jahr (Angaben in Prozent) 100 80
TBB
60 40
TG-B
20 0 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
Eine der Ursachen für die abnehmende Bedeutung der TG-Berlin ab dem Jahre 1997 könnte aber auch mit der Gründung des bundesweiten Verbandes, der TG-D, im Jahre 1995 zusammenhängen. Zieht man die Erwähnungen dieses Verbandes hinzu, so scheint es, als würde rein quantitativ die Funktion des zweiten Ansprechpartners von der TG-Berlin auf die TG-D übertragen. So pendelt sich der Anteil der TG-D zwischen dreißig und vierzig Prozent aller jährlichen Erwähnungen ein (vgl. Tabelle 6). Vergleicht man nun die TG-D mit dem TBB, so ist ein zweites Resultat besonders bemerkenswert. Nicht nur im Vergleich zur TG-Berlin, sondern auch im Vergleich zur TG-D hat der TBB rein quantitativ eine häufigere Nennungsrate. Obwohl dieser Verband länderspezifisch agiert und selbst ein Mitglied der TG-D ist, besitzt er, mit Ausnahme der Jahre 1997 und 2004, eine höhere quantitative Medienpräsenz (vgl. Tabelle 6). Die Werte der drei Verbände der Nennungen pro Artikel und Jahr divergieren dementsprechend.3 Folgerichtig könnte bereits aufgrund der quantitativen Häufigkeit geschlossen werden, dass die Bedeutung der regionalen Berliner Verbände für die Presse nicht auf die Region Berlin-Brandenburg beschränkt ist. Dies bestätigt sich, wie später zu zeigen ist, auch in den inhaltlichen Themen (vgl. Kapitel 7).
3
Vgl. Anhang: Tabelle 19. 145
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 6: Verteilung der TG-D, TG-Berlin und des TBB pro Jahr (Angaben in Prozent) 80 70 60
TBB
50 40 30
TG-D
20 10
TG-B
0 1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Vgl. Anhang: Tabelle 19 Die zeitlichen Schwankungen hängen zum einen, so könnte man vermuten, mit der regionalen Bindung des Türkischen Bundes an Berlin-Brandenburg zusammen. Beispielsweise wurde in den Jahren 2002-2003 viel zur länderspezifischen Reform des Islamunterrichts in Berliner Schulen berichtet. Ein Thema, das spezifisch für das Land Berlin ist und bei dem sich die Türkische Gemeinde eher zurückhält. Dies wird erst in der inhaltlichen Rahmenanalyse genauer erläutert. Insbesondere die Themen des Jahres 2004 erwiesen sich hier als sehr aufschlussreich. Festzuhalten ist, dass sich rein quantitativ die drei Verbände sehr ungleich verhalten. Während der TG-Berlin an Bedeutung einbüßt, haben in den letzten zehn Jahren der TBB und die TG-D eine stetige, sich nur leicht in der Häufigkeit unterscheidende mediale Präsenz erreicht. Die dritte allgemeine, quantitativ zu klärende Frage ist die nach dem Vergleich der Zeitungen untereinander. Zwei Aspekte sind hier entscheidend: erstens, ob sich die Zeitungen bereits quantitativ ablesbar unterschiedlich häufig den Belangen und Forderungen der Verbände widmen, und zweitens, ob die jeweiligen Zeitungen einen der beiden Verbände in ihrer Berichterstattung vorziehen. Zu vermuten wäre beispielsweise, dass sich die linksalternative taz und die liberale SZ eher für die Äußerungen von Migrantenorganisationen interessierten als die konservative FAZ und WELT. Die Resultate bestätigen nur sehr eingeschränkt diese zwei Hypothesen. Zunächst ist ein sehr auffälliger Befund hervorzuheben: die Sonderrolle der taz gegenüber den drei anderen Zeitungen. Rein quantitativ zeigt sich das besondere Interesse dieser linksalternativen Zeitung eindrucksvoll. Bezogen auf das Gesamtsample erschienen 67-68 Prozent aller Artikel in der taz (vgl. Tabelle 7). Das restliche Drittel des Gesamptsamples verteilt sich etwa
146
MEDIALE PRÄSENZ DER VERBÄNDE
gleichgewichtig auf die übrigen drei Zeitungen: zehn Prozent in der SZ, vierzehn Prozent in der FAZ und neun Prozent in der WELT. Tabelle 7: Verteilung der Artikel pro Zeitungen (Angaben in Prozent) 80 70 60 50 40 30 20 10 0 taz
SZ
FAZ
WELT
Vgl. Anhang: Tabelle 18 Diese quantitative Differenz besagt, dass sich bei der redaktionellen Linie gegenüber migrationspolitischen Verbänden keine prägnante, nach den politischen Lagern strukturierte Selektivität der vier Zeitungen beobachten lässt. Stattdessen besitzt die taz eine deutliche Sonderposition gegenüber den anderen drei Zeitungen. Die Zeitung hat ein offenbar singuläres Sonderinteresse an den migrationspolitischen Verbänden. Diese starke Asymmetrie kann genutzt werden, um die Frage zu klären, welche Verbandsrahmungen das Interesse der bundesdeutschen Leitmedien wie FAZ und SZ wecken und welche nur für eine Zeitung aus einem spezifischen Milieu, wie die taz, berichtenswert erscheinen. Daran anschließend ist die Frage nach der relativen Repräsentation der Verbände in den vier Zeitungen zu beantworten. Auch diese Frage ist relevant, um die politische Ausrichtung der Berichterstattung erfassen zu können. Die Hypothese ist, dass die eher liberalen Zeitungen, taz und SZ, den eher liberalen TBB bevorzugt zu Wort kommen lassen und die eher konservativen Zeitungen, FAZ und WELT, eher die TG-D und die TG-Berlin. Doch auch hier ergibt sich keine durchgängige Differenz (vgl. Tabelle 8).4
4
Beide Samples ergaben miteinander addiert n=1047, dies bedeutet, dass es in 73 Fällen zu Doppelzählungen kam, d.h. in n=73 Artikeln wurden beide Vereine genannt. Die Artikelanzahl würde also nicht n=811, sondern n=884 betragen. Diese Doppelung kann jedoch vernachlässigt werden, da es ja um die Frage nach der Nennungshäufigkeit der einzelnen Vereine geht. Treten sie zusammen in einem Artikel auf, so ist in gewisser Weise auch ihre Bedeutung stärker. Diese Differenz ist im Bezug auf die diskursive Bedeutung also zu vernachlässigen. 147
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 8: Verteilung der drei Dachverbände pro Zeitung (Angaben in Prozent) 100 80
TG-B
60
TBB
40 TG-D 20 0 taz
SZ
FAZ
WELT
Die taz5 und die WELT6 erwähnen die drei Verbände mit einer nahezu identischen, relativen Verteilung. Der TBB hat einen Anteil von 57 bzw. 58 Prozent, die TG-D von 32 bzw. 31 Prozent und die TG-Berlin von jeweils 10-11 Prozent. Etwas heterogener ist das Bild im Falle der beiden anderen Leitmedien: so ist die SZ7 die einzige Zeitung, bei der die TG-D mit 56 Prozent einen höheren Anteil als der TBB mit 37 Prozent hat. Im Falle der FAZ8 liegen TBB und TG-D mit jeweils knapp über 40 Prozent gleichauf, allerdings hat hier die TG-Berlin mit 15 Prozent den im Vergleich zu den anderen Zeitungen relativ größten Anteil. Bei der SZ kommen der TG-Berlin lediglich sieben bis acht Prozent zu. Doch diese Differenzen sind zu vernachlässigen. Diese vergleichenden Ergebnisse lassen keinerlei Schlüsse dafür zu, dass die jeweilige Nennung der drei Verbände nach politischen Vorlieben erfolgt. Die beiden, politisch betrachtet, konträrsten Zeitungen taz und WELT erwähnen alle drei Verbände zu nahezu identischen Anteilen. Die FAZ berichtet eher gleichteilig und die SZ bevorzugt im Gegensatz zu allen anderen Zeitungen nicht den „liberalen“ TBB, sondern die politisch eher zurückhaltende TGD. Die sich am explizitesten „konservativ“ verstehende TG-Berlin wird in allen vier Zeitungen nur am Rande erwähnt. Die sehr dezenten jeweiligen Vorlieben der Zeitungen scheinen daher eher von individuellen redaktionellen Motivationen als durch ideologische Lager geprägt zu sein. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch die Frage zu beantworten, ob sich im Laufe der zehn Jahre markante Trends und Veränderungen der Artikelanzahl ergeben oder die ob relative Verteilung eher stetig verläuft. All5 6 7 8
Vgl. Anhang: Tabelle 20. Vgl. Anhang: Tabelle 23. Vgl. Anhang: Tabelle 21. Vgl. Anhang: Tabelle 22.
148
MEDIALE PRÄSENZ DER VERBÄNDE
gemein betrachtet ist eher eine Verstetigung der relativen Verteilung zu konstatieren (vgl. Tabelle 9). Tabelle 9: Verteilung der Artikelanzahl der Zeitungen pro Jahr (Angaben in Prozent) 100 80
taz
60
SZ
40
FAZ
20
WELT
0 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
Vgl. Anhang: Tabelle 18 Dennoch sind einige Details erwähnenswert. Zum einen zeigt sich die starke Diskontinuität der WELT. In den Jahren 1995 bis 1998 bleiben die Verbände vollständig unerwähnt. Hingegen im Jahr 1999, dem Ausnahmejahr, und in den Jahren 2003 und 2004, beläuft sich der Anteil der WELT-Artikel um etwa 20 Prozent. Dies könnte mit der Gründung eines Berliner Regionalteils im Jahre 2003 bei der WELT zusammenhängen. Allerdings hatten zwischenzeitlich die FAZ und SZ in den Jahren 1999-2002 ebenfalls Berliner Regionalteile, ohne dass sich ihr Anteil bedeutend veränderte. Daher scheinen für die Diskontinuitäten in der Berichterstattung möglicherweise wiederum spezifische Journalistenkompetenzen die Ursache zu sein. Diese Frage muss allerdings aufgrund der Datenlage letztlich offen gelassen werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die rein quantitative Verteilung der Artikel mit Ausnahme zweier Häufungen in den Jahren 1999 und 2004 relativ gleichbleibend verläuft. Diese Verstetigung spricht für eine Institutionalisierung der Dachverbände innerhalb der redaktionellen Linien und journalistischen Routinen. Politische Vorlieben für einen der beiden Verbände lassen sich auf der Ebene der Nennungshäufigkeiten nicht erkennen. Darüber berichtet die linksalternative taz im Gegensatz zu den drei anderen Zeitungen in einem ungleich häufigeren Maße. Diese strukturelle Asymmetrie kann bei der anschließenden inhaltlichen Analyse dazu dienen, Themen mit breitem Nachrichtenwert für alle vier Zeitungen von spezielleren Themen zu unterscheiden, die lediglich in der taz erschienen. Wenn eine solche thematische Selektivität nicht zu beobachten ist, dann ist von einer relativen Repräsentativität der Zei149
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
tungsauswahl auszugehen. Dieser Sachverhalt wird jedoch später in den Schlussfolgerungen (Kapitel 7) nochmals aufgegriffen und ausführlicher diskutiert.
150
7. Migrationspolitische Forderungen
Bei der Kodierung des Gesamtsamples wurden sämtliche Artikel erfasst und inhaltlich sowie formal einer Kategorie zugeordnet. Insgesamt fanden sich über tausend Aussagen (n=1314), die somit die Grundgesamtheit der Analyse bilden.1 Formal wurden sämtliche Aussagen nach vier Unterscheidungsmerkmalen unterteilt: erstens „Forderungen“, zweitens „Kritiken und Kommentare“, drittens „Aussagen Dritter zu den Verbänden“ und viertens „Aktionen, Initiativen und Performanzen“ (vgl. Tabelle 17). Diese Unterteilung diente jedoch nur der Übersicht. Sie wird in der folgenden Analyse nicht weiter berücksichtigt, da eine erschöpfende Darstellung aller Kodierungen zu oberflächlich bleiben müsste und die hier gestellte Fragestellung nicht erhellen würde. Knapp 70 Prozent (n=911) aller Aussagen waren entweder „Forderungen“ oder „Kritiken und Kommentare“. Auf diese wird sich hier beschränkt. Sie bildeten die empirische Grundlage für die im Folgenden vorgestellten inhaltlich qualitativen Analysen. Um einen Überblick zu den zentralen Themenfeldern zu erhalten, wurden gemäß der Grounded Theory zunächst die Forderungen, Kritiken und Kommentare unter einer jeweiligen thematischen Oberkategorie zusammengefasst. Nach Abschluss der Kodierung aus etwa 60 verschiedenen Kategorien wurden sechs sich inhaltlich unterscheidenden Oberkategorien identifiziert (vgl. Tabelle 10). Abschließend noch eine Anmerkung zu den Tabellen: Ab hier und im Folgenden werden sämtliche Daten grundsätzlich ohne die Rahmungen des TGBerlin dargestellt, ohne dass dies bei den jeweiligen Tabellen und Prozentangaben noch eigens erwähnt wird.
1
Darunter finden sich Doppelkodierungen. 151
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 10: Forderungen, Kritiken und Kommentare insgesamt (TBB und TGD, 1995-2004, Summe absolut, N=911)
Staatsbürgerschaft Islam Integration Ausgrenzung, Rassismus EU-Beitritt Sonstige 0
25
50
75
100 125 150 175 200 225 250
Etwa ein Viertel (26 Prozent) sämtlicher Forderungen, Kritiken und Kommentare beziehen sich auf das Thema der „Staatsbürgerschaft und Einbürgerung“. Etwa ein Fünftel (22 Prozent) der Forderungen etc. beziehen sich auf das Themenspektrum „Islam“. Ebenfalls 22 Prozent setzen sich mit dem Problemfeld „Integration“ in Form von Bildung, Sprache und Arbeit auseinander. Das Thema „Ausgrenzung, Rassismus oder Diskriminierung“ findet sich in 14 Prozent der Forderungen. Zu 8 Prozent werden Forderungen zur „Aufnahme der Türkei in die Europäische Union“ in den Medien zitiert oder inhaltlich wiedergegeben. Alle anderen Themenbereiche wurden unter der Kategorie „Sonstiges“ zusammengefasst.2 Nach Abschluss der inhaltlichen Kodierung ergab sich, dass nicht allen dieser sechs Kategorien ein analoger Komplexitätsgrad oder eine ähnliche diskursive Bedeutung zukommt. Beispielsweise waren die Aussagen zum Thema „EU-Beitritt der Türkei“ auf die Jahre 2003 und 2004 beschränkt. Das Thema bildete bisher keinen eigenen diskursiven Bedeutungshorizont aus. In ähnlicher, wenn auch abgeschwächter Weise gilt dies für die Aussagen zum Thema „Ausgrenzung und Rassismus“. Dabei handelte es sich meistens um Kommentare zu spezifischen Personen oder Institutionen. Diese Problematik ist zudem sozialwissenschaftlich sehr gut untersucht (vgl. u.a. zu einer Analyse anhand eines ähnlichen Datensamples: Rauer 2004a; 2004c). Aus diesen Gründen wurde die Analyse auf die drei häufigsten Kategorien, „Staatsbürgerschaft“, „Islam“ und „Integration“ beschränkt. 2
Unter „Sonstiges“ (7 Prozent) wurden n=40 Aussagen zu einem Thema kodiert, die sich auf das Erdbeben im Jahre 1999 bezogen. Die restlichen 35 Aussagen waren inhaltlich sehr heterogen und eher singulär.
152
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Bevor die drei Rahmungskategorien chronologisch und qualitativ dargestellt werden, sei hier noch eine weitere quantifizierende Einordnung erwähnt. So ist die Frage zu beantworten, welchen quantitativen Anteil die drei Verbände an der allgemeinen Berichterstattung zu diesen drei Themen in der Bundesrepublik haben.3 Das Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ erfuhr im Jahre 1999 in der bundesdeutschen Presse eine außerordentliche Agenda-Setting-Dynamik. So fanden sich insgesamt in den vier hier ausgewählten Tageszeitungen über tausend Artikel, die sich mit dem Thema befassten. Gemessen an dieser außerordentlichen medialen Aufmerksamkeit ist der Beitrag der Verbände zu diesem Thema im Jahre 1999 in der Presse mit nur n=68 Artikeln, d.h. etwa 6 bis 7 Prozent sehr gering. Zu dem Thema „Integration“ ergab sich für den Zeitraum 1995 bis 2004 ein Anteil der Verbände von etwa 9 Prozent.4 Studien zu anderen Themen und Feldern zeigen eine relative Verteilung zwischen Gesamtberichterstattung und der Nennung der durch das jeweilige Thema betroffenen Verbände von um 7 Prozent (Hackenbroch 1998; Koopmans/Statham 1999; Rauer 2004b). Hieran könnte sich zeigen, dass die mediale Debatte weniger an den Meinungen der potentiell „doppelten Staatsbürger“ oder der zu „Integrierenden“ selbst orientiert war, sondern dass es in erster Linie um die kollektiven Grenzen und Selbstzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft ging. Die Gesetzesreform oder Integrationsproblematik rüttelt offenbar an den Grenzen der sich national und damit traditional definierenden Gemeinschaft. Wer davon betroffen wird und welche Auswirkungen das Gesetz für diejenigen haben könnte, scheint angesichts dieser medialen Verteilung eine sekundäre Frage zu sein. Allerdings trägt diese Deutung nicht ganz. Vergleicht man diesen relativen Anteil von ca. 5 bis 10 Prozent mit anderen Debatten, wie beispielsweise der Abtreibungsdebatte, so ergibt sich überraschender Weise ein analoges Bild. Hier hatten die Kirchen- und Frauenverbände ebenfalls nur einen Anteil zwischen fünf bis zehn Prozent (Gerhards et al. 1998). Deshalb bestätigt die3 4
Selbstverständlich ist dies anhand einer reinen Suchwortanalyse nur tentativ möglich. Die Daten beruhen auf einer Volltextanalyse von vier Zeitungen aus derselben Datenbank (LexisNexis). Der durchsuchte Zeitraum erstreckt sich vom 01.01.1995 bis zum 31.12.2004. Die verwendeten Suchworte lauteten: Integration* UND GLEICHER ABSATZ Ausländer* bzw. Einwanderungsland* UND GLEICHER ABSATZ Deutschland*. Im Ergebnis fanden sich N=2134 Artikel. Davon haben die Artikel, in denen die Verbände genannt werden, in der Summe einen Anteil von n=200. Die Zahlen sind natürlich nur indikativ und nicht repräsentativ, da eine genaue Searchword-Analyse manuell korrigiert werden müsste. Dennoch stimmen die Zahlen ungefähr mit den von Rauer (2004b) manuell korrigierten relativen Anteilen überein. Im Falle des Islam wurde hier keine arbeitsökonomische Suchstrategie gefunden. Vieles spricht jedoch für einen ähnlichen Anteil (vgl. Koopmans/Statham 1999a). 153
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
ser Vergleich damit auch die Institutionalisierung und Akzeptanz der Einwanderungsverbände in einem mit deutschen Verbänden vergleichbaren Maße. Allerdings wäre eine solche Analyse systematisch vergleichend durchzuführen (vgl. für eine ausführlichere Diskussion das abschließende Unterkapitel: Schlussfolgerungen). Schließlich noch ein letztes Wort zur Struktur der folgenden Analyse: Trotz der drastischen Einschränkung des Analysesamples handelt es sich bei den drei Kategorien „Staatsbürgerschaft“, „Islam“ und „Integration“ um jeweils komplexe Themenfelder mit einem sehr spezifischen und erläuterungsbedürftigen Agenda-Setting-Verlauf. Um dies möglichst übersichtlich darzustellen, werden der Verlauf und die wesentlichen Rahmungen zunächst deskriptiv rekonstruiert. In dem abschließenden Zusammenfassungskapitel erfolgt eine ausführliche inhaltsanalytische Deutung. Das Buch schließt dann mit einem eigenen allgemeinen Kapitel zur diskurstheoretischen Deutung der Ego-Alter-Relationen vor dem Hintergrund der im ersten Teil vorgestellten soziologischen Beobachtungsperspektiven. Der Vorteil einer solchen Differenzierung liegt einerseits in einem hohen Grad an Transparenz des interpretatorischen Anteils der Analyse und andererseits in der Vermeidung inhaltlicher Redundanzen.
Staatsbürgerschaft Die häufigsten Forderungen, Kritiken und Kommentare der Verbände setzen sich mit dem Thema Staatsbürgerschaft und der Reform des Zuwanderungsrechtes auseinander. Das Thema unterläuft dabei einen klassischen AgendaSetting-Prozess. Dieser kulminiert im Jahre 1999, als ein neues durch die rotgrüne Bundesregierung eingebrachtes Gesetz im Parlament diskutiert wurde und die Opposition ihren Widerstand in Gestalt einer „Unterschriftenaktion“ artikulierte. Im Laufe der folgenden Jahre verschwand das Thema langsam wieder vollständig aus dem medialen Interesse (vgl. Tabelle 11). Gemäß dieses Verlaufs lassen sich zeitlich drei differente Phasen identifizieren: Die Phase vor, während und nach der Gesetzesänderung. In der ersten Phase von 1995 bis 1998 forderten die Verbände vehement ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz. In der Kulminationsphase im Jahr 1999 kommentierten und kritisierten sie die jeweiligen Beschlüsse und konträren Positionen der politischen Parteien. In der dritten Phase von 2000 bis 2004 bewerteten sie die jeweiligen Kompromissvorschläge.
154
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Tabelle 11: Rahmungen zu Staatsbürgerschaft im jährlichen Verlauf (n=241) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Neben diesem zeitlichen Verlauf lassen sich die Forderungen und Kommentare in vier thematische Gruppen untergliedern: erstens, die Gesetzesreform, d.h. die doppelte Staatsbürgerschaft, das Einwanderungsgesetz und das „Optionsmodell“ (Reform); zweitens, die Prüfungsverfahren wie Sprachtests, Einkommen und Erwerbstätigkeit (Kompetenztests); drittens, die Einführung eines Visa-Zwangs für Kinder (Kindervisum); und viertens, die Akteure und Aktionen der politischen Oppositionsparteien wie beispielsweise die Unterschriftenaktion der CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft (Opponenten). Tabelle 12: Staatsbürgerschaft: Forderungen und Kommentare (n=241)
TBB TG-D Summe
Reform 66 93 159 (66%)
Kompetenztests 37 13 50 (21%)
Kindervisum 11 6 17(7%)
Opponent. 5 8 13 (5%)
Sonst. 0 2 2
(mit Doppelkodierungen; Summe: TBB=119; TG-D=222, Insgesamt=241)
Phase 1 Die Forderung nach einer Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechtes und die Schaffung eines Einwanderungsgesetzes gehörten zu den wesentlichen Themen der Verbände seit Beginn des hier untersuchten Zeitraums. Bereits anlässlich der Gründungsversammlung der TG-D im Jahre 1995 wurde die Kritik des Verbandes an dem rechtlichen Status der Einwanderer in der Bundesrepublik in den Presseberichten ausführlich zitiert: „Keskin nannte den immer noch diskriminierenden Status der Türken in Deutschland inakzeptabel und inhuman und eine Gefahr für den sozialen Frieden. Die Türkische Gemeinde in Deutschland trete für die rechtliche Gleichstellung und gleiche 155
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Behandlung der Türken ein, die bereits in der dritten Generation in Deutschland lebten, aber sich hier immer noch nicht zu Hause fühlen dürfen, sagte Keskin. Haupthindernis einer Einbürgerung der Türken sei es, dass die deutsche Politik eine doppelte Staatsbürgerschaft nur in Ausnahmefällen toleriere.“ (SZ 04.12.1995)5
Das Zitat gibt die klassische und sich wiederholende Position der Verbände bis in das Jahr 1999 wieder. Wiederkehrend wurde der Ruf nach einer gerechteren Neuregelung des „vorsintflutlichen Ausländerrechts“ (SZ 27.12.1997, taz 27.12.1997) mit mehreren Forderungen spezifiziert. So reklamierte die TG-D im Jahre 1996 in einer „Aktion“ „einen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft nach achtjährigem Aufenthalt in Deutschland. Dabei soll auch eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich sein. In Deutschland geborene Kinder sollen automatisch Deutsche werden“ (SZ 05.11.1996). Später legte die TG-D einen eigenen Gesetzesvorschlag zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes vor, der diese Richtlinien zusammenfasste (FAZ 12.06.1997, SZ 12.06.1997). Hervorzuheben ist hierbei die große Akzeptanz in den jeweiligen Medienberichten, mit denen die Vorschläge referiert und dargestellt wurden. Eine heftige Kritik an der Gesetzesvorlage der TG-D als „Akt unvergleichlicher Arroganz“ gegenüber dem „souveränen Staat“ erschien lediglich in einem Leserbrief.6 Die positive Resonanz mag bei der taz und SZ nicht überraschen. Es gilt jedoch auch für die eher konservative FAZ. Weder werden die Inhalte der Forderungen noch die Legitimität der Verbände in den jeweiligen Berichten angezweifelt (FAZ 29.07.1997, FAZ 30.10.1997, FAZ 14.11.1997). Auf vehemente Ablehnung stieß die doppelte Staatsbürgerschaft bei der christdemokratischen Partei. So orakelte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in einer viel zitierten Rede im Oktober 1997, dass mit der Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft „zu den drei Millionen Türken in Deutschland weitere Millionen zuzögen“ (SZ 31.10.1997). Die Proteste der TG-D und anderer Verbände sowie einiger politischer Parteien erfolgten prompt und 5
6
Keskin, der teilweise für die SPD auch Abgeordneter im Hamburger Senat war, formuliert eine Position, die den offiziellen Programmen der damaligen SPD und der Grünen sehr nahe kam. So heißt es in dem Leserbrief: „Es erscheint mir als ein Akt unvergleichlicher Arroganz, wenn türkische Organisationen einem souveränen Staat einen ‚Gesetzesvorschlag‘ unterbreiten, der die Änderung eines seiner elementarsten Rechte zur Folge haben soll. Demnach wollen sie, die Gäste, einfach nur durch Anwesenheit zu Hausherren werden. Eine neue Dimension türkischer Eroberungszüge? Jedenfalls ist die Begründung falsch, dass durch Erleichterung der Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit eine bessere Integration erfolgen könnte. Echte Integration hieße Assimilation. Das will keiner der Türken. Niemand von ihnen will ein ‚faschistischer Deutscher‘ werden, sondern ein Türke mit deutschem Pass oder umgekehrt, gerade wie es beliebt. In welchem verrückten Traum sind diese Menschen groß geworden?“ (FAZ 20.06.1997, Leserbrief)
156
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
wurden in den Medien ausführlich zitiert (taz 31.10.1997, SZ 31.10.1997, FAZ 30.10.1997). Die FAZ wies darauf hin, dass im europäischen Vergleich und nach den bisherigen Erfahrungen – zu dem Zeitpunkt besaßen etwa 90 Prozent der eingebürgerten Türken in Deutschland die doppelte Staatsbürgerschaft – nichts für Kohls Sichtweise sprechen würde. Um die Aussagen der Verbände zu bestätigen, referierte sie den „Bonner Ausländerbeauftragten“, der weitere Befürchtungen zerstreute: „Statt zu den von manchen befürchteten Loyalitäts- und Identitätskonflikten komme es immer wieder zu Problemen im internationalen Privatrecht, zum Beispiel bei der Anerkennung von Ehescheidungen oder Erbschaften. Internationale Abkommen können hier Abhilfe schaffen. So ist es bereits mit der Wehrpflicht geschehen. Ein Abkommen des Europarats und weitere bilaterale Verträge verhindern erfolgreich, dass junge Männer mehrfach eingezogen werden.“ (FAZ 30.10.1997)
Als sich die Unionsfraktion offiziell gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft aussprach, hieß es vom TG-D mit Blick auf das dahinter stehende ius sanguinis: „die Unionsparteien wollten ‚ganz offensichtlich weiterhin an der überholten Idee einer Staatsbürgerschaft nach deutscher Herkunft und dem Recht des Blutes festhalten‘“ (FAZ 14.11.1997). Im Jahre 1998 verloren die Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft die Bundestagswahl. Damit sah es zunächst so aus, als könnten beide Forderungen, die erleichterte Einbürgerung und die doppelte Staatsanghörigkeit, nach den Vorstellungen der Verbände umgesetzt werden. So wird der Gesetzesentwurf der neuen Bundesregierung aus dem gleichen Jahr dementsprechend mit Wohlwollen kommentiert: „Damit können wir gut leben […]. Wir werden uns dann als wirkliche Deutschlandtürken fühlen, aber im Kopf immer noch wissen, wo wir kulturell herkommen“ (taz 16.10.1998). Der Anstieg der medialen Präsenz im Jahre 1997 hängt mit einer weiteren Debatte zusammen, die hier nur kurz erwähnt werden soll. Es handelt sich um die von der Regierungskoalition geplante Einführung einer Visumspflicht für Kinder (Kindervisum). Dieses Vorhaben intensivierte zwischenzeitlich die Kritiken und Forderungen von Seiten der Verbände. Die TG-D nannte es eine „skandalöse Tatsache“, dass Kinder und Enkel der Einwanderer nunmehr sogar als „Ausländer geboren“ (SZ 27.02.1997) würden. Doch das Vorhaben wurde nur sehr abgeschwächt realisiert. Auf eine weitere Analyse kann hier verzichtet werden.7
7
Vgl. zu einer ausführlichen Analyse von deutschen und türkischen Tageszeitungen zu dieser Debatte: Naumann (2004). 157
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Phase 2 Aufgrund von anderen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat (Länderebene) als im Bundestag musste das neue Gesetz modifiziert werden: Die Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft setzten sich durch. Im Jahr 1999 wurde ein so genanntes „Optionsmodell“ etabliert. Dieses schreibt vor, dass sich die Kinder der Einwanderer bis zu ihrem 23. Lebensjahr für die eine oder die andere Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse nach der Bundestagswahl im Jahre 1998 und des breiten medialen Konsenses im Vorfeld war dieses Ergebnis nicht unbedingt erwartbar. Zwar bemerkte die TG-D bereits im Wahljahr 1998 einen „neuen Ton“ bei dem künftigen Innenminister, der einen leisen Gesinnungswechsel anzukündigen schien: „Schily versuche die doppelte Staatsbürgerschaft, für die er sich jahrelang eingesetzt habe, als ‚hinzunehmendes Übel‘ darzustellen“ (SZ 21.07.1998). Dennoch ist das Scheitern der doppelten Staatsbürgerschaft zumindest erstaunlich. Sicherlich hängt dieser Erfolg der Gegner mit einer symbolischen, außerparlamentarischen Kampagne der Opposition zusammen (Opponenten). So beginnt das Jahr 1999 mit einer Unterschriftenaktion der Christdemokraten gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Im Zuge dieser Aktion etablierte sich ein Rahmenwechsel. Aus dem sperrigen Begriff „doppelte Staatsbürgerschaft“ wurde der medientauglichere catchframe „Doppel-Pass“ (vgl. Vonderau 2004). Die Stellungnahmen der Verbände zu dieser Unterschriftenkampagne waren harsch (taz 06.01.1999, WELT 13.03.1999, SZ 16.04.1999). In einem offenen Brief forderten zehn türkische Organisationen und Verbände die CDU dazu auf, die Kampagne sofort abzubrechen (taz 19.01.1999). Die taz übertitelte ihren Bericht mit den Worten: „Affront gegen Ausländer“ (ebd.). Der TBB konstatierte, dass sich weniger „in rassistischen Äußerungen“, als in solchen Kampagnen „die großen Ressentiments in der Bevölkerung gegenüber Nichtdeutschen“ offenbarten (taz 12.02.1999). Die TG-D erinnerte wiederholt daran, dass die doppelte Staatsbürgerschaft außer in Österreich und Luxemburg längst moderner „europäischer Standard“ sei (taz 06.01.1999, taz 09.01.1999). Des Weiteren wies die TG-D auf die potentielle Gefahr hin, dass die Kampagne „Rechtsradikale ermutigt, erneut gewaltsam gegen Ausländer vorzugehen“ (ebd.). Doch die Kampagne wurde nicht abgebrochen. Die Opposition setzte sich letztlich durch. Auch das anstelle der doppelten Staatsbürgerschaft beschlossene Optionsmodell stieß in sämtlichen Kommentaren der Verbände auf strikte Ablehnung.8 Der neue Reformvorschlag, so der TBB, sei ein „Kniefall vor der Hetz8
Für die Forderungen und Kommentare im Jahre 1999: TG-D n=22, TBB n=33.
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MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
kampagne der CDU“ (WELT 13.03.1999). Für die Einwanderer bedeute dieser „keine Verbesserung“, sondern eine „Verschlechterung“ (taz 17.04.1999, WELT 17.03.1999). Eine solche Reform sei weder ein „Signal für Integration“ (taz 17.04.1999: Titel), noch sei sie im Einklang mit dem geltenden „Europäischen Recht“ (WELT 17.04.1999). In einer symbolischen Protestaktion vor der Parteizentrale der SPD sprachen sich Vertreter von insgesamt „67 türkischen, polnischen und arabischen Verbänden“ gegen die geplanten Änderungen aus. Der an der Aktion beteiligte TBB argumentierte, dass das Optionsmodell einen „‚Entscheidungsdruck‘“ erzeuge, der zu „‚Auseinandersetzungen in den Familien‘“ führe (taz 21.04.1999). Ein anderes Argument lautete, dass das neue Gesetz „Jugendliche jahrelang unter Druck setze, sich für einen ihrer Identitätsteile zu entscheiden.“ (FAZ 21.04.1999). Damit werde eine Spannung erzeugt, die sich auf den Integrationsprozess der Jugendlichen negativ auswirke (ebd.). Im Vergleich stellte sich gar die alte Regelung für die Verbände als liberaler dar (FAZ 11.03.1999, SZ 13.04.1999). Als in der Bundesrepublik noch das alte Gesetz galt, hatte die TG-D, so der Sprecher, mit der türkischen Regierung eine „Sondervereinbarung“ getroffen. Um den deutschen Pass zu bekommen, konnten sich die türkischen Einwanderer zunächst in der Türkei ausbürgern lassen, um dann, nachdem sie deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten, die türkische Staatsangehörigkeit wieder zu beantragen. Die doppelte Staatsbürgerschaft war also bereits vor der Reform eine umständliche, wenn auch praktizierte Realität. So erläutert der Vorsitzende der TG-D: „Das Verfahren ist zwar mühsam, aber so konnten viele Türken in Deutschland die doppelte Staatsbürgerschaft erwerben, weil das deutsche Gesetz ihnen die Möglichkeit einräumte, ihre alte Staatsbürgerschaft nachträglich neu zu beantragen. Diese Regelung hat auch die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl nicht angetastet. SPD und Grüne aber schaffen sie jetzt ab.“ (SZ 13.04.1999)
Die Unvereinbarkeit einer sich über Abstammung definierenden Staatsbürgerschaft mit der Einwanderung war die Ursache für einen inkonsistenten – aus Sicht der Verbände jedoch inklusiveren – Modus. Während des ius sanguinis war die doppelte Staatsbürgerschaft möglich, durch die Etablierung des ius soli nicht mehr. Bisher galt ein Kompromiss, der mit der Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechtes nicht mehr möglich war. In diesem Sinne wünschten sich die Verbände, die alte Regelung vorerst beizubehalten: „‚Man müsse überlegen‘, ‚überhaupt kein Gesetz zu machen‘.“ (FAZ 11.03.1999). Als ein Jahr später das neue Einbürgerungsrecht in Berlin in Kraft trat, sank die Zahl der Antragssteller. Der TBB begründete diesen Rückgang nun u.a. mit dem „Wegfall der Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft“ (taz 03.02.2000).
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Auf einer Delegiertenkonferenz der TG-D verteidigte der damalige Innenminister Otto Schily das Optionsmodell mit einem Verweis auf ein deutsch-türkisches Fußballländerspiel: „‚Welche Fahne soll in so einem Fall denn jemand mit zwei Pässen schwenken?‘“ Unter großen Beifall der Delegierten, so berichtet der Artikel, antwortete Michel Friedmann vom Vorstand der Zentralrates der Juden: „‚Gejubelt wird jeweils für die Mannschaft, die gerade besser spielt. Wo ist das Problem?‘“ (taz 24.01.2000). Kulturalistische Argumente von den Gegnern hatten es in den Medien, wenn diese sich den Forderungen der Verbände widmeten, eigentümlich schwer. So fährt der obige Artikel mit einem Zitat aus der Rede Hakki Keskins fort. Bei der Aufgabe einer Staatsbürgerschaft gehe es nicht nur um einen juridischen Akt oder um einen Doppel-Pass bei einem Fußballspiel: „Der türkische Pass sei für viele Deutschlandtürken ein ‚Teil ihrer Identität‘ und deren Aufgabe kann ‚nicht befohlen werden‘“ (taz 24.01.2000). Mit diesem grundsätzlichen Dissens endete die öffentliche Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft.9 In dieser Zeit demonstrierten die Verbände jedoch nicht nur für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, sondern auch gegen diverse Regulierungen des neuen Einwanderungsrechtes (Kompetenztests). Hier stand insbesondere der Sprachtest in der Kritik. Das Gesetz sah vor, dass die über Sechzigjährigen sich in der deutschen Alltagssprache verständigen können müssen. Die Entscheidung, ob die Sprachkenntnisse geprüft werden oder nicht, liegt dabei im Ermessen des Einbürgerungsbeamten (FAZ 23.12.1999). Letzteres wurde von beiden Verbänden kritisiert, da diese Beamten weder eine Schulung hätten noch die Kriterien eindeutig bestimmbar seien (taz 03.02.2000). Zudem bedeute ein Sprachtest für die erste Generation, die so genannten „Gastarbeiter“, eine eklatante Benachteiligung, da man sich um jene Gruppe in all den Jahren „nie gekümmert“ habe. Weder wurden Integrations- und Sprachprogramme angeboten noch wurde von ihnen eine Sprachkompetenz staatlicherseits abverlangt. Eine solche Kompetenz ex post einzufordern, sei eine hochgradige, nachträgliche „Ungleichbehandlung“ (FAZ 21.12.1999).
Phase 3 In den Jahren von 2001 bis 2004 findet sich eine Vielzahl von ähnlichen Einzel- und Detailforderungen zur Verbesserung des Zuwanderungsgesetzes und der amtlichen Einbürgerungspraxis, von denen nur einige hier exemplarisch erwähnt werden sollen.
9
Mit Ausnahme einiger weniger rückblickender Äußerungen (FAZ 29.04.2002, WELT 15.06.2004).
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MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Als im Jahr 2001 die Einbürgerungszahlen im Land Berlin wiederum sanken, während in „allen anderen Ländern“ die Zahlen anstiegen, kritisierte der TBB die „,integrationsfeindliche‘ Einbürgerungspraxis“ unter dem rot-roten Senat. Um die Wartefristen bei der Einbürgerung zu verkürzen, forderten die Verbände „sowohl die schriftliche Sprachprüfung der Deutschkenntnisse der Bewerber als auch die Regelanfrage beim Verfassungsschutz sowie die Bindung an Erwerbstätigkeit abzuschaffen.“ (taz 23.06.2001). Daraufhin kündigte der Innensenator „Verbesserungen an“ (taz 10.07.2002). Eine Woche später verkündete der Senat, dass die Einbürgerung künftig auch dann bewilligt werde, wenn ein „Anspruch auf Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bestehe“ (taz 18.07.2002). Im Jahre 2001 legte das Bundesinnenministerium einen Entwurf für das neue Zuwanderungsgesetz vor. Wie die Presseerklärungen anderer Verbände in der Bundesrepublik, deren Interessenfeld durch ein Gesetz betroffen ist, wird auch die Beurteilung des TG-D detailliert in den Medien wiedergegeben: „Die Türkische Gemeinde Deutschland hält den Gesetzentwurf […] zur Zuwanderung für grundsätzlich diskussionswürdig. ‚Völlig inakzeptabel‘ sei aber die Senkung des Nachzugsalters für Kinder von 16 auf 12 Jahre, sagte […] Safter Cinar in Berlin. Der Staat könne nicht in die Entscheidungskompetenz der Eltern eingreifen. Falls sich die Regelung durchsetze, werde die Türkische Gemeinde Deutschland bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen, kündigte Cinar an. […] Positiv beurteilte Cinar die […] Schaffung neuer Institutionen wie eines ‚Bundesamts für Migration und Flüchtlinge‘. Er interpretierte dies als Zeichen, dass die politischen Kräfte Deutschland als Einwanderungsland akzeptierten.“ (SZ 08.08.2001)
Als im Jahr 2002 das Gesetz den Bundesrat passieren sollte, nahm die Zustimmung immer mehr ab. Zwar stimmte die TG-D der allgemeinen Ansicht zu, dass das „Tabu, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei“ endgültig gefallen sei. Allerdings seien mit dem Gesetz keinerlei verbesserte „Rahmenbedingungen für die Integration“ der Einwanderer verbunden. (taz 23.03.2002). Es handele sich nicht um ein „modernes weltoffenes Gesetz“ (taz 19.02.2002). Doch auch dieses Gesetz scheiterte an den politischen Mehrheitsverhältnissen. In den Folgejahren musste ein Kompromiss mit der Union gesucht werden. Die Änderungsvorschläge der Union stießen bei den Verbänden auf noch apodiktischere Kritik. So sollte das territoriale Staatsbürgerschaftsrecht nach dem Willen der Union wieder dahingehend eingeschränkt werden, dass „nur dann, wenn ein Elternteil in Deutschland geboren ist“, die Kinder automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Die TG-D rahmte dies als „Rückkehr zum mittelalterlichen Staatsbürgerschaftsverständnis“ (taz 13.02.2003).
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Auch bei den Verhandlungen der folgenden sechs Monate insistierte der Verband darauf, dass ein solches Gesetz vollständig „verzichtbar“ sei (taz 29.09.2003). Als im weiteren Konsensprozess zunehmend die „Sicherheitsfragen dominieren“, plädiert die TG-D schließlich für einen „Ausstieg aus den Verhandlungen mit der Union“ (taz 07.05.2004). Anlässlich der abschließenden Bekanntmachung des Gesetzeskompromisses einen Monat später äußerte sich der TBB ähnlich kritisch, obwohl letztlich nicht alle Änderungsvorschläge der Union umgesetzt wurden. Das abschließende Urteil lautete, dass aufgrund „deutlicher Verschlechterungen“ (taz 27.05.2004) „gar kein Gesetz“ vorzuziehen sei (WELT 27.05.2004). Auch die öffentliche Bewertung um die Reform des Zuwanderungsgesetzes endete mit einem klaren Dissens.10
Die symbolische Dimension Neben den inhaltlichen Forderungen finden sich in den Verbandsrahmungen auch symbolische Dimensionen. Die Debatte ist nicht nur durch Argumente, sondern auch durch den Kampf um die richtige metaphorische Definition der Einwanderungssituation gekennzeichnet. Ein solcher Versuch der Rahmungstransformation zieht sich über den gesamten Zeitraum hin. Beispielsweise heißt es in einem Zitat zur Gründungsversammlung der TG-D im Jahre 1995: „Es gehe nicht an, sagt Keskin, daß Kinder und Enkel der ersten Einwanderer sprachlich und kulturell Deutschland als ihre Heimat empfänden, während sie von dieser Heimat rechtlich und faktisch zu Ausländern erklärt würden. Ein in Hamburg in eine türkische Familie geborenes Mädchen müsse mit 16 Jahren zur Ausländerbehörde gehen, um eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen; später komme eine Arbeitserlaubnis hinzu.“ (FAZ 14.11.1995)
Keskin wählt eine für die damalige Zeit unübliche Formulierung. Er spricht von den Kindern und Enkeln der „Einwanderer“ und von ihrem Geburtsland als ihrer „Heimat“. Im offiziellen und medialen Sprachgebrauch wurde damals stets der Begriff „Ausländer“ verwendet. Er kritisiert jedoch nicht diese Sprachregelung, sondern sagt, dass die „Einwanderer“ „rechtlich und faktisch zu Ausländern“ erklärt würden. Damit knüpft er die Bedeutung des Begriffes „Ausländer“ an eine exkludierende rechtliche Regulierung. Mit einer exemplarischen Erzählung, in der ein Mädchen an ihrem 16. Geburtstag durch eine Ladung vor die Ausländerbehörde zur „Ausländerin“ erklärt wird, unterstreicht er diese Bedeutungsverschiebung zusätzlich. 10 Diese Ablehnung spiegelt sich auch in den tatsächlichen Einbürgerungsraten des statistischen Bundesamtes wider. Nach einer Hochphase in den Jahren 1999 und 2000 fiel die Rate im Jahre 2004 auf den Stand von 1996 zurück (vgl. Anhang: Tabelle 23). 162
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Keskin wirft der deutschen Gesetzgebung in diesem kritischen Kommentar keine pauschale „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Rassismus“ vor, sondern er erzählt eine paradigmatische Geschichte. Das sechzehnjährige Mädchen aus Hamburg konkretisiert in ihrer Geschichte die Praxis des damals gültigen ius sanguinis. Die Selbstbezeichnung als „Einwanderer“ erscheint also nicht als Gebot einer vermeintlichen political correctness, sondern im Rahmen dieser Geschichte, als eine, mit Max Weber formuliert, „sinnadäquate Zuschreibung“. Ein Einwanderungsgesetz zu fordern heißt auch, „Ausländer“ als „Einwanderer“ zu repräsentieren. Wie wenig selbstverständlich die Rahmung „Einwanderer“ zu jener Zeit war, demonstriert ein zweites Beispiel. Hierbei handelte es sich um eine Äußerung aus dem Jahre 1999. Als der damals designierte Bundespräsident Johannes Rau ankündigte, „er wolle nicht nur Präsident aller Deutschen, sondern auch der Ansprechpartner aller in Deutschland lebenden Ausländer sein“ (FAZ 26.05.1999), forderte Keskin Rau dazu auf, „auch deutlich [zu] machen, dass viele in Deutschland lebende Ausländer längst Inländer geworden seien“ (ebd.). Zwar fällt auch in den Jahren 2000 bis 2004 häufig der Begriff „Ausländer“. Nur gesellt sich in der Folgezeit langsam aber stetig die Rahmung „Einwanderer“ und „Migranten“ hinzu. Diese Transformation war, zumindest was die öffentlichen Rahmungen betrifft, also durchaus erfolgreich.
Islam Die Forderungen und kritischen Kommentare zum Thema „Islam“ bildeten das zweithäufigste in den Medien repräsentierte Themenspektrum der Verbände. Anders als die Repräsentation zum Staatsbürgerschafts- und Zuwanderungsgesetz, bei der die Häufigkeitskurve wellenförmig verlief, steigt die Bedeutung des Islam mit leichten Schwankungen kontinuierlich an. Sind Äußerungen zum Islam im Jahre 1995 für die Medien noch kaum erwähnenswert, avanciert das Thema im Jahre 2004 zum zweithäufigsten Meta-Rahmen der gesamten Verbandsrepräsentationen (vgl. Tabelle 13). Im Kontrast zu der Debatte um die Staatsbürgerschaftsreform unterliegen die einzelnen Rahmungen inhaltlich weniger einem Wandel über die Jahre. Zwar gab es in Berlin auch eine politische Debatte zur Gestaltung und Organisation des „Islamunterrichts“ an deutschen Schulen, allerdings hat es dabei keine entscheidende Wende gegeben. Ähnliches gilt für die Gerichtsurteile, die im Zusammenhang der Legalisierung von „Kopftüchern“ in deutschen öffentlichen Einrichtungen gefällt wurden. Statt eines strukturellen Wandels lässt sich eine kontinuierliche, hochgradige Ambivalenz beobachten.
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 13: Rahmungen zum „Islam“ im jährlichen Verlauf (n=203) 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Bemerkenswerter Weise beginnt das Agenda-Setting nicht, wie man zunächst meinen könnte, mit den Anschlägen der islamistischen Selbstmordattentäter gegen das World Trade Center am 11. September 2001. Nur ein Teil des Agenda-Setting-Verlaufs hängt mit der weltweit zunehmenden Aufmerksamkeit für den Islamistischen Terrorismus zusammen. Der Vergleich der einzelnen Subrahmungen verdeutlicht indes, dass nicht die Äußerungen zum „islamistischen Terrorismus“ (16 Prozent), sondern die Aussagen der Verbände zum „islamischen Religionsunterricht“ (48 Prozent) mit Abstand das häufigste Thema in den Medien darstellen (vgl. Tabelle 14). Des Weiteren finden sich Kommentare zur „Kopftuchdebatte“ (14 Prozent) und zu „islamistisch fundamentalistischen Organisationen“ (10 Prozent). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich die beiden Verbände durchaus unterscheiden. Während der TBB vor allem im Zusammenhang des Themas islamischer Religionsunterricht zitiert wird, so finden sich demgegenüber zum Thema islamistischer Terrorismus vor allem Äußerungen der TG-D.11 Dies könnte auf ein prekäres Verhältnis der Verbände zu den Fragen des Islam hindeuten. Möglich wäre, dass sich die TG-D durch ihre Mitglieder, unter denen auch einige islamische Vereine sind, bei dem Thema islamischer Religionsunterricht eher zurückhält als der laizistisch orientierte TBB.12
11 In den Jahren 1995 bis 2000 wurde fast ausschließlich der TBB in den Medien zitiert, während ab dem Jahr 2001 beide Verbände quantitativ gleiche Anteile hatten. Die Annahme des Themas durch die TG-D hängt daher wohl mit der Bedeutungszunahme nach dem 11.09.2001 zusammen. Differenziert nach den beiden Verbänden ergibt sich demgemäß ein starkes Ungleichgewicht der jeweiligen Häufigkeiten. So finden sich zum islamischen Religionsunterricht bei dem TBB n=86 Nennungen, während die TG-D lediglich n=12 genannt wird (Tabelle 14). Hingegen verurteilen beide Verbände den Terrorismus in identischer Weise. 12 Beispielsweise traten im Jahre 2000 zwei alevitische Vereine aus dem TBB aus. Als Gründe wurden Finanzpraktiken des Vorstandes und undemokratisches Verhalten der Presse genannt. Auch ging es wohl um eine Veranstaltung zum Islam (taz 14.09.2000). Doch diese Fragen können nicht mit einer Medienanalyse 164
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Tabelle 14: Islam: Forderungen und Kommentare (n=absolute Werte)
TBB TG-D Summe
Islamunter. 86 12 98 ( 48%)
Terrorismus 8 25 33 (16%)
Kopftuch 18 10 28 (14%)
Organisat. 16 5 21 (10%)
Sonstiges 13 10 23 (11%)
(mit Doppelkodierungen; Summe TBB=141; TG-D=62; Insgesamt=203 (99%)) Des Weiteren hängt diese Häufung wohl auch mit einer lokalen Spezifik des Themas Religionsunterricht zusammen, da das Schulrecht Ländersache ist und im Land Berlin und im Land Brandenburg versucht wurde, einen stark laizistischen, nicht bekennenden Religionsunterricht einzuführen.
„Wider dem bekennenden Islamunterricht an staatlichen Schulen!“ Im Jahr 1995 hatte das Land Nordrhein-Westfalen einen islamischen Religionsunterricht eingeführt, der die Debatte vor allem im Bundesland Berlin anstieß. In Berlin wurde bis dahin kein islamischer Religionsunterricht angeboten. Für die Muslime in Berlin bedeutete dies, dass es lediglich zwei Möglichkeiten gab, den Kindern islamischen Religionsunterricht zukommen zu lassen: An privaten Koranschulen, in denen, wie die taz leicht pejorativ schreibt, „sie in Hinterhöfen Koranverse in arabischer Sprache auswendig lernen“ (taz 18.01.1995). Oder die Kinder nahmen an einem vom türkischen Konsulat, d.h. an einem vom türkischen Staat angebotenen „religionskundlichen Unterricht“ teil (ebd.). Mit dieser Lösung waren weder der Berliner Senat, bzw. die damalige Ausländerbeauftragte Barbara John, noch die türkischen Eltern oder der TBB zufrieden (ebd.). Nun ergab sich die zusätzliche Schwierigkeit, dass es in Berlin, anders als in den meisten andern Bundesländern, bisher kein „Wahlpflichtfach“ Religion gab. Der Unterricht war auf rein freiwilliger Basis geregelt. Christdemokraten und die Kirchen versuchten gegen die sozialdemokratische Linke und die Gewerkschaften bereits seit 20 Jahren eine Änderung dieses Freiwilligenstatus und die Angleichung an die Regelungen in den anderen Bundesländern zu erreichen (FAZ 23.12.1999). Die Frage nach der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts wurde fortan, insbesondere von der christdemokratischen und kirchlichen Seite, an die Bedingung geknüpft, gleichzeitig einen christlichen Religionsuntergeklärt werden. Sie würden eine eigene Methodik und qualitative Interviews erfordern (vgl. dazu ausführlich: Oestergaard-Nielsen 2003). 165
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
richt als Wahlpflichtfach einzuführen. Da nach deutschem Recht die Kirchen das Recht zur autonomen Trägerschaft innehaben, stellte sich die Frage, wer denn diese Trägerschaft im Falle des Islamunterrichts übernehmen sollte. Dies war insofern prekär, da im Islam keine den Kirchen analoge und repräsentative Institutionen vorgesehen sind. Zu dieser komplexen Gemengelage wurde der TBB folgendermaßen zitiert: „Aus Gründen der Gleichbehandlung spricht sich Safter Cinar vom TBB ebenfalls für die Einführung von Islamunterricht aus. Grundsätzlich vertrete der Bund die Meinung, dass an Schulen gar kein Religionsunterricht angeboten werden solle. ‚Wenn so etwas angeboten wird, muss gewährleistet sein, dass Bücher und Lehrpläne auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik zugeschnitten sind‘, fordert Cinar. Dies sei beim Unterricht des Konsulats nicht der Fall.“ (taz 18.01.1995)
Zunächst ist hervorzuheben, wie der Verband die Ursache des Problems rahmt. Die Billigung eines islamischen Religionsunterrichts sei lediglich durch die Einführung eines christlichen Religionsunterrichts bedingt. Nur „aus Gründen der Gleichbehandlung“ sei es geboten diesen einzuführen. Ebenso bemerkenswert ist die Begründung der Absage an eine Trägerschaft durch das türkische Konsulat, sie sei nicht ausreichend „auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik“ zugeschnitten. Stattdessen wird ein Unterricht von Lehrern mit Einwanderungshintergrund ohne einheitlich organisierte Trägerschaft gefordert: „Cinar [bevorzugt] das nordrhein-westfälische Modell. Hier übernehmen Lehrer türkischer Herkunft auch den Religionsunterricht.“ (taz 18.01.1995) In den Folgejahren spitzte sich die Problematik zu. Bereits seit 1977 stritt die Islamische Föderation vor Gericht, um die staatliche Anerkennung als „Glaubensgemeinschaft“ zu erlangen. Mit einer solchen Anerkennung wäre das Recht auf die Trägerschaft des staatlichen Religionsunterrichts, was das Recht auf eine autonome Lehrerausbildung einschließt, verbunden gewesen. Der Unterricht wäre dann finanziell zu 90 bis 100 Prozent von staatlichen Geldern getragen worden. Nachdem die Föderation mit diesem Anliegen immer wieder, bis ins Jahr 1997, mit der Begründung, sie sei „keine Religionsgemeinschaft“ (taz 27.02.1998), vor Gericht scheiterte, errang sie im Jahre 1998 einen Sieg vor dem Verwaltungsgericht und erhielt damit die Berechtigung, an staatlichen Schulen Religionsunterricht erteilen zu dürfen. Die Proteste dagegen kamen von Seiten der politisch Konservativen und den Einwandererverbänden, darunter auch der TBB. Der TBB sieht das Kernproblem darin, dass eine Organisation wie die Islamische Föderation den Status als „Glaubensgemeinschaft“ erhalte. So wird ein Protestschreiben mehrerer Einwandererverbände und des TBB zitiert, in dem es heißt, dass die Föderation keine konfessionelle, sondern eine „islamisch politische Organisation“ 166
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sei (taz 11.11.1998). Dabei wird stets der Verdacht wiederholt, dass die Organisation „fundamentalistisch“ sei (taz 03.06.1999), „politisch verfassungsfeindliche Ziele“ verfolge (taz 11.11.1998) und der vom Verfassungsschutz als „extremistische Organisation“ eingestuften ‚Mili Görus‘ nahe stehe (FAZ 05.08.2000). Ein weiteres Argument bestand darin, dass es sich bei den potentiellen Trägern nicht „[…] um Religionsgemeinschaften handelt, sondern um politische Organisationen“ (taz 15.11.2001). Immer wieder wird einer der Alternativvorschläge des TBB, dass die deutsche „Schulverwaltung selbst die Trägerschaft für einen Islamunterricht“ übernehmen sollte, zitiert (taz 05.11.1998). Auch die FAZ verweist in ihrem kritisch kommentierenden Artikel auf den TBB mit den Worten: „Der laizistisch orientierte ‚Türkische Bund BerlinBrandenburg‘ forderte, den Koranschulen der Hinterhöfe den Weg in die Klassenzimmer zu verwehren.“ (FAZ 09.11.1998)13 In der Folgezeit griff der Senat die Vorschläge des TBB nach einem „nicht bekennenden, freiwilligen Wahlfach Islamkunde“ auf und erstellte gemeinsam mit dem TBB einen „Rahmenplan“ für einen Modellversuch „Islamkunde und Ethik“ an einigen Berliner Schulen (WELT 03.06.1999; taz 03.06.1999). Daneben wurde vom Senat gegen das Urteil Revision eingereicht, mit der Begründung, dass es totalitäre und antisemitische Tendenzen in der Föderation gebe (taz 29.11.1999; FAZ 29.11.1999; taz 01.12.1999). Doch dem Modell drohte eine Verfassungsklage, da es nach deutschem Recht allein den Religionsgemeinschaften vorbehalten ist, Religionsunterricht zu erteilen und inhaltlich zu gestalten (taz 24.09.1999). Die christlichen Kirchen forderten weiterhin eine Einführung des „bekennenden Religionsunterricht“ und schlugen eine so genannte „Fächergruppe“ vor, in der die verschiedenen Glaubensrichtungen in einem sowohl bekennenden als auch nicht-bekennenden Unterricht angeboten würden (taz 29.11.1999). Später indes favorisierte der neue Schulsenator Klaus Böger nicht das TBB-Modell eines freiwilligen Wahlfachs sondern wieder das Wahlpflichtfach im Sinne der CDU und der Kirchen einzuführen. Damit wa-
13 Mit diesen Warnungen stellt die FAZ im weiteren Verlauf die eigene Überlegung an, dass eine solche Institutionalisierung des Islam jedoch auch seine „guten“ Seiten hätte: „Wenn die Hodschas in öffentlicher Kontrolle an die Schulen kämen, könnte das nicht nur die Schulen verändern, sondern auch die Hodschas. Staatliche Trägerschaft könnte den Glauben der meist türkischen, dörflich und manchmal fundamentalistisch geprägten Berliner Muslime zu einem ‚europäischen‘ oder gar ‚deutschen‘ Islam umformen.“ (FAZ 09.11.1998) Eine solche „optimistische“ Sichtweise wurde vom TBB von vornherein nicht geteilt, da diese „staatliche Trägerschaft“ nach deutschem Recht nur finanzieller und nicht inhaltlicher Art sein darf. Für eine weitergehende Analyse zu diesem Zusammenhang vgl. Matthias Koenig (2004; 2007). 167
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
ren vorerst die Forderungen und das Ansinnen des TBB, wie die FAZ es formulierte, „leider beerdigt“ (FAZ 23.12.1999). Doch es kam wiederum anders als erwartet. Die Islamische Föderation erhielt auch in der Revision Recht und gewann damit ihren seit 1977 andauernden Rechtstreit endgültig. Somit durfte sie nun uneingeschränkt den Religionsunterricht anbieten. Dieses Urteil veranlasste den Senat eine „Notbremse“ (taz 25.02.2000) zu ziehen. Das Berliner Schulgesetz sollte nun so geändert werden, dass nur noch konfessionelle Zusammenschlüsse, d.h. Dachorganisationen verschiedenster Richtungen im Sinne einer „‚repräsentativen‘ Religionsgemeinschaft“ Zugang zu den Schulen erhalten sollten (FAZ 11.04.2000). Das Problem bei dieser Strategie war jedoch, dass eine solche Organisation der Gründung einer „muslimischen Staatskirche“ gleichgekommen wäre. Die Idee einer vereinsmäßig gesatzten Staatskirche widerspricht dem Grundverständnis des Islam. Der Islam gründet auf die Idee der „immateriellen Umma“, d.h. einer explizit nicht als Verband sich organisierenden, „offenen Weltgemeinde“ (ebd.). Der TBB, mit dieser Problematik vertrauter als der Berliner Senat, wurde in der FAZ daher für einen anderen Lösungsweg herangezogen: „[Der TBB schlägt] vor, den gesetzlichen Begriff der Religionsgemeinschaft so zu öffnen, dass auch die immaterielle Umma der Muslime von ihm erfasst wird und Zugang zu Berlins Schulen erhält. Ihr Repräsentant soll dabei nicht eine einheitliche Organisation werden, sondern eine informelle Gelehrtenrepublik, ein Netz akademischer Institutionen. Diese jedoch, islamische Lehrstühle oder Fakultäten in Deutschland, müssten erst geschaffen werden. Es wäre die Geburt eines deutschen Islams aus der Vielfalt der Universitäten.“ (FAZ 11.04.2000)
Dieser Vorschlag wurde in der weiteren Debatte nicht mehr aufgegriffen. In der Folgezeit wiederholten sich lediglich die Positionen. Favorisiert wurde weiterhin ein Wahlpflichtfach „Islamkunde“, wobei selbst der Schulsenator einwandte, dass dies keinesfalls eine „Kontrolle der Lerninhalte“ garantiere. Zudem kam die Schwierigkeit hinzu, dass die politisch links stehende Partei PDS Religion als Wahlpflichtfach „strikt“ ablehnte (FAZ 06.09.2001). Im Jahr 2002 wird berichtet, dass die Islamische Föderation an zwei Berliner Grundschulen unterrichtete. Ansonsten geriet das Thema aus dem Fokus der Medien. In einem Interview äußerte sich der Schulsenator Klaus Böger angesichts einer fehlenden Lösung resigniert. So habe er zwar „durchaus Sympathie für die Position des Türkischen Bundes“, allerdings sei mit dessen Vorschlägen das „strukturelle Problem“ nicht gelöst. Ein Leitfach „Ethik und bekenntnisfreie Religionskunde“, in deren Rahmen „zusätzlich die bekenntnisorientierten Fächer“ unterrichtet würden, wäre zwar „eine Lösung“, schei-
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tere aber an der Ablehnung der „christlichen Kirchen“. Daher sei „eine Lösung derzeit nicht in Sicht“ (taz 30.01.2002). Damit endete die Debatte.14
„Islamistischer Terrorismus ist nicht Islam!“ In den Medien repräsentierte Forderungen und kritischen Kommentare zum islamistischen Terrorismus bilden die mit 20 Prozent (n=33) zweithäufigsten Subrahmen zum Thema „Islam“ (vgl. Tabelle 14). Sie finden sich ab dem Jahre 2001. Anlass der Thematisierungen waren drei verschiedene Ereignisse: die Anschläge am 11.09.2001 in New York, der Anschlag gegen eine Synagoge in Istanbul im Jahre 2003 und der Ermordung der Filmemachers Theo van Gogh in den Niederlanden im Jahr 2004. In den deutschen Medien beginnt das Interesse an Kommentaren zu islamistischen Anschlägen von Seiten der Verbände mit dem 11. September 2001. Dies ist nicht sonderlich überraschend angesichts des Ausmaßes und der symbolischen Bedeutung dieses Anschlagsereignisses. Im Vergleich der drei Ereignisse ergibt sich jedoch ein unerwartetes Bild. Nicht der 11. September, sondern die Ermordung Theo van Goghs löste inhaltlich, d.h. in der zugeschriebenen Bedeutung, die weitaus intensivste Anteilnahme aus.15 Als Reaktion auf die Anschläge gegen das World Trade Center in New York am 11. September wurden die Erklärungen der Verbände in der SZ und der taz eher beiläufig und in der taz sogar mit einem Hauch von Ironie erwähnt. Es wurde berichtet, dass sich „fünf türkische Verbände und Vereine“ in Berlin zusammengesetzt hatten (SZ 27.09.2001), „die nach eigenen Angaben etwa 90 Prozent der 230.000 Berliner Türken repräsentieren“ (taz 27.09.2001): „Es war nicht gerade die schnellste Reaktion, aber spontane Einigkeit war auch kaum zu erwarten: 15 Tage nach den Terroranschlägen in den USA luden gestern fünf türkische Dachverbände und Vereine in Berlin, die sich sonst oft herzlich uneins sind, zur gemeinsamen Stellungnahme in eine Moschee. Man sei sich ‚natürlich vom ersten Tag in der unbedingten Verurteilung der Anschläge einig gewesen‘, er14 Lediglich in einem Artikel wird im Jahre 2003 die Forderung des TBB, „nur an deutschen Universitäten ausgebildete Lehrer“ einzusetzen, wiederholt (WELT 17.09.2003). Der Artikel berichtete, dass viele deutsche und türkische Eltern ihre Kinder von einer Grundschule abmeldeten, wegen Angst vor Indoktrination durch den dortigen Islamunterricht der Islamischen Föderation. In etwas verwandelter Form taucht das Thema im Jahre 2004 auf, als eine islamische Privatschule in Berlin Spandau gegründet wird (WELT 18.10.2004; WELT 22.10.2004; taz 29.10.2004; WELT 27.11.2004). Die zitierten Proteste und die Artikelstruktur ähneln dabei der vorhergehenden Debatte um den Religionsunterricht. 15 Für eine performanztheoretische Interpretation dieses Attentats als außerordentliches und weltweit beachtetes Medienereigniss vgl. Eyerman (2005). 169
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klärte Eren Ünsal, Sprecherin des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg. Aus ‚organisatorischen Gründen‘ habe sich das gemeinsame Gespräch aber leider verzögert.“ (taz 27.09.2001)
Ähnlich beiläufig und distanziert wird im Anschluss dieser Einleitung dann auch die Erklärung der Verbände zitiert: „Wer ‚im Namen des Islam terroristische Aktivitäten entfalte‘, habe ‚keinen Platz in unserer Gesellschaft‘. […]. Der Islam sei eine ‚universelle Religion‘, die sich auf ‚Toleranz gründet, Freundschaft in den Vordergrund stellt und Gewalt ablehnt‘“ (taz 27.09.2001). Besonders hervorgehoben wurden diejenigen Gruppen, die sich nicht an der gemeinsamen Erklärung beteiligten: Nicht eingeladen war die „Islamische Föderation, die seit ein paar Wochen an zwei Berliner Schulen Islamunterricht veranstaltet“ (taz 27.09.2001). Bei der Anschlagserie gegen Istanbuler Synagogen wurden die Stellungnahmen der Verbände bereits zentraler in der Medienberichterstattung positioniert. Dort hieß es beispielsweise: „Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) reagierte ‚entsetzt‘ auf die Anschläge“ (SZ 21.11.2003) und verurteilte diese als „abscheulich und menschenverachtend“ (taz 22.11.2003). Auch vom TBB wurde berichtet, dass er „die Anschläge scharf verurteilt“ (WELT 21.11.2003). Sicherlich hängt diese intensivierte Unmittelbarkeit bei den Bekundungen von Anteilnahme auch mit dem Türkei-Bezug der Anschlagserie zusammen, obwohl streng genommen insbesondere der TBB mit Kommentaren zu Ereignissen in der Türkei sehr zurückhaltend ist. Anlässlich der Ermordung von Theo van Gogh durch einen islamistischen Fundamentalisten steigerte sich abermals die Intensität der Berichterstattung und der Kommentare. Eine der Ursachen lag in dem „Vorbild“, das die Niederlande seit Jahren in Fragen von Toleranz und Integration darstellten (u.a.: taz 14.07.1995; SZ 28.11.1995; FAZ 14.11.1997; SZ 23.11.1999; taz 22.02.2000; taz 18.07.2001; taz 09.04.2002). Wenn dort „so etwas geschieht“, dann könne es in allen anderen europäischen Ländern „auch geschehen“, lautete die quasi kanonische Befürchtung (taz 11.11.2004). Ein Attentat wurde mit einem Mal als Beweis des Scheiterns von Einwanderungsgesellschaften gelesen. Die Begründung lautete, dass der Attentäter ein Einwandererkind war, dass er in den Niederlanden geboren wurde, aufwuchs und zur Schule ging und dennoch zu einer solchen Tat bereit war. Der Täter war kein krimineller und damit gewöhnlich „devianter Fremder“. Es war eine religiös motivierte Tat. Zudem handelte es sich bei ihm nicht, wie beim 11. September, um einen „Schläfer“, einen Fremden, der unerkannt im Innern der Gesellschaft lebte, sondern um einen vormals integrierten Immigranten der zweiten Generation. Das Ereignis hatte daher ein ungleich größeres Irritationspotential als die beiden anderen Anschläge. Repräsentiert wurden nicht mehr die Erklärungen, 170
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sondern die Reflexionen über den Zustand und das Selbstverständnis der Einwanderungsgesellschaft an sich: Die „multikulturelle Gesellschaft“ ist gescheitert, in „Wirklichkeit“ handelt es sich um eine „Parallelgesellschaft“ (taz 11.11.2004). Offiziell verfasste Verlautbarungen und Routine-Erklärungen schienen angesichts dieses Ereignisses unangemessen. Die Zeitungen suchten nach persönlichen Stellungnahmen und Reflexionen. In der taz wurden eine Reihe von Kommentaren von Immigrantenvertreter und -vertreterinnen aus Politik und Kultur abgedruckt, die darüber berichteten, wie sie das Ereignis persönlich erlebt hätten und welche Schlüsse sie zögen. Unter den Artikeln fand sich auch eine Stellungnahme von Kenan Kolat, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der TG-D. Dabei geht er auch auf den diskursiven Wechsel zur „Parallelgesellschaft“ ein: „Theo van Goghs Tod hat mich bestürzt. Viele Reaktionen auf seine Ermordung haben mich aber gestört. Übersehen wird, dass Gefühle des Hasses zunehmen. Ich finde, man muss jetzt mit kühlem Kopf überlegen, welche Schlüsse man ziehen muss. Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher – sonst entstehen wirklich Parallelgesellschaften. Ignoranz ist keine gute Antwort. Das Andere wird als Bedrohung [sic!]. Das dürfen wir nie zulassen. Bis jetzt haben wir nie ernsthaft über die Probleme miteinander diskutiert oder uns sehr wenig umeinander gekümmert. Beide Seiten haben versäumt, die jeweils andere Seite zu verstehen.“ (taz 11.11.2004)
Des Weiteren wurde als Reaktion auf das Ereignis von der Dachorganisation DITIB (Türkisch-islamische Union der religiösen Anstalten), die 870 Moschee- und Kulturverbände in Deutschland repräsentiert, zu einer zentralen Demonstration unter dem Motto „Gemeinsam für den Frieden und gegen den Terror“ aufgerufen (FAZ 18.11.2004). Mehrmals wiesen die Medien darauf hin, dass auch der TBB und die TG-D, in der die DITIB Mitglied ist, den Aufruf aktiv unterstützten (FAZ 18.11.2004; taz 18.11.2004; taz 19.11.2004). Wiederum wurde ausdrücklich erwähnt, dass die Islamische Föderation diesen Aufruf „nicht unterstützt“ (taz 20.11.2004). Demgegenüber habe der „Zentralrat der Muslime seine Teilnahme zugesichert“ (taz 18.11.2004). An diesen Aufrufen und der detaillierten Wiedergabe in den deutschen Printmedien wird deutlich, welches Irritationspotential das Ereignis auf der Ebene der kollektiven Fremd- und Selbstzuschreibungen hatte. Sowohl für die deutschen Medien als auch für die muslimischen Einwanderer dienten die Demonstrationen zur symbolischen Unterscheidung in das „Eigene“ und das „Andere“. Das „Eigene“ sind die gegen Gewalt demonstrierenden muslimischen Einwanderer, das „Andere“ entsprechend die nicht-teilnehmenden Muslime, unter ihnen die Islamische Föderation. Bis zum Ende der Debatte versuchten die Verbände durch Aufrufe in den Medien diese Grenze aufrechtzuerhalten. Ge171
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warnt wurde vor der vorschnellen Gleichsetzung und einem „Kreuzzug gegen Muslime“ (WELT 30.11.2004). Widersprochen wurde jedoch auch der durch das Ereignis ausgelösten Skepsis gegenüber einer gelingenden „multikulturellen Gesellschaft“. War es zunächst noch passiv und indirekt die „alte“ „multikulturelle Gesellschaft“, in der beide Seiten versuchen, einander „zu verstehen“, sich um einander „zu kümmern“ und sich gegen die nun aufkeimende Definition der kollektiven Situation als „Parallelgesellschaft“ zu verteidigen, so wurde später diese Kontrastierung offensiv gezogen. Explizit zeigte sich die Verteidigung der richtigen Deutung der Einwanderungsgesellschaft am Ende des Agenda-SettingProzesses. So heißt es in einer letzten Stellungnahme der TG-D zu der Debatte: „Die multikulturelle Gesellschaft sei hierzulande längst Realität, sagte der Vorsitzende der [TG-D], Hakki Keskin, am Wochenende. Da könne man nicht sagen, das sei gescheitert, sagte er. Das Zusammenleben müsse nun so gestaltet werden, daß die Schwierigkeiten und Probleme minimiert würden […]. Parallelgesellschaften gebe es weder in Hamburg und Berlin noch in anderen Großstädten mit hohem Ausländeranteil.“ (WELT 06.12.2004)
Mit dieser letzten Stellungnahme endete die Debatte um das islamistische Attentat auf Theo van Gogh und die Gefahr von „Parallelgesellschaften“ in Europa.
„Wider dem Kopftuch an staatlichen Einrichtungen!“ Am dritthäufigsten bezogen sich die in den Medien repräsentierten Kommentare und Forderungen der Verbände auf die sogenannte „Kopftuchdebatte“ (n=28; Tabelle 14). Den Anlass bildete die strittige Frage, ob es Lehrerinnen und Schülerinnen in staatlichen Institutionen erlaubt werden sollte, ein Kopftuch zu tragen. Auffällig ist zunächst die jährliche Verteilung der Verbandsforderungen. Vor dem Jahre 2001 finden sich kaum Zitate und Erwähnungen zu dem Thema.16 Erst in den Jahren 2003 und 2004 wird der Meinung der Verbände in den Medien eine größere Beachtung geschenkt. Dieser Bedeutungszuwachs ist der allgemein gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema „Islam“ seit 2001 geschuldet. Der Zuwachs hängt darüber hinaus mit einem Ur16 Von insgesamt n=28 Rahmungen stammen aus den Jahren 2003 und 2004 n=20 Rahmungen. Allerdings unterscheiden sich die Verbände: Bei der TG-D finden sich von insgesamt n=9 Rahmungen nur eine Nennung vor dem Jahre 2001. Bei dem TBB stammen 11 Äußerungen aus den Jahren 2003-2004 und sieben aus den 1990er Jahren. Auch dies hängt mit einer gewissen Spezifik des Themas im Berliner Fall zusammen, für den der TBB der wichtigste Ansprechpartner ist. 172
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teil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2003 und den anschließenden Diskussionen um das Gesetzesvorhaben der einzelnen Bundesländer im Jahre 2004 zusammen. Des Weiteren ist auffällig, dass sich für die beiden Zeiträume, anders als bei der Debatte um den „islamischen Religionsunterricht“, ein inhaltlicher Wandel vollzog. Vor dem Jahr 2001 sahen die Verbände das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Einrichtungen weitaus unproblematischer an. Sie protestierten gegen ein generelles Verbot. So wurde in den Jahren 1998 und 1999 noch die Ansicht des TBB zitiert, dass stets „im Einzelfall“ geprüft werden sollte, „ob sich unter einem Kopftuch Sendungsbewusstsein verbirgt“ (taz 15.07.1998). Auch sollte die Kopftuchdebatte nicht auf die „Fundamentalistenschiene verengt“ werden, da dies „integrationspolitisch fatal“ sei (ebd.). Daher befürwortete der TBB, dass eine Lehrerin muslimischen Glaubens mit Kopftuch an öffentlichen Schulen unterrichten darf. Er verwies darauf, dass das „Tragen des Kreuzes“ ja auch nicht verboten sei. Einschränkend wurde lediglich argumentiert, dass sich mit dem Kopftuch keine „politische Motivation“ verbinden dürfe (WELT 14.07.1999). In den Jahren 2003 und 2004 änderten sie diese Ansicht und forderten nunmehr ein generelles Verbot ein. Als am 27. September 2003 das Bundesverfassungsgericht entschied, „dass Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs nicht aufgrund eines Verwaltungsaktes, sondern nur per Gesetz verboten werden kann“ (taz 02.12.2003), entstand eine neue, intensivere Debatte, in der die Verbände nunmehr als Befürworter eines Verbotes herangezogen und beispielhaft zitiert wurden. Da dieses Gesetz nun die Entscheidung an die Bundesländer verwies, entzündeten sich jeweils Proteste, wenn sich eines der Länder für ein Verbot entschied. Als beispielsweise das Land Baden-Württemberg ein solches Verbot per Gesetz vorlegte, kam es zu einer Protestaktion von „70 Promi-Frauen“ unter der „Minerva-Statue“ am Brandenburger Tor (ebd.). Unter den Demonstrierenden waren u.a. die Ausländerbeauftragte des Bundes Marie Luise Beck (Die Grünen), die ehemalige Ausländerbeauftragte Berlins Barbara John (CDU), die Bundestagsabgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Der Artikel endete mit einem Zitat des TBB: „[Der TBB] kritisiert diesen Aufruf […] und fordert nicht nur ein Kopftuchverbot, sondern ein Verbot aller religiösen Symbole im gesamten öffentlichen Dienst“ (ebd.). Die Linie zwischen den Befürworten und den Gegnern eines Kopftuchverbots verlief dabei nicht entlang nationaler oder religiöser Lager, sondern quer zu diesen Gruppen und Gemeinschaften. So kam es beispielsweise aus Anlass einer Gesetzesverabschiedung im Land Niedersachsen zu einer Anhörung in einem „Kulturausschuss“. Von dem Kulturausschuss wurde berichtet, dass „die evangelischen Kirchen, die liberalen Juden und die Türkische Ge173
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meinde ein solches Verbot“ begrüßten, während die „katholische Kirche, die orthodoxen Juden und der Zentralrat der Muslime“ sich dagegen aussprachen (taz 27.02.2004). Wie bereits im Falle der Debatte um den islamischen Religionsunterricht, hängt auch diese Spaltung mit der Problematik einer juridischen Gleichbehandlung zusammen. Kommt es zu einem Verbot religiöser Symbole im öffentlichen Dienst, so muss der Gleichheitsgrundsatz gelten, d.h. ein solches Verbot gilt dann auch für die Symbole anderer religiöser Gemeinden. In einem Kommentar in der FAZ war im Anschluss an diese Debatte von dem „Kopftuch“ als „Symbol eines Kulturkampfes“ die Rede, der bisher in den islamischen Ländern ausgetragen wurde und sich nunmehr auch in Europa intensiviere (FAZ 20.01.2004). Der Kommentar stützt seine Argumentation für ein Verbot insbesondere auf eine schriftliche Stellungnahme der TG-D: „In dankenswerter Klarheit hat sich jetzt die [TG-D] dagegen ausgesprochen, daß beamtete Lehrerinnen das Kopftuch tragen dürfen […]: ‚Das Tragen des Kopftuchs [hat] mit dem seinem Wesen nach sehr toleranten Islam nichts zu tun‘ […]. Auch stellt die Türkische Gemeinde klar, daß jene, die das Kopftuch auch ‚amtlicherseits‘ tragen wollen, nicht ‚den‘ Islam repräsentieren. Das Lancieren des Kopftuches auch amtlicherseits wird vielmehr so charakterisiert: ‚Dies ist ein Versuch zahlenmäßig kleiner, radikaler Gruppen innerhalb der islamischen Bevölkerung, die Religion für ihre politisch-ideologische Gesinnung zu instrumentalisieren. Ihr Endziel ist ein Staat nach dem Gesetz der Scharia. Dies sollte jedem klar sein.‘“ (FAZ 20.01.2004)
Insgesamt zeigt sich, dass sich beide Einwandererverbände – anders als noch in den 1990er Jahren – in das Lager der Verbotsbefürworter einreihen. Im Gegensatz zu den deutschen Ausländerbeauftragten halten sie die Erlaubnis keinesfalls mehr für ein Gebot „multikultureller Toleranz“. In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit verläuft die Meinung zu dem Gesetz zwischen strengen Laizisten und moderaten Glaubensvertretern. Ethnische Zuschreibungen sind, zumindest was die öffentliche Repräsentation der Verbände betrifft, für ein Pro oder Contra keineswegs ausschlaggebend. Es handelt sich nicht in erster Linie um ein Problem des Multikulturalismus, sondern um ein Problem zwischen der Forderung nach freier Religionsausübung und der Gewähr von Glaubensneutralität seitens des Staates.
„Wider der Zusammenarbeit mit islamistisch fundamentalistischen Organisationen!“ Die vierthäufigste Rahmung (vgl. Tabelle 14) bezieht sich auf die Forderungen und kritischen Kommentare zur Zusammenarbeit deutscher Institutionen mit islamischen Organisationen, die aus Sicht der Verbände fundamentalis-
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tisch sind und daher das demokratische Zusammenleben sowie die Integration gefährden (n=21). In dieser Kontroverse bezieht sich der TBB vor allem auf islamische Verbände und Organisationen, während die TG-D insbesondere die „Abschiebung“ von Sprechern wie beispielsweise Metin Kaplan, dem so genannten „Kalifen von Köln“, fordert (WELT 15.07.2004). Der Bundesregierung wird vorgeworfen, aus „falsch verstandener Toleranz zur Salonfähigkeit von Extremisten beigetragen zu haben“ (taz 29.08.2003). Von Seiten des TBB wird beispielsweise der ehemaligen Ausländerbeauftragten von Berlin, Barbara John, ihre Zusammenarbeit mit islamischen Organisationen vorgehalten, die vom Verfassungsschutz als „extremistisch“ eingestuft werden. In einem Zitat von Safter Cinar heißt es dazu: „Er wirft Barbara John vor, im Umgang mit dem politischen Islam, also Gruppen wie Milli Görüs und der Islamischen Föderation, ‚naiv‘ zu sein. Barbara John spricht mit diesen Organisationen und lädt sie auch zu Veranstaltungen ein. Mit dem Verein Müsiad hat sie eine Broschüre über ‚Moscheen in Berlin‘ herausgegeben. ‚Weil man sie nicht ausgrenzen darf‘, wie John sagt. Aus Cinars Sicht macht sie so islamischen Fundamentalismus gesellschaftsfähig.“ (taz 05.12.2001)
Die Organisation „Milli Görus“ ist in der steten öffentlichen Kritik, weil der Organisation nachgesagt wird, in der Türkei an der Errichtung eines Gottesstaates mitzuwirken bzw. mit dortigen Fundamentalisten eng vernetzt zu sein (taz 10.07.1999). Es zeigt sich also hier noch deutlicher als bei den Rahmungen zum islamischen Religionsunterricht, dass die Verbände wiederholt Kritik an einer aus ihrer Sicht „schädlichen Toleranz“ der Mehrheitsgesellschaft üben.17
Integration Das dritte wesentliche Diskursfeld, in dem die Verbände Forderungen und kritische Kommentare erhoben, ist die Debatte um Integrationsmaßnahmen. Die Forderungen zur Integrationspolitik erfuhren in dem hier untersuchten Zeitraum eine beträchtliche Wandlung. In den Jahren 1995 bis 1997 wurde der Begriff lediglich als allgemeine Beschreibungskategorie zur Erklärung von sozialstrukturellen Verwerfungen verwendet. Im Zuge der Diskussion um 17 In diesem Zusammenhang wäre die Frage zu diskutieren, ob die Verbände mit ihren Warnungen vor einer „naiven Toleranz“ eine den Tatsachen entsprechende Einschätzung vertreten oder ob sie diese Forderungen lediglich, wie bei Interessengruppen üblich, aus strategischen Konkurrenzkalkülen und machtpolitischen Erwägungen vorbringen. Doch diese Frage kann mit der Methode einer Medienanalyse keineswegs entschieden werden. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass hiermit eine Perspektive in den Medien repräsentiert wird, die sich explizit gegen eine multikulturelle „Naivität“ und „Toleranz“ wendet. 175
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die doppelte Staatsbürgerschaft seit dem Jahr 1998 differenzierte sich sein Bedeutungskontext zunehmend aus. Auch quantitativ stieg die Verwendung dieses Rahmens tendenziell leicht an (vgl. Tabelle 15). Im Zuge dessen entwickelte sich „Integration“ zu einem sozialpolitischen catchframe, mit dem sich zunehmend aktive politische Handlungsimperative begründen ließen. Des Weiteren wurde der Integrationsrahmen zur Thematisierung von symbolischen Grenzziehungen und kollektiven Grenzüberschreitungen herangezogen und als argumentative Strategie eingesetzt. Diese Ausdifferenzierung des Rahmens ist anhand von drei zeitlichen Phasen interpretierbar. Tabelle 15: Integrationsrahmungen im jährlichen Verlauf (N=200) 60 50 40 30 20 10 0 1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Phase 1 In der ersten Phase (1995-1997) wurde der Begriff „Integration“ als allgemeines Erklärungsmuster negativer Zustände herangezogen. In der Bundesrepublik seien die Einwanderer „desintegriert“ – zudem „fehle“ eine generelle „Integrationspolitik“. Bei den Einwanderern schüre dieses Fehlen „Nationalismus“ und verstärke den „Rückzug in die eigene community“, so lauteten im Allgemeinen die zitierten Stellungnahmen der Verbände. Das folgende Zitat stammt aus einen Artikel über Gewalt zwischen kurdischen und türkischen Jugendlichen. Als Problemursache wird hier das Argument angeführt, dass die türkischen Jugendlichen sich mangels ausreichender Integration zunehmend den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ anschlössen: „Die Zuflucht in eine nationalistische Identität gleich welcher Couleur wird durch eine verfehlte Integrationspolitik verstärkt, meint Kenan Kolat vom Türkischen Bund“ (taz 13.10.1995). Eine solche Kausalitätszuschreibung zwischen Nationalismus und Desintegration dominierte in der ersten Phase vollständig die Rahmungen zur Integration. Zehn Jahre später wird die gleiche Zuschreibung stattdessen als Erklärungsmuster für den Rückzug der Jugendlichen in fundamentalistische islamische Gruppierungen verwendet. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der 176
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allgemeine Verweis auf die „verfehlte Integrationspolitik“ und das problematische Bildungsniveau unter den Einwandererkindern. So fährt Kolat bei seiner Erklärung fort: „Jeder dritte Jugendliche mit türkischem Pass verlässt die Schule ohne Abschluss. Jeder fünfte findet keine Lehrstelle. Die Zuwendung zu einer nationalistischen Identität entspringe dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit.“ (ebd.) „Allgemeine Desintegration aufgrund der verfehlten Bildungspolitik“ ist die konkreteste Bestimmung der meisten Rahmungen. Wenn die Integrationsaussagen der Verbände berücksichtigt werden, dann zumeist als Vergleich zwischen deutschen und türkischen Kindern: Auf „zehn deutsche Abiturienten“ kämen „drei Abiturienten türkischer Herkunft“ (FAZ 20.11.1996) oder „jeder dritte Schüler türkischer Herkunft schließt die Schule nicht ab“ (taz 11.06.1996). Ansonsten dominiert das resignierte Bild, dass trotz dieses alarmierenden Zustandes keinerlei Fortschritt erkennbar ist: „Der Abstand zu den ‚inländischen Schülern ist im Durchschnitt genauso groß wie vor zwanzig Jahren‘.“ (ebd.) Zwar beteuern die Verbände in jener Zeit, dass sie sich grundsätzlich „für Integration“ einsetzen (SZ 28.11.1995), konkretere Erläuterungen werden jedoch trotz der Situation nicht vorgenommen. Von den Verbänden vorgeschlagene Maßnahmen repräsentieren die Medien lediglich in Gestalt längerer unverbindlicher Auflistungen (ebd.). Insgesamt beziehen sich die Aussagen in der ersten Phase darauf, dass die Politik, sei es die Staatsbürgerschaftsregelungen oder die Bildungspolitik, ohne jede Integrationsförderung konzipiert sei. Das Reden über „Integration“ in den Medien und in der Politik sei lediglich vorgeschoben. Das folgende Zitat einer Sprecherin erscheint wie eine prägnante Zusammenfassung der Defizienzrahmungen aus jener Phase des Integrationsdiskurses: „Zwar werde ständig über Integration geredet, aber die deutsche Politik lasse Jugendliche türkischer Herkunft im Stich.“ (taz 27.12.1997)
Phase 2 Mit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 beginnt eine Übergangsphase, die etwa bis zum Ende des Jahres 1999 andauert. Es war eine Periode, in der Hoffnungen artikuliert wurden und eine „neue Integrationspolitik“ plötzlich machbar erschien. Anlässlich des Regierungswechsels bat die taz den damaligen Vorsitzenden der TG-D Keskin seine Erwartungen in einer Stellungnahme zusammenzufassen: „Die Kohl-Ära, welche ausländerpolitisch Abwehr und Absonderung betrieb, ist endlich vorbei […]. Die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung und Gleichbehandlung der Migrantenbevölkerung stellt ein unverzichtbares Gebot des 177
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demokratischen Rechtsstaates dar. Gleichstellung und Gleichbehandlung setzen Integration voraus.“ (taz 14.10.1998)18
Der Regierungswechsel markiert in dieser Stellungnahme den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Nun scheint eine „Integrationspolitik“ denkbar, in der es um die Einbeziehung von Einwanderern gehen soll. Die Zeit der Regulierung der „ausländischen Mitbürger“ scheint der Vergangenheit anzugehören. Umfassende demokratische Grundrechte, „die Gleichstellung und Gleichbehandlung der Migrantenbevölkerung“ können nunmehr proklamiert werden. In der Folge löste diese Zäsur eine Kaskade neuer integrationspolitischer Initiativen aus. Der TBB wird in Berlin zu einer „Innenstadtkonferenz“ geladen, um zum Thema Integration seine Ansätze vorzustellen. Zwar überwiegen in der anschließenden Medienberichterstattung weiterhin die allgemeinen, deskriptiven Desintegrationsvorstellungen: „VertreterInnen von Türkischer Gemeinde und Türkischem Bund pochen längst darauf, dass für den Rückzug gerade junger ImmigrantInnen nicht in erster Linie ein positiver Bezug auf die Tradition, sondern vielmehr die soziale Ausgrenzung verantwortlich ist.“ (taz 27.04.1998) Doch bleibt es nicht bei diesen Feststellungen. So werden die Ideen des Verbandes zur Verbesserung der Bildungschancen der Einwandererkinder zitiert. Diese reichen von „Förderklassen“ bis hin zu „türkischdeutschem Unterricht“ (ebd.). Um diese Vorschläge voranzutreiben, veranstaltet der TBB eine „Erste Bildungsmesse für Türken“ (taz 04.06.1998). Mit der Messe will der Verband „türkische Eltern“ über das deutsche Bildungssystem informieren und Berührungsängste, die insbesondere gegenüber den Kindertagesstätten bestehen, abbauen. Ferner wird die Einführung von Förderkursen und eines zweisprachigen Unterrichts angeregt. Eine ähnliche Kampagne initiierte die TG-D in Hamburg (taz 01.12.1999). Als weitere Maßnahme schlagen die Verbände die Gründung von deutsch-türkischen Schulen vor. Gegen Ende des Jahres 1998 erwähnen die Medien zum ersten Mal das Konzept „Integrationskurse“. Orientiert an der Integrationspolitik in den Niederlanden verkündet der TBB die Einführung von „Yabanci hemsehriler icin uyum yardimi – Integrationshilfe für nichtdeutsche Bürger“ (taz 29.12.1998). Das Themenspektrum der Kurse soll „praktische Lebenshilfe“, „Landeskunde“, Informationen über „Behördengänge“ und deutsche „Rechtsgrundlagen“ (ebd.) umfassen. Mit den Kursen sei, so der Vorschlag, ein „Anreizsystem“ zur Integration zu verknüpfen. Der Kursbesuch sollte beispielsweise mit einer vorzeitigen Arbeitserlaubnis und beschleunigter Einbürgerung einhergehen. 18 Die Stellungnahme fährt dann fort mit der Forderung nach einer Legalisierung der doppelten Staatsbürgerschaft, weil dies eine integrationsfördernde Regelung sei. 178
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Als langfristige Perspektive schwebt dem TBB vor, die Kurse als „staatliche Regelaufgabe“ von „Bund und Ländern“ zu finanzieren (SZ 23.11.1999). Da dies nach bundesdeutschem Recht jedoch nicht verwirklichbar ist, muss ein neues „Eingliederungsförderungsgesetz“ formuliert und verabschiedet werden. Der TBB bekundete, derzeit an einem solchen Gesetzesvorschlag zu arbeiten, der später den politischen Gremien unterbreitet werden solle (ebd.). Die Medien berichten über diese Vorhaben wohlwollend und ohne jede Kritik. In Anbetracht der regelrechten Planungseuphorie in dieser Zeit scheint die Wahrnehmung des Regierungswechsels als eine „einwanderungspolitische Zäsur“ nicht übertrieben. In der Öffentlichkeit wird das Bild einer Migrationspolitik entworfen, das nicht mehr national homogen, sondern erstmalig in den Kategorien von „Einwanderung“ und „Integration“ denkt. Damit beginnt sich der Rahmen des Begriffes zu verschieben und auszuweiten. „Integration“ wird zunehmend zu einem öffentlichen Konzept, mit dem sich konkrete Egalitätsvorstellungen und politische Programme aktiv einfordern und verknüpfen lassen.
Phase 3 In der dritten Phase nehmen diese Initiativen zunehmend institutionelle Gestalt an. Die Medien repräsentieren diese Initiativen als „integrationspolitische Ereignisse“ weiterhin durchgängig zustimmend. Zunächst verwirklicht die TG-D in Hamburg ihre Bildungsinitiative. Der Verband ruft das Motto aus: „Schulsprache Deutsch, Muttersprache Türkisch“. Das langfristig anzustrebende Ziel besteht darin, künftig ein Unterrichtsfach „Türkische Sprache und Kultur“ an deutschen Schulen als Regelfach anzubieten (taz 29.04.2000). Die TG-D verschickt einen Aufruf an „6000 Haushalte“, worin sie an die Einwanderereltern appelliert „[…] ihre Kinder spätestens nach dem dritten Lebensjahr in den Kindergarten zu schicken“ (taz 24.03.2000). Gleichzeitig plädiert der Verband dafür, die türkische Sprachkompetenz zu fördern. Dies habe den Effekt, die verbreitete „Scheu“ vor den deutschen Bildungseinrichtungen zu mildern. Zudem ist Bilingualität nicht Ausdruck einer desintegrativen Herkunftsorientierung, sondern „ein Reichtum, den wir unbedingt fördern sollten“ (ebd.). Im folgenden Jahr rücken die Anstrengungen des TBB um die Bildungsund Sprachförderung in den Mittelpunkt der Integrationsrahmungen. Dem TBB geht es nun weniger um Bilingualität, als um die Einführung eines „Sprachtests für Vorschulkinder“, was eine zielgenauere Sprachförderung ermöglichen soll. Der Vorschlag stößt auf breites Medieninteresse (SZ 27.01.2001; FAZ 27.03.2001; taz 27.03.2001; taz 15.11.2001). Wenige Monate später kündigt der Berliner Senat die Einführung eines solchen Tests an.
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Erfreut betont der Verband sein ideelles Urheberrecht an dieser Initiative: „Der Sprachtest war unser Vorschlag“ (taz 03.07.2001). Auch die Initiative des TBB zur Einführung eines Integrationskurses schien zunächst vollständig umsetzbar. Im Sommer 2000 einigte sich eine große Koalition aus SPD und CDU auf Bundesebene darauf, „Integrationskurse nach holländischem Vorbild“ einzuführen (taz 19.08.2000). Allerdings sollte nach den Vorstellungen der CDU das „Anreizsystem“ durch ein „Sanktionssystem“ ersetzt werden. Wer die „Integrationskurse nicht bestehe“, so der Vorschlag, solle keine Arbeitserlaubnis erhalten. Als weitere Sanktionsmaßnahmen solle sich der Aufenthaltstatus verschlechtern und die Erlangung der Staatsbürgerschaft erschwert werden. Dieser Vorschlag stieß bei der TBB auf „heftigen Widerspruch“ (ebd.). Stets beharrte der TBB darauf, dass solche Kurse nur integrative Wirkung hätten, wenn sie „auf freiwilliger Basis angeboten werden“ (taz 22.02.2000; taz 18.04.2001). Auch den verschärften Bedingungen zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft wurde vom TBB in diesem Kontext heftig widersprochen. Die neuen Anforderungen bei den Sprachprüfungen, so der TBB, schaden „der Integration“ (taz 04.01.2000). Zudem dürften bei den Sprachkursen nicht nur, wie in der Regelung vorgesehen, Neuzugewanderte berücksichtigt werden (taz 28.03.2002). Doch auch diese Vorschläge des TBB konnten sich nicht durchsetzen.19 Als das neue Einwanderungsgesetz zwei Jahre später verabschiedet wurde, fällt der Verband ein vernichtendes Urteil: „‚Das ist weder ein Zuwanderungs- noch ein Integrationsgesetz‘, so TBB-Sprecher Safter Cinar. ‚Das ist ein Gesetz zur Gefahrenabwehr von Migranten‘.“ (taz 27.05.2004)20 Ein weiterer Diskussionszusammenhang widmete sich den hohen Arbeitslosenzahlen unter den Berliner Türken. Die Berliner Ausländerbeauftragte hielt den Einwanderern „Integrationsunwilligkeit“ vor. Sie schlug vor, „türkische Mütter“ sollten mit ihren Kindern „deutsche Lieder“ singen. Diese Idee stieß auf Seiten des TBB auf milden Protest und wurde als „unpädagogisch“ verworfen. Stattdessen diskutierten die Verbände die verschiedenen von Seiten des Senats angeregten Struktur- und Ausbildungsmaßnahmen (taz 10.04.2001; 19 Die neue öffentliche Einbeziehung der Verbände bedeutet selbstverständlich nicht, dass daraus automatisch ein übermäßiger Einfluss auf die tatsächlichen politischen Entscheidungen abzuleiten ist. Doch darum kann es auch nicht gehen. Die Frage ist vielmehr, welche Rolle den Verbänden in der Öffentlichkeit zugeschrieben wird. 20 Als Kritikpunkte wurden u.a. angeführt: „Die vorgesehenen Maßnahmen im Bereich Sicherheit, wie die Abschiebungsanordnung aufgrund einer ‚tatsachengestützten Gefahrenprognose‘ und die Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, die die Union in das Gesetz hineinverhandelt hat, seien ‚verfassungsrechtlich fragwürdig‘“. (taz 27.05.2004) 180
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FAZ 21.04.2001). Gefordert wurde unter anderem eine De-Segregation des „Schuleinzugsbereichs“, um ethnische Konzentrationen in einigen Schulen zu vermeiden (taz 15.11.2001).21 Im Jahr 2002 setzten sich diese Debatten, ausgelöst durch die Pisa-Studie, mit unverminderter Intensität und analogen Argumenten fort. Zunehmend wurden auch die Integrationsprogramme der zur Wahl stehenden Parteien von den Verbänden bewertet oder Wahlempfehlungen ausgesprochen (taz 05.04.2001; taz 20.08.2002; taz 16.10.2004; WELT 13.10.2004; WELT 16.10.2004). Als beispielsweise nach einer Wahl die Koalitionsvereinbarungen abgeschlossen waren, hieß es zu dem integrationspolitischen Programm von Seiten des damaligen TBB-Geschäftsführers Kenan Kolat: „Im Vergleich zu allen anderen Koalitionsverträgen, die es in westlichen Bundesländern gegeben habe, sei das rot-rote Papier integrationspolitisch das beste […]“ (taz 23.01.2001).
Die symbolische Bedeutung Wie in den anderen Diskursen auch, entwickelte sich innerhalb der Integrationsrahmungen zwischen 1995 und 2004 eine eigene symbolische Bedeutungsdimension. Rekurriert wird in diesen Rahmungen weniger auf die sozialstrukturellen Ressourcen, die zu einer umfassenden Gleichstellung von Ankunfts- und Herkunftsgesellschaft vonnöten sind, sondern auf die kollektiven Grenzziehungen und deren Überschreitungsmöglichkeiten in einer Einwanderungsgesellschaft. Neben der Bedeutung von Integration als Herbeiführung sozialstruktureller Gleichheit findet sich also noch eine zweite symbolische Bedeutung, in der der Begriff der „Integration“ im Sinne von „Transgression“ verwendet wird. Zum ersten Mal diente der Integrationsrahmen einer solchen Bearbeitung kollektiver Grenzen in der Staatsbürgerschaftsdebatte und in der Diskussion um die „deutsche Leitkultur“.22 Das folgende Zitat demonstriert, in welcher Weise die Integration gegen kollektive Grenzziehungen, wie sie beispielsweise in dem Begriff „deutsche Leitkultur“ enthalten sind, ins Feld geführt werden kann: „Die Forderung nach Anpassung an die ‚deutsche Leitkultur‘ stelle ein Abrücken der CDU von einer Politik der ‚Integration‘ hin zu einer der ‚Assimilation‘ und damit
21 Selbstverständlich ist dies kein neues Argument. Die Diskussion um diese häufig umstrittenen Maßnahmen reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Allerdings demonstriert dieses Beispiel eine neue argumentative Offenheit. 22 Dabei handelt es sich um eine Entlehnung eines Terminus des Politikwissenschaftlers Tibi (1998), der im Zusammenhang mit islamischen Einwanderern von der Notwendigkeit einer „europäischen Leitkultur“ gesprochen hatte. 181
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zur ‚Germanisierung‘ dar, erklärte […] Hakki Keskin […]. Sie drücke eine ‚pure völkisch-nationalistische Orientierung‘ aus. Keskin betonte: ‚Für alle in Deutschland lebenden kulturellen Minderheiten gelten selbstverständlich die deutschen Gesetze‘. Hierzu gehöre die Schulpflicht der Kinder, die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau bis hin zu einem Verbot der Beschneidung von Frauen. Die Union forderte er auf, ‚endlich ehrlich zu sagen, was sie unter Integration versteht‘.“ (taz 03.11.2000)
Keskin unterscheidet in diesem Kommentar zwischen „Integration“ einerseits und „Assimilation“ andererseits. „Integration“ wird im Sinne der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte definiert, „Assimilation“ hingegen als „völkische Orientierung“ und „Germanisierung“. Diese Bedeutungsverlagerung durch die Unterscheidung zwischen Assimilation und Integration wird auch in einem weiteren Beispiel deutlich. Als der Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die „Assimilierung der Minderheiten in Deutschland“ fordert und insbesondere die „Türken“ dazu aufruft „in den deutschen Kulturraum hineinzuwachsen“ (SZ 29.06.2002), heißt es in der SZ: „Der Vorsitzende der Gemeinde, Hakki Keskin, warf Schily vor, mit seinen Äußerungen ‚alle Bestrebungen derjenigen zu konterkarieren, die seit Jahren für eine Integrationspolitik werben‘. […] Schily begebe sich mit seinen Vorstellungen zudem ‚völlig außerhalb der Politik der EU-Staaten‘. In den so genannten Kopenhagener Kriterien zähle es sogar zu den Eingangsvoraussetzungen für beitrittswillige Länder, dass sie Migranten das ‚Erlernen der Muttersprache‘ ermöglichten.“ (SZ 29.06.2002)
Der Integrationsbegriff stellt hier eine kulturell definierte Grenzziehung der Mehrheitsgemeinschaft infrage. Implizit wird „Integration“ damit zu einer Rahmungsstrategie, die den Forderungen nach einer homogenen kulturellen Identität entgegen gestellt werden kann. Dies gilt auch für die kulturellen Identitätsvorstellungen der Migranten selbst. In einem Artikel zu den Zielen und dem Selbstverständnis des TBB wird thematisiert, dass der Verband „nach eigenen Schätzungen“ lediglich ein Drittel der türkischen Bevölkerung in Berlin repräsentiert. Die Antwort auf die Frage, wer denn die anderen sind, lautet: „Die, die sich nicht als integrationswillig zeigen. Diejenigen, die stärker türkeiorientiert sind.“ (FAZ 01.12.2001) „Integrationswillig“ ist nicht gleichbedeutend mit „germanisierungswillig“. Integration wird hier als Grenzbebriff verwendet. Der Begriff bezeichnet die Akzeptanz von transgressiven Prozessen, seien sie kultureller oder sozialer Art. Diese Grenzen müssen nicht mit den Grenzen der Nationalität übereinstimmen. Sie können diese, wie im obigen Beispiel, unterschreiten. Sie können diese aber auch überschreiten. 182
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Ein Beispiel für eine solche Überschreitung ist die Debatte um den Beitritt der Türkei zur europäischen Union. Die TG-D betonte in diesem Zusammenhang die „integrative Wirkung“, die ein Türkei-Beitritt für die türkische Einwanderer-community in der Bundesrepublik hätte. In einem Interview nach den Folgen eines Neins zum EU-Beitritt gefragt, antwortet Keskin: „Das könnte man nur so verstehen, dass auch die Menschen aus diesem Lande hier wenig zu suchen haben […]. Hier würde es die Integration erschweren“ (taz 25.02.2004). In einem anderen Artikel lautete die Formulierung: „Als EUBürger würden Türken in Deutschland nicht mehr als Fremde angesehen.“ (SZ 07.06.2004) Auch in diesem Zusammenhang dient der Integrationsbegriff dazu, die umstrittenen kollektiven Grenzen zu bearbeiten. Wobei hier die nationale Grenze durch eine transnationale Rahmung überschritten wird. Schließlich soll hier noch eine Rahmungsstrategie erläutert werden, in der „Integration“ im Sinne von „inkommensurabel“ verwendet wird. Der Historiker Hans Ulrich Wehler schrieb 2002 in der Wochenzeitung Die Zeit als Argument gegen den EU-Beitritt der Türkei, dass „die Bundesrepublik bekanntlich kein Ausländer-, sondern ausschließlich eine Türkenproblem“ habe (Die Zeit 12.09.2002). Er begründete dies u.a. damit, dass die „muslimische Diaspora im Prinzip nicht integrierbar“ sei (taz 19.08.2002)23. In einem Interview antwortete Safter Cinar vom TBB: „Herr Wehler, der eigentlich als fortschrittlicher Historiker gilt, zieht in einer ungeheuerlichen Weise über den Islam und über die Türken her. Das ist an der Grenze zur Hetze. Eine Ethnie mit einem Problem gleichzusetzen, allein das ist schon infam. Dass sich Menschen mit muslimischer Sozialisation in einem christlich sozialisierten Land etwas schwieriger anpassen, liegt in der Natur der Sache. Aber für diese grundsätzliche Annahme gibt es einfach keine Rechtfertigung. Bei allen Schwierigkeiten: Die über drei Millionen Muslime in der Bundesrepublik leben ganz normal wie alle anderen auch.“ (taz 19.08.2002)24
Zusammenfassend ergab die Analyse einen Bedeutungswandel der öffentlichen Rahmungen von „Integration“. In einer ersten Phase, in den Jahren 1995 bis 1997, wurden die Rahmungen der Verbände nur sehr sporadisch verwendet (vgl. Tabelle 15). Die Verbände zeichneten das Bild einer grundlegend gescheiterten „Integrationspolitik“. Die Erwähnung von „Integration“ diente 23 Im Originaltext lautet die Formulierung: „Überall in Europa erweisen sich muslimische Minderheiten als nicht assimilierbar“ (Die Zeit 12.09.2002). 24 In der sich zunehmend transnationalisierenden Gesellschaft scheint dem migrationspolitischen Leitbegriff „Integration“ eine ähnlich mobilisierende Bedeutung zuzukommen, wie ehedem dem Begriff der „Solidarität“. Ein sozialhistorischer Vergleich zwischen der Rolle der Einwanderverbände und der Rolle der Gewerkschaften im frühen 20. Jahrhundert würde vielleicht zu analogeren Resultaten führen, als es sich einige Sozialhistoriker momentan noch vorstellen können. 183
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lediglich dazu, einen defizienten Ist-Zustand im Sinne von „Desintegration“ zu beschreiben. Die zugeschriebenen Bedeutungen waren unkonkret und allgemein. Es überwog grundsätzlich eine passive Zuschreibung. Die zweite Phase, in den Jahren 1998 und 1999, stellte eine Übergangszeit dar. Zu den Erklärungsmustern eines desintegrativen Ist-Zustands gesellte sich zunehmend auch die Ausformulierung eines Soll-Zustands durch die Verbände. Die konkreten Bedingungen von gelingender „Integration“ traten ins Zentrum des Interesses. Nicht zuletzt war dies wohl dadurch bedingt, dass der Begriff in die offizielle Regierungssprache der neuen Rot-Grünen Regierung Einzug hielt. In der dritten Phase, die um das Jahr 2000 begann, weitete sich der Sinnkontext weiter aus. Die passiv-deskriptive Bedeutung verschwand. Stattdessen entfaltete sich in der medialen Darstellung eine Diskussion der Verbände um aktive und politisch mobilisierende Integrationsvorstellungen. Zahlreiche sozialpolitische Programme wurden im Namen von „Integration“ entworfen und teilweise sogar umgesetzt. Es etablierte sich ein eigenes Feld „Integrationspolitik“, in dem die Verbände für die Medien zunehmend die Rolle legitimer kollektiver Sprecher einnahmen. Darüber hinaus avancierten die Integrationsrahmungen auch auf der symbolischen Ebene zu einem Schlüsselbegriff. Wenn Fragen der Gemeinschaftsgrenzen verhandelt wurden, dann diente der Verweis auf „Integration“ nunmehr zur symbolischen Bewertung kollektiver Grenzziehungen oder deren Überschreitungsmöglichkeiten. Seither hat der Integrationsrahmen also zwei verschiedene Bedeutungsfunktionen: zum einen dient er einem sozialstrukturellen Gleichheitsmotiv und zum anderen symbolisiert er kollektive Transgressionsvorstellungen.
Schlussfolgerungen Diese Schlußfolgerung konzentriert sich auf die inhaltlichen Ergebnisse der Analyse. Die Interpretationen anhand der theoretischen Perspektiven werden in dem anschließenden Kapitel diskutiert (Kapitel 8). Zusammenfassend lassen sich vier wesentliche inhaltliche Ergebnisse formulieren: Erstens: Die untersuchten türkischen Dachverbände nehmen während des Untersuchungszeitraums von 1995 bis 2004 im medialen Diskurs zu Einwanderungsfragen eine legitime und kontinuierliche Sprecherposition ein. Zweitens: Im Zuge des Wandels der Einwanderungspolitik um das Jahr 1998 haben die Verbände einen maßgeblichen Anteil an der Etablierung eines für die Bundesrepublik neuen öffentlichen Diskursfeldes: der „Integrationspolitik“. Hierbei wird sich vor allem auf die sozialstrukturelle Dimension von Integration bezogen.
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MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Drittens: Inhaltlich zeigt sich, dass die Rahmungen der Mehrheit von den Verbänden nicht nur aufgegriffen und diskutiert werden. Vielmehr gelingt es den Verbänden, eine eigensinnige Rahmungsweise in den Medien zu platzieren. Dabei etablieren sie eine symbolische Bedeutung von „Integration“, in der nicht die sozialstrukturellen Ressourcen, sondern eine neue Form von kollektiver Grenzüberschreitung im Zentrum steht. Implizit unterscheiden die Verbände also zwei Bedeutungen von „Integration“: einerseits individuelle Inklusion und andererseits kollektive Transgression. Viertens: Neben den Fragen nach Staatsbürgerschaft, Einbürgerung und Integration setzen sich die Verbände mit religiösen Fragen, in diesem Fall mit dem Islam, auseinander. Hier zeigt sich, dass sich aus Sicht der Verbände eine öffentliche Thematisierung nicht anhand der tradierten Formel von „multikultureller Toleranz“ bearbeiten lässt. Vielmehr ergibt sich eine Konstellation struktureller Ambivalenz. Diese vier Ergebnisse werden nun im Einzelnen ausführlicher erörtert.
Verstetigung der legitimen Sprecherposition der Verbände In dem hier untersuchten Zeitraum von zehn Jahren war die Nennung der Verbände pro Artikel quantitativ gesehen stabil. Zudem gab es, wie in jedem anderen Diskursfeld auch, Jahre, in denen sich die Nennungen überdurchschnittlich häuften, wie beispielsweise in den Jahren 1999 und 2004. Eine solche issue-Gebundenheit weist auf eine themenabhängige, stabile öffentliche Aufmerksamkeitsstruktur hin. Die kontinuierliche Präsentation der Verbände über die Jahre stellt einen Resonanzboden bereit, auf den bei neuen Ereignissen unproblematisch und unmittelbar zurückgegriffen werden kann. Auf den ersten Blick wäre dieser These mit zwei Einwänden zu widersprechen. So findet sich erstens eine quantitative Überrepräsentation einer einzigen Tageszeitung, der taz, die zudem nicht zu den bundesdeutschen Leitmedien gehört. Es könne daher nicht auf die bundesdeutsche Qualitätspresse generell geschlossen werden. Ein zweiter Einwand könnte lauten, dass bei den Agenda-Setting-Prozessen, wie beispielsweise der Staatsbürgerschaft, die Verbandserwähnungen lediglich einen relativen Anteil von vier bis sieben Prozent an der Gesamtberichterstattung hatten und daher zu vernachlässigen seien. Gegen den ersten Einwand, die Nichtgeneralisierbarkeit durch die Überrepräsentation der taz, spricht vor allem die inhaltliche Dimension der analysierten Rahmungen. In den entscheidenden politischen Situationen, bei der Staatsbürgerschaftsdebatte, den Debatten um das Themenspektrum Islam und dem Integrationsdiskurs, berichteten die vier Zeitungen analog. Nur in Zeiten alltäglicherer oder regional gebundener Ereignisse war das Interesse der anderen drei Zeitungen im Vergleich zur taz quantitativ geringer ausgeprägt. Bei185
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spielsweise trifft dies auf den ersten Blick für die Debatte um den islamischen Religionsunterricht im Land Berlin zu. Allerdings fanden sich auch hier lange ausführliche Artikel und Repräsentationen in den anderen drei Zeitungen. Lediglich die Gesamtheit der Artikelanzahl war geringer. Es wurden weniger Details und Einzelberichte mitgeteilt. Insgesamt findet sich also eine issue-abhängige Homogenität. Wenn die vier Zeitungen die Verbandsrahmungen präsentierten, dann geschah dies grundsätzlich in einer homologen Weise. In allen vier Zeitungen wurden die Argumente der Verbände als legitim angeführt und je nach Thema gegebenenfalls gegen andere Meinungen ins Feld geführt. Auch wurde in allen vier Zeitungen den Verbänden eine hohe Kompetenz und kritische Position zugestanden. Die kritischen Kommentare in der taz zur Funktion von „ethnischen Vereinen“ Mitte der 1990er Jahre verschwanden vollständig. Die Verbände eroberten sich stattdessen eine als legitim zugeschriebene, öffentliche Sprecherposition. Politische Differenzen bei den jeweiligen redaktionellen Linien der vier Tageszeitungen spielten, wie bereits in anderen Medienanalysen beobachtet, auch in diesem Fall keine Rolle. Wie ist nun der zweite Einwand, die relativ geringen Anteile der Verbandsrepräsentation an der Gesamtberichterstattung zu bestimmten Themen zu bewerten? Der Anteil von Interessenverbänden generell an der Gesamtberichterstattung in den Medien liegt in Deutschland bei 7 Prozent (Hackenbroch 1998: 197). Die beiden türkischen Verbände unterscheiden sich in dieser Hinsicht also nicht. Auch inhltlich können zumindest annährend vergleichbare Ergebnisse aus der Analyse der Abtreibungsdebatte angeführt werden. Frauen- und Kirchenverbände hatten in dieser Debatte einen ebenso geringen Anteil. Dennoch lässt sich daraus nicht zwingend schließen, dass diesen Verbänden keine öffentliche Sprecherfunktion zukam, da den Stimmen der Kirchenvertreter in der Abtreibungsdebatte großes inhaltliches Gewicht beigemessen wurde. Sie besetzten als sogenannte „Abtreibungsgegner“ in der gesamten Debatte eine wesentliche Subjektposition. Der quantifizierend erfasste Nachrichtenwert der Verbände lässt nur in eingeschränktem Maß Rückschlüsse auf die politische und öffentliche Bedeutung der Verbände zu. Zumal der Nachrichtenwert sich nicht an den Vorgaben einer deliberativen Öffentlichkeit orientiert, sondern eher nach dem Gesetz „bad news are good news“ strukturiert ist. Durch die Einschränkung der Artikelauswahl auf die Verbandspräsentation ist eine Aussage zu den Diskursen „an sich“ nicht möglich und muss hier offen bleiben. Obwohl es nicht den vornehmlichen Gegenstand der Fragestellung bildete, zeigt sich durch diese Artikelauswahl jedoch, dass sich eine gewisse dialogische, um nicht zu sagen „deliberative“, Struktur finden lässt. Doch dieser Befund würde eine andere
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Analysemethodik erfordern und war nicht Teil der Fragestellung dieser Untersuchung. Trotz der möglichen Einwände lässt sich also insgesamt festhalten, dass den Migrantenverbänden eine mit klassischen Verbänden durchaus vergleichbare öffentliche Bedeutung zukommt. Sie gelten als legitime Sprecher ihrer ethnischen Gruppe und als kompetente Akteure zu allgemeinen einwanderungspolitischen Fragen. Wie andere Interessenverbände auch (vgl. Vowe 2007) werden die Migrantenverbände in den Medien in einem spezifischen Politikfeld positioniert.
Etablierung des öffentlichen Diskursfeldes „Integrationspolitik“ Die Analysen der Rahmungen zur Staatsbürgerschaftsreform, des Einbürgerungsrechtes und den integrationspolitischen Maßnahmen zeigen einen Wandel. Dominierten in den ersten Jahren des Untersuchungszeitraumes passive Negativrahmungen, so differenzierte sich im Zuge des Regierungswechsels ein in den Medien repräsentiertes Diskursfeld aus, das nicht mehr als „Ausländerpolitik“, sondern als „Integrationspolitik“ bezeichnet werden muss. Eines der erstaunlichsten Ergebnisse ist, dass die Verbände seit dem Jahr 1999 in den Medien ein Integrationsverständnis durchsetzen konnten, dass sich aktivierend vor allem auf die Förderung sozialstruktureller Ressourcen bezieht. Kulturelle Dimensionen, wie sie die vierte Stufe des Assimilationsmodells vorschlägt, wurden aus dieser Rahmung stets und – gemäß der medialen Bewertung – erfolgreich ausgeklammert.25 Auch wenn in den Folgejahren keineswegs alle Forderungen und Initiativen verwirklicht wurden, so ist die neue Selbstverständlichkeit, mit der ab dem Jahre 1998 aktive Inklusionsforderungen artikuliert wurden, bemerkenswert. Hier sind insbesondere die von den Verbänden erarbeiteten Gesetzesvorlagen zu nennen. Aber auch die Forderungen nach Integrations- und Sprachkursen kennzeichnen ein politisches Aktionsfeld, das in den Jahren davor undenkbar schien. Insbesondere das Drängen der Verbände auf integrationspolitische Maßnahmen, die sich auf sozialstrukturelle Ressourcen wie Sprachkompetenz, Bildung und Erwerbsarbeit konzentrierten, stieß in den Medien auf eine uneingeschränkte Zustimmung. Mit einer derartigen inhaltlichen Schwerpunktsetzung gelang es den Verbänden, das in der Forschung vielfach beschriebene öffentliche Bild der „passiven Ausländer“ zu konterkarieren. Die „armen Ausländer“, die, wenn nicht als „Kriminelle“, dann stets als „Opfer“ ihrer sozialen Lage in den Medien skizziert werden (Rauer 2004a, 2004c), wandelten sich medial zu einem kol-
25 Dieses Verständnis von Integration kommt dem Inklusionsbegriff sehr nahe (vgl. Kapitel 8). 187
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
lektiven Akteur. Verabschiedet eine neue Regierungskoalition einwanderungs- und integrationspolitische Beschlüsse, so werden die Stellungnahmen der Verbände ausführlich zitiert. Auch wenn die tatsächliche Gestaltungsmacht gering sein mag, in der „Integrationspolitik“ gehören die Verbände als konstitutiver Bestandteil zum öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik. Der Anteil, den die Verbände an der Entstehung einer solchen neuen Art der öffentlichen Thematisierung von Integration haben, ist schwer zu bestimmen. Eine chronologisch konzipierte Fallanalyse ist nicht falsifizierbar. Ein Testversuch der letzten zehn Jahre ohne die öffentliche Repräsentation der Verbände kann nicht durchgeführt werden. Die These, dass die Verbände selbst an der Entstehung des neuen Politikfeldes maßgeblich beteiligt sind, muss also latent spekulativ bleiben. Allerdings spricht einiges dafür. Viele der Initiativen wie Sprachtest und Bildungsmessen gingen, aus Sicht der Medien, was hier der entscheidende Faktor ist, zunächst von den Verbänden aus. Damit wurden Argumentationsvorlagen geliefert, die außerhalb des kulturellen othering und Überfremdungsängsten ein Thema konstituierten. Gerade die vielen „Misserfolge“, wie im Fall der doppelten Staatsbürgerschaft oder des Anreizsystems bei Integrationskursen sind so betrachtet nicht ein Beweis der Bedeutungslosigkeit, sondern Zeugnis eines öffentlich diskutierten Dissenses. Mehr kann und soll eine Öffentlichkeit, so ein zentrales Argument von Klaus Eder, nicht leisten. Ohne die Sprecherposition der Verbände, d.h. ohne ihre Rolle als kollektiver Akteur, würde der Dissens nicht in die Öffentlichkeit gelangen und das diskursive Spektrum wäre eindimensionaler. Dies zeigen die vielen topoi, von denen in dieser Arbeit nur die drei wichtigsten dargelegt wurden. Die Verbände haben also maßgeblichen Eigenanteil an der Entstehung eines diskursiven Feldes „Integrationspolitik“, das gemäß der soziologischen Terminologie eigentlich „Inklusionspolitik“ heißen müsste (vgl. Kapitel 8). Allerdings, so könnte eine weitere Entgegnung lauten, vertreten auch die liberal-sozialdemokratischen Parteien ebenfalls eine solche Einwanderungspolitik, zumindest teilweise. Warum sollte gerade den Verbänden eine derartig zentrale Rolle bei der Etablierung dieses Rahmens und der Grenzen von legitimen Geltungsansprüchen zukommen? Eine Antwort auf diese Frage kann mit der gewählten Eingrenzung nicht aus dem empirischen Material abgeleitet werden. Schließlich wurden nur Artikel berücksichtigt, in denen die Verbände genannt wurden. Ein Vergleich mit der allgemeinen Diskussion zu Integration ist in diesem Rahmen nicht möglich. An dieser Stelle bietet es sich an, auf den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ im Sinne von Jürgen Habermas (1990) zu verweisen und an die Geschichte und Funktion beispielsweise der Gewerkschaften und Neuen Sozialen Bewegungen zu erinnern. Um die konfliktreichen Fragen um Verteilungsgerechtigkeit und Verteilungsungerechtigkeit oder um das „gute oder schlech188
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te Leben“ öffentlich zu thematisieren, braucht es kollektive Akteure, die von den gesellschaftspolitischen Maßnahmen mindestens indirekt betroffen sind (Eder 1999d, 2002). Analog sind es in erster Linie die Einwandererverbände, die integrative und desintegrative Fragen öffentlich thematisieren. Ohne sie würde das neue Feld „Integrationspolitik“ nicht als diskursives Feld im eigentlichen Sinne existieren. Die „Objekte“ der Einwanderungspolitik hätten keinen eigenen, in der Öffentlichkeit sichtbaren, Subjektstatus. Insgesamt ist daher die Rolle der Verbände bei der Etablierung dieser neuen kollektiven Repräsentationen und des neuen politischen Feldes kaum zu überschätzen. Inhaltlich sind die migrationspolitischen Forderungen und kritischen Kommentare der Verbände eindeutig: Es dominiert das Ziel, die ethnischen und identitären Grenzen nicht im Sinne einer Assimilation einzuschmelzen, sondern diese zu verdoppeln. Doppelte Staatsbürgerschaft, Bilingualität und partielle Inklusionsformen markieren aus Sicht der Verbände die Lösung des Ethnisierungsproblems. Damit ist keineswegs eine multikulturelle Differenz gemeint, sondern eine Multiplikation von Vergemeinschaftungserfahrungen. Bemerkennswert ist auch hier das Nicht-Gesagte. Es finden sich in diesem Zusammenhang weder Verweise auf einen Transmigranten, noch auf universale Konstellationen. Die Verdoppelung bezieht sich auch eher auf Binationalität und Bilingualität. Es meint nicht die Aufhebung oder Universalisierung von kollektiven Vergemeinschaftungsformen generell. Empirisch bildet das Konzept des Transmigranten oder der Transnationalität bisher keinen argumentativen Horizont in der Öffentlichkeit. Mit Transnationalismus ist offenbar keine Interessenpolitik im Sinne eines Kosmopolitismus realisierbar.
„Integration“ als Repräsentation von Grenzüberschreitung Ein weiteres wesentliches Ergebnis ist die symbolische Bedeutung des Integrationsbegriffes. Integration wird nicht nur im Sinne von Inklusion, sondern auch auf einer kollektiven Ebene angewandt. In diesem zweiten Bedeutungsrahmen dient der Begriff zur Erwiderung und Umdefinition von Fragen nach kulturellen, identitären und ethnischen Grenzen. Er tritt implizit an die Stelle des Rahmens „Multikulturalismus“. Wann immer eine kulturelle oder ethnonationale Anpassungsforderung gestellt wird, verweisen die Verbände auf „Integration“. Dabei ist ihnen grundsätzlich die Zustimmung der Presse sicher. Durch den Verweis auf „Integration“ bleiben ethno-nationale Forderungen öffentlich in der Defensive. Wie ist dies zu verstehen? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmen Integration, anders als Multikulturalismus oder Identität, eine zeitliche Dimension in sich birgt. Er bezeichnet weniger ein Sein, als vielmehr ein Werden. Integration evoziert weniger die Vorstellung von Gemeinschaft und
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Gesellschaft, als von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung.26 Nicht eine Essenz oder eine Ontologie steht im Vordergrund, sondern ein Prozess. Allerdings ist dieser Prozess sehr spezifisch. Von Integration ist immer dann die Rede, wenn Fragen der kollektiven Grenzüberschreitung debattiert werden. Dabei ist grundsätzlich offen, ob dabei die Grenze selbst von dem Überschreitungsprozess betroffen ist oder nicht. Diese Offenheit unterscheidet Integration von Assimilation. Assimilation richtet sich gegen die Grenze zwischen Mehr- und Minderheit, Integration bezeichnet hingegen für die Verbände eine Transgression, die das Gemeinsame jenseits dieser Grenzen symbolisiert. Die öffentliche Thematisierung von Einwanderung und der Umgang mit eingewanderten Gruppen kreist daher im Kern nicht mehr um Multikulturalismus, sondern um diese neue Repräsentationsform. „Integration“ bildet den neuen Konsens in der Debatte um Einwanderungspolitik. So wie es im ökonomischen Feld um „Profit“ oder „Verlust“ geht, so geht es in dem Feld Migration um „Integration“ oder „Desintegration“. Die jeweiligen konkreten Maßnahmen, die in die eine oder andere Richtung führen, sind, analog zum ökonomischen Feld, dabei selbstverständlich völlig umstritten und politisch umkämpft. Doch bestehen Grenzen, in denen diese Debatte die jeweiligen Positionen noch als legitim erachtet. Von „Assimilation“ zu sprechen, wäre, um in der Analogie zum ökonomischen Feld zu bleiben, gleichbedeutend mit der öffentlichen Forderung nach „Planwirtschaft“ in der Bundesrepublik des Jahres 2005. Solche Forderungen haben die Exklusion aus der öffentlichen Debatte zur Konsequenz. Als politische Verlautbarung erzeugen sie in den Medien keine nachhaltigen Effekte. Die Forderung nach „Assimilation“ der Einwanderer befindet sich außerhalb des symbolisch Repräsentierbaren des neuen bundesrepublikanischen einwanderungspolitischen Feldes. Doch auch hier ist es notwendig, an die diskursive Situation zu erinnern, die dieser Analyse zugrunde liegt. Ausgewählt wurden diejenigen Texte, in denen Alter und Ego gemeinsam präsentiert werden. Die drei anderen Situationen, „Lebenswelt“, „halböffentliche Begegnung“ und „institutionelle Definitionsmacht“ wurden nicht berücksichtigt (vgl. das Kapitel 1). Die beiden von den Verbänden etablierten Bedeutungen von Integration gelten für diese spezielle Situation einer öffentlichen Arena. In dieser Situation müssen beide Seiten die Bewertungen der Öffentlichkeit antizipieren und in ihren Deutungskämpfen berücksichtigen. Es ist diese Situation, in der sich eine transgressive, prozessuale Repräsentation von „Integration“ als besonders unanfechtbar erweist. 26 Für diese auf Weber zurückgehende konstitutive Unterscheidung vgl. Lepsius (1993). 190
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Integration stellt die Grenze zwischen Ego und Alter weder an sich in Frage, noch zementiert das Konzept Grenzvorstellung als essentiell und unverhandelbar. Vielmehr symbolisiert „Integration“ als öffentliches Konzept die Bedingungen der Möglichkeit von identitätspolitischer Grenzüberschreitung.
„Ambiguitätstoleranz“ durch Entpolitisierung des Islam Im Gegensatz zu den Staatsbürgerschafts- und Integrationsrahmungen zeigt die Analyse der Rahmungen zum Islam, dass sich die Verbände hier in einer eigentümlichen Zwischenposition befinden. Als ethnische Verbände nehmen sie Stellung zum Thema Religion, das grundsätzlich transethnisch und transnational positioniert ist. Aus dieser Zwischenposition ergibt sich eine Reihe von Rahmungen, die zwar in dem Bedeutungszusammenhang von Fremdheit, Integration, Alterität und Ethnizität artikuliert werden, jedoch bei genauerer Betrachtung diesen Zusammenhang übersteigen. Wie die Analyse zur Debatte um den Religionsunterricht und um das Kopftuch zeigt, verläuft die Grenzziehung nicht zwischen dem Fremden und dem Eigenen oder Identität und Alterität, sondern zwischen Immanenz und Transzendenz. Transzendente Vorstellungen und Werte sind nicht diskursiv verhandelbar. Ebenso wenig sind sie einer sozialisatorischen Teleologie, wie sie dem Assimilationsmodell zugrunde liegt, zugänglich. In der Debatte argumentiert niemand, weder von Seiten der Verbände noch von Seiten der Presse, für eine Christianisierung der muslimischen Einwanderer. Dies wäre auch undenkbar, da sich spätestens seit den europäischen Religionskriegen ein gewisser Laizismus als Leitidee etabliert hat. Dennoch interagieren nationalstaatliche und religiöse Akteure. In diesem Interaktionsfeld nehmen die Verbände eine eigentümliche Zwischenposition ein. Sie vertreten eher die laizistischen, staatlichen Forderungen, die sie jedoch keineswegs an den türkischen, sondern an den deutschen Staat richten. Dies führt dazu, dass den Verfechtern „multikultureller Toleranz“ auf deutscher Seite von den Verbänden eine „falsch verstandene Toleranz“ vorgeworfen wird. Dies führt auch dazu, dass der Religionsunterricht aus Sicht der Verbände nicht vom türkischen Staat organisiert werden sollte, sondern, um die Bedingungen der Bundesrepublik berücksichtigt zu wissen, von Vertretern der Einwanderer. Schließlich, und dies markiert einen letzten zentralen Befund, kehrt sich das Verhältnis von Politisierung und Entpolitisierung um. Während im Fall von Staatsbürgerschaft und Integration aus Sicht der Verbände eine Politisierung des Themenfeldes geboten schien, so gilt für das Thema Islam das Gegenteil. Im Falle der Gastarbeiter, die im Rahmen der alten „Ausländerpolitik“ nicht Subjekt, sondern Objekt staatlicher Regulationen waren, politisier191
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ten die Verbände das Thema. Im Falle des Islams, des Kopftuchs und des Religionsunterrichts ist die Frage der Politisierung das entscheidende Kriterium für Delegitimität. Weltliche, immanente Themen sind aus Sicht der Verbände zu politisieren, religiöse, transzendente Themen zu entpolitisieren. Mit dieser Dichotomisierung positionieren sich die Verbände nahtlos in der europäischen Tradition. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Reaktionen auf die islamistischen Anschläge und Terrorakte. Diese Akte symbolisieren schlechthin eine Entdifferenzierung von Immanenz und Transzendenz. Dementsprechend fielen die Reaktionen der Verbände und deren detaillierte Zitation in den deutschen Medien aus. Von der öffentlichen Stellungnahme bis hin zu einer Großdemonstration artikuliert sich hier das Bedürfnis nach der Rückversicherung dieser entscheidenden Differenz. Eine solche Rückversicherung kann performativ als öffentliche Demonstration vollzogen und in Stellungnahmen in Begriffe gefasst werden. Dennoch entzieht sich diese Differenz selbst der diskursiv verhandelbaren Geltungsansprüche. Wie das Scheitern der Einführung des Islamunterrichts zeigt, wurde die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz zwar politisch verhandelt, erwies sich dabei jedoch als eigentümlich sperrig. Dies war nicht nur durch die muslimischen Positionen, sondern auch durch die Forderungen der deutschen christlichen Vertreter bedingt. Ihre Forderung nach einem bekennenden Religionsunterricht, im Gegensatz zu einer analystischen Religionskunde, bezeugt exakt die politisch uneinholbare, transzendente Differenz. Die anschließende „Lösung“ wurde von der deutschen politischen Seite und von Seiten der Verbände gleichermaßen resigniert hingenommen. Die Subjektposition des Verbandsdiskurses befindet sich daher in einer prekären Schnittstelle. Sie ist positioniert zwischen einer ethnischen Sprecherfunktion und einem transzendenten, von monotheistischen Religionen geprägten Vorstellungsraum. Diese diskursive Schnittstelle ist nicht durch kulturelle Differenz, sondern durch eine transzendente Differenz gekennzeichnet. Die Anerkennung des Anderen bedeutet in dieser prekären Situation nicht multikulturelle Toleranz, sondern Ambiguitätstoleranz.
Fazit Die empirische Analyse der medialen Repräsentation von zwei türkischen Dachverbänden in den Jahren 1995 bis 2004 zeigt insgesamt, dass die Rahmungen der Verbände durch zwei gegenläufige Prozesse strukturiert sind. Erstens findet sich eine Politisierung des Phänomens Migration und Einwanderung. Ein eigenes Politikfeld „Integrationspolitik“ ersetzt die alte „Ausländerpolitik“. Integrationspolitik wird von den Verbänden nicht nur gefordert, sondern auch durch die öffentlichen Stellungnahmen realisiert. Diese 192
MIGRATIONSPOLITISCHE FORDERUNGEN
Seite der Debatte ist durch eine Verwandlung von Passivität und Objektivierung in Aktivität und Subjektivierung der Einwanderer gekennzeichnet. Ethnische Grenzen oder nationale Zugehörigkeiten werden relativ unproblematisch verdoppelt. Individualisierte und nationalisierte Grenzen erweisen sich als erlern- und verhandelbar. Sie gelten nicht als wechselseitig exklusiv. Zweitens findet sich eine Entpolitisierung des Phänomens Migration und Einwanderung. Im Bezug auf religiös transzendente Werte greift das politisch aktive Könnensbewusstsein nicht. Auch der Weg einer Verdoppelung und Parzellierung von Zugehörigkeiten ist versperrt. Transzendente Differenzen sind wechselseitig exklusiv. Sie sind weder verhandelbar noch verdoppelbar. Zu beobachten ist – übergreifend gesprochen – eine eigentümliche Subjektposition der Verbände an den Schnittstellen von Individualisierungs-, Nationalisierungs- und Universalisierungsdebatten. Dieses Spannungsverhältnis soll in einer abschließenden diskurstheoretischen Interpretation mit Blick auf die im ersten Teil dieses Buches vorgestellten theoretischen Beobachtungsperspektiven gedeutet werden.
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8 . Disk urs theoretis c he De utung: Ego- Alte r-Relatione n
Die folgende Interpretation der Ergebnisse widmet sich der Frage, inwieweit den individualisierenden, nationalisierenden und universalisierenden Konzeptionen in den drei Diskursen eine strukturierende Bedeutung zukommt. Drei Fragen gilt es zu beantworten: Erstens, ob sich die theoretisch konzipierten Bedeutungen in den Diskursen in homologer Weise wieder finden oder nicht; zweitens, inwieweit die repräsentierten Relationen von den theoretisch formulierten Grenzziehungen zwischen Ego und Alter abweichen und drittens, ob andere, in der Theorie nicht thematisierte Ego-Alter-Relationen den Diskursen zugrunde liegen. Um dies zu beantworten, werden im Folgenden die drei Diskurse, Staatsbürgerschaft, Islam und Intergration, jeweils auf ihre individualisierenden, nationalisierenden und universalisierenden Unterscheidungslogiken hin analysiert.
Individualisierung: additiv statt exklusiv „Der Fremde“ Im Integrationsdiskurs Der Integratgionsdiskurs ist, wie gezeigt, in zwei Perioden gegliedert. In den Jahren vor 1998, d.h. vor der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes, befanden sich die Einwanderer in einer Situation, die noch nicht die Voraussetzungen erfüllte, um den klassischen Fremdheitsbegriff anzuwenden. In dieser Zeit waren sie, symbolisch verstanden, „Gäste“, die heute kommen und morgen wieder gehen. Zu den individualisierten, klassischen „Fremden“, die heu-
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te kommen und morgen bleiben, und deshalb das Recht auf Integrationsprogramme haben, wurden sie erst mit der Staatsbürgerschaftsreform. Die erste Phase der Integrationsrahmungen und die Übergangsphase spiegeln dies eindrucksvoll wider. Eventuelle Anstrengungen, die „Interaktionskosten zu senken“, schienen so abwegig, dass solche Initiativen in der Öffentlichkeit so gut wie nie repräsentiert wurden. Ein öffentliches Feld „Integrationspolitik“, in der diese Fragen kontrovers aufgenommen wurden, existierte noch nicht. In der zweiten Phase, ab dem Jahr 2000 änderte sich die diskursive Opportunitätsstruktur. Die Verbände konnten nun Integrationsprogramme formulieren in denen, in impliziter Anlehnung an das soziologische KostenNutzen-Modell, vorgeschlagen wurde, ein Anreizsystem für Integration zu etablieren. Es sollte für die eingewanderten Individuen sinnvoll erscheinen, sich Ressourcen wie Sprache und Kenntnisse über das neue Land anzueignen. Im Zuge dieser Forderungen wandelte sich die medial vermittelte „Ausländerpolitik“ in ein neuartiges semantisches Feld: die „Integrationspolitik der Verbände“. Die deutschen Printmedien repräsentierten dieses Feld fortan ohne jedes othering. Ironischerweise schlug der Fremdheitsstatus in der Folgezeit nahezu um. Sprachkurse sollten nur noch für „wirklich Fremde“ angeboten werden, d.h. für die Neuankömmlinge. Die „Fremden“, denen vorher der Fremdheitsstatus verwehrt war, gehörten, nachdem sie diesen nun erreicht hatten, nicht mehr zur Kategorie der „Fremden“. Auch das utilitaristische Anreizsystem verwirklichte sich nicht so wie erhofft. Statt eines Anreizsystems implementierte eine „große Koalition“ ein „Sanktionssystem“. Im Gegensatz zu einem Belohnungssystem senkt ein Bestrafungssystem die Integrationskosten, die von der Mehrheitsgesellschaft aufzubringen sind. Investitionen in Integration müssen nicht, wie bei dem Anreizsystem, durch eine schnellere Arbeitserlaubnis „belohnt“ werden. Zudem erhält sich die Mehrheitsgesellschaft ihre Entscheidungsgewalt über die Kriterien der Einbeziehung. Nicht die eingewanderten Individuen entscheiden über die Teilnahme eines Kurses und über die Senkung der eigenen Interaktionskosten, sondern der Gesetzgeber schreibt ihnen diese Senkung vor. Trotz der Reform hat sich die Bundesrepublik, angesichts einer solchen Konzeption, noch nicht zu einem klassischen Einwanderungsland entwickelt. Die individualisierende Beobachterperspektive auf Migrationsfolgen ist, so zumindest die implizit öffentlich vorgebrachte Argumentationsweise der Einwandererverbände, auf halber Strecke stecken geblieben. Der erste Schritt, die Idee, dass individuelle Kompetenzen gezielt zu fördern sind, wurde getan, der zweite Schritt, dass diese Förderung auf der individuellen Anreizebene verbleiben muss, unterblieb.
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Im Staatsbürgerschaftsdiskurs Das bis Ende der neunziger Jahre gültige Gesetz bezog sich in seinem Selbstverständnis noch auf die Vorstellungen von kollektiver Migration im Sinne Robert E. Parks, d.h. auf sogenannte „Völkerwanderungen“. Ein ius sanguinis bestimmt die Zugehörigkeit rein nach kollektiven Kriterien. Entweder jemand stammt von der Gemeinschaft qua Geburt ab oder er ist auf ewig fremd. Dies hat zur Konsequenz, dass Kinder und Enkel der Einwanderer in jeder Generationsstufe als „Fremde“ zur Welt kamen. Ob sie sich später mit dem Land ihrer Sozialisation identifizierten oder nicht, hatte keinerlei Bedeutung für ihren per Gesetz zugeschriebenen Fremdheitsstatus. Die Zugehörigkeitskriterien waren per Definition rein nach der Abstammung der Eltern festgeschrieben. Eine solche Regelung schließt individuelle Entscheidungen und während der Sozialisation erworbene Kompetenzen prinzipiell aus. Die von Park angesprochene Individualisierung der Lebensweisen durch Migration und die modernisierenden Effekte für die Ankunftsgesellschaft waren verstellt. Das Gesetz beinhaltete keine Möglichkeit temporaler Veränderungen, die sich aus den integrativen Kosten-Nutzen-Kalkülen prinzipiell hätten entwickeln können. Das Zugehörigkeitsprinzip des ius sanguinis folgt einem entzeitlichten und einem entindividualisierten Modus der Integration. Die von Park und Schütz angesprochene Gefahr der Marginalisierung war zu jener Zeit auch nicht über sozialstrukturelle oder sprachliche Mängel bestimmt. Vielmehr war sie, das zeigen die Kritiken und die zentralen Forderung der Verbände, in dem rechtlichen Status unverrückbar und damit unverhandelbar eingeschrieben. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft war symbolisch nicht vorgesehen. Auch wenn die Einwanderer, um nicht marginalisiert zu werden, ihre „Interaktionskosten“ durch „Spracherwerb“ senken würden, so hätte dies prinzipiell keinerlei Konsequenzen für ihre staatsbürgerliche Integration in das Aufnahmeland. Aus diesem Grund wurde der staatsbürgerliche Kompetenzwerb auch nicht von ihnen erwartet, wie die Verbände rückblickend betonen. Sie leisteten Steuerbeiträge, konnten aber bei deren Verteilung nicht mitbestimmen, da die Staatsbürgerschaft prinzipiell nicht erwerbbar war. Das Mitbestimmungsrecht hing nicht von ihren individuellen Leistungen ab. Daher zielten in der ersten Phase der Debatte bis in das Jahr 1999 die Forderungen und Kritiken von Seiten der Verbände auf die im Staatsbürgerschaftsrecht verankerte „Ungleichheit“.
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Im Islamdiskurs Kein Symbol scheint in der Bundesrepublik stärker die „Fremdheit“ der Einwanderer zu repräsentieren als der muslimische Glaube und das Kopftuch. Doch gemäß den Forderungen der Verbände scheint nichts so unklar zu sein, wie der Fremdheitsstatus des Islam in der Bundesrepublik. Stattdessen findet sich eine Gemengelage polarer, inkommensurabler Positionen. Die Schnittstelle zwischen den beiden Positionen verläuft nicht zwischen der „authochtonen Mehrheit“ und der „allochthonen, eingewanderten Minderheit“, sondern mitten durch die beiden Gruppen hindurch und parallel zu den politischen Lagern. In den Medien rahmen die „fremden“ Einwandererverbände diverse muslimische Vereine und Praktiken „fremder“, als es einige maßgebliche politische Repräsentanten der „eigenen“ Mehrheitsgesellschaft in ihren öffentlichen Äußerungen und Aktionen demonstrieren. Als politisch hochrangige Repräsentanten der Mehrheit gegen das Kopftuchverbot protestieren, werden Argumente der Verbände zitiert, die den Demonstrierenden „zuviel“ bzw. „falsch verstandene, naive Toleranz“ vorwerfen. Die Verbände fordern einen „nicht-bekennenden, religionskundlichen Unterricht an staatlichen Schulen“, ein Anspruch, der bisher an den Strukturen der Mehrheitsgesellschaft scheiterte. Was bedeuten diese Subjektpositionen für das Fremdheitstheorem? Finden sich hier die Probleme fremder Individuen, die ihre „Interaktionskosten“ senken sollten oder wollen? Diese Frage erscheint hier völlig fehl am Platz. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass das Theorem in dieser Debatte „auf dem Kopf“ steht. Wenn überhaupt, dann verläuft die Schnittstelle zwischen dem Eigenen und Fremden zwischen den Verfechtern von säkularlaizistischen Werten einerseits und den Anhängern religiös fundamentalen Werten andererseits. Doch wer würde hier die Subjektposition des „Fremden“ – wer die des „Eigenen“ besetzen? Sind die „Fremden“ die katholische Kirche, die jüdisch orthodoxe Gemeinde, die christdemokratische Partei und die Islamische Föderation? Oder sind die „Fremden“ die Gewerkschaft, die postsozialistische PDS, die Sozialdemokratische Partei, der TBB und die TG-D? Nun wäre eine implizit zugrunde liegende Antwort, dass der muslimische Glaube das „Fremde“ repräsentiert, während der christliche und jüdische Glaube das „Eigene“ markiert. Dies würde bedeuten, zwischen einem „eigenen“ und einem „fremden“ Glauben zu unterscheiden. Doch wie wäre dann das offensichtliche Bedürfnis der deutschen Zeitungen zu interpretieren, die zahlreichen Argumente von den Einwandererverbänden gegen diesen „fremden“ Glauben ins Feld zu führen? Die Verbände repräsentieren in diesem medialen Verwendungszusammenhang das „Eigene“. Zumindest repräsentieren 198
DISKURSTHEORETISCHE DEUTUNG
sie einen Teilbereich des „Eigenen“: die säkular-laizistischen Werte. Das klassische Unterscheidungskriterium von Fremdheit, wer von diesen beiden Lagern zu hohe „Interaktionskosten“ verursache, erscheint absurd. Die Debatte um das normativ „richtige“ Verhältnis zu islamischen Glaubensgemeinschaften ist keine Debatte um die Einbeziehung eines inkommensurablen „Fremden“. Vielmehr reiht sie sich ein in einen langen „eigenen“ Diskurs, der sich mit der Frage nach Laizismus einerseits und dem individuellen Recht auf Religionsfreiheit andererseits auseinandersetzt. Das Fremdheitstheorem ist aufgespalten. Die Ego-Alter-Unterscheidung geht mitten durch die Einwanderungsgemeinschaft hindurch.
„Der Ausländer“ Im Integrationsdiskurs Vor dem Hintergrund der hier analysierten Forderungen muss es zunächst zu denken geben, dass die Initiativen zur Integration von einem kollektiven Akteur der Einwanderungscommunity ausgingen. Inhaltlich glichen deren Forderungen den ersten drei Stufen des Assimilationsmodells. Dies ist in dem Assimilationsmodell nicht berücksichtigt. Ethnische Vereinsbildungen gelten dort als „Rückzug in die eigene community“ und damit als desintegrativ. Nun operiert dieses Modell mit einem strengen handlungstheoretischen Individualismus. Die Vorstellung von identitärer Assimilation, die vierte Stufe des Modells, erweist sich diskursiv hingegen als sehr konfliktträchtig. Verantwortlich dafür ist der naive Umgang mit der Zielvorstellung in der Öffentlichkeit. Auf der Ebene des methodologischen Individualismus ist daran nichts problematisch. Jedem Individuum steht eine solche Identifikation mit dem Aufnahmeland frei. Mehr besagt das Modell streng genommen auch gar nicht. Eher noch weniger. Die Annahme des Konzepts besagt lediglich, dass die Wahrscheinlichkeit für eine identifikative Assimilation sich potentiell erhöht, wenn die Individuen sprachlich und rechtlich in das Land eingebunden sind. Nur lässt sich diese Konzeption von Assimilation, so zeigt die Analyse, nicht unmittelbar in eine öffentliche Forderung oder gar in Politikberatung übersetzen. Sobald diese Zielvorgabe nicht mehr im wissenschaftlichen methodologisch individualistischen, sondern im öffentlichen Kontext formuliert wird, handelt es sich um eine diskursive Aussage zu kollektiven Grenzen. Die Forderung nach „kultureller Assimilation“ wird von den Verbänden als „Germanisierung“ konterkariert. Der soziologische individualisierende Sinn gerät dabei völlig aus dem Blick. Eine öffentliche Arena folgt anderen diskursiven Gesetzen als eine auf Fragebögen ermittelte Wahrscheinlichkeit. Öffent-
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liche Aussagen werden nicht als wahrscheinliche Realität, sondern als kommunikative und damit als soziale Realität wahrgenommen. Aus diesem Grund wird es auch verständlich, warum die die Verbände in „Integration“ einerseits und „Assimilation“ andererseits unterscheiden. Assimilation wird als kollektivierender Zwang zur Anpassung definiert. Mit dieser Unterscheidung entgrenzen die Verbände zunächst die engere sozialstrukturelle Bedeutung von Integration und öffnen sie für die Thematisierung von Fragen nach der konnotierten kulturellen Bedeutung. Wenn das Ziel der Integration eine „deutsche Kultur“ ist, deren Definition über eine Anerkennung des Grundgesetzes hinausgeht, dann erscheint dies nicht mehr als „Integration“ im Sinne von Chancen und Rechtsgleichheit für staatsbürgerliche Individuen, sondern als ein kulturell kollektives Disziplinierungsprogramm. Die Forderung an die Einwanderer, sich kulturell mit der nationalen Gemeinschaft zu homogenisieren, ist nicht mit dem Selbstverständnis eines modernen Verfassungsstaates vereinbar. Aus diesem Grund kann Keskin die Vertreter der „deutschen Leitkultur“ rhetorisch dazu auffordern, „endlich ehrlich zu sagen, was sie unter Integration verstehen“. Ein sozialstrukturell definierter Integrationsgedanke steht der Idee der Verfassung – rechtliche Gleichheit bei kultureller Autonomie der Individuen – näher als ein kulturell definiertes Anpassungskonzept. Denn sobald die Verfechter einer „deutschen Leitkultur“ ihr Verständnis von „Integration“ definieren würden, gerieten sie unausweichlich in einen diskursiven Widerspruch zu diesem basalen Grundverständnis der individuellen Freiheit. Auch wenn in dem soziologischen Assimilationsmodell keineswegs von „völkischer Nationalisierung“ die Rede ist, zeigt sich gerade an dieser Stelle die einwanderungspolitische Konfliktträchtigkeit jener identifikativen Zielvorstellung. Die Rahmungen der Verbände waren unmissverständlich: Kulturelle Bedeutungssysteme – Identitäten – sind nicht mit individuellen Kompetenzen zu verwechseln. Dabei hatte weder der Begriff der deutschen Leitkultur noch die Assimilationsforderung eine große mediale Resonanz. Die Entgegnungen der Verbände wurden hingegen durchweg zustimmend zitiert.
Im Staatsbürgerschaftsdiskurs Mit der Reform im Jahre 1999 werden die vormals „unvergänglich Fremden“ zu „Ausländern“, die als potentiell „wandelbar“ und damit als „integrierbar“ gelten. Im Zuge der Gesetzesumstellung werden die Kriterien der Einbeziehung ent-kollektiviert. Nicht mehr das Herkunftskollektiv ist ausschlaggebend für die Zugehörigkeit, sondern die individuelle Entscheidung (Optionsmodell) und Kompetenz (Sprachtests). Mit der Umstellung des Staatsbürgerschaftsrechtes ging also eine Individualisierung der Zugehörigkeitskriterien einher. Erst mit dieser Umstellung 200
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schlägt sich der „moderne Charakter“ der Migration, den Park bereits zur Jahrhundertwende konstatierte, auch in der Bundesrepublik nieder. Die bereits in den 1970er Jahren von der Migrationssoziologie vorausschauend formulierte Vorstellung von der „Integration der Ausländer“ wird im Jahre 1999 in die rechtliche Regelung der Bundesrepublik übernommen und – analog zu diesem soziologischen Assimilationsmodell – institutionalisiert. Als das Gesetz auf ein ius soli umgestellt wurde, formulierten die Verbände jedoch neue Exklusionsebenen, die sich nunmehr aus der neuen Individualisierung der Zugehörigkeitskriterien ergaben. Waren vor der Reform die „Kinder und Enkel“ „Ausländer“, sind es, so die Kritik aus Sicht der Verbände, nun deren „Eltern und Großeltern“. Die erste Generation der Einwanderer wird nun nachträglich zu „Ausländern“, da sie, anders als ihre Kinder und Enkel, nicht die Chance hatten, die vorgeschriebene individuelle Kompetenz erlernen zu können. Doch diese müssten sie nun in den vorgesehenen Sprachtests und Prüfverfahren belegen. Nur dann dürfen sie ihre Staatsbürgerschaft wechseln. Die nunmehr notwendige Kompetenz wurde aufgrund des vormaligen Desinteresses an der Integration von Einwanderern allerdings nicht gefördert. Die Individualisierung der Einwanderung durch Kompetenztests zieht somit eine neue Exklusionsgrenze zwischen den seit Jahrzehnten im Ankunftsland ansässigen „Gastarbeitern“ und deren dort geborenen Kindern. Es ist eine Grenze, die aus Sicht der Verbände je nach individueller Kompetenz „mitten durch die Familien verläuft“ und konfliktreiche „Spannungen“ erzeugt.1
Im Islamdiskurs Das Assimilationsmodell setzt einen Prozess sukzessiver Angleichung von „Ausländern“ voraus, an dessen Ende die Identifikation mit der Ankunftsgesellschaft steht. Übertragen auf die Debatte um den Islam müsste dies auch bedeuten, dass es zu einer religiösen Konvertierung kommen sollte. Es sei denn, die Glaubensfragen werden aus dem Modell ausgeklammert. Wie sind
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In der Logik des Assimilationsmodells liegt mit dieser Regelung eine Inversion der Assimilationswahrscheinlichkeit vor. Für die erste Generation gilt nun ein Modell, das als ersten Schritt das Erlernen der Sprache voraussetzt. Anschließend erfolgt der sozialstrukturelle Assimilationsschritt über Erwerbstätigkeit. Die erste Generation übersprang indes den ersten Schritt. Da das Modell jedoch erst mit der zweiten und dritten Einwandergeneration institutionalisiert wurde, folgt daraus die Exklusion der ersten Generation. Sie gelten damit ex post prinzipiell als nicht staatsbürgerschaftswürdig. In der Praxis gilt eine Reihe von Ausnahmeregelungen. Hier geht es jedoch in erster Linie um die prinzipielle Regulierung. 201
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dann jedoch die medialen Rahmungen der Einwandererverbände zum Thema Islam im Kontext des Integrations- und Assimilationsmodells zu verorten? Zunächst ist es hier aufschlussreich, nach den Argumenten und Kritiken zu fragen, die nicht thematisiert werden. Weder auf Seiten der deutschen Printmedien noch auf Seiten der dort repräsentierten Forderungen der Verbände findet sich ein einziges prominentes Argument, das den islamischen Glauben als etwas nicht Integrierbares bezeichnet. Hans-Ulrich Wehlers Artikel stellt die einzige, die Regel bestätigende Ausnahme dar. Ansonsten ist die Notwendigkeit und Machbarkeit der Integration dieser Glaubensgemeinde als Ganzes völlig unumstritten. Eine weitere interessante Individualiserung findet sich im Falle der Berichterstattung über das Attentat gegen Theo van Gogh. In der Berichterstattung über das Attentat äußert sich ein erhebliches mediales Irritationspotential, das auf einer abstrakteren Ebene mit der Erwartungsstruktur gegenüber der individuellen Assimilation zu deuten ist. So irritiert vor allem die Medien der Migrationshintergrund des Attentäters. Er war ein in Europa geborener Einwanderer der zweiten Generation. Allein diese Tatsache warf unmittelbar die Frage auf, was an seiner sozialen Integration „schief gelaufen“ sei. Es war keine Tat im Rahmen einer „fremden“ Kultur auf einem weit entfernten Territorium. Daher wird die Tat als das Scheitern der „eigenen“ sozialen Integrationsmechanismen gedeutet. Seine Biographie symbolisiert auf einer abstrakten Ebene das Scheitern des Integrationsprozesses. Darüber hinaus symbolisiert die Tat das Scheitern der Integration durch kollektive Generationsabfolgen. Auch die Vorstellung von einer sich quasi gesetzmäßig assimilierenden „zweiten Generation“ wurde im Zuge des Ereignisses hinterfragt. In diesem Diskurs bedrohen nicht die „Ausländer“ die Gesellschaft. Stattdessen bedroht das Scheitern der Assimilationsmechanismen die Einwanderungsgesellschaft als solche. Dies ist die Ursache für die Umstellung der kollektiven Selbstbeschreibung von „multikultureller Gesellschaft“ zur „Parallelgesellschaft“.2 Die Attentäter des 11. September 2001 stammten zwar auch aus der Mittelschicht, jedoch symbolisierten sie als „Schläfer“ den klassischen „Ausländer“. Im Gegensatz dazu war der Mörder von Theo van Gogh nach Kriterien der Sprache, der Ökonomie und der Bildung integriert und symboli2
Hier ist es wichtig, auf die zwei differenten Verwendungsweisen des Terminus „multikulturelle Gesellschaft“ hinzuweisen. Die in der Öffentlichkeit verwendete Bedeutung ist nicht mit der soziologischen Definition gleichzusetzen, nach der eine „multikulturelle Gesellschaft“ immer eine „Parallelgesellschaft“ wäre. Die Anerkennung der Differenz und Tolerierung des „Nicht-Verstehens“ steht in dieser Definition im Zentrum des Terminus „multikulturell“. Die Forderung nach einer multikulturellen Gesellschaft verlangt eben nicht „gegenseitiges Verstehen“, sondern „Toleranz“ gegenüber dem „Unverständlichen“ (vgl. das Kapitel „Der Ausländer“).
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sierte deshalb die „Einwanderer“. Er handelte nicht als sozialökonomisch marginalisiertes Opfer, sondern aus einem religiös fundamentalistischen Wertehorizont heraus. Ein solcher religiöser Wertebezug, bezieht sich nicht auf eine nationale kollektive Identität, sondern auf seinen individuellen Glauben. Eine religiöse Konversion ist in dem Assimilationsmodell nicht vorgesehen. Die „Assimilation“ bezieht sich, zumindest explizit, lediglich auf nationale Identität, nicht auf religiösen Glauben. Diese grundlegende Irritation der Integrationsvorstellungen sowie des scheiternden Assimilationsprozesses erklärt auch das Bedürfnis, in der medialen Öffentlichkeit detailliert aufzuzählen, welche Einwandererverbände an der Gegendemonstration in Köln teilnahmen und welche nicht. Die Demonstration war in diesem Sinne eine performative Form, sich der symbolischen Grenzen der Gemeinschaft zu vergewissern und neu zu ziehen. Da der Attentäter als Teil der zweiten Einwanderergeneration auch einen Teil der eigenen Einwanderungsgesellschaft symbolisierte, musste auch ein Teil dieses „Eigenen“ performativ demonstrieren, dass der Täter nicht zu ihnen gehört. Die Funktion der muslimischen und anderen Einwandererverbände war es dabei, die diskursive Schnittstelle zwischen den beiden „parallelen Welten“ zu markieren. Sie dienten dazu, als kollektive Gruppen, die Unterscheidbarkeit der Subjektposition des „bedrohlich integrierten Anderen“ und des „friedlich integrierten Eigenen“ wiederherzustellen. Der islamistischen Attentäter musste individualisiert werden: auf der einen Seite der Terrorist als Individuum und Singularität, auf der anderen Seite die integrierte community, die aufgrund ihrer öffentlichen Reaktion zu einem Teil von Ego wird.
Fazit Mit Blick auf die individualisierenden Konzepte des Einwanderungsdiskurses, „der Fremde“ und „der Ausländer“, liegt allen drei Diskursen eine gemeinsame Unterscheidungslogik von Ego-Alter zugrunde. Nicht „entweder Deutsche“ als Ego „oder Einwanderer“ als Alter bestimmen die Logik der Verbandsrepräsentationen in den deutschen Medien, sondern „sowohl Deutsche“ „als auch Einwanderer“ als Ego. Diskursiv kann hier von einer „Und-Logik“, d.h. von einer additiven Logik gesprochen werden. Die individualisierende Subjektposition setzt einen additiven Beobachterstandpunkt voraus. Als Ego gelten gemäß dieser diskursiven Taxonomie die Mitglieder der deutschen Aufnahmegesellschaft und die dritte Einwanderungsgeneration. Ego können aber auch die sozialdemokratische Linke und die türkischen Dachverbände versus die islamischen und christlichen Gruppen als Alter sein. Schließllich können Ego auch individuel-
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le Einwanderer sein, die sich doppelte Sprach- und Bildungskompetenzen zulegen. Damit stehen die Rahmungen in einem erstaunlichen Kontrast zu ihrer sozialtheoretischen Konzeptualisierung. Denn sozialtheoretisch sind beide Ansätze nicht additiv im Sinne der „Und-Logik“, sondern exklusiv im Sinne der „Entweder/Oder-Logik“. Das Konzept des Fremden argumentiert dezidiert individualtheoretisch, d.h. es gilt eine pure exklusivistische Relation zwischen Ego und Alter. Eine doppelte Kompetenz, wie es die Verbandsrahmungen gegenüber dem eingewanderten Individuum vorschlagen, kommt nicht vor. Die einzige Form, die Interaktionskosten der Fremdheit zu minimieren, besteht stattdessen in der Assimilation in die Gemeinschaft Egos. Gegenüber der zumindest potentiell denkbaren additiven Relation herrscht ein erhebliches Misstrauen. Die Schützsche Metapher des marginalisierten „kulturellen Bastard“ zeigt dies deutlich. Darüber hinaus scheint die Logik des Sowohl-als-Auch utilitaristisch nur schwerlich begründbar. Die doppelte Kompetenz würde zwar die Interaktionskosten senken, doch bedeutet sie auch eine Verdoppelung der Investionen in den Kompetenzerwerb. Damit würden doppelte Sozialisationskosten anfallen. Additive Kompetenz liefe somit auf ein Nullsummenspiel hinaus. Eine exklusivistische Ego-Alter-Relation zwingt demgegenüber zur Assimilation und verursacht nur eine einmalige Investition. Anders formuliert: eine additive Ego-Alter-Relation verspricht keinen interaktiven Mehrwert. Der Erklärungswert dieses individualistischen Kosten-Nutzen-Modells sinkt jedoch, wenn es auf kollektive Subjektpositionen übertragen wird – wie es in dem Assimilationsmodell mit der vierten Stufe geschieht. Der zu assimilierende Ausländer soll assimiliert werden, um die Gefahr von ethnischen Konflikten zu mindern. Das Kosten-Nutzen-Modell verlässt mit diesem konflikttheoretischen Argument die Ebene der Individuen und begibt sich auf die kollektive Ebene der Relation zwischen Ego und Alter. In der Öffentlichkeit erzeugt eine so auf die kollektive Ebene übertragene Entweder/Oder-Logik jedoch die ethnischen Konflikte, die es eigentlich vermeiden wollte.
Nationalisierung: additiv und exklusiv Identität Im Integrationsdiskurs Wie erwähnt vertreten die Verbände keineswegs eine klassische Position im Sinne einer multikulturalistisch konzipierten Differenz. Die Dichotomie von kultureller Differenz versus nationalisierte Homogenität entspricht nicht der Leitunterscheidung der Verbandsforderungen. Auf den ersten Blick erwecken 204
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die Rahmungen zum Verhältnis von Identität und Integration viel eher den Eindruck, als würden sich die Positionen der Assimilationisten einerseits und der Multikulturalisten andererseits überschneiden. Offenkundig steht hinter dem artikulierten Verlangen nach „Assimilation“ die Vorstellung von traditionalistisch kodierter Identität. Wie erläutert, konstruiert sich die nationale Gemeinschaft über Vertrautheit mit den alltäglichen kommunikativen und interaktiven Regeln (vgl. das Kapitel 3). Die Forderungen nach der staatlichen Einführung von freiwillen Integrations- und Sprachkursen sind nichts anderes als der Versuch, das Wissen um die Eigentümlichkeiten der Ankunftsgesellschaft bei den Einwanderern im Sinne einer solchen Vertrautheit zu vermehren. Doch die Frage nach dem Zusammenhang von Integration und Identität zielt noch auf einen zweiten, schwerwiegenderen Aspekt: der Glaube an eine gemeinsame Vergangenheit, an eine imaginäre Tradition. Diese lässt sich keineswegs durch Kurse und Bildungsprogramme herstellen. Die Tradition der Gemeinschaft ist immer älter als der Zeitpunkt der Einwanderung eines Individuums. Die Forderung nach Assimilation bedeutet in diesem Zusammenhang eine Wunschvorstellung, die aus der homogenisierenden Imagination einer gemeinsamen Tradition herrührt. Die Einwanderer bedrohen symbolisch die imaginäre traditionale Homogenität der Mehrheitsgesellschaft. Um diese fiktive Homogenität „rein“ zu halten, müssten sich die Einwanderer als Gruppe auflösen. Darin begründet sich der implizite Wunsch nach der Individualisierung der Einwanderer. Einwanderer müssen unsichtbar werden, um die nationale Homogenitätsvorstellung der Aufnahmegesellschaft nicht ihrer Kontrafaktizität zu überführen. Die öffentlich sich als nationale Einwanderergruppe, als Türken, repräsentierenden Verbände bedeuten in diesem Zusammenhang also eine symbolische Irritation. Innerhalb des nationalen Diskurses über verschiedene Kollektive hat jede Form der Individualisierung der Beobachterposition einen konfliktentschärfenden Effekt. Auf dieser Ebene ist es aufschlussreich, danach zu fragen, was in den medialen Repräsentationen nicht gesagt wurde. Andere Einwandererländer wie die USA oder die Schweiz prüfen und lehren beispielsweise Geschichtswissen, wohl mit der Hoffnung, dass mit der Vertrautheit der Geschichte des Ankunftslandes auch eine Identifikation einhergeht. Assimilation wäre also durch den Unterricht in Geschichte zu fördern. Merkwürdigerweise fehlte dieser Vorschlag bei der Forderung nach Assimilation im deutschen Kontext bisher. Dies muss nicht unbedingt überraschen, ist aber nicht unwesentlich. Die Geschichte, d.h. die imaginierte Tradition Deutschlands ist in erster Linie durch die Erinnerung an die Judenvernichtung geprägt. Mit dieser Geschichte hatte jedoch selbst die Mehrheitsgesellschaft durchaus Probleme, sich zu identifizieren. Eine Identifikation mit dieser „gemeinsamen“ Vergangenheit 205
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ist offenbar, um es gelinde zu formulieren, wenig attraktiv. Auch dies mag erklären, warum „Assimilation“ an keiner Stelle inhaltlich konkretisiert wird. Im Rahmen einer deutschen traditionalistischen Identität bleibt die Frage nach „Assimilation wohin?“ unbeantwortet. Assimilation erscheint als eigenartige Leerformel, selbst bei ihren Befürwortern. Die Forderung nach Assimilation gegen „Integration“ wirkungsvoll einzusetzen, erzeugt in den Medien kein beipflichtendes Echo. Die Integrationsrahmungen erweisen sich infolgedessen nur solange als unproblematisch, wie mit ihnen keine starke Identitätsanforderung verbunden wird. Dennoch werden sie auf der Ebene der symbolischen Repräsentation verwendet. Nicht das Beharren auf einer „kulturellen Differenz“ dient im nationalisierten Integrationsdiskurs als Antonym zu Assimilation, sondern der Verweis auf das Konzept der „Integration“ selbst. Wie ist das zu verstehen? Sobald sich die Einwanderer aus einer Herkunftsnation organisieren, treffen zwei traditionalistisch kodierte Identitätskonstruktionen aufeinander. Eine konfliktfreie Interaktionsform gelingt nur dann, wenn auf der symbolischen Ebene die jeweiligen Traditionen ausgeklammert werden. Eine Integrationsrahmung, die sich nur auf sozialstrukturelle Grenzüberschreitungen wie Bildung, Sprache und Institutionen bezieht, leistet genau dies. „Integration“ stellt in der Öffentlichkeit als Forderung selbst eine symbolische Repräsentation dar. „Integration“ symbolisiert das Gemeinsame der beiden differenten traditionalistischen Gemeinschaften. Die Zuschreibung der „Integrationswilligkeit“ betont dieses die kollektiven Grenzen überschreitende Element. „Integration“ bedeutet im nationalsierten, öffentlichen Integrationsdiskurs die Überschneidung von Subjektpositionen. Während sich Assimilation über Homogenität und Multikulturalismus über Alterität in diesem nationalisierten Kontext konstituiert, konstituiert sich Integration über Transgressivität. Weder die Auflösung noch die Aufrechterhaltung der nationalen Grenze gelten als identitätsstiftend. Eine kollektive Identität eines Einwanderungslandes muss die Vorstellung der Überschreitbarkeit von Subjektpositionen in sein Selbstbild miteinbeziehen. Sobald einer der Akteure die absolute Auflösung – Assimilation – oder unverrückbare Erhaltung der Grenze – Multikulturalismus – fordert, befindet er sich außerhalb der legitimen Geltung einer Einwanderungsnation.
Im Staatsbürgerschaftsdiskurs Für die Frage nach dem Zusammenhang von kollektiver Identität im Staatsbürgerschaftsdiskurs ist vor allem die Umstellung von einer primordialen in eine tradtionale Identität entscheidend. Das ius sanguinis kodiert die Grenze zwischen „Innen“ und „Außen“ über die Vorstellung primordialer „Reinheit“.
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Das neu konstituierte Recht, nach dem Prinzip des ius soli, setzt fortan eine traditionalistische Kodierung über „Vertrautheit“ voraus. Diese zweite Kodierung lag den Forderungen der Verbände bereits lange vor der Reform zugrunde. Ein in Hamburg geborenes Mädchen wurde, obwohl sie qua Geburtsort vertraut mit der Ankunftsgesellschaft war, durch das Abstammungsgesetz an ihrem 16. Geburtstag zur „Ausländerin“. Ob vertraut oder nicht, ein als Ausländerin geborenes Kind bleibt immer im Außenbereich der nationalen Identität. Auch der Rahmenwechsel von „Ausländer“ zu „Einwanderer“ symbolisiert die Differenz zwischen primordialer und traditionaler Identität. Der „Ausländer“ ist grundsätzlich in einem „Außen“ der Nation verortet und damit primordial. Der „Einwanderer“ legt von vornherein einen Weg über Raum und Zeit in Richtung „Innen“ der neuen Nation zurück und ist damit traditional kodiert. Anders als Reinheit setzt Vertrautheit eine prinzipielle qualitative Wandelbarkeit des Staatsbürgers und seines Mitgliedsstatus’ voraus. Die integrative Vertrautheit mit der neuen Nation entsteht in dieser Lesart durch Erfahrung über die Zeit. Vor diesem Hintergrund spricht aus Sicht des Migrationsdiskurses nichts gegen die Annahme, dass eine Person oder eine Gruppe eine solche Vertrautheit mit zwei verschiedenen Nationen über die Zeit generiert. Denn anders als primordiale Gemeinschaften sind traditionalistisch kodierte Nationen nicht wechselseitig exklusiv. Das Wissen um die „Herkunft“ und die staatsbürgerschaftlichen „Gefühle“ für die Ankunftsnation, so ein Zitat der Verbände, schließen sich nicht wechselseitig aus. Dies erklärt, warum die Verbände über den gesamten Zeitraum auf ihrer Forderung insistierten. Die Umstellung der kollektiven Identität von primordial auf traditional schafft die staatlichen Grenzziehungen keineswegs ab. Lediglich die Bedingungen und die Regulierung der Grenzübertritte von einer kollektiven Gemeinschaft in die andere ändern sich.
Im Islamdiskurs Unter völlig anderen Aspekten findet sich das Identitätskonzept im Islamdiskurs wieder. Diesem Diskurs liegt die dritte Form der Kodierung kollektiver Identität zugrunde: die universalistische Konstruktion von kollektiver Identität. Als beispielsweise in den 1990er Jahren im Land Berlin der islamische Religionsunterricht unter der Trägerschaft des türkischen Konsulats organisiert wurde, forderte der TBB eine neue Regelung mit der Begründung, der Unterricht wäre zu „herkunftsorientiert“. Anders als der Integrationsdiskurs, in dem Bilingualität gefordert wird, wird hier die Vermeidung von nationalem Einfluss des Herkunftslandes gefordert. Nach der Definition des Assimilati-
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onsmodells hätte eine solche Forderung nicht von einem „ethnonationalen“ Minderheitenverband stammen dürfen, da ein solcher Verband für die nationale Herkunftsorientierung selbst steht. Daran zeigt sich wiederum, dass der theoretische Rahmen des Assimilationsmodells auf der kollektiven Identitätsebene nicht ausreichend differenziert. Monotheistische Religionen, wie das Christentum und der Islam, aber auch die Aufklärung wenn sie den Charakter einer modernen Vernunftreligion annimmt, beziehen sich nicht auf eine weltliche Identität wie die traditionelle Vertrautheitsgemeinschaft. Vielmehr übersteigen sie die Grenzen solcher tradierter nationaler Identitäten. Der Islam, das Christentum oder die moderne Vernunftreligion sind keine national begrenzten Kulturen. Der Begriff eines „nationalen Multikulturalismus“ geht daher schon per Definition an dem Kern der universalen Identitätsformen vorbei. Dennoch wird in der Literatur bisweilen darauf hingewiesen, dass die Religion im Falle einer eingewanderten Minderheit diskursiv immer auch unter einer nationalisierenden Beobachterperspektive steht. Die „andere“ Religion der Migranten wird nicht schlicht als abweichender Glaube gesehen, wie im Falle vom Protestantismus zum Katholizismus in Deutschland, sondern sie wird auch als Symbol für den „anderen“ Glauben einer „anderen“ Nation betrachtet. Doch die Debatte um den islamischen Religionsunterricht widerspricht dem wiederum eindrucksvoll. Der Kern der Auseinandersetzung rang nicht um Fragen nach nationaler Anpassung oder religiöser Assimilation. Vielmehr konstituierte sich die komplexe Gemengelage der verschiedenen Interessengruppen über diametral entgegengesetzte Subjekpositionen. Eine prekäre Überschneidungszone von drei Positionen kam dabei zum Tragen: der christliche Religionsunterricht, der islamische Religionsunterricht und eine der „Aufklärung“ verpflichtete „nicht-bekennende Religionskunde“. Die Debatte entzündete sich an dem Gebot der „Gleichbehandlung“ aller Religionen. Nationale Herkunftsfragen waren völlig sekundär. Daher zog sich auch die Grenze der Positionen quer durch die Einwanderverbände und Gewerkschaften, Parteien und religiösen Verbände. Die eingenommenen Subjektpositionen schnitten die jeweiligen national kodierten Identitäten. Die türkischen Einwandererverbände wurden nicht als Vertreter einer nationalen Minorität in den Medien repräsentiert, sondern als ein Akteur, der eine Position unter anderen in einer prekären Debatte vertritt. In dem Islamdiskurs der Verbände unterscheiden sich religiöse Identitäten nicht in „Ausländer“ und „Einheimische“, sondern in „Liberale“, „Orthodoxe“ oder gar „Fundamentalisten“. Nicht die nationalen Identitäten, sondern die fundamentalistischen Positionen werden als das „Andere“ diskursiviert. Sie gelten als das Andere, weil sie expansionistisch mit Bekehrung drohen. Fundamentalistische Identi208
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täten unterhalten keine Grenzregime, sie schieben den Anderen nicht ab, sondern sie versuchen das Gegenteil. Sie intendieren, den Anderen zu überzeugen. Daher auch die auf allen Seiten artikulierte Sorge vor den potentiellen Expansionsmöglichkeiten dieser Gemeinschaften durch bekennenden Religionsunterricht. Andererseits erwies sich auch die aufklärerische Vernunftreligion eines vergleichenden religionskundlichen Unterrichts sowohl für die christlichen Kirchen als auch für die muslimischen Gruppen völlig inakzeptabel. Jede Seite „fürchtet“ sprichwörtlich die Übergriffe der Anderen. Aufgrund dieser Verstetigung von Ambivalenz überrascht es nicht, dass es lange Zeit zu keiner Kompromisslösung kam. Hier nehmen die Verbände eine besondere Subjektposition ein. Ihre Argumente dienten den Medien wiederholt als diskursiver Garant ihres Kompetenzvorsprungs und ihrer besonderen Expertise. Man hatte „Sympathien“ für ihre Vorschläge, auch wenn sie sich „leider nicht durchsetzen“ ließen. Die Verbände thematisieren die immatrielle Umma des Islam. Wie sich diese nicht institutionalisierbare Organisationsform in ein deutsches Staatsrecht integrieren ließe, war einer ihrer in den Medien zitierten Vorschläge. Ihr Ansinnen, den Konflikt analog zu dem spezifisch deutschen Laizismus, d.h. über staatlich finanzierte, aber autonome theologische Fakultäten und Ausbildungen an Universitäten zu lösen, wurde zwar nicht aufgegriffen, stieß aber auf Sympathie. Hierzu zählen auch die Forderungen der Verbände gegen zuviel Toleranz angesichts des Kopftuchtragens in öffentlichen Schulen. Aus Sicht der Verbände übersahen die deutschen Kopftuchbefürworter den Unterschied zwischen Nation und Religion. Ihr Ruf nach Toleranz zielte fälschlicher Weise auf Kategorien von traditional kodierter Identität, um die es den Beteiligten in diesem Fall gar nicht ging.
Ethnizität Im Integrationsdiskurs Das Konzept der Ethnizität dient im Integrationsdiskurs der Bearbeitung von paradoxen Unterscheidungen. Wenn, wie oben beschrieben, das zentrale Element des Integrationsdiskurses die Vorstellung einer Grenzüberschreitung ist, dann garantiert das Konzept der Ethnizität im Integrationsdiskurs die partielle Aufrechterhaltung dieser Grenzen. Um es noch paradoxer zu formulieren: Um ethnisierte Grenzen abzubauen, müssen ethnische Grenzen in der Öffentlichkeit aufrechterhalten werden. Oder noch mal anders formuliert: Damit sich sozialstrukturelle Grenzen und ethnische Schichtungen nivellieren, sind ethnische Grenzen in der Öffentlichkeit zu akzeptieren.
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Zunächst ist dieser grenzerhaltende Faktor strukturell durch die Situation bedingt, wie sie bereits theoretisch beschrieben wurde. Ein sich ethnisch konstituierender Verband kann nur dann im Namen der Gemeinschaft für die Auflösung von diskriminierenden Grenzen sprechen, wenn er sich selbst als Teil dieser ethnischen Gruppe setzt. Die eigene Ethnizität konstituiert seine Legitimation als Sprecher der Gruppe. Mit der Auflösung dieser Ethnizität durch Assimilation in eine andere Ethnizität würde sich auch die Sprecherposition auflösen. Dieser grenzerhaltende Faktor resultiert aus der eigentümlichen Situation einer „ethnischen Minderheit“ im Sinne von Fredrik Barth. Die means-of-symbolic-production sind in einer Mehrheits-/Minderheitssituation ungleich verteilt. Die Verbände steigern ihr symbolisches Kapital über ihre Selbstethnisierung. Nur dadurch sind sie in der Lage, dem Problem der ungleich verteilten means-of-symbolic-production etwas entgegenzusetzen. Bemerkenswert ist der spezifische Umgang der Verbände mit diesem bereits in der Theorie beschriebenen Ethnisierungsparadox. Statt die Grenzen entweder vollständig aufzulösen oder vollständig zu errichten, versuchen die Verbände sie mit dem Ziel der Integration zu verdoppeln. Die Betonung der integrativen Wirkung von einer doppelten „emotionalen Bindung“ oder das bildungspolitische „Motto: ‚Schulsprache Deutsch, Muttersprache Türkisch‘“ sind in diesem Rahmen zu deuten. Eine Multiplikation der ethnischen Grenzen wird in die Praxis der Institutionen und Kompetenzen der Individuen übertragen. Im übertragenen Sinne von Georg Simmels „Kulturkreisen“ werben die Verbände um eine Förderung von sich im Individuum schneidenden „Ethnizitätskreisen“. In den Medien findet sich zwar kein Widerspruch, dennoch scheint eine solche Form ethnisch verdoppelter Integration weit entfernt von einer politischen Realisierbarkeit zu sein. Die Vorschläge werden genannt, aber kaum als Begrüßenswert akzentuiert.
Im Staatsbürgerschaftsdiskurs Ethnizität gilt im Rahmen von Staatsbürgerschaftsdiskursen in der Regel als eine Qualifizierung von „Minderheiten“. Die hier analysierten Verbände vertreten jedoch keine staatlich anerkannte ethnische Minderheit, sondern die politischen Interessen von rechtlich nur als Individuen existierenden Einwanderern. Daher spielte Ethnizität in diesem Diskurs nur eine Rolle als diskursive Subjektposition, nicht als ein rechtlich anerkanntes Kollektivsubjekt. Wie bei den anderen Diskursen ist hier die Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes zentral. In den Jahren vor der Reform galt aufgrund der durch die Abstammungsregelung bedingte Unüberschreitbarkeit der ethnischen Grenzen eine Kompromissregelung. Es war, wie die taz es formulierte, eine „Einbürgerung durch die Hintertür“ und eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich. Diese in210
DISKURSTHEORETISCHE DEUTUNG
offizielle „Hintertür“ regelte das, was es nicht geben durfte und daher nur informell als Ausnahme regelbar war. Grenzüberschreitungen sind nach der primordialen Differenz von Innen versus Außen offiziell undenkbar. Erst die Sichtbarkeit und staatsrechtliche Regulierung von Einwanderung durch die „Vordertür“ machte die doppelte Staatsbürgerschaft zu einem öffentlichen, diskursivierten Regulationsproblem. Gemäß den Opponenten der doppelten Staatsbürgerschaft ist eine Grenzüberschreitung nicht in zwei, sondern nur in eine Richtung denkbar. Wenn es eine Grenzüberschreitung durch die „Vordertür“ geben soll, dann darf diese keine „Drehtür“ sein, sondern sie muss nach dem Eintritt ins „Schloss fallen“, um die ethnische Grenze als allgemeingültige Grenze aufrechtzuerhalten. Die Angst besteht hier offenbar darin, dass ansonsten die ethnische Grenze nur für einen Teil der Gemeinschaft schicksalhaft gilt. Der andere Teil darf wechseln. Wie im Ethnizitätskonzept beschrieben, ist der Wechsel und die Verdoppelung jedoch nur so lange legitim, als sie unsichtbar und informel vollzogen wird. Offiziell gelten ethnische Zugehörigkeiten als singulär. Das Hauptargument der Opposition in den Parlamentsdebatten in den Jahren 1998 und 1999 war bemerkennswerter Weise das der „Fairness“ (Faist 2000b). Dieser Argumentation entspricht auch die Rahmung aus dem Bereich des Sports: Mit einem „Doppel-Pass“ wird der Gegner „ausgetrickst“. Er wird umlaufen und hat das Nachsehen. Wenn dann auch noch die Fans wahlweise die Fahnen der cleveren Mannschaft hochhalten, dann fühlt sich der Ausgetrickste auch noch durch die Illoyalität seiner Anhänger bestraft. Es drängt sich also der Eindruck auf, dass die Opposition gegen die doppelte Staatsbürgerschaft aus einer gewissen Missgunst herrührte: „Wenn wir unserem eisernen Käfig der singulären Ethnizität nicht entschlüpfen können, dann dürfen es die Anderen auch nicht“.
Im Islamdiskurs Die bisherige Interpretation scheint die Frage nach Ethnizität innerhalb des Islamdiskurses von vornherein zu erübrigen. Die universalistische Kodierung von monotheistischen Gemeinschaften überschreiten wie beschrieben die Grenzen nationaler und damit auch primordialer Identitäten. Auch die Grenze zwischen ethnischen Mehr- und Minderheiten ist nur symbolisch mit religiösen Grenzen verbunden. Die monotheistischen Religionen sind nach Clifford Geertz zu den übergreifenden translokalen Zivilisationformen zu zählen, die das „Ethnische“ spezifisch überformen oder aber sich den primordialen Bezügen entgegenstellen. In der inhaltlichen empirischen Analyse finden sich dafür eingeschränkt Hinweise. In den Medien wird das spezifisch „Ethnische“ der türkischen Ver211
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
bände nahezu invertiert. Es verwandelt sich in ein „symbolisches Kapital“, das der ethnischen Gruppe öffentliche Benennungs- und Definitionsmacht im Sinne Giordanos verschafft. Die Verbände werden als kompetente und gleichwertige Ansprechpartner bzw. als Informanten repräsentiert. Ihre Rolle als Sprecher einer ethnischen Minderheit weist sie als kompetente Identitätsmanager für die Mehrheit aus. Insofern ist zu folgern, dass in öffentlichen Diskursen über Religionen die Ethnisierung einer Einwanderergruppe vollständig in den Hintergrund treten kann.
Fazit Die sozialtheoretischen Ansätze zur Konstruktion kollektiver Identitäten und Ethnizitäten – die nationalisierenden Perspektiven auf migrationsinduzierte Folgen – betonen die wechselseitige Exklusivität von Ego-Alter-Relationen. Damit stehen sie im Gegensatz zu dem in dieser Analyse beobachteten öffentlichen Diskurs der Verbände in deutschen Printmedien. Hier gilt für die Fragen nach Identität und Ethnizität eine additive Sowohl-Als-Auch-Logik. Gleichwohl finden sich auch exklusive Entweder/Oder-Logiken. Im öffentlichen Diskurs gelten die additiven Logiken für individuelle Kompetenzen und Bildungsprogramme. Die Entweder/Oder-Logiken beziehen sich hingegen auf eher kollektiv-identitäre Ordnungsvorstellungen der Gemeinschaft. Die duplizierbaren additiven Ego-Alter-Relationen gelten als legitim für die profanen Zugehörigkeitsmarker, wie der individuellen Kompetenz und der staatsbürgerschaftlichen Reziprozitäten. Die zentrale Unterscheidung in additive versus exklusive Relationen widerspricht dem Identitätsmodell damit nicht per se, sondern lenkt den Blick auf die profanen Anteile von kollektiven Identitätsvorstellungen, die in dem Konzept nicht ausreichend berücksichtigt werden. Öffentlich gilt die nationale Staatsbürgerschaft entweder als sakral und damit als wechselseitig exklusiv oder als profan und additiv. Wenn eine nationale Identität sakrale Züge in Gestalt einer Zivilreligion annimmt, greift die exklusivistische Relation. Die universalistischen Identitätskodierungen der monotheistischen Religionen sind hingegen a priori sakralisiert und damit per se wechselseitig exklusiv. Insgesamt gilt also für die kollektive Identitätskonstruktion, dass neben der Sakralisierung identitärer Grenzziehungen auch ihre Profanisierung in den Blick genommen werden muss, um die Verdoppelbarkeit oder Exklusivität der identitären Grenzziehungen zu erfassen. Die Vernachlässigung von additiven Relationen ist also nicht den theoretischen Prämissen, sondern der ausschließlichen Perspektive auf sakrale Identitätskonstruktionen geschuldet. Dies gilt in analoger Weise auch für das Ethnizitätskonzept. Auch der asymmetrische Blick auf ethnische Minderheiten setzt die Singularität von Zugehörigkeiten voraus. Auch wenn die Ethnizität durchaus gewechselt werden 212
DISKURSTHEORETISCHE DEUTUNG
kann – nur darf dies nicht offiziell proklamiert werden. Die Idee der Ethnizität ist wechselseitig exklusiv. Die Akteure können sich zwar je nach Anforderungen entweder als Ego oder als Alter definieren, auf die Gültigkeit der Grenze selbst hat der Ethnizitätswechsel jedoch keinen Einfluss. Die ethnische Grenze konstituiert sich aufgrund der Exklusivität der Ego-AlterRelation, nicht aufgrund ihrer Faktizität. Gleichwohl ist auch in diesem Ansatz eine additive Relation nicht per se ausgeschlossen. Die prinzipielle Prozesshaftigkeit und Situationsabhängigkeit der ethnischen Grenzen gilt als ein allgemein akzeptierter Konsens des Konzepts. Nur richtet sich die Forschungsperspektive zumeist auf die Außengrenzen zwischen ethnischer Mehr- und Minderheit. Die Binnendifferenzierungen der ethnischen Minderheit werden kaum untersucht. Dies ist insofern problematisch, weil aus diesen Binnendifferenzierungen die additiven Relationen resultieren. Ein Teil der ethnischen Minderheit kann auch der religiösen Gemeinschaft der Mehrheit angehören oder, wie im hier untersuchten Fall, ein Interessenverband der Minderheit kann die laizistischen Vorstellungen der Mehrheit gegen einen Teil der eigenen Minderheit vertreten. Solche additiven Zugerhörigkeitsvorstellungen kreuzen die „sauber“ gezogene Grenze zwischen Mehr- und Minderheiten. Im Falle des Ethnizitätskonzepts muss die Perspektive sich also auch auf die Binnendifferenzierung richten. Ansonsten besteht die Gefahr, die Minderheiten kontrafaktisch zu homogenisieren und damit die exklusivistischen ethnischen Grenzen indirekt zu reifizieren. Dies ist umso eklatanter, da sogar im Falle der nationalisierenden Beobachterperspektiven des Migrationsdiskurses sowohl exklusive als auch additive Identifizierungen und ethnische Zuschreibungen als legitim angesehen werden.
U n i ve r s a l i s i e r u n g : e x k l u s i v s t a t t a d d i t i v System Im Integrationsdiskurs Von den beiden universalisierenden Konzepten – System und Raum – erweist sich der systemtheoretische Ansatz im Integrationsdiskurs der Verbände als die entscheidende Blickerweiterung. Es ist der systemtheoretische Ansatz zur funktionalen Differenzierung, der den von den Verbänden verwendeten Integrationsrahmungen am nächsten kommt. Wie im ersten Teil dieses Buches beschrieben, ersetzt die Systemtheorie den Begriff der Integration durch den Begriff der „Inklusion“ und geht dabei von der Fragmentierung der Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme aus (Kapitel 4). Die Inklusion aus einem 213
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Teilsystem setzt die Exklusion aus anderen Teilsystemen voraus. Vollintegration in eine nationale Kultur gilt als freiheitsbeschränkende Zumutung. Die Vorstellung von einer nationalen Assimilation bedeutet systemtheoretisch eine vormoderne Re-Sakralisierung von Zugehörigkeiten, oder, in den Termini Georg Simmels, eine überzogene Form des Vergesellschaftet-Seins. Auf dieser Ebene sind die Entsprechungen des Integrationsdiskurses zum Inklusionskonzept erheblich. Der Widerspruch der Verbände gegen die Assimilationswünsche von Seiten der Mehrheitsgesellschaft meint exakt die systemtheoretische Ausschließung der Vollintegration bzw. einer Integration als „ganzer Person“. Für die Verbände ist nur eine Teilinklusion in das Rechtssystem, das Bildungssystem etc. denkbar. Eine Integration in die kulturellen Eigenheiten gilt nicht nur als unnötig, sondern auch als dysfunktional. So kann die Teilinklusion in den türkischen und deutschen Arbeitsmarkt, ermöglicht über Bilingualität, durchaus inklusivere Effekte zeitigen, als die Beschränkung auf nur einen der beiden Märkte. Bilingualität bedeutet auch „Reichtum“, heißt es von Seiten der Verbände. Von daher fordern die Verbände in soziologischen Termini eigentlich nicht „Integration“, sondern „Inklusion“. In der ersten Phase bis zum Jahr 1997 war ihnen die öffentliche Artikulation von Inklusionsvorstellungen verwehrt. Das öffentliche Diskursfeld existierte noch nicht. In jener Zeit dominierte die generelle Negativbeschreibung sämtliche Äußerungen. Die Einwanderer waren als „Ausländer“ aus den Verbreitungsmedien zu Fragen ihrer eigenen Integration noch vollständig ausgeschlossen. Danach implementierten sie mit ihren Forderungen eine eigene Situationsdefinition von „Inklusion“ in der medialen Öffentlichkeit. Nach dieser Definition setzt eine funktionalere Inklusion in den Bereichen Bildung, Arbeit oder staatsbürgerliche Rechte die Akzeptanz von einer Exklusion aus kultureller Vollintegration voraus. Zwar wurde ihnen bisweilen indirekt mit anderen Definitionen von „Integration“ widersprochen, doch diese Rahmungen stießen öffentlich kaum auf Resonanz. Offenbar entwickelte sich eine Resonanz und Akzeptanz erst mit der öffentlichen Artikulation von inklusionsrelevanten Sachfragen. Insofern ist Armin Nassehis Ahnung, dass identitätsrelevante Inklusion von Einwanderern wohl nur in so „altmodischen“ Institutionen wie der Öffentlichkeit bearbeitbar wäre, zuzustimmen.
Im Staatsbürgerschaftsdiskurs Wie das außerordentliche Agenda-Setting im Jahre 1999 zu dem Thema der doppelten Staatsbürgerschaft demonstriert, irritiert eine solche Vorstellung wohl die Vorstellung systemischer Differenzierung bei der Mehrheitgesellschaft. Die funktionalere multiple Inklusionsform entspricht nicht ihrem 214
DISKURSTHEORETISCHE DEUTUNG
Selbstbild als integratives Ganzes. Der Widerstand gegen Multi-Inklusionen oder zumindest Bi-Inklusion, wie es eine dauerhafte doppelte Staatsbürgerschaft wäre, ist in diesem Sinne auch als anti-modernes Ressentiment zu interpretieren. Die Festlegung auf eine nationale Staatsbürgerschaft, d.h. auf lediglich ein System von Rechten und Pflichten, reduziert die Variationsmöglichkeiten. Anpassungsstrategien bei veränderten „Umweltbedingungen“ sind dann weniger flexibel. So gesehen ist die ausbleibende Säkularisierung der Zivilreligion „Nationalität“ tatsächlich ein Standortnachteil, der das Neidpotential gegenüber den Inhabern einer doppelten Staatsbürgerschaft erklären mag. Ein Modernisierungsvorteil einer Gruppe, dazu noch im „eigenen Land“, scheint schwer akzeptierbar. Damit bestätigt sich die These, dass identitätsstiftende Ganzheitsvorstellungen vor allem in den Verbreitungsmedien kommuniziert werden. Verdoppelte In- und Exklusionsverhältnisse sind hier kommunikativ offenbar nicht anschlussfähig.
Im Islamdiskurs Systemtheoretisch interpretiert, sind die Symbole des Kruzifix und des Kopftuchs Zeichen eines exklusiven Bekenntnisses zur eigenen Gruppe bzw. der Zugehörigkeit zu nur dieser Gruppe. Denn die Forderung der Religionsgemeinschaften nach einem bekennenden Religionsunterricht bedeutet, dass nicht die Teilinklusion, sondern die Vollintegration in ein – und nur ein – Wertesystem das erklärte Ziel ist. Dies wäre zunächst unproblematisch, wenn sich diese Form der Integration auf das Teilsystem Religion beschränken würde. Durch die eigentümliche Form des staatlich finanzierten Religionsunterrichts in der Bundesrepublik handelt es sich jedoch bereits strukturell um eine Ent-Differenzierung zweier verschiedener Teil-Systeme – daher der Streit um das „Kruzifixurteil“ im Falle der christlichen Kirchen oder um das „Kopftuchverbot“ im Falle des Islams. In beiden Fällen übertritt der Glaube den Rahmen des Privaten, wird zu einer öffentlichen Angelegenheit und zum Thema in den Verbreitungsmedien. Nicht das Anbringen von Kreuzen oder das Tragen von Kopftüchern an sich ist das Problem, sondern das Anbringen und Tragen von religiösen Bekenntnissymbolen in öffentlichen Schulen und Einrichtungen ist prekär. Kruzifixe und Kopftücher symbolisieren die Integration in ein religiöses Teilsystem an Orten, an denen verschiedene Inklusionsmöglichkeiten aufeinander treffen. Nicht die Bevorzugung einer möglichen Inklusionsform unter vielen anderen Möglichkeiten ist die Ursache des Konflikts, sondern deren symbolische Repräsentation als ganzheitlich singuläre Integration.
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
In diesem Zusammenhang ist der in den Medien immer wieder zitierte Hinweis der Verbände zu deuten, dass es sich bei den islamischen Trägern des Religionsunterrichts und den Befürwortern des Kopftuchtragens in der Öffentlichkeit „nicht nur um religiöse“, sondern auch um „politische Bewegungen und Ziele“ handelt. Es wird von Seiten der Verbände vor der EntDifferenzierung des politischen und religiösen Teilssystems gewarnt. Das Interesse der Medien für dieses Argument könnte man auch als grundsätzliche Akzeptanz von systemischer Ausdifferenzierung und der damit einhergehenden Multiinklusionen deuten. Dass es sich hierbei nicht um ein migrationsspezifisches Thema handelt, liegt auf der Hand. Es sind die fundamentaleren, religiösen Gemeinschaften, auch die der Mehrheitsgesellschaft, die eine solche Multiinklusion im Rahmen ihrer Glaubenserziehung und öffentlichen Sichtbarkeit kategorisch ablehnen.
Raum Im Integrationsdiskurs Direkte Bezüge zu der Frage nach transnationalen Räumen finden sich in dem Integrationsdiskurs der Verbände nicht. Allerdings beschränken sich die Integrationsforderungen nicht nur auf den nationalen Kontext. Die Verbände verorten „Integration“ durchaus in transnationalen oder zumindest binationalen Zusammenhängen. Anlass dafür bot die Diskussion um den Beitritt der Türkei in die Europäische Union. Das zentrale Argument bestand darin, dass ein Beitritt für die türkischen Einwanderer in Deutschland integrative Wirkung hätte. Ein Beitritt symbolisiert, dass „man dazugehört“. Die Ablehnung des Beitritts von Seiten der deutschen Regierung wäre somit von enormer symbolischer Bedeutung. Die Nicht-Anerkennung richte sich dann nicht nur gegen die Türkei, sondern auch gegen die in Deutschland lebenden türkischen Einwanderer als Ganzes. Mit dieser die nationalen Grenzen überschreitenden Rahmung verleihen die Verbände der identitätsrelevanten Dimension von Integration einen transnationalen Ausdruck. „Dazugehören“ muss sich nicht zwangsweise auf die eine oder die andere nationale Zugehörigkeit beschränken. Die vierte Stufe des Integrationsmodells, die identifikative Assimilation, wird von den Verbänden ausschließlich in einem transnationalen Rahmen als erstrebenswert verortet. Für die Frage nach den symbolischen Repräsentationsformen transnationaler Vergesellschaftung ist raumtheoretisch insbesondere also die vierte „identifikative Assimilationsvorstellung“ vakant. Dies bedeutet zunächst, dass im Kontext von Einwandererverbänden transnational organisierte Regime unter bestimmten Voraussetzungen offenbar doch als zugehörigkeitsrelevant gelten können. Eine wichtige Voraussetzung ist vor allem die symbolisch re216
DISKURSTHEORETISCHE DEUTUNG
präsentative Ebene. Die Argumentation war nicht, dass sich mit einem EUBeitritt die Visa- und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen erleichtern würden. Mit Sicherheit ist dies auch ein Grund für die Hoffnung auf einem Beitritt des Herkunftslandes. Als entscheidend erwies es sich hingegen, dass öffentlich der symbolischen Dimension einer europäischen Erweiterung Ausdruck verliehen wurde. „Integration“ erweist sich also auch in diesem Kontext als ein transgressiver Rahmen, der öffentlich verschiedene Identitätskonstruktionen miteinander kombiniert. Seien diese ethnisch, national oder transnational. Möglicherweise ist die Rahmung durch die eigentümliche Situation der Verbände selbst geprägt. Als Vernetzung von Vereinen einer ethnischen Minderheit leisten die Verbände auf der öffentlichen und symbolischen Ebene eine Situationsdefinition, die grundsätzlich diese drei Ebenen berücksichtigen muss. Ihre Situation ist nicht nur zwischen dem nationalen Ankunftsland und ihrer eigenen Minderheitenposition strukturiert. Auch das Herkunftsland spielt eine wesentliche Rolle. Allerdings nicht als „desintegrative Herkunftsidentität“, sondern als ein symbolischer Bezug innerhalb von transnationalen Positionierungen. Dies ist auch nicht als Mythologisierung eines transnationalen Raumes misszuverstehen. Vielmehr bedeutet dieser Bezug eine zusätzliche Dimension in der Verortung von kollektiven Zugehörigkeiten jenseits der Nationalstaaten – nicht mehr und nicht weniger.
Im Staatsbürgerschaftsdiskurs Die vehemente Forderung der Verbände nach doppelter Staatsbürgerschaft und der Aufschrei in Teilen der deutschen Öffentlichkeit bedeutet nicht nur eine Transformation von der Verrechtlichung nationsübergreifender Zugehörigkeiten, sondern auch eine Berücksichtigung der dauerhaften staatsbürgerlichen Sicherung von transnationalen sozialen Räumen. Die Forderungen der Verbände sind damit als Anzeichen einer Willensbekundung zur Institutionalisierung dieser übergreifenden Räume und unterbrochener Reziprozitäten zu interpretieren. Allerdings wurde dieses Argument in keinem einzigen Artikel explizit diskutiert. Ein Grund für diese argumentative Leerstelle mag in der nach wie vor überaus wirksamen Dominanz des nationalstaatlichen Denkens im Sinne des sozialräumlich klar abgegrenzten „Containers“ liegen. Die Auflösung eines nationalen zugunsten eines transnationalen Vergesellschaftet-Seins liegt quer zu den beiden stärksten idenitätsstiftenden Kodierungen der Moderne, den „Feinden“ und den „Fremden“. Transnationale Strukturen überschreiten auf der Ebene der kollektiven Identität eine symbolische Grenze. Für diese Überbrückung scheint sich noch keine symbolische Form entwickelt zu haben.
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Globale oder transnationale Strukturen der Vergemeinschaftung sind noch ohne „Namen“. So ist die Rahmung der doppelten Staatsbürgerschaft als „Doppelpass“ auch als ein Versuch der Opponenten zu verstehen, transnationale Strukturen in etwas Altvertrautes, die Freund/Feind-Dichotomie, zu überführen. In einem Spiel gibt es nicht nur vertraute Regeln, sondern auch einen Gegenspieler. Auf der symbolischen Ebene blieb diese Rahmung unerwidert im Raum. Die Frage nach den symbolischen Repräsentationen von transnationalen Formen des Vergesellschaftet-Seins muss wohl nach wie vor offen bleiben. Wahrscheinlich sind auch in diesem Kontext die Missgunst und der Neid der Sesshaften gegenüber den Transmigranten nicht zu unterschätzen. Transmigranten erzeugen bereits in ihren jeweiligen Communities Neid. Dieser Effekt weitet sich mit der Vorstellung einer doppelten Staatsbürgerschaft wohl auch auf einen Teil der gesamten Mehrheitsgesellschaft aus. Transmigranten sind aus Sicht der Sesshaften privilegiert. Das kleinbürgerliche Ressentiment gegen die Kosmopoliten ist ein vergleichbares Phänomen der europäischen Geschichte (Beck 2004). Doch die Kosmopoliten gelten auch als Angehörige der Elite. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde dieses prinzipielle Privileg auf alle Schichten ausweiten. Wenn aus Migranten Transmigranten werden, dann würde die gewohnt subalterne sozialstrukturelle Position der Einwanderer sich, zumindest aus Sicht der Sesshaften, mit einem Male verbessern. Einwanderer sind in der traditionellen Perspektive jedoch Opfer und keine Kosmopoliten. Sie dürfen nicht desinteressiert oder glücklich sein, sondern sie müssen sich als „dankbar“ für ihre Aufnahme erweisen und sich redlich um Integration „bemühen“ – auch wenn einiges an dem Land der Sesshaften wenig Interessantes verspricht. Die Untersagung der doppelten Staatsbürgerschaft verhinderte, zumindest institutionell und symbolisch, die Legalisierung und Institutionalisierung der Transmigranten. Die Idee, dass in einer zunehmenden transnational vernetzten Welt die Regionen um Migranten auch konkurrieren könnten, ist wohl noch jenseits des Vorstellbaren.
Im Islamdiskurs Das Raumkonzept findet sich im Islamdiskurs nur indirekt. Historisch betrachtet gehören die monotheistischen Religionen wie das Christentum und der Islam zu den dauerhaftesten und ältesten, sich über den globalen Raum erstreckenden Institutionen. Sie entfalteten ihre Wirksamkeit lange vor der Erfindung des Nationalstaates. Sie als „transnationale Institutionen“ zu bezeichnen, reduziert ihre Bedeutung deshalb unzulässigerweise auf die letzten zwei bis drei Jahrhunderte, ist aber für die Jetztzeit durchaus zutreffend. Die Tatsache, dass die Migrationssoziologie so lange transnationale Phänomene ver218
DISKURSTHEORETISCHE DEUTUNG
nachlässigte und das Phänomen der religiösen Diasporaforschung überlassen hat, führte möglicherweise auch dazu, die Bedeutung dieser Religionen als Ausdruck transnationaler Vergemeinschaftung zu übersehen. Dennoch bietet der Verweis auf diese beiden Religionen noch keine hinreichende Antwort auf die Frage, welche symbolischen Formen eine transnationale, vernetzte Vergemeinschaftung hervorbringt bzw. wie sie sich in die Lage versetzt, sich als „Gemeinschaft“ symbolisch zu repräsentieren. Die monotheistischen Religionen sind in erster Linie, wie bereits bemerkt, expansiv orientiert, d.h. ihr Selbstverständnis ist transgressiv. Sie stellen kein funktionales Äquivalent für die fehlende symbolische Repräsentation vernetzter, transnationaler Vergemeinschaftungsformen dar. Auch können sie nur bedingt die unterbrochenen und verdoppelten Reziprozitäten der transversalen Vergesellschaftung kompensieren. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Rahmungen der Verbände, so spricht vieles dafür, dass die transnationale Organisationsstruktur eher ein Problem als eine willkommene Form von nationalstaatlicher Transgression darstellt. So zitieren die Medien zustimmend vor allem die Äußerungen der Verbände, in denen auf die Vernetzung von hiesigen Organisationen mit Organisationen in der Türkei kritisch hingewiesen wird. Transnationale Vernetzung erzeugt offenbar öffentliches Misstrauen. Dies gilt nicht nur für die fundamentalistischen Netzwerke, sondern auch für andere transnationale Vernetzungen, wie beispielsweise die des türkischen Staates in seiner Diaspora. Der Islam ist zwar eine transnationale Institution, die organisatorische Seite dieser Transnationalität, die Vernetzung, wird jedoch von Seiten der Verbände abgelehnt. Immer wieder verweisen die Verbände, beispielsweise im Falle der Islamischen Föderation und Mili Görus, auf Vernetzungen mit fundamentalistischen politischen Organisationen in Deutschland und der Türkei. Die Vernetzungen gelten als kontrainduzierte Entdifferenzierung der Grenze zwischen religiöser und politischer Vergemeinschaftung. Die Problematik der mangelhaften symbolischen Repräsentation ergibt sich auch daraus, dass sich soziale Netzwerke aufgrund ihrer fehlenden Transparenz den Dichotomien von Freund/Feind und Fremd/Eigen zunächst entziehen. Gerade der radikal fundamentalistische Flügel des Islam wird dessen ungeachtet von den Medien im Rahmen der Freund/Feind-Dichotomie wahrgenommen. Netzwerke lassen sich wegen ihrer fehlenden symbolischen Repräsentation besonders leicht als „Feind“ konstruieren. Die Verdachtssemantik gegenüber den islamistischen Organisationen demonstriert, welche bedeutsame Rolle transnationale Vernetzungen inzwischen im öffentlichen Bewusstsein ex negativo einnehmen. Eine positive symbolische Repräsentation zur Verbindung von transnationaler Vernetzung und postnationaler Vergemeinschaftung zeichnet sich nicht ab.
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Fazit Im Vergleich zum universalisierten öffentlichen Diskurs sind die beiden universalisierenden Konzepte, System und Raum, durch exklusive und additive Relationen zwischen Ego und Alter charakterisiert. Die Systemtheorie kennt explizit additive Ego-Alter-Relationen, jedoch nicht auf der Ebene der Weltgesellschaft, sondern auf der Ebene der Einzelindividuen. Das systemtheoretische (In-)Dividuum ist grundsätzlich partiell exund inkludiert. Individuen sind immer sowohl Ego als auch Alter. Auf der universalisierenden Seite finden sich die systemischen Unterscheidungen, die der exklusivistischen Entweder/Oder-Relation unterliegen. Verdoppelte gleichartige Subsysteme und systemische Grenzüberschreitungen sind in einer funktional differenzierten Weltgesellschaft nicht vorgesehen. Die einzelnen Funktionssysteme folgen sorgfältig voneinander geschiedenen, wechselseitig exklusiven Systemgrenzen. Die Systemtheorie verlagert also die additive Unterscheidungslogik ins Dividuum und die exklusivistische Unterscheidungslogik in die funktional differenzierte Weltgesellschaft. Damit bildet sie die Unterscheidungslogik des öffentlichen Einwanderungsdiskurses von allen theoretischen Konzepten noch am präzisten ab. Auch im Einwanderungsdiskurs der Verbände gilt auf der individualiserenden Ebene die additive und auf der universalisierenden Ebene die exklusive Ego-Alter-Relation. Dagegen sind die transnationalen Ansätze in erster Linie nur durch eine additive Ego-Alter-Relation charakterisiert. Transnationalen sozialen Feldern liegt per se eine Sowohl-als-Auch-Relation zugrunde. Die additive Logik gilt – anders als in der Systemtheorie – für universalisierende Dimensionen. Damit richtet sich die Perspektive in diesem Ansatz einseitig auf die additiven Relationen. Die exklusivistischen Unterscheidungen, wie die monotheistischen Religionen, werden lediglich subsumiert oder geraten ganz aus dem Blickfeld. Auch die exklusivistischen Anteile nationaler Identitäten sind unterbetont. Offenbar erweist es sich als notwendig, sowohl die exklusive als auch die additive Relation in ihrem wechselseitigen Kompensations- und Bedingungsverhältnis zu erfassen. In diesem Rahmen kann beispielsweise das Verhältnis zwischen Nation und Religion bestimmt werden. Monotheistische Religionen sind untereinander wechselseitig exklusiv, gegenüber nationalen Identitäten sind sie jedoch additiv. Unter dem Dach der katholischen Mutterkirche oder der islamischen Umma sind beliebige nationale und damit auch transnationale Identifikationen subsumierbar. Nationalisierte Identitäten sind wechselseitig exklusiv, in Relation zu einer monotheistischen Religion gelten sie als additiv. Die exklusive religiöse Relation ermöglicht in einer Verknüpfung mit nationalen Identitäten deren Vervielfältigung. Die einzigen transnational symbolisierten Repräsentationen haben derzeit die monotheistischen Religionen inne. 220
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Religionen operieren transnational und grenzüberschreitend, folgen jedoch nicht einer additiven, sondern einer exklusivistischen Unterscheidungslogik zwischen Ego und Alter. Mit dem Begriff der „transversalen Differenzierung“ wäre diese einseitige Betonung der additiven Relationen vermeidbar und durch das In-BeziehungSetzen von additiven und exklusiven Ego-Alter-Relationen neu zu hinterfragen. Die Verbände bezogen sich zwar auf die Verdoppelbarkeit nationaler Zugehörigkeiten, begründeten dies jedoch nicht mit Transnationalität, sondern mit bi-nationaler Identität. Die Frage nach einer transnational repräsentierbaren Ego-Alter-Beziehung im Kontext der universalisierenden Konstellationen muss offen bleiben. Das bereits theoretisch identifizierte Repräsentationsdefizit der transnational verdoppelten Inklusionsverhältnisse spiegelt sich damit auch im öffentlichen Diskurs wider.
Schlussfolgerungen Die diskursiven Rahmungen der Einwandererverbände sind durch zwei zentrale Ego-Alter-Logiken strukturiert: eine additive Relation des Sowohl-alsAuch und eine exklusive Relation des Entweder/Oder. Die additive Relation des Sowohl-als-Auch besagt, dass Alter ein Teil Egos wird, ohne sich in Ego verwandeln zu müssen. Ego und Alter schließen ihre Mitgliedschaften nicht wechselseitig aus, sondern addieren sie. Die Entweder/Oder-Relation schließt diese gleichzeitigen Zugehörigkeiten aus. Entweder Alter verwandelt sich in Ego oder nicht – verdoppelte Zugehörigkeiten sind verwehrt. Diese beiden Grenzziehungsmodi zwischen Ego und Alter strukturieren die migrationspolitischen Forderungen zu allen drei Diskursen mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung: Der Integrationsdiskurs folgt einer additiven Sowohl-als-Auch-Logik sowie einer individualisierenden Beobachterperspektive, der Religionsdiskurs einer exklusiven Entweder/Oder-Beziehung sowie einer universalisierenden Beobachterperspektive und der Staatsbürgerschaftsdiskurs verortet sich aufgrund seines inhärenten Dissenses dazwischen. Die Unterscheidung in exklusive versus additive Relationen ist den inhaltlichen Differenzen wie Identität/Alterität somit vorgängig. Im Zentrum des Integrationsdiskurses steht die Förderung von Bilingualität und bikultureller Kompetenz. Bi-Religiosität im Falle der monotheistischen Religionen bedeutet eine contradictio in adjecto. Ebenso unbezweifelt ist die Akzeptanz der anderen Religion. Niemand fordert als Zeichen der Zugehörigkeit zu Ego die religiöse Konversion. Im Fall der Integration besteht Konsens über die Verdoppelung von Zugehörigkeiten, im Fall Religion besteht Konsens über die wechselseitige Exklusivität.
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Der Staatsbürgerschaftsdiskurs ist zwischen diesen beiden Ego-AlterLogiken positioniert. Von Seiten der Verbände und des linksliberalen politischen Lager wird vehement für die additive Zugehörigkeit in Gestalt der doppelten Staatsbürgerschaft gestritten. Von Seiten des konservativen politischen Lagers wird stattdessen das exklusive Entweder/Oder erkämpft. Während für die eine Seite Identität zwar nicht teilbar, jedoch duplizierbar ist, beharrt die andere Seite auf die singulären, sich wechselseitig ausschließenden Identitäten. Insgesamt zeigt sich für die beiden polaren Ego-Alter-Relationen – Integration und Religion – ein übergreifender Konsens und für die Staatsbürgerschaft ein Dissens. Bezieht sich der migrationspolitische Diskurs auf die individuelle Kompetenz der Migranten, so bestimmt die additive Sowohl-AlsAuch-Logik die Debatte, bezieht sich der Diskurs auf die Nation oder gar die universalen Religionen, so bestimmt zunehmend eine exklusive Entweder/Oder-Logik den Diskurs (vgl. Tabelle 16, Zeile: B). Tabelle 16: Ego-Alter-Relation der theoretischen Konzepte und der migrationspolitischen Diskurse im Vergleich
Individualisierend
Nationalisierend
Universalisierend
Konzepte (A)
XOR
ш/XOR
ш
Diskurse (B)
ш
ш/XOR
XOR
Zeichenerklärung: ш=additiv; XOR=exklusiv Ebenso sind in den vorgestellten theoretischen Konzepten additive und exklusive Ego-Alter-Relationen explizit und implizit enthalten. Hier wurde in drei Beobachterperspektiven unterschieden. Die individualisierenden Ansätze blicken auf die exklusivistischen Relationen und vernachlässigen die additiven Relationen. Die nationalisierenden Ansätze betonen explizit auch additive Elemente, beschränken diese jedoch auf subjektive Sichtweisen der Individuen oder Kollektive. Bei den vor allem additive Relationen voraussetzenden Ansätzen handelt es sich um die universalisierenden Konzepte der Systemtheorie und Transnationalität. Tendenziell neigen also die theoretischen Konzepte, die universale Prozesse in den Blick nehmen, zur Betonung von additiven Relationen und die individualisierenden Perspektiven zur Betonung von 222
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exklusiven Beziehungen. Theoretische Konzepte und öffentliche Diskurse verhalten sich in ihrer relationalen Logik an den jeweiligen Enden daher reziprok zueinander (vgl. Tabelle 16, Zeile A). Eine etwaige normative Bevorzugung einer der beiden Relationen macht jedoch keinen Sinn. Beleuchtet ein Modell nur die additiven Relationen, dann würde es das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen beiden Relationen ausklammern und die öffentliche Bedeutung der exklusivistischen Grenzlogiken vernachlässigen. Im Gegensatz dazu würden rein exklusivistisch argumentierende Ansätze die Bedeutung von additiven Relationen übersehen. Beide Zugehörigkeitsformen sind für die Analyse von Einwanderungsgesellschaften konstitutiv. Sie sollten in der Theorie nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander in Beziehung gesetzt werden.
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Zusammenfassung
Die Repräsentation von Einwandererverbänden in deutschen Printmedien erwies sich als ein vielschichtiger Bedeutungsraum, von denen die drei wichtigsten Diskurse – Staatsbürgerschaft, Islam und Integration – qualitativ rekonstruiert und interpretiert wurden. Pure empirische Fakten, die frei von theoretischen Bedeutungszuschreibungen und Interpretationen sind, existieren nicht. Dieser Überzeugung folgend, wurden dieselben Diskurse unter verschiedenen theoretischen Perspektiven interpretiert und vergleichend kontrastiert. Im ersten Teil des Buches wurden drei theoretische Perspektiven vorgestellt. Die ersten beiden Perspektiven befassen sich mit unterschiedlichen individualisierenden Dimensionen von Migrationsfolgen: Der Fremde unterscheidet sich von den Sesshaften aufgrund seiner hohen Interaktionskosten. Der Ausländer ist aus der Partizipation an den sozialstrukturellen Ressourcen der Inländer ausgeschlossen. Zweitens wurden mit Identität und Ethnizität Ansätze vorgestellt, die unterschiedliche Formen der nationalisierenden Grenzziehungen fokussieren. Diese Ansätze legen den Schwerpunkt nicht auf individuelle Kompetenzen, sondern auf kollektive Akteure und Grenzziehungen. Schließlich wurden drittens universalisierende Perspektiven vorgestellt. Die funktionalistische Systemtheorie kennt weder Migranten noch ethnische Minderheiten. Die moralische Integration ganzer Individuen und Identitäten wird zudem durch partiell in- und exkludierte Dividuen ersetzt. Identitäten und Migration sind jedoch nach wie vor in der Öffentlichkeit relevant. Die Systemtheorie schärft also den Blick für die Bedeutung der öffentlichen Verbreitungsmedien als relevanten Ort von kulturellen Genzziehungen. Analog argumentieren die raumtheoretischen transnationalen Ansätze. Sie schärfen den Blick für die Bedeutung von Einwanderverbänden zur Lösung des Repräsentationsdefizits in transnationalen Räumen.
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Die empirisch inhaltliche Rekonstruktion der Verbandsforderungen ergab, dass sich die größte Einwanderungscommunity in der Bundesrepublik bereits seit Jahren kontinuierlich und aktiv an öffentlichen Rahmungen der Mehrheitsgesellschaft beteiligt und in den relevanten überregionalen Tageszeitungen als solche repräsentiert wird. Es werden nicht nur eigene Forderungen und Interessen artikuliert, sondern bestehende Rahmungen werden aufgegriffen und ihre Bedeutung transformiert. Nicht die kulturelle Differenz und Binnenintegration steht im Vordergrund, sondern die diskursiven Bedingungen von unterschiedlich vernähten Subjektpositionen. Den Abschluss der Analyse bildete eine diskurstheoretische Deutung der Verbandsrahmungen. Hier wurde der strukturelle Zusammenhang der EgoAlter-Repräsentationen, die dem Einwanderungsdiskurs zugrunde liegen, abschließend spezifiziert. Die additive Ego-Alter-Relation gilt übergreifend für individualisierte Kompetenz. Eine umstrittene Ego-Alter-Relation bildet hingegen die nationalstaatliche Mitgliedschaft in Gestalt von Rechten und Pflichten. Für die Zugehörigkeiten zu Religionen gilt übergreifend eine wechselseitig exklusive Ego-Alter-Relation. Bezogen auf die Differenz zwischen Individualität, Nationalität und Universalität heißt dies, dass beide Relationen nicht normativ vorab zu bewerten sind. Vielmehr ist von einer gleichzeitigen Gültigkeit von additiven und exklusiven Unterscheidungslogiken in den Argumentationsweisen des migrationspolitischen Feldes und des wissenschaftlichen Feldes auszugehen. Beide polar zueinander stehende Relationierungen bedingen einander. Um theoretische Reduktionen zu vermeiden ist lediglich zu reflektieren, dass die jeweilig gewählte Relation nur eine Seite der Beobachterpositionen beschreibt. Die unterschiedlichen Beobachterperspektiven sind zudem als Ausdruck der diskursiven Überschneidung von Subjektpositionen zu interpretieren. Die öffentlichen Positionen der Minderheit finden sich längst in den Diskursen der Mehrheit. Diese miteinander verschränkten Positionen bilden die konstitutive Basis für die öffentliche Dimension von Integration. In einer Einwanderungsgesellschaft sind Migranten niemals nur „Gegenstand“ der Integration, sondern sie sind auch – wie das Beispiel der türkischen Migrantenverbände in den deutschen Medien zeigt – konstitutiver Bestandteil einer sich selbst beobachtenden Gesellschaft.
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Ta be lle n
Tabelle 1: Arenen der Konstruktion symbolischer Grenzen ....................................19 Tabelle 2: Das Assimilationsmodell (nach Esser 1980: 221 sowie 231)..................57 Tabelle 3: Typologie der Beziehungen (trans-)nationaler Inklusionsbedingungen ...................................................................................118 Tabelle 4: Nennung der Dachverbände TG-D, TG-Berlin und TBB insgesamt im Zeitraum 1995-2004 pro Artikel (N=811)......................................................143 Tabelle 5: Relative Häufigkeit der TG-Berlin und TBB pro Jahr (Angaben in Prozent)...........................................................................................................145 Tabelle 6: Verteilung der TG-D, TG-Berlin und des TBB pro Jahr (Angaben in Prozent)...........................................................................................................146 Tabelle 7: Verteilung der Artikel pro Zeitungen (Angaben in Prozent).................147 Tabelle 8: Verteilung der drei Dachverbände pro Zeitung (Angaben in Prozent)......................................................................................148 Tabelle 9: Verteilung der Artikelanzahl der Zeitungen pro Jahr (Angaben in Prozent)......................................................................................149 Tabelle 10: Forderungen, Kritiken und Kommentare insgesamt (TBB und TG-D, 1995-2004, Summe absolut, N=911)..............................................................152
253
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 11: Rahmungen zu Staatsbürgerschaft im jährlichen Verlauf (n=241) .....155 Tabelle 12: Staatsbürgerschaft: Forderungen und Kommentare (n=241) ..............155 Tabelle 13: Rahmungen zum „Islam“ im jährlichen Verlauf (n=203) ...................164 Tabelle 14: Islam: Forderungen und Kommentare (n=absolute Werte).................165 Tabelle 15: Integrationsrahmungen im jährlichen Verlauf (N=200)......................176 Tabelle 16: Ego-Alter-Relation der theoretischen Konzepte und der migrationspolitischen Diskurse im Vergleich ................................................222 Tabelle 17: Formal-inhaltliche Vorkodierung, absolut und in Prozent (N=1314; 100 %) ............................................................................................257 Tabelle 18: Verteilung der Artikel pro Jahr und Zeitungen ...................................257 Tabelle 19: Artikel pro Jahr und Verband insgesamt .............................................258 Tabelle 20: taz-Artikel pro Verband.......................................................................258 Tabelle 21: SZ-Artikel pro Verband.......................................................................259 Tabelle 22: FAZ-Artikel pro Verband ....................................................................259 Tabelle 23: WELT-Artikel pro Verband (n=72) ....................................................260 Tabelle 24: Eingebürgerte frühere türkische Staatsangehörige 1990 bis 2004 ......260
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Ab k ürz unge n
Verbände: TG-D = Türkische Gemeinde in Deutschland e.V. TBB = Türkischer Bund Berlin-Brandenburg e.V. TG-B = Türkische Gemeinde in Berlin e.V.
Zeitungen: FAZ = Frankfurter Allgemeine Zeitung SZ = Süddeutsche Zeitung taz = die tageszeitung WELT = Die Welt
255
An ha ng
Tabelle 17: Formal-inhaltliche Vorkodierung, absolut und in Prozent (N=1314; 100 %) Forderungen
Kommentare
325 247 572 44
223 160 383 29
TBB TGD Summe %
Performative Akte 139 51 190 14
Aussagen von Anderen 72 97 169 13
(ohne TG-B)
Tabelle 18: Verteilung der Artikel pro Jahr und Zeitungen Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Summe
taz 30 37 47 66 93 41 59 62 43 70 548
SZ 7 7 10 4 17 7 10 4 3 10 79
FAZ 10 7 6 13 26 15 15 5 1 14 112
Welt 0 0 0 0 29 0 0 0 14 29 72
Summe 47 51 63 83 165 63 84 71 61 123 811
257
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 19: Artikel pro Jahr und Verband insgesamt Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Summe
TBB 22 20 25 53 97 34 55 38 36 51 432
TG-D 12 17 31 21 48 23 27 30 15 65 289
TG-B 13 14 7 10 20 6 2 2 10 7 91
Summe 47 51 63 84 165 63 84 71 61 123 811
TG-B 8 11 7 8 10 2 1 1 7 5 60
Summe 30 37 47 66 93 41 59 62 43 70 548
Tabelle 20: taz-Artikel pro Verband Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Summe
258
TBB 19 15 22 44 58 22 39 34 24 37 314
TG-D 3 11 18 14 25 17 19 27 12 28 174
ANHANG
Tabelle 21: SZ-Artikel pro Verband Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Summe
TBB 1 2 2 2 8 3 7 2 1 1 29
TG-D 4 5 8 2 7 4 2 2 2 8 44
TG-B 2 0 0 0 2 0 1 0 0 1 6
Summe 7 7 10 4 17 7 10 4 3 10 79
TG-B 3 3 0 2 4 4 0 1 0 0 17
Summe 10 7 6 13 26 15 15 5 1 14 112
Tabelle 22: FAZ-Artikel pro Verband Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Summe
TBB 2 3 1 7 11 9 9 3 1 1 47
TG-D 5 1 5 4 11 2 6 1 0 13 48
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DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Tabelle 23: WELT-Artikel pro Verband (n=72) Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Summe
TBB 0 0 0 0 20 0 0 0 10 12 42
TG-D 0 0 0 0 5 0 0 0 1 16 22
TG-B 0 0 0 0 4 0 0 0 3 1 8
Summe 0 0 0 0 29 0 0 0 14 29 72
Tabelle 24: Eingebürgerte frühere türkische Staatsangehörige 1990 bis 2004* Jahr 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 a) 1998 a) 1999 a) 2000 b) 2001 b) 2002 b) 2003 b) 2004 b)
Insgesamt 2 034 3 529 7 377 12 915 19 590 31 578 46 294 40 396 56 994 100 324 82 861 76 573 64 631 56 244 44 465
*Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden - V I B - 175 – a)
Ohne Hamburg. Die Altersgliederung für diese Jahre: unter 16; 16 bis 18; 18 bis 23; 23 bis 35; 35 bis 45; 45 bis 60; 60 Jahre und älter. b)
260
Da nk sa gung
Mein ausdrücklicher Dank gebührt zuerst meinen beiden Betreuern: Prof. Dr. Bernhard Giesen und Prof. Dr. Klaus Eder. Nicht nur für die konstruktiven Anregungen und Kritiken habe ich zu danken, sondern auch für die stete Ermunterung zur wissenschaftlichen Neugier und Experimentierfreude. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass ohne sie die Arbeit niemals so entstanden wäre. Zahlreiche Personen und Einrichtungen haben zur weiteren Entstehung dieses Buches beigetragen. Das wissenschaftliche Forschungsprojekt an der Humboldt-Universität Berlin „Zur symbolischen Exklusion“, gefördert von der Volkswagen-Stiftung, stellte den Anfang der Fragestellung, den Kontext und die thematische Erfahrung für dieses Buch bereit. Meine Tätigkeit im kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg, SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer Integration“ an der Universität Konstanz, gefördert von der DFG, vertiefte das Interesse an Fragen zur kulturellen Integration. Die interdisziplinären Diskussionen und die Atmosphäre wissenschaftlicher Freiheit waren von außerordentlichem Wert. Allen voran sei hier dem Leiter des SFB 485 und des Exzellenzclusters 16 „Die kulturelle Dimension der Integration“, Prof. Dr. Rudolf Schlögl, gedankt. Nicht nur für die Unterstützung bei der Finanzierung dieses Bandes durch den SFB, sondern auch für die immer anregende und interdisziplinäre Forschungskultur, die mich zu einem Überzeugungstäter interdisziplinärer Forschung hat werden lassen. An dieser Stelle sei ebenso dem Geschäftsführer des Exzellenzclusters 16, Christopher Möllmann, für die überaus konstruktive und kollegiale Form bei der Organisation des Forschungsverbundes gedankt. Prof. Dr. Sven Reichardt war so freundlich, den Vorsitz des Rigorosums zu übernehmen. Nochmals herzlichen Dank für sein Engagement. Ebenso bin ich meiner Kollegin im SFB, der Historikerin Tina Heizmann, zu großen Dank verpflichtet. Die kritischen Kommentare und theoretischen
261
DIE ÖFFENTLICHE DIMENSION DER INTEGRATION
Diskussionen zum Thema Migration, und zwar nicht nur aus historischer Perspektive, hatten für dieses Buch sehr produktive Konsequenzen. Ein gleichermaßen herzlicher Dank gilt in diesem Rahmen Birgit zur Nieden von der FU Berlin. Vor allem ihre so maßgeblichen wie kritischen theoretischen Anregungen, von denen ich leider nicht alle letzlich umsetzen konnte, waren unentbehrlich. Für die stets so hilfsbereite wie verlässliche Unterstützung bei der Arbeit möchte ich mich auch bei den studentischen Mitarbeiterinnen des LSGiesen, namentlich jedoch vor allem Katharina Henrich, Yvonne Schwark, Jenny Seitz und Eva Biebel bedanken. Dies gilt auch für meine Kollegen: Kay Junge, Christoph Schneider, Daniel Suber, Mark Weishaupt, Gerold Gerber und Siegmar Papendick. Dieses „Team“ sorgte stets für eine äußerst angenehme und anregende Arbeitsatmosphäre. Mein allergrößter Dank gilt jedoch Franka Schneider von der HumboldtUniversität Berlin. Sie hat die Arbeit nicht nur kritisch und konstruktiv immer wieder kommentiert, sondern auch den Entstehungssprozess, mit allen Höhen und Tiefen, emotional begleitet. Ihr gilt mein tief empfundener Dank! Last but not least möchte ich mich ganz herzlich bei Albrecht Schäfer aus Berlin bedanken, der sich sofort bereit erklärte, eine Bildvorlage für den Schutzumschlag dieses Buches zu entwerfen. Ein ebenso allerherzlichster Dank geht an das Lektorat von Mirjam Müller aus Berlin und dem transcript Verlag in Bielefeld, nicht nur für das schöne Buch, sondern auch für die fortwährend freundliche und geduldige Betreuung.
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Kultur und soziale Praxis Valentin Rauer Die öffentliche Dimension der Integration Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland
Christian Berndt, Robert Pütz (Hg.) Kulturelle Geographien Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn
Dezember 2007, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-801-8
Oktober 2007, 384 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-724-0
Alexander Jungmann Jüdisches Leben in Berlin Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft
Constanze Pfeiffer Die Erfolgskontrolle der Entwicklungszusammenarbeit und ihre Realitäten Eine organisationssoziologische Studie zu Frauenrechtsprojekten in Afrika
November 2007, 594 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-811-7
Antje Gunsenheimer (Hg.) Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder interund transkultureller Kommunikation Oktober 2007, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-794-3
Tina Jerman (Hg.) Kunst verbindet Menschen Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel Oktober 2007, 264 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-862-9
Birgit Glorius Transnationale Perspektiven Eine Studie zur Migration zwischen Polen und Deutschland Oktober 2007, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-745-5
September 2007, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-771-4
Karsten Kumoll Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins September 2007, 432 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-786-8
Peter Kreuzer, Mirjam Weiberg Zwischen Bürgerkrieg und friedlicher Koexistenz Interethnische Konfliktbearbeitung in den Philippinen, Sri Lanka und Malaysia August 2007, 602 Seiten, kart., 40,80 €, ISBN: 978-3-89942-758-5
Katharina Zoll Stabile Gemeinschaften Transnationale Familien in der Weltgesellschaft August 2007, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-670-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Martin Baumann, Jörg Stolz (Hg.) Eine Schweiz – viele Religionen Risiken und Chancen des Zusammenlebens August 2007, 410 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-524-6
Daniel Münster Postkoloniale Traditionen Eine Ethnografie über Dorf, Kaste und Ritual in Südindien Juli 2007, 250 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-538-3
TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) Turbulente Ränder Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas (2. Auflage) Mai 2007, 252 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-781-3
Dieter Haller Lone Star Texas Ethnographische Notizen aus einem unbekannten Land Mai 2007, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-696-0
Reinhard Johler, Ansgar Thiel, Josef Schmid, Rainer Treptow (Hg.) Europa und seine Fremden Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung
Magdalena Nowicka (Hg.) Von Polen nach Deutschland und zurück Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa
Juli 2007, 216 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-368-6
Mai 2007, 312 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-605-2
Ulrike Joras Companies in Peace Processes A Guatemalan Case Study
Pascal Goeke Transnationale Migrationen Post-jugoslawische Biografien in der Weltgesellschaft
Juni 2007, 310 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-690-8
März 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-665-6
Klaus Müller-Richter, Ramona Uritescu-Lombard (Hg.) Imaginäre Topografien Migration und Verortung
Halit Öztürk Wege zur Integration Lebenswelten muslimischer Jugendlicher in Deutschland
Mai 2007, 244 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-594-9
März 2007, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-669-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Elias Jammal, Ulrike Schwegler Interkulturelle Kompetenz im Umgang mit arabischen Geschäftspartnern Ein Trainingsprogramm Februar 2007, 210 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-644-1
Holger Michael Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz? Eine ethnographischvergleichende Studie dörflicher Gemeinschaften an der Atlantik- und Pazifikküste Nicaraguas Februar 2007, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-602-1
Corinne Neudorfer Meet the Akha – help the Akha? Minderheiten, Tourismus und Entwicklung in Laos Februar 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-639-7
María do Mar Castro Varela Unzeitgemäße Utopien Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung Januar 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-496-6
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