Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland: Diskurse - Entwicklungen - Perspektiven [1. Aufl.] 9783839418536

Das Freie Theater hat in den vergangenen 20 Jahren eine rasante Entwicklung genommen: vom Hinterhof der Stadttheater zu

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German Pages 234 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
A. DIE FREIE DARSTELLENDE KUNST IM GESELLSCHAFTLICHEN DISKURS
Suggestiv wie Sowjetpropaganda. Selbstermächtigung, Kunst, Fiktion und Eigentum
Wuppertal ist überall! Die kulturpolitische Krise der Dramatischen Künste offenbart Reformbedarfe in der deutschen Theaterlandschaft
Stadt und Theater – zum Wandel einer Beziehung
Kommunale Kulturpolitik aus Sicht eines Freien Theaterschaffenden
Im Dickicht der Netzestadt. Anmerkungen zum Diskurs der Kreativwirtschaft
Eine Politik für die Kunst
B. DAS FREIE THEATER AUF DEM WEG
Freies Theater! Eine Innenansicht
Die »problematischen Ausländer« und das Theater
Freie Theaterkünstler als Global Player
Hildesheimer Freischwimmer auf dem Sprung in die Professionalität der Freien Szene. Über die künstlerische und strukturelle Förderung junger Theatermacher_innen
FreiRäume der Zukunft. Freie Darstellende Künste und ihre Orte
Förderstrukturen in Deutschland – überholt oder zeitgemäß?
C. 20 JAHRE FREIE DARSTELLENDE KÜNSTE – EIN BLICK AUF DIE GENRES
Theater ohne Grenzen. Die Entwicklung des Freien Figurentheaters
Für Hüpfbürger: Tanztheater nach dem Tanztheater
»Noch nie waren echte Menschen so preiswert!«. Beobachtungen mit Blick auf 20 Jahre Sprechtheater im Freien Theater Berlins
Stets auf der Suche nach neuen Spielformen und nah an ihrem Publikum. Zur Entwicklung der Freien Kinder- und Jugendtheater
Kulturelle Bildung und die Freien Darstellenden Künste. Plädoyer für einen Perspektivwechsel der Akteure
Theater als Fest. Theater im öffentlichen Raum als alte und neue massenwirksame Kunstform
Vom Bestellen lokaler Klangfelder. Freies Musiktheater im deutschsprachigen Raum
»Warten Sie nicht auf das Theater!«. Notizen aus der Ungewissheitszone
D. DAS FREIE THEATER UND SEINE STRUKTUREN
Von den Anfängen des Bundesverbandes Freier Theater bis heute. ersuch einer Rekonstruktion
E. SERVICETEIL
Autorinnen und Autoren
Ergänztes Literaturverzeichnis
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Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland: Diskurse - Entwicklungen - Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839418536

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Herausgegeben von Eckhard Mittelstädt und Alexander Pinto für den Bundesverband Freier Theater e. V. Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland

Theater | Band 41

Herausgegeben von Eckhard Mittelstädt und Alexander Pinto für den Bundesverband Freier Theater e. V.

Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven

Diese Publikation entstand im Rahmen des Projekts »Erster Bundeskongress der Freien Darstellenden Künstler in Deutschland« (2010) des Bundesverbandes Freier Theater e.V. und wurde gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Economy Death Match« (2010) von kainkollektiv/ sputnic; im Rahmen des Projektes »Stadt ohne Geld« am Schauspiel Dortmund, Foto: © Jennifer Bunzeck. Redaktion: Eckhard Mittelstädt und Alexander Pinto Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Reem Kadhum Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1853-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

A.  DIE FREIE DARSTELLENDE KUNST IM GESELLSCHAFTLICHEN D ISKURS Suggestiv wie Sowjetpropaganda 

Selbstermächtigung, Kunst, Fiktion und Eigentum Andreas Fanizadeh | 13 Wuppertal ist überall! 

Die kulturpolitische Krise der Dramatischen Künste offenbart Reformbedarfe in der deutschen Theaterlandschaft Wolfgang Schneider | 21 Stadt und Theater – zum Wandel einer Beziehung

Alexander Pinto | 33

Kommunale Kulturpolitik aus Sicht eines Freien Theaterschaffenden

Alexander Opitz | 45 Im Dickicht der Netzestadt 

Anmerkungen zum Diskurs der Kreativwirtschaft kainkollektiv | 51 Eine Politik für die Kunst 

Iris Laufenberg | 67



B. DAS FREIE THEATER AUF DEM WEG Freies Theater!

Eine Innenansicht Martin Huber | 77



Die »problematischen Ausländer« und das Theater

Eva-Maria Stüting und Branko Šimic | 83

Freie Theaterkünstler als Global Player 

Michael Freundt | 91 Hildesheimer Freischwimmer auf dem Sprung in die Professionalität der Freien Szene 

Über die künstlerische und strukturelle Förderung junger Theatermacher_innen Melanie Hinz | 97 FreiRäume der Zukunft 

Freie Darstellende Künste und ihre Orte Jan Deck | 111 Förderstrukturen in Deutschland – überholt oder zeitgemäß? 

Caroline Sassmannshausen | 123

C. 20 J AHRE F REIE DARSTELLENDE KÜNSTE – EIN B LICK AUF DIE GENRES Theater ohne Grenzen 

Die Entwicklung des Freien Figurentheaters Ute Kahmann | 143 Für Hüpfbürger: Tanztheater nach dem Tanztheater 

Arnd Wesemann | 151 »Noch nie waren echte Menschen so preiswert!« 

Beobachtungen mit Blick auf 20 Jahre Sprechtheater im Freien Theater Berlins Nina Peters | 157 Stets auf der Suche nach neuen Spielformen und nah an ihrem Publikum

Zur Entwicklung der Freien Kinder- und Jugendtheater Manfred Jahnke | 163 Kulturelle Bildung und die Freien Darstellenden Künste 

Plädoyer für einen Perspektivwechsel der Akteure Eckhard Mittelstädt | 169 Theater als Fest

Theater im öffentlichen Raum als alte und neue massenwirksame Kunstform Gabriele Koch | 177

Vom Bestellen lokaler Klangfelder

Freies Musiktheater im deutschsprachigen Raum Hans-Jörg Kapp | 183 »Warten Sie nicht auf das Theater!« 

Notizen aus der Ungewissheitszone Esther Boldt | 195

D. DAS FREIE THEATER UND SEINE STRUKTUREN Von den Anfängen des Bundesverbandes Freier Theater bis heute 

Versuch einer Rekonstruktion Martin Heering | 207

E. S ERVICETEIL Autorinnen und Autoren | 221 Ergänztes Literaturverzeichnis | 227

Vorwort

Im Dezember 2010 feierte der Bundesverband Freier Theater sein 20-jähriges Bestehen, in dem er über 300 freie Theaterschaffende aus dem In- und Ausland zu seinem Ersten Bundeskongress Freies Theater der Zukunft nach Stuttgart einlud. An drei Tagen wurde im Theaterhaus Stuttgart engagiert und kontrovers über die aktuelle Situation der darstellenden Künste und der Theaterschaffenden in Deutschland diskutiert. Deutlich wurde, dass unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen und den daraus resultierenden veränderten Bedingungen für das Theater in Deutschland das Freie Theater nicht länger als Hinterhof der Stadt- und Staatstheater betrachtet werden kann. Dass diese Erkenntnis nicht mehr nur der subjektiven Wahrnehmung der Freien Szene entspringt, zeigte sich nicht nur in der gestiegenen Wertschätzung beispielsweise durch den Deutschen Bundestag (Abschlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland 2007) und durch den Bundespräsidenten (Empfang 2009), sondern vor allem in den Initiativen einzelner Kommunen, Bundesländer und des Bundes, die Förderung des Freien Theaters zu verbessern. Dazu zählt unter anderem auch, dass der Staatsminister für Kultur und Medien ebenso wie das Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg den Ersten Bundeskongress der Freien Theater finanziell erst ermöglichten. Zugleich stellen die verbesserten Förderbedingungen, die mit Blick auf die prekäre soziale, wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Situation freier Theaterschaffender nur ein Anfang in der grundlegenden Verbesserung der gesamten Rahmenbedingungen sein können, neue Anforderungen und Verantwortlichkeiten auch an das Freie Theater. So wird vor dem Hintergrund der kommunalen Haushaltsdefizite der Verteilungskampf mit den Stadttheatern um die knappen Ressourcen schärfer. Ob ein solcher Verteilungskampf der darstellenden Kunst in Deutschland zuträglich ist und wie er zu führen ist oder ob es anderer Formen der Auseinandersetzung bedarf, sind Fragen, die das Freie Theater in näherer Zukunft beantworten muss. Vor allem aber muss das Freie Theater – will es

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nicht nur künstlerisch und strukturell wertgeschätzt, sondern auch als relevante Theaterform gesamtgesellschaftlich anerkannt werden – Positionen entwickeln, die über die Forderungen zur Verbesserung der eigenen unmittelbaren Arbeitsund Lebenswelt hinausreichen: Kultur- und Kreativwirtschaft, demografischer Wandel, Metropolisierung, Migration und Mobilität sind nur einige wenige Stichworte für zu führende Diskussionen. An diesen Themen wird sich unseres Erachtens zukünftig nicht nur der so gern proklamierte Avantgardismus des Freien Theaters zeigen, sondern die gesellschaftliche Relevanz der darstellenden Kunst insgesamt entscheiden. Mit dieser Intention haben wir innerhalb, aber auch außerhalb der Szene nach Positionen gesucht, die gleichsam als weiterführende Impulse für diese notwendigen Debatten betrachtet werden können. Die vorliegende Publikation versammelt in den ersten beiden Abschnitten Beiträge von Theaterschaffenden sowie des Kulturjournalisten Andreas Fanizadeh, des Kulturpolitikprofessors Wolfgang Schneider und der ehemaligen Leiterin des Berliner Theatertreffens Iris Laufenberg. Im zweiten Teil des Buches wird die Entwicklung der einzelnen Genres in den vergangenen 20 Jahren nachgezeichnet. Natürlich handelt es sich hier um sehr subjektive und zum Teil lokal fokussierte Blicke. Jedes dieser Genres hätte die Würdigung in einer eigenen Publikation verdient, gleichwohl erschien uns ein Buch über das Freie Theater und seine Entwicklung in den vergangenen Jahren ohne den Versuch der Darstellung seiner vielfältigen Ausprägungen unvollständig. Der letzte Teil ist zum einen dem Rückblick auf die 20jährige wechselvolle Geschichte des Bundesverbandes gewidmet und zum anderen der Information zu weiterführenden Quellen und zu den Autorinnen und Autoren dieses Buches vorbehalten. Und um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Publikation versteht sich als diskussionswürdige Standortbestimmung des Freien Theaters in Deutschland. Als nicht mehr, aber auch als nicht weniger. Danken möchten wir an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren für die Beiträge, dem Vorstand des Bundesverbandes für die geduldige Begleitung der Arbeit an diesem Band und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die finanzielle Unterstützung der Publikation.

Eckhard Mittelstädt und Alexander Pinto Hannover und Hamburg im Juli 2012

A.

Die Freie Darstellende Kunst im gesellschaftlichen Diskurs

Suggestiv wie Sowjetpropaganda Selbstermächtigung, Kunst, Fiktion und Eigentum A NDREAS F ANIZADEH

E IN W ITZ MIT G ODARD In der FAZ vom Freitag, 3. Dezember habe ich einen bemerkenswerten Text gelesen, von Daniel Cohn-Bendit, der ja auch hin und wieder für die taz schreibt. Cohn-Bendit spricht in dem Text über seine Beziehung zu dem Filmemacher Jean-Luc Godard, der im Dezember 2010 achtzig Jahre alt geworden ist. Er erinnert sich: »Im Sommer 1968 lernte ich in Italien einen Produzenten kennen, der mich fragte, ob ich nicht einen Film drehen wollte. Damals glaubte man ja, jeder könne Filme machen. Ich sagte: ›Ja klar. Ich möchte mit Jean-Luc Godard einen Western drehen.‹ Das war natürlich ein Witz. Aber irgendjemand hat das Godard erzählt, und der meinte: ›Selbstverständlich will ich keinen Western machen! – Aber warum nicht.‹ So haben wir uns im September 1968 in Rom für die Dreharbeiten unseres Westerns ›Vent d'est‹ (Ostwind) wiedergetroffen. Eine völlig verrückte Sache. Ich war vierundzwanzig, Jean-Luc an die vierzig. Alles wurde in Vollversammlungen diskutiert, morgens trafen wir uns und haben über das Kino, seine Bedeutung und den Sinn des Ganzen geredet, und irgendwann wurde auch gedreht. Manchmal sind wir Jüngeren an den Strand gefahren und haben dort geschlafen. Godard hat das fasziniert, aber er ist ins Hotel gegangen. Unsere politischen Ideen interessierten ihn nicht, er war ja Maoist. Aber unsere Lebensweise, die interessierte ihn sehr.« (CohnBendit 2010)

Godard und Cohn-Bendit drehten dann tatsächlich einen Western, der 1969 fertig gestellt wurde. »Damals glaubte man ja, jeder könne Filme machen«, sagt Cohn-Bendit in seiner Erinnerung. Er spricht von der Selbstermächtigung des

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»genialen Dilettanten«, einer Figur, die ganz wesentlich und mit 1968 sämtliche Kulturbereiche des Westens revolutionierte und für die Kulturproduktion, so wie wir sie heute kennen, von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Sie ist auch Voraussetzung für das, was wir Popkultur nennen, und die hat die alte Hochkultur, und das, was davon im heutigen Theater noch vorfindbar ist, sehr stark beeinflusst. Die hohe Kulturproduktion – ob Theater, Film, Kunst, Musik oder Literatur – mag seit den 1960er/1970er Jahren zwar immer noch eine Angelegenheit eher privilegierter Menschen sein, hat sich aber vergleichsweise liberalisiert und neuen Schichten geöffnet. Alle Theater von Rang arbeiten heute mit dem einen oder anderen Quereinsteiger, kreativen Außenseitern sowie anderen künstlerischen Medien wie Film, Malerei oder Popkultur. Viele haben auch ihren elitären Habitus abgelegt und verstehen sich nicht mehr als Vertretung einer privilegierten Schicht. Das kann man in Städten wie Berlin sehr deutlich an zerlöcherter Kleideretikette und relativ günstigen Eintrittspreisen ablesen. Die Cohn-Bendit‫ތ‬sche Erzählung von 1968 von der größenwahnsinnigen Selbstermächtigung des Studenten, der Godard kennenlernte, erinnert an den historischen Moment des demokratischen Aufbruchs. Als vieles noch keineswegs selbstverständlich war und vieles es bis heute ja auch nicht ist. Beim Berliner Theatertreffen 2011 kamen erstmals mehr als zehn Prozent der eingeladenen Inszenierungen von Regie führenden Frauen. Doch Cohn-Bendit sprach mit diesem »damals glaubte man ja, jeder könne Filme machen« noch etwas anderes an. In der Bemerkung schwingt die Erkenntnis mit, dass es neben der demokratischen Lockerung, also der breiten Zugänglichkeit zu Möglichkeiten und Chancen, auch qualitative Kriterien zur Bewertung künstlerischer Arbeit gibt. Der blanke Voluntarismus des Individuums allein macht noch keine avantgardistische Position.

E TWAS E RNST

MIT

H EGEMANN

Machen wir einen kleinen Zeitsprung und kehren in die Gegenwart zurück. »Wenn Du nicht mehr mit mir ficken willst, ist das völlig in Ordnung.« Erinnern Sie sich an diese Sprache, die Anfang des Jahres das Feuilleton in Wallung versetzte? »Ist das die Kotze eines Wildfremden, ist das meine Kotze?« Es sind Sätze aus »Axolotl Roadkill«, dem Buch der 1992 geborenen Helene Hegemann. Der frühere taz-Redakteur Tobias Rapp verfasste dazu Anfang 2010 im Spiegel die Laudatio. »Nun also hat das Wunderkind der Berliner Boheme einen Roman

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geschrieben«, schrieb er und lieferte eine der Folien – vielleicht »die« Folie – für die Rezeption des Hegemann‫ތ‬schen Werkes.2 »Helene ist«, so Rapp, »die Tochter von Carl Hegemann, dem legendären ehemaligen Chefdramaturgen der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo seit 1992 unter dem Intendanten Frank Castorf all die Strategien ausgeheckt wurden, wie man einem Stadttheater neue Relevanz geben kann. Sie haben die Türen weit aufgerissen, das Haus für den Stadtteil geöffnet, die Subkulturen und den Pop hereingelassen.« (Rapp 2010)

Dank Rapps und anderer Zeilen wurde so aus dem Tagebuch eines leicht überdrehten Mädchens, dass sich mit dem Erwachsenwerden, der Großstadt, dem Vater und dem Tod der Mutter auseinandersetzte, ein ganz außerordentliches öffentliches Bohemestück, inszeniert im auratischen Zusammenhang der Berliner Volksbühne. Man könnte auch behaupten, dass die Selbstermächtigung der jungen Frau als Autorin organisch mit patriarchal ererbten und angeeigneten Privilegien koexistierte. Doch komischerweise sprach schon Ende 2010 von dem sich 100.000-fach verkaufenden Bestseller des Volksbühnen-»Wunderkinds« von den Lautsprechern des Feuilletons niemand mehr. Kritiker wie der Bühnenautor Maxim Biller hatten in der Frankfurter Allgemeinen im Januar 2010 noch in Superlativen geurteilt: »Hegemann schreibt ein Deutsch, das es noch nie gab: suggestiv wie Sowjetpropaganda, himmlisch rhythmisch, zu Hause in der Hoch- und Straßensprache und so verführerisch individuell, dass ab morgen bestimmt hundert andere deutsche Schriftsteller – manche sogar gegen ihren Willen – den Hegemann-Sound nachmachen und dabei natürlich absolut scheitern werden.«

Natürlich. Vor allem wohl Scheitern. In der Rubrik »Roman des Jahres« der Jahrescharts der Frankfurter Allgemeinen Ende 2010 ließ Biller jedoch dann einfach eine Leerstelle. Kein Roman des Jahres, kein »Axolotl Roadkill«, rein gar nichts. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Hegemanns Selbstermächtigungs/ Selbsterfindungs-Stück, im Januar laut Biller noch »große, unvergessliche Literatur«, war zehn Monate später schon einfach wieder verschwunden. Was war mit dem »Axolotl-Roadkill« passiert? Es kam unter das Airen-Ding. »Wir sagen gar nichts. Er nimmt mich in den Arm und wir küssen uns [...]. Sein Schwanz ist ziemlich dünn, fast drahtig und schmeckt männlich und herb.« So schrieb der anonyme Blogger Airen über seine homosexuellen Erfahrungen und die Nachtszene. Sein Buch heißt »Strobo«. Und

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es war lange vor Hegemanns in einem kleinen Berliner Verlag erschienen. Nachdem sie es erst abstritt, musste Hegemann schließlich – der Fall KarlTheodor zu Guttenberg war noch nicht bekannt – zugeben, dass sie unter anderen von den Erlebnissen des Airen einfach abgeschrieben hat. Im Unterschied zu Hegemann, man ist fast froh über die doch etwas junge Frau, hat Airen wohl tatsächlich die Exzesse erlebt, von denen er literarisch berichtet. Und das tut er als Autor im Übrigen gar nicht mal so übel, man ist fast geneigt zu sagen: mit der Distanz des selbstreflexiven Autors. Doch Airen taugt natürlich nicht zum »Wunderkind der Boheme«. Er ist nur ein namenloser, technoider Outlaw; wie seiner Schrift deutlich zu entnehmen ist, egalitär orientiert, wenig ehrgeizig und ein Fatalist, der wie Tausende andere junge Leute seine noch ziellose Existenz mit Drogen und queren Beziehungen veredelt – ohne dabei auf den Gedanken zu kommen, dass ihm für solches am Ende eine Karriere im Kulturbetrieb winken könnte. Er wüsste sich dort wohl auch gar nicht zu bewegen. In »Strobo« erzählt Airen von relativ uncoolen Erlebnissen, in Unterhosen und Handschellen auf dem Parkplatz, ohne (berühmte) elterliche Mentoren, die ihn auch gar nicht interessieren. Stattdessen: unheroische Tage im Knast, kleine Beobachtungen des Alltags. Airens existenzialistische Haltung hat viel mit Verweigerung und subkultureller Neugierde zu tun, ein durchaus lesenswertes nihilistisches Dokument, wenn auch der Autor klein und der Verlag unbedeutend scheinen.

D OKUMENT

UND

F IKTION

Um Texte zu schreddern, wie die junge Hegemann es tat, müssen sie erst mal von jemanden geschrieben sein, und vieles kann man nicht so einfach erfinden (bzw. fiktionalisieren), ohne über eine eigene – dokumentarisch recherchierte oder selbst erlebte – Folie zu verfügen. Ob in Doktorarbeiten, Literatur oder Theatertexten: Zumindest die Quellen und Urheber sollte man schon angeben, sofern man sich in der Montage an den Werken anderer bedient. Es liegt nur ein schmaler Grad zwischen antiautoritärer Selbstermächtigung und willkürlicher Aneignung, zumal in diesem Falle aus einer deutlich privilegierten Position. Die Auseinandersetzung Hegemann-Airen kann man auch als eine von staatlich gepäppelter Boheme versus freiberuflicher Loser verstehen. Entsprechend heftig wurde sie zwischen Gegnern und Befürwortern des Wunderkinds geführt. Anders als beim Fall zu Guttenberg, wo kaum jemand aus dem linken Kulturmilieu Verständnis für die avancierte Technik des Plagiators äußerte. Heute sucht man im Fall Hegemann wohl Trost durch Vergessen.

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Doch beim Streit um Airen und Hegemann ging es nicht nur um etabliert gegen unetabliert. Neben aktuellen Hierarchiepraktiken und Verteilungskämpfen ging es auch um den Begriff von Radikalität im heutigen Sprechen und im Theater. Vieles dreht sich hierbei um schablonenhafte Kategorien wie »echt«/»unecht«, authentisch/nichtauthentisch, Dokument und Fiktion, also um das, was wir als eine adäquate künstlerische Bearbeitung von gesellschaftlicher Wirklichkeit (Wahrheit!) begreifen könnten. Zur Debatte stehen künstlerische Haltungen, deren Pole man methodisch rabiat an zwei Beispielen herauspolieren könnte und die in ihrer künstlerischen Ausschließlichkeit vielleicht weitaus weniger radikal sind als dies manche glauben: Da wäre einmal eine häufig ins selbstreferentielle neigende Kunstsprache, wie sie etwa der kleinere Hausherr der Volksbühne, Rene Pollesch, sehr routiniert pflegt und praktiziert. Und im Gegensatz dazu vielleicht der spröde Hyperrealismus der landauf, landab inszenierenden Rimini-Protokolle. Rimini Protokoll propagiert einen dokumentarischen Wahrheitsbegriff, den viele als Ausrede für eine mangelnde Fiktionalisierung oder künstlerische Durchdringung der Themen und Stoffe verstehen. Vielen Theatern dienen sie als Beleg, man würde sich auch um das Politische kümmern. Dabei ist dokumentarisches Theater, wie es sich Rimini Protokoll vorstellt, zumeist reduziert auf die Zentralinstanz einer sehr unmittelbar gedachten, gesellschaftlichen oder politischen Aufklärung, die mittels Abbildung »der« Wirklichkeit in den Kunstraum drängt. Rimini schafft dabei leider nebenher das Theater ab, nicht aber die Wirklichkeit, und das ist das Problem: Wenn diese alleine übrig bleibt, wird es ziemlich öde. Rimini ist vor allem eine große Ausrede für die Abwesenheit des Politischen im heutigen Theater. Rene Pollesch, der Kunstmensch, hingegen schöpft sein Material aus Kunstund Abstraktionssprachen verschiedener Medien und Disziplinen. Er bedient sich der Wirklichkeit aus den Archivbeständen der Fiktionen und addiert dazu als einzige noch vorhandene Wirklichkeit die seine und die seiner Künstlermitarbeiter hinzu. Das ist teilweise sehr lustig, kreist aber um die eigene Vorstellung von Subjektivität und überhöht diese systematisch. Das radikale Schreddern von Theorietexten, Samplen von alten Film- und Musikmaterialien ist musisch/ künstlerisch gesehen mitunter sehr unterhaltsam und amüsant. Nur als Gesellschaftskritik ist die Negation von Alltagssprache wirklich nicht sehr brisant, ebenso wenig die routinierte Wiederholung der einmal einstudierten Methode. Methodisch neigt Pollesch eher zu Hegemann, Airen aber nicht zu Rimini. Das Spiel mit Vergleichen hat also hier seine Grenzen.

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E IN W ITZ MIT M ARTHALER Offenkundig ist, dass im Theater sehr gekonnt mit Verkrustungen jongliert wird und sie allenthalben ausgesessen werden. Wer drinnen ist, bleibt drinnen, wer draußen ist, bleibt draußen – und die Freien werden geschröpft und miserabel bezahlt. Was gestern noch zur Selbstermächtigung und Befreiung taugte, kann wenig später selbst schon Teil des Problems und nicht der Lösung sein. Solange soziale und ästhetische Debatten getrennt marschieren, dürfte sich daran wenig ändern. Aus den Institutionen und der Politik ist nichts zu erwarten. In Städten wie Berlin behilft man sich über den Luxus, so man den einen Intendanten schon nicht loswird, geht man halt zum nächsten, der noch frischer ist. Und geht auch das nicht, dann gründet man eben eine eigene Bühne, um wie das BallhausNaunynstraße sein Postmigrationstheater zu etablieren, allerdings auf die Gefahr hin, die eigene Ghettoisierung zu betreiben. In den 1990er Jahren kam die letzte große Innovation im Theaterbereich durch die Öffnung der Bühnen hin zur Popkultur, deren oftmals noch von Punk, Hiphop oder Techno beeinflussten Protagonisten – neue Medien inbegriffen. Doch auch das hat sich mittlerweile temporär vernutzt. Und nur wenige können heute wie Christoph Marthaler Volks- oder Hochkultur, Tanz- oder Sprechtechniken so miteinander vermixen, dass das Musische und Analytische auf höherer Ebene zusammenkommt – und das Gespenst vom auratischen Künstlergenie dabei im Keller bleibt. Von einer egalitären Marthaler-Haltung sind die meisten der Bühnen aber heute meilenweit entfernt. Und wahrscheinlich bräuchte es mehr als die Anrufung eines frechen jungen Mannes, der in Cohn-Bendit 1968 mit Godard ein kleines Stück gemeinsamen Weges ging. Wer wird, wer will als nächstes die gepflegte Langeweile unserer so einmaligen und aufgeklärten deutschen Theaterwelt stören? Wer die kleinen korrekten Streber etwas verstören oder den fixen Fledderern ihr eingebildetes Genie austreiben?

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L ITERATUR Biller, Maxim (2010): »Glauben, lieben, hassen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.01.2010). Cohn-Bendit, Daniel (2010): »Mein Freund Godard«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (03.12.2010), aufgezeichnet von Verena Lueken. Rapp, Tobias (2010):»Das Wunderkind der Boheme«, in: Der Spiegel (3/2010). Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 09.12.2010 im Rahmen des Ersten Kongresses der Freien Theater im Theaterhaus Stuttgart gehalten hat.

Wuppertal ist überall! Die kulturpolitische Krise der Dramatischen Künste offenbart Reformbedarfe in der deutschen Theaterlandschaft WOLFGANG SCHNEIDER

Eigentlich ist in den letzten Jahren schon alles gesagt worden. Es gilt allerdings komprimiert darzustellen, was die teilnehmende Beobachtung an der Theaterlandschaft in Deutschland an Auffälligkeiten zu Tage fördert – in Bezug auf Strukturen und kulturpolitische Rahmenbedingungen. Es gilt, den Diskurs zuzuspitzen, um Freies Theater und Stadttheater, um Forderungen und Förderungen, um Ensemble und Repertoire, um die Zukunftsfähigkeit des Theatersystems durch Veränderungen zu sichern.

KULTUR IN DER KRISE Alle kennen die diversen Debatten, und es wäre müßig, sie alle aufzuzählen. Aber wenn man sieht, wie existenziell die derzeitigen Diskurse um Theater geführt werden, denen sich vor allem die Kommunalpolitik in den verschiedenen Städten zu stellen hat, dann ist es geboten zu sagen: Es muss sich endlich etwas ändern! Denn vor fünf Jahren gab es auch schon eine Krise, genauso wie vor zehn Jahren und vor fünfzehn Jahren. In den Städten und Gemeinden ist die Krise der Kulturpolitik evidenter denn je. Das Beispiel des Jahres 2010 ist die Stadt Wuppertal. Überlegungen zur Haushaltskonsolidierung betrafen insbesondere den städtischen Theaterbetrieb, dessen Haushalt von sechs um zwei Millionen Euro gekürzt werden sollte. Unter den gegebenen Bedingungen hätte man das Haus schließen müssen. Erlaubt sei aber die Frage: Kann man nicht auch mit vier Millionen Euro Theater machen? Man könnte noch grundsätzlicher fragen:

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Braucht Wuppertal ein Theater? Selbst die bürgerliche Presse hat hierzu dezidiert Stellung bezogen. Zum ersten Mal lesen wir in einem deutschen Feuilleton die Infragestellung einer Institution, nämlich ob Flensburg ein Opernhaus braucht (Richter 2010). Das ist in dieser dezidierten Weise bisher noch nicht im Kulturteil großer Zeitungen diskutiert worden. Außerdem wird es hier eben nicht in einzelnen Beiträgen verhandelt, sondern in einem Dossier der Wochenzeitung Die Zeit, die eher die Hochkultur pflegt. Die Wirtschaftswoche beginnt natürlicherweise, das Theatergeschäft ökonomisch zu rechnen. Andere, wie der Bonner Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch, haben die Idee der Arbeitsteilung. Die Oper kann man sich nicht mehr leisten, aber man will den Tanz fördern und deshalb wäre die Überlegung an der Rheinschiene: Oper in Köln und Tanz in Bonn. Das klingt erst einmal sehr verwegen, handelt es sich doch um den Verlust eines Opernhauses. Ist das eine Perspektive, eine kulturpolitische Möglichkeit, eine andere Theaterlandschaft in Deutschland zu gestalten? Zwei weitere Beispiele, aus dem Osten Deutschlands: In Gera muss man den Theaterhaushalt kürzen, und eine Lösung sei, den Betrieb zu kürzen, gewissermaßen nur noch halbtags zu spielen. Aber es kann doch nicht angehen, dass man weniger Theater macht und gewissermaßen dieses Weniger auch noch als Erfolg darstellt. Und es kann nicht angehen, dass ein traditionsreiches Kinder- und Jugendtheater wie das Thalia-Theater in Halle nur dadurch gerettet werden soll, dass alle aus dem Tarifvertrag aussteigen und sich bereit erklären, in den nächsten fünf Jahren 20 Prozent weniger an Gehalt zu verdienen. Auf dem Rücken der Künstler wird Kulturpolitik gemacht, obwohl man denen als den wesentlichen Akteuren des Theaters den Rücken stärken müsste. Das ist die Ausgangssituation. Und deshalb ist meine These: Wenn wir uns als Kulturstaat tatsächlich in einer Krise befinden, dann handelt es sich dabei doch eher um eine Krise der Finanzierung, konkret um die Einnahmeverluste der Kommunen. Ursprung ist zum Teil eine verfehlte Bundespolitik und sind verfehlte Landespolitiken, die dazu beitragen, dass die Kommunen weniger Geld zur Verfügung haben und immer mehr Aufträge trotz Konnexitätsprinzips erteilt bekommen. Wenn in der Sozialpolitik der Betreuung Unterdreijähriger eine institutionelle Absicherung garantiert wird, dann sind es die Kommunen, die dabei letztlich draufzahlen. Das ist schön und das ist richtig, aber ihnen fehlt unterm Strich das Geld, weil ihnen zudem gewisse Steuereinnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen. Deshalb geht es nicht um die Frage des Kulturstaates, sondern um die Frage der Kulturfinanzierung. Hier ist schnell zu erkennen, dass etwas mit der Kulturpolitik schiefgegangen sein muss, denn sie hat nicht dafür gesorgt, in wirtschaftlich guten Zeiten solche gesellschaftlichen Übereinkünfte herzustellen, die bewirken, dass die

W UPPERTAL

IST ÜBERALL!

| 23

Strukturen erhalten und Möglichkeiten geschaffen werden, auch über Krisen hinweg die Kulturlandschaft in Deutschland zu erhalten.

DER KAMPF UM DEN SINN Diese Einschätzung steht diametral zu all den Bekenntnissen für die Kultur und für das Theater. Da gibt es den Slogan des Deutschen Bühnenvereins, der mit dem roten T beworben wurde: »Theater muss sein!«. Da gab es den Bundespräsidenten, der ein Bündnis für Theater einberufen hat. Da gibt es den Präsidenten des Deutschen Bundestages, der Theater als »nicht nur wichtig, sondern unverzichtbar und unersetzlich« (Lammert 2010) beschreibt. In der Kunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg steht ein Satz, der deutlich macht, dass Theater eine besondere Relevanz haben muss: »Das Theater ist ein Herzstück urbaner Kultur« (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst 2010: 68). Ist es trotz aller Bekenntnisse so, dass die Kunst, wenn es um den Sinn der Gesellschaft geht, vielleicht doch den Kampf verloren hat? Zumindest scheinen gesellschaftliche Kräfte die Lufthoheit zu gewinnen. Die Kunst, die hier und da geduldet wird, ist womöglich nicht mehr vorne dabei, dieser Gesellschaft den Sinn zu geben. Ist das ein Phänomen des Bedeutungsverlustes von Theaterkunst in unserer Gesellschaft? Damit müssten auch Theatermacher deutlich selbstkritischer umgehen und sich die Frage stellen, wie es sein kann, dass Theater nicht mehr jene große Rolle spielt, wie das vielleicht im 19. Jahrhundert noch der Fall war, als Theater ein Leitmedium gewesen ist.

DIE KRISE ALS CHANCE Die Träger der deutschen Stadt- und Staatstheater sind mit Schuld an der Misere, weil sie allzu gerne nur auf der Perpetuierung ihres Systems beharren. Die Situation, in der wir uns im Moment befinden, ist nicht nur eine Folge des Versagens der Kulturpolitik, sondern auch der Theater. Die Stadt- und Staatstheater haben es nicht geschafft, sich in der Kulturpolitik und Kommunalpolitik so zu verankern, dass sie erst gar nicht zur Disposition gestellt werden, weil sie immer nur sagen, das System sei doch wunderbar. Wenn es sich geöffnet hat, dann eigentlich nur in Form einiger Projekte. Wenn sich etwas geändert hat, dann eigentlich nur durch einzelne künstlerische Persönlichkeiten, die hier und da die Zeichen der Zeit erkannt haben. Aber es ist nichts Strukturelles passiert, bei dem man sagen könnte, dass es eine Perspektive für das Überleben wäre.

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Das gilt auch für das, was auf der Bühne verhandelt wird. Die Frage ist, ob es etwas mit dem System zu tun, wenn das Miteinander propagiert wird, wo das Gegeneinander natürlich viel interessanter ist, auf der Bühne darzustellen. Und wie verhält es sich mit der viel beschworenen Begegnung auf Augenhöhe? Das Stadttheater »da oben« und die Freien Theater »da unten«? Müsste die Vielfalt der Theaterpraxis nicht im Mittelpunkt der Kulturpolitik stehen und eben nicht dieses Gegeneinander? Das gilt natürlich auch für die Frage, mit wem wir es heutzutage rund um die Bühne zu tun haben. Wer ist denn das potenzielle Publikum? Städte und Regionen leben in Zeiten der Globalisierung von ihren kulturellen Identitäten. Und wir müssen wahrnehmen, dass zum Beispiel in der Schulvorstellung des Kindertheaters mehr als 50 Prozent Kinder sitzen, die Migrationshintergrund haben. Die sitzen entweder in zehn Jahren weiterhin im Theater, oder sie gehen dem Theater verloren. Diese Perspektive, was das Publikum betrifft, ist längst ein essenzielles, ein existenzielles Thema für das Theater. Ich habe den Eindruck, dass es so ernst nicht genommen wird. Wenn die Gesellschaft im Theater verhandelt wird, dann bitte schön auch unter dem Aspekt, wie sie sich tatsächlich darstellt. Sie ist nämlich zu 25 Prozent jung, multikulturell und repräsentiert alle Schichten. Das ist im Theater nicht der Fall. Es gibt nach wie vor nur 8 Prozent der Bevölkerung, die regelmäßig am Theater teilnehmen, und es sind etwa 50 Prozent, die überhaupt nie in das Theater gehen. Es ist überhaupt nicht gesichert, dass die Zustimmung zum Theater in der Gesellschaft anhält. Immerhin sollen es noch 70 Prozent sein, und da sind viele dabei, die nicht partizipieren, sie finden es aber klasse, dass es eine Oper gibt (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2005). An vielen Stellen wurde untersucht, dass es sich dabei mehr um eine gefühlte Kulturbezogenheit handelt als um eine tatsächliche. Natürlich gehen davon auch einige ins Theater, aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es auf Dauer so sein wird, dass die Gesellschaft – gerade in Krisenzeiten – das weiterhin gut findet und dass ein kleiner Teil sich delektiert an diesem Theatersystem, das immerhin fast drei Milliarden Euro öffentliche Mittel aller Steuerzahler jedes Jahr bekommt. Deshalb muss man sich nicht nur über die Legitimation, sondern auch über die Relevanz des Theaters in diesem Zusammenhang Gedanken machen.

THEATERPOLITIK IN DEUTSCHLAND »Deutschlands Freiheit wird in Wahrheit nicht am Hindukusch verteidigt, sondern in den Theatern, Konzertsälen, Opernhäusern, Museen und Buchläden und natürlich in den Schulen« (Naumann 2010).

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Unser erster Kulturstaatsminister Michael Naumann hat einmal in der ihm eigenen Art und Weise überlegt, was es eigentlich heißt, dass diese Gesellschaft Kultureinrichtungen vorhält, dass diese Gesellschaft sich als Kulturstaat geriert und dass diese Gesellschaft sagt, das hat etwas mit uns zu tun. Es geht dabei nicht nur um den Grundgesetzartikel fünf Absatz drei »Die Kunst ist frei«, um Freiräume und die Ermöglichung von Kunst, sondern um den Freiheitsgedanken, der immer wieder auf der Bühne verhandelt wird, in der Musik, in der Bildenden Kunst, in allen Einrichtungen der Kulturpädagogik. Dass sich dieser Gedanke gesellschaftlich noch nicht durchgesetzt hat, zeigt sich immer wieder in den Debatten, in denen gesagt wird, wir müssten kürzen, wir dürften die Kultur nicht auslassen und Kultur sei freiwillige Aufgabe. Diesem Trend entgegenzuwirken plädiert die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages für einen Artikel 20b im Grundgesetz, und ich halte diese Initiative nach wie vor als kulturpolitischen Überbau für wichtig. Es gibt etliche Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission, die man bei der konkreten Umsetzung in der Theaterpraxis aufgreifen könnte. So empfiehlt die Enquete-Kommission »den Ländern und Kommunen, regionale Theaterentwicklungsplanungen zu erstellen, mittelfristig umzusetzen und langfristig die Förderung auch darauf auszurichten, inwiefern die Theater, Kulturorchester und Opern auch Kulturvermittlung betreiben, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu erreichen« (Deutscher Bundestag 2007: 117).

Es werden zwei Aspekte genannt, die ich herausgreifen will: die Theaterentwicklungsplanung und die Kulturvermittlung. Hierbei muss man tiefer gehen und fragen, was der Anspruch ist, der zu formulieren und anzugehen wäre. Wenn wir von Theater reden, dann reden wir ganz oft von Stadttheatern und von Freien Theatern. Wir meinen im Wesentlichen das professionelle Theater, also das berufsmäßige. Wir wissen aber auch, dass es ganz andere Bereiche in Deutschland gibt, in denen Theater mit unterschiedlichen Akteuren stattfindet. Die Tatsache, dass die Enquete-Kommission von einer Theaterlandschaft spricht, inkludiert die verschiedenen Erscheinungsformen und setzt voraus, dass man in einer Breite die Darstellenden Künste wahrzunehmen versucht. Es gibt zum Beispiel mehr als 2500 Vereine des Amateurtheaters in Deutschland, die regelmäßig über das Jahr verteilt Aufführungen anbieten, manchmal auf der großen Freilichtbühne den ganzen Sommer lang mit vielen Mitwirkenden. Manchmal ist es aber eben auch eine kleine Gruppe, hochartifiziell, politisch, im kleinen Raum, in der Provinz. Dies ist ein Bereich, den ich für ebenso anerkennungswürdig halte und den auch ein Freies Theater oder ein Stadttheater nicht einfach nur als »Laienklub«

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abtun kann. Das ist auch ein Element von Theater in Deutschland. Theater ist mehr als das, was feuilletonistisch verhandelt wird.

THEATER ALS KULTURELLE BILDUNG Die Frage der kulturellen Bildung wird von vielen Intendanten folgendermaßen beantwortet: »Theater ist kulturelle Bildung. Wir haben sowieso einen Bildungsanspruch.« Aber wenn man genauer hinschaut, sind es immer noch die Stücke über Aids, Sucht und Gewalt, weil die in das Schulcurriculum passen. Es sind die Stücke, die Abiturthema sind, also »Emilia Galotti«, »Don Karlos« und so weiter. Wer sich hier zuerst die Rechte beschafft, hat ein bestimmtes Publikum sicher. Es drängt sich die Frage auf, ob Theater nicht kurz vor der Instrumentalisierung, man könnte auch Funktionalisierung sagen, steht. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Primat der Pädagogik und nicht um das Primat der Kunst. Kulturelle Bildung muss also immer wieder neu definiert werden, als eine Bildung für und um das Theater, als eine Wahrnehmungsschulung, eine Schule des Sehens und ein Programm der ästhetischen Bildung. Kulturelle Bildung ist ein Begriff für Sonntagsreden geworden und im Alltagshandeln verliert es im Moment völlig an Substanz.

DIE IDENTIFIKATION DER REFORMBEDARFE Drei Baustellen der Theaterpolitik lassen sich im Moment besonders identifizieren: Erstens, lasst das mit dem Terminus des »Freien Theater«! Es ist nicht existenziell, dass ihr »Bundesverband Freier Theater« heißt. In der Realität sieht es anders aus und über eine Namensänderung debattiert wird schon seit Jahren. Der Verband sagt selbst, dass er eine gewisse Institutionalisierung, eine Konzeptionsförderung, einen Spielplan und einen Ort, wo produziert werden kann und der als Theater identifiziert ist, will. Manchmal ist das Theaterhaus das eigentliche Stadttheater in der Stadt, wenn man genau schaut, wo das Publikum interessiert ist und wo die interessanten Projekte stattfinden. Vieles von dem hat das Stadttheater längst adaptiert. Diese haben auch ihre Baracke vor der Tür und ihr Studio und ihr Bürgertheater und ihr Forschungslab und holen sich mit ihren Scouts die Künstler der Freien Szene. Zweitens: Gibt es die ernsthafte Überlegung, die Theaterlandschaft umzubauen? Natürlich hat das Stadttheater über viele Jahrhunderte eine Institutionalisierung aus Fürstenstaat und Bürgergesellschaft entwickelt, und damit auch das

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Staatstheater. Aber alle machen in erster Linie Theater. Die Länder und Kommunen, die die Landesbühnen tragen, müssen aber über kurz oder lang darüber nachdenken, ob das noch alles seine Richtigkeit hat. Im Moment verkauft beispielsweise die Landesbühne die Musicalrevue und dann vielleicht noch den Klassiker, wenn er von Schiller stammt. Ansonsten dümpeln die Landesbühnen vor sich hin, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden und in die Regionen gehen, weil sie dort nicht mehr die potenten Partner haben, nicht mehr die Bürgerhäuser voll kriegen, wie das früher einmal der Fall war. Hier sollte man sich fragen, wie regionale Theater besser integriert werden können. Es muss sich etwas ändern, was die Produktionsweise und die Theatervermittlung vor Ort betreffen. Es wird zukünftig nicht zusätzlich Geld für Theater in Deutschland zur Verfügung stehen. Das ist das größte Problem. Das heißt, die Zuwächse gehen gegen null, die Ausgaben steigen. Die Überlegung muss deshalb sein: Kann man an den jetzigen Strukturen etwas verändern, was tatsächlich allen nutzt, nämlich einem großen kulturpolitischen Ziel? Da geht meiner Meinung nach nichts an der Umverteilung vorbei. Zuvor habe ich die Frage gestellt, ob man nicht mit vier Millionen in Wuppertal auch Theater machen kann. Mit den vorhandenen Strukturen geht das nicht, aber mit anderen könnte man das machen. Man könnte an vielen Theatern Kooperationen durchführen, wie es auch schon an vielen Stellen passiert, zum Beispiel mit dem Freien Theater, man müsste die Standesdünkel sein lassen und die Theaterlandschaft als die Summe vielfältigen dramatischen Kunstschaffens denken.

THEATERENTWICKLUNGSPLANUNG – EIN MODELL? Kann man diese Überlegungen nun kulturpolitisch konturieren? Wichtig wäre in dem Zusammenhang, dass es die Theaterleute selbst in die Hand nehmen müssen, aber die Kulturpolitik den Auftrag hat, das mindestens zu moderieren und den Mut aufzubringen, die Möglichkeit hierfür zu schaffen. Das Ziel einer Theaterentwicklungsplanung könnte also sein: Mehr Theater für mehr Publikum. Das ist ein einfaches Ziel, aber nicht indem man sagt, wir müssen prozentual reduzieren oder wir müssen Sparten schließen. Das Profil könnte die Standortsensibilität werden. Das Theater, das mit der jeweiligen Region oder Stadt zu tun hat, muss dabei im Mittelpunkt stehen, vor Ort recherchieren, suchen, Themen aufspüren und das nutzen, was regional wichtig erscheint. Das muss nicht nur geschehen, um regionales Publikum zu bekommen, sondern weil man an dieser Stelle einen tieferen Einblick in die Gesellschaft nehmen kann. Das Prinzip dabei muss sein,

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eine kulturelle Vielfalt zu gewährleisten, nämlich verschiedene Formen und auch verschiedene Strukturen von Theater. Eine kulturpolitische Aufgabe wäre dann, Theaterförderung auch als Risikoprämie zu verstehen. Das heißt nicht das, was sowieso funktioniert und erfolgreich ist, sondern auch den Prozess und das Scheitern zu belohnen. Diese Förderungskategorie ist völlig vernachlässigt worden. Wenn ein Intendant heute einmal Misserfolge hat, verliert er schneller seinen Job als ein Fußballtrainer in der Bundesliga. Dass die Freien Theater evaluieren müssen und nachweisen müssen, dass sie tolle Arbeit geleistet haben, und belegen müssen, was alles stattgefunden hat, ist positiv zu werten. Aber warum gilt das nicht für alle Theater? Warum müssen sich nicht auch die Stadt- und Staatstheater regelmäßig befragen lassen, was sie getan haben, um ein neues Publikum zu entwickeln oder um beispielsweise Theater und Schule zusammenzubringen? Ein kulturpolitisches Kriterium einer solchen Theaterentwicklungsplanung wäre Interdisziplinarität. Das jetzige System ist diesbezüglich völlig überholt. Wo gibt es das noch, dass wir vom Sprechtheater reden, dass das Musiktheater ein eigener hermetischer Komplex ist genauso wie das Ballett, das Tanztheater und irgendwo auch das Kinder- und Jugendtheater sowie das Figurentheater. Gerade die Avantgarde arbeitet von jeher interdisziplinär und selbstverständlich auch am Stadt- und Staatstheater. Genauso ist es möglich, das zu leben, was unsere Gesellschaft im Moment ausmacht, nämlich die Interkulturalität. In den deutschen Schauspielensembles ist die Abbildung dieser Realität noch unterentwickelt. Das Tanztheater ist dagegen bereits bei einer beeindruckenden Internationalität angekommen. Seit Jahrtausenden tauscht man sich im Theater über Ländergrenzen hinweg aus. Auch Internationalität kann ein wichtiges Element für eine solche Theaterentwicklungsplanung sein. Die Teilbereiche kulturpolitischer Konzeptionen betreffen Produktion, Distribution und Rezeption. Im Moment gehen 90 Prozent der Kulturförderung in die Produktion. Es gibt einen klaren Auftrag der Kulturpolitik, etwas zu produzieren, ein Buch zu schreiben, eine Komposition zu machen, ein Theaterstück, eine Ausstellung und so weiter. Die Frage ist aber, warum bestimmte Aufführungen nur acht oder zehn Mal gespielt werden. Warum kann man diese nicht durch eine Gastspielförderung oder andere Instrumente zusätzlich woanders vermarkten? Genauso muss man sich Gedanken darüber machen, warum es kein deutsches Wort für Audience Development gibt. Warum ist die Rezeption bei uns bei der Theaterpädagogik angesiedelt, die längst noch nicht zentrale und integrale Bedeutung besitzt? Immerhin gibt es über hundert Stellen für Theaterpädagogik an deutschen Stadttheatern, und der Bundesverband Theaterpädagogik hat mittlerweile über 750 Mitglieder, die sich als Theaterpädagogen, vor allem

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als Freie Theaterpädagogen, bezeichnen. Dass aber ein Theaterpädagoge zur künstlerischen Leitung gehören könnte, weil er oder sie die Beziehung zum Publikum herstellt, ist noch nicht in den Institutionen angekommen.

THEATRALE GRUNDVERSORGUNG Aus all dem ergibt sich zwangsläufig auch die Frage: Für wen? Für die Happy Few? Oder Theater für Alle? Und was heißt eigentlich in diesem Zusammenhang theatrale Grundversorgung? Welche kulturpolitischen Maßnahmen müssten umgesetzt werden, um sie zu gewährleisten? Welche Strukturen müsste man schaffen, um möglichst viele Menschen zu beteiligen? Ein Beispiel einer solchen Maßnahme ist das Programm TUSCH, die Verbindung von Theater und Schule, das es in vielen deutschen Städten bereits gibt. Dagegen ist in den Schulcurricula nichts passiert. Es ist so, als hätte es PISA nicht gegeben. Auf dem Feld der Lesekompetenz liegen wir wieder weit hinter den anderen Ländern. Wann wird das Bildungssystem endlich politisch reagieren, und wann werden die politischen Handlungsträger aufwachen, um das zusammenzubringen, was zusammen gehört, nämlich Kulturinstitutionen und Bildungsinstitutionen? Beide werden öffentlich gefördert und beide haben einen gesellschaftlichen Auftrag. Aber noch stehen einer solchen Kooperation oft der Wandertag und vieles mehr entgegen, nicht nur die Einschränkung einer Schulstunde auf 45 Minuten. Es entsteht der Eindruck, dass die Theater, wenn sie sich von Spielzeit zu Spielzeit hangeln, ganz zufrieden mit der gegenwärtigen Situation sind, weil sie nur ein bestimmtes Kartenkontingent haben, und wenn sie noch drei Reihen abhängen, haben sie auch 100 Prozent Platzauslastung. In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, sich auch einmal die Situation in England oder in den USA anzuschauen. Ich vergleiche nur ungern, weil dort eine verantwortungsvolle Kulturpolitik eher unmöglich gemacht wird, aber was das Theater als Bürgerservice betrifft, sind sie uns weit voraus. Da gibt es eine Rundumbetreuung, die ich im Theaterbereich einklage. Das ist allerdings nichts, was die Freien Theater zu erfinden brauchen, die Kapazitäten sind dafür zu begrenzt. Aber die Stadt- und Staatstheater müssen an dieser Stelle stärker werden. Die Untersuchungen hierzu gibt es. Eine Forschungsarbeit erscheint nach der anderen, wie beispielsweise Marketing auch ein Stück Kulturvermittlung sein kann. Es müsste nur einmal jemand im Theater lesen und umsetzen. Seit mehr als einem Jahrzehnt kann man Kultur- und gelegentlich auch Theatermanagement schließlich auch studieren.

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Eine andere Möglichkeit, sich kompetente Hilfe von außen zu holen, ist der neu gegründete Verein der Auftraggeber. Das ist der Versuch, mit den Bürgern Kunst und Kultur zu entwickeln, aber im Sinne einer Stadtgesellschaft, einer Dorfentwicklung oder einer Regionalplanung. Hier kann man ein Projekt in Auftrag geben und sagen, dass man gerne dieses oder jenes entwickeln würde. Auf solche Angebote genauer zu schauen ist ein wichtiger Teil einer Perspektivenentwicklung. Es muss nicht alles neu erfunden werden.

THEATER ALS SCHULE DES SEHENS Wie es auch immer in der Philosophie begonnen haben mag. Denkbar wäre, dass diejenige Person, die als erste Philosophin oder als erster Philosoph gelten könnte, sich den Fuß an einem Stein stieß und dass dieser Unfall zu folgenden Fragen motivierte: Warum liegt der Stein hier herum und warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Warum ist der Stein so hart und was ist das Wesen des Steins? Warum bin ich davorgelaufen beziehungsweise wie sollte ich eigentlich handeln? Stimmt etwas mit meinen Augen nicht oder was ist »Hinsehen« überhaupt? Man weiß nicht, wie diese Frage damals philosophisch beantwortet wurde, doch sicher ist auch, dass nicht jeder, der hinsieht, auch etwas sieht. Denn »Sehen« ist wahrscheinlich auch immer »Übersehen«, »Versehen« und »Absehen«. »Hinsehen«, so könnte man unterstellen, ist als solches der Versuch, so wahrzunehmen, dass der transparente Sehraum das intransparente Geschehene deutlich werden lässt. Was natürlich die Frage aufwirft, wie man sehen muss, um sehen zu können. In Zeiten der Zeichen, die massenhaft auf uns einstürzen, macht es Sinn, das Sehen zu schulen. Und die beste Methode scheint immer noch die zu sein, Interesse für das zu Sehende zu wecken. Das Theater bietet meiner Meinung nach die Möglichkeit, das Sehen in einen Kommunikationsprozess einzubinden, der zwischen Schauspielern und Zuschauspielern die Zeichen der Zeit kodiert und dekodiert. Voraussetzung ist allerdings, dass das Theater interessant genug ist, vielleicht sogar neugierig macht, vor allem aber etwas Bedeutsames zu bieten hat. Es braucht ein Motiv, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die nicht oberflächlich bleibt, sondern den Zuschauer bewegt, an- und umtreibt. Es braucht Motivation, ein Sich-gegenseitig-Bedingen, wie es die Psychologie definiert. Es braucht Substanz, Brisanz und Relevanz, um sich angesprochen zu fühlen, um sehen zu können und sich Gedanken zu machen. Das alles könnte Theater sein. Wenn die Reform der Theater kulturpolitisch endlich angegangen wird.

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LITERATUR Deutscher Bundestag (Hg.) (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, Drucksache 16/7000, Berlin, S. 117. Lammert, Norbert: »Theater sind systemrelevant«, Eröffnungsrede bei der FaustPreisverleihung am 27. November 2010 im Aalto-Theater Essen. Online: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id =4981:eroeffnungsrede-norbert-lammerts-der-faust-preisverleihung-am-27november-2010-im-aalto-theater-essen&catid=101:debatte&Itemid=84 [05. 05.2011]. Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (Hg.) (2010): Kultur 2010. Kunstpolitik für Baden-Württemberg 2020, Stuttgart, S. 68. Naumann, Michael, in: »Ex-Kulturstaatsminister liest den Politikern die Leviten«, Mitteldeutsche Zeitung (14.02.2010). Online: http://www.mz-web.de/ servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1266124 111602&openMenu=1013083806110&calledPageId=1013083806110&listid =1018881578428 [05.05.2011]. Richter, Konstantin: »Der Kulturkampf. Müssen Städte wie Flensburg ein Opernhaus haben?«, in: DIE ZEIT (11.11.2010), Nr. 46, Hamburg. Zentrum für Kulturforschung (Hg.) (2005): 8. Kulturbarometer, Bonn. Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 10.12.2010 im Rahmen des Ersten Kongresses der Freien Theater im Theaterhaus Stuttgart gehalten hat.

Stadt und Theater – zum Wandel einer Beziehung A LEXANDER P INTO

In der kontinuierlich geführten Diskussion über die Zukunft des Theaters in Deutschland wurde meines Erachtens bisher ein wesentlicher Punkt ausgespart: das Verhältnis von Stadt und Theater. Nach wie vor wird die Darstellende Kunst in Deutschland mit den Stadt- und Staatstheatern identifiziert. In diesen hat sich das kulturelle Repräsentationsbedürfnis der bürgerlich geprägten Stadtöffentlichkeit ihr physisches und inhaltlich-ästhetisches Zuhause geschaffen; institutionalisiert und reguliert durch ein Finanzierungssystem, in welchem der bürgerliche Hegemonialanspruch Struktur geworden ist. Allerdings kommt dieses weltweit einmalige Theatersystem gegenwärtig an seine Grenzen und gerät nicht nur aufgrund der defizitären Kommunalhaushalte, sondern auch wegen eines veränderten Kulturverhaltens des städtischen Publikums und neuen kulturellen Einflüssen unter enormen Legitimationsdruck. »In vielen Städten war das Theater bislang ein Zentrum des kulturellen Lebens, doch das Theater scheint in die Peripherie gerutscht zu sein. Das Freizeitverhalten wandelt sich stetig, auch durch die Vielfältigkeit des Angebotes an elektronischen Medien und anderen Freizeitveranstaltungen. Die demografische Entwicklung der Gesellschaft, der zunehmende Bevölkerungsanteil von Migranten sowie die Abwanderung junger Menschen des ländlichen Raums in Ballungszentren mag die Zukunft des Modells Stadttheater mit festem Ensemble, Repertoireangebot und Mehrspartenbetrieb mit Fragezeichen versehen. Eines lässt sich dabei unabhängig von Rechtsformen und Tarifdiskussionen, wie sie eine Enquete-Kommission beachten muss, konstatieren: Die Chance der Theater ist ihr Publikum, die reale Lebenssituation der jeweiligen Zuschauergruppe vor Ort. Theaterstrukturen brauchen die programmatische, inhaltliche, personelle und funktionelle Anbindung an ihre jeweilige Stadt oder Region. Die dort vorgefundene mentale, kulturhistorische und soziale Situation

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wird jeweils sehr verschieden sein, sollte von den Theatermachern jedoch genau untersucht und für ihre Arbeit unbedingt beachtet werden« (Deutscher Bundestag 2007: 106f.).

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Kultur in Deutschland bringt es in ihrem Abschlussbericht auf den Punkt: Theater – unabhängig der jeweiligen Betriebsformen Stadt- oder Staatstheater, Landestheater, Freies Theater, Privattheater – benötigen die Anbindung an die jeweilige Stadt bzw. Region und müssen die dort vorgefundenen spezifischen Ausprägungen untersuchen und in ihre Arbeit einbeziehen. Entsprechend ist das Verhältnis zwischen Stadt und Theater ein grundlegendes für die darstellende Kunst und deren Zukunft ist nicht ohne Berücksichtigung der städtischen Entwicklungen zu diskutieren. Im Folgenden werde ich zwei Entwicklungen herausgreifen, die meines Erachtens das zukünftige Verhältnis von Theater und Stadt unter anderen kennzeichnen werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Beiträgen in diesem Buch nehme ich dabei nicht zuvorderst die Perspektive des Theatermachers ein, sondern versuche mit dem Blick eines an der Entwicklung der Stadt interessierten Akteurs auf das Verhältnis zu schauen mit dem Ziel, diese Perspektive für die Theaterdebatte fruchtbar zu machen.

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ALS

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Versteht man die europäische Stadt ganz allgemein als Trägerin des modernen gesellschaftlichen Lebens und stellt sie ins Zentrum der Betrachtungen, so kann man zwei wesentliche gesellschaftliche Funktionen von Stadt erkennen: Innovation und Integration. Im vergangenen Jahrhundert war dieses Spannungsfeld insbesondere gekennzeichnet von der Entwicklung einer standardisierten Massenproduktion auf der einen Seite (Innovation) und der Gewährleistung der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse«, bspw. durch eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf der anderen Seite (Integration). Städtische Entwicklung war dabei im Wesentlichen von der Ausdifferenzierung städtischer Funktionsstrukturen durch die räumliche Trennung von Arbeits- und Lebenswelt und von der Standardisierung und Synchronisierung gesellschaftlicher Zeitorganisation in Form des so genannten »Normalarbeitsverhältnisses« geprägt. Auf Grundlage dieses »fordistischen Raum-Zeit-Regimes« entwickelten sich die städtischen Strukturen und bildeten spezifische Regulations- und Repräsentationssysteme aus: Das »fordistische Raum-Zeit-Regime« bietet gleichsam die Folie, auf der sich die moderne Stadtgesellschaft organisierte.

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Während aber Technologisierung und Informatisierung eine neue Phase der Innovation einläuteten, erodieren im gegenwärtigen Übergang von der Industriezur Wissensgesellschaft die nach wie vor fordistisch geprägten städtischen Strukturen zunehmend. Am deutlichsten wird dieser Erosionsprozess an den wachsenden defizitären kommunalen Haushalten. Im Jahr 2011 betrug das Jahresdefizit der Kommunen 2,5 Milliarden Euro. Die kurzfristigen Kassenkredite – also Finanzmittel, die kurzfristige Liquiditätslücken der Kommunen füllen – beliefen sich auf insgesamt 44,3 Milliarden Euro, was eine Vervierfachung zu vor zehn Jahren ist (Deutscher Städtetag 2012: 2). Insbesondere die steigenden Sozialausgaben erhöhen die Ausgabenlast der Kommunen und lassen eine Verringerung der strukturell defizitären Haushalte nicht erwarten. Vor diesem Hintergrund wird es für die Städte immer schwerer, ihr Wohlstandsversprechen einzulösen und damit ihrer gesellschaftlichen Integrationsfunktion nachzukommen. Die soziale Kohäsion der Gesellschaft – ihr innerer Zusammenhalt – gerät in Gefahr, weil immer mehr Menschen aus der städtischen Solidargemeinschaft herauszufallen drohen. Die Städte stehen vor der großen Herausforderung, ihre Strukturen den veränderten Bedingungen anzupassen, ohne ihre Integrationsfunktion zu vernachlässigen. Insbesondere der Bereich der Kultur- und Wissensproduktion gilt als neuer Motor für zukünftige Stadtentwicklung. Seit der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida den Städten versprochen hat, dass in einer Wissensgesellschaft vor allem Bildung, Kultur und Kreativität die neuen Schlüsselressourcen sind, kann man sich vor städtischen Initiativen zur Ansiedlung der »creative industries« kaum retten. Diese Initiativen stehen aufgrund des in der Technologisierung begründeten enormen Mobilitätszuwachses der meisten gesellschaftlichen Bereiche mittlerweile in einem globalen »Wettbewerb der Städte«. Dieser Wettbewerb gestaltet sich vornehmlich als ein Kampf um Sichtbarkeit und Bedeutung: Nur die Städte – so die Annahme –, die sich im globalen Aufmerksamkeitsmarkt gut positionieren, haben eine Chance auf die dauerhafte Ansiedlung qualifizierter Arbeitsplätze und -kräfte in den zukunftsträchtigen Wirtschaftsbranchen und damit auf ökonomisches Wachstum. Stadtpolitik richtet sich in der Folge immer stärker an Strategien des Stadtmarketings aus. Dass solche Konzepte nicht nur von den Großstädten als Lösung für die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels erachtet werden, zeigt das Leitbild der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Idar-Oberstein. »[I]m stetig wachsenden Standortwettbewerb der Städte untereinander ist Stadtmarketing zu einem unerlässlichen Thema geworden. Die Kommunen werben für die Ansiedlung neuer, zukunftsorientierter Unternehmen, versuchen die Wirtschaftskraft insgesamt zu

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stärken und damit die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, ihre Innenstädte als Einkaufsorte attraktiv zu gestalten und die Anziehungskraft für Bewohner und Touristen zu steigern. Nur durch eine durchdachte, strategische Planung und konsequente Weiterentwicklung kann Idar-Oberstein die bevorstehenden Herausforderungen meistern. [...] Mit der Entwicklung eines ganzheitlichen Marketingkonzeptes möchten wir den Ausbau der Marke IdarOberstein weiter vorantreiben« (Machwirth 2012: 3).

Im Zuge der Markenbildung werden städtische Handlungsfelder wie Kultur und Bildung zunehmend als ökonomische Teilmärkte identifiziert, geclustert und für die Neuerfindung des Standorts bspw. als »Kreative Stadt« in die Pflicht genommen. Die Bedeutung der städtischen Kunst und Kultur begründet sich im Rahmen dieser Vermarktung dann vor allem ökonomisch. Zum einen bietet dies auf der Grundlage marktwirtschaftlicher Kriterien die Möglichkeit, Kunst und Kultur in die Selbstverantwortung der »Marktakteure« zu übergeben. Das kann in der Konsequenz bedeuten, dass für den Erhalt der künstlerischen und kulturellen Vielfalt entweder ein größeres bürgerschaftliches, also ehrenamtliches Engagement notwendig wird, oder Kunst und Kultur reduzieren sich in Zukunft ausschließlich auf das am Markt Erfolgreiche. Zum zweiten bietet die Ökonomisierung von Kunst und Kultur für die städtischen Haushalte die kaum noch zu findenden Einsparpotenziale auf der Ausgabenseite, die hauptsächlich über die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben wie eben Kultur realisiert werden müssen. Am Ende dieses Ökonomisierungsprozesses wird die Kulturförderung als Investition bezeichnet, die Kunst und Kultur damit konfrontiert, nachweisbar rentabel zu sein, ansonsten verliert sie ihre (Vermarktungs-)Relevanz. Kunstund Kulturschaffende verweisen in diesem Zusammenhang gerne auf die so genannte »Umwegrentabilität« von Kunst und Kultur, also auf indirekte positive volkswirtschaftliche Effekte bspw. durch die städtischen Einnahmen durch Kulturtouristen oder die Steigerung der Lebensqualität von Bewohnern.

S CHWUNDREGIONEN

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M ETROPOLISIERUNG

Unabhängig davon, dass es die Integrationsherausforderungen einer Stadt nicht lösen wird, wenn man Stadtentwicklung auf Marketing reduziert, muss man sich im Klaren darüber sein, dass vor allem die Großstädte und Metropolregionen von den kulturwirtschaftlichen Entwicklungen profitieren. Die Effekte für die Mittel- und Kleinstädte sowie die ländlichen Regionen sind dazu verhältnismäßig gering. Diese sind im Gegenteil existenziell von Abwanderung und vom demografischen Wandel geprägt. 2009 hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und

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Entwicklung im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) ein Gutachten zum demografischen Wandel in Deutschland erstellt. Mit Blick auf die neuen Bundesländer und dem dortigen Versagen bisheriger Strategien der sozioökonomischen Entwicklung plädiert das Gutachten für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Schwundregionen. Diesem Paradigmenwechsel liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass es auch Regionen gibt, in denen die »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« zukünftig nicht mehr gewährleistet werden kann. Die Gemeinschaft bzw. die öffentliche Hand soll in diesen Regionen ihre Aktivitäten auf eine angemessene infrastrukturelle Notversorgung bzw. existenzielle Daseinsvorsorge beschränken. »Zu solchen Leistungen gehören Notfallrettung innerhalb einer angemessenen Frist, gegebenenfalls per Hubschrauber, hausärztliche und krankenschwesterliche Versorgung, gegebenenfalls organisiert in MVZ, Erreichbarkeit der Ordnungskräfte in angemessener Frist, professionelle und menschenwürdige pflegerische Versorgung von Hochbetagten und Behinderten sowie ein überall zugängliches und leistungsfähiges Telefon- und InternetBreitbandnetz. Existenzielle Daseinsvorsorge in dieser Weise aufrecht zu erhalten und sie nicht stillschweigend bei gleichzeitigem öffentlichen Dementi weiter abzubauen oder auszuhöhlen kann eine ganz eigene Attraktivität in diesen Regionen schaffen, die von den heute oft als ›Raumpionieren‹ bezeichneten künstlerischen und sozialen Experimentatoren geschätzt wird. Über diese existentiellen Bereiche hinaus bedeutet für diese Regionen eine Förderung verlorenen Aufwand und sollte nicht erfolgen« (Berlin-Institut 2009: 33).

Korrespondierend zur Abwanderung und Überalterung in den strukturschwachen und ländlichen Gebieten lässt sich in den strukturstarken Regionen eine Entwicklung zur Metropolisierung erkennen. Damit ist die räumliche Verdichtung zu Ballungszentren gemeint, die aufgrund einer hohen Konzentration an politischen und ökonomischen Schaltzentralen und an Mobilitäts-, Forschungs- und kulturellen Einrichtungen für die weitere gesellschaftliche Entwicklung zunehmend Schlüssel- und Symbolfunktionen übernehmen. In Deutschland geht man von elf Metropolregionen mit den dazugehörigen Kernstädten aus, die sich 2001 zum Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland (IKM) zusammengeschlossen haben: Berlin-Brandenburg, Bremen-Oldenburg, FrankfurtRhein/Main, Hamburg, Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg, Mitteldeutschland, München, Nürnberg, Rhein-Neckar, Rhein-Ruhr und Stuttgart. Diesen raumplanerischen Konstrukten kann man entgegenhalten, dass sie nichts über die tatsächlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen regionalen Verflechtungen und Verbindungen aussagen. Es ist aber festzustellen, dass diese

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Modellräume immer mehr auch zu konkreten Handlungsräumen werden. Die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 zeigte dies im besonderen Maße. Auch in anderen Bundesländern entwickelt sich das räumliche Modell Metropolregion zunehmend zu einem Handlungsraum. Ausgehend von der oben skizzierten Kritik an der vor allem politisch determinierten Grenzziehung von Metropolregionen formulierte der Zukunftsrat der Bayerischen Staatsregierung in seinem Bericht »Zukunftsfähige Gesellschaft – Bayern in der fortschreitenden Internationalisierung« (2010) unter anderem drei Basisszenarien für die weitere Entwicklung Bayerns: a) Fokus auf eine Megacity (Bayern wird München), b)Vernetzung und Entwicklung existierender Leistungszentren und c) Fokus auf den ländlichen Raum. Als Empfehlung an die Landesregierung gab der Zukunftsrat – dem im Übrigen kein Vertreter aus der Kultur angehörte – das zweite Szenario aus: die Entwicklung existierender Leistungszentren und ihre Vernetzung. Als daran anschließende Notwendigkeit formulierte er die Bildung von ökonomischen Schwerpunkten und Clustern in den Leistungszentren mit einer übergreifenden Infrastruktur inklusive neuer politisch-administrativer Entscheidungsstrukturen. »Um zukünftige Leistungszentren und das anzuschließende Umland optimal entwickeln zu können, ist eine übergreifende regionale Planung notwendig. Dabei ist zu untersuchen, bei welcher Gebietsaufteilung ein optimaler raumplanerischer Ansatz gewählt werden kann. Es erscheint nicht sinnvoll, dies weiter auf Basis der Land- oder Stadtkreise zu gestalten. Die Beobachtung des BBSR (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, A.P.) zum Thema Pendlerverflechtungsmatrix legt eher den Schluss nahe, eine neue Einteilung auf Basis einer Verflechtungsmatrix zu erarbeiten, um eine ganzheitlichere Planung zu ermöglichen. Sinnvoll ist eine gemeinsame Betrachtung von starken Leistungszentren mit deren ländlichen Umlandregionen« (Bayrische Staatsregierung 2010: 56).

Für die Regionen, die außerhalb der Reichweite der Leistungszentren liegen, wie Oberfranken, Passau und Würzburg, empfiehlt der Zukunftsrat eine grenzüberschreitende Planung und Entwicklung mit Sachsen, Österreich und der Metropoleregion Frankfurt/Rhein-Main. Im Gegensatz zum Berlin-Institut plädiert der Zukunftsrat für die stärkere wirtschaftliche Verflechtung zwischen Stadt/Leistungszentrum und Umland/ländliche Region. Als wirtschaftliche Potenziale der ländlichen Regionen werden dabei die nach wie vor stark vorhandenen Suburbanisierungstendenzen (Haus im Grünen), die Erzeugung von erneuerbaren Energien (Biogas) und die qualitativ hochwertige Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse (Bio- und Ökolandbau) betrachtet. Was für die ländlichen Regionen in Bayern denkbar ist, muss allerdings nicht auf die strukturschwachen Gebiete in

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Ostdeutschland übertragbar sein. Entscheidend für die hier angestellten Überlegungen ist aber nicht, ob ländliche Regionen noch Potenziale zur wirtschaftlichen Entwicklung bieten oder nicht. Vielmehr geht es hier um die Frage, wie sich unter den skizzierten Entwicklungen einer Fokussierung auf leistungsstarke Städte bzw. Metropolregionen und deren globaler Vermarktung zukünftig die kulturelle Daseinsvorsorge gestaltet, im Speziellen das Theater in Deutschland.

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Betrachtet man die Situation nüchtern, so kann man zu der Feststellung kommen, dass das weltweit einmalige Theatersystem in Deutschland mit seinen unzähligen Spielstätten vor einem großen strukturellen Umbruch steht. Armin Petras, Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin und designierter Schauspielintendant des Staatstheaters Stuttgart, skizzierte bis 2020 folgendes Szenario: »Es bleibt nicht aus, dass sich die Theaterlandschaft in den folgenden Jahren verändern wird beziehungsweise sich die Richtungen weiter konkretisieren, in die wir steuern. 1. Die Bedeutung der großen Festivals wie der Ruhrtriennale, der Salzburger Festspiele oder auch der Wiener Festwochen wird weiter zunehmen. Durch ihre hohe finanzielle Ausstattung, die noch durch Sponsoring verstärkt wird, gelingt es ihnen, sehr erfolgreiche Künstler zu bezahlen und ein Event-Theater zu realisieren. 2. Auch die großen Stadttheater in (reicheren) Städten mit einer hohen Einwohnerzahl wie Berlin, Hamburg, München, Stuttgart werden in ihrer Bedeutung weiter steigen und durch ihre finanzielle Ausstattung in der Lage sein, bekannte Künstler zu gewinnen. 3. Die Theater in mittelgroßen Städten werden aussterben, eine einschneidende Entwicklung, da damit ein für die Städte wichtiges kulturelles Zentrum wegbricht. 4. Flankiert wird dies von der immer weiter schwindenden Zahl von kleineren Theatern, die mit recht wenig Geld eine immer größer werdende Fläche kulturell abdecken müssen und dabei vor allem die Nachfrage nach Klassikern und unterrichtsrelevanten Stoffen bedienen müssen. 5. Insgesamt wird der finanzielle Druck auf jegliche Art von Theaterform erhöht werden bei einer Zunahme des Sponsorings aus der freien Wirtschaft. Auf der anderen Seite wird es aber auch verstärkt Formen der Kooperation zwischen Theatern und anderen kulturellen sowie sozialen Einrichtungen geben. 6. Projektbezogene Förderung durch öffentliche Stiftungen (Kulturstiftung des Bundes, Hauptstadtkulturfonds, Fonds der Darstellende Künste etc.) und private Stiftungen wird weiter an Bedeutung gewinnen.

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7. Gastspiele werden zunehmen, was weiter zu einer Internationalisierung der Künstler und Kunstschaffenden führen wird. 8. Der Theaterbereich wird noch mehr von der weiter zunehmenden Medialisierung geprägt werden. Auch die verschiedenen Theaterformen vermischen sich immer mehr. 9. Dennoch werden Kultur und Theater einen großen Anteil an der deutschen Wirtschaftsleistung haben, weil ihre Bedeutung für den Städtetourismus weiter steigen wird« (Petras 2010: 86).

In Zukunft wird (Stadt-)Theater vor allem in den Großstädten und Metropolregionen stattfinden und dort mehr und mehr als Imageträger und Eventgenerator in die Pflicht genommen. In den Mittel- und Kleinstädten und ländlichen Regionen dagegen werden die Theater aussterben und die wenigen verbleibenden unter großem finanziellen Druck die kulturelle Daseinsvorsorge irgendwie aufrechterhalten. Vor dem Hintergrund dieses zu erwartenden strukturellen Umbruchs verwundert es nicht, dass gegenwärtig das Freie Theater immer stärker ins Blickfeld rückt. Diesem wurde bisher eine substanzielle inhaltlich-ästhetische und strukturelle Eigenständigkeit in der deutschen Theaterlandschaft nicht wirklich zugestanden. »Es entsteht der Eindruck, dass die Leistungen des Freien Theaters bislang in deutlichem Missverhältnis zur Wahrnehmung, Anerkennung und Förderung durch alle politischen Ebenen stehen« (Deutscher Bundestag 2007: 110).

Bisher gerne missbraucht als Übungsplatz für den Nachwuchs, als Experimentierstube und Auffangbecken entwickelte die Freie Szene in der vergangenen Dekade wieder ein stärkeres Selbstbewusstsein, dass die Innovationen in der darstellenden Kunst der letzten Jahre für sich beansprucht: Kinder- und Jugendtheater, kulturelle Bildung, postdramatisches und (post-)migrantisches Theater, performative und interdisziplinäre Formate, künstlerische Forschung, die Bespielung theaterfremder Orte und des öffentlichen Raums sind Impulse, die jenseits der Stadttheaterstrukturen entstanden sind. Bundesländer wie Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen und Städte wie München, Frankfurt am Main und Hamburg knüpfen daran an und strukturieren und finanzieren die Rahmenbedingungen für Freies Theater neu. Die Begründung dafür liegt nahe: Die Fokussierung auf den künstlerischen Prozess und dessen Resultat und die oft temporär, multilokal/international zusammengesetzten Produktionsteams machen das Freie Theater äußerst vielfältig, aktuell, flexibel und hochmobil bis in die ländlichen Regionen hinein. Das bietet nicht nur große Potenziale für Innovation und gesellschaftliche Relevanz, son-

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dern auch für die Reichweite und Vermarktbarkeit der Produktionen. Das wiederum macht es hochgradig anschlussfähig an die immer stärker kulturwirtschaftlich konzipierte kulturelle Daseinsvorsorge gegenwärtiger stadt- und regionalentwicklungspolitischer Konzepte. Und das alles für vergleichsweise wenig Geld. Das neue Selbstbewusstsein der Freien Theaterschaffenden entwickelt mittlerweile eine Dynamik, in der das Freie Theater immer mehr als Lösung für die skizzierten Entwicklungen und Problemlagen im Theaterbereich dargestellt wird. Ungekannte Koalitionen entstehen, in denen sich manch kulturferner Politiker als Vorkämpfer des Freien Theaters geriert. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass eine solche Argumentationslinie mitten im institutionellen Verteilungskampf zwischen Freiem Theater und Stadttheater endet. »Deutschland hat eine der reichsten Theaterlandschaften der Welt. Gleichzeitig betreiben wir eine interessante Monokultur. Theater ist in Deutschland weitgehend synonym mit Stadt- und Staatstheater, auch wenn diese sich untereinander stark unterscheiden. Wir können sagen: Eine Institution hat das Medium fast monopolisiert. Das gilt vor allem für die Ressourcen und damit für die öffentliche Wahrnehmung. Im Vergleich zu den öffentlichen Geldern, die in die Stadt- und Staatstheater fließen, ist vernachlässigbar, was in Tanz, internationales Theater, freie Produktionsstätten, Gruppen oder andere Formen von Bühnenkunst fließt. […] Das Stadttheater selbst interessiert sich letztlich nicht für die Zukunft des Theaters, sondern für die Zukunft des Stadttheaters, also sein Überleben als Institution. Die Institution fragt nur selten: Was braucht der Künstler, was braucht das Theater? Stattdessen fragt sie indirekt eigentlich immerzu: Was braucht das Stadttheater? Das ist zwar völlig absurd, aber nicht einmal Vorsatz oder böse Absicht, sondern einerseits Gefangensein in der Institution und andererseits auch Fürsorge für eine etablierte Institution und die vielen dort arbeitenden Menschen« (von Hartz 2011).

Während Matthias von Hartz allein beim Freien Theater die Zukunft des Theaters sieht und damit die Notwendigkeit der Neuverteilung der Ressourcen begründet, bestreitet Ulrich Khuon die Existenz der Freien Szene und deklariert das Stadttheater als notwendigen Schutzraum. »Ach, wo beginnt denn die Freie Szene, und wo endet sie? Ist Stefan Pucher ein freier Regisseur, oder war er schon immer Stadttheater? Ist Nicolas Stemann, der bei Jürgen Flimm Theater gelernt hat und sich jetzt eigene, eher freiere Produktionsformen schafft, ein Freie-Szene-Mann oder ein Stadttheatermann? Und wie ist das bei Castorf, Kriegenburg, Solberg, Steckel? Die Wege des Lernens gehen ja über Regie- und Schauspielschulen, dazu gehören u. a. auch die staatlichen Schulen Gießen und Hildesheim, die berühmten Brutstätten des performativen Theaters. Das sind für mich keine Orte jenseits der Instituti-

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onen. Der Gegensatz, den Matthias von Hartz aufmacht, ist künstlich und historisch. Die Übergänge sind längst fließend. Man kann nicht angeben, ob sich neue Formen in den Institutionen, in der Lehre oder außerhalb entwickelt haben. Aber die Stadttheater haben eine schützende Struktur, in der man Dinge entwickeln kann« (Khuon 2011).

Es darf bezweifelt werden, ob es für die Zukunft der darstellenden Kunst konstruktiv ist, wenn sich die Theaterschaffenden untereinander die Existenzberechtigung streitig macht. Aus dem Blick gerät dabei, dass es nicht um die Frage geht, welche Theater-Betriebsform postfordistische Städte brauchen, sondern welche Darstellende Kunst: Wie kann – um auf das Anfangszitat dieses Textes zurückzukommen – die Darstellende Kunst von der Peripherie wieder ins Zentrum des kulturellen Stadtlebens rücken? Diese Frage ist zuvorderst nicht strukturell bzw. institutionell, nicht mit internen Verteilungs- und Positionskämpfen zu beantworten. Die Bezugsgröße in dieser Debatte, nämlich die jeweils andere Institution, ist meines Erachtens die falsche. Vielmehr muss die Diskussion über die Zukunft des Theaters wieder auf die Referenz zurückgeführt werden, die für das Theater grundlegend ist: die Stadt bzw. das Städtische. Wie dies erfolgreich gelingen kann, zeigen zwei Beispiele: Unter dem Titel »Stadt ohne Geld« eröffnete 2010 das Schauspiel Dortmund unter der neuen Leitung von Kay Voges und in Zusammenarbeit mit den Freien Gruppen kainkollektiv und sputnic die neue Spielzeit. Mit insgesamt 18 Inszenierungen, Vorträgen, Diskussionen, Stadtinterventionen, Konzerten und Filmen ging das Theater in die Stadt und verhandelte die Frage nach der Zukunft städtischen Lebens. »Wir öffnen den Körper der kranken Stadt, um eine viermonatige Operation am offenen Herzen unserer urbanen Gesellschaft vorzunehmen. Wie wird die Operation verlaufen? Ist Heilung in Sicht oder droht das schleichende Ende unseres Gemeinwesens? Wenn die Städte erodieren und die öffentlichen Räume schwinden, stellt sich mit großer Dringlichkeit die Frage neu: Wie wollen wir in Zukunft leben?« (sputnic, kainkollektiv und Naujokat 2010).

Im selben Jahr eröffnete das Freie Theater Anu den Kultursommer in IdarOberstein mit ihrem Projekt »Am Lichterfluss« (2010). Bis in die 1980er Jahre wurde die Stadt vom Fluss Nahe durchzogen. Dann entschieden die damaligen Stadtentwickler, den Fluss mit einer vierspurigen Bundesstraße zu überbauen, und ließen die Nahe aus dem Stadtbild verschwinden. Das Projekt »Am Lichterfluss« thematisiert diesen stadtplanerischen Totaleingriff, indem es den Fluss für die Bewohner und Gäste mit 40.0000 Kerzen wieder sichtbar und erlebbar machte. An zwei Abenden konnte das Publikum entlang dieses Lichterflusses flanie-

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ren und Geschichten über die Stadt und das mit dem Fluss ebenfalls aus der Stadt verschwundene, im Wasser gespiegelte Licht erleben. In einem Eintrag im Internet-Gästebuch des Theaters Anu heißt es: »bezaubernd! ihr öffnet die augen für neue wege der theaterkunst und kommuniziert direkt mit den menschen. das hat mir viel mehr gegeben als jegliche inszenierung auf einer großen bühne« (Theater Anu 2010).

Die beiden Beispiele machen deutlich: Die Frage, welche Darstellende Kunst eine postfordistische Stadtgesellschaft braucht, ist vor allem mit dem städtischen Publikum auszuhandeln. Dabei ist es völlig egal, ob das im Rahmen eines Freien Theaters oder Stadttheaters passiert, solange es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Wegen geschieht. Dann könnte Theater auch wieder ein zentrales Medium stadtgesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und des kulturellen Stadtlebens werden.

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L ITERATUR Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2009): Demografischer Wandel. Ein Politikvorschlag unter besonderer Berücksichtigung der Neuen Länder. Online: http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Studien/De mografischer_Wandel.pdf [08.03.2012]. Deutscher Bundestag (Hg.) (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, Drucksache 16/7000. Deutscher Städtetag (Hg.) (2012): Städtetag mit Finanzdaten 2011/2012: Gewerbesteuer steigt, hohe Kassenkredite. Städtetag aktuell 2/12. Online: http:// www.staedtetag.de/10/veroeffentlichungen/der_staedtetag/index.html [19.03. 2012]. Hartz, Matthias von (2011): Dem Stadttheater ist noch zu helfen. Debatte um die Zukunft des Stadttheater I. Online: http://www.nachtkritik.de/index.php?op tion=com_content&view=article&id=5805:krise-des-stadttheaters&catid =101&Itemid=84 [08.03.2012]. Khuon, Ulrich, in: Pilz, Dirk/Rakow, Christian: In den Städten finden Kämpfe statt. Debatte um die Zukunft des Stadttheaters VI. Interview mit dem Intendant des Deutschen Theaters Berlin Ulrich Khuon. Online: http://www.nacht kritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6187:debatte-um -die-zukunft-des-stadttheaters-vi-interview-mit-dt-intendant-ulrich-khuon &catid=101:debatte&Itemid=84 [08.03.2012]. Machwirth, Hans Jürgen: »Grußwort«, in: Stadtmarketing Idar-Oberstein e. V. (Hg.): Stadtleitbild Idar-Oberstein. Online: http://stadtmarketing-idar-ober stein.de/fileadmin/user_upload/PDF/Stadtmarketing/IO_Stadtleitbild.pdf [05.03.2012]. Petras, Armin (2010): »Was machen Sie in zehn Jahren? – Teil II«, in: brand eins. Wirtschaftsmagazin (06/2010), Hamburg, S. 86. sputnic/kainkollektiv/Naujokat, Kristin (2010): Das Projekt. Achtung, Bewohner der krisengeschüttelten Rhein-Ruhr Region, hergehört. Online: http://www.stadtohnegeld.de/about [08.03.2012]. Theater Anu (2010): Gästebuch. Online: http://theater-anu.de/gastebuch/ [08.03.2012]. Zukunftsrat der Bayrischen Staatsregierung (Hg.) (2010): Zukunftsfähige Gesellschaft – Bayern in der fortschreitenden Internationalisierung. Bericht des Zukunftsrates der Bayrischen Staatsregierung. Online: http://www.bayern. de/Anlage10337216/BerichtdesZukunftsratsZukunftsfaehigeGesellschaft.pdf [08.03.2012].

Kommunale Kulturpolitik aus Sicht eines Freien Theaterschaffenden A LEXANDER O PITZ

Die ehedem mit großem Aufwand betriebene kommunale Kulturpolitik ist in Deutschland weitgehend zu einem ungeliebten Stiefkind verkommen. Seitdem die Stadtsäckel immer enger geschnürt werden, versuchen vor allem kommunale Finanzpolitiker unter dem Deckmantel der so genannten »freiwilligen Aufgabe« die Kultur fast gänzlich aus den städtischen Haushalten zu verbannen. Mit der Finanzierung eines vielfältigen kulturellen Angebotes kann sich heutzutage ein Kommunalpolitiker seine Meriten, die ihn zu Höherem berufen könnten, nicht verdienen. Erfolgreiche Sparhaushalte sind die Garanten für die Karriereleiter nach oben. Da werden dann gerne Kultur und Soziales gegeneinander ausgespielt, Theater gegen Kindergärten und Jazzclubs gegen Spielplätze. Gekürzt wird letztendlich bei allen nach dem berühmten »Rasenmäherprinzip«, in der Hoffnung, dass die zurückbleibenden Gerippe mangels finanziellem Gestaltungsspielraum möglichst bald ganz aus den Haushalten verschwunden sind. Die Zahl der Kommunen nimmt zu, die nach diesem Prinzip versuchen, die Haushaltsbilanzen zu beschönigen. Das Einsparpotenzial bei den »freiwilligen Aufgaben« ist in der Regel so gering, dass es meist nicht einmal reicht, die kleinsten Löcher zu stopfen. Die Kultur befindet sich vielerorts auf dem Rückzug, da man aufgehört hat, die über viele Jahrzehnte gewachsenen Strukturen zu hegen und zu pflegen. Man hat begonnen, sie ausschließlich nach den Kosten und dem entsprechenden Nutzen zu bewerten. Gleichzeitig fließt ein Großteil der Kulturförderung in den Unterhalt und die Verwaltung von Museen, Galerien und Bibliotheken. Die Förderung von Kunst bleibt im Verhältnis dazu oftmals marginal. Selbst die Intendanten von Landesbühnen, Stadt- oder Staatstheatern haben es schwer, ihre Haushalte vor Kürzungen zu bewahren, lässt sich doch angesichts scheinbar immenser Bezuschussungen in Millionenhöhe der Öffentlichkeit

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nur schwer vermitteln, dass bis zu 80 Prozent davon in die Verwaltung, Technik und die betriebliche Unterhaltung fließen und nur 20 Prozent der künstlerischen Produktion zur Verfügung stehen. Bei Kürzungen der Haushalte ist demnach die logische Konsequenz, dass Einsparungen nicht bei den fixen Verwaltungskosten herbeigeführt werden können, sondern ausschließlich bei den Mitteln, die dem künstlerischen Bedarf zur Verfügung stehen. Schon die Anhebung der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, zu denen generell das gesamte Technikpersonal eines Theaters zählt, geht mit einer gleichzeitigen Kürzung des künstlerischen Etats einher. Irgendwann haben wir Theaterpaläste, in denen es zwar noch Bühnentechniker und Mitarbeiter der Ausstattungen gibt, aber keine Schauspieler, Sänger und Tänzer mehr, da das Geld für sie fehlt. Die Begriffe »Kultur- und Kreativwirtschaft« werden neuerdings unlauter in die Kürzungsdebatten hineingeworfen, verbunden mit der Idee, die Kulturangebote künftig mittels des Zauberbegriffs »Public Private Partnership«, einem Mix aus öffentlicher und privater Förderung, zu finanzieren. So wird denn statt von Kulturförderung auch wieder ganz bewusst von Subventionen gesprochen, wohl wissend, dass dieser Begriff ureigenst Anschubfinanzierung bedeutet. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass möglichst jede Kultureinrichtung sich zukünftig dem Kulturmarkt stellen muss, um nach dem Zurückfahren der öffentlichen Förderung durch Eigeneinnahmen und Sponsoring zu überleben. Das mag mit Blick auf die Kunst vielleicht sehr eingeschränkt in den Bereichen funktionieren, wo Kunstwerke entstehen, die später materiell veräußerbar sind. Aber was ist mit den Wertschöpfungen der Kunst, die für den Augenblick geschaffen sind, für den Moment, in dem ein Publikum sich dieser Kunst stellt. Für kommerziell ausgerichtete Produktionen wie zum Beispiel in den Bereichen »Comedy« oder »Musical« ist ein florierender Markt gewachsen. Aber was wird aus der ehemals so gepriesenen deutschen Theaterlandschaft, die Inhalte vermittelt, die mittels zeitgenössischer, teils experimenteller Kunst Botschaften an sein Publikum weitergeben will, wofür so überhaupt kein Markt existiert. Diese Theaterlandschaft wird sukzessive zu einer Eventlandschaft mutieren, da sie ohne öffentliche Förderung nicht überleben kann. Das ist das Resultat einer Entwicklung, die schon lange unbemerkt ihr Wurzelgeflecht ausbreitet. Betrachtet man sich die Webseiten kleinerer Städte, so ist der Begriff »Kultur« kaum zu finden. Entdeckt man einen Hinweis, so führt ein Link den Suchenden auf die Veranstaltungshinweise der örtlichen Vereine, die Öffnungszeiten von ehrenamtlich betriebenen Heimatmuseen oder die Aufführungsdaten der ansässigen Seniorenlaienspielgruppe. Auf den Seiten der etwas größeren Kommunen finden sich dann schon Hinweise auf Gastspiele von Tourneetheatern, die dort mit möglichst geringem Aufwand und ehemaligen

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Stars und Sternchen Boulevardkomödien oder gängige Klassiker halbwegs vertretbar zur Aufführung bringen. Einen Beauftragten für Kultur gibt es in Kommunen dieser Größenordnung selten. Meistens ist es der Hauptamtsleiter, der mit der Bewältigung der allgemeinen Aufgaben der Verwaltung zeitlich schon überfordert ist und nun Kulturangebote planen soll, von denen er vor allem weiß, dass sie Geld kosten, das er nicht hat, und von denen er nicht weiß, welchen Sinn sie ansonsten machen könnten. Oder es findet sich in den Reihen der Kommunalpolitiker ein gezwungener Freiwilliger, von dem man weiß, dass er gerne ins Konzert geht und deshalb für diese Aufgabe geradezu prädestiniert erscheint. Letztere findet man auch in größeren oder großen Städten, die das Kulturamt leiten, da gerade kein anderer Posten für einen langjährigen, verdienten Parteifreund aufzutreiben war. Dieser versucht sich in seiner Not mit den populären Kunstgattungen zu profilieren, indem er dorthin die wenigen vorhandenen Mittel lenkt, um als Lohn das Foto mit dem Direktor der städtischen Kunstsammlung in trauter Dreisamkeit mit dem ausstellenden Künstler bei der Vernissage im Feuilleton vorzufinden. Es fehlt vielen Verantwortlichen am notwendigen Fachwissen, ein solches Ressort mit Weitsicht zu leiten. Weitsicht bedeutet, gerade im Bereich der Kunst zukunftsweisende Entwicklungen zu entdecken und in Abwägung mit der Finanzierung traditioneller Kulturinstitutionen zu fördern. Es fehlt an Verantwortlichen, die Visionen haben und diese vermitteln können, es fehlt an Verantwortlichen, die sich mit aller Vehemenz für ihr Ressort einsetzen, auch wenn sie damit Gefahr laufen, sich nicht verstärkter Beliebtheit auszusetzen, es fehlt an Verantwortlichen für die Kultur, die für die Kultur und ihre Künstler eintreten und sich erst dann ihrer Zugehörigkeit zu einer Verwaltung gewahr werden, um letztendlich Bedürfnisse und Zwänge in Relation zueinander abzuwägen. Mit viel Glück gibt es in dieser Stadt einen engagierten Abteilungsleiter, der versucht, die anderen Kulturbereiche mit den verbleibenden Mitteln am Leben zu erhalten. Wo engagierte Kulturdezernenten oder Kulturamtsleiter versuchen kreativ zu sein, für ihre Kommune gezielte Konzepte zu entwickeln und die wenigen verbleibenden Mittel einigermaßen gerecht unter den einzelnen Bereichen aufzuteilen, arbeiten sie immer im Disput mit den Stadtkämmerern, die jegliche Register ihrer Trickkiste ziehen, um ein gutes, meist mit dem Rotstift vorgezeichnetes Bild der Stadtfinanzen aufzuzeigen, die aus deren Sicht durch die Grautöne der »freiwilligen Aufgaben« verunstaltet werden. Im besten Falle finden diese Engagierten kompetente Unterstützung bei den kulturpolitischen Sprecherinnen und Sprechern der Parteien, die so interessiert an ihrer Materie sind, dass man sie tatsächlich regelmäßig in den Kultureinrichtungen der eigenen Kommune antrifft. Mit ihnen zusammen muss nicht nur der Stadtkämmerer

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überzeugt werden, sondern es stellt sich die schier unlösbare Aufgabe, ihre Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen zur Einsicht zu bringen, deren Verständnis für Kultur sich ebenfalls auf Beutelmaß in Form des klammen Stadtsäckels reduziert. Dabei treffen sie auf ein ganz spezielles Phänomen: den Kulturausschuss. Vielerorts handelt es sich hierbei um eine Ansammlung von Halbwissenden, die schon bei altbekannten Kulturinstitutionen, deren Sinn und Funktionsweise ihnen weitläufig bekannt ist, mit Daumenpeilung den Rotstift ansetzen. Wie soll man einem solchen Gremium begreifbar machen, welche Entwicklungen die Freie Szene durchläuft, wieso Kommunen Produktions- und Spielstätten für die Freien Darstellenden Künste benötigen, wieso leerstehende Gebäude einer Zwischennutzung zugeführt werden können und warum für freie Tanz- und Theaterschaffende überhaupt ausreichend Investitionen bereitgestellt werden müssen. In vielen Kommunen wird offen zugegeben, dass man gerade auf die Vielfalt in der Freien Szene setzt, aber nicht mehr Fördermittel bereitstellen will. Deshalb vertraut man auf die Bereitschaft zur Selbstausbeutung und dreht ganz bewusst die soziale Spirale abwärts: Oft schallt es unisono aus den Winkeln der Fraktionen, dass die Künstler ihre Arbeit ja schließlich freiwillig machen. Der Rest ist Schweigen! Ein notwendiger Schritt zur besseren Differenzierung wäre die Unterteilung in die Bereiche Kultur und Kunst mit jeweils zuständigen kompetenten Kulturmanagern. So könnte zumindest ein Stadtkämmerer bei der Frage nach der Förderung zum Beispiel der Bildenden Künstler nicht mehr die Position vertreten, man fördere diesen Bereich großzügig mit 2 Millionen, da doch in Wahrheit 1,995 Millionen in die städtische Kunstgalerie fließen und nur 50.000 an 18 Bildende Künstler der Stadt, die erst 20 Jahre nach ihrem in totaler Armut stattgefundenen Ableben den anerkennenden Weg in eben diese städtische Galerie finden. In der Zwischenzeit sind die freischaffenden Künstler in den Kommunen meist der Behördenwillkür ausgesetzt. Der Gang mit dem Fördermittelantrag zum Kulturamt wird fast immer zum demütigenden Akt, da die verantwortlichen Zuwendungsgeber von vornherein den Verdacht hegen, der Antragsteller wolle sich auf Kosten der Kommune persönlich bereichern. Selten werden die beantragten Mittel in voller Höhe vergeben, obwohl in den meisten Fällen deutlich erkennbar ist, dass die Kalkulationen eher knapp berechnet sind. So müssen von den Künstlern durch Honorarverzicht vor allem die Personalkosten auf das Notwendigste reduziert werden, um die Projekte dann letztendlich doch irgendwie umsetzen zu können. Jurys, von denen man eigentlich annehmen wollte, sie würden unabhängig über die Vergabe von Fördermitteln entscheiden, haben oftmals nur einen beratenden Auftrag; wenn sie denn doch Entscheidungsbefug-

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nis haben, so sitzt das Kulturamt in der Regel mit Stimmrecht in den Jurysitzungen dabei, um die Mittelvergabe an unliebsame Künstler notfalls verhindern zu können oder den Zöglingen die benötigten Mittel zuzuspielen. Gerne sitzen auch Zuwendungsempfänger selbst mit am Tisch oder Jurymitglieder brüsten sich, noch nie ein Endprodukt ihrer Entscheidungen gesehen zu haben. Es sollte der kommunalen Kulturpolitik bewusst sein, dass Projekte, die auf der Finanzierungskette Kommune-Land-Bund basieren, mindestens dreimal durch Expertenrunden in Form von Jurys oder Kuratorien qualitätszertifiziert sind. Diese Tatsache sollte doch genügen, dass das Kulturdezernat oder -amt und der Kulturausschuss den Künstlerinnen und Künstlern den notwendigen Respekt zollen und sich zumindest diese Produktionen auch anschauen. Ein wenig Interesse an der Arbeit der Kunstschaffenden vor Ort sollte man doch haben, wenn man kulturpolitische Verantwortung in einer Kommune übernimmt. Was die Entscheidungsträger ignorieren oder bewusst verdrängen, ist die Tatsache, dass die Künstlerinnen und Künstler von ihrer Kunst leben. Sie leisten einen immensen Beitrag für die Gesellschaft in ihren Kommunen, für die Kinder und Jugendlichen bis hin zu den Senioren. Und dort, wo die Kultur stattfindet, muss sie auch gefördert werden. Denn die Künstlerinnen und Künstler finanzieren ihre Projekte ja nicht allein mit kommunalen Mitteln, sondern beantragen auch in ihren Ländern, bei Stiftungen und Banken und zu guter Letzt beim Bund. Ohne diese Antragskette schafft es kein freischaffender Künstler, seine Projekte zu finanzieren. Erst das kommunale Interesse aber, das sich eben durch eine ausreichende Investition aus öffentlichen Mitteln laut Antragstellung manifestiert, eröffnet die Möglichkeit, bei all den folgenden Förderinstitutionen ebenfalls Projektgelder zu beantragen. Warum öffnen sich die kulturpolitischen Institutionen nicht, um regelmäßig das Gespräch mit den Künstlerinnen und Künstlern zu suchen, um ihre Situationen besser verstehen zu können, um begreifen zu lernen, wie diese arbeiten und warum sie all die Schwierigkeiten auf sich nehmen? Warum besucht ein Kulturausschuss nicht geschlossen einmal vierteljährlich eine Veranstaltung der Freien Szene vor Ort, um anschließend mit den Kunstschaffenden darüber zu kommunizieren? Viermal im Jahr sollte dies doch machbar sein. Diese Begegnungen wären eine Basis, um sich die notwendigen Grundkenntnisse anzueignen, um überhaupt Entscheidungen über Strukturen und Förderinstrumentarien für eine Freie Szene treffen zu können. Viele Kulturausschussmitglieder würden überrascht sein, wie professionell Freie Darstellende Künstler arbeiten, kursiert doch noch in vielen Köpfen die Vorstellung, es sei eher dem Laientheater zuzuordnen. Sie würden erstaunt zur Kenntnis nehmen, wie zeitbezogen und gesellschaftskritisch die meisten Produktionen sind. Sie würden begreifen lernen, warum die innovativen Impulse mittlerweile fast aus-

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schließlich aus der Freien Szene kommen. Sie würden verstehen, dass das Freie Theater und der zeitgenössische Tanz mit ihrer Vielfalt, ihrer Dynamik, ihrem Ideenreichtum, ihrer Lebendigkeit und ihrer ständigen Suche nach neuen Darstellungsformen eine kulturelle Wertschöpfung darstellen, denen man dringend die notwendigen finanziellen und räumlichen Rahmenbedingungen zugestehen muss, die in einem vertretbaren Verhältnis zu dem Aufwand stehen, den man für Stadt- und Staatstheater als selbstverständlich erachtet. Ich wünsche mir mehr Kommunikation zwischen Kulturpolitik und Künstlerinnen und Künstlern. Ich wünsche mir von der Kulturpolitik mehr Achtung und Respekt gegenüber den Künstlerinnen und Künstlern. Ich erwarte von der kommunalen Kulturpolitik vor allem mehr Interesse für die ganze Bandbreite der Kunst. Ich erhoffe mir von der Kulturpolitik, dass sie ihre Aufmerksamkeit von der Kosten/Nutzen-Abschätzung weg hin auf den Wert richtet, den die Schöpfungen der Künstlerinnen und Künstler für die Gesellschaft in einer Kommune haben, und diesen Wert zu schätzen lernt, um dann der Wertschöpfung entsprechend in die Kunst zu investieren. Die Investition in die Kunst ist eine Investition in die Zukunft!

Im Dickicht der Netzestadt Anmerkungen zum Diskurs der Kreativwirtschaft

KAINKOLLEKTIV

»WO SOLLEN WIR HINGEH’N? WO WOLLEN WIR LEBEN? EIN TERRITORIUM FÜR ALLE, EIN TERRITORIUM FÜR KEINEN.« (CHOR DER ANHEIZER IM ECONOMY DEATH MATCH)

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Von Oktober 2010 bis Februar 2011 inszenierten die beiden Freien Künstlergruppen kainkollektiv und sputnic1 im Schauspiel Dortmund die Projektreihe »Stadt ohne Geld«2 als kritischen Beitrag zur Kulturhauptstadt Europas Ruhr2010. Es ging dabei insbesondere um die Problematisierung der Lage von

1

kainkollektiv, bestehend aus Alexander Kerlin, Fabian Lettow und Mirjam Schmuck, arbeitet seit 2005 als Freies Theater-, Regie- und Dramaturgie-Kollektiv. sputnic, bestehend aus Malte Jehmlich, Nicolai Skopalik und Nils Voges, ist ein in Krefeld arbeitendes Designkollektiv mit den Schwerpunkten Animation und Bewegtbild, Film, Theater und Kunst (http://www.sputnic.tv).

2

Für eine umfangreiche Dokumentation des Projektes im Internet inklusive Programm, Presse, Materialien, Trailern vgl. http://www.stadtohnegeld.de sowie http:// www.ifuk.org. Für das dramaturgische Konzept von »Stadt ohne Geld« erhielten kainkollektiv und sputnic den von einer Jury vergebenen »Sonderpreis für bemerkenswerte Leistungen (Dortmunder Kritikerpreis 2011)«.

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Kunst und Theater im Zeichen der Krise der Städte und der wachsenden Bedeutung der so genannten »Kultur- und Kreativwirtschaft« im 21. Jahrhundert. Der Titel »Stadt ohne Geld« leitete sich dabei zunächst aus der faktischen Situation der Städte und Kommunen in Nordrhein-Westfalen ab, die in ihrer großen Mehrheit mit horrender Verschuldung zu kämpfen haben. So war beispielsweise die Stadt Dortmund zu Beginn der Projektreihe mit einem Haushaltsdefizit von 138 Millionen Euro belastet. In der lokalen Presse kursierte eine »Tränenliste«, auf der alle Sparpotenziale der Stadt von Bädern, Bibliotheken, sozialen Einrichtungen und dem Theater bis zum Dortmunder Superweihnachtsbaum verzeichnet waren. Unter der Perspektive dieser Liste stellte sich mit großer Dringlichkeit die Frage, was eine Stadt, aus der alle sozialen, kulturellen und öffentlichen Elemente subtrahiert sind, überhaupt noch sein könnte. Die Vision einer aus Shopping-Malls, funktionalisierten Wohnkomplexen und Parkplätzen bestehenden letzten Schwundstufe urbanen Zusammenlebens ist dabei lediglich eine drastische Zuspitzung der allerorten zu beobachtenden Verödungstendenzen des öffentlichen städtischen Raums im Zeichen seiner wachsenden Privatisierung und Ökonomisierung. Im Rahmen der Reihe »Stadt ohne Geld« sollten für vier Monate ein Ort und eine Struktur entstehen, die uns erlaubten, den offenen und verdeckten Konfliktlinien einer Krise der Stadt im 21. Jahrhundert auf den Grund zu gehen – durch »eine Operation am offenen Herzen ihres kranken Körpers« (kainkollektiv, sputnic 2010). Im Dialog mit dem Schauspiel Dortmund unter der neuen Leitung von Kay Voges entwickelten wir eine Reihe mit Inszenierungen, Diskussionen, Konzerten, Filmen, Vorträgen und Stadtinterventionen. Wir vernetzten uns mit Partnern in der Stadt, allen voran mit dem Straßenmagazin bodo und ihrem Leitenden Redakteur Bastian Pütter sowie der Dortmunder »Recht auf Stadt«-Initiative Unabhängiges Zentrum Dortmund (UZDO3) und entzündeten einen Stadt-Diskurs, der am Beispiel der Stadt Dortmund das Verhältnis von Stadt, Kunst und Ökonomie in der Gegenwart zur Verhandlung stellen sollte. Die Ausgangsbasis für unsere Auseinandersetzung versuchten wir so anzulegen, dass sich in ihr möglichst viele Positionen zu einem »Stellplatz der Widersprüche« (Heiner Müller) formieren konnten. Zentraler dramaturgischer Dreh dafür war die Erfindung eines Kooperationspartners, dessen Inszenierung uns einen Zwischenraum eröffnete, in dem die Wirklichkeit der Stadt in vielfachen Brechungen und Spiegelungen erscheinen konnte. Das kreativwirtschaftlich orientierte Institut für urbane Krisenintervention (IfuK) mit seiner virtuellen Leiterin Dr. Mareike Soerensen und den beiden Mitarbeitern Marcel Briegwitz (gespielt von Hans-Christian Mühlmann) sowie Hendrik Feldkamp (gespielt von Philipp Sebastian) war das Herzstück der »Stadt ohne Geld-Fiktion« – angesiedelt zwi3

Vgl. http://uzdortmund.blogsport.de/.

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schen FDP-Lokalgruppe, ecce4 und der Unternehmensberatung McKinsey und diskursiv ausgestattet mit den Neologismen der empirischen Sozialpsychologie. Vor dem Start des Projektes berichtete und wunderte sich die regionale Presse wochenlang über eine Kooperation des Dortmunder Schauspielhauses mit einem Kreativwirtschaftsunternehmen, dessen Existenz durch eine Homepage, das Erscheinen in zahlreichen Internetforen und Presseberichten sowie das leibhaftige Auftreten zweier seiner Mitarbeiter beglaubigt wurde. Der Anspruch dieses Unternehmens bestand offensichtlich in nichts Geringerem, als die Prozesse und Effizienzpotenziale des Theaters sowie die der Stadt Dortmund insgesamt zu optimieren. Ausgerüstet mit dem Sprech der Kulturökonomie und des Marketings erklärte Hendrik Feldkamp allerorten seine Vision einer »Creative City«, wie er sie von Richard Floridas Bestseller »The Rise of the Creative Class« (2002) herleitete, und beschwor die immensen Kreativitäts- und Zukunftspotenziale der krisengeschüttelten Stadt Dortmund sowie der gesamten Ruhr-Region. Homebase dieser kreativökonomischen Beschwörungsrituale war das Institut – eine mit Pressspanplatten ins Foyer des Schauspielhauses gesetzte Labor-Holzbox mit Videobildschirmen und Internetanschluss, die zum zentralen Segment im Eingangsbereich des Theaters avancierte und der Kooperation zwischen Theater und IfuK eine räumliche Gestalt verlieh. Mitten in einer der wichtigsten KunstInstitutionen der Stadt schlug ein fingiertes Wirtschaftsinstitut sein Lager auf und drang dort scheinbar ein wie ein Virus. Warum dieses aufwändig inszenierte Spiel?

D ICKICHT

UND

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Zur Beantwortung dieser Frage möchten wir uns auf zwei Szenarien Brechts aus den 1920er Jahren beziehen – das eine kurz nach dem Krieg geschrieben, das andere zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929. In dem Stück »Im Dickicht der Städte« (1921) treffen der Angestellte einer Leihbibliothek in Chicago George Garga und der malaiische Holzhändler Shlink aufeinander und geraten in einen existenziellen Kampf, der ohne klare Begründungen abläuft. Shlink fordert Garga zum Kampf heraus, ohne dass seine Motive erkennbar würden. Garga

4

Das european centre for creative economy (ecce) ist ein Institut der RUHR.2010 GmbH mit Sitz am Dortmunder U – Zentrum für Kunst und Kreativität und dient nach eigenen Angaben »dem Ausbau und der Unterstützung der Kreativwirtschaft auf kommunaler, [23.09.2011]).

nationaler

und

internationaler

Ebene«

(http://www.e-c-c-e.de

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geht schließlich auf die Herausforderung ein, und die beiden bekriegen sich unter Aufwendung aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen, bis Shlink am Ende stirbt und Garga seine gesamte alte Existenz inklusive seiner Familie verlässt und allein nach New York geht. »Die unendliche Vereinzelung des Menschen macht eine Feindschaft zum unerreichbaren Ziel«, konstatiert Shlink angesichts des modernen Dickichts der Großstadt. »Ja, so groß ist die Vereinzelung, daß es nicht einmal einen Kampf gibt« (Brecht 1967a:187). Und Garga resümiert am Schluss des Stückes das Duell mit den Worten: »Allein sein ist eine gute Sache. Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit« (ders.:193). Der zweite Bezugspunkt ist Brechts berühmte Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1929), mit deren erster Szene auch unsere Eröffnungsinszenierung »Economy Death Match« (2010) begann. In diesem Stück aus dem Jahr der Weltwirtschaftskrise gründen einige auf der Flucht befindliche Figuren, die am Abhang einer Goldküste stranden und nicht weiter können, eine Stadt. Diese Stadt, die gewissermaßen über einem Abgrund und damit »grundlos« eingerichtet wird, heißt Mahagonny, was soviel bedeutet wie »Netzestadt«. Ihre Gründung ist eine Probe auf die Fragen von Ethik und Moral, wobei Mahagonnys Gesetze alles erlauben, außer kein Geld zu haben. Mahagonny ist der Ort der Fülle und der Verschwendung, in dem es alles gibt, solange seine Bewohner Geld haben: »Dann gibt es alles, weil alles käuflich ist und weil es nichts gibt, was man nicht kaufen kann« (Brecht 1967b: 561f.). Das einzige, was neben dem Geldmangel Mahagonny zu bedrohen vermag, ist das Prinzip der Sterblichkeit, das nicht kontrolliert werden kann, da es willkürlich ins Leben einbricht. Diese Willkür, die die Grundlosigkeit der Stadtgründung selbst und damit ihre Endlichkeit aufdeckt, zeigt sich in einem Hurrikan, der auf Mahagonny zurast und die Umgebung der Stadt bereits verwüstet und Tausende Todesopfer gefordert hat. Kurz vor Mahagonny stoppt er völlig überraschend und macht dann einen Bogen um die Stadt. Das Entsetzen des nahenden Todes löst sich auf in ein befreites Freudengeheul der Mahagonny-Bewohner. Was daraufhin unvorsichtig wieder überdeckt wird, ist die Erfahrung der Ent-Setzung jeder menschlichen Setzung, d. h. die Einsicht, dass alles von Menschen Gesetzte kontingent ist – eine Einsicht, die an die Sterblichkeit der Menschen und der von ihnen gegründeten Ordnungen rührt. Mit dem neuen Leitspruch »Du darfst!« (ders.: 532), der immer, für alle und für alles gilt, so lange man nur Geld hat, wird Mahagonny zum vermeintlichen Paradies der Freiheit und Freude. Doch dass diese knallhart auf dem ökonomischen Prinzip aufruht, erfährt der Bewohner der Stadt Paul Ackermann am eigenen Leib, als er zum Tode verurteilt wird, weil er die Zeche nicht zahlen kann: »Wegen Mangel an Geld / Was das größte Verbrechen ist / Das auf dem

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Erdenrund vorkommt« (ders.: 555). Seine Hinrichtung wird zum Opfergang Mahagonnys selbst, in dem die Menschen entweder an Überfülle (sich zu Tode essen, boxen, etc.) oder aufgrund von Geldmangel sterben müssen – das entsetzende Gesetz des Hurrikans hatte ihnen das Prinzip der Sterblichkeit ja vor Augen geführt. Diese beiden Szenarien – die merkwürdig motivlos scheinende Parabel über eine inszenierte Feindschaft und deren gleichzeitige Unmöglichkeit einerseits, die Entgegensetzung der Überfluss-Logik des Geldes und des Entsetzens über die Sterblichkeit des Menschen und jeglicher von ihm gegründeten Ordnung andererseits – führen uns ins Herz der »Stadt ohne Geld«-Konstruktion. Wir haben uns zu Beginn des Projektes gefragt, wie sich angesichts der umfassenden Ökonomisierung sämtlicher Lebenswirklichkeiten im 21. Jahrhundert noch ein Antagonismus inszenieren ließe, in dessen Horizont man Verantwortlichkeiten für die gegenwärtige Krise und den Verfall der Städte zuweisen, Kritik formulieren, Gegenpositionen beziehen könnte. Schnell zeigte sich, dass sich die Lage heute noch deutlich komplizierter darstellt als in Brechts »Im Dickicht der Städte«. Denn das Dickicht der modernen Großstadt, das mit seinem undurchdringlich gewordenen Verbund aus Verkehr, Krieg, Technologie, Waren, Finanzen und Konsum zu Brechts Zeit eine Gesellschaft konfigurierte, in der die Vermassung und die Vereinzelung der Menschen die zwei Seiten desselben Anonymisierungsprozesses bezeichneten, hat sich heute keineswegs aufgelöst. Vielmehr hat sich dieser Komplex transformiert und ist nach Innen gewandert. Das Dickicht ist heute nicht mehr nur jenes unwirtliche Außen – zum Beispiel der Weltkriegslandschaften oder der vom Konsum bestimmten Metropolen –, dem sich der Mensch unter der Bedingung tiefgreifender Entfremdungserfahrung aussetzt. Heute ist dieses Dickicht in uns selbst eingezogen und hat von unseren Denkmustern Besitz ergriffen. Es ist nicht mehr in der Metapher des Dschungels zu fassen, den der menschliche Körper betritt, um sich in seinen Schlingen zu verfangen. Das Dickicht hat sich vielmehr in eine Art »Gas« transformiert, wie Gilles Deleuze feststellt (1993). Es durchsetzt unsere Identitäten und ist zum Bestandteil unserer Mentalitäten geworden. Das Dickicht der Stadt ist die Metapher eines unüberschaubar gewordenen modernen Raumes der Entfremdung, in dem die Körper zirkulieren, ohne sich noch – weder in Freundschaft, noch in Feindschaft – verbinden zu können. Daher inszeniert Brecht eine Feindschaft mit ihrer ganzen Grundlosigkeit und Abgründigkeit als Theatervereinbarung, die sich angesichts der vorgefundenen Realität der 1920er Jahre bereits zu seiner Zeit wie eine »metaphysische Aktion« ausnimmt. Das »Gas« der Unternehmen hingegen ist die Auflösung jeder Metaphorik und beschreibt jene Funktion der »Kontrol-

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le«, die Deleuze zufolge unsere Gegenwart bestimmt und den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft markiert (ders.: 256). In der »Netzestadt« eine Metapher auf die global vernetzte und ökonomisierte Gegenwart der heutigen »Computergesellschaft« (Baecker 2007) zu entdecken ist ebenso sinnfällig, wie im Leitspruch »Du darfst« die neoliberale Mentalität unserer Zeit und das Motto allen Kreativwirtschaftens auszumachen. Die »Stadt ohne Geld« ist zugleich eine Art Parallel-, Gegen- und Fortsetzungsgeschichte zu Brechts »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«. Dass in unserer »Stadt«Gründung die Wirklichkeit noch einmal gegründet wird, um sie ergründen zu können, folgt der Brecht‫ތ‬schen Dialektik. Dass darin die Kreativwirtschaft mit dem »IfuK« zum Leitmotiv avanciert, ist zum einen der Einsicht geschuldet, dass die vielbeschworenen Potenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft verdecken, dass diese nicht so sehr die Lösung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme darstellt, sondern vielmehr selbst Teil dieser Probleme ist. Zum anderen ist die Repräsentationsmaschinerie der Kulturhauptstadt Europas Ruhr2010 ein in jedem Sinne zwingender Anlass für uns gewesen, mit unserer Projektreihe die Möglichkeiten von Kritik und die Potenziale für eine andere Form von Wirklichkeit als der gegebenen theatral und diskursiv auszuloten. Das führt zu der Frage: Wie stellt man diese Entwicklung im Theater dar? Unser Versuch einer Antwort auf diese Frage bestand darin, die Realität zu verdoppeln. Wir haben noch einmal erfunden, was wir als dominierendes Realitätsprinzip in der Wirklichkeit vorgefunden haben. Alexander Kerlin formuliert das in einem Interview so: »Es gibt diese schöne Aussage: Das Bekannte ist nicht erkannt. Gerade das, was uns am vertrautesten und gegebensten erscheint, ist am schwierigsten zu sehen und infrage zu stellen. Schlingensief hat einmal gesagt, wenn er einen Fehler in der Gesellschaft bemerkt, muss er ihn so groß machen, dass man nicht mehr an ihm vorbeikommt. Das finde ich eine schöne Definition. Unsere Erfindung von Hendrik Feldkamp ist sicherlich ein solcher Versuch, einem bestimmten Denken buchstäblich ein Gesicht zu geben – das wir aber kontrollieren können« (2010).

Schon bei Brecht kauft der Kapitalismus die »Ansichten« der Menschen und korrumpiert jede Möglichkeit von Widerstand, Opposition und Kritik. Daher müssen Garga und Shlink die Feindschaft als Möglichkeit von Begegnung selbst inszenieren – und zwar nicht gegen, sondern mit den Mitteln des Kapitalismus: »Geld ist alles.« Heiner Müller hat einmal konstatiert, man müsse versuchen, im Kopf des Feindes zu denken, um politisch handeln zu können. Wenn aber der »Feind« bereits in uns denkt und zur Matrix unserer Identität geworden ist, dann

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ist der Vorgang, ihn zu inszenieren und ihn zur Darstellung zu bringen, ungleich schwieriger. Mit dem Institut für urbane Krisenintervention (IfuK) haben wir eine Instanz erfunden, die es heute so massenhaft gibt, dass unsere Fiktion der Realität zum Verwechseln ähnlich sah. In einer wilden Mischung aus Internettheater, Wissenschaftsperformance und Realsatire haben wir im Vorfeld der Eröffnungsveranstaltung versucht, den in der Gegenwart vorgefundenen Fehler – die scheinbar alternativlose Ökonomisierung aller Lebenswirklichkeiten im 21. Jahrhundert – durch Verdoppelung so groß zu machen, dass er zur Kenntlichkeit entstellt erschien. Spätestens bei der Eröffnung der Reihe mit dem Economy Death Match, bei dem der Schauspieldirektor auf Verkäufer der Obdachlosenzeitung bodo, der kreativwirtschaftlich salbadernde Hendrik Feldkamp auf die demonstrierenden Mitglieder der Stadt-Initiative UZDO und die Dortmunder Schauspieler auf einen Bürger-Chor, den »Chor der Anheizer«, trafen, der nach der Zukunft unseres Zusammenlebens fragte, war die Inszenierung jedoch nicht länger zu verheimlichen. Das WDR-Fernsehen sendete noch einen aufgebrachten Live-Beitrag vom Economy Death Match über antikapitalistische Demonstrationen vor dem Schauspielhaus – doch bereits während der Veranstaltung bröckelte die Fassade unserer Erfindung und die Inszenierung trat offen zutage. Damit war die Einladung an die Zuschauer zum Dialog und zur theatralen wie diskursiven Auseinandersetzung mit der Krise der Städte im Rahmen von »Stadt ohne Geld« ebenso offen ausgesprochen.

K REATIVITÄT

UND

K ONTROLLE

In seinen Vorlesungen zur »Gouvernementalität« hat Michel Foucault das Verhältnis von Regierungstechniken zu Selbst-Technologien untersucht. Die Studien zur Gouvernementalität analysieren und historisieren, wie der Begriff es nahelegt, das komplexe Gefüge einer Regierung der Mentalitäten und Seelen (Foucault 2004a; 2004b). Es geht um die Frage, wie Herrschaftstechnologien in der Moderne die Selbst-Regierung als Produktivkraft entdecken. »Regierung im Sinne Foucaults bezieht sich somit nicht in erster Linie auf die Unterdrückung von Subjektivität, sondern vor allem auf ihre ›(Selbst)-Produktion‹, oder genauer: auf die Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden können« (Lemke, Krasmann und Bröckling 2000: 29). Regierung ist Foucault zufolge ein »Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder

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weniger wahrscheinlich« (ebd.). Regierung und Selbst-Regierung sind nicht verschiedene Programme, sie greifen ineinander und bilden ein schwer zu entwirrendes Geflecht aus Worten, Handlungen und Mentalitäten – einen Diskurs, an dem heute jede/r auf seine/ihre Weise partizipiert. »Im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität signalisieren Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit nicht die Grenze des Regierungshandelns, sondern sind selbst ein Instrument und Vehikel, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen zu verändern. Wer es an Initiative, Anpassungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität fehlen lässt, zeigt objektiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. Der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Interventionsformen ist begleitet von einer Restrukturierung der Regierungstechniken, welche die Führungskapazität von staatlichen Apparaten und Instanzen weg auf ›verantwortliche‹, ›umsichtige‹ und ›rationale‹ Individuen verlegt. Entscheidend ist die Durchsetzung einer ›autonomen‹ Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen besteht« (Dies.: 30).

Diese Regierungsform, die Foucault noch unter den Insignien der Disziplinargesellschaft beobachtet hatte, lässt sich mit Deleuze als Form der Kontrolle beschreiben. Im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft kommt ein Wechsel der Regime zum Ausdruck. Während die Disziplin die Institutionen und Einschließungsmilieus hervorbrachte, erzeugt die Kontrolle die Form des Unternehmens. »Familie, Schule, Armee, Fabrik sind keine unterschiedlichen analogen Milieus mehr, die auf einen Eigentümer konvergieren, sondern sind chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt. Sogar die Kunst hat die geschlossenen Milieus verlassen und tritt in die offenen Kreisläufe der Bank ein. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch« (Deleuze 1993: 260).

Der Begriff, der heute den Diskurs der Kontrolle bestimmt, ist der Begriff der Kreativität. Kreativität erscheint als ubiquitäre Universalressource, unerschöpflich sprudelnd und damit unendlich profitabel: »Kreativität – Die neue Kohle fürs Revier«, dichtete IfuK-Mitarbeiter Hendrik Feldkamp. Komplementär dazu erhält auch der ältere Begriff der Kultur eine neue Aufladung. Beide Begriffe

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kulminieren im Kompositum der »Kultur- und Kreativwirtschaft«. Welches Phänomen sich hinter dieser Fügung verbirgt, ist nicht ganz leicht zu sagen, da so gut wie alles zur Kreativwirtschaft gezählt werden kann – von der Kunst bis zum Marketing, von der musischen Begabung bis zur Innovationsleistung eines Managers, von der Philosophie bis zur Produktentwicklung. Schaut man sich beispielsweise das european centre for creative economy (ecce) einmal genauer an, das als zentrale Unternehmung der Kulturhauptstadt Ruhr2010 in Dortmund unter der Leitung von Dieter Gorny gegründet wurde, so verliert man sehr schnell die Orientierung, wofür dieses Zentrum eigentlich genau da ist. Dafür findet man zu den Stichworten »Kunst & Kreativität« auf der Homepage der Stadt Dortmund etwa folgende Notiz: »Was ist Kunst? Wir ersparen uns eine Antwort auf diese philosophische Frage. Stattdessen haben wir unter diesem Menüpunkt Ausstellungen und Projekte von Künstlern und Kreativen versammelt. Das reicht von der Museumsnacht über das Wochenende der offenen Ateliers bis zur Kreativmesse am Dortmunder U« (2011).

Mit solcher Unbestimmtheit lässt sich natürlich gut agieren, denn alles kann dazugehören, oder auch nichts. Hier lässt sich Brechts »Du darfst« nochmals aufgreifen: »Du darfst alles, außer: keine vermarktbare Idee zu haben.« Ulrich Bröckling schreibt: »Der Begriff Kreativität weckt uneingeschränkt positive Assoziationen; umgekehrt gibt es kaum ein Übel, das nicht auf Kreativitätsdefizite zurückzuführen und nicht durch vermehrte kreative Anstrengungen zu kurieren sein soll. Was auch immer das Problem ist, Kreativität verspricht die Lösung. Der Glaube an die schöpferischen Potenziale des Individuums ist die Zivilreligion des unternehmerischen Selbst« (2007: 152).

Der unternehmerische Fokus auf Kreativität und auf Kunst und Kultur erzeugt derzeit den Eindruck einer Neubestimmung und gesellschaftlichen Aufwertung dieser vormals als Randbereiche und Ausnahmezonen definierten Gesellschaftssegmente. Mit dieser Neubestimmung geht auch eine Art Demokratisierung einher, da Kreativität als eine Ressource bestimmt wird, die jede/r in gewissem Maße besitzt. Gegen die einstmals dominierende Genie-Idee des Künstlerschaffens setzt die Kreativwirtschaft auf die Innovationsfähigkeit aller Gesellschaftsteilnehmer gemäß der Beuys‫ތ‬schen These, dass jeder Mensch ein Künstler sei – und fügt hinzu: Und jede gute Idee vermarktbar. »Aus Ideen werden Märkte«, hatte die Deutsche Bank in den 1990er Jahren großflächig plakatiert. Heute wird aus

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jedem Ideenproduzenten ein Marktteilnehmer, aus jedem Kreativen ein Unternehmer (seiner selbst). Die Kreativwirtschaft zielt vor allem auf die Ökonomisierung von Kreativität ab, auf die Vermarktung ihrer Zukunftspotenziale. Denn Innovation verspricht das Neue, und das Neue verspricht Zukunft. Im Namen einer unendlich offenen Zukunft – eben jener Zukunft der Futures und Optionen, mit denen die Finanzmärkte ihren Handel betreiben (Vogl 2011) – staut sich die Gegenwart. Die Totalisierung der Gegenwart erzeugt eine Art rasenden Stillstand, der die übrige Zeit attackiert und aufsaugt und dessen Konsequenzen zunehmend Krankheiten wie Depression oder Burnout bei denen sind, die dem Tempo dieser perspektivlosen Raserei nicht (mehr) gewachsen sind. »Kreativität braucht Muße, der Markt erzwingt Beschleunigung. Unter den Bedingungen ökonomischen Ideenwettbewerbs ist Zeit eine knappe Ressource. Das Gebot entfesselter Kreativität untergräbt so zugleich deren Existenzbedingungen. Je höher der Innovationsdruck, desto kürzer die Halbwertszeit des Neuen und desto größer der Verschleiß schöpferischer Potenziale« (Bröckling 2007: 179).

Und in einem instruktiven Essay mit dem Titel »Müdigkeitsgesellschaft« konstatiert Byung-Chul Han: »Das Leistungssubjekt befindet sich mit sich selbst im Krieg. Der Depressive ist der Invalide dieses internalisierten Krieges. Die Depression ist die Erkrankung einer Gesellschaft, die unter dem Übermaß an Positivität leidet. Sie spiegelt jene Gesellschaft wider, die mit sich selbst Krieg führt« (2010: 22).

»Kreation und Depression« heißen die beiden Seiten derselben Münze, die aus einem Währungsprogramm stammt, das die schöpferischen Potenziale erst zum »Rohstoff der Zukunft« verklärt und sie dann verheizt (Menke und Rebentisch 2011). Dieser Mechanismus zielt natürlich vor allem auf die Jungen, deren Energiehaushalt anzuzapfen am meisten Rendite verspricht und deren Arbeitskraft über das Versprechen, eines Tages selbst Künstler oder Künstlerin sein zu dürfen, problemlos ausgebeutet werden kann. Die Brutalität, mit der sich dieser vampireske Vorgang vollzieht, ist etwa an der Katastrophe der Loveparade in Duisburg im Rahmen der Ruhr2010 im Sommer 2010 mit besonderer Deutlichkeit abzulesen. Die Loveparade selbst, die vom kleinen Berliner Straßenumzug zu einem der größten Open Air Techno Raves der Welt avancierte und damit von einer Untergrundveranstaltung zum Marketingevent wurde, ist sicherlich schon für sich genommen ein kreativwirtschaftliches Phänomen. Doch die Katastrophe

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der letzten Loveparade, bei der durch ein mangelhaftes Sicherheitskonzept, fahrlässige politische Entscheidungen und eine an den Maßstäben des Profits orientierte Durchführung der Veranstaltung (die Innenstadt wurde für die Einkaufsmassen reserviert und die Party auf ein abgelegenes Gelände ausgelagert) 21 Menschen zu Tode kamen, bringt die ganze Brutalität einer solchen Unternehmung zur Anschauung. In der Mehrzahl junge Leute begeben sich zu einer Massenparty, um im Rausch des Raves dem Druck des ökonomisierten Alltags für eine Zeit kollektiv zu entfliehen. Doch bereits im Vorfeld wird diese Bewegung subtil umcodiert: Sie ist, so wird später deutlich, auch Repräsentationsmasse in gefälschten Statistiken, mit denen die Veranstalter, die Politik und Ruhr2010 auf einen Marketing-Coup spekulieren und – trotz unzureichender Voraussetzungen für die Durchführung – dieses Event zum Erfolg führen wollen. Was bereits Tage vorher Blogger im Internet voraussehen, wird dann schreckliche Gewissheit: Die Feiernden gehen buchstäblich in die Falle, sie ziehen auf ein Gelände ein, aus dessen völlig ungeeigneter räumlicher Lage es kein Entkommen gibt. Und was ist die Antwort der Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft? Sie versuchen sich mit allen Mitteln ihrer Verantwortung zu entziehen – allen voran der Duisburger Bürgermeister Adolf Sauerland. Angesichts solcher Gemengelagen und Verdrängungsleistungen, über die man sich ein Stück von Elfriede Jelinek wünscht, wird die Katastrophe der Duisburger Loveparade zur Rückseite einer Marketingpolitik, mit der die Ruhr2010 versucht hat, ihr Image als »Metropole« in die ganze Welt zu verkaufen. Dass in dieser Konstellation darüber hinaus auch ein Generationenkonflikt impliziert ist, haben Studenten der Bochumer Theaterwissenschaft in einem ChortheaterProjekt zum Thema »Next Generation«, das ebenfalls im Rahmen der Kulturhauptstadt stattgefunden hat, herausgearbeitet. In dem Chorstück mit dem kompromisslosen Titel »Next Generation: Not In Our Name« konstatieren sie angesichts der oben beschriebenen katastrophalen Konstellation: »Klar doch wollen wir Euch, nur nicht in der Innenstadt, wo Ihr das Samstagsgeschäft stört, nicht in der Fußgängerzone, wo die Leute zum Einkaufen gehen. Klar doch gehört die Jugend zur Kulturhauptstadt, wie wir eine sind, aber doch nicht im Zentrum zum Leidwesen der Geschäftsströme am Wochenende, das muss man doch verstehen, klar doch, die Loveparade, die Verrückten, Bunten, Jungen, die zum Abfeiern in unsere Metropole kommen, aber abseits bitte und bitte unter sich bleiben. Wir haben da noch so ein stillgelegtes Gelände, so richtig schön abseits, das passt. Und wo‫ތ‬s nicht passt, da fällt uns bestimmt noch etwas ein. Hinterher fällt uns bestimmt noch etwas dazu ein« (Haß u. a. 2010).

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Nichts ist der Politik hinterher dazu eingefallen. Erst ein Jahr später, genau zur Zeit der Abfassung dieses Artikels, berichten die Medien, dass sich Bürgermeister Sauerland zu einer Entschuldigung bequemt habe. Doch welchen Wert sollte diese noch haben, wo der Generationenkonflikt auf solch monströse Weise zutage getreten ist. Festzuhalten scheint uns vielmehr, dass die Bochumer Studenten mit ihrer präzisen gedanklichen Arbeit über die Fragen der Generationsproblematik einen Beitrag zu jener »Entdeckung« geleistet haben, die Gilles Deleuze als Aufgabe der jungen Generation unter dem Regime der Kontrollgesellschaft formuliert hat: »Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, ›motiviert‹ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung; an ihnen ist es zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmungen der Disziplinierungen entdeckt haben« (1993: 262).

F REIE S TADT T HEATER –

EINE

E RSCHÖPFUNG

In welchen Konstellationen und unter welchen Bedingungen lässt sich angesichts der beschriebenen Verwerfungen heute Theater produzieren? Es ist sicher wichtig, den durch die Kreativwirtschaft erzeugten Zuwachs an Aufmerksamkeit für Kunst und Kultur durch die Politik und die Wirtschaft zu nutzen, um die eigenen Belange und Bedürfnisse artikulieren und für sie Gehör finden zu können. Und vermutlich war historisch gesehen kaum eine Zeit so obsessiv mit Fragen von Kultur, Bildung, Kreativität etc. beschäftigt wie unsere Gegenwart. Doch in welcher Form und zu welchem Preis? Der Umbau der alten Institutionen in Unternehmen, wie Deleuze ihn beschrieben hat, ist in vollem Gange. Die Universitäten, Fabriken und Kultureinrichtungen haben sich in die Form des Unternehmens transformiert, selbst die Einzelakteure wie zum Beispiel Freie Künstler müssen heute einen harten Kampf mit sich selbst führen und ihrer Umgebung mit hohem kritischen Bewusstsein begegnen, um nicht in erster Linie als marktwirtschaftlich agierende Player, Ich AGs, Netzwerkknotenpunkte, Computer-User, Konsumenten/Produzenten zu erscheinen. Für die Darstellende Kunst scheint die Situation in doppelter Weise prekär: Auf der einen Seite hat sich die Institution des Stadttheaters selbst überlebt, sein Bühnen- und Verwaltungsapparat, seine bürgerliche Konzeption, sein Stadt-Verständnis sind in vielerlei Weisen eher hinderlich, um ein Theater der Zukunft zu konzipieren. Und doch ist hier noch immer, trotz aller Sparzwänge, das meiste Geld konzentriert. Doch solange die Öffnung der Stadttheater nur dazu dient, den Vorgaben der Politik genüge zu leisten, um

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dieses Geld behalten zu können, und Anpassungen des Betriebs nur graduell oder als Marketingstrategie erfolgen, ist hier keine echte Perspektive auszumachen (was nicht heißen soll, dass es nicht auch Ausnahmen gibt, die tatsächlich an einer ernstgemeinten Öffnung des Stadttheaters arbeiten). Auf der anderen Seite darf man sich nichts vormachen, wenn man als Freier Künstler in der nach wie vor unterfinanzierten Freien Theaterszene agiert. Denn neben dem Mangel an Produktionsmitteln herrscht hier die Situation vor, dass man nolens volens den perfekten Zuschnitt des neoliberalen Menschen mimt: prekär, flexibel, international, anpassungsfähig, innovativ, immer im Wettbewerb (um Projektgelder, Festivaleinladungen, Koproduktionspartner etc.). Was der Betrieb auf der einen, erschwert der Markt auf der anderen Seite: ein selbstbestimmtes, inhaltlich fundiertes, mit ausreichenden (Zeit-)Ressourcen ausgestattetes, weitgehend angstfreies Arbeiten. Schaut man dann noch auf die Situation, die in den Niederlanden oder Ungarn herrscht, in der eine rechte Politik die bestehenden Strukturen des Theatermachens zu zerstören sucht, ist der politische Horizont umrissen, in dem sich die aktuelle Lage abbilden lässt. Demgegenüber eine produktive Arbeit der Kritik und des Widerstands aufrechtzuerhalten, ist keine leichte Aufgabe. Wir denken, dass es dazu eine unbedingte und immer wieder neu zu leistende theoretische Durchdringung unserer Lebenswirklichkeiten braucht, das Erzeugen kollektiver Räume des Diskurses unterhalb ihrer repräsentativen Manifestationen und eine Praxisarbeit, die dem veralteten Status quo der Betriebe ebenso misstraut wie dem Fetisch der Gegenwartsbeschwörungen, dem permanenten Zelebrieren einer ideologischen »Hier und Jetzt«-Authentizität, wie sie derzeit vor allem in der Performance-Szene zu finden ist. Was uns aber darüber hinaus geboten scheint, ist, einen Diskurs über die Erschöpfung zu führen – denn das Erschöpftsein ist unseres Erachtens der Zustand der Stunde. Mit der Erschöpfung geht eine produktive Ambivalenz einher: Sie fordert uns auf, die Dinge für einen Augenblick ruhen zu lassen, nichts zu tun, anzuhalten und genauer zu betrachten, ob tatsächlich bereits alle Alternativen zur aktuellen Lage erschöpft sind. »Wir leben heute in einer Welt, die sehr arm ist an Unterbrechungen, arm an Zwischen und Zwischen-Zeiten. Die Beschleunigung schafft jede Zwischen-Zeit ab« (Han 2010: 41). Die »Zwischenzeit« entstehe durch Erschöpfung: »Die Erschöpfungsmüdigkeit ist eine Müdigkeit der positiven Potenz. Sie macht unfähig, etwas zu tun« (ders.: 61). Darin ist die Erschöpfung von wohltuender (Un-)Produktivität, ein Widerstand gegen die beständige Beschwörung der schöpferischen Potenziale. Die letzte Veranstaltung der »Stadt ohne Geld«-Reihe – bei der IfuK-Mitarbeiter Hendrik Feldkamp sich mit der nur um das Wort »nicht« ergänzten Grabinschrift Bert Brechts verabschiedete: »Ich habe Vorschläge gemacht, ihr habt sie nicht angenommen« –,

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trug den Titel »Kapitulation« (2011). Vielleicht muss man diesen Titel als offensive politische Geste zu denken versuchen. Dann entwickelt er möglicherweise eine erschöpfende Kraft.

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L ITERATUR Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1967): »Im Dickicht der Städte«, in: ders.: Gesammelte Werke I. Stücke I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 125-193. Brecht, Bertolt (1967): »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: ders.: Gesammelte Werke II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 499-564. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1993): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 254-262. Dortmund (2011): http://www.dortmund.de/de/freizeit_und_kultur/ruhr2010/kun st_kreativitaet/index.html [23.09.2011]. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class: And How It‫ތ‬s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, Basic Books. Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Colleges de France 1977/1978, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ders. (2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz. Haß, Ulrike und Studierende des Instituts für Theaterwissenschaft der RuhrUniversität Bochum (2010): Next Generation: Not In Our Name. Inszenierung: kainkollektiv, Uraufführung am 13. Dezember 2010 in den Bochumer Kammerspielen. kainkollektiv und sputnic (2011): Kapitulation. Abschlussveranstaltung im Rahmen der Stadt ohne Geld-Reihe am Schauspiel Dortmund (03.02.2011). Kerlin, Alexander (2010): »Was bleibt von der »Stadt ohne Geld«? Alexander Kerlin und Nils Voges im Interview« (Teil 1). Online: http://www.labkultur. tv/blog/was-bleibt-von-der-stadt-ohne-geld-alexander-kerlin-und-nils-vogesim-interview-teil-1 [26.09.2012]. Lemke, Thomas/ Krasmann, Susanne/ Bröckling, Ulrich (2000): »Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung«, in: dies. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7-40. Menke, Christoph/ Rebentisch, Juliane (Hg.) (2011): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos. Vogl, Joseph (2011): Das Gespenst des Kapitals, Berlin: diaphanes.

Eine Politik für die Kunst1 IRIS LAUFENBERG

Innerhalb von knapp zehn Jahren konnte ich als Leiterin des Theatertreffens der Berliner Festspiele die deutschsprachige Theaterlandschaft aus einer Art Vogelperspektive betrachten, verbunden mit dem Privileg, nicht im harten Alltag des Kunstgeschehens bestehen und kaum Rücksicht auf Empfindlichkeiten von Geldgebern oder Kollegen nehmen zu müssen. Das wird sich natürlich nach meiner Rückkehr ans Theater in Zukunft wieder ändern. Aus dieser Perspektive ließen sich auch die aktuellen Entwicklungen im Theater – die letztlich auch zur Teilnahme der Freien Szene am diesjährigen Theatertreffen führten – gut verfolgen. In diesem Beitrag geht es mir aktuell um den Blick auf die Stadt Berlin – als Bundesland wie als Bundeshauptstadt – und um die hier vorherrschende vereinzelt überaus erfolgreiche, meist jedoch ziel- und konzeptlos vagabundierende Kulturpolitik der letzten 20 Jahre. So stelle ich die Frage: Welche Forderungen muss man an die Politik, die auf Senatsebene oder auf Bundesebene die Verantwortung übernimmt – von welcher Partei auch immer – richten? Welchen Veränderungen muss sich die Kulturpolitik in Zukunft stellen? Es gilt in Berlin jede Menge Kultur am Leben zu erhalten, und dafür sind tragfähige Konzepte gefragt, die es zurzeit nicht gibt. Kultur in Berlin ist einerseits auch für den Bund enorm wichtig, andererseits zum größten Teil abhängig von der Landespolitik. Auf Senatsseite ist aber kaum ein bildungskulturelles Konzept oder strategisches Papier zu den Künsten für die Zukunft zu entdecken, sondern es herrscht – wie in den anderen Ländern und Kommunen auch – die PolitikerMentalität vor, sich wie Fähnchen im Winde der Finanzkrisen und Überschul-

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Der Text ist eine überarbeitete Version des Vortrages »Eine Politik für die Kunst«, gehalten auf der Veranstaltung »Was erwartet die Kultur von grüner Politik?« von Bündnis90/Die Grünen am 06.04.2011.

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dungsszenarien zu drehen. Unter Kulturschaffenden ist man sich darüber einig, dass die kulturelle Vielfalt nicht nur erhalten, sondern zukunftsweisend ausgebaut werden muss. Dabei ist das Schielen auf den Standortfaktor Kultur und die Tourismusbranche eher von zweitrangiger Bedeutung. Denn dort, wo ein vitales Kulturleben besteht, werden sich auch die Touristen hingezogen fühlen. Künstler und auch wir Kulturvermittler sind also aufgefordert, uns weiterhin als Seismografen der gegenwärtigen Gesellschaft zu betätigen, um Menschen mit unserer Kunst zu verführen, so dass wir uns gemeinsam im Zerrspiegel der Künste wiederfinden. Für eine erfolgreiche Kulturpolitik braucht es allerdings auch Analysen darüber, was war und was ist, und Visionen davon, was künftig sein soll. Leider werden oft über Jahre Vorurteile kultiviert, statt Analysen anzustrengen. In Berlin hat sich nach dem Mauerfall zwar einiges verändert, wie die Übernahme von Kulturgebäuden und Institutionen durch den Bund wie zum Beispiel die ehemalige Freie Volksbühne und die Berliner Festspiele. Sicherlich waren einige Maßnahmen unter anderem dem Einsatz von Ivan Nagel zu verdanken. Sein Gutachten »Zur Zukunft der Berliner Theater« von 1990 scheint auch durchaus heute noch oder wieder aktuell – zumal wenn wir über eine zukunftsfähig aufgestellte Theaterlandschaft nachdenken (Nagel 2011). Angesichts der insgesamt zu konzeptlos aufgestellten Besetzung der großen Theaterbühnen Berlins stellt sich mir zum Beispiel die Frage, ob die Berliner Theaterlandschaft wieder da angekommen ist, wo der Dramaturg Michael Eberth sie in der Nachwendezeit verortet hatte. Ende der 1990er Jahre formulierte er, heute wie damals treffend, in der Berliner Zeitung: »Der Sparzwang ist die Maske politischer Einfalt, die das Grinsen der Dilettanten gnädig verhüllt: Die gesamte Berliner Szene leidet heute unter dem Zwang des Ausgedachten.« (Eberth 1997). Obschon einzelne Häuser sicherlich optimal aufgestellt sind, so wird doch nicht über die gesamte Theaterlandschaft und seine Künstler, ob frei oder angestellt, und deren gemeinsames Potenzial nachgedacht. Und da sich Politiker naturgemäß eher in Ausschuss-Sitzungen als in Theatern oder Museen aufhalten, wissen sie vielleicht noch gar nicht, welche Herausforderungen für eine Kulturpolitik der Zukunft auf sie warten.

INSTITUTIONALISIERTE KULTUR VS. FREIE SZENE – EIN ALTER HUT Ich versuche einmal, anhand des Begriffes »Freie Szene« meine Unterstellung an einigen Beispielen festzumachen. Es ist immer noch üblich, die so genannte »Freie Szene« gegen die »Hochkultur« auszuspielen. Politiker flüstern den Künstlern zu,

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die sie dort in der ach so coolen freien, aber armen Szene vermuten: Wir sind euer Robin Hood. Wir nehmen das Geld den etablierten Reichen weg und geben es euch wieder zurück, denn ihr seid der Impuls, auf den alle warten und der das Überleben der vielfältigen Kulturlandschaft sichern kann. Das hatte lange Zeit Erfolg, obschon gar nichts, kein Geld der »Enteigneten«, bei den armen freien »Ausgebeuteten« angekommen ist. Rein gar nichts beispielsweise von all den Millionen, die die Kommunen bei den Stadttheatern landauf landab eingespart haben. Und doch scheinen einige Politiker genau dies immer noch zu glauben. Um kurz exemplarisch aus dem aktuellen Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen für eine Kulturhauptstadt Berlin zu zitieren (das Zitat soll sich nicht explizit gegen eine Partei richten, bei der SPD und den Linken muss man sich nur die jahrelang praktizierte Kulturpolitik anschauen): »Eine unserer zentralen Forderungen ist eine stärkere Kooperation der etablierten und großen Institutionen mit der freien Szene. Wir wollen ein Prozent der Zuschüsse von den Großen für eine dauerhafte Förderung der freien Szene sichern. Langfristiges Ziel muss sein, zehn Prozent des Kulturetats für die freie Szene festzuschreiben« (Bündnis90/Die Grünen 2011: 206).

Berliner Politiker und Wahlkämpfer gehen also ernsthaft davon aus, dass die Kleinen sich über dieses Zwangsgeschenk der Großen riesig freuen würden? Ich bin davon überzeugt, dass ein versprochenes Geschenk, das jedoch nie ankommt, irgendwann auch als noch so verführerisches Versprechen nicht mehr gut aufgenommen wird – wie mir Vertreter der Freien Szene aus dem LaFT e. V. in Gesprächen schon bestätigt haben. Oftmals wird von den Politikerinnen und Politikern die erfolgreiche, innovative Arbeit einiger »institutionalisierter« Bühnen überhaupt nicht wahrgenommen: Da wird mit der Freien Szene kooperiert und sich mit internationalen Produktionspartnern vernetzt, da wird die Schutzhöhle Theater verlassen, im Kiez gearbeitet und zusammen mit Schulen und Laien Theater gespielt – und zugleich mit größter Souveränität Hochkultur vom Feinsten geboten. Die Verantwortlichen müssten nur einfach mal hingehen, ins Theater an der Parkaue zum Beispiel, und sich in dem Jugendstück »Softgun« (DEA 2008) wiederfinden, inmitten eines vom Unterschichten-Fernsehen geprägten Teenie-Publikums, das auf der Bühne die Schläger und sich selbst als kollektive Ewige-Sieger-Typen feiert. Und in den letzten drei Minuten von eineinhalb Stunden Theaterhölle passiert dann das Ungeheuerliche: Die künftigen Täter erkennen das potenzielle Opfer in sich selbst. Ein Moment der Totenstille – und des Erwachens. Zurück zur Freien Szene: Wer ist in Berlin eigentlich damit gemeint? Sasha Waltz etwa, die in den 1990er Jahren in den Sophiensaelen als Freie Künstlerin

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startete und heute eine der erfolgreichsten Tanzformationen Deutschlands leitet, große internationale Reputation genießt und dazu mit einer – eigentlich nicht legitimierten – institutionalisierten Fördersumme von rund 875.000 Euro aus dem Hauptstadtkulturfond gefördert wird? Oder eher 48 Stunden Neukölln? Ein Festival, das einmal im Jahr alles zeigt, was Künstler in Neukölln so produzieren. Genau die Künstler, die tatsächlich multikulti, spartenübergreifend, innovativ sind, allen schlechten Voraussetzungen zum Trotz Kunst produzieren und in ihrem Kiez auftreten? Oder meinen wir die Künstler, die im HAU 1 bis 3, in den Sophiensaelen, im Ballhaus Ost oder der Neuköllner Oper auftreten? Oder das vor wenigen Jahren erfolgreich gegründete Ballhaus Naunynstraße, das selbsternannte Theater für »Post-Migranten«? Ein Theater mit knapp 423.000 Euro Basisförderung jährlich, aber mit finanzstarken Kooperationspartnern wie der Ruhrtriennale und mit Gastspieleinladungen ans Mannheimer Nationaltheater oder das Hamburger Thalia Theater. Sind damit die Kleinen gemeint, denen laut Wahlprogramm die Großen ein Prozent ihres Gesamtbudgets abgeben sollen, vorausgesetzt, es gibt einen grünen Senat in Berlin? Auch gibt es seitens des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit noch vor der Wahl im September 2011 das Versprechen, nach der Wiederwahl die »Freie Szene« mit mehr Geld zu fördern. Aber es gibt keine Definition dazu, was und wer unter »Freier Szene« zu verstehen ist. Wer soll wie viel Geld wofür genau bekommen, und welches Konzept verbirgt sich hinter dem noch zu formulierenden Finanzierungsmodell? Meine Forderung an die Politiker aller Parteien ist: Spielen Sie die unterschiedlichen Kulturformen und -größen nicht gegeneinander aus, sondern finden Sie Möglichkeiten, insgesamt stärker in Kultur zu investieren! Letztlich wird sich nur das auszahlen. Auch wenn wir dafür – wegen der immer knapperen Kassen – schon verlacht worden sind, auch im Rat für die Künste2 fordern wir eine Erhöhung des Kulturetats für das Land Berlin von zwei auf drei Prozent des zu verteilenden Gesamtvolumens. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch auf Bundesebene muss aufgestockt werden. Ich fände es wünschenswert, dass sich der Bund in Berlin noch stärker für das ja eigentlich kommunale Ressort Kultur engagieren würde. Und warum arbeiten Bund und Land auf kultureller Ebene so wenig zusammen? Das Zauberwort aller Politik, gerne auch als Rat für Kulturschaffende gebraucht, ist »Kooperation«. Wie sieht es aber im Kulturbereich mit zukunftsweisenden Kooperationen zwischen Bundes- und Landespolitik aus? Um es ganz deutlich zu sagen: Die »Freie Szene« zu stärken, von der die großen Institutionen – in denen ich selbst immer gearbeitet habe – schon so lange zukunftsweisende Impulse empfangen, halte ich für unabdingbar. Länder und 2

Online: http://www.rat-fuer-die-kuenste.de [26.09.2011].

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Kommunen müssen dabei an ihre Verantwortung gemahnt werden – nicht ausschließlich durch steigende Zuschüsse, die oftmals mit uneffektivem, Zeit und Geld raubendem, bürokratischem Aufwand verbunden sind. Politik kann die Künstler aus allen Bereichen auch dadurch unterstützen, dass Produktionsstätten in den zentral gelegenen Kiezen bezahlbar bleiben – anstatt sie politischen Investoren, die nur an der Erhöhung von Mieten und erneutem Geld scheffeln interessiert sind, zu überlassen! Oder indem Bildungspolitiker und Kulturpolitiker von Bund und Ländern an einem Strang ziehen – anstatt Fächer wie Kunst und Musik erst abzuschaffen, um dann »Kulturagenten« mit Bundesgeldern in die Schulen zu schicken, damit aus unseren Kindern das kunstverständige Publikum von morgen wird – so wie jüngst in Nordrhein-Westfalen mit »Jedem Kind ein Instrument«3 oder mit der Aktion »Kulturagenten für kreative Schulen«4 geschehen. Im Theaterbereich ist es ja längst so, dass große und kleine Theater mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, da sie verstanden haben, dass dies für die Zukunft des Theaters und genauso für eine alltägliche Arbeit mit und an der Gesellschaft verpflichtend ist. Genau diese Arbeit wird jedoch von der Politik oft als wirtschaftlich untergeordnet eingestuft. Hier komme ich noch einmal auf das überaus erfolgreiche Theater an der Parkaue zurück, an dem übrigens Freie Künstler wie staatlich geförderte Künstler arbeiten und an dem die international erfolgreiche Freie Szene genauso stattfindet wie die innovative, noch nicht erfolgreiche Szene und Kooperationen mit den Großen und mit den Kleinen. Im Spagat zwischen Bildungs- und Kulturministerium muss man sich hier für Erfol3

Das Programm »Jedem Kind ein Instrument« wurde im Jahr 2007 von der Kulturstiftung des Bundes, dem Land Nordrhein-Westfalen und der Zukunftsstiftung Bildung in der GLS Treuhand e.V. unter Beteiligung der Kommunen des Ruhrgebiets, privater Förderer und der teilnehmenden Familien als Kooperations–projekt der Kulturhauptstadt RUHR.2010 initiiert. Seit dem Schuljahr 2011/2012 wird »Jedem Kind ein Instrument« allein durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen gefördert. Bundespräsident Christian Wulff unterstützte das Programm als Schirmherr. Online: http://www.jedem kind.de/programm/home.php [26.09.2011].

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Das Programm »Kulturagenten für kreative Schulen« ist ein Modellprogramm der gemeinnützigen Forum K&B GmbH, initiiert und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Stiftung Mercator in den Bundesländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien, der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V., conecco UG – Management städtischer Kultur und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Der Beginn des Programms war das Schuljahr 2011/2012. Online: http://www. kulturagenten-programm.de/home/startseite/ [26.09.2011].

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ge rechtfertigen, anstatt dass beide Ministerien Hand in Hand gehend sagen würden: Danke an alle Künstler der Parkaue! Unter vielen anderen Bemühungen um ein junges kunstinteressiertes Publikum entspricht Ihre Arbeit genau der von uns erwünschten kulturpolitischen Bildung und wird deshalb von uns gemeinsam gefördert. Wir werden Sie bei Ihrer erfolgreichen Arbeit auch in Zukunft unterstützen und aufhören zu fordern, dass Sie sich ständig selbst evaluieren und für Ihre erfolgreiche Arbeit rechtfertigen müssen. Politikerinnen und Politiker sollten aufhören, Leben und Kunst auseinanderzudividieren, Kindergärten gegen Theater, oder Energiepolitik gegen gewachsene Altstadtstrukturen auszuspielen: Wenn ein Theater erfolgreich ist und auch Kinder im Vorschulalter anzieht, dann darf diesem natürlich nicht der Geldhahn zugedreht werden, weil dringend ein Kindergarten benötigt wird. Und bezahlbarer Wohnund Probenraum in Altbauten sollte nicht Neubauten weichen müssen, auch wenn diese vielleicht energieeffizienter und wärmegedämmter sind. Aktuelle Kulturpolitik wird zurzeit gerne unter dem vagen Begriff »Diversity« verhandelt. Gemeint ist damit meist, dass von der Kunst und den Kunstvermittlern der multikulturell gewandelten Gesellschaft die Aufgabe erwartet wird, sich zu öffnen, den Austausch zu suchen und neue Publikumsschichten zu erschließen für die Konzertsäle, Theaterhäuser, Museen etc. An »Diversity« fehlt es in Deutschland jedoch nicht nur bei den wirtschaftlichen, sondern auch den kulturellen Leitungspositionen, zum Beispiel – erlauben Sie mir diese Polemik – an Frauen! Wahrlich keine Randgruppe und dennoch gibt es in der Hauptstadt Berlin zurzeit nicht eine einzige Intendantin mehr an einer großen Bühne, das HAU ab 2012/13 ausgenommen. Auch keine Musikalische Leiterin oder Museumsdirektorin – Berlin, eine kulturelle Frauen-Wüste!5 Ich wünsche mir, dass Politiker nicht nur die Geschicke der Kunst mitlenken, sondern dass sie auch an ihr partizipieren, zu uns in die Theater und Konzertsäle kommen, sich in Galerien umsehen, dass sie sich von Künstlern in ihrer Arbeit inspirieren lassen. Und zwar darin, wie die Theaterlandschaft der Zukunft aussehen kann. Wir müssen den Dialog suchen und Vertreter der Kultur weiter einladen, zum Mit- und Weiterdenken auffordern – und beherzt daran glauben, dass die Kunst jedem politischen Angriff widerstehen wird.

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Das gilt leider nicht nur für Berlin: Das Verhältnis von Intendanten und Intendantinnen an deutschen Stadt- und Staatstheatern liegt bei 124 Männern gegenüber 19 Frauen. (Vgl. Theater heute, März 2011)

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LITERATUR Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband Berlin (Hg.) (2011): Eine Stadt für alle. Das Wahlprogramm zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2011, S. 206. Online: http://gruene-berlin.de/wahl2011/wahlprogramm [26.09.2011]. Eberth, Michael (1997): »Das Grinsen der Dilettanten«, in: Berliner Zeitung (04.02.1997). Online: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin /dump.fcgi/1997/0204/kultur/0001/index.html [26.09.2011] . Nagel, Ivan (2011): »Zur Zukunft der Berliner Theater« (1990), in: ders.: Schriften zum Theater, Berlin: Suhrkamp, S. 215-226.

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Das Freie Theater auf dem Weg

Freies Theater! Eine Innenansicht M ARTIN H UBER

Freies Theater. Da lässt man sich auf etwas ein! Und dann auch noch darüber schreiben! Aber das scheint ja schon auch sinnvoll zu sein, kann es einem doch schließlich auch passieren, dass man selbst einem Kultusminister oder auch einer Oberbürgermeisterin erklären muss, was das überhaupt ist – oder wie man eigentlich existiert als Freier Theatermacher. »Existiert man überhaupt?«, könnte dann eine erste vorsichtige Nachfrage sein, und die Frage könnte einen schnell in innere Verwirrungen führen, aus denen man gar nicht so schnell wieder herauskommt. Aber wir wollen hier ja nicht verwirren, wir wollen etwas schreiben aus der Innenansicht der Freien Szene. Und – nun gut – Monologe halten gehört ja zu meiner spezifischen Kunstform – darin bin ich geübt – also dann mal los. Wobei es natürlich nicht so ist, dass das Freie Theater aus lauter monologisierenden Schauspielern besteht. Aber es gibt schon solche wie mich, die es dann auf die Spitze treiben wollen und müssen, indem sie lauter Soloproduktionen in eigener Regie durchführen. Das kann dann persönliche Gründe haben oder künstlerische oder einfach auch natürlich organisatorische und wirtschaftliche – oder eben alles zusammen, und dann passt es wieder. Alles selber machen. Das ist sicher ein wesentlicher Bestandteil für Freie Produktionen. Schließlich kann man ja nicht für jede Aufgabe jemanden bezahlen. Also macht man es selbst. Man muss es ja nicht gleich so weit treiben, wie der Autor dieser Zeilen. Selber spielen, selber inszenieren, die Ausstattung muss man sich auch noch besorgen, der Text wird sowieso selber geschrieben und dann vielleicht auch noch ein bisschen Klavierspielen auf der Bühne, weil es so schön ist und Musik ja auch ein wichtiges Element ist. Und wenn dann die Stadt-

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theater dafür nicht mehr das richtige Pflaster sind, dann werden die Dinge eben auch selbst produziert; Finanzierung aufstellen, Anträge schreiben, Öffentlichkeitsarbeit, Gastspiele organisieren. Auf diese Weise findet man allerdings natürlich auch keinen Platz in der Freien Szene. Weil, wer nur mit Sprache arbeitet und dazu am Klavier sitzt, der macht kein Theater, sondern Kabarett, das ist doch logisch. Und für Solotheater gibt es sowieso keine Fördergelder (oder wenn dann nur, wenn man sich zur Rechtfertigung richtig was einfallen lässt). Also gut, die Phase des monologisierenden Klavierspielers, dessen künstlerische Ergebnisse zum ersten Mal ein Mensch bei der Premiere zu sehen bekommt, weil vorher keiner zusehen darf, habe ich nun auch glücklich hinter mir gelassen – zumindest vorläufig – wer weiß was noch kommt – man soll niemals nie sagen. Inzwischen produziere ich immerhin ganze Theaterstücke, zunächst mit einem Mitspieler, mittlerweile auch mit zweien. Da habe ich dann wenigstens eine klare Heimat und weiß, dass ich zum Freien Theater gehöre. Da ich die Stücke immer noch selbst schreibe, kann ich sie wenigstens als Uraufführungen deklarieren – sonst würde es auch wieder schwierig mit den Fördergeldern. Denn in der Regel sollte man, um eine Chance auf dem Markt der Fördergelder zu bekommen, schon wenigstens irgendetwas mit Video machen oder sonst irgendetwas mit einem neueren Format aufbieten können – oder etwas mit oder zu Migranten machen, das zieht immer, wenn es darum geht, Anträge durchzukriegen. Nein, einfach nur Sprache, damit hat man es heute nicht so leicht im Theater. Schon gar nicht in der Freien Szene. Aber auch das geht, wenn man nur will. Und das ist es ja, was uns Freie Theatermacher im Besonderen eint. Wir wollen wirklich! Wir wollen das, was wir machen; und zwar so, wie wir es machen. Natürlich sagt da nicht jeder danke und wunderbar und was brauchst du dazu? Natürlich muss man da schon etwas hartnäckig sein und die Öffentlichkeit in welcher Form auch immer davon überzeugen, dass das, was man da tut, auch wirklich notwendig und sinnvoll ist. Das gehört zum Geschäft dazu. Und man wird es dann wohl oder übel auch mal aushalten müssen, dass man eben auch mal eine Vorstellung vor fünf Leuten spielt. Dafür hat man ja dann einen ganz großen Luxus: Man darf tun, was man will. Wer hat diesen Luxus schon? Sicher, das kann mitunter ein richtig teuer erkaufter Luxus sein; eben so teuer, dass man sonst kein Geld hat; oder eben ständig damit beschäftig ist, wie man denn nun verdammt noch mal das Geld für den Lebensunterhalt zusammenkratzen kann. Irgendeinen Weg gibt es dann ja doch immer. Also, wie wird man Freier Theatermacher? Das ist doch mal eine Frage, die so wunderbar platt ist, dass man sich schon immer mal gewünscht hat, sie zu beantworten. Natürlich ganz subjektiv; denn: Gibt es etwas Objektives im Freien Theater oder im Theater überhaupt? Also eine Antwort könnte sein: Nachdem

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man Verschiedenes probiert hat und dann doch lieber die ganz eigenen Dinge tun wollte, kommt man vielleicht drauf, dass man seine Produktionen am besten selbst produziert und vermarktet. Und das ist natürlich ein Schritt, der eine besondere Auseinandersetzung verdient, weil eigentlich muss man sich dabei gleich über eines klar werden: Es bedeutet einen Schritt zum Unternehmer. Man kann sich dann zum Beispiel sagen: Okay, ich will auch das selber machen, und das wird wohl bedeuten, dass in Zukunft die künstlerische Arbeit nur noch die Hälfte ausmacht, die andere Hälfte aber unternehmerischer Natur ist. Und das kann man dann schon als einen Einschnitt in der künstlerischen Laufbahn empfinden, gibt es doch sicher nicht wenige Schauspieler, die doch eigentlich ihren Beruf einmal angefangen haben, weil sie gerade nicht ihre Zeit mit bürokratischen und finanztechnischen Problemstellungen verbringen wollten. Aber was tut man nicht so alles, um der Freiheit willen … Und da sind wir natürlich bei dem Aspekt des Freien Theaters, der gerade ganz besonderes unfrei ist. Jeder, der schon mal versucht hat, eine Finanzierung durchzukriegen für ein Freies Theaterprojekt, die professionellerweise zum Beispiel auf drei Stufen aufbaut, nämlich der Förderung der Kommune, des Landes und schließlich des Bundes, weiß, wovon die Rede ist. Fast naturgemäß steht man ja als Künstler auf Kriegsfuß mit bürokratischen Notwendigkeiten, aber der Versuch, auf diesem Weg Projektgelder zu bekommen, kann einen schon leicht in den Wahnsinn treiben. Dann zum Beispiel, wenn die Förderung des Bundes von der Förderung der Kommune abhängig ist, beide aber gar nicht wirklich kompatibel sind, weil die Kommune zum Beispiel gar nichts weiß von der Bundesförderung und schon gar nicht bereit ist, terminlich oder sonst wie auf die Bedingungen des Bundes Rücksicht zu nehmen. Freies Theater eben. Irgendwie geht es immer. Und wie stolz ist man dann, wenn es einem tatsächlich einmal gelungen sein sollte … Man sieht an diesem Beispiel, wie notwendig es dann eben auch sehr schnell werden kann, an den Förderstrukturen und den kulturpolitischen Voraussetzungen zu arbeiten. Und da man es ja gewohnt ist, alles selbst zu machen – siehe oben – ist der nächste sinnvolle Schritt, einen Landesverband Freier Theater mitzugründen – insofern noch keiner vorhanden ist – und dann eben auch noch im Bundesverband Freier Theater mitzuarbeiten. Man hat ja sonst nichts zu tun. Oder anders formuliert – mit den Jahren gewöhnt man sich daran, dass ständig neue Aufgaben auf einen zukommen und man sich eigentlich regelmäßig über lange Jahre in neue Aufgabenfelder einarbeiten kann. Vereinsgründungen zum Beispiel, was ja auch ein schönes Thema ist, wenn man es liebt, bürokratischen Vorgaben gerecht zu werden. Oder, positiver, Beiträge zu Buchveröffentlichungen schreiben, um die Sache mit dem Freien Theater weiter voranzutreiben.

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Und wo bleibt die Kunst? Nein, sie bleibt natürlich nicht auf der Strecke. Denn darum geht es ja eigentlich. Vielleicht werden die Gewichtungen mit der Zeit etwas andere – was aber auch nicht immer nur ein Schaden sein muss. Wenn zum Beispiel in der Freien Szene mitunter auch schon beklagt werden könnte, dass es an Nachwuchs fehlt, dann könnte eine einfache Antwort darauf sein: Man muss schon ein gewisses Alter erreicht haben, um den komplexen Anforderungen gerecht werden zu können, selbst zu produzieren und dabei dennoch auch seine künstlerischen Ambitionen beizubehalten. Ist das ein Grund zu jammern? Natürlich nicht. Man hat es sich ja selbst ausgesucht. Zumindest scheint mir das ein Bewusstsein, dass doch auch viele, die sich zur Freien Theaterszene zählen, eint: Es ist ihnen schon klar, dass sie sich das auch irgendwie selbst eingebrockt haben – mit einer gewissen Portion Sturheit. Weil wir eben doch Theater machen wollen. So, wie wir uns das vorstellen. Manchmal vielleicht mit dem Handicap, dass wir in den vorhandenen Strukturen nicht so einsteigen konnten, wie wir das wollten. Und die Gründe dafür sind dann auch oft wieder vielfältig, und man kann es dann auch wieder gar nicht so leicht auseinanderhalten, warum in den anderen Strukturen kein Platz für einen ist oder warum man seinen Platz dort gar nicht gesucht hat, wo es vielleicht ein bisschen leichter gewesen wäre, künstlerisch und finanziell zu überleben. Wir suchen eben doch die Individualität – vielleicht auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Stellt sich dann vielleicht nur noch die Frage, warum eine Gesellschaft eine solche Selbstverwirklichung einzelner Künstler und Künstlergruppen überhaupt unterstützen sollte. Wo es doch Großstrukturen gibt, mit denen in das Theater schon nicht wenige Millionen reingepumpt werden. Was wollen denn da noch diese ganzen Freien, die sich neben, drum und über den anderen Systemen einnisten wollen? Einfach nur weil es Kunst ist? Weil die Gesellschaft das Feedback jener Individualisten braucht, die ihr Glück nur darin suchen, eigene künstlerische Wege zu beschreiben? Wenn eine Gesellschaft Kunst ernst nimmt und nicht nur im Sinne von Event- und Unterhaltungskultur sieht und sie die Kunst auch nicht nur als Dienstleistung begreift, dann liegt natürlich in denen, die sich kompromisslos in ihren eigenen Formen ausdrücken wollen, ein ganz wichtiges Potenzial. Man könnte dann nur noch einwenden, dass, wenn man diese freien Strukturen in großer Form unterstützt, ja einfach wieder nur neue Strukturen herausgebildet werden, die darin dann auch wieder die gleichen unfreien Muster entwickeln, die in den anderen Systemen schon vorhanden sind. Aber vielleicht sind das dann eben einfach wieder nur neue Strukturen, die sich aus dem Empfinden und den Notwendigkeiten für Freie Kunst zeitgemäß entwickeln. Und darum sollte es doch in der Kunst vorrangig gehen, dass sie der Gesellschaft ein

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Feedback gibt über die Befindlichkeit und die Probleme Einzelner im gesellschaftlichen Kontext. Neben und über allen Bedenken und allem Gejammer und Kämpfen mit und um die Strukturen ist das eine erfüllende und eine wesentliche treibende Kraft für die Freien Theatermacher: Auf der Bühne, oder einem zur Bühne gemachten Ort, zu stehen und zu wissen und zu spüren und zu erleben, dass man in seiner künstlerischen Form das ausdrücken konnte, was einem auszudrücken tiefstes Bedürfnis war. Das geht nicht nur in solchen Strukturen wie den freien, aber es geht dort in einer besonderen Weise. Ja, wir wollen »frei« sein. Auch wenn man uns den Begriff schon madig machen will und nicht wenige schon der Meinung sind, man sollte ihn abschaffen – natürlich nur den Begriff »freies« Theater, nicht das Freie Theater selbst. Mag sein, dass der Begriff absolut unscharf ist und aus mancher Sicht vielleicht sogar absurd, weil sich eben die Frage stellen könnte, ob das »andere« Theater dann eben unfrei ist, wo doch gerade das, was sich nicht unbedingt zum »freien« Theater rechnet, tatsächlich vielleicht in vieler Hinsicht viel »freier« ist als das so genannte »freie« Theater. Aber gerade diese Widersprüchlichkeit und Unschärfe ist doch etwas, was das Freie Theater eben im besonderen Maß auszeichnet und charakterisiert. Und darin liegt auch eine wichtige Qualität: Wir wollen frei sein! Auch wenn wir es gar nicht sind. Oder eben nur in ganz speziellen Bereichen, die ja dann aber eben doch wieder das ganz Wesentliche sind für die Kunst und für den Menschen. Es gibt eben doch diesen Bereich, diesen vielleicht kleinen Bereich, in dem wir wirklich frei sind, frei sein können, wenn wir nur wollen. Diese Sehnsucht verbindet das Freie Theater sicher wieder mit jedem in der Gesellschaft, auch denjenigen, die gar nichts mit Theater zu tun haben wollen. Das Freie Theater kann ein kleines Zeichen sein, das es doch geht und gehen kann. Und dafür lohnt es sich zu arbeiten – in aller mühsamen Unfreiheit. Die Zeit für Freie Kunst war wohl nie so günstig wie heute, wo individuell zu sein sicher so wenig wie noch nie unterdrückt, sondern immer auch gefördert und gefordert und technisch und strukturell auch möglich ist. Und die Zeit für wirkliche Freiheit in der Kunst war noch nie so schlecht wie heute, weil sie in hohem Maß bedroht ist, wenn Kunst sich wirtschaftlich rechnen und messen lassen muss und wenn Kunst immer mehr als Erlebnisevent und Dienstleistung verstanden wird. Diese Spannung halten wir aus. Es war und ist eben sicher schon immer ein Merkmal der Freien Szene, mit viel Idealismus und Kreativität Dinge durchzusetzen, zu entwickeln oder einfach zu machen, die erst einmal gar nicht vorgesehen sind. Wir sind so frei.

Die »problematischen Ausländer« und das Theater E VA -M ARIA S TÜTING UND B RANKO Š IMIC »Das Theater ist Produkt und Abbild seiner Zeit und seiner Gesellschaft.« (ERWIN PISCATOR)

Das Theater ist ein gesellschaftspolitisches Medium. Es generiert Themen und Formen aus dem Bewusstsein der Zeit, in der es stattfindet. Wir leben heute in einer multikulturellen Realität, in der Konzepte von Heimat und Identität weit über nationale und geografische Grenzen hinausgehen. Die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft sowie die Abgrenzung von ihr funktionieren individuell in Abhängigkeit von dem eigenen sozialen Umfeld. Wie macht man Theater in und aus einer (post-)migrantischen Gesellschaft heraus? Ein Gespräch zwischen der Theaterproduzentin und Autorin Eva-Maria Stüting und dem Regisseur Branko Šimic. Eva-Maria Stüting: »Postmigrantisches Theater« ist in den letzten Jahren ein Begriff geworden für das Theater von Künstlern unterschiedlicher Herkunft, die sich mit den Themen einer multikulturellen Gesellschaft beschäftigen. Wie würdest du diese Entwicklung aus deiner Erfahrung als Theaterregisseur in Deutschland und vor dem Hintergrund deiner bosnischen Herkunft beschreiben? Branko Šimic: Das Theater war immer schon so – wie die Theatergeschichte zeigt. Vor allem in der Moderne und in der Postmoderne war die Rolle von Migranten, von Flüchtlingen, von Fremden signifikant – in der Kunst an sich, in der Weltliteratur und im Theater.

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Eva-Maria Stüting: Aber in Deutschland kann man seit ein paar Jahren diesen Trend – oder vielmehr das geschärfte Bewusstsein für diese Arbeiten – beobachten. Branko Šimic: Das stimmt und doch ist es im Grunde nichts Neues und nichts Besonderes. Der Hype ist neu. 1992 kam ich nach Deutschland. Ich kann mich erinnern, wie ich ins Deutsche Schauspielhaus in Hamburg kam und dort im Foyer ein Plakat hing, auf dem zu lesen war: »Hier arbeiten Menschen aus 20 Ländern« und dann die Aufzählung eben dieser Länder – das waren wie ich gerne sage »problematische« und »nicht problematische« Ausländer: Engländer, Amerikaner, Skandinavier etc. – das sind die »nicht problematischen« Ausländer. Und dann gibt es die »problematischen« Ausländer wie Türken, Afrikaner, Südslaven etc. Also diese Tendenz und dieses Bewusstsein gab es schon früher. Und wenn wir Ensembles betrachten, die die moderne Entwicklung des Theaters geprägt haben, wie die Gruppe von Peter Brook und andere: Die waren und sind bewusst besetzt mit Schauspielern der unterschiedlichsten Herkunft, mit Japanern, Afrikanern – damit wird gearbeitet. Das ist nichts Neues. Neu ist es nur für eine bestimmte Gesellschaftsschicht: Plötzlich schreiben die Menschen mit migrantischem Hintergrund Bücher, machen Filme und sind Theaterregisseure. Diese Leute waren nicht vorbereitet auf dieses Phänomen und können teilweise nicht begreifen, dass ein Mensch, der aus einer türkischen Familie stammt – Vater Bauarbeiter, Mutter Putzfrau – nun die Hochkultur mit gestaltet: sehr gute Bücher schreibt auf deutsch, erfolgreiche Filme macht oder großartiges Theater inszeniert. Für das konservative Denkmuster ist dies vielleicht auch eine Bedrohung, weil »die Fremden« nicht mehr unsichtbar sind. Sie lassen sich nicht mehr übersehen. Das führt zu gesellschaftlichen Widersprüchen: Auf der einen Seite haben wir die globale Vernetzung, die Welt ist viel kleiner geworden. Auf der anderen Seite wird die Gesellschaft immer konservativer und immer unfähiger, wie Slavoj Zizek sagte, »unsere Anderen (Fremden) im Zeitalter der angeblichen Globalisierung auszuhalten«. Das geht dann mit Begriffen wie »Postmigrantisches Theater« vielleicht besser. Eva-Maria Stüting: Unter diesem Begriff werden viele Arbeiten gezeigt, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen: Migration, Integration etc. Der Trend geht derzeit dahin, diese Themen mit dokumentarischen Mitteln auf die Bühne zu holen. Wie siehst du diese Entwicklung?

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Branko Šimic: Dass Biografien von »sterblichen Menschen« interessant geworden sind für das Theater und dass daraus Material für die Bühne entwickelt werden kann, ist kein typisches Merkmal für die künstlerische Arbeit von Migranten und das so genannte »migrantisches Theater«. Das ist auch eine allgemeine Entwicklung im Theater. Ich erkläre mir das so, dass sowohl die Theatermacher als auch das Publikum vom so genannten »Illusionstheater« irgendwann genug hatten – da hat sich nichts mehr bewegt. In den 60er, 70er, 80er Jahren wurde das auf ein so hohes Niveau gebracht, das es meiner Meinung nach nicht mehr entwickelbar war. Es ist mit der gesellschaftlichen Entwicklung ein Bedürfnis nach Authentizität entstanden. Und da wurde das Dokumentarische als Material entdeckt. Eva-Maria Stüting: Was macht die Dokumentation migrantischer Biografien deiner Meinung nach für das Theater so reizvoll? Branko Šimic: Die Geschichten von Migranten sind für ein Theater sehr geeignet. Tarkowsky hat mal gesagt: »Das Exilleben ist eine Krankheit.« In gewisser Weise beschreibt das den psychischen Zustand, den ich meine. Man beobachtet die Realität aus einer ganz besonderen Perspektive. Das ist interessant, weil man andere Dinge sieht als den normalen Alltag. Man ist sensibilisiert für die Gesellschaft. Man hat ein anderes Bewusstsein, denn alles ist zunächst fremd. Die Augen werden zu Kameras und nehmen einfach alles auf. Dieser Zustand ist ganz nah an einer Fantasiewelt. Es ist eine Realität, die schon fiktionalisiert ist. Und das ist für das Theater besonders spannend, weil das Theater genau das sucht. Ohne diesen fiktionalen Moment ist Theater nicht vollkommen, nicht endgültig. Und jetzt kommen Menschen und Geschichten, die diesen Moment in sich tragen, auf die Bühne – das ist sehr theatral. Meine Rolle als Regisseur in solchen Projekten ist die eines Vermittlers zwischen Realität und Fiktion. Eva-Maria Stüting: Du hast viele literarische Stücke an klassischen Theaterbühnen inszeniert – und dann irgendwann angefangen, Projekte zu machen, die sich mit dieser Realität auseinandersetzen. Branko Šimic: Mein erstes Projekt in diese Richtung war 2003 »Reinigungskraft live«, die Geschichte eines Putzmanns, der nachts Büros reinigt und mit den Menschen kommuniziert, die er nie gesehen hat – nur ihre Schreibtische, ihre Stühle, ihren Müll. Über diese Indizien stellt er sich die Bewohner der Räume vor und entwickelt Bilder von und Geschichten über sie. Das ist eine wahre Geschichte: Der Putzmann hat mit einem Diktiergerät am T-Shirt geputzt und gere-

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det. Das Material haben wir dann ausgewertet. Hier fließen Realität und Fiktion ganz organisch ineinander. Man sieht und hört einen Putzmann, jemanden, den man normalerweise nicht sieht und nicht kennt. Eigentlich existiert er nicht in der Gesellschaft. Er macht nur nachts sauber. Und das ist eben für eine Aufführung spannend – dass der unsichtbare Putzmann seine Wahrnehmung beschreibt, dass er beim Putzen dichtet und über seine Realität singt und so ein Bild von der Gesellschaft aus einer völlig unbekannten Perspektive entwickelt. So kann dokumentarische Arbeit mit migrantischen Protagonisten funktionieren. Eva-Maria Stüting: Deine Karriere als Theaterregisseur begann in den 1990er Jahren an Stadt- und Staatstheatern, seit 2003 arbeitest du hauptsächlich in der »Freien Szene«; du hast also viele verschiedene Produzenten in Deutschland. Wie ist es, als Regisseur mit migrantischem Hintergrund in Deutschland Theater zu machen? Branko Šimic: Zu Beginn meiner Karriere gab es nicht viele Regisseure mit migrantischem Hintergrund in Deutschland. Und vor allem nicht, die hier ausgebildet waren und aus dem »problematischen« Ausland kamen. Es war sehr interessant zu beobachten, wie die Menschen in den Apparaten auf mich reagierten: Einige waren euphorisch begeistert, sind auf mich zugekommen und haben betont, wie super sie es finden, dass ich in Deutschland bin und hier am Theater arbeite. Andere haben nicht viel gesagt, aber haben keine Gelegenheit verpasst, mir ganz deutlich zu zeigen, dass sie mir und dem Phänomen an sich sehr skeptisch gegenüberstehen. Bei Dritten konnte man weder eine negative noch eine positive Haltung feststellen. Sie waren nur von meiner Erscheinung und von meinem Akzent etwas verwirrt. Durch die politische Entwicklung und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen hat meine Arbeit eine neue gesellschaftliche Dimension bekommen. Und ich passe perfekt in dieses Bild: Ich bin Kriegsflüchtling, bin aber in Hamburg als Theaterregisseur ausgebildet worden und beschäftige mich mit diesen Themen. Ich bin oft eingeladen worden auf Festivals und zu Diskussionen zu dem Thema als angeblicher Spezialist mit der perfekten Biografie. Manchmal habe ich mich dabei gefühlt wie ein Clown. Ich bin interessant geworden, um über etwas Bestimmtes zu reden – zu einem begrenzten Thema –, und dagegen habe ich mich manchmal gewehrt. Ich wollte über den Umgang mit Brecht sprechen mit den deutschen Theatermachern – da wurde mir gesagt, das ist nicht unser Thema. Aber ich als Ausländer betrachte das Erbe von Bertolt Brecht vielleicht aus einer neuen Perspektive, die auch für die deutschen Brechtkenner interessant sein könnte. Auch wenn das von mir nicht erwartet wird.

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Heute ist die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Produzenten erst mal von gegenseitigem Interesse geprägt. In meinen letzten Projekten waren zwar die Themen Ausländer, Flüchtlinge, Putzmänner usw., aber meine Motivation war auch sehr stark eine ästhetische. Und da muss man sich verstehen. Dabei habe ich zwei Arten von Produzenten kennen gelernt: die, die ein grundsätzliches Interesse an diesen Themen, den Menschen und meiner Arbeit haben und schon lange solche Projekte unterstützen, unabhängig von der politische Diskussion. Und die, die dem Trend folgen und schon absehbar ist, dass es sie bald nicht mehr interessieren wird. Eva-Maria Stüting: Die Frage ist, wie geht es weiter mit dem »Postmigrantischen Theater«? Hast du eine Prognose? Branko Šimic: Ich hoffe, es wird eine organische Weiterentwicklung geben. Ich hoffe, dass es nicht in diesem Hype bleibt, sondern das es immer mehr um Qualität gehen wird und daraus eine gewisse Ästhetik entsteht. Wichtige Konzepte in diesem Bereich gab es vor dem Trend und wird es auch danach geben. Für mich muss das gar nicht so spektakulär sein oder so besonders, vielmehr sollte sich der Blick auf solche Projekte normalisieren, so dass sich Qualität durchsetzen kann. Eine Theateraufführung misst man nicht daran, ob sie von Migranten oder Nichtmigranten gemacht worden ist, sondern ob sie eine ästhetische und inhaltliche Kraft hat oder nicht. Eva-Maria Stüting: An vielen Häusern kann man Projekte sehen von Theatermachern mit migrantischem Hintergrund. Wie geht es an diesen Häusern und Institutionen weiter? Branko Šimic: Ich habe gehört, dass es an verschiedenen Theatern jetzt Migrationsbeauftragte gibt – wie eine politische Instanz, eine neue Arbeitsstelle, die es bis dahin noch nicht gab. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Jetzt ist das da – alle finden das gut, es wird von der Politik willkommen geheißen und finanziert. Und in ein paar Jahren ist das dann nicht mehr so interessant mit den Migranten. Dann schafft man das wieder ab und gibt das Geld für etwas anderes aus. Auf der einen Seite finde ich das auch gut, weil wir in einer migrantischen Gesellschaft leben. Es wird auch immer mehr werden: Die Vermischung ist unvermeidbar. Und das fühlt sich für mich gut an. Ich komme aus einer Gesellschaft, in der die Vermischung der Kulturen selbstverständlich war, und damit bin ich aufgewachsen. Aber ich habe in meinem Heimatland auch erfahren müssen, wie fragil diese Vermischung von Kulturen und Religionen – der so genannte »Mul-

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tikulturalismus« – ist und eben keine praktische mechanische Kraft besitzt, um sich zu wehren. Wie mein ehemaliger Professor aus Sarajevo Dzevad Karahasan einmal sagte: »Ein Mosaik kannst du mit einem Hammer zerstören, nicht aber den Hammer mit dem Mosaik zerschlagen.« Seit dieser Zeit bin ich kein Idealist mehr, was diese Frage angeht. Trotzdem fühle ich mich eher unwohl in einer Gesellschaft, die diese Vielfalt nicht hat. Eva-Maria Stüting: Ich denke, es wird nicht mehr wegzudenken sein, wenn Kunst und Theater im Besonderen als Spiegel der Gesellschaft funktionieren sollen. Theater generiert ja die Themen und Formen aus dem Bewusstsein der Zeit, in der es stattfindet. Und diese Zeit ist eben eine, in der nationale und geografische Heimatbegriffe nicht mehr eins zu eins funktionieren. Die Herausforderung ist es, Theater für eine globale, interkulturelle Welt zu entwickeln, die sich aus individuellen Geschichten und Perspektiven zusammensetzt. Branko Šimic: Du hast in deiner Biografie keinen migrantischen Hintergrund. Du beschäftigst dich aber als Produzentin hauptsächlich mit interkulturellen Projekten. Was ist deine Motivation, mit Migranten Theater zu machen? Eva-Maria Stüting: Die Arbeit als Dramaturgin auf Kampnagel hat mich sicherlich geprägt. Da habe ich die verschiedensten Projekte betreut und Programmschienen entwickelt. So konnte ich ein ganz breites Feld der Theaterproduktion kennen lernen. Unter anderem eben auch die Arbeit mit Migranten. Über die sieben Jahre dort habe ich gemerkt, dass mich in meiner Arbeit vielmehr die Projekte interessieren, die diese gesellschaftspolitische Dimension haben. Neben dem künstlerischen, ästhetischen Moment gibt es noch ganz viele andere Aspekte in der Produktion, die eine entscheidende Rolle spielen und die für mich eine immer größere Wichtigkeit bekommen haben. Branko Šimic: Wie würdest du diese Aspekte beschreiben? Eva-Maria Stüting: Diese Projekte können einen sehr großen Wirkungskreis entwickeln. Solche Aufführungen bringen einen dazu, nach eigenen Positionierungen zu suchen. Man stellt sich Fragen und hinterfragt auch die eigene Rolle in der Gesellschaft. Ich arbeite in diesen Projekten mit Menschen, die zum Teil keine Schauspieler, keine konventionellen Theaterprofis sind, für die diese Projekte einen sehr hohen persönlichen Stellenwert haben und in deren Biografien diese Arbeit eben auch Spuren hinterlässt. Sie werden partizipatorisch in einen künstlerischen Prozess mit einbezogen, nicht weil sie Geld dafür bekommen,

D IE »PROBLEMATISCHEN A USLÄNDER « UND

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nicht weil sie es gelernt haben, sondern weil die kreative Arbeit an einem solchen Theaterprojekt ihnen etwas geben kann, etwas Wertvolles vermitteln kann: Die Gesellschaft ist daran interessiert, euch zu hören, euch zu sehen. Ihr seid ein aktiver Teil der Gesellschaft und eure Themen sind unsere Themen. Das soll sich jetzt gar nicht so lehrerhaft und besserwisserisch anhören. Theater ist eben auch Ventil für Unaussprechliches, Unsichtbares, Verstecktes. Nach den Aufführungen geht da etwas weiter bei jedem Einzelnen, der beteiligt war. Auch bei mir. Diese Beobachtungen haben mich sehr beeindruckt. Branko Šimic: Was geht da weiter für dich? Eva-Maria Stüting: Als Produzentin ist es sehr spannend, über die Projektarbeit die verschiedensten Perspektiven auf die Gesellschaft kennen zu lernen und dann ästhetische Formen für die Präsentation des Materials zu entwickeln. Dabei sehe ich, wie sich das Leben anfühlen kann – wie es sich für mich nie anfühlen wird. Ich lerne, wie es sich anfühlt, den Rand der Gesellschaft immer zu spüren und mit diesem Bewusstsein ein Teil der Gesellschaft zu werden. Das ist für mich eine große Bereicherung und das interessiert mich vor allen Dingen in der Theaterproduktion, weil man sieht, dass diese authentischen Geschichten, wenn sie in einer stimmigen ästhetischen Form präsentiert werden, ein unglaubliches Potenzial der Aufklärung, der Identifikation, der Abgrenzung und der Positionierung haben. Branko Šimic: Und was geht für das Publikum weiter? Eva-Maria Stüting: Das ist besonders interessant zu sehen – gerade wenn man mit Menschen arbeitet, die sonst nicht ins Theater gehen und deren Familien, Freunde und Bekannte Theater als etwas Fremdes wahrnehmen. Was passiert, wenn diese Familien das erste Mal ins Theater gehen und ihren Sohn, ihre Tochter, einen Freund auf der Bühne sehen – und nicht in der Schulaula oder einem Stadtteilzentrum, sondern in einem gut besuchten Theater neben anderen – sagen wir mal nicht unmittelbar betroffenen – Zuschauern. In den Momenten nach den Aufführungen kann man oft beobachten, dass eine Grenze überschritten wurde: Das Stück thematisiert die Geschichten der Menschen – sie haben von sich erzählt und so auch von ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld. Und jetzt sehen sie, dass diese Geschichten eine Relevanz haben – dass mit diesen Geschichten ein gesamtes Publikum unterhalten wurde, ein Theaterabend bestritten wurde.

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Branko Simic: Das ist natürlich spannend. Aber darüber darf man das konservative Publikum nicht verlieren. Denn gerade für den bildungsbürgerlichen Zuschauer kann es ein unglaubliches Erlebnis sein, so eine Aufführung zu sehen. Eva-Maria Stüting: Und da sind wir wieder bei der Form. Deshalb muss die ästhetische Form stimmen und es darf kein rein sozialpädagogisches Projekt sein, sondern es muss einen hohen künstlerischen Anspruch formulieren. Nur ein Kunstprojekt von hoher Qualität, dass diese Menschen und Themen als Basis hat, kann das konservative Publikum genauso begeistern wie die Familien oder Freunde. Denn dann wird erst sichtbar, dass die verhandelten Inhalte tatsächlich gesellschaftspolitische sind, die jeden gleichermaßen betreffen. Das sind die Momente, die diese Form des Theaters besonders aufregend machen – und mit denen man meiner Meinung nach sehr viel mehr erreichen kann als die ständige Neuauflage dramatischer Klassiker. Über die Abbildung der Gesellschaft in solchen Projekten entsteht natürlich auch das Potenzial, die Gesellschaft zu beeinflussen. Branko Simic: Ich habe das in Düsseldorf erlebt nach einer Aufführung von »Gesellschaft für reale Märchen« 2009, wo es um illegale Flüchtlinge ging, die als Kinder alleine aus Afrika nach Deutschland gekommen sind oder über die Grenze geschmuggelt wurden und hier ihren Weg gemacht haben. Sie erzählen in dem Projekt ihre Geschichten. Zur Premiere war eine Kulturpolitikerin aus Düsseldorf da und hat gesagt: »Was für ein Geschenk, dass diese Menschen hier sind.« Aber diese Menschen sind alle illegal hierhergekommen. Eigentlich müsste sie als Politikerin diese Menschen als Kriminelle betrachten. Das Theater kann so etwas erreichen und die Macher und Produzenten müssen sich das sehr bewusst machen. Eva-Maria Stüting: Die interkulturelle künstlerische Sprache muss eine gleichberechtigte Sprache werden, die den Theaterbetrieb thematisch, ästhetisch und strukturell bereichert und nicht nur die soziale Quote hebt.

Freie Theaterkünstler als Global Player M ICHAEL F REUNDT

Der Begriff »Global Player« suggeriert Geld, Macht, weltweite Verbindungen, dynamische Entwicklungen und Einfluss. Doch im internationalen Vergleich sind Freie Theaterkünstler meist frei von größeren Finanzmitteln und verfügen selten über größere Macht. Aber sie knüpfen weltweit Kontakte, ihre Strukturen wechseln im Auf und Ab zwischen großen Festivals und Garagenbespielungen. Und: Es ist ihr Einfluss auf die regionale Theaterszene, der sich in anderen ästhetischen Ansätzen begründet. Diese wiederum beziehen sich nicht selten auf Theatermodelle aus anderen Ländern, auf die Begegnung mit Künstlern weltweit. Die Freiheit, anderes Theater zu sehen, zu erleben, in anderen Ländern zu spielen und zu produzieren, sie erzeugt auch eine künstlerische Freiheit. Wenn man also weiterhin mit dem Begriff des Global Players spielt, dann vielleicht, um die Vermutung zu prüfen, in internationalen Produktionsweisen könnte sich finden, was für Freie Darstellende Künste als wesentlich gilt: Arbeitsformen und Strukturen aufzubauen, welche einer künstlerischen Idee eine angemessene Realisierung geben – und zwar (daher gern der omnipotente Klang des Globalen) in einer den Möglichkeiten des Stadttheaters überlegenen Form. Darin könnte man denn auch eine ernsthafte Gefahr für die etablierten Theater, für die festen Häuser aufkommen sehen. Kein geringerer als Ivan Nagel, vormaliger Intendant des Deutschen Schauspielhauses Hamburg und künstlerischer Leiter des Festivals Theater der Nationen, sprach 1979 zur Eröffnung des Festivals von den »Kriegen des Geistes«: »Theater der Nationen ist ein zerrissenes Festival. Es spaltet sich in drei Bereiche: die großen Staatstheater, die Freien Gruppen, das Ein-Mensch-Theater. Sie ergänzen sich nicht zu einem harmonischen Begriff des Welttheaters. Ja, ihre Absichten, ihre Arbeits-

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weisen, die Werke selbst, die sie hervorbringen, schließen einander aus« (Nagel zitiert nach Fiebach 1999: 4).

Was Nagel geradezu als ästhetische und strukturelle Kampfansage formulierte, ist über die Jahre mit Theater der Welt1 mindestens eine permanente Befragung geworden. Eugenio Barba, Jango Edwards, Laurie Anderson, Joshi Oida, Robert Wilson, Jan Fabre, Anne Teresa de Keersmaeker, Oleg Tabakov, Robert Lepage, Ong Ken Seng u. v. m.: Ihre Gastspiele haben bei Theater der Welt und in der Folge bei vielen Festivals in Deutschland das Denken, Erproben, Erspielen von Theater verändert. Immer erzählten sie ihre eigenen Geschichten, in ihrer eigenen Form, geprägt von den ganz individuell bearbeiteten kulturellen und sozialen Kontexten ihrer künstlerischen Produktion. Und ihre künstlerischen Ideen realisierten sie nicht in den staatstragenden Theaterhäusern ihrer Länder, sondern in sehr individuell entwickelten Arbeitsformen und mit zahlreichen Koproduzenten. Indem ihre individuelle künstlerische Sprache zum Tragen kam ohne das Etikett der Repräsentation ihrer nationalen Theaterkultur, wurden sie für die Kuratoren der Festivals interessant und begeisterten sie das Publikum weltweit. In den 1980er und 1990er Jahren erkannten die Festivals, dass sie nicht allein von den fertigen Produktionen dieser Künstler profitieren können, sondern mitverantwortlich sind für deren Entstehen, für die stabilen Arbeitsgrundlagen der Künstler. Im selben Zeitraum entstanden europaweit Produktionshäuser wie das Hebbel-Theater in Berlin (HAU), der mousonturm in Frankfurt am Main, das Kaai-Theater in Brüssel oder Felix Meritis in Amsterdam. Häuser ohne Ensembles, die mit einem flexiblen Produktionsapparat ganz darauf eingestellt waren, ihre Kapazitäten in die Ideen individueller künstlerischer Projekte zu investieren. In einem immer dichteren Netzwerk von Produzenten und Veranstaltern in Europa realisierten sich nicht mehr nur einzelne Projekte, sondern es wurde strategisch an besseren Rahmenbedingungen für die Künstler gearbeitet. Schon 1981 wurde von Festivalveranstaltern und Produktionshäusern das Informal European Theatre Meeting gegründet; als Netzwerk für neue künstlerische Projekte, aber auch für den Austausch von Know-how und der politischen Lobbyarbeit für die neuen Formen europäischen Theaters wegen. 1994 zeigte die erste Tanzplattform Deutschland zeitgenössischen Tanz aus Deutschland bewusst für Veranstalter aus dem Ausland, seitdem sehen alle zwei Jahre über 400 1

»THEATER DER WELT, 1981 vom deutschen ITI als eine nationale Initiative im Anschluss an das weltweite Festival Theater der Nationen begründet, präsentiert THEATER DER WELT alle drei Jahre wegweisende Leistungen und Entwicklungen des Theaters in aller Welt« (Online: http://www.iti-germany.de/pro_tdw.shtml [26.10.2011]).

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internationale Gäste ein Dutzend aktuelle Produktionen – für nicht wenige die Chance, weltweit künstlerische Kontakte und Koproduzenten zu finden. Und seit zwei Jahren arbeitet das Internationale Theaterinstitut (ITI) im Verbund mit europäischen Partnern an einer Statistik des internationalen Austauschs.2 Mehrere Hundert Gastspiele deutscher Produktionen wurden pro Jahr erfasst – vorrangig gingen diese ins europäische Ausland, vielfach auch nach Südamerika. Künstlerkollektive wie Rimini-Protokoll, die cie. toula limnaios oder Nico and the Navigators haben über die Jahre ein beständiges Netzwerk von Partnern im Ausland entwickelt. Die großen Kompanien des Theaters im öffentlichen Raum,3 so Pan.Optikum, Titanick oder Antagon, realisieren auf den Straßentheater–Festivals weltweit immer aufwendigere Produktionen für Tausende von Zuschauern. Das Goethe-Institut ist dabei für viele Künstler Mittler und Kooperationspartner, unterstützt aber nur einen Teil der Produktionen. Wenn Freie Kompanien ihre Produktionsstrukturen erweitern, kontinuierlich ausbauen wollen, reichen regionale und nationale Partner aber allein nicht aus, um die Produktionsmittel aufzubringen. Bei der im Grunde in den Ländern und Kommunen gedeckelten Förderung für die Freien Darstellenden Künste ist ohne Koproduzenten und Gastspielpartner im Ausland Wachstum nicht möglich. Zudem generiert nicht selten erst »internationale Ausstrahlung« das Interesse öffentlicher Förderer und Stiftungen im Inland. Allerdings bleiben diese Produktionsstrukturen fragil, wenn die Basis nicht stabil ist, wenn der Ort, an dem die künstlerischen Ideen entwickelt werden, nicht ein Minimum an öffentlicher Förderung realisiert und sich kein Publikum für diese Arbeiten interessiert. Nur mit einem Minimum an eigenen Mitteln und Strukturen lässt sich mit Koproduzenten verhandeln. International sehr erfolgreich, haben Sasha Waltz & Guests enorm viel Zeit und Kraft in ihre Basis in Berlin investiert, mit Kämpfen um die Größenordnung ihrer Förderung, mit dem Aufbau von Produktionsorten wie dem Tacheles, den Sophiensaelen, schließlich des Radialsystem V, mit dem Wechseln hin zur und weg von der Schaubühne – und mit einem großen, wachsenden Publikum.

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In Zusammenarbeit mit der Internationalen Gesellschaft der Bildenden Künste entwickelte das ITI ein Online-Handbuch Künstler-Mobilität, ist aktiv im Netzwerk SPACE (Supporting Performing Arts Circulation) und unterstützt das Netzwerk der Website on-the-move.org. Mit SPACE gelang es erstmalig ein Pilotprojekt für ein Mapping der Gastspiel und Koproduktionen in Europa zu entwickeln. Auf www.artsmobility.info sind erste Ergebnisse sichtbar.

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Siehe dazu den Text von Gabriele Koch in diesem Band.

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Das bedeutet auch, dass international agierenden Kompanien immer von lokaler oder nationaler Förderung abhängig bleiben.4 Transnationale Förderung existiert nur im Rahmen einzelner EU-Projekte, nicht dauerhaft. Die Möglichkeit, sich neue Orte des Publikums und der Förderung aufzubauen oder bei Wegfall von Förderung in einem Land in ein anderes auszuweichen, existiert nur sehr selten. Wirkliche Global Player (wir sprechen nicht von der Blue Man Group oder dem Cirque de Soleil) sind extreme Ausnahmeerscheinungen. Die belgische Choreografin Meg Stuart, deren Company Damaged Goods als Kulturbotschafter der Flämischen Gemeinschaft in Belgien gefördert wird, lebt und arbeitet seit Jahren in Berlin. Lange Jahre hat sie zunächst mit dem Zürcher Schauspielhaus, dann mit der Berliner Volksbühne kooperiert. Heute bilden Brüssel und Berlin zwei lokale Basen ihrer Arbeit. The Forsythe Company wird von den Ländern Hessen und Sachsen, den Kommunen Frankfurt (Main) und Dresden gefördert. Zugleich hat sich der Choreograf William Forsythe mit der Forsythe Foundation in New York eine Struktur geschaffen, die künstlerische Forschungsprozesse, Bildungsprojekte und die Produktionen der Company unterstützt. Einen anderen Weg sind die Choreografen und Performer Frédéric de Carlo, Frédéric Gies, Isabelle Schad und Odile Seitz gegangen. Sie haben mit Praticable ihr eigenes Produktionsnetzwerk aufgebaut, in dem sie wechselseitig Arbeitsprozesse in Europa durch ihre individuellen Partner und Förderer realisieren, präsentieren und zu neuen Kollaborationen einladen. Um auf die eingangs zitierten Worte von Ivan Nagel zurückzukommen: Dass sich durch die Einflüsse aus dem Ausland, durch den Aufschwung freier Theaterarbeit die Theaterstrukturen in Deutschland radikal geändert hätten, kann man nicht behaupten. Noch immer folgen die Theater hierzulande ihrem regionalen und lokalen Kulturauftrag. Andererseits erleben wir die Internationalisierung der Stadttheater. Ob Schaubühne, Volksbühne, Gorki-Theater, die Staatstheater in Wiesbaden oder Stuttgart – Produktionen deutscher Stadttheater sind international gefragt. Seit Jahren existieren im Theater an der Ruhr und im Theaterhaus Stuttgart internationale Ensembles. Jetzt werden mit der Intendanz von Johann Simons an den Münchner Kammerspielen, mit Staffan Valdemar Holm in Düsseldorf und Annemie Vanackere am Hebbel-am-Ufer (HAU) neue starke Signale gesetzt. »Neu ist […], dass die Internationalisierung die Alltage der Stadttheater zu prägen beginnt« (Pilz 2011: 6). Längst sind auch auf dieser Ebene gemeinsame EU-Projekte realisiert worden, haben die Stadttheater in Europa mit der European Theatre Convention ein starkes Netzwerk aufgebaut. In dieser Entwick4

Und europaweit kann man jetzt beobachten, wie sich die Kürzungen bei den Freien Gruppen in den Niederlanden auf den internationalen Austausch auswirken werden.

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lung wenden sie sich auch verstärkt Freien Künstlern zu und werden für diese neben der Vielzahl von Produktionshäusern, Residenzorten und Festivals als Partner und Koproduzenten interessant.5 Die »globale« Basis künstlerischer Arbeit erweitert sich. Aber es entstehen keine Megastrukturen für Tanz- und Theaterproduktionen vergleichbar etwa weltweit agierenden Architekturbüros. Im Grunde müssen Künstler nach wie vor für jede Projektidee ein Netzwerk entwickeln, das die jeweilige technische und organisatorische Infrastruktur trägt. Darin liegt auf der anderen Seite auch die enorme Freiheit, zu allererst von Ideen und künstlerischen Partnern auszugehen und von hier aus nach den angemessenen Strukturen zu suchen. Wenn aber auf dieser Basis für Künstler ein anderes Potenzial entstehen soll, ihre Ideen autonom und vor allem in angemessenen Partnerschaften und Produktionsstrukturen zu entwickeln, die sich den wandelnden künstlerischen Ideen anpassen, dann liegt ein Schlüssel sicherlich in der dramaturgischen und ökonomischen Begleitung und Beratung. Damit sind im Besonderen Produktionshäuser und Produzenten – bei denen sich in der Vielzahl der Projekte dieses Wissen generiert – nicht nur als Teile der technischen Infrastruktur einer Koproduktion gefragt, sondern – über die kuratorische Arbeit hinaus – als Entwicklungspartner der Künstler im Finden von Fördermitteln, Sponsoren, Produktionsmöglichkeiten. Und sicherlich zeigen internationale Produktionen wie Alain Platels Musiktheater-Produktion »Wolf ... oder wie Mozart auf den Hund kam« (2003) oder Claudio Valdés Kuri Opernprojekt »Montezuma« (2010) das von Kampnagel und Theater der Welt koproduziert wurde, dass sich künstlerische Visionen nicht an technischen und finanziellen Limits brechen müssen.

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Inwieweit das neue Förderprogramm »Doppelpass« der Kulturstiftung des Bundes weitere entsprechende Impulse setzt, bleibt abzuwarten.

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L ITERATUR Nagel, Ivan, in: Fiebach, Joachim (Hg.) (1999): Theater der Welt. Theater der Welt 1999 in Berlin. Theater der Zeit Arbeitsbuch 8, Berlin: Theater der Zeit, S. 4. Pilz, Dirk (2011): »Im Zwischen«, in: Impuls (1/2011), Berlin, S. 5-10.

Hildesheimer Freischwimmer auf dem Sprung in die Professionalität der Freien Szene Über die künstlerische und strukturelle Förderung junger Theatermacher_innen1 M ELANIE H INZ

P ARADISE N OW Hildesheim ist ein Paradies für alle Studierenden, die Theater probieren wollen. Das ist natürlich eine Subjektive von mir, die ich nun schon seit über zehn Jahren erst als Studentin und mittlerweile als Wissenschaftliche Mitarbeiterin dem Studiengang stark verbunden bin und im Folgenden am Beispiel der Gruppen Fräulein Wunder AG, machina eX und vorschlag:hammer betrachten möchte, wie der Theaternachwuchs in Hildesheim gefördert wird und welche Chancen und Schwierigkeiten sich ihm mit dem Sprung in die Professionalität der Freien Szene2 stellen.

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Ich danke Philip Steimel von der Gruppe machina eX, Kristofer Gudmundsson, Gesine Hohmann, Margrit Sengebusch und Stephan Stock der Gruppe vorschlag:hammer und Anne Bonfert von der Fräulein Wunder AG für die Gespräche im Sommer 2011 über Erfahrungen, Chancen, Schwierigkeiten und Utopien, als Theaternachwuchs in der Freien Szene zu landen, die den Artikel entscheidend geprägt haben.

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Ich beschränke mich in diesem Artikel auf die Freie Szene, wohl wissend, dass viele Absolventinnen und Absolventen der Studiengänge Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis (bis 2000: Kulturpädagogik) und Szenische Künste als Theaterpädagog_innen, Regieassistent_innen, Pressereferent_innen oder Produktions-leitung ins Stadt- und Staatstheater gehen – und Hildesheim vor allem als »Dramatur-

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Auch wenn die Schimpftiraden über die Stadt Hildesheim, die keine kulturellen Attraktionen zu bieten habe, außer man liebt die Baukunst von Kirchen, zum »guten Ton« der Studierenden gehören, ist es für das künstlerische Schaffen durchaus von Vorteil, dass es kaum Ablenkungsmöglichkeiten gibt. So bleibt einem auch nichts anderes übrig als Theater zu machen, wenn man sich für die Zeit seines Studiums in Hildesheim niederlässt. Die Universität Hildesheim, an der das kulturwissenschaftliche Studium mit einem künstlerischen und wissenschaftlichen Schwerpunkt im Fach Theater belegt werden kann, ist überschaubar. Schnell kennt jeder jeden und auch die Professor_innen und Mitarbeiter_innen sprechen die Studierenden beim Vornamen an. Neben der Lektüre von Foucault und Fischer-Lichte kommt irgendwann für jede und jeden der Tag, an dem der Beschluss gefasst wird, gegebenenfalls auch außerhalb des vorgeschriebenen Lehrplans, ein eigenes Theaterprojekt zu realisieren, sich mit anderen auf einer Probebühne zusammenzurotten und mit einem Zuschuss von maximal 500 Euro vom Studierendenparlament einfach loszulegen. Jenes erste Mal liegt bei mir nun schon einige Jahre zurück und ist dennoch ein Dreh- und Angelpunkt meiner Theaterbiografie. Im Rahmen des Projektsemesters zum Thema »Antike Intermedial« im Jahr 2004 war es erstmals möglich, dass die Studierenden im Hauptstudium eigene Projekte machen konnten, die von den beiden »Vätern« des Studiengangs Hajo Kurzenberger und Hartwin Gromes dramaturgisch betreut wurden. Heiner Müllers »Verkommenes Ufer/ Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten« bildete die Textgrundlage für meine Diplominszenierung »Freischwimmen! Mit Medea im Blutbad«, die ich in einem alten, efeubewachsenen Swimmingpool umsetzen wollte – unter meinen Mitstreiterinnen Anne Bonfert, Verena Lobert und Vanessa Lutz. Wir diskutierten feministische Diskurse, reduzierten das szenische Spiel auf radikale körperliche Handlungen, Medea wurde zu einer kollektiven Figur aller Performerinnen, während der Text als Hörspiel dazu vom Band lief. Und selbst das stundenlange Proben im eiskalten Wasser mit Vaseline-Wickeln unter den Stumpfhosen gegen die Kälte hielt uns nicht ab. Das Ergebnis wurde im Rahmen des Projektsemesters mehrfach gezeigt und im studentischen Kreis viel diskutiert. Diese Arbeitsform ermöglichte einen intensiven Austausch mit den Professoren, die die Probenarbeit kontinuierlich begleiteten. Durch die gemeinsamen Gespräche wurde nochmals der dramaturgische Blick auf die eigene Arbeit und das eigene Theaterverständnis geschult. Diese Gespräche setzten aber über das eigentliche Projekt hinaus auch Forschungsfragen frei, die wir dann in Haus- und Diplomarbeiten bearbeiteten. Zugleich stiftete das Projekt die Erfahrung eines gemeinschaftgenschmiede« bekannt ist. Vgl. hierzu auch die Reportage über das Hildesheimer Ausbildungskonzept in der Fachzeitschrift Theater heute von Eva Berendt.

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lichen Theaterverständnisses und den Wunsch, weiter gemeinsam Theater zu machen. 2006 kamen nach zwei Jahren und weiteren Projekten – auch in unterschiedlichen Konstellationen – noch Malte Pfeiffer und Carmen Waack hinzu, und wir gaben uns und der gemeinsamen Zukunft unserer Arbeit einen Namen: Wir gründeten das Theaterkollektiv Fräulein Wunder AG3. Theaterarbeitsgemeinschaften wachsen wie Pilze aus dem Hildesheimer universitären Boden, manche bleiben nur temporär für ein oder zwei Projekte bestehen und sind vor allem im Theaterhaus Hildesheim zu sehen.4 Andere fassen wie die Fräulein Wunder AG den existenziellen Entschluss, auch über das Studium hinaus Freies Theater machen zu wollen. Während vergleichsweise wenige einzelne Regisseure wie Sebastian Nübling, Albrecht Hirche, Uli Jäckle oder Miriam Tscholl aus dem Studiengang hervorgegangen sind, sind jedoch immer wieder Gruppen in der Freien Szene sichtbar geworden: in den Anfängen des Studiengangs Theater Aspik, Theater Mahagoni, Theater Plan B, die Kindertheater Karo Acht und Fata Morgana, in letzter Zeit Turbo Pascal, machina eX oder vorschlag:hammer. Das Zusammenkommen in Gruppen und Kollektiven wird deshalb begünstigt, weil in Hildesheim anders als an Regie- und Schauspielschulen kein »eigenständiges« Handwerk gelehrt wird. Das Studienprogramm selbst bietet keine Spezialisierung auf Regie, Dramaturgie oder Performance, dennoch durchlaufen die Studierenden bei der Konzeption von Theaterkonzepten und ihrer Durchführung mehr oder weniger autodidaktisch diese Berufsfelder – und manch eine/r spezialisiert sich eben selbst. In Hildesheim werden Generalisten ausgebildet, die sich stets neu die Frage stellen: Wie kann ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln Theater machen? Das heißt konkret: Welche Aufgaben nehmen die einzelnen Mitglieder des Teams ein und wie hierarchisch ist dabei die Arbeitsteilung organisiert? Welche Ästhetik verlangt meine Idee? Und welche spielerischen Möglichkeiten stehen mir auch ohne eine Schauspielausbildung zur Verfügung? Indem es Raum für das gemeinsame Probieren und Reflektieren von Theater gibt, fördert das Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur seinen Nachwuchs. Fernab von Innovationsdruck und institutionellen Ansprüchen wird jedes Theaterprojekt erst mal als ein Versuchsaufbau verstanden; Versuche dür3

Mehr Informationen zu Fräulein Wunder AG unter http://www.fraeuleinwunderag.net [28. 07.2011] sowie ein Porträt der Gruppe: Esther Boldt: »The Power of Politics. Die Theatergruppe Fräulein Wunder AG betreibt Theater als politische Praxis«, in: Theater der Zeit, 10/2010, S. 10.

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Hier erhalten Nachwuchsproduktionen eine erste städtische Plattform und können zugleich die Produktionen der bereits etablierten Gruppen sehen, die immer noch in Hildesheim produzieren oder für Aufführungen zurückkehren.

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fen auch scheitern, bringen neue Versuchsaufbauten hervor und werden bei Gelingen möglicherweise von den Projektmacher_innen perfektioniert und in die überregionale Theaterwelt getragen. In diesem Sinne ist Hildesheim ein »Paradies«, solange man auf Probebühnen, ohne einen Gedanken an Ökonomien zu verschwenden, tüfteln kann – denn die Theaterarbeit ist Teil des Studiums und findet damit im Raum von begleiteter Selbsterprobung und leidenschaftlicher Selbstverausgabung statt. Machina eX5 ist eine solche Gruppe, die das Tüfteln in völliger Abgeschiedenheit während des Projektsemester 2010 in einer ehemaligen Kaserne genutzt hat, um ein innovatives und interdisziplinäres Spielformat zu entwickeln. Machina eX machte sich dabei einen Kindertraum wahr: Theater sollte wie ein Computerspiel funktionieren. Ein halbes Jahr, eine Zeitspanne, die im Freien Theater ökonomisch kaum machbar ist, entwickelte ein zehnköpfiges Team aus »selbst ernannten« Spezialisten für Konzept, Programmierung, Webdesign, Musik, Produktionsleitung, Ausstattung bis zur Performance in Anlehnung an Pointand-Click-Adventure-Spiele eine interaktive Performance, in der die Zuschauer wie Computerspieler die Rätsel der Geschichte dreier Figuren lösen müssen. Wenn die Figuren im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Choreografie hängen bleiben, ist Aktion und Logik der Zuschauer gefragt, um das Rätsel herauszufinden und für den Fortgang der Geschichte zu sorgen. Und manchmal geht es um Sekunden, wenn beispielsweise eine der Figuren im Krankenhausbett im Sterben liegt. Der Blick aufs EKG zeigt ein Pong-Spiel, was des Rätsels Lösung zur Wiederbelebung der Figur ist. Machina eX »medientheatrales Point n‫ ތ‬Click Adventure in lebensechter Graphik«, wie sie ihr Format selbst betiteln, verbindet dabei in ganz eigener Weise Innovation und Tradition im Umgang mit den Mitteln des Theaters: Die Performerinnen und Performer bedienen sich eines Spiels mit der vierten Wand. Und auch die komplexe Technikmaschinerie, die für manchen Knalleffekt sorgt, ist im Sinne des Illusionstheaters gar nicht sichtbar. Die vermittelte Interaktion von Zuschauern und Performern orientiert sich gerade nicht an den Partizipationsmodellen der letzten Jahre, die das gemeinsame Hier und Jetzt von Zuschauenden und Performer_innen ausloten wollen, sondern führt vielmehr die Gruppe der Zuschauenden zum gemeinsam erlebten Spiel5

Machina eX sind Laura Alisa Schäffer, Jan Philip Steimel, Laura Naumann, Nele Katharina Lenz, Matthias Prinz, Lasse Marburg, Yves Regenass, Anna Sina Fries, Robin Krause und Jonas Holland-Moritz. Die Homepage von machina eX ist ein Archiv ihrer Arbeit: Zeitungsartikel, Probendokumentationen, Aufführungsmitschnitte, theoretische Skizzen über das Verhältnis von Computerspiel und Theater, Auftrittstermine und private Blogs über die Schwierigkeiten, mit der Professionalisierung klarzukommen, finden sich auf http://www.machinaex.de [28.07.2011].

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abenteuer im Theaterraum zusammen und macht sie zu Gamern, auch wenn sie vorher noch nie Computerspiele gespielt haben. Das entwickelte Spielformat bedingt zudem eine Produktionsweise, die als »kollektive Kreativität« (vgl. Kurzenberger 2006) trotz der Spezialisierung des Einzelnen gekennzeichnet werden kann, denn jeder Baustein, der in der Dramaturgie des Rätselratens verschoben wird, wirkt sich auf jeden einzelnen Arbeitsbereich aus und erfordert gemeinsame Lösungen aller Beteiligten bei der Konzeption der Aufführung. Nun hat machina eX ein Spielformat entwickelt, das in Hildesheim große Begeisterungsstürme auslöst, so dass Eintrittskarten innerhalb von zwei Stunden im Internet verkauft sind. Doch wie wird die überregionale Theaterszene auf das Ergebnis aufmerksam? Hier wird es nun problematisch: In Hildesheim kommen keine Scouts der Freien Szene vorbei, es gibt keine »Intendantenvorspiele«, wie es an Regieschulen üblich ist, und auch kein Best-off-Festival, was das Gießener Festival »Theatermaschine« leistet. Vielleicht ist deshalb die Konkurrenz untereinander klein und vielmehr von einem gegenseitigen Interesse an der Vielfalt der Theaterformen geprägt, die nichtsdestotrotz intensiv und hart diskutiert werden. Doch der Einstieg in die Freie Szene, professionell Theater zu machen und bestenfalls noch den Lebensunterhalt damit zu verdienen, der muss selbst bewerkstelligt werden. Das bedeutet dann auch den Verlust des Paradieses und den Eintritt in die Realität von Förderanträgen, Rechtsformen und der Frage nach einem angemessenen Honorar.

F ESTIVALS ALS WICHTIGES S PRUNGBRETT UND DIE S UCHE NACH F ÖRDERERN FÜR DIE E RMÖGLICHUNG KONTINUIERLICHER ARBEITSSTRUKTUREN Die einzige Auswahl, die das Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur für einen geförderten Ausflug in die überregionale Theaterszene trifft, ist die Einladung zum jährlich stattfindenden Körber Studio Junge Regie am Thalia Theater Hamburg. Alle deutschsprachigen Regieschulen und die theaterwissenschaftlichen Institute Gießen und Hildesheim schicken je eine Produktion ins Rennen um den Körber Studio Preis, der mit einem Produktionsbudget von 10.000 Euro für eine Neuinszenierung dotiert ist und von einer fünfköpfigen Jury aus etablierten Dramaturg_innen, Theaterkritiker_innen und Kurator_innen vergeben wird. Das Festival hat jedoch zur Vorgabe, dass die Inszenierung auf der Bühne in der Gaußstraße mit einer Tribüne von etwa 250 Plätzen innerhalb von maximal 90 Minuten spielbar sein muss. Site-Specific-Formate mit Publi-

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kumsbegrenzung, wie machina eX oder die beschriebene Medea-Adaption im Swimmingpool, fallen dabei schon mal raus. Das Körber Studio ist also ein Forum für Inszenierungen, die mit den konventionellen Theatermitteln beispielsweise einer Guckkastenbühne umzugehen wissen und dennoch Traditionen des klassischen Schauspiels neu schreiben können. 2010 hat die Hildesheimer/Berner Gruppe vorschlag:hammer mit ihrer Inszenierung »Vom Schlachten des gemästeten Lamms und vom Aufrüsten der Aufrechten« den Preis gewonnen. Die Gruppe besteht aus dem in Bern ausgebildeten Schauspieler Stephan Stock und den beiden Kulturwissenschafts-Studierenden Gesine Hohmann und Kristofer Gudmundsson. Die prämierte Inszenierung ist aus dem Wunsch der drei entstanden, gemeinsam ein Projekt machen zu wollen. Die Gruppe eint aber auch das Interesse an epischen Stoffen aus Romanen und Filmen, das Spiel mit Erzählperspektiven und ihrer Überlagerung. So ist ihre erste gemeinsame Inszenierung nicht nur eine hervorragende dramaturgische Parallelmontage der Romane »Sein eigener Herr« von Halldor Laxness und Tristan Egolfs »Monument für John Kaltenbrunner«, sondern auch in der Spielweise eine Figurendarstellung, die durchlässig ist für die Persönlichkeit der Performenden. Dass hier ein ausgebildeter Schauspieler und eine nichtausgebildete Schauspielerin auf der Bühne stehen, geht subtil in die Spielweise mit ein. Während Stephan Stock wie ein Fels in der Brandung seinen Bauern Bjartur anlegt, agiert Gesine Hohmann über die Vielfalt taktischer Verstellungen, die über äußeres wie Kostüme und Körperhaltungen hergestellt werden können, als Hühnerzüchter John. In diesem Projekt hat Kristofer Gudmundsson den Außenblick, als Regisseur will er sich aber nicht bezeichnet wissen, und im neuen Projekt »Tears in Heaven« (Vgl. Rakow 2011), eine Solaris-Bearbeitung, steht er selbst mit auf der Bühne. Das Besondere an vorschlag:hammer sei, so das Resümee des Theaterkritikers Franz Wille, dass sie sich »ihre Form für eben das, was sie in dieser Form erzählen wollen«, selbst erfinden. (Wille 2010:60) Die Kategorien Schauspiel, Performance, Erzähltheater treffen dabei irgendwie zu, reichen allein aber nicht zur Beschreibung aus. Schlagartig hat es also eine Arbeit, die als ein erstes gemeinsames Ausprobieren begann, in die Presse wie Theater heute geschafft, ein paar Visitenkarten von Dramaturgen wurden ebenfalls eingesammelt und das Geld für eine neue Produktion eingefahren. Genau dafür ist das Körber Studio Junge Regie wichtig: Es ist ein Versammlungsplatz der Dramaturginnen und Dramaturgen der Stadtund Staatstheater, die sich in zeitlich geballter Form einen Überblick über den Nachwuchs verschaffen können, der möglicherweise in Zukunft die großen Bühnen bespielen kann.

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Für die Scouts der Freien Szene ist das Festival angesichts der konventionellen Spielregeln eher uninteressant. Hier bildet das Berliner Freie-Szene-Festival 100 Grad am Hebbel am Ufer und den Sophiensaelen noch immer den Geheimtipp. Auch ohne Bezahlung der Reise- und Materialkosten pilgern viele junge Gruppen nach Berlin und nehmen auch eine mögliche Verschuldung in Kauf, um die Chance zu nutzen, gesehen zu werden und bestenfalls den Jury-Preis zu gewinnen. Das Generieren von Aufmerksamkeit ist jedoch auf einem Festival von 100 Produktionen an einem Wochenende, die keine Auswahl erfahren haben, äußerst schwer. Man muss also schon den Preis gewinnen oder wiederum Kontaktpersonen haben, die dafür sorgen, dass die »wichtigen« Theatermenschen in die Vorstellung kommen. Für machina eX war das Festival 100 Grad das Sprungbrett in die Freie Szene. Klar war jedoch, dass die entwickelte Projektsemester-Performance »Maurice« nicht festivaltauglich ist. Somit entschied machina eX, einen »Festival-Teaser« zu entwickeln, der ohne Site-Specific-Bezug und in einer zeitlichen Beschränkung von 30 Minuten für 9 Personen spielbar ist, so dass die Performance häufiger hintereinander aufgeführt werden kann. Extra für das 100Grad-Festival wurde »15.000 Gray« entwickelt, einer Verschuldung wurde entgangen, indem machina eX im Internet zu Spenden aufrief und Dank einer exzellenten Öffentlichkeitsarbeit auch erhielt. Zudem sorgte die Festivalleiterin Silke zum Eschenhoff, selbst Hildesheimer Absolventin, dafür, dass Matthias Lilienthal vom HAU in der Vorstellung auftauchte. Machina eX gewannen nicht nur den Jury-Preis, sondern auch einen Förderer für Koproduktionen mit dem HAU und noch umgehend eine Einladung ins Rahmenprogramm des ImpulseFestivals, das die besten Inszenierungen der Freien Szene zeigt. Das ist ein rasanter Einstieg, bei dem machina eX auch gleich das Wichtigste geschafft hat, was es für einen längerfristigen Eintritt in die Freie Szene braucht – Fürsprecherinnen und Fürsprecher für sich zu gewinnen. Während Festivals für den Nachwuchs wichtig sind, weil man sich erst mal auch ohne bereits bestehende Kontakte mit einer DVD und einem Portfolio der eigenen Arbeit bewerben kann und hofft, dass die Arbeit für sich spricht, man Interesse weckt und eingeladen wird, generieren sie aber nur für kurze Zeit Aufmerksamkeit. Zugleich sind Festivals aber auch Durchlauferhitzer. Gute Inszenierungen können für meist wenig Geld gezeigt werden, oder das Risiko ist für ein Haus bezahlbar und unter einem Festivalthema können Arbeiten gezeigt werden, die noch etwas wackelig sind. Festivals müssen vom Nachwuchs aber genutzt werden, um langfristige Bindungen an Häuser und Kuratoren aufzubauen. Doch genau hier wird es für Nachwuchsgruppen schwierig, und davon kann zum Beispiel vorschlag:hammer ein Lied singen. Trotz Preisträger des KörberStudio-Preises und des 100-Grad-Preises 2010, vorhandenem Produktionsbudget

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und trotz Anfragen verschiedener Häuser in ganz Deutschland war dann einzig das Berliner Ballhaus Ost an einer Zusammenarbeit für die zweite Produktion »Tears in Heaven« von vorschlag:hammer interessiert und realisierte die Produktion. Daraus entstand dann aber die Zusage für eine längerfristige Zusammenarbeit. Während das Körber Studio Junge Regie explizit auf eine Repräsentation des Regienachwuchses setzt durch eine Präsentation der Besten jeder »Schule« und das 100-Grad-Festival einem amerikanischen Traum gleicht, bei dem es darum geht, im Gewühl von 100 Produktionen entdeckt zu werden, ist das einzige Festival in Deutschland, das gezielt künstlerische und strukturelle Nachwuchsförderung betreibt, das Festival »Freischwimmer. Plattform für junges Theater«. Für die Fräulein Wunder AG war es 2008 das Sprungbrett in die Freie Szene. Es ist ein produzierendes Festival, an dem die großen Häuser der deutschsprachigen Freien Szene wie Sophiensaele Berlin, FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, Gessnerallee Zürich, Brut Wien und seit 2012 auch Mousonturm Frankfurt beteiligt sind. Freischwimmer zeigt »Neues aus Theater, Performance und Live Art, ist Werft und Landungsbrücke für ein kommendes Theater und sein Publikum« (vgl. Homepage Freischwimmer Festival), so die Definition des Festivals auf der Homepage. Zwar ist Nachwuchs nicht explizit benannt, aber der Begriff »Neues« verweist einerseits auf junge Theaterformationen, die gezeigt werden, als auch auf das Neue als Experiment und Innovation mit dem Interesse für interdisziplinäre ästhetische Grenzübertritte von Theater, Performance und Live Art. Zu einem festgelegten Überthema des Festivals können sich dann junge Theatergruppen bewerben, wobei »jung« mittlerweile in der Ausschreibung bei 33 Jahren liegt. Sieben ausgewählte Produktionen erhalten ein Produktionsbudget von etwa 7000 Euro sowie Proberäume an einem der Häuser. Während der Probenzeit wurden die Produktionsteams von 2006 bis 2011 von dem Dramaturgen und Regisseur Marcus Droß auf das Festival vorbereitet und künstlerisch gecoacht. Aber auch die einzelnen Dramaturgen und Dramaturginnen der Häuser stehen während der Proben und nach den Aufführungen zu Feedback bereit. Denn die erarbeitete Inszenierung ist dann im Rahmen des Festivals Freischwimmer an allen beteiligten Spielorten zu sehen. Die Vernetzung auch mit anderen Künstlergruppen, die finanzielle Unterstützung, das Stellen von Proberäumen sowie die Reflexion mit Mentor und Dramaturg_innen ist für mich ein Inbegriff dessen, wie Nachwuchsförderung aussehen sollte. 2008 wurde die Fräulein Wunder AG mit ihrem Konzept ausgewählt, zum Überthema »Rausch« auf Kampnagel Hamburg ein theatrales Roadmovie mit dem Titel »(I can’t get no) SATISFACTION« zu produzieren. Der eigentlichen Bühneninszenierung ging eine Recherchereise des gesamten Kollektivs in die

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Freischwimmer-Städte voraus, in der wir stadttypische Rauschmittel probierten bzw. uns von ausgewählten Rauschguides in Rauschzustände versetzen ließen. Vom Fußballspiel bei St. Pauli über eine Pubcrawl-Tour durch Berliner Kneipen bis hin zu einem Reenactment von Jörg Immendorfs Drogenrausch mit Prostituierten im Steigenberger Parkhotel Düsseldorf haben wir körperliche Praktiken des Rauschs am eigenen Leib gespürt und dokumentarisch per Videokamera festgehalten. Auf der Bühne erzählen wir von dieser Reise, unseren erlebten oder verpassten Rauscherlebnissen, und kombinieren sie mit kulturwissenschaftlichen Überlegungen über Rausch als Akt unproduktiver Verausgabung nach George Bataille. Die universitären Produktionen, die wir gemeinsam im Laufe unseres Studiums machten, führten vor allem dazu, uns gegenseitig zu beglaubigen, dass wir miteinander auch über das Studium hinaus arbeiten wollen – und zwar als basisdemokratisches Kollektiv, in dem jede und jeder alle Funktionen von Regie, Dramaturgie bis hin zum Spiel innehat und uns dafür She She Pop und Gob Squard Vorbilder lieferten. So war die Freischwimmer-Produktion wichtig, um direkt nach dem Studium einen Einblick und Überblick über die Programmatiken und Personen der einzelnen Freien Theaterhäuser zu erhalten, aber auch das eigene künstlerische und thematische Interesse zu vertiefen. Durch die Freischwimmer-Produktion schärften wir unser Arbeitsprogramm: gesellschaftlich relevante Themen kulturwissenschaftlich zu recherchieren und popkulturell, wissenschaftlich und biografisch zu erzählen. Nach dem Rausch folgten ein Projekt zur Geschichte des Feminismus (»Power of Pussy«, 2009) und eines zum Thema Migration (»Auf den Spuren von«, 2010) – und wir wurden zu Vagabunden zwischen Leipzig, Frankfurt a. M., Braunschweig und unseren eigentlichen Wohnorten in Hildesheim, Hannover, Hamburg und Berlin, für jede Produktion stets neu auf der Suche nach Proberäumen, Aufführungsorten und Koproduktionspartnern. Denn anders als machina eX und vorschlag:hammer fanden wir an den überregionalen Häusern keine Fürsprecher, die bereit waren, Koproduktionen mit uns zu planen. Dies mag auch daran liegen, dass anders als machina eX, die ein klares Format entwickelt haben, die Fräulein Wunder AG sich zwar durch ein inhaltliches Interesse an politischen Themen auszeichnet, Spielweisen und Zugriffe aber immer wieder neu versucht zu erfinden. Damit ist eine Fräulein-WunderAG-Inszenierung immer eine Risikoproduktion, weil niemand vorher weiß, in welchem ästhetischen Gewand die neue Inszenierung daherkommen wird. Die Fräulein Wunder AG hat unter diesen Voraussetzungen einen anderen Weg eingeschlagen und sich für eine vorrangig in Niedersachsen angesiedelte Theaterarbeit entschieden, die maßgebend durch eine dreijährige Konzeptionsförderung des Landes Niedersachsen gesichert wurde. Diese Konzeptionsförderung macht eine langfristige Zusammenarbeit und die Herausbildung der Interessen und Äs-

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thetik(en) der Gruppe möglich. Es sind genau diese strukturellen Förderungen, die für Freie Theatergruppen wichtig sind, wenn es nicht mehr darum geht, »sich auszuprobieren«, sondern eine langfristige Zusammenarbeit einer Gruppe bei gleichzeitiger beruflicher Selbständigkeit ihrer Mitglieder ermöglicht werden will. Die Gruppe ist dadurch keinen institutionellen Vorgaben ausgesetzt, muss aber für jedes Projekt weiterhin neu auf die Suche nach Proberäumen und Spielorten gehen.

D AS D ILEMMA DER F ÖRDERUNG F REIE S ZENE

UND

U TOPIEN FÜR DIE

Die Darstellung der drei Gruppen macht deutlich, dass durch eine beständige Reflexionskultur und den Mut zum Experiment in Hildesheim erfindungsreiche Performances entstehen, deren Theatermacherinnen und Theatermacher darüber hinaus ihre Arbeitsweisen und Arbeitszuteilungen immer wieder neu entwickeln und hinterfragen. Es gibt zwar keinen Hildesheim-Stil, aber kollektive Kreativität, Stückentwicklung und forschende Theaterpraxis bilden für die vorgestellten Gruppen und Projekte eine gemeinsame Klammer. Die Schwierigkeiten, die sich jungen Theatermacherinnen und Theatermachern stellen, liegen nicht im Mangel von qualitätsvollen Ideen und Konzepten, sondern in der strukturellen Förderung von Freiem Theater. So möchte ich abschließend einen kritischen Blick auf die Strukturen der deutschen Förderlandschaft und das Selbstverständnis der Freien Szene werfen. Um der fehlenden Risikobereitschaft der größeren Freien Häuser, als Koproduzent zur Verfügung zu stehen, etwas entgegenzusetzen, bräuchte es im Sinne des Freischwimmer-Festivals mehr Residenzen und Programme für den Nachwuchs, durch die Häuser Raum, Unterkunft, Aufführungsbedingungen und Beratung zur Verfügung stellen, um so strukturell den Übergang zwischen Studium und Professionalität herzustellen. Vielleicht ist in dieser Hinsicht auch eine Universität wie Hildesheim stärker gefordert, überregionale Häuser der Freien Szene als Koproduktionspartner für gemeinsam entwickelte Nachwuchsprogramme in den Master-Studiengängen zu gewinnen, bei denen künstlerische Experimente möglich sind. Durch die Gespräche mit machina eX und vorschlag:hammer, jenen beiden Hildesheimer Gruppen, die gerade auf der Schwelle von Studium zu Beruf stehen, hat sich mir auch gezeigt, dass es hinsichtlich von Förderstrukturen und der Einschätzung von Honoraren ein Wissens-Vakuum gibt. Die Fräulein Wunder AG hat in etwa ein halbes Jahr vielköpfige unbezahlte Arbeit investiert, um die-

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ses System zunächst grob zu überblicken und eine Produktionsstruktur zu entwerfen, die stets aktualisiert, angepasst und fortgeführt werden muss. Doch neben dem Wissen über Antragsfristen und Honorarsätze braucht es auch den Mut, in Verhandlungen Forderungen zu stellen und seine Theaterprojekte als Arbeit zu definieren, die es wert ist, bezahlt zu werden. Meiner Meinung nach zeigt sich im Antragsdschungel und an fehlenden Verhandlungskriterien für Gastspiele ein Symptom der Freien Szene. Das vorgelagerte »Frei« ist schon lange kein Prädikat mehr für ein Gegenmodell zum Stadt- und Staatstheater, keine politischsolidarische Idee einer anderen Verteilung von Ökonomien, sondern Ausdruck für eine »freie« Marktwirtschaft, die sich zwar nicht rechnet, aber deren größtes Tabu dennoch Geld ist. Die Intransparenz ihrer Marktregeln ist eine durchaus darwinistische Möglichkeit, der »Überproduktion der Freien Szene« (vgl. Raddatz, Tiedemann, Gypens, Vanackere 2011) zu begegnen und das Innovative, was Nachwuchsgruppen häufig mitbringen, schnell auszubeuten, weil diese nicht wissen, welche finanziellen Forderungen sie stellen können. Oder die jungen Theatermacherinnen und Theatermacher machen es auch für »umsonst«, weil sie ja froh sind, überhaupt ein Bein in die Tür bekommen zu haben und gerade noch von den Eltern oder einer reichen Großtante finanziell abgesichert werden. Damit wird der Nachwuchs aber zum Problem der bereits etablierten Gruppen, weil sie die Preise dumpen. Diese geben wiederum nur ungern Einblick in ihre Förderanträge, weil sie zugleich Angst haben, dass es mit dem Aufkommen immer mehr junger Gruppen zu einer Umverteilung der Fördergelder von Stiftungen kommt, die sie bisher relativ kontinuierlich erhalten haben. Eine Produktionsleitung, die dieses Wissen bereits hat, können sich viele Gruppen zu Beginn ihrer Theaterlaufbahn gar nicht erst leisten. Es wäre zu überdenken, ob es nicht wie in der Schweiz, oder wie es auch der NPN (National Performance Network) formuliert, allgemein verbindliche und veröffentlichte Standards für die Zahlung von Honoraren geben sollte. Auch geförderte Mentorenprogramme könnten dazu beitragen, dass die Älteren den Jüngeren bei allen Fragen zur Selbständigkeit in der Freien Szene mit Rat zur Seite stehen und sich gegen Ausbeutung solidarisieren. Überhaupt wäre, wie Isabel Lorey in ihrem Aufsatz »Eigenverantwortung und Selbstausbeutung« betont, dringend das Subjektmodell zu reflektieren, mit dem freie und vor allem junge Theatermacherinnen und Theatermacher prekäre Arbeitsverhältnisse in Kauf nehmen, die in der Wirtschaft als »Billiglohnverdiener_innen« eingestuft werden würden: »Ich habe mich selbst dafür entschieden. Das ist das, was ich gerne machen will, was mir am meisten Spaß macht, bei allem Stress, den es dabei auch immer gibt. Am Anfang ist es eben schwer, rein zu kommen.« (Lorey 2007:79)

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Je mehr jedoch dieser Idee anhängen, umso schwieriger wird es, sie umzuschreiben. Einerseits braucht es dabei eine größere Solidarität unter den Theatermacherinnen und Theatermachern, gemeinsam ihre Arbeitsbedingungen trotz knapper Kulturmittel zu problematisieren, statt sich in einzelkämpferischer Manier bestmöglich durchzuschlagen. Doch die Idee des Ensembles oder Kollektivs ist angesichts der geringen Förderungen, die für ein einzelnes Projekt rausspringen, auch finanziell bedroht. Vielköpfige Gruppen wie machina eX und Fräulein Wunder AG haben große Probleme, allein über einzelne Projektförderungen ihre Zukunft zu sichern. Denn wenn die minimalen Fördergelder auf sechs bis zehn Honorare aufgeteilt werden müssen, reicht es für den Einzelnen nicht, mit seiner künstlerischen Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zugleich bedingt die Ästhetik der Gruppe, dass hier eine Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern am Werk ist, um die benötigten Spezialisierungen und heterogenen Perspektiven in die Arbeit einbringen zu können. In diesem Sinne bietet auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens eine Perspektive, um den Beruf des Freien Künstlers als »normalen« zu legitimieren und zugleich größeren Theaterformationen ihre Zukunft zu sichern. Auch dies würde zu einer Solidarität der Theatermacherinnen und Theatermacher untereinander beitragen. Andererseits braucht aber auch die Förderlandschaft Reformen, die gegen die Selbstausbeutung ansteuern und zugleich für mehr Vernetzung und Kooperation von Theatermacherinnen und Theatermachern untereinander sorgen. Hierbei wäre eine stärkere Ausdifferenzierung von Förderstrukturen denkbar, die eine Vielfalt der Theaterlandschaft ermöglichen, die auf die unterschiedlichen Bezugsgruppen und ihre Bedürfnisse reagiert. Eine Basis- oder Grundförderung könnte auf die Organisationsstrukturen von Theaterhäusern ausgerichtet sein, die stärker als gemeinschaftlicher Ort gedacht werden müssten, an dem Proberäume, Produktionsleitung und PR von mehreren Gruppen genutzt werden könnten und somit die künstlerische Arbeit der Gruppen vom gigantischen Organisationsaufwand entlastet würde. Denkbar wäre zudem eine spezielle Nachwuchsförderung als eine Art Start-up-Finanzierung, in der es nicht darum geht, möglichst viele Förderer gleich beim ersten Projektantrag vorweisen zu müssen, sondern die schnell und flexibel von Anfängern gestellt werden kann. Während eine von Projekt zu Projekt Förderung der Idee von Innovation entspricht, braucht es jedoch mehr Konzeptionsförderungen für langfristige künstlerische Entwicklungen von Gruppen. Denn auch das ist die Kehrseite der Freien Szene, dass sie stets Avantgarde und Jugend verkörpert. Jeder weiß, dass Theater machen stets Verausgabung bedeutet, doch darf sie damit nicht zu einem Berufsprinzip werden, das alle teilen, bis sie Anfang 40 und ausgepowert sind und sich dann, im Angesicht der Altersarmut, in Institutionen zurückziehen, die ihnen ein regelmäßiges Einkom-

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men sichern. Und damit wäre es an der Zeit, über die Kriterien von Jugend, Geld und Innovation diskursanalytisch für die Machtkonstellation der Freien Szene zu diskutieren. Doch das wäre ein anderer Bericht als dieser, der aus einer ganz subjektiven Sicht vom Sprung aus dem Studium ins Freie Theater erzählen wollte.

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L ITERATUR Berendt, Eva (2003): »Die umfassend reflektierte Theaterpersönlichkeit. Der Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim bildet denkende Theaterarbeiter und theaterpraktisch versierte Generalisten aus«, in: Theater heute (06/2003), S. 24-29. Boldt, Esther (2010): »The Power of Politics. Die Theatergruppe Fräulein Wunder AG betreibt Theater als politische Praxis«, in: Theater der Zeit (10/2010), Berlin: Theater der Zeit, S. 10. Kurzenberger, Hajo (2006): »Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der praktischen Theaterwissenschaft«, in: Porombka, Stephan/ Schneider, Wolfgang/ Wortmann, Volker (Hg.): Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Tübingen: Francke, S. 53-69. Lorey, Isabel (2007): »Eigenverantwortung und Selbstausbeutung«, in: Fonds Darstellende Künste/ Jeschonnek, Günter (Hg.): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven. Bonn: Klartext Verlag, S. 77-81. Rakow, Christian (2011): »Im protoplasmischen Hirnmeer. Tears in Heaven. Das Regiekollektiv Vorschlag: Hammer erforscht den Planeten Solaris«, in: Nachtkritik (08.04.2011). Online: http://www.nachtkritik.de/index.php?opt

ion=com_content&view=article&id=5488:tears-in-heaven-das-regiekolle ktiv-vorschlaghammer-erforscht-bei-seinem-debuet-am-ballhaus-ost-den -planeten-solaris&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40 [28.07.2011]. Raddatz, Frank/ Tiedemann, Kathrin/ Gypens, Guy/ Vanackere, Annemie (2011): »Die Krise der Überproduktion. Die künstlerischen Leiter Guy Gypens (Kaaitheater Brüssel), Kathrin Tiedemann (FFT Düsseldorf) und Annemie Vanackere (Rotterdamse Schouwburg) im Gespräch«, in: Theater der Zeit (02/2011), Berlin: Theater der Zeit, S. 17-19. Wille, Franz (2010): »Yes, They Can. Vom Schlachten des gemästeten Lamms – oder wie man das Nachwuchs-Festival Körber Studio Junge Regie in Hamburg gewinnt«, in: Theater heute (05/2010), S. 60.

H OMEPAGES http://www.fraeuleinwunderag.net/ [28.07.2011] http://www.freischwimmer-festival.com/ [28.07.2011] http://www.machinaex.de [28.07.2011]

FreiRäume der Zukunft Freie Darstellende Künste und ihre Orte J AN D ECK

F REIES T HEATER Es ist zurzeit populär, die Bezeichnung »Freies Theater« in Frage zu stellen. Damit ist nicht gemeint, dass man interdisziplinären Entwicklungen Rechung trägt und von »Freien Darstellenden Künsten« spricht, es geht eher um das Adjektiv »frei«. Aufgrund der neuen Unübersichtlichkeit in der Szene sei der Terminus überholt. Weder ökonomisch, politisch noch ästhetisch lasse sich eine Selbstbezeichnung aufrechterhalten, die im Kontext politischer Alternativbewegungen entstanden und mit einem ganz bestimmten Verständnis politischer Kunst gekoppelt sei. Dieser sei nun obsolet, da ihn weder politische Ziele noch ökonomische Bedingungen rechtfertigten. In der Tat hat man das Gefühl, die Selbstbeschreibung als »Freier Theaterkünstler« solle bei vielen eher das Image als »Freier Unternehmer« kultivieren. Auch eine künstlerische Eigenheit sei der Freien Theaterszene kaum noch zuzusprechen, da die öffentlichen Bühnen innovative Ansätze und ihre Kreateure schnell absorbieren würden. Wenn man dies alles akzeptiert, dann wäre man bei der Definition von Claus Peymann, der im Rahmen einer Preisverleihung des Fonds Darstellender Künste Freies Theater als armes Theater bezeichnete, und zwar im finanziellen Sinne. Dann wären Freie Darstellende Künste einfach schlecht finanziertes Theater, das quasi zufällig interessante Produktionen hervorbringt, die dann von den großen Theatern absorbiert werden, ein ästhetischer Gemischtwarenladen. Leider fehlt eine Gegenvision. Dieser Text wird diese Lücke auch nicht füllen können, doch er versucht dem etwas entgegenzusetzen. Und er sieht einen entscheidenden Punkt in der Frage der Räume. Freie Darstellende Künste brauchen Freiräume im wahrsten Sinn des Wortes. Damit gemeint sind Räume, die gleichzeitig ande-

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res Arbeiten ermöglichen und so andere Ideen von Leben und Arbeiten in die Gesellschaft tragen können. Sicher lebt Darstellende Kunst dadurch, dass öffentliche Aufführungen stattfinden. Doch die Art und Weise, wie Theaterstücke entstehen, hat sich in vielen Fällen grundlegend geändert. Produktionen zeitgenössischer Darstellender Kunst sind vermehrt performative Forschungsprojekte, bei denen Produktionen gemeinsam entwickelt werden. Im Gegensatz zur Umsetzung von Theatertexten brauchen Stückentwicklungen mehrere intensive Phasen, vom Herausarbeiten der künstlerischen Fragestellung über die Recherchephase und die Auswertung bzw. künstlerische Transformation bis zur Stückproduktion. Auch wenn sich die Phasen gegenseitig überlagern, braucht zeitgenössisches Arbeiten andere Intensitäten, eine andere Zeitwahrnehmung, die Möglichkeit, im künstlerischen Prozess innezuhalten, Experten von außen zu konsultieren, Zwischenergebnisse zu zeigen, Experimente zu wagen etc. Die Raumthematik im Freien Theater wird jedoch nicht selten auf die Frage von Spielorten reduziert. Tatsächlich sind Orte, an denen Produktionen möglichst oft gespielt werden können, ein wichtiges Thema. Entscheidend ist jedoch, dass es Räume mit geeigneten Strukturen zur künstlerischen Arbeit gibt. In den letzten Jahren sind Produktionshäuser zu den Räumen geworden, die am meisten im Bewusstsein der überregionalen Öffentlichkeit stehen. Was auch daran liegt, dass sie die Möglichkeit zur Aufführung mit Produktionsmöglichkeiten und professioneller Öffentlichkeitsarbeit verbinden. So wichtig es ist, dass Produktionshäuser Künstlern die Möglichkeit geben, Projekte zu erarbeiten, braucht es Räume, die von ihnen unabhängig sind. Denn wo sollen sonst Künstler professionell zu arbeiten beginnen? Und wo sollen Künstler arbeiten, die nicht von Produktionshäusern unterstützt werden? Und wo soll künstlerisches Forschen angesiedelt sein? Die Entwicklung neuer Arbeitsräume ist der erste Schritt zu einer neuen Vision der Freien Darstellende Künste.

ARBEITS R ÄUME Es gibt bislang nur wenige Probe- und Arbeitsräume, die darüber hinaus gehen, dass einfach ein Raum zur Verfügung gestellt wird. Zumeist sind sie mit Spielstätten verbunden, wobei ihre Nutzung mit einer Aufführung dort gekoppelt ist. Zudem gibt es kommunale oder kommerzielle Proberäume, die entweder an öffentliche Förderung gekoppelt sind oder so teuer sind, dass man sie nur mit öffentlicher Förderung finanzieren kann. Theaterensembles, die dauerhaft instituti-

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onell gefördert werden, können sich zum großen Teil eigene Spiel- und Proberäume leisten. Diese Struktur ist verbunden mit einem traditionellen Verständnis von Freiem Theater. Man geht davon aus, dass Theaterensembles einen Theatertext umsetzen und dafür ein paar Wochen einen Raum benötigen, um die Umsetzung zu erproben. Danach wird aufgeführt. Zeitgenössische Theaterformen1 benötigen andere Möglichkeiten bezüglich Raum und Zeit. Wer die Arbeit mit Theater, Performance und Tanz als Forschung betrachtet, wer an neuen Bewegungsformen, Darstellungsweisen oder performativ an gesellschaftlichen Themen forscht, kann sich nur schwer in ein solches System einordnen. Nur selten gibt es in traditionellen Proberaumstrukturen die Möglichkeit, über Wochen ohne direkten Produktionsdruck zu arbeiten. Dies ist das Privileg von institutionell geförderten Ensembles oder von Studierenden von Theaterakademien. Woher sollen aber dann neue Impulse kommen? Wie sollen zeitgenössische Formen weiterentwickelt werden? Soll das ausschließliches Privileg von Studierenden und etablierten Künstlern sein? Es ist notwendig, über eine neue Institution nachzudenken. Über Räume, die sorgfältige und dauerhafte zeitgenössische Arbeitsweisen ermöglichen. Sie müssen in relativer Autonomie zu Produktionshäusern, Akademien und Kulturverwaltungen existieren, das heißt, sie müssen mit diesen zusammenarbeiten, ohne von ihren jeweiligen Funktionslogiken überlagert zu werden. Der Produktionsund Erfolgsdruck der Produktionshäuser, die universitäre Ausbildungslogik, der Druck zur unbedingten lokalen Ausrichtung, wie er von städtischen Kulturämtern verbreitet wird, würden einer solchen Institution schaden. Dennoch sind die jeweiligen Ressourcen und Kompetenzen wichtig und können bei Aufbau und Entwicklung helfen.

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Den Begriff »zeitgenössische Theaterformen« benutze ich hier, um nicht in das Minenfeld theaterwissenschaftlicher Terminologiediskussionen zu geraten. Begriffe wie »postdramatisches« oder »postspektakuläres Theater«, »Live Art« oder »performative Darstellungsformen« haben ihre Berechtigung und Begründung, hier ist allerdings nicht der Ort, diese Debatte zu führen. Gleichzeitig soll der äußerst problematische Begriff des »innovativen« vermieden werden. Unter »zeitgenössische Theaterformen« verstehe ich Ansätze, welche die Parameter des dramatischen Theaters in Frage stellen. Dazu gehört unter anderem die Umsetzung eines dramatischen Textes eines nicht am Prozess beteiligten Autors, der klassischen Verkörperung von Rollen durch Schauspieler oder die Trennung zwischen Darstellern und Publikum. Wichtig ist mir dabei der Ansatz, Theater als Forschungsprojekt zu betrachten und nicht als Textreproduktion. Dass es auch zeitgenössische und experimentelle Formen gibt, Theatertexte umzusetzen, ist natürlich unbestritten.

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Es muss dort verschiedene Räume mit verschiedenen Funktionen geben. Es werden Räume gebraucht, in denen längerfristiges Arbeiten möglich ist. Hier muss möglich gemacht werden, dass gemeinsame Arbeit in temporären oder dauerhaften Zusammenhängen für drei bis sechs Monate funktioniert. Andere Räume müssen Künstlern vier bis sechs Wochen zur Verfügung stehen, andere tageweise zu vergeben sein. Zusätzlich benötigt man Büroräume mit WLAN und Gesprächsräume. Auch gemeinsame Angebote wie beispielsweise ein tägliches gemeinsames Aufwärmtraining für Tänzer sind notwendig. Kooperation sollte dort gefördert werden, wie beispielsweise gegenseitiges Coaching oder Probenbesuche. Ein Studio soll Werkstattaufführungen ermöglichen. Um Gastkünstler einladen zu können, sollten Gästewohnungen vorhanden sein. Alle Räume müssen eine technische Grundausstattung und Tanzschwingboden bekommen. In Kooperation mit Akademien, Kulturverwaltung, Spiel- und Produktionsorten sowie lokalen Interessenvertretungen sollen diese Räume selbstverwaltete Strukturen bekommen, ein gemeinsam einberufenes Gremium könnte über die längerfristige Raumvergabe entscheiden. Ein solches Konzept wurde 2011 von Künstlern in Frankfurt gemeinsam entwickelt, um auf dem geplanten Kulturcampus auf dem Areal der ehemaligen Goethe-Universität ein sogenanntes Haus für Proben und Forschung zu errichten. Mittlerweile wurde das Konzept bereits in einer kleineren Version realisiert, das Z-Zentrum für Proben und Forschung existiert auf dem Gelände des Frankfurt LAB seit dem Herbst 2012.2 Wichtig wäre, dass solche Ideen zum Vorbild genommen werden und flächendeckend umgesetzt werden.

T EMPORÄRE R ÄUME Die Freien Darstellenden Künste sind längst nicht mehr so lokal verankert wie in ihren Anfängen. Immer mehr Künstler_innen arbeiten überregional und international, es bilden sich temporäre Kollaborationen mit Kooperationspartnern verschiedener Herkunft. Die Strukturen der Freien Szene, allen voran die Förderinstrumente, sind für diese Veränderung immer noch unzureichend ausgerüstet. Noch immer haben Ensembles, die vorwiegend in einer Kommune situiert sind, deutliche Vorteile. Dieser Zustand ist unbefriedigend, aber nur schwierig zu verändern, da lokale Politik zum Ziel hat, »ihre« Freie Szene vor Ort zu fördern. Es

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Das Konzept kann man hier herunterladen: http://www.frankdances.org/idfrankfurt/ [22.9.2012]. Informationen zum Z - Zentrum für Proben und Forschung findet man hier: http://zzentrum.org/ [22.9.2012].

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herrscht wenig Verständnis für zeitgenössische Arbeitsweisen, ebenso wenig für die Notwendigkeit, überregionale Impulse für die Arbeit der lokalen Szene zu bekommen. Auf der anderen Seite gibt es in vielen Kommunen Theaterhäuser, in denen nur ein Ensemble arbeitet und spielt. Die Entstehung dieser Räume ist nicht selten mit einer Zeit verbunden, in der sich viele Theater nur in klassischen Strukturen vorstellen konnten. So reproduziert man die Funktionsweise der Stadt- und Staatstheater, mit festem Ensemble, einem Spielplan und der teilweise absurden Situation, dass sich die Ensembleleiter als »Intendanten« bezeichnen lassen. Einzig das Fehlen von Gewerken und entsprechender Finanzierung macht viele dieser Häuser zu armen Kopien der öffentlichen Bühnen, was nicht selten darin gipfelt, dass sie künstlerisch bei Stadttheaterästhetiken der 1980er Jahre stehen geblieben sind. Worüber man sich nicht wundern darf, schließlich haben sie sich nicht selten ein Publikum erspielt, und die Verantwortung für Haus und Spielplan führt häufig dazu, dass man keine Zeit mehr hat, sich andere Herangehensweisen anzuschauen. Das gilt natürlich nicht für alle diese Bühnen. Dennoch haben viele Mühe, einen durchgehenden Spielplan und ein entsprechend gleichbleibendes Interesse der lokalen Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Ein interessantes Beispiel für einen kreativen Umgang mit einer eigenen Spielstätte ist das Theater Wrede + in Oldenburg. Das Theater bespielt einen großen Theaterraum und hat Arbeits- und Probemöglichkeiten. Theaterleiter Winfried Wrede ist einerseits neugierig auf junge Künstler und ihre Ästhetiken, andererseits möchte er seine Spielstätte vollständig auslasten. Deshalb gründete er das Projekt »flausen« und wird dabei von Stiftungen sowie Kommune und Land gefördert. »flausen«3 ermöglicht jährlich drei Gruppen mit bis zu vier Künstlern eine Residenz in seiner Spielstätte. Diese gehen über sechs Wochen, alle beteiligten erhalten Honorar und Unterkunft, die Gruppe zusätzlich Mittel zur Produktion. Wichtiges Kriterium ist neben der zeitgenössischen Ausrichtung des eigenen Konzeptes ein Entwurf dessen, was man in der Residenzzeit erarbeiten möchte. Denn »flausen« ist keine Produktionsförderung, sondern soll abseits vom Produktionsdruck konzentriertes Arbeiten ermöglichen. Beworben haben sich etwa 200 Gruppen bundesweit, was den enormen Bedarf an solchen Programmen beweist. »Flausen« ist ein Beispiel, das Schule machen sollte. Es ist einerseits eine Möglichkeit, vorhandene Strukturen besser auszulasten. Es hilft den Spielstätten, denn so kann man im Kampf um städtische Gelder viel besser begründen, warum das Theater keine Kürzungen oder Streichungen von Förderung erleiden muss. Und es bringt einen ästhetischen Austausch in die Spielstätten und macht sie 3

Informationen zum Projekt: http://www.theaterwrede.de/flausen.htm [22.9.2012].

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zum Knotenpunkt unterschiedlicher Kompetenzen. Für die Gastkünstler ergibt sich die Möglichkeit, längere Zeit an einem Ort zusammen zu sein, durch die Honorare können sie dennoch ohne finanziellen Druck arbeiten. Wichtig ist auch, dass die Residenzen nicht nur lokalen Künstlern vorbehalten sind, sondern bundesweit ausgeschrieben werden, denn das wird dem überregionalen Charakter der Szene besser gerecht. Es wäre allerdings durchaus notwendig, dass ein Konzept wie »flausen« in noch mehr Städten der Republik Nachahmung findet. Wenn in jedem Bundesland mindestens ein solcher Residenzort eingerichtet würde, dann würde jedes davon profitieren, ebenso wie die jeweiligen Kommunen. Es gäbe auch andere Möglichkeiten, Spielorte mit Ensemble zu öffnen, beispielsweise durch die Finanzierung von Gastspielen, die Einbeziehung in Nachwuchsförderung oder eine »Cohabitation« mit anderen Ensembles bei geteilter Verantwortung für den Spielplan. Dennoch ist das Errichten von temporären Räumen eine geeignete Form, mobilen Künstlern in temporären Konstellationen künstlerische Forschungsarbeit zu ermöglichen.

S PIEL R ÄUME Seit den 1990er Jahren haben sich Produktionshäuser zu den führenden Spielorten der Freien Darstellenden Künste entwickelt. Das hat verschiedene Gründe. Erstens haben sich dort Knotenpunkte unterschiedlicher Kompetenzen entwickelt. Technisches Know-how, Produzentenwissen, Erfahrungen in Marketing und Öffentlichkeitsarbeit sorgen für öffentliche Aufmerksamkeit und ein professionelles Umfeld ohne die bürokratische Behäbigkeit der öffentlichen Bühnen. Zweitens steht in vielen Produktionshäusern eine Infrastruktur zur Verfügung, die Freie Spielorte nur selten ermöglichen können, von Probe- und Arbeitsräumen über technisches Equipment bis hin zu finanzieller Produktionsförderung und internationalen Netzwerken. Drittens garantieren sie mit Künstlerischer Leitung und entsprechenden inhaltlichen Konzepten eine gewisse Grundqualität der dort gezeigten und produzierten Produktionen. Was für die Künstler, das Publikum und kommunale Verantwortliche nicht unwichtig ist. Die Produktionshäuser haben viel zur Professionalisierung der Freien Darstellenden Künste beigetragen und dafür gesorgt, dass man vielerorts in der öffentlichen Wahrnehmung mit den öffentlichen Bühnen konkurrieren kann. Mit den Jahren sind jedoch immer mehr Künstler und Ensembles entstanden, die potenziell in diesen Strukturen arbeiten können. Gleichzeitig stagniert die Anzahl der Produktionshäuser ebenso wie die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel.

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Die steigende Anzahl von Künstlern ist ein Ergebnis von guter Nachwuchsarbeit der Häuser und Akademien für zeitgenössische Theaterkünstler. Wer hier von »Überproduktion«4 spricht, verkennt die Situation. Es zeigt sich eher ein Boom von Ansätzen, die Kunst als Forschungsarbeit betrachten. Das Problem ist nur, dass die Ressourcen dieser Häuser endlich sind. Denn sie können ja nicht unbegrenzt neue Gruppen produzieren. Was würde dann mit denjenigen Künstlern passieren, die langfristiger dort arbeiten wollen? Das Koproduktionssystem wird über kurz oder lang an seine Grenzen stoßen, wenn es nicht bald erweitert wird. Es wäre wichtig, sich bevor diese Krise eintritt grundlegende Gedanken zu machen, wie sich dieses System in Zukunft entwickeln könnte. In jedem Fall sollte die Anzahl der Produktionshäuser erhöht werden, man sollte den entsprechenden Kommunen und Ländern Mut machen, solche zu eröffnen. In Städten wie München, Stuttgart, Mannheim, Freiburg, Köln, Frankfurt an der Oder, Mainz, Hannover, Saarbrücken, Marburg oder Nürnberg könnten kleinere oder größere Produktionshäuser eine Weiterentwicklung der Szene ermöglichen. In einer Theaterstadt wie Frankfurt am Main könnte auch ein zweites, kleineres Produktionshaus neben dem Künstlerhaus Mousonturm existieren. Die Häuser brauchen mehr Arbeitsräume und entsprechende finanzielle Ausstattung zur Ermöglichung von Koproduktionen und Gastspielen. Sie brauchen ausreichend Personal, um die Gruppen und Künstler optimal betreuen zu können. Und es braucht im Land ein gutes Aus- und Weiterbildungssystem für Kuratoren und Produktionsleiter, in das die Produktionshäuser stark eingebunden sein sollten. Wichtig ist ebenfalls, jenseits der Produktionshäuser auch besser ausgestattete Freie Spielstätten einzurichten, die es ermöglichen, unter professionellen Bedingungen Stücke zu zeigen. Auch wenn diese Spielorte nicht vollständig kuratiert werden sollten, müsste auf Qualität und Professionalität und auf ein interessantes, vielseitiges Programm geachtet werden. Die Kommunen sollten ausreichend freie Fördermittel zur Verfügung stellen, damit auch außerhalb der Produktionshäuser professionelle Produktionen erarbeitet werden können. Das Lamento, die Stadt- und Staatstheater würden wichtige und etablierte Gruppen aus der Freien Szene abwerben, um in ihren Häusern zu produzieren, ist schlicht kurzsichtig. In vielen, vor allem kleineren Kommunen sind es die öffentlichen Bühnen, die durch den Zugang zu breiten Bevölkerungsschichten Räume für neue, zeitgenössische Theateransätze schaffen können. Durch gemeinsame Produktionen und Gastspiele könnten sich die öffentlichen Bühnen

4

So geschehen im Gespräch von Kathrin Tiedemann, Guy Gypens und Annemie Vanackere mit Frank Radddatz, Theater der Zeit 02/2011, S. 17-19.

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verstärkt der Freien Szene öffnen. Das Programm »Doppelpass«5, mit welchem die Kulturstiftung des Bundes mehrjährige Residenzen Freier Darstellender Künstler an öffentlichen Bühnen fördern will, zielt dabei in die richtige Richtung. Indem einige Künstler oder Ensembles verstärkt mit Stadt- und Staatstheatern zusammenarbeiten, entstehen neue Möglichkeiten für andere Künstler in den Produktionshäusern. Es könnte durchaus reizvoll sein, mit einer grundsätzlichen Veränderung von Stadt- und Staatstheaterstrukturen zu experimentieren. Vielleicht wäre es interessant, etwa drei bis vier Stadt- und Staatstheater so umzubauen, dass sie ohne Ensemble und unter der künstlerischen Leitung mehrerer Ensembles andere Produktionsweisen ausprobieren. So könnte man den Repertoirebetrieb in einen Ensuite-Betrieb umstellen und Produktionen blockweise proben und spielen sowie in der Folge untereinander austauschen. Solche Häuser könnten in Großstädten entstehen, wo es für das bürgerliche Publikum ausreichend andere Angebote an großen Häusern gibt. Neue Ideen sind gefragt. Vielleicht könnte die Struktur der Spielräume der Freien Darstellenden Künste auf eine neue Grundlage gestellt werden. Dazu könnten lokale und überregionale Entwicklungspläne für die Darstellenden Künste dienen, um mögliche und wünschenswerte Entwicklungsoptionen zu denken. Möglicherweise könnte ein System, das besser ausgestattete und flächendeckende Freie Spielorte und Produktionshäuser beinhaltet, Freie Spielorte mit festen Ensembles besser ausnutzt und die öffentlichen Bühnen als Kooperationspartner im Boot hat, zukunftsfähig sein.

F REI R ÄUME Eine erste abschließende These dieses Textes ist: Die zukünftige Entwicklung der Freien Darstellenden Künste wird sich an ihren Räumen entscheiden. Welche Räume der Szene zur Verfügung stehen, wird beeinflussen, wie Künstler arbeiten, welche Zeit zur Verfügung steht, welches Publikum sie ansprechen, wie stark sie sich dem Massengeschmack anpassen müssen usw. Eine zweite These könnte sein, dass die Zukunft der Freien Darstellenden Künste in einem System unterschiedlicher Räume liegt. Die Befürworter von Produktionshäusern sind nicht selten der Ansicht, dass dort alles zusammenkommen soll: Spielorte, Proberäume, Technik und sogar alle Fördermittel. Die

5

Siehe

http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/sparten/buehne_und_bewegu

ng/doppelpass.html [22.9.2012].

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Gegenthese dazu ist, dass ein gutes Produktionshaus nur in einer funktionierenden lokalen Szene existieren kann. Wenn Produktionshäuser zu viele Aufgaben bekommen, dann verzetteln sie sich schnell. Natürlich ist es wichtig, dass sie in die lokale Szene eingebettet sind, aber sie dürfen nicht alleiniges Zentrum sein. Nur wenn die Freie Szene ausreichend finanziert an verschiedenen Orten arbeiten kann, ist es einem Produktionshaus möglich, die interessantesten Ensembles auszuwählen und überregional zu platzieren. Die dritte These bewegt sich wieder zum Ausgangspunkt des Textes zurück. Die Frage der Räume wird den Charakter der Freien Darstellenden Künste als solches prägen, auch die Frage, wie sehr sie zu einem Ort des Politischen wird. Damit ist nicht gemeint, inwieweit sie sich mit politischen Themen beschäftigt. Es geht vielmehr darum, ob die Art und Weise, wie gearbeitet wird, einen anderen Geist in die Gesellschaft tragen könnte. Als die Freie Theaterszene entstand, war sie nicht nur ein Gegenentwurf zur Struktur der öffentlichen Bühnen, sondern auch zu der Organisationsform einer ganzen Gesellschaft, dem bürokratischen und chauvinistischen Fordismus mit seinem unflexiblen Sozialstaat alter Ordnung und dem Normalarbeitsverhältnis. Gemeinsam mit verschiedenen Alternativbewegungen hat die Freie Kulturszene diesen kritisiert. Entstanden ist jedoch keine freie Welt, sondern der neoliberal globalisierte Kapitalismus. Leider haben sich die Darstellenden Künste durch das denken von Projekt zu Projekt dem Produktivitätszwang der neoliberalen Ökonomie unterworfen, und das nicht unbedingt freiwillig, denn die Förderung ist nicht selten projektorientiert. Erforderlich wäre daher eine Entschleunigung, die künstlerischer Praxis wieder Zeit und Raum ermöglicht. Eine solche Entschleunigung hätte widerständiges Potenzial im Zeitalter der totalen Beschleunigung.6 Zeitgenössische Kunstproduktion könnte ihre Qualität darin sehen, dass sie völlig ergebnisoffen ist, dass ihre Prozesse unplanbar sind.7 Sie könnte das Vorläufige, Brüchige, Situative, Laborartige ihrer Arbeit in den Mittelpunkt stellen. Sie könnte sich von den Arbeitsweisen der so genannten »Kreativökonomie« darin unterscheiden, dass sie jenseits direkter Verwertbarkeit operiert, gerade weil sie ohne öffentliche Förderung ohnehin nicht existieren könnte. Wenn sie durch geeignete Räume und eine angemessene Finanzierung abgesichert würde, könnte Freie Darstellende Kunst so zu einem Labor eines anderen 6

Ähnlich argumentiert die Theaterwissenschaftlerin Bojana Kunst in ihrem Text »Jenseits von Projektkultur«, in: Heart of the City. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft. Theater der Zeit, Arbeitsbuch 2011, S. 24-29.

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Diese besondere Qualität betont unter anderem der Sozialwissenschaftler Cornelius Castoriadis, zum Beispiel in seinem Buch »Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie«, Suhrkamp 1997, S. 125f.

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Verständnisses von Ökonomie und Arbeit werden. Möglicherweise könnte das ein wichtigerer politischer Impuls für unsere Gesellschaft sein als das plakative Politisieren ohne Reflexion über die eigenen Strukturen und Arbeitsweisen. Deshalb wäre es notwendig, gemeinsam für Räume zu kämpfen, die kollektive und grundlegende Arbeit ermöglichen: Mit den technischen, räumlichen und finanziellen Ressourcen, um dauerhaft künstlerisch forschen zu dürfen, aber auch den Möglichkeiten, kurzfristig produzieren zu können. Wichtig wäre auch, sicherzustellen, dass allein künstlerische Gründe ausschlaggebend für die Entscheidung sind, ob man forscht oder produziert.

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L ITERATUR Castoriadis, Cornelius (1997): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 125f. Kunst, Bojana (2011): »Jenseits von Projektkultur«, in: Mackert, Josef/ Goebbels, Heiner/ Mundel, Barbara (Hg.): Heart of the City. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft. Arbeitsbuch Theater der Zeit 2011, Berlin: Theater der Zeit, S. 24-29.

Raddatz, Frank/ Tiedemann, Kathrin/ Gypens, Guy/ Vanackere, Annemie (2011): »Die Krise der Überproduktion. Die künstlerischen Leiter Guy Gypens (Kaaitheater Brüssel), Kathrin Tiedemann (FFT Düsseldorf) und Annemie Vanackere (Rotterdamse Schouwburg) im Gespräch«, in: Theater der Zeit (02/2011), Berlin: Theater der Zeit, S. 17-19.

Förderstrukturen in Deutschland – überholt oder zeitgemäß? C AROLINE S ASSMANNSHAUSEN

Wer bislang glaubte, das Bild des »armen Poeten« sei dank unserer heutigen Sozialsysteme und öffentlichen Förderstrukturen ein längst überkommenes Klischee, wird durch den vom Fonds Darstellende Künste vorgelegten »Report Darstellende Künste« (2010) eines Besseren belehrt. Die Fakten und Zahlen der großangelegten Untersuchung zur wirtschaftlichen, sozialen und arbeitsrechtlichen Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland sprechen eine deutliche Sprache: Das Gros der Freien Theater-/Tanzschaffenden lebt und arbeitet permanent selbstausbeuterisch von der Hand in den Mund. Gerade mal 11.500 Euro beträgt das künstlerische Nettoeinkommen, das freischaffende Künstler in Deutschland – trotz überwiegend hervorragender Ausbildung, internationaler Erfahrung, einem hohen Maß an Mobilität und Flexibilität – im Bereich der Darstellenden Kunst jährlich verdienen. Damit liegen die Einkommensverhältnisse der Freien Theater-/Tanzschaffenden etwa 40 Prozent unter denen eines durchschnittlichen Arbeitnehmers in Deutschland (Keuchel 2010: 45). Angesichts dieser alarmierenden Erkenntnisse ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen für künstlerisches Arbeiten und Leben in Deutschland zu verbessern. Notwendig erscheint nicht nur eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, sondern auch eine Überarbeitung und Anpassung der öffentlichen Förderung an die aktuellen Arbeits- und Lebenswirklichkeiten der Freien Theater/Tanzschaffenden. Neben einer besseren finanziellen Ausstattung gilt es, die Fördersysteme strukturell zu optimieren und dabei gezielter auf die Probleme und Potenziale der freischaffenden Künstler abzustimmen. Doch wie könnte eine solche strukturelle Optimierung – jenseits einer Forderung nach mehr Geld – konkret aussehen? Wie wird in Deutschland derzeit überhaupt Freies Theater/Tanz gefördert? Wie zeitgemäß ist diese Förderung? Tragen die Förderin-

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strumente den Bedürfnissen der Freien Theater-/Tanzschaffenden ausreichend Rechnung? Wo lassen sich Defizite, wo aktuelle Trends der Förderung erkennen? Gibt es derzeit Bundesländer, denen hinsichtlich der Förderung eine Vorreiterrolle zukommt? Die folgenden Ausführungen werfen einen kritischen Blick auf die Fördersituation für Freie Theater-/Tanzschaffende in Deutschland. Sie basieren auf einer Studie, die 2010 im Auftrag des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg e.V. (DFT Hamburg) mit finanzieller Unterstützung der Hamburger Kulturbehörde erstellt wurde, um die Förderbedingungen für Freie Theater-/Tanz– schaffende auf Landesebene zu erfassen (Sassmannshausen 2010). Die kommunale Förderung findet in der nachstehenden Betrachtung dementsprechend keine, die Bundesförderung nur am Rande Berücksichtigung. Auch konzentrieren sich die Ausführungen ausschließlich auf einen strukturellen Vergleich der Fördersysteme, da ein Vergleich der Förderbudgets mangels eines bundesweit einheitlichen Verständnisses von Freiem Theater1 nur bedingt möglich und sinnvoll erscheint.

D IE GÄNGIGSTEN F ÖRDERINSTRUMENTE : I NSTITUTIONELLE F ÖRDERUNG UND P ROJEKTFÖRDERUNG Die Förderung von Freiem Theater/Tanz erfolgt in Deutschland auf Landesebene überwiegend in Form von institutioneller Förderung und Projektförderung. Eine institutionelle Förderung bieten insgesamt neun Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen), eine Projektförderung können Freie Theater-/Tanzschaffende in 15 Bundesländern beantragen (keine Projektförderung: Saarland). Während die institutionelle Förderung in der Regel ausschließlich an freie und private Theater mit eigener Spielstätte vergeben wird (Ausnahme: Bayern, Bremen), werden Projektfördermittel vorwiegend an Einzelkünstler und freie Gruppen ohne eigenes Haus ausgereicht. Dementsprechend unterschiedlich gestalten sich die Antragsvoraussetzungen, die für das jeweilige Förderinstrument zu erfüllen sind: Für eine institutionelle Förderung werden in der Regel ein seit Jahren erfolgreicher Betrieb von

1

Unter dem Etikett des »Freien Theaters« werden in Deutschland derzeit sowohl Privattheater, Spielstätten, Einzelkünstler, freie Gruppen mit und ohne eigene Spielstätte (bspw. Hamburg und Berlin) als auch semiprofessionelles Theater und Amateurtheater (bspw. Sachsen-Anhalt) gefördert (Pinto 2010: 3).

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überregionaler Bedeutung, eine kommunale Förderung und eine Mindestanzahl an Vorstellungen und/oder Eigenproduktionen pro Jahr verlangt. Für die Projektförderung müssen Freie Theater-/Tanzschaffende ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt im jeweiligen Bundesland haben (Residenzpflicht), für gewöhnlich einen »angemessenen« Eigenmittelanteil in Höhe von 5 Prozent bis 25 Prozent der Gesamtkosten des Projektes erbringen sowie die Premiere der Produktion im jeweiligen Bundesland zeigen (Premierenpflicht). Während die institutionelle Förderung mehrjährig in Form fester Beträge vergeben wird, erfolgt die Auszahlung der Projektförderung, die in der Regel nur einmal jährlich beantragt werden kann, meist in Form einer Anteils- oder Fehlbedarfsfinanzierung durch das jeweilige Landesministerium (in acht Bundesländern auf der Grundlage einer Juryempfehlung). Vor allem die Auflagen und Fördervoraussetzungen der Projektförderung scheinen mit Blick auf die derzeitigen Arbeits- und Lebenswirklichkeiten Freier Theater-/Tanzschaffender in Deutschland überholt und praxisfern. Dies sei im Folgenden anhand der einzelnen Antragsmodalitäten näher erläutert: Residenzpflicht Freie Theater-/Tanzschaffende arbeiten und leben, wie der Report Darstellende Künste belegt, heutzutage nur noch selten an einem, sondern in der Regel an vielen, zum Teil sogar gleichzeitig an mehreren Orten, um von ihrer künstlerischen Arbeit leben zu können. Fast ein Drittel aller Theater-/Tanzschaffender agiert dabei regelmäßig im Ausland (Keuchel 2010: 146). Angesichts dieser fortschreitenden Multilokalität und internationalen Vernetzung der Szene erweist sich ein Bestehen auf der Residenzpflicht als nicht mehr zeitgemäß. Sinnvoller wäre eine flexiblere Handhabung dieser Antragsvoraussetzung, wie sie derzeit zum Beispiel die Filmförderung der Länder mit Erfolg praktiziert. Verlangt wird hier in der Regel keine regionale Bindung des Filmemachers, sondern lediglich ein lokaler Bezug des jeweiligen Projektes, ein so genannter »Regional-Effekt« (vgl. exemplarisch Filmförderung Hamburg/Schleswig Holstein 2010). Eine entsprechende Lockerung der Residenzpflicht für die Freie Theater-/Tanzszene auf Länderebene würde nicht nur die nationale und internationale Koproduktionsfähigkeit der Akteure erhöhen, sondern auch eine länderübergreifende Mehrfachförderung und damit Optimierung der vorhandenen Fördermittel ermöglichen. Voraussetzung hierfür wäre allerdings eine Lockerung der Premierenpflicht, wie sie derzeit bereits vom Bundesland Baden-Württemberg mit Erfolg praktiziert wird (Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e.V. 2011a).

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Eigenmittelanteil Auch die Antragsvoraussetzung Eigenmittelanteil wirkt hinsichtlich der prekären wirtschaftlichen und sozialen Lage vieler Freier Theater-/Tanzschaffender realitätsfern und kontraproduktiv, befördert sie doch aktiv die Selbstausbeutung der Künstler. Da Freie Theater-/Tanzschaffende aufgrund ihrer geringen Einkünfte (s. o.) in der Regel über keine Barschaften verfügen, müssen die verlangten Eigenmittel durch nichtmonetäre Eigenleistungen bestritten werden, was für die Künstler gewöhnlich Honorarverzicht bedeutet. Um der Selbstausbeutung Freier Theater-/Tanzschaffender Grenzen zu setzen, sollte – wie bereits in den Bundesländern Berlin, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Brandenburg – auf einen Eigenmittelanteil als Antragsvoraussetzung verzichtet und überdies grundsätzlich auf einer Honorierung der künstlerischen Arbeit bestanden werden. Zu erwägen wäre in diesem Zusammenhang eine Einführung von verbindlichen Honoraruntergrenzen zur Sicherung des Existenzminimums Freier Theater-/Tanzschaffender.2 Einmalige Antragsfrist Neben der Residenzpflicht und dem Eigenmittelanteil erweist sich auch die einmalige Antragsfrist als unangemessen, will man der spontanen und flexiblen Arbeitsweise der Freien Szene Rechnung tragen. Eine jährliche Antragsfrist erfordert lange Vorlaufzeiten für Projekte von bis zu zwei Jahren, die ein zeitnahes Aufgreifen und Verarbeiten von aktuellen Geschehnissen oder Themen verhindern. Für die Arbeitsabläufe der Freien Szene angemessener wäre eine mehrbzw. zweimalige Antragsfrist pro Jahr, wie sie derzeit bereits von den Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen und Thüringen im Rahmen der Projektförderung angeboten wird.

2

Ein Berechnungsmodell für Honoraruntergrenzen erarbeiteten der Laft Berlin e. V., TanzRaumBerlin Netzwerk und das Tanzbüro Berlin (Landesverband Freie Theaterschaffende Berlin e. V. 2009). Auch im Ausland sind Richthonorare ein brisantes Thema. So hat zum Beispiel der Schweizer Berufsverband der Freien Theaterschaffenden ACT eine Broschüre mit Richtgagen herausgegeben, die Regisseuren, Schauspielern, Tänzern, Choreografen und anderen als Leitfaden bei Lohnverhandlungen dienen soll (Berufsverband der Freien Theaterschaffenden Schweiz 2010). Erste Erfolge sind zu verzeichnen: Diverse Theater und Förderstellen orientieren sich bei ihrer Förderung an den ausgewiesenen Honoraren.

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Anteils-/Fehlbedarfsfinanzierung Last, but not least erscheint auch die Finanzierungsart, in der die Projektförderung in den meisten Bundesländern erbracht wird, mit Blick auf die unsichere wirtschaftliche Lage vieler Freier Theater-/Tanzschaffender als fragwürdig und unökonomisch, bestraft sie doch jene Künstler, die im Laufe des Projektes Mehreinnahmen oder Einsparungen generieren, durch eine anteilige Rückzahlung der Zuwendung. Eine bessere Lösung wäre, die Projektförderung als Festbetragsfinanzierung auszuzahlen, wie es bereits die Bundesländer BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen (nur NRW Landesbüro freie Kultur), aber auch der Fonds Darstellende Künste auf Bundesebene praktizieren. Eine Festbetragsfinanzierung böte Freien Theater-/Tanzschaffenden Verlässlichkeit und Planungssicherheit und würde überdies ökonomische Anreize zur finanziellen Unabhängigkeit bzw. Erwirtschaftung zusätzlicher Drittmittel setzen. Auch hätte die Festbetragsfinanzierung eine Verwaltungsvereinfachung und damit Entlastung der Künstler zur Folge. Die Richtlinien für die Projektförderung sollten von den Ländern aber nicht nur hinsichtlich der überholten Antragsmodalitäten überarbeitet, sondern auch mit Blick auf den Fördergegenstand modifiziert werden. Die Praxis zeigt, dass im Rahmen der Projektförderung in vielen Bundesländern derzeit ausschließlich die Produktion eines Projektes gefördert wird. Alle anderen Schritte des künstlerischen Prozesses und die damit anfallenden Kosten – zum Beispiel Honorare für die Vor- und Nachbereitungszeit oder Aufführungs- und Gastspielkosten – sind häufig nicht förderfähig, sondern müssen von den Freien Theater-/Tanzschaffenden selber bestritten werden. Alternativ zu einer entsprechenden Überarbeitung der Förderrichtlinien bietet sich die Einführung zusätzlicher Fördermodule an, die gezielt die im Rahmen der Projektförderung in der Regel nicht bezuschussten Kosten fördern. Eine entsprechende Entwicklung kann derzeit in einigen Bundesländern beobachtet werden.

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In den letzten drei Jahren lässt sich auf der Ebene der Landesförderung ein Trend zur Ausdifferenzierung der Fördersysteme in verschiedene Module erkennen, um nicht nur die einzelnen Phasen des künstlerischen Prozesses (Vorbereitung, Produktion, Aufführung, Wiederaufnahme, Gastspiel und Dokumentation), sondern auch die unterschiedlichen Bedürfnisse und Potenziale der heterogenen Szene und ihrer Akteure besser bedienen zu können. So wurde zum Beispiel in Baden-

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Württemberg im Jahr 2009 – im Zuge einer Aufstockung des Förderetats für Freie Theater von 361.000 Euro auf 1,4 Millionen Euro – das bestehende Fördersystem, das im Ländervergleich schon damals ungewöhnlich viele Förderinstrumente für Freie Darstellende Künstler bereithielt, um weitere Module ergänzt. Neben einer Projektförderung, Gastspielförderung, Festivalförderung und Förderung von Fortbildungsmaßnahmen bietet Baden-Württemberg seinen freischaffenden Künstlern auch eine Aufführungsförderung in zwei Varianten, eine mehrjährige Konzeptionsförderung und eine Produktionsförderung für Projekte der kulturellen Bildung, an. Doch auch in anderen Bundesländern gibt es neue Fördermöglichkeiten: In Rheinland-Pfalz und Bayern können Freie Theater-/ Tanzschaffende seit 2009 bzw. 2010 Gastspielförderung für ihre Produktionen beantragen; in Nordrhein-Westfalen haben etablierte Tanzensembles seit 2009 im Rahmen des Konzeptes Tanzland NRW die Möglichkeit, mehrjährige Spitzenförderungen zu erhalten (Modellprojekt) und in Berlin werden seit 2007 bzw. 2010 – ergänzend zu den Instrumenten Konzept-, Projekt-, Basis- und Spielstättenförderung – Tanzstipendien und Nachwuchsförderungen für Freie Theater-/Tanzschaffende ausgereicht. Weitere Bestrebungen zur Neukonzeptionierung der Förderstrukturen können sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Hamburg ausgemacht werden, wo die jeweiligen lokalen Freien Theater-/Tanzszenen in einer umfangreichen Bestandsaufnahme bzw. in Hamburg in einer Potenzialanalyse (Bernstorff et. al. 2011) evaluiert wurden. Die im Zuge der Ausdifferenzierung auf Landesebene neu etablierten Fördermodule sollen im Folgenden in einer Auswahl skizziert und auf ihre Potenziale hin beleuchtet werden: Konzeptionsförderung Die Konzeptionsförderung3, wie sie in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen (für den Tanzbereich), aber auch zum Beispiel in den Kommunen Stuttgart 3

Der Begriff der »Konzeptionsförderung« wird in Deutschland weder einheitlich verwendet noch definiert. Unter der »Konzeptionsförderung«, die gelegentlich auch »Konzept-«, »Options-« oder schlichtweg »Spitzenförderung« heißt, werden grundsätzlich zwei unterschiedliche Modelle gefasst: die Konzeptionsförderung als mehrjährige, quasi institutionelle Förderung für die Aufwendungen eines gesamten Betriebs (z. B. Berlin, Niedersachsen) sowie die Konzeptionsförderung als Förderung für mehrjährige Projektkonzeptionen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das zweite, jüngere Modell der Konzeptionsförderung, das – im Gegensatz zum ersten Modell – primär freie Gruppen und Einzelkünstler ohne eigene Spielstätte mehrjährig fördert. Konkret orientieren sich die Ausführungen an der Konzeptionsförderung des Bundeslandes Baden-Württemberg sowie an den Vorgaben des Fonds Darstellende

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oder Frankfurt eingeführt wurde, ist ein dreijähriges Instrument der Spitzenförderung, das etablierte professionelle freie Gruppen und Einzelkünstler, die seit Jahren regelmäßig produzieren, bei der Planung und Durchführung von so genannten »Projektkonzeptionen« unterstützt. Gefördert werden sowohl die Realisation von mehrteiligen Projekten, Projektreihen als auch die längerfristige Auseinandersetzung mit einer künstlerischen oder inhaltlichen Thematik. Dabei wird in der Regel vorausgesetzt, dass die Projektkonzeption im Minimum drei Projekte umfasst, von denen jeweils mindestens eines pro Kalenderjahr präsentiert werden sollte. Die Konzeptionsförderung wird grundsätzlich in Form einer Festbetragsfinanzierung erbracht und ausschließlich für die Erarbeitung der Projekte bis zur Premiere gewährt. Die Vorteile der dreijährigen Spitzenförderung für freie Gruppen und Einzelkünstler liegen auf der Hand: Das Förderinstrument ermöglicht ein kontinuierliches Arbeiten unter gesicherten Bedingungen. Freie Theater-/Tanzschaffende müssen sich nicht länger Jahr um Jahr von Projektförderung zu Projektförderung hangeln, sondern können über einen Zeitraum von drei Jahren dank fester Beträge ihr künstlerisches Profil schärfen, gegebenenfalls feste Ensemblestrukturen aufbauen, Kooperationen eingehen und Koproduktionen langfristig planen. Überdies eröffnet die Konzeptionsförderung auf Landes- und kommunaler Ebene den Gruppen die Möglichkeit, auf Bundesmittel zuzugreifen. Der Fonds Darstellende Künste bietet seit 2008 neben seiner Projektförderung ebenfalls eine dreijährige Konzeptionsförderung an. Voraussetzung für eine solche Förderung ist allerdings, dass die in Frage stehende Gruppe eine Kofinanzierung in Höhe von mindestens 25.000 Euro pro Jahr bzw. 75.000 Euro für drei Jahre durch ihre Kommune oder ihr Land nachweisen kann. Da die meisten Freien Theater-/ Tanzschaffenden in Deutschland eine derartige Unterstützung – trotz expliziter Empfehlung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Kultur in Deutschland4 – bislang nicht erhalten können, fallen sie derzeit aus der Bundesförderung des Fonds Darstellende Künste heraus.

Künste (Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. 2010a; Fonds Darstellende Künste e. V. 2007). 4

Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern und Kommunen »[...] neben der institutionellen Förderung und Projektförderung auch die Konzeptionsförderung mit mehrjähriger Planungssicherheit zu gewähren« (Deutscher Bundestag 2008: 166).

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Basisförderung Die Basisförderung ist strenggenommen kein neues, sondern ein seit Jahren sowohl in Hamburg als auch in Berlin mit jeweils unterschiedlicher Ausrichtung eingesetztes Förderinstrument. Es soll an dieser Stelle gleichwohl vorgestellt werden, da es gerade mit Blick auf die Projekt- und Konzeptionsförderung über ein großes Potenzial verfügt, die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen Freier Theater-/Tanzschaffender substanziell zu verbessern. Denn die Basisförderung schließt eine zentrale Lücke in der derzeitigen Förderung von Freiem Theater/Tanz in Deutschland: Sie dient gemäß ihres Namens (vorwiegend)5 der projektunabhängigen, kontinuierlichen Grundversorgung der Künstler und Gruppen. Gefördert werden die laufenden Kosten der administrativen und organisatorischen Theaterarbeit, die in der Regel weder von der Konzeptions- noch von der Projektförderung abgedeckt werden, sondern für gewöhnlich von den Freien Theater-/Tanzschaffenden selber – durch Honorarverzicht – bestritten werden müssen: Kosten der Buchhaltung, Mittel- und Auftragsakquisition, Antragsstellung, Gastspielplanung, PR und Öffentlichkeitsarbeit sowie Raummiete.6 Die Basisförderung eröffnet vor allem etablierten Gruppen und Einzelkünstlern die Möglichkeit, eine eigene professionelle Infrastruktur aufzubauen (z. B. durch Einstellung eines Produzenten), mit der Folge, dass wieder mehr Zeit für die eigentliche künstlerische Arbeit bleibt. Denn laut Report Darstellende Künste hat der Zeitanteil für künstlerisch-kreative Arbeitsphasen im Vergleich zu den 1970er Jahren zugunsten organisatorischer und administrativer Aufgabenbereiche, aber auch kunstnaher und nichtkünstlerischer Nebentätigkeiten stark abgenommen. Gerade mal ein Drittel der gesamten Wochenarbeitszeit (45 Stunden) aller Freien Theater-/Tanzschaffenden fließt heutzutage in die eigentliche künstlerische Arbeit (Keuchel 2010: 103). Die Basisförderung reagiert auf dieses gra-

5

Während die einjährige Basisförderung in Hamburg – unabhängig von der Erarbeitung eines Projektes – eine Unterstützung zur Sicherung der Arbeitsgrundlage gewährt, umfasst die zweijährige Basisförderung in Berlin neben der Grundfinanzierung der laufenden Theaterarbeit und Herrichtung bzw. Unterhaltung von Produktionsund Spielstätten auch eine Mitfinanzierung bestimmter Produktionen (Freie und Hansestadt Hamburg 2006; Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten Berlin 2011).

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Die Förderpraxis zeigt, dass derzeit lediglich Berlin in diesem Sinne fördert. In Hamburg wird die Basisförderung – aus Mangel an Fördermitteln – eher zur Finanzierung konkreter Anschaffungen (mobile Lichtanlage, Tanzboden, Scheinwerfer etc.) als zur projektunabhängigen Grundversorgung der Künstler vergeben.

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vierende Missverhältnis, indem sie Freie Theater-/Tanzschaffende von nichtkünstlerisch-kreativen Aufgaben entlastet und ihnen damit wieder mehr Zeit verschafft, ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen – der Kunst. Gastspielförderung7 Die Gastspielförderung, wie sie in den Bundesländern Bayern (seit 2010) und Rheinland-Pfalz (seit 2009), seit längerem bereits im Bundesland BadenWürttemberg (seit 1993) mit großem Erfolg angeboten wird, unterstützt freie professionelle Theater-/Tanzschaffende aller Sparten ganzjährig bei der Durchführung von Gastspielen im eigenen Bundesland, aber außerhalb der Heimatgemeinde. Bezuschusst werden anteilig – sofern der Veranstalter sich beteiligt – die Personalkosten des Gastspiels (inklusive der Kosten für etwaige Vorbereitungen und Wiederaufnahmen) und/oder die anfallenden Reise-, Transport- und Übernachtungskosten der Gruppe bzw. des Künstlers. Dabei ist in der Regel sowohl die Unter-/Obergrenze der Förderung als auch die Anzahl der maximalen Förderungen pro Gruppe/Jahr festgelegt. Die Vergabe der Gastspielförderung erfolgt laufend auf dem Verwaltungsweg mittels eines hochwertigen Theaterkatalogs, in dem sich die freien professionellen Gruppen und Einzelkünstler mit einer Auswahl ihrer Produktionen (i. d. R. 2-3) potenziellen Veranstaltern8 im eigenen Bundesland vorstellen können.9 7

Auf der Ebene der Bundesländer gibt es, berücksichtigt man die indirekte und direkte Landesförderung, zwei verschiedene Formen der Gastspielförderung: einerseits zeitlich befristete, buchbare, oftmals spartenspezifische Gastspielreihen, die lediglich ausgewählten Gruppen und Veranstaltern offenstehen – hierzu zählen etwa die Angebote Kindertheater des Monats (Schleswig-Holstein), Festivalstern Figuren– theater (Rheinland-Pfalz), Spielplatz (Niedersachsen), Flux (Hessen) oder das Auftrittsnetzwerk Favoriten/Theaterzwang (NRW) – und andererseits ganzjährige, spartenübergreifende Gastspielförderungen, die alle professionellen Freien Theater-/Tanzschaffenden eines Bundeslandes ganzjährig beantragen können. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich ausschließlich auf diese zweite Form der Gastspielförderung, das heißt auf die antragsoffenen Förderangebote der direkten Landesförderung.

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Die Gastspielförderungen in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Bayern und BadenWürttemberg richten sich an unterschiedliche Veranstalter: In Rheinland-Pfalz werden ausschließlich Gastspiele bei nichtkommerziellen Einrichtungen gefördert (soziokulturelle Zentren, Kindergärten, Vereine und Schulen). In Bayern hingegen können nur private und freie Theater sowie vergleichbare Spielstätten und Kultureinrichtungen der Städte und Gemeinden Freie Theater-/Tanzproduktionen aus dem Theaterkatalog

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Das Förderinstrument setzt damit auf verschiedenen Ebenen an: Es garantiert nicht nur eine angemessene Honorierung der künstlerischen Arbeit, verlängert die Aufführungsserien und verbessert damit die Sichtbarkeit und Auswertung der Produktionen respektive die Einkommensverhältnisse der freischaffenden Künstler, sondern entlastet die Theater-/Tanzproduzenten auch – dank des Katalogs – bei der Vermarktung ihrer Produktionen bzw. bei der Akquise von Gastspielen. Neben den Freien Theater-/Tanzschaffenden profitieren aber auch die Veranstalter des jeweiligen Bundeslandes von der Förderung, können sie doch Produktionen einladen, die sie sich aufgrund ihrer meist geringen Gastspieletats bis dato nicht leisten konnten. Die landesweite Gastspielförderung stellt damit sowohl für Gruppen und Einzelkünstler als auch für Veranstalter eine sinnvolle Ergänzung zur bundesweiten Gastspielförderung des Nationalen Performance Netzes dar, das bekanntermaßen ausschließlich länderübergreifende Gastspiele von zeitgenössischen Theater-/Tanzproduktionen unterstützt (Joint Adventures/Nationales Performance Netz 2010: 4). Dass der Bedarf an einer landesweiten Gastspielförderung in Deutschland grundsätzlich groß ist, belegen die Förderergebnisse der Bundesländer: Konnten im Jahr 2010 in Bayern – den knappen Mitteln (30.000 Euro) und den im Ländervergleich verhältnismäßig hohen Fördersummen geschuldet – »nur« insgesamt zehn Bewilligungen ausgesprochen werden, waren es in Rheinland-Pfalz im gleichen Zeitraum insgesamt 167 Gastspiele (Gesamtfördersumme: 58.000 Euro, durchschnittliche Fördersumme: 347 Euro) und in Baden-Württemberg gar 890 (!) Gastspiele (Gesamtfördersumme: 298.783 Euro, durchschnittliche Fördersumme: 336 Euro), die dank der Landesförderung realisiert werden konnten. Aufführungsförderung Ergänzend zur Gastspielförderung bietet Baden-Württemberg Freien Theater-/ Tanzschaffenden auch eine explizite Aufführungsförderung für Vorstellungen in der Heimatgemeinde an (Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. 2010c). Bezuschusst werden die anfallenden Kosten von der fünften bis zur

buchen. In Baden-Württemberg wiederum steht die Gastspielförderung sowohl soziokulturellen Zentren, Kindergärten, Vereinen und Schulen als auch privaten/freien Theatern und vergleichbaren Spielstätten offen (Landesverband professioneller freier Theater Rheinland-Pfalz e. V. 2011, Verband Freie Darstellende Künste e. V. 2011, Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. 2010b). 9

Vgl. dazu exemplarisch den bayerischen Theaterkatalog (Verband Freie Darstellende Künste e. V. 2011).

F ÖRDERSTRUKTUREN

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neunten Vorstellung10, die in den letzten drei Jahren von der jeweiligen Spielstätte durchschnittlich in Rechnung gestellt worden sind (Raummiete, Personalkosten für Techniker etc.). Auch werden zusätzliche Aufführungskosten wie Reise-, Transport-, Übernachtungs- oder Werbekosten übernommen; Aufführungshonorare hingegen sind von einer Förderung ausgeschlossen. Die Aufführungsförderung wirkt sich analog zur Gastspielförderung positiv auf die Vorstellungsanzahl und damit die Auswertung der Produktionen aus. Freie Theater-/Tanzproduktionen erleben nach monatelanger Erarbeitung nur wenige Aufführungen, weil die anfallenden Aufführungskosten von den Gruppen durch die eingespielten Eintrittsgelder nicht gedeckt werden können. Dies ist nicht nur unwirtschaftlich, sondern für die Beteiligten auch künstlerisch unbefriedigend. Die Aufführungsförderung schafft Abhilfe: Sie minimiert das Risiko für die Freien Theater-/ Tanzschaffenden, auf den Aufführungskosten sitzen zu bleiben, gibt ihnen damit die Möglichkeit, mehr Vorstellungen zu spielen und die eingesetzten (öffentlichen) Produktionsmittel effizienter und nachhaltiger zu nutzen. Nachwuchsförderung/Residenzprogramme In den meisten Bundesländern findet derzeit auf der Ebene der direkten Landesförderung keine gezielte Nachwuchspflege statt. Die Förderung junger Nachwuchskünstler erfolgt in der Regel ausschließlich im Rahmen der bestehenden Projektförderung, was aus zweierlei Gründen problematisch erscheint: Zum einen erfüllen die jungen Theater-/Tanzschaffenden teilweise die verlangten Fördervoraussetzungen nicht (z. B. Niedersachsen: mindestens zwei öffentlich aufgeführte, medienwirksame Produktionen), zum anderen konkurrieren sie mit arrivierten Gruppen und damit nicht vergleichbaren Produktionen (hinsichtlich Budget, Anzahl der Mitwirkenden etc.) um die gleichen (i. d. R. knappen) Fördermittel. Seit 2010 bietet Berlin eine explizite Nachwuchsförderung an, die jungen Theater-/Tanzschaffenden gezielt den beruflichen Einstieg erleichtern will. Im Rahmen einer so genannten »Einstiegsförderung« werden jährlich unbürokratisch kleine Beträge (max. 5.000) in Form eines Stipendiums an Künstler (max. zehn) vergeben, die erste konkrete Arbeitsvorhaben realisieren wollen. Die Förderung richtet sich dabei sowohl an Berufseinsteiger, die eine professionelle Ausbildung im Bereich der Darstellenden Kunst abgeschlossen haben, als 10 Die Beschränkung »fünfte bis neunte Vorstellung« wird vom Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. damit erklärt, dass die Praxis zeige, dass ein Besuchererfolg häufig erst nach der zehnten Vorstellung einsetze, wenn die Mundpropaganda zu greifen beginne. Den Gruppen solle geholfen werden, diese kritische Phase bis zur zehnten Vorstellung zu überstehen.

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auch an Quereinsteiger mit nachgewiesener künstlerischer Qualität sowie an Berufsumsteiger innerhalb der Darstellenden Kunst (z. B. an Tänzer, die erstmalig als Choreograf arbeiten wollen) (vgl. Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten Berlin 2011). Das Berliner Fördermodul trägt damit nicht nur dem klassischen Problem des Berufseinstiegs, sondern auch dem des Berufsumstiegs, der Transition nach der aktiven Tanzkarriere, Rechnung. Neben dieser Form der »kleinen« Projektförderung für Nachwuchskünstler sind – vor allem im Zuge der fünfjährigen Initiative Tanzplan Deutschland der Kulturstiftung des Bundes (2006-2010)11 – in den letzten Jahren auf der Ebene der indirekten Landesförderung diverse Residenzprogramme für junge nationale wie internationale Freie Theater-/Tanzschaffende entstanden, die aus Landesund kommunalen Mitteln finanziert werden. So bieten 6 von 16 Bundesländern Arbeits- bzw. Rechercheaufenthalte in Künstlerhäusern an, die sich vorwiegend an den Nachwuchs richten: Baden-Württemberg (Kunststiftung Baden-Württemberg, Akademie Schloss Solitude), Brandenburg (Fabrik Potsdam), Hamburg (K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg), Hessen (Tanzlabor 21/ Tanzbasis Frankfurt_Rhein_Main), Mecklenburg-Vorpommern (Schloss Bröllin) sowie Nordrhein-Westfalen (NRW KULTURsekretariat Wuppertal, Kunststiftung NRW, PACT Zollverein, tanzhaus nrw). Die Residenzprogramme unterscheiden sich dabei nicht wesentlich voneinander, was die Leistungen anbelangt: Meist beinhalten sie für die Dauer von mehreren Wochen oder Monaten einen kostenlosen Proberaum, eine mietfreie/günstige Unterkunft, eine monatliche finanzielle Unterstützung (i. d. R. 1.000 Euro) sowie eine individuelle Betreuung. Eher seltener erhalten Freie Theater-/Tanzschaffende einen Produktionskostenzuschuss (z. B. K3 - Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg, ca. 8.000 Euro) oder einen finanziellen Obulus für Recherchevorhaben (z. B. NRW KULTURsekretariat Wuppertal/Tanzrecherche NRW, max. 7.500 Euro). Die Künstlerresidenzen stellen für den künstlerischen Nachwuchs ein interessantes Förderinstrument dar: Sie bieten jungen Theater-/Tanzschaffenden nach der Ausbildung Freiräume, sich fernab von finanziellen Nöten in ersten kleinen Projekten und Recherchen – ohne Zeit- und Produktionsdruck – auszuprobieren. Denn in der Regel müssen die Ergebnisse der Residenz nicht als fertige Aufführung präsentiert, sondern lediglich in Tryouts, Gesprächen oder halböffentlichen Showings reflektiert werden.

11 Vgl. hierzu ausführlich Tanzplan Deutschland (Hg.) (2011): Tanzplan Deutschland, eine Bilanz, Leipzig.

F ÖRDERSTRUKTUREN

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Projektförderung Kulturelle Bildung Partizipative Projekte, in denen Freie Theater-/Tanzschaffende gemeinsam mit Laien im künstlerischen Bereich tätig werden, erfreuen sich bundesweit zunehmender Beliebtheit. Immer öfter entscheiden sich Freie Theater-/Tanzschaffende bewusst, Darsteller für ihre Produktionen zu engagieren, die nicht professionelle Künstler sind, um gemeinsam mit ihnen theatrale und tänzerische Werke zu entwickeln. Um derartige Projekte gezielt fördern zu können, bietet BadenWürttemberg seit 2009 eine explizite12 Produktionsförderung für Projekte der professionellen Freien Theater-/Tanzszene auf dem Gebiet der kulturellen Bildung an (vgl. Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. 2011b). Voraussetzung für eine Förderung ist, dass die beteiligten Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen oder Senioren aktiv in die Vorbereitungs- und Produktionsprozesse des Projektes einbezogen werden und künstlerisch eigenständig an der Umsetzung mitwirken. Durch das Fördermodul wird die zunehmende Bedeutung der kulturellen Bildung als Arbeitsfeld für Freie Theater-/Tanzschaffende anerkannt und honoriert. Bereits im Jahr seiner Einführung wurde das neue Instrument so stark nachgefragt, dass der Förderetat für 2010 von 117.500 Euro auf 248.000 Euro aufgestockt wurde.

F AZIT

UND

AUSBLICK

Eine zeitgemäße Kulturförderung muss den Arbeits- und Lebensweisen der Künstler Rechnung tragen. Was eigentlich selbstverständlich erscheint, ist im Bereich der Freien Theater-/Tanzförderung in Deutschland bislang eher die Ausnahme. Ein Blick in die Bundesländer zeigt: Die Förderung geht vielerorts an den realen Bedürfnissen, Problemen und Potenzialen der Szene vorbei. Sie ist nicht nur stark unterfinanziert, sondern auch in struktureller Hinsicht veraltet und reformbedürftig. Die Hauptprobleme in den meisten Bundesländern sind: eine ausschließlich projekt- bzw. produktionsgebundene, diskontinuierliche Förderung, die weder die Vorbereitung, Distribution, Rezeption oder Nachbereitung

12 In den übrigen Bundesländern wie zum Beispiel Berlin oder Nordrhein-Westfalen gibt es zwar auch Programme zur Förderung der kulturellen Bildung, diese stehen jedoch – im Gegensatz zum Fördermodul in Baden-Württemberg – nicht nur Theater-/Tanzschaffenden, sondern grundsätzlich Künstlern aller Sparten offen (vgl. z. B. Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung, Berlin oder Landesprogramm Kultur und Schule, NRW).

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eines Projektes noch die laufende administrative und organisatorische Theaterarbeit unterstützt, sowie praxisferne Antragsmodalitäten und Fördervoraussetzungen, die die Freie Theater-/Tanzarbeit maßgeblich erschweren und bürokratisieren. Lange Vorlaufzeiten für Projekte, eine nur einmal im Jahr mögliche Antragsstellung, ein mit Blick auf die prekären Lebensbedingungen vieler Künstler weltfremder Eigenmittelanteil als Antragsvoraussetzung, Fehlbedarfsfinanzierung, Residenz- und Premierenpflicht erweisen sich als unangemessen, will man die spezifischen Potenziale freier künstlerischer Praxis, etwa deren Mobilität, Internationalität, Flexibilität und Aktualität, fördern. Angesichts dieser in der Mehrzahl der Bundesländer schwierigen Arbeitsbzw. Förderbedingungen überrascht es kaum, dass das Gros der Freien Theater-/ Tanzschaffenden in Deutschland nicht nur die eigene berufliche Zukunftsaussicht, sondern auch die Zukunftsperspektive der Freien Theater-/Tanzlandschaft insgesamt skeptisch bewertet (vgl. Keuchel 2010: 163ff.). Zwar lässt sich in den letzten drei Jahren in einzelnen Bundesländern ein Trend zur strukturellen Optimierung und Ausdifferenzierung der Fördersysteme beobachten, um bedarfsgerechter und individueller fördern zu können; diese positive Entwicklung droht jedoch angesichts der desolaten Haushaltslage vieler Länder und Kommunen ins Stocken zu geraten. Denn es versteht sich von selber: Eine Einführung neuer Fördermodule erscheint nur sinnvoll, wenn sie mit einer entsprechenden Aufstockung des Gesamtförderetats einhergeht. Wer braucht schon eine Gastspiel-, Aufführungs- oder Basisförderung, wenn keine finanziellen Mittel mehr zum Produzieren vorhanden sind, weil das neue Fördermodul aus dem Budget der bestehenden Projektförderung etabliert wurde? Es bleibt zu hoffen, dass die Kommunen und Länder die angespannte Situation ihrer Haushalte als Chance begreifen, mutig neue Finanzierungsinstrumente (z. B. Kulturtaxe) und kreative Strategien für die Verteilung der knappen Ressourcen zu entwickeln (z. B. im Rahmen einer Theaterentwicklungsplanung13), um die Förderung der Freien Theater-/Tanzszene trotz der massiven Haushaltslöcher kontinuierlich weiter ausbauen bzw. ausdifferenzieren zu können.

13 Vgl. hierzu ausführlich Schneider, Wolfgang (2010): »Es geht um die Zukunft unserer Theaterlandschaft. Eine kulturpolitische Polemik aus gegebenem Anlass«, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Bonn: Klartext Verlag, S. 23f.

F ÖRDERSTRUKTUREN

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L ITERATUR Bernstorff, Elise von/ Buchholtz, Jules/ Müller-Schöll, Nikolaus/ Sassmannshausen, Caroline/Zimmermann, Mayte (2011): Potentialanalyse der freien Theater- und Tanzszene in Hamburg. Online: http://www.theaterforschunghamburg.de/ [16.07.2011]. Berufsverband der freien Theaterschaffenden (ACT) (2010): Richtgagen und Richtlöhne für Berufe im Freien Theater, Bern. Deutscher Bundestag (Hg.) (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, Drucksache 16/7000, Berlin. Filmförderung Hamburg/Schleswig-Holstein (2010): Richtlinien für Filmförderung. Online: http://www.ffhsh.de/art/MediaCenter/Downloads/Merkblaetter/ MB%20Richtlinien.pdf [11.10.2011]. Fonds Darstellende Künste/ Jeschonnek, Günter (Hg.) (2007): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Bonn: Klartext Verlag. Fonds Darstellende Künste (2007): Konzeptionsförderung 2008 – 2009 – 2010, Berlin. Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Kultur und Medien (2006): Förderrichtlinie für Freie Sprech-, Musiktheater- und Performance-Produktionen. Online: http://www.hamburg.de/kulturfoerderung/theater/ [11.10.2011]. Joint Adventures/Nationales Performance Netz (2010): Broschüre NPN Tanz & Theater 2010/2011. Keuchel, Susanne (2010): Die empirische Studie zum Report Darstellende Künste »Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland«, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.): Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland Bonn: Klartext Verlag, S. 29-174. Landesverband Freie Theaterschaffende Berlin (Hg.) (2009): Berechnung einer Honoraruntergrenze. Online: http://laft-berlin.de/uploads/media/Berechnung _Honoraruntergrenze.pdf [10.07.2011]. Vgl. auch http://www.laftberlin.de/uploads/media/Berechnung_GesamtetatSenat_HUGrenze.pdf [10.07.2011]. Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. (2010a): Konzeptionsförderung des Landes Baden-Württemberg für professionelle Freie Theater 2010 – 2011 – 2012. Vergaberichtlinien, Baden-Baden. Online: http://www. laftbw.de/formulare [01.07.2011].

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Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. (2010b): Freie Theater aus Baden-Württemberg. Gastspielangebote 2010/2011, Baden-Baden. Online: http://www.laftbw.de/formulare [01.07.2011]. Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. (2010c): Richtlinien für Aufführungsförderung Modell 1 und 2 für das Jahr 2011, Baden-Baden. Online: http://www.laftbw.de/formulare [01.07.2011]. Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. (2011a): Projektförderung für professionelle Freie Theater 2011, Baden-Baden. Online: http://www.laftbw.de/formulare [01.07.2011]. Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e. V. (2011b): Richtlinien für Projektförderung »Kulturelle Bildung« 2011, Baden-Baden. Online: http:// www.laftbw.de/formulare [01.07.2011]. Landesverband professioneller freier Theater Rheinland-Pfalz e. V. (2011): Bühne frei! Professionelle freie Theater Rheinland-Pfalz. Aufführungsförderung 2011. Online: http://www.laprofth.de/images/stories/katalogepdf/laprof th_Katalog2011_web.pdf [11.10.2011]. Pinto, Alexander (2010): »Vorbemerkung«, in: Sassmannshausen, Caroline: Förderstrukturen für Freie Theater in Deutschland. Studie im Auftrag des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg e. V. (DFT Hamburg) mit freundlicher Unterstützung der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg. S. 3. Sassmannshausen, Caroline (2010): Förderstrukturen für Freie Theater in Deutschland. Studie im Auftrag des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg e. V. (DFT Hamburg) mit freundlicher Unterstützung der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg. Schneider, Wolfgang (2010): »Es geht um die Zukunft unserer Theaterlandschaft. Eine kulturpolitische Polemik aus gegebenem Anlass«, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Bonn: Klartext Verlag, S. 21-25. Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten Berlin (2011): Informationsblatt zur Vergabe der Einstiegsförderung 2012. Online: http://www.berlin.de/imperia/ md/content/senkultur/kulturfoerderung/musik/jurybeirat/2012_info_einstiegs f__rd.pdf?start&ts=1308137635&file=2012_info_einstiegsf__rd.pdf [11.10. 2011]. Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten Berlin (2011): Informationsblatt zur Vergabe der Basisförderung (Förderzeitraum 2011/2012). Online: http:// www.berlin.de/imperia/md/content/sen-kultur/3euroticket/info_2011_basisfo erderung.pdf [11.10.2011].

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Tanzplan Deutschland (Hg.) (2011): Tanzplan Deutschland, eine Bilanz, Leipzig. Verband Freie Darstellende Künste e. V. (2011): Theaterkatalog Gastspielförderung Freie Theater Bayern 2011. Online: http://www.freie-theater-bayern.de/ theaterkatalog/ [11.10.2011].

C.

20 Jahre Freie Darstellende Künste – ein Blick auf die Genres

Theater ohne Grenzen Die Entwicklung des Freien Figurentheaters U TE K AHMANN

»Was kann ich beruflich machen?«, fragte ich eine Angestellte im Arbeitsamt, nachdem ich ihr meine Zeugnisse auf den Tisch gelegt hatte. »Alles«, war die knappe Antwort, und das war zu viel für eine aus der DDR ausgereiste junge Frau, die ich damals war, 1987. Alles, na prima. Ich überlegte, ob ich in meinem erlernten Beruf arbeiten, mein Studium der Kulturwissenschaft beenden, mein Hobby Puppenspiel zum Beruf machen oder was ganz anderes ausprobieren sollte. Plötzlich war alles möglich. Schon kaufte ich ein Stadtmagazin und hielt nach Westberliner Puppentheatern Ausschau. Ich fand zwei Puppen- und einige Figurentheater. »Schon wieder ne Ossi«, hörte ich am Telefon den ersten von mir angerufenen Puppenspieler sagen. »Du kannst bei uns nicht einfach so mitmachen, wir sind ja froh, wenn das Geld für uns reicht. Wir leben doch davon. Aber wir erzählen dir, wie es hier im Westen läuft.« So wurde ich auf Berliner Art sehr herzlich in einem damals schon relativ etablierten Figurentheater empfangen. Diese offene, freundliche und unterstützende Art von Westkollegen1 begegnete mir auch später häufig. »Mach mal 'ne Soloinszenierung, damit wir sehen, was du kannst. Wenn es passt, kannst du hier für 70/30 spielen, also 70 Prozent der Einnahmen gehören dir, 30 Prozent dem Theater«, sagte der Kollege vom »Berliner Figuren Theater«. Die Arbeit in einem Ensemble war ich auf Grund meiner langjährigen Mitgliedschaft in einer Amateurbühne in Ost-Berlin gewohnt. Nun allein zu begin1

Im Folgenden verwende ich der Leserlichkeit willen in der Mehrzahl die männliche Form, meine aber natürlich auch Kolleginnen und Puppenspielerinnen.

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nen, glich einem Sprung ins kalte Wasser. Ich entwickelte ein Konzept und überlegte mir den Inhalt eines Puppenspiels. Was war mir wichtig? Was könnte andere interessieren? Ich kannte Szenografen, ließ mir die Puppen und einen Teil der Bühne bauen. Eine Kollegin machte Regie und brachte mir die Regeln der einfach gehaltenen Lichttechnik bei, denn Geld für einen Techniker gab es nicht. Das spielerische Handwerk hatte ich in Ostberlin bei Dozenten der Staatlichen Hochschule für Schauspielkunst erlernt.2 In ein paar Wochen stand die erste Soloinszenierung. Entscheidend für die Mobilität eines Freien Figurentheaters war und ist, dass alle Requisiten, Bühnenelemente und Figuren in Kisten verpackt in einen Bus oder Kombi, damals noch R4, passen mussten. So oder ähnlich begannen wohl einige Puppenspieler im Westen des Landes in den 1980er Jahren professionell zu arbeiten, enthusiastisch und mit Liebe zum Metier. Nur die Ausbildung und der Anspruch an das spielerische Handwerk waren sehr unterschiedlich. Ich sah mir etliche Inszenierungen von westdeutschen Bühnen an. Oft waren diese brav, geradezu ordentlich inszeniert. Ich vermisste den Biss, eine politische Aussage und das Handwerk, welches ich von Puppenspielern aus der DDR kannte. Diese Tatsache verwunderte mich – bis ich die Geschichte der Westdeutschen Puppenspieler kennen lernte.

IN

DER

N ACHKRIEGSZEIT

In der Nachkriegszeit der Bundesrepublik gab es Anfang der 1950er und 1960er Jahre Puppentheater, die in der Tradition der Wanderbühnen, oftmals als Kaspertheater, über die Lande fuhren und in Zelten, Schulen, Kirchen und Kneipen gastierten. Ca. 700-1000 Aufführungen pro Jahr mussten von jeder Bühne (meist ein Familienunternehmen) bewältigt werden, um wirtschaftlich überleben zu können. Obwohl die freie Zeit knapp bemessen war, drängten die Puppenspieler aus ihrer einzelkämpferischen Isolation heraus und suchten den fachlichen Dialog. Es gab den Wunsch nach einem regelmäßigen Austausch unter Kollegen.

2

In der DDR gab es für Amateurpuppenspieler eine Ausbildung. Diese wurde unter anderem von Dozenten der Schauspielschule »Ernst Busch« durchgeführt. Die Gruppen und ihre Mitglieder konnten sich von einer Kommission einstufen lassen. »Anerkennung der künstlerischen Qualität von Solisten im künstlerischen Volksschaffen« wurde es genannt. Ich hatte die »Qualitätsstufe sehr gut« und hätte für einen »selbstständigen Auftritt 25 Mark der DDR« erhalten.

T HEATER OHNE GRENZEN

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»Gegenseitige Kritik ist Ehrenpflicht« stand im Gründungsprotokoll des Verbandes Deutscher Puppentheater e. V., der 1968 von 14 Theatern ins Leben gerufen wurde. Gemeinsam engagierte man sich trotz gegenseitiger Konkurrenz für Qualität und Anerkennung des Berufes. Offiziell wurden Puppentheater dem Gewerbe der Schausteller zugeordnet. Das sollte sich ändern. Diese Theater schrieben sich auf ihre Fahnen, das Puppenspiel als eigene Kunstform zu etablieren. Erste Puppenspielwochen (später Festivals genannt) wurden in Kooperation mit Stadtverwaltungen initiiert und brachten Bewegung in die Auseinandersetzung um das Medium und seine vielseitigen Ausdrucksformen. So kam es im Rahmen dieser Festwochen zum ersten Mal zu einer Gemeinschaftsinszenierung. In einem Ensemble zu arbeiten, war für viele Puppenspieler eine neue Erfahrung. In einer Anfang der 1970er Jahre gegründeten Weiterbildungsstätte vermittelten Kollegen einander in Workshops ihre gestalterischen und spielhandwerklichen Erfahrungen und Entdeckungen. Später wurden Landesmittel akquiriert und nun kamen auch international renommierte Experten aus der Praxis und den Hochschulen. Diese berufliche Weiterbildung wurde trotz staatlicher Förderung zum Großteil von den Theatern finanziert. Der seit den 1980er Jahren von den Theatern eingeführte Terminus »Figurentheater« sollte auf die Vielfalt der Möglichkeiten des Genres aufmerksam machen. Es gibt im Figurentheater nicht nur das Spiel mit der Puppe, sondern auch mit Objekten und Material aller Couleur, es kann die geschlossene Guckkastenbühne wie auch die offene Spielweise mit den verschiedensten Spieltechniken beinhalten. Die Kunstform Puppenspiel gewann zunehmende Aufmerksamkeit und der Verband Deutscher Puppentheater e. V. strebte die Schaffung einer fundierten Ausbildung für Puppenspieler an, am sinnvollsten an einer Hochschule. 1983 gelang es ihm, einen Studiengang Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart zu initiieren. Das war eine Glanzleistung, eine öffentliche Anerkennung der professionellen Arbeit der Figurentheater! Meinen Kollegen gebührt Hochachtung für ihr kulturpolitisches Engagement, denn zugleich mussten sie ihre eigenen Auftritte organisieren, um Geld zu verdienen.

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U ND

WIE WAR ES IN DER

DDR?

Nach dem Zweiten Weltkrieg reisten auch hier traditionelle Puppentheater, zumeist Familienunternehmen, durch das Land. »Insgesamt wurde die Zahl der Puppenbühnen in der sowjetisch besetzten Zone 1947/48 mit 200 angegeben.«3 Doch in der DDR versuchte man, diese Theater zu diskriminieren. Bis in die 1950er Jahre hinein wurde auf Direktive der Partei manche Familie zur Aufgabe ihres Theaters gezwungen. Mit fadenscheinigen, nicht nachvollziehbaren Gründen erhielten einige Spielverbot oder wurden enteignet und in die kommunale Verwaltung überführt oder einem Stadttheater als Sparte Puppentheater angeschlossen (damals 16 Stadttheater mit Sparte Puppenspiel und einem festen Ensemble, heute gibt es noch 11). Das Puppentheater in der DDR hatte von nun an einen parteipolitischen Auftrag, zum Beispiel einen Beitrag zur Erziehung der Kinder im Arbeiter- und Bauernstaat entsprechend der SED-Richtlinien zu leisten. Einige wenige Familien und Solisten schafften es, Bespitzelungen, Verhaftungen und Repressalien Stand zu halten und als freischaffende Puppenspieler zu arbeiten. Ungefähr 40 Theater (oft Solisten) tourten durch die DDR. Einige von ihnen erhielten die Berufserlaubnis, weil schon die Großeltern ein Marionettentheater hatten. Andere absolvierten eine Ausbildung an den Stadttheatern und legten vor einer »Abnahmekommission« eine Bühnenreifeprüfung ab oder erhielten nach bestandener Prüfung eine Lizenz, die auch die Höhe des Honorars festlegte. Die Lizenz musste jährlich erneuert werden. Es konnte auch vorkommen, dass einem Theater die Lizenz aus politischen Gründen von jetzt auf gleich entzogen wurde. Die Partei bestimmte, was Kunst ist und wie sie zu sein hat. Zähe Honorarverhandlungen, die heute oft auf der Tagesordnung stehen, waren nicht nötig. Am einmal von der Kulturkommission festgelegten »Leistungshonorar« wurde nicht gerüttelt. Es wurde von den Veranstaltern bezahlt. Gespielt wurde in Kirchen, Jazz- und Kulturklubs und Kindergärten. Politisch frei waren die Theater nicht. Manche spielten Klassiker und Märchen, die für den Staat weniger verdächtig waren als Theater mit einer selbst entwickelten Geschichte und darin versteckten politischen Aussagen. Einerseits gab es also eine Zwangsintegration einiger traditioneller Familienunternehmen in die Stadttheater. Andererseits wurde für die qualitative Entwicklung der Puppenspielkunst ein Raum geschaffen, denn der Bedarf an einer pro-

3

Olaf Bernstengel, Lars Rebehn: »Volkstheater an Fäden«, S. 170, »Ostberliner Puppenspieler sind in dieser Zahl nicht einbezogen« (Auszug aus Tägliche Rundschau 02.08.1948).

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fessionellen Ausbildung für die Ensembles der neu geschaffenen Sparte Puppentheater wuchs. 1971 wurde die Fachrichtung Puppenspiel an der Staatlichen Schauspielschule Ernst Busch in Berlin eröffnet. Es kam vor, dass begabte junge Menschen nicht zu diesem Studium zugelassen wurden, da sie den Dienst bei der Nationalen Volksarmee verweigerten oder ihnen fehlendes sozialistisches Bewusstsein unterstellt wurde. Zum Glück haben es immer wieder auch nonkonform denkende Menschen geschafft, immatrikuliert zu werden. Einige von ihnen wurden nach ihrem Studium am Neubrandenburger Stadttheater, Sparte Puppentheater, engagiert. Jedoch scheiterten sie dort mit dem Versuch, innerhalb der bestehenden Strukturen des Stadttheaters einen demokratischen Arbeitsstil zu leben. 1979 gründeten sie das theater zinnober mit späterem Sitz in Berlin. Die Mitglieder des theater zinnober hatten so genannte »Einzelzulassungen«. Das bedeutete, dass eine Ensembleaufführung offiziell nicht möglich war, denn das genehmigte die Kulturbehörde nicht. Die Institution Theater musste staatlich bleiben. Freies Ensembletheater war in der DDR also eine inoffizielle Angelegenheit, bei der die Veranstalter das Risiko eines Aufführungsverbotes trugen. Ich war sehr jung, als ich zinnober sah. In Erinnerung blieben deren anarchistische Vorstellungen und das brillante Handwerk. Ihr Suchen nach Selbstbestimmtheit war für mich neu. Die Arbeits- und Lebensweise dieser Gruppe war so frei, wie sie im real existierenden Sozialismus frei sein konnte.

U ND

DANN KAM DIE

W ENDE

Es gab in der Wendezeit heftige Auseinandersetzungen um unsere Kunst, oft auf Grund von Missverständnissen. Diese basierten meines Erachtens auf der unterschiedlichen Geschichte und Anerkennung unseres Berufes. Heute erkenne ich oftmals an der Art und Weise des Spiels, ob die Spieler in Ost- oder Westdeutschland ausgebildet wurden, und genieße die Vielfalt. Die Selbstverständlichkeit unserer Kunstgattung steht leider noch auf wackligen Beinen. Oft verwundert es mich, wie groß die Unkenntnis über unser Metier ist. Staunend stehen sie oft davor, die Veranstalter, Hausmeister und Zuschauer, wenn wir das Auto ausladen und die Kisten auf die Bühne stellen, wenn aus ihnen komplexe wandelbare Bühnenbilder entstehen, wenn die Technik aufgebaut wird und das Licht und die Musik per Computer gesteuert werden. Dabei gilt unsere Kunstform da und dort als Geheimtipp, als »abgefahren«. Gespielt wird für Erwachsene und für Kinder in einer Darstellungsvielfalt, die in der Darstellenden Kunst einzigartig ist. Puppen, Figuren, Objekte, Schatten, me-

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diale Theaterformen, Perpetuum Mobile, sprich Material in allen erdenklichen Formen und Farben wird beseelt und läuft, fliegt oder hüpft über die Bühne. Das Material als künstlerisches Ausdrucksmittel bietet die Möglichkeit, einen Mikrokosmos auf der Bühne sichtbar zu machen. Surreale Bilder werden kreiert. Scheinbare Grenzen im Bühnen- und Figurenbau werden immer wieder neu ausgelotet und überschritten. In diesem Sinne ist das Puppen- und Figurentheater frei. Die Freiheit endet jedoch auf dem freien Markt. Dort sieht man zumeist Solisten oder Duos auf der Bühne spielen, mehr als zwei Spieler gelten als Luxus. Ensembletheater können ohne Subventionen nicht überleben. Geld für einen Techniker gibt es nicht. Neue, qualitativ hochwertige Produktionen sind ohne eine Förderung kaum noch möglich. Je nach Stückvorlage ist eine Inszenierung unter 20.000 Euro schwer zu bewerkstelligen. Die Ausgaben können auch erheblich höher ausfallen. Ca. 30 feste Häuser erhalten ihren Spielbetrieb mit Hilfe von Sponsoring und/oder staatlichen Förderungen aufrecht. Die meisten Freien Theater, geschätzte 400, sind mobil mit ihren Inszenierungen in Deutschland unterwegs, einige davon weltweit. Auffällig in der heutigen Zeit ist das wachsende Interesse von Kollegen aus den benachbarten Kunstsparten am Puppen- und Figurentheater. Schauspiel- und Opernhäuser, wie zum Beispiel das Maxim-Gorki-Theater in Berlin oder das Stadttheater in Konstanz, nutzen die Darstellungsmöglichkeiten der Kunstform. Freie Schauspiel- und Tanztheater entdecken das Spiel mit Puppen und Objekten und bauen es in ihre Inszenierungen oder Performances ein. Heute wird von Veranstaltern viel zu oft nach den »Rennern«, »Blockbuster« und volkstheaterähnlichen Stücken gesucht, im Kinder- wie auch im Erwachsenenbereich. Leichter Kost oder ästhetisch interessanten Vorstellungen mit bitte nicht zu viel Tiefgang wird der Vorrang gegeben, sogar auf Festivals. Ich weiß nicht, ob dieses Phänomen an den Interessen einer neuen Generation Veranstalter liegt oder/und diese dem Druck und Wunsch des Publikums nach leichter Muse nachgeben. Ich erlebe auch, dass Veranstalter aus statistischen oder ökonomischen Gründen gezwungen sind, an einen möglichst vollen Saal zu denken. Mit großer Freude sah ich in jüngster Zeit Studentinneninszenierungen, die den Diskurs mit dem Publikum suchen und über die Verantwortung der Freien Theater und ihre kulturelle und soziale Wirkung in der Gesellschaft nachdenken: »Wir wollen die Auseinandersetzung! Wir hinterfragen unsere moralischen und ethischen Werte öffentlich. Wir nehmen in Kauf, dass Zuschauer den Saal verlassen. Auch das ist Kommunikation«, sagte Luise Bose, Absolventin der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, Abteilung Puppenspielkunst in einem Gespräch.

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Die Organisationsform der Freien Puppen- und Figurentheater verändert sich. Junge Puppenspieler schließen sich zeitweilig zu konkreten Projekten, zum Beispiel einer gemeinsamen Inszenierung, zusammen, um anschließend wieder auseinanderzugehen. Manche sind kurzfristig für eine Inszenierung an einem Stadttheater engagiert. Figurentheater ist auf großen Bühnen zu sehen oder als faszinierendes Kammertheater, in Städten oder Dörfern, in Kindergärten oder auf internationalen Festivals – das Puppen- und Figurentheater ist eine Kunstform, die sich bewegt, vibriert und höchst lebendig ist. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass die Freien Puppen- und Figurentheater auch politisch und sozial brisante Themen aufgreifen, diese künstlerisch umsetzen, Veranstalter diese Inszenierungen buchen und sie dem geneigten Publikum in den Kommunen und auf Festivals präsentieren. Ich danke Michael Staemmler und Christiane Balsevicius für die vielen Gespräche. Einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebe ich nicht.

Für Hüpfbürger: Tanztheater nach dem Tanztheater A RND W ESEMANN

Wer vom »Fach« ist, den fragt man gern: Wer wird Pina Bausch nachfolgen? Wer ist die nächste? Die Frage lässt sich in etwa so einfach beantworten wie die nach dem Erbe der Rolling Stones. Welcher Markenartikel folgt schon gern dem nächsten? Nein, Sasha Waltz ist nicht die nächste Pina Bausch, nicht ihre Schülerin, ist nicht mal künstlerisch entfernt mit ihr verwandt. Trotzdem hat man sich in Europa darauf geeinigt, jede bekanntere deutsche Choreografin außerhalb des Ballettbetriebs dem Begriff »Tanztheater« zuzuordnen, einfach, weil es so einfach ist. Dabei waren es zwei ungleiche Geschwister, Johann Kresnik, der Tanzberserker, und Pina Bausch, die unter anderem zarte Postkarten aus Ungarn, Türkei oder Brasilien tanzen ließ. Sie machten Tanztheater, weil man bei beiden immer wusste, worum es in ihren Stücken geht. Bei Kresnik steht der Name des Opfers gern schon im Titel. Pina Bausch reichte geheimnisvoll den Namen zu ihrer Arbeit oft erst später nach, obwohl jeder längst von ihrem Ungarn-, Türkeioder Brasilienstück sprach. Sie misstraute der Sprache. So ist auch das »Tanztheater« ein Wort, dem man misstrauen sollte. Was sagt denn Tanztheater anderes, als dass im Theater ein Tanz stattfindet, so wie das Ballett am liebsten im Opernhaus vorkommt? Tanztheater ist: die Zuordnung zu einer Immobilie. Es bedeutet, dass man im Theater nach Regeln des Theaters tanzt, mit einer gewissen Dramaturgie und Verständlichkeit zu einem bestimmten Thema. Dem Tanztheater, dem deutschen, fehlt nur die Handlung. Sie verblieb beim Handlungsballett. Das Tanztheater machte sich in Bremen, Bochum, Wuppertal, Heidelberg breit, in der Provinz. Schon das schien den ballettverwöhnten Hamburgern, Stuttgartern, Münchnern suspekt. Das Wuppertaler Türenknallen in den ersten BauschStücken war provinziell, und vor allem ein Aufruf für den Erhalt der gewohnten

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Immobilität des Tanzes, der sich gefälligst auf der Stelle der Tradition bewegen soll, gerahmt als Opernbeilage, stabilisiert als Handlungsballett. Die ganz große Tanzkunst gehört natürlich in die Oper, nicht ins Schauspiel und schon gar nicht in die Freie Szene. Man möchte denken, das sei Schnee von gestern. Schon deshalb, weil die Deutschen das Wort »Tanztheater« immer seltener gebrauchen. Nach Kurt Jooss, Kresnik und Bausch, vielleicht noch bei Folkwang-Absolventen wie Daniel Goldin oder Susanne Linke, klingt das Wort wie historischer Fortschritt von damals. Jooss‫ ތ‬Flucht im Krieg nach England, Kresniks Flucht aus dem Ballett, Bauschs Reise nach New York und ihre triumphale Wiederkehr: All diese Biografien der Mobilität strebten zurück zur Immobilie, in die Stadttheater, am liebsten in die Oper. Für Reinhild Hoffmann, Sasha Waltz oder Heike Hennig ist die Oper ökonomisch heute so etwas wie die Milchkuh auf einem Bauernhof, zu der man heimkehrt, wenn draußen beim Ziegenhüten in der Freien Szene mal wieder finanzielle Dürre herrscht. Für Constanza Macras, Anouk van Dijk und zeitweise Wanda Golonka ist das Schauspiel der Ort, der sich schon bei Pina Bausch und Johann Kresnik damit brüstete, dass er den Tänzer als anarchen Körper zum schweren Geist des Dramas durchaus genießen könne. Während das Ballett in Deutschland als zunehmend eigenständige Sparte weiter immobil in den Opernhäusern verblieb und sich durch Zinnenkämpfe dort oben erfolgreich selbst verteidigte, in Berlin, Dortmund, Düsseldorf, Hamburg, Stuttgart, München, entstanden überall im Land winzige Tanzdörfer. Genau betrachtet sehen sie aus wie Stadttheater, nur viel kleiner. In Modellbaugröße werben sie dafür, effizienter zu sein, eben weil sie kleiner sind. Das ist die Freie Szene, wenn auch nur in Deutschland: Sehr klein und sehr mobil tingelt sie zwischen dem Ökowinzling des Münchner i-camp und der Hamburger Großkolchose Kampnagel, um im Kleinen zu feiern, was man den Großen gar nicht voraus hat: ein kleines Publikum, eine intime Bühne, eine prekäre Technik, die trotzdem größere Freiheit bieten sollen, trotz knappster Aufbauzeiten, niedriger Gagen, kaum hörbarer Kommunikation. Ist das das Tanztheater nach dem Tanztheater? Eine Atomisierung des Publikums und die daraus resultierende Mobilisierung des Künstlers, der restlos davon abhängig ist, in mehr als einem Dorf tanzen zu müssen, um erfolgreich zu sein? Das alte Tanztheater wirkt dagegen wie der historisch ferne Ausbruch aus dem Monolithen des Balletts, das sich heute noch immer anschickt, die Königsklasse des Tanzes zu repräsentieren und dies aus seinem eigenen Alter mit pädagogischem Eros begründet: Nur einer klassisch trainierten Tänzerin stünden alle Türen restlichen Tanzens auf. Dabei beweist das Immobile dieses Denkgebäudes

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bloß: Alt ist gut, groß ist gut, viele Zuschauer und Tänzer sind gut, ein guter Standort ist gut, der Standpunkt für das Wackelige des Tanzes muss stabil sein, damit er bloß nicht umkippt. Aber beim alten Tanztheater musste anfangs immer wieder das uralte Wort vom deutschen Ausdruckstanz herhalten, der angeblich seine Fortsetzung im Tanztheater fand. Egal, wie gelogen das war, in Deutschland gilt: Man muss nur alt genug wirken, man muss in eine möglichst alte Immobilie ziehen oder in einer alten Institution wie dem Schauspiel tanzen, um ernst genommen zu werden. Deshalb erscheint nichts älter als das Tanztheater. Seine Ikone, Pina Bausch, ist von Bord gegangen. Aber schon zu Lebzeiten wurde sie respektvoll ins lebende Museum gestellt, vor dessen Türen ganz andere, der zeitgenössische Tanz und seine stärkste Konkurrenz, der Streetdance, das Ortlose feierten. Wer keinen eigenen Platz hat, feiert das Nomadische, den öffentlichen Raum, die Straße, die Residenz auf einem ehemaligen Bauernhof wie Schloss Bröllin in Mecklenburg-Vorpommern oder in der Fabrik Potsdam an der Idylle des Havelufers, strikt abseits des Kommerzes, abseits des Erfolgsdrucks, als eine Behauptung von Freiheit, selbst wenn dieser Tanz oft nur wie ein sehr primitives Ritual erscheint, das die Freiheit lediglich beschwört. Denn zur Freiheit selbst verlocken ließ sich das Publikum nie. Sieht es Tanz im Theater, dann sieht es immer: Tanztheater – jenes, wie der deutsche Gesetzgeber es ausdrückt, pantomimische Spiel um Bedeutung, die vor allem ein Spiel um seine gesellschaftliche Bedeutung ist. Relevanztanz haben wir das getauft. Mit Kresnik lernte das Publikum den politischen Linksaußen kennen, mit Pina Bausch hoffte es auf Flankierungen erst des Feminismus, später des sanften Tourismus, noch später der Generationenverantwortung, als sie ihren »Kontakthof« für Senioren, dann für Teenager öffnete. Gerade weil Pina Bausch jegliche Zumutung einer Botschaft zurückwies, war es ausgemacht, dass der Tanz doch irgendetwas sehr Bedeutsames sein müsse. Zum einen verschlüssele der Tanz seine Botschaft mehr oder minder. Zum anderen mute er wahlweise mal dem ganzen Körper, mal nur dem Bauch jene Bedeutung zu, die sonst allein das Virtuose im Ballett haben durfte. Dabei kam dem Tanztheater durchaus zupass, dass ihm von ganz anderer Seite die körperorientierte Theaterkunst etwa eines Jerzy Grotowski oder Tadeusz Kantor entgegeneilte, als eine revolutionäre Kraft, einem körperlich gewordenen Schauspiel, das man später Performance nannte. Diese Sehnsucht nach Körper war oft genug nichts weniger als eine Befreiung des Theaters von seinem Sprachzentrum, der Dramatik. Eben postdramatisches Theater. Nicht nur der Mund spricht, auch der Körper ist beredt – diese Botschaft wurde oft auch sehr naiv zum Erwartungshorizont an den Tanz. Man wolle den Körper verstehen,

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und sei es eben durch eine komplexe Pantomime. Das Publikum hat, solang auch der zeitgenössische Tanz in einem Theater stattfindet, vielleicht auch keine andere Wahl, als Tanz noch immer als Theater zu betrachten. Oder es denkt sich das Verstehen von Tanz mindestens wie einen Rhythmus oder eine Melodie in der Musik. Fehlt beides, ist es Neue Musik oder eben Zeitgenössischer Tanz. Zeitgenössischer Tanz ist nicht das Tanztheater nach dem Tanztheater. Denn das Tanztheater blieb einem ganz anderen Aspekt immer treu: Das Tanztheater kennt keine Technik, erst Recht ist Tanztheater kein Ausdruckstanz, sondern im Gegenteil, es ist eine Plattform für jede Technik und für jeden Stil. Tanztheater nimmt Ballett wie Hiphop gleichermaßen in sich auf. Tanztheater auch nach dem Tanztheater, nach Bausch, versöhnt vor allem den Tanz mit sich selber. Tanztheater nach dem Tanztheater ist und bleibt wahlweise ein Asylantenheim oder das freie Utopia für jeden, der bisher in einem ideologischen Dorf tanzen musste. Vor allem ist das Tanztheater nach dem Tanztheater eine Befreiung des Tanzes aus der Stilverliebtheit, der Konventionalität und der Traditionalismen. Das Tanztheater nach dem Tanztheater kennt nicht mal Sparten, und würde ich ein Beispiel dazu geben müssen, hieße es Constanza Macras. Am 9. März 2001 tanzte sie mit ihren Freunden auf dem elegant schwarz-weiß gekachelten Herrenklo der Berliner Schaubühne. Kein Presseorgan damals, das mit diesen schockierenden Bildern nicht das Ende des guten alten Erzähltheaters von Peter Stein bewies. Es war Tanz zwischen zwei Reihen polierter Porzellanpissoirs. Tanz rebellierte gegen das Theater auf einem Örtchen, auf dem die Choreografin aus Argentinien zehn Jahre später noch immer tüchtig toben lässt. Auf der Bühne bläst sie die von Erich Mendelsohn erbaute Schaubühne am Lehniner Platz in Form eines Gummiboots auf. Hier oben auf Macras‫ ތ‬Schaubühnenhüpfburg tanzen sie eine richtige Orgie: »Entspann dich, dann tut's auch nicht so weh«. Constanza Macras‫ ތ‬Tanzkunst nimmt sich das Theater, sein Gebäude, die Institution zur Brust und geht ihm an die Wäsche. In ihrem jüngsten Stück »Berlin Elsewhere« ist dieses Theater kein Ort gepflegter bürgerlicher Streitkultur mehr. Das ist Ikea, sagt sie. Nirgendwo gehen sich Paare öfter an die Gurgel als dort. Bürgersinn erfährt man im Theater auch nicht, eher am Flughafen, der alle Bürger gleich durchleuchtet. Kann das Theater die Verhältnisse noch karikieren? Das macht schon der Staat: »Einem Patienten werden zur Beurteilung seiner Unzurechnungsfähigkeit und dem damit verbundenen Verlust seiner Mündigkeit dieselben Fragen gestellt, die ein Immigrant beantworten muss, der sich um eine Aufenthaltsgenehmigung in der EU bemüht, nachdem er seinen europäischen Partner geheiratet hat.«

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»Die Realität kopiert das Klischee«, sagt Constanza Macras. Wie soll man bei solchen Tatsächlichkeiten noch tätlich tanzen? Kabarett zwischen Klo und Krise? Für Macras ist der Relevanztanz vorbei. Jetzt wird das Theater selbst geliebt, orgiastisch, wie am 13. April 2011, wieder auf dem legendären Herrenklo. Und diesmal hat niemanden mehr der Niedergang des Theaters geschert. Heute ist das Theater ein Luftkissen, ein Lustkissen, ein Tanzkissen, ein Tanzküssen. Das letzte, für das der Staat aufkommt, ohne selber einzugreifen. Und trotzdem ist Constanza Macras in ihrer fröhlichen Anarchie, die man als eine lustvolle Befreiung des Tanzes auch vom Theater betrachten kann, nicht die Nachfolgerin von Pina Bausch, selbst wenn sie mit ihrer eigenen Kompanie DorkyPark in den Gefilden der festen Häuser wildert, wie einst die Bausch. Selbst wenn Macras nach Indien, Südafrika und Buenos Aires reist und ihre Mitbringsel in größerer politischer Schärfe vor uns auskippt, als Pina Bausch dazu je fähig war, ist sie keine Erbin. Das liegt am Tanz selber. Nur weil im Ballett immer schon vererbt wurde, heißt das nicht, dass man auch das Tanztheater erben kann. Im Gegenteil, es widerspricht dem Tanztheater, sich zu musealisieren, zumindest, wenn ein Gedanke Wurzeln geschlagen hat: Dass das Tanztheater, dasjenige nach dem Tanztheater der Stars wie Pina Bausch oder Johann Kresnik, ein lustiger Ort freier Koexistenz ist, ein wirklich freies Theater. Das Tanztheater nach dem Tanztheater bietet Asyl für jede Strömung aus den obersten wie untersten Schubladen, des Balletts ebenso wie des Konzepttanzes, des Streetdances ebenso wie der Tanzkollektive. Tanztheater nach dem Tanztheater ist jenes utopische Amerika des Tanzes, dessen Pursuit of Happiness dem Tanz die Kraft gibt, die er im elenden Mahlstrom um seine Relevanz, in seinen Bürgerkriegen zwischen jeweiligen Glaubensrichtungen, in seiner gesellschaftlichen Opportunität in Form von Kindertanz und Flashmobs ständig zu verlieren droht. Das haben diejenigen viel besser verstanden, die außerhalb Deutschlands das Tanztheater beerben, die eine Freie Szene ohne Keuschheitsgürtel und Armutsgelübde bilden, Alain Platel, Jan Fabre, Sidi Larbi Cherkaoui, Robyn Orlin … – ah, you name them yourself!

»Noch nie waren echte Menschen so preiswert!« Beobachtungen mit Blick auf 20 Jahre Sprechtheater im Freien Theater Berlins N INA P ETERS

Es ist ein Abend, wie man ihn im Theater unterm Dach öfter erlebt. Die kommunale Spielstätte in Prenzlauer Berg mit bis zu 80 Plätzen zeigt handwerklich gut gemachtes, anregendes Sprechtheater. Liesel Dechant hatte 1996 die Leitung der Bühne übernommen und entwickelte mit der Förderung von Regienachwuchs ein eigenes Profil. Sie setzte auf Sprechtheater, gab aber ansonsten den Künstlern den Freiraum, ihre Stoffe umzusetzen. Wiederholt bot sie Regieabgängern der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch an, an ihrem Haus zu arbeiten. Sie verhalf jungen Künstlern zu ihren ersten Arbeiten. Und sie registrierte, wie diese Künstler sich von der traditionellen Stückvorlage entfernten und zunehmend Stückentwicklungen wählten, schließlich Romane und Filme adaptierten. Heute halten sich Stoffentwicklungen, Klassikeradaptionen und literarische Texte die Wage. Die Anfragen von Künstlern an sie seien so hoch wie nie, sagt Dechant. An diesem Abend wird »Faust hat Hunger« von Ewald Palmetshofer gezeigt. Der Schweizer Reto Kamberger, der unter anderem bereits Arbeiten im heute geschlossenen Engelbrot & Spiele in Moabit oder im Theater Acud gezeigt hat, brachte im April 2011 seine jüngste, chorisch gearbeitete Produktion heraus. Die Fotogalerie im Foyer des Theaters zeigt, wer das Haus in den vergangenen Jahren geprägt hat: Sebastian Hartmann, mittlerweile Intendant, Jan Jochymski und Amina Gusner, beide inzwischen Schauspieldirektoren, sowie zahlreiche weitere Regisseurinnen: Mareike Mikat, Susanne Truckenbrodt, Tina Küster, Astrid Griesbach und nicht zuletzt Anja Gronau, die mit ihren Arbeiten im Freien Theater immer wieder Akzente setzt und deren inzwischen fast legendär zu

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nennende Klassikeradaption GRETE, die mit vielen Preisen und Auszeichnungen bedacht wurde, seit 2004 noch immer auf dem Spielplan des Theaters zu finden ist. Wer nach dem Sprechtheater in Berlin im Freien Theater forscht, sieht sich mit einer lebendigen Szene konfrontiert, die dazu herausfordert, den Begriff zu definieren. Denn die Studiengänge der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und Hildesheim und Absolventen wie Rimini Protokoll, SheShePop oder andcompany&Co. haben die Ästhetik und Arbeitsweise im Freien Theater in Bezug auf performative Ansätze erweitert. Und wichtige Orte des Freien Theaters, die medienwirksamer arbeiten als das Theater unterm Dach – Sophiensaele oder Hebbel am Ufer (HAU) – haben den ästhetischen Diskurs des Freien Theaters stark geprägt. Vor allem das HAU hat die öffentliche und mediale Konzentration stärker auf Performance und Dokumentartheater, auf Recherche und Intervention im sozialen Raum verlegt. Diese Ansätze haben die Definition dessen, was »Sprechtheater« heute sein kann, erweitert. Das Feld scheint ausdifferenziert: Man kann darunter ein Theater verstehen, in dem der Text (literarisch oder dokumentarisch, als klassisches Drama, Textfläche, Textsammlung, als Roman-, Filmadaption oder Stückentwicklung) eine tragende Funktion innerhalb einer Produktion einnimmt. Und wenn in Christoph Winklers Produktion »Taking Steps« mit den jungen, internationalen Tänzern Luke Garwood, Martin Hansen und Christine Joy Ritter getanzt, vor allem aber (auf englisch) darüber gesprochen wird, was das Konzept des lebenslangen Lernens für Tänzer bedeuten könnte, dann bildet auch das ein Segment im breit gefächerten Sprechtheater des Berliner Freien Theaters. Die Berliner Freie Theaterszene hat sich in den vergangenen Jahren stark internationalisiert. Der Zuzug von Künstlern aus der ganzen Welt ist an den Spielplänen, aber auch an den Förderanträgen abzulesen: bei der Jury Tanz & Theater des Berliner Senats, beim Hauptstadtkulturfonds oder dem Fonds Darstellende Künste. Blickt man zurück in die frühen 1990er Jahre, dann trat beispielsweise die englische Sprache im Freien Theater noch anders in Erscheinung als heute: Es gab zahlreiche englischsprachige Kompanien im Berliner Westen, die Theaterstücke aus dem angelsächsischen Raum und den USA umsetzten und Klassiker der Moderne, zeitgenössische Stücke und eine Berliner Sozialisation in britischer und amerikanischer Dramatik pflegten (Friends of Italien Opera, die sich 1990 gründeten, heute English Theatre, Out to Lunch Theatre, Berlin Playactors usw.). In den 1990er Jahren kümmerte sich das Freie Theater auch um die Förderung deutschsprachiger Literatur: Das Theater zum Westlichen Stadthirschen, einst die »Schaubühne« der Berliner Freien Szene, das Theater Stükke und das Theater Zerbrochene Fenster – die beiden Theater bekamen 2001 erstmals keine

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Förderung mehr – waren wichtige Orte für literaturbasiertes Theater. Im Theater Zerbrochene Fenster spielte unter anderem auch das 1992 von Stefan Bachmann gegründete Theater Affekt, das sich etwa mit Goethes »Lila« einen Namen weit über das Freie Theater hinaus machte. Das Theater 89, das »Autorentheater in Mitte«, ist bis heute eines der wichtigsten Freien Theater, das zeitgenössische, auch deutschsprachige, Literatur pflegt. Es hat den Autor Oliver Bukowski aus der Taufe gehoben und Uraufführungen von Stücken Bukowskis oder Dirk Lauckes gezeigt. Grundsätzlich ist es heute – auch aufgrund der Kosten, die durch Zahlung von Uraufführungspauschalen und Tantiemen an die Theaterverlage fällig werden – eher selten, dass Uraufführungen von zeitgenössischen Autoren (mit Theaterverlag) im Freien Theater gezeigt werden. Verlage und Autoren geben diese eher an die Stadt- und Staatstheater, wo man mit besseren Produktions- und finanziellen Mitteln und größerer medialer Aufmerksamkeit rechnet. Das Freie Theater ist immer im Wechselspiel mit den Stadt- und Staatstheatern zu sehen: als Gegenentwurf, Vorstufe, Parallelentwicklung. »In den 1990erJahren war die Volksbühne das bessere Off«, sagt der Regisseur Dirk Cieslak im Gespräch. Und in den 1990er Jahren war die junge, deutschsprachige Dramatik noch selbstverständlich im Freien Theater verortet. Die Stadt- und Staatstheater hatten diese noch nicht für sich entdeckt. Das begann verstärkt erst um die Jahrtausendwende. Über die Baracke am Deutschen Theater Berlin von Regisseur Thomas Ostermeier und Dramaturg Jens Hillje, eine Experimentierbühne des Staatstheaters mit Off-Anstrich, kam von 1996 bis 1999 die britische Dramatik nach Deutschland und damit die Einsicht, dass auch die Pflege der eigenen Dramatik eine interessante Investition für ein zeitgenössisches Theater sein könnte. Es war im Berliner Freien Theater die Zeit von Autoreninitiativen wie dem Theater neuen Typs (TNT), das zeitgenössische Theatertexte in szenischen Lesungen vorstellte und diskutierte. Die Sophiensaele hatten unter Leitung von Amelie Deuflhard und Dramaturg Christian Holtzhauer noch einen engen Bezug zum literaturbasierten Theater: Hier entstanden Klassikerinszenierungen von Thorsten Lensing oder Jorinde Dröse. Gesine Danckwart, Mitbegründerin der Spielstätte Theaterdock in Moabit, wurde in den Sophiensaelen als Dramatikerin bekannt gemacht (»Täglich Brot«). Aber es gab auch Programme, die neue Stücke von Sabine Harbeke, Ulrike Syha oder Martin Heckmanns ermöglichten. Diese Form der Autorenförderung findet im Freien Theater nur noch selten statt. Nun kümmern sich die großen Häuser um die neue Dramatik. Es ist ein Markt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entstanden: Der Berliner Theaterdiscounter nahm diese Entwicklung vorweg: Bei seiner Gründung 2003 versprach das Team um Georg Scharegg: »Neue Autoren, frische Schauspieler, unverbrauchte Regisseure: Noch

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nie waren echte Menschen so preiswert!« Gegen die geringe Entlohnung und Anerkennung der künstlerischen Leistung der Autoren fand sich 2007 die Autoreninitiative der Battle Autoren zusammen, die heute unter anderem im Theaterdiscounter in der Klosterstraße in Mitte Lesungen oder Diskussionen zu den Rechten von Autoren veranstalten. Der Theaterdiscounter zeigt bis heute Uraufführungen, vorwiegend Stückentwicklungen oder Klassiker wie Ödön von Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald«, weil Regisseur Scharegg diese »nicht kampflos den Stadt- und Staatstheatern überlassen« wolle. Ein Höhepunkt der spielerischen Reflexion dessen, was in diesen Häusern programmatisch geschieht, ist »Spielplan Deutschland«: eine Handvoll Schauspieler fassen deren zahlreiche Spielpläne zusammen, spielen deren Stücke szenisch an, kommentieren sie. Scharegg hat für dieses Projekt bereits Gastspiele an festen Häusern im deutschsprachigen Raum initiiert. Diese Form des Austausches ist selten, was zunächst erstaunen mag. Denn mit den Sophiensaelen begann die entscheidende Entwicklung im Berliner Freien Theater: die Professionalisierung. Oder, wie Dirk Cieslak, Gründungsmitglied der Sophiensaele, sagt: »Es wurde ein Markt organisiert.« Was in den 1990er Jahren noch ein Ensemble- und Künstlertheater war (Theater zum Westlichen Stadthirschen, das Orph-Theater, Andrej Worons Teatr Kreatur, Adolfo Assors Garn Theater oder Cieslaks Theater Lubricat usw.), ist derzeit viel stärker ein Produzententheater, an dem Kuratoren und Produzenten ihre inhaltlichen und finanziellen Anteile haben. Klaus Dörr etwa, geschäftsführender Direktor am Maxim Gorki Theater, war mit Beginn des Jahres 2000 der wichtigste Theaterproduzent des Freien Theaters und so etwas wie ein Urmodell der heute lebendigen Berliner Produzentenszene. Vor allem dank des damals neu initiierten Hauptstadtkulturfonds war Dörr einer der ersten Produzenten, der sich und seine Künstler (u.a. Hans-Werner Kroesinger) finanzieren konnte. Heute konkurrieren und kooperieren Kuratoren an den Sophiensaelen, am Berliner HAU, am Ballhaus Ost mit anderen Spielstätten wie dem FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, dem mousonturm, der Gessnerallee Zürich, der Kaserne Basel oder brut in Wien. Dabei sind es nicht unbedingt deutsche Sprechtheaterproduktionen, wie sie am Theaterdiscounter (oder auch am Theater unterm Dach, dem Theater 89, der theaterkapelle in Friedrichshain, der Brotfabrik in Weissensee u.a.) entstehen, die in diesem gut vernetzten Kooperations- und Produktionsring herumgereicht werden und in Stadttheater und größere Festivals eingehen. Die großen Häuser mit ihrem Ensemble- und Repertoirebetrieb haben meist keine Eigenmittel und auch kein Interesse, klassische Sprechtheaterproduktionen aus dem Freien Theater in ihren Spielplan einzubinden. Finanziell ist das klassische, deutschsprachige Sprechtheater im freien Bereich für die meisten Künstler eine Sackgasse. Einen künstle-

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rischen Ausweg gibt es im Grunde nur über (zumindest zeitweise) Arbeit in den größeren Häusern. Shermin Langhoff, Gründerin und noch Intendantin des Ballhauses Naunynstraße in Kreuzberg, weiß, wie wichtig es ist, sich zu vernetzen. Langhoff hatte unter dem Dach von Matthias Lilienthal am HAU das Konzept für ein postmigrantisches Theater entwickelt und dieses 2008 im Ballhaus Naunynstraße gegründet. Die erfolgreiche Produktion, »Verrücktes Blut« von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, entstand in Koproduktion mit der Ruhrtriennale und wurde 2011 zum Berliner Theatertreffen und den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Das Ballhaus Naunynstraße ist, gemeinsam mit dem Heimathafen Neukölln, eine der wichtigsten Theatergründungen des Berliner Freien Theaters: Denn hier wurde die Relevanz des migrantischen Theaters aus der Taufe gehoben. Am Ballhaus Naunynstraße entstehen Texte und Projekte, die vor allem die Geschichten der ersten, zweiten und dritten Einwanderergeneration darstellen. Es ist eine interessante Zeit, um Geschichten zu erzählen. Und das Freie Theater scheint aufgrund seiner mit Blick auf die Stadt- und Staatstheater vergleichsweise höheren Durchlässigkeit an migrantischem Personal geeignet, diese Geschichten zu erzählen. Freies Theater hat immer auch mit neuen Orten zu tun, die gefunden und als Theater behauptet werden: Jochen Sandig, Mitbegründer des Kunsthauses Tacheles, der Sophiensaele und schließlich des Radialsystems an der Spree, hat das exemplarisch gezeigt. Das heute im Stadtbad Steglitz ansässige Clubtheater von Stefan Neugebauer spielte ab 2000 im Cookies in Prenzlauer Berg. Das Theater Eigenreich ist jetzt schon Legende, weil es 2005 mit einer großartigen SarahKane-Produktion »Psychosis 4.48« von Aureliusz Smigiel startete, in der unter anderem auch Sesede Terziyan, die heute im Ballhaus Naunynstraße gefeiert wird, mitspielte. Das Eigenreich besteht noch, mittlerweile jedoch ohne festes Haus, weil ein Investor für die Räumlichkeiten in der Greifswalder Straße lukrativere Pläne hatte. Es wird im durchsanierten Berlin immer schwerer, neue Orte für Theater zu behaupten, aber es gibt sie: Dirk Cieslak, der mit seinem Kollektiv Lubricat seit 1989 zum wichtigen Vorreiter für die Arbeitsweise Stückentwicklungen und Arbeit mit Laien wurde, hat 2011 im Neuen Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor das Theater »Die Vierte Welt« eröffnet; ein Raum, der 20 bis 30 Zuschauer fasst. Cieslak möchte hier ein »anderes Miteinander« erproben, zwischen Künstlern, die gleichberechtigte Partner im künstlerischen Gesamtprozess sein sollen, sowie dem Publikum. Das ist eine schöne Utopie.

Stets auf der Suche nach neuen Spielformen und nah an ihrem Publikum Zur Entwicklung der Freien Kinder- und Jugendtheater M ANFRED J AHNKE

»Im Kindertheater beobachte ich wichtige Impulse, die verstärkt aus der Freien Szene kommen. Hier ist immer wieder ein starkes Verlangen und auch der Mut spürbar, sich aus Konventionen zu lösen und neue Erzählweisen zu entwickeln.«1

Dies ist keine Stellungnahme aus den 1980er Jahren, sondern die Aussage von Werner Mink, eines Kurators des 11. Deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffen 2011. Formuliert sich da der alte Widerstreit, Stadttheater müssen im Mainstream schwimmen, während die »Freien« auf Grund ihrer ökonomischen Freiheit eingeschliffene Konventionen überwinden können? Sich die Frage so zu stellen, würde die gegenwärtige Gesamtsituation des Kinder- und Jugendtheaters weit in die Vergangenheit zurückwerfen, denn längst hat sich das Nebeneinander in ein Miteinander gewandelt. Selbst in einem Bundesland wie Baden-Württemberg, das seit Beginn der 1970er Jahre gezielt kommunale und Landestheater bei der Gründung von Kinder- und Jugendtheatersparten fördert, reichen die Kapazitäten dieser ursprünglich eigens subventionierten Theater bei weitem nicht aus, um jedes Kind im Ländle wenigstens einmal im Jahr ins Theater zu bringen. Bei einem Flächenland wie Nordrhein-Westfalen kann trotz zahlreicher kommunaler Kinder- und Jugendtheater der Bedarf an Aufführungen ohne die Freie Szene gar nicht abgedeckt werden.

1

Das Zitat von Werner Mink ist der Medieninformation des Kinder- und Jugendthea– terzentrums in der Bundesrepublik Deutschland vom 04.04.2011 entnommen.

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Warum dann wird »starkes Verlangen und Mut« vom kuratierenden Beobachter so stark akzentuiert? Wenn wir auf die Entwicklung der Freien Gruppen seit Beginn der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückblicken, müssen wir festhalten, dass diese zu Beginn, also in den 1970er Jahren, eher soziale denn künstlerische Impulse verfolgten und doch im Experimentieren mit neuen, anderen Produktionsformen nicht nur in Schweden, sondern auch in der alten Bundesrepublik viele neue ästhetische Formen, insbesondere Formen der Partizipation – damals Mitspiel, dann interaktive Form, in der heutigen Sprachregelung: partizipativ – fanden. Das überrascht nicht, musste doch damals die übermächtige Tradition des Weihnachtsmärchens gebrochen werden und einem breiten Publikum erst einmal »schmackhaft« gemacht werden, dass Kinder nicht nur mit den Märchen von GRIMMBECHSTEINANDERSEN und anderen abgespeist werden müssen, sondern ihnen auch realistische Stoffe und Spielformen zugemutet werden können. Die damalige Westberliner Connection aus GRIPS, Roter Grütze und BIRNE, ergänzt noch durch das Kindertheater im Märkischen Viertel, machte nicht nur in ihrer Dramaturgie deutlich, dass Theater etwas mit der Realität von Kindern zu tun hat, sondern auch mit veränderten Produktionsverhältnissen am Theater, die neben innerstrukturellen Maßnahmen eines Hierarchieabbaus nicht nur die Mehrfunktionalität eines jeden einzelnen Künstlers erforderte, sondern auch die Recherche vor Ort. Nach dieser Westberliner »Impfung« entwickelte sich in der alten Bundesrepublik – auch in Konkurrenz zur DDR, in der seit 1946 gezielt eine eigene Kinder- und Jugendtheaterszene nach sowjetischem Vorbild aufgebaut wurde – erst eine Bewegung an den Stadt- und Landestheatern, die zunächst viele der führenden Köpfe der Freien Szene zu ködern versuchte, bevor sie dann Mitte der 1980er Jahre mit der Entdeckung der »Poesie«, wie sie sich insbesondere in den Freien Gruppen der schwedischen Szene mit ihren spezifischen Spieltraditionen entwickelte, mit dieser polemisch brach: Unversöhnlich standen sich soziale Fantasie und »Poesie« gegenüber. Wie unfruchtbar diese einseitig in Szene gesetzte Polemik war, zeigte sich in den 1990er Jahren. Denn längst schon hatte in der Freie-Gruppen-Szene ein Differenzierungsprozess seine Spuren hinterlassen. Was auch mit nicht klaren Definitionsabgrenzungen zu tun hat: Der Clown an der Straßenecke versteht sich ebenso als »Freie Gruppe« wie beispielsweise eine renommierte Freie Gruppe wie Die Monteure aus Köln. Da herrscht bis heute eine Unschärfe, die es schwierig macht, über Freie Gruppen im Allgemeinen zu diskutieren. Wobei im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters zum einen durch die von der ASSITEJ – der internationalen Vereinigung von Kinder- und Jugendtheatermachern – aufgestellten Qualitätskriterien, die auch mit dem Festival »Spurensuche« klare ästhetische Orientierungspunkte setzt, wie über die Auf-

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nahmekriterien der Landesarbeitsgemeinschaften der Freien Theater eine qualifizierende Einordnung stattfindet. Eine gewichtige Funktion in dieser Differenzierung zwischen Freien Gruppen, die aus rein ökonomischen Interessen heraus agieren, und solchen, die das »Freisein« als künstlerische Option empfinden und dabei ganz andere Pfade als die ausgetretenen suchen, spielen dabei die Festivals. Als noch »Augenblick mal – das deutsche Kinder- und Jugendtheatertreffen« und »Traumspiele«, das Kindermusiktheatertreffen in Nordrhein-Westfalen, miteinander konkurrierten, gehörte es zum Stolz der damaligen Juroren (heute Kuratoren), auf den Reisen mindestens eine Freie Gruppe zu entdecken und zu promoten. Das Erstaunliche ist, dass alle in den 1990er Jahren von den Juroren/Kuratoren entdeckten Freien Gruppen bis heute entscheidend das künstlerische Potenzial der Freien Szene bestimmen, dass nicht eine einzige nominierte Gruppe aus den Neunzigern bis heute verschwunden ist. In den 1990er Jahren spiegelte die Avantgarde der Freien Gruppen im Kindertheater Entwicklungen der europäischen Avantgarde wider: das, was Grotowski, Brook, Pina Bausch und viele andere europäische Künstler bis hin zu Alain Platel ausprobierten, fand Eingang in die künstlerische Arbeit der Freien Gruppen für Kinder, ohne dass eine kritische Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte. Aber, was war denn das, was die »Monteure« im »Regenwald« versuchten? Was sind die Cross-over-Produktionen von Theater Pilkentafel in Flensburg, Helios in Hamm oder Theater Marabu in Bonn anderes als »mutige« Innovationen? Hier treffen sich nicht zufällig kreative Menschen, die etwas gemeinsam bewegen wollen, gemeinsam forschen und experimentieren. Längst lassen sich keine Grenzlinien mehr ziehen zwischen Clownsspiel, Tanz, Figurentheater, Erzählen, Musiktheater und Schauspiel. Und da hat in den 1990er Jahren und auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eindeutig die Freie-GruppenSzene die Führung übernommen – und das trotz ungeheurer ökonomischer Schwierigkeiten. Eine Skizze der Freien Kinder- und Jugendtheaterszene muss aber auch festhalten, dass sich die meisten Gruppen zwangsläufig den ökonomischen Zwängen beugen, die in den letzten Jahren bedrängender geworden sind, und sich derart dem Mainstream unterordnen. Umso spannender ist die Frage, wie es der Szene gelingt, im Kindertheater seine führende avantgardistische Position zu behaupten. Auch diese müssen sich dem einpassen, was einmal theaterpädagogische Arbeit bedeutete, heute aber kulturelle Bildung heißt, um überleben zu können. Dabei ist die spannende Beobachtung festzuhalten, dass schon in der Vergangenheit, erst recht aber heute, nicht das Jugendtheater zu den Stärken der Freien Szene gehört – außer in der Arbeit mit Jugendlichen selbst –, sondern das Kindertheater. Es scheint fast so, als überließe es das Theater für Jugendliche der

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staatlich subventionierten Szene kampflos. Dies scheint auch einer realistischen Beobachtung zu entsprechen: Der Ehrgeiz der »Sparten« an den kommunalen und Landestheatern zielt auf das Jugendtheater, hier können sich junge Regisseure und Akteure ausprobieren und Lorbeeren sammeln, sprich: etwas für die eigene Karriere tun. Das Kindertheater in den meisten Sparten aber stagniert, weil sich hier zunächst einmal »originelle Handschriften« nicht so einfach durchsetzen können. Kindertheater lebt von der Glaubwürdigkeit – Pardon, um besser verstanden zu werden: Authentizität – der Macher. Dies aber bedeutet überzeugte Zuwendung, die naturgemäß einem Schauspieler schwerfallen muss, der an seine Karriere denkt (was ihm nicht zu verdenken ist): Hier kann zugleich eine Grenze zwischen Freien Gruppen und kommunalen Theatern markiert werden. Vieles, was heute in der deutschen Kinder- und Jugendtheaterszene selbstverständlich ist, entsprang der Pioniertätigkeit der Freien Gruppen, die mit Lust und Neugierde mit neuen Erzähl- und Spielformen experimentierten und experimentieren. Dies gilt gerade auch für die Vielzahl der Gruppen, die sich zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts gründeten und inzwischen oft eigene Häuser haben und zumindest eine minimale institutionelle Förderung durch Kommunen und Länder erhalten, während viele Gruppen – und nicht nur Neugründungen – sich über kuratierte Projektförderungen nur mühsam über Wasser halten können. Deren Mitglieder sind häufig auf andere Gelegenheitsjobs angewiesen oder auf ein vertieftes Engagement in der kulturellen Bildung. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Gruppen sich trotz des Rückgangs an Gastspielmöglichkeiten angesichts leerer Kommunalkassen einerseits in den »Kulturauftrag« einpassen, aber an ihrer künstlerischen Experimentierfreudigkeit festhalten und insbesondere neue Formen des Erzählens ausprobieren, in denen Tanz, Musik, Figurenspiel, Pantomime und Wort sich auf immer andere Weise gegenseitig ergänzen und sich zu einem neuartigen Gesamtkunstwerk bündeln. Gerade weil die Freie-Gruppen-Szene vor Ort oft die Erfahrung machte, dass zunehmend Kinder mit migrantischem Hintergrund zu den Aufführungen kommen, entwickelte sie schon früh einerseits nonverbale Spielformen, anderseits Erzählformen, die mit starken visualisierenden Elementen arbeiten. Zum Teil werden auch Geschichten und Märchen aus anderen kulturellen Traditionen übernommen, adaptiert und durchmischt, um dem »neuen« Publikum entgegenzukommen. Diese Sensibilität für die Veränderungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, resultiert nicht zuletzt aus der engen Verbundenheit mit dem Publikum. Zum Konzept vieler Freier Gruppen gehört nicht nur, dass das Publikum relativ früh in den Produktionsprozess einbezogen wird, um zu überprüfen, wie künstlerische Konzeption und Altersgruppe zusammenkommen, sondern auch, dass Spiel und Theaterpädagogik zwangsläufig in Personalunion stattfinden. Im Spiel wird zu-

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gleich die Befindlichkeit heutiger Kindheit recherchiert, theaterpädagogische Erfahrungen fließen direkt in die künstlerischen Prozesse ein. So bereichern die Freien Gruppen ständig die Szene und überschreiten auch immer mehr die Grenzen zur Performance. Nicht nur Showcase Beat Le Mot arbeiten auf der Basis bekannter Geschichten wie »Räuber Hotzenplotz« mit postmodernen Stilmitteln, wozu wesentlich Formen der Partizipation bis hin zur Bewirtung des Publikums gehören, aber auch eine anarchische Spiellust, die auf das Theater als Ort der Repräsentation zugunsten eines solchen der Präsentation verzichtet. In vielen Bundesländern decken die Freien Gruppen als einzige den Bedarf an Kinder- und Jugendtheater. In Großstädten besetzen sie oft Nischen und entwickeln in Konkurrenz zu den anderen Kinderbühnen ein eigenes künstlerisches Profil. Angesichts einer Politik der leeren Kassen entwickeln viele Freie Gruppen fantasievoll auch neue Produktionsformen. So tun sich Freie Gruppen für eine Produktion zusammen, nicht nur, um synergetisch Kräfte zu bündeln, sondern auch, um Stücke mit großer Besetzung spielen zu können. Solche Kooperationsformen finden vor allem in Norddeutschland statt, wo das Theater Triebwerk (Hamburg), das Theater Pilkentafel (Schleswig-Holstein) und die Theaterwerkstatt Hannover immer wieder zu einzelnen Produktionen zusammenfinden. Eine andere Form vor allen Dingen für Gruppen ohne eigene Aufführungsräume ist die Kooperation mit zumeist mehreren Produktionshäusern und/oder subventionierten Bühnen, die dann einen Teil ihrer Aufführungen beim jeweiligen Kooperationspartner zeigen. Und welche Synergien dabei freigesetzt werden, das wird auf den großen Festivals deutlich, wo immer mehr Aufführungen kuratiert werden, die in solchen Kooperationen entstanden sind. Diese Durchmischung tut der gesamten Szene gut. Ohne die Pionierleistungen der Freien besäße die deutsche Szene nicht das Profil und das Niveau, das diese Szene bis heute auszeichnet.

Kulturelle Bildung und die Freien Darstellenden Künste Plädoyer für einen Perspektivwechsel der Akteure E CKHARD M ITTELSTÄDT

Die Situation ist paradox: In keinem Feld der Künste werden derzeit so viele neue Förderprogramme aufgelegt wie im Bereich der Kulturellen Bildung. Und kaum eine kulturpolitische und auch auf der wissenschaftlichen Ebene leidenschaftlich geführte Debatte hatte so nachhaltige Wirkungen auf Politiker und Förderer auch aus dem nichtstaatlichen Bereich der Stiftungen. Längst ist die Kulturelle Bildung nicht mehr durch Modellprojekte geprägt, die exemplarisch aufzeigen, was für Wirkungen und Ergebnisse erzielt werden können. Vielmehr sind die öffentlichen und privaten Geldgeber dazu übergegangen, »richtig Geld in die Hand zu nehmen« und Projekte Kultureller Bildung länderweit wirken zu lassen. Vorreiter waren hier Programme in Nordrhein-Westfalen wie JEKI (Jedem Kind ein Instrument) für den Musikbereich und das spartenübergreifende Landesprogramm Kultur und Schule, die beide über mehrere Jahre hinweg durchgeführt werden. Nun vernetzt das Kulturpilotenprogramm Schulen und Künstler in gleich fünf Bundesländern nahezu flächendeckend. Hier kommt das Geld aus Bundesmitteln in Kombination mit großen Stiftungen. Diese Projekte sollen hier nur genannt, aber nicht beschrieben und schon gar nicht bewertet werden. Sie sind nur Beleg für den Stellenwert Kultureller Bildung bei Förderern unterschiedlichster Sektoren. Zugleich ist die Abwehrhaltung Freier Darstellender Künstler gegenüber der Kulturellen Bildung beinahe landesweit konsensfähig. Das möge ja was für Kinder- und Jugendtheatermacher sein, man beschäftige sich jedoch mit Kunst und nicht mit Pädagogik, lautet eine gängige Replik, die neben der Pädagogik gleich

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noch Künstler, die für junges Publikum arbeiten, ebenso routiniert wie borniert abwatscht.1 Dabei sind solche Haltungen selten von fundierten Kenntnissen geprägt, wiewohl es sich bei der Kulturellen Bildung um einen in Deutschland vor über zwei Jahrhunderten entstandenen Begriff handelt, für den es nicht mal eine adäquate Übersetzung etwa ins Englische gibt. Im Sinne einer Spezifizierung und einer Fokussierung auf die Darstellenden Künste wird in der Folge vor allem von Ästhetischer Bildung als Teilbereich der Kulturellen Bildung die Rede sein.

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Letztlich verdanken wir den Begriff Friedrich Schiller. Aus Dankbarkeit für eine jährliche Rente von 1000 Talern hatte er 1793 mit seinem Geldgeber, dem Prinzen Friedrich Christian von Augustenburg, in 27 Briefen eine Debatte »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« geführt. Der Dichter und Dramatiker hatte die Möglichkeit erwogen, dass der Mensch sich im Medium der Kunst selbst bilden könnte. Obwohl er von ästhetischer Erziehung schrieb, meinte er den weiter gefassten Begriff Ästhetischer Bildung, die Verbindung der beiden Prinzipien, nach welchen der Mensch handelt und denkt: Vernunft und Natur. Es müsse ein Werkzeug geben, das beides im Menschen verbindet und zur Veredelung des Menschen führen könne. Diese Verbindung sah Schiller in den schönen Künsten, und mit dem Prozess der Veredelung des Menschen ist das gemeint, was wir heute »Ästhetische Bildung« nennen. Bezogen auf das Theater scheint der Begriff der Ästhetischen Bildung eine klarere Zuordnung zu ermöglichen als der im politischen Raum häufig verwendete Begriff der Kulturellen Bildung. Schiller geht es um eine ganzheitliche Auffassung vom Menschen, der erst durch eine umfassende Bildung die Möglichkeit erhält, aus sich zu machen was er will. Allerdings hatte Schiller drei Möglichkeiten erwogen, welche Wirkungsweise Kunst haben könnte. Zum einen betrachtete er Kunst als Werkzeug zur Erreichung eines politischen Ziels. Die von ihm erwogene zweite Möglichkeit steht zur ersten im Gegensatz: In einem individuellen Umgang mit Kunst ist der Mensch demnach frei von jeder Bestimmung. In diesem Fall ermöglicht ihm die Kunst einen frei gewählten Zugang zur Welt. In Deutschland wird diese Vorstellung als neuhumanistisches Bildungsideal bezeichnet. In einer dritten Variante

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Zu hören war dies zum Beispiel auch von Teilnehmern des 1. Bundeskongresses Frei– er Theater der 2010 in Stuttgart stattfand.

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bezweifelt Schiller dann jede Wirkung der Kunst auf Bereiche außerhalb der Kunst. Der Umgang mit Kunst beziehe sich nur auf die Kunst selbst, könne also als Unterrichtung über Kunst bezeichnet werden. Diese drei Möglichkeiten, zwischen denen sich der Dichter schon vor über 200 Jahren nicht hatte entscheiden können, bestimmen die Diskussion um die ästhetische Bildung in Deutschland bis heute. Entsprechend dem jeweils herrschenden Zeitgeist wurde die Wirkungsweise der Kunst einer dieser drei Möglichkeiten zugeordnet. Natürlich war es Schiller als Dichter und Autor von Theaterstücken zunächst vor allem um die Rezeption des Schönen (der Kunst) gegangen. Aber erst die Produktion des Schönen vollendet die Veredelung des Menschen in seinen Augen: »Denn der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Gerade das Theater ist eine Kunst, deren Besonderheit das Wechselspiel von Produktion und Rezeption ist. Aus dieser Zuordnung der Wirkungsweisen der Kunst ergab sich ein Konfliktpotenzial, das natürlich auch (und das bis heute!) in die Bewertung der künstlerischen Ergebnisse einfloss. Bezogen auf den Begriff Kultureller bzw. Ästhetischer Bildung wird gerade von Freien Theater gern unterstellt, dass hier ein konkreter Zweck verfolgt wird, und dies müsse dann ein pädagogischer Zweck sein. Gedacht wird dabei an Schulunterricht oder gar Nachgespräche zu Theateraufführungen, in denen das zu vermitteln ist, was die Zuschauer in der Aufführung nicht verstanden haben. Ganz so leicht ist dieser Begriff nicht zu fassen, das wurde bei Schillers Begriffsklärung schon deutlich. Dennoch möchte der Autor an dieser Stelle dem geneigten Leser weitere Definitionen Ästhetischer Bildung weitgehend ersparen.2 Bis auf eine: Zum hier vorgenommenen Ausflug in die Entstehungsgeschichte des Begriffs »Ästhetische Bildung« gehört natürlich der neuhumanistische Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldts, der Bildung als »Entfaltung aller Kräfte des Menschen in einer tätigen Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden natürlichen, sozialen und gesellschaftlichen Welt« (zitiert nach Reinwand 2008: 13) definierte.

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Geht man nun davon aus, dass mit einer tätigen Auseinandersetzung auch die Rezeption einer Theateraufführung oder die Teilnahme an einer Performance gemeint sein könnte, ist die Ästhetische Bildung im Alltag der Freien Darstel-

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Verwiesen sei hier unter anderem auf Ulrike Hentschels Standardwerk »Theaterspielen als ästhetische Bildung«, Weinheim 1996.

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lenden Künste längst verankert. So ist in vielen performativen Formaten die Rolle des Zuschauers sehr aktiv gestaltet. Der Zuschauer soll sich mit dem ihm präsentierten Ereignis unmittelbar auseinandersetzen. Dabei werden ihm »neue thematische und ästhetische Zugänge« (Sting 2011: 11) angeboten, somit andere Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, als das klassische Theater mit »Dramenstoffen und Rollentext« (ebd.) es für gewöhnlich tut. Indem sich das Freie Theater immer stärker vom dramatischen Text löst, sind neue dramaturgische Formen entstanden, sich mit Themen auseinanderzusetzen. Dabei werden nicht nur Grenzen der unterschiedlichen Genres bewusst überschritten, sondern auch die Unterscheidung zwischen Amateuren und professionellen Schauspielern außer Kraft gesetzt. Der von Rimini Protokoll und Hofmann&Lindholm genutzte Begriff der »Experten des Alltags« sei hier als Beispiel genannt. Auch Kinder und Jugendliche sind in herausragenden Produktionen des Freien Theaters Akteure auf der Bühne. Dabei dient der Einsatz dieser Akteure der Selbstverkörperung, der Authentizität und Wahrhaftigkeit. Häufig geht es den Produzenten solcher Formate, seien sie nun interaktiv oder konfrontativ, um neue Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Dabei wird häufig mit der Kenntlichmachung theatraler Wahrnehmungsprozesse gespielt, um dem Zuschauer Einblicke in Themen zu bieten, aber auch um mit ästhetischen Mitteln die Strukturen öffentlicher Darstellung und ihrer Wahrnehmung zu untersuchen. Vom neuhumanistischen Bildungsbegriff Humboldts scheinen diese Ziele nicht allzu weit entfernt. Darüber hinaus gibt es mit dokumentarischen Rechercheprojekten, der Lecture-Performance oder performativen Stadtraumprojekten oder Site-Specific-Stücken Formate, die den Zuschauer oder besser vielleicht Teilnehmer einer Aufführung oder Performance zur Auseinandersetzung und zum Überdenken eigener Wahrnehmungsmuster herausfordern. Damit verändert sich das Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter gegenüber dem Begriff von ästhetischer Bildung, den Schiller entwickelte. Ute Pinkert beschreibt dies so: »Dem kulturwissenschaftlichen Ansatz dieser Arbeit entsprechend, charakterisiert sich ästhetische Bildung (auf der vorliegenden Betrachtungsebene synonym zur kulturellen Bildung) als ein Beziehungsverhältnis zwischen einem Subjekt und ›Kunst‹ im Sinne von Produkten und Verfahren, wie sie sich als spezifische Weisen der Wahrnehmung, Bedeutungserzeugung und Symbolisierung charakterisieren lassen« (Pinkert 2005: 137).

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T HEATERPÄDAGOGIK

Indem also die Kommunikation zwischen dem Teilnehmer bzw. Betrachter und dem »Kunstwerk« in den Mittelpunkt rückt und zugleich die Akteure sich nicht notwendig mehr in professionelle Künstler und Laien einteilen lassen, erschließt sich ein neues Feld partizipatorischer Formate, die die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten zum Gegenstand der künstlerischen Gestaltung machen. Auf der anderen Seite gewinnen performative Formate zunehmenden Einfluss auf klassische theaterpädagogische Arbeit, wie Wolfgang Sting hervorhebt: »Dass insbesondere die aktuellen performativen Spiel- und Inszenierungsformen der szenischen Künste innovative Impulse für die Konzeption und Praxis Kultureller Bildung und theaterpädagogischer Projekte bereithalten, zeigen die zentralen Kategorien des Performativen, die am Beispiel des Flashmobs herausgestellt wurden: Aktion, Körperlichkeit, Bewegung, Intensität, Gemeinschaft, Spielfreude, Ereignischarakter, öffentliches Sprechen, Präsentieren und Inszenieren, Improvisation, soziale Choreographie im öffentlichen Raum. Diese körperlichen, sozialen und ästhetischen Handlungs- und Erfahrungskategorien markieren wesentliche Elemente jugendlicher Lebenswelt und Kultur« (Sting 2011: ebd.).

Dieses Feld partizipatorischer Formate kann aber auch dazu dienen, neue Theaterformen zu erforschen und auszuprobieren, auch mit Kindern und Jugendlichen. Dies hat sich die seit sieben Jahren vom Theater an der Parkaue in Berlin veranstaltete Winterakademie zur Aufgabe gemacht: »In der WINTERAKADEMIE begegnen sich gleichberechtigt freischaffende Künstlerinnen und Künstler, Theaterpädagogen sowie die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen zur künstlerischen Arbeit in den einzelnen Laboren. Jedes Labor wird von einer Künstlerin oder einem Künstler geleitet und hat einen speziellen Forschungsauftrag oder eine bestimmte Fragestellung, die mit dem jeweiligen Titelthema in Verbindung steht« (http:// www.winterakademie-berlin.de [15.04.2012]).

Christoph Scheuerle und Annemarie Matzke haben die Winterakademie unter diesen Gesichtspunkten untersucht: »Theaterpädagogik in einem solchen Sinne als prozesshaft und interdisziplinär gedacht kann nicht nur als das Produzieren von Theater, sondern auch als Erforschung von Theaterformen verstanden werden. [...] Besonders deutlich wird dieser Ansatz in den [...] Winterakademien, in denen Künstler, Kinder und Mitarbeiter des Hauses zu einem Thema künstlerisch forschen und arbeiten« (Scheuerle/Matzke 2010: 100).

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Bei der gemeinsamen Arbeit an den Themen prallen mitunter die Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen auf die Konzeptionen der Künstler, die für die Winterakademie aus unterschiedlichen Bereichen der Künste ausgewählt werden. Gerade in dieser Konfrontation »stecken die kreativen Potentiale« (Scheuerle/Matzke: 107) der Winterakademie.

ÄSTHETISCHE B ILDUNG ALS T EIL KÜNSTLERISCHEN ARBEIT

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Neben der Auseinandersetzung mit einem Begriff, der häufig verkürzt und damit verfälschend genutzt wird, sollten hier einige Verbindungen zur Praxis der Darstellenden Künste aufgezeigt werden. Dies kann hier nur blitzlichtartig und beispielhaft geschehen. Der Text versteht sich als Plädoyer für einen entspannteren und konstruktiveren Umgang mit der Ästhetischen Bildung. Die Praxis der Freien Darstellenden Künste hat sich da längst von der kulturpolitischen Debatte entfernt. Zwar sind Formate wie die Winterakademie sehr aufwändig und auch für ein Staatstheater wie das Theater an der Parkaue nur mit Drittmitteln zu stemmen, aber die Freien Darstellenden Künstler mischen an anderen Stellen längst in ähnlichen Projekten mit, seien es nun TUSCH-Projekte in großen Städten wie Hamburg und Berlin oder andere Formate, die von Produktionshäusern wie dem HAU oder in anderen Kontexten entwickelt werden. Letztlich gilt es nur, solche Projekte unter dem Blickwinkel der eigenen künstlerischen Arbeit zu betrachten und für sich nutzbar zu machen. Und sich den Fachdiskurs in diesem Feld genauer anzusehen, denn dieser entwickelt sich wesentlich schneller, als sich politische Schlagworte ändern. Was für die Finanzierung solcher Projekte für Freie Darstellende Künstler nicht unbedingt ein Nachteil ist.

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L ITERATUR Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hentschel, Ulrike (1996): Theaterspielen als ästhetische Bildung, Weinheim: Deutscher Studienverlag. Pinkert, Ute (2005): Transformation des Alltags, Milow: schibri. Reinwand, Vanessa-Isabelle (2008): Zur biografischen Bedeutung aktiver Theater-Erfahrung, Schriftenreihe Kulturelle Bildung Vol. 8, München: kopaed. Schiller, Friedrich (1980): Werke Bd. IV, München und Zürich: Droemersche Verlagsanstalt. Scheuerle, Christoph/ Matzke, Annemarie (2010): »Bericht von (k)einer Akademie«, in: Schneider, Wolfgang/Fechner, Meike (Hg.): Grimm & Grips 24. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 2011, Frankfurt a. M.: ASSITEJ, S. 97-109. Sting, Wolfgang (2011): »Performance als Perspektive – Performative Spielund Inszenierungsformen für Schule, Schultheater und Theaterpädagogik« (Vortrag am 29. August 2011 in Frankfurt am Main). Online: http://www. theaterundschule.net [15.04.2012].

H OMEPAGES http://www.winterakademie-berlin.de [15.04.2012].

Theater als Fest Theater im öffentlichen Raum als alte und neue massenwirksame Kunstform G ABRIELE K OCH

Theatervorstellungen im öffentlichen Raum ziehen in Deutschland jährlich ein Millionenpublikum und können steigende Besucherzahlen verzeichnen. Die Attraktivität dieser Kunstform liegt einerseits in der überwiegend freien Zugänglichkeit der Vorstellungen begründet, andererseits aber auch in der Form des kollektiven Erlebnisses. Vielfach finden die Vorstellungen bei Tageslicht statt, so dass der Zuschauer sich nicht in der Tiefe eines abgedunkelten Zuschauerraumes verstecken kann, sondern in seiner Rezeptionshaltung sichtbar bleibt, sowohl für die Darsteller wie für die anderen Zuschauer. Bestürzung, Langeweile, Faszination oder Begeisterung sind im besonderen Maße sichtbar und werden durch eine große Gruppe an zufälligen Mitbesuchern wahrgenommen und reflektiert. Auch ungewohnte Wegeführungen und räumliche Neuorientierung fördern die Kommunikation innerhalb des Publikums und führen zu einem gemeinsamen Erlebnis. Theater im öffentlichen Raum wird oftmals als kollektiv erfahrenes Kulturereignis empfunden, als gemeinsam erlebtes Fest. Vorstellungen dieser Kunstform schreiben sich so in besonderer Weise identitätsstiftend in ein kulturelles Stadtgedächtnis ein. Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsverbund »Theater und Fest in Europa. Zur Inszenierung von Identität und Gemeinschaft« an der Freien Universität Berlin formuliert die Beziehung zwischen Theater und Fest wie folgt: »Theater und Fest haben in gegenseitigem Wechselspiel die europäische Kultur über Jahrtausende hinweg geprägt. Beide sind untrennbar miteinander verbunden und treten immer

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wieder als Paar auf. So lässt sich eine Geschichte des Verhältnisses von Theater und Fest von der Antike bis zur Gegenwart schreiben: von den antiken Theaterfesten [...] bis zu heutigen internationalen Theaterfestivals« (Fischer-Lichte 2011).

Die gewachsene und sinnfällige Verbindung zwischen Theatererlebnis und Festivität wird gerade bei der Kunstform des Theaters im öffentlichen Raum und ihren unterschiedlichen Präsentationsplattformen besonders augenscheinlich: Theater im öffentlichen Raum ist eine temporäre künstlerische Intervention im Alltag der Menschen, die den öffentlichen Raum zur Bühne erklärt. Diese Form des Theaters erlaubt den Ausnahmezustand und sorgt für Begegnung und Kommunikation an Orten, die im Regelfall weder als Ort der künstlerischen Darstellung noch als Kommunikationsort genutzt werden. Es entsteht eine kreative Zwischennutzung öffentlicher Orte, die gewohnte Wahrnehmungsmuster in Frage stellt und Begegnung ermöglicht. Dem Zuschauer kommt eine aktive Rolle zu, sei es in Form des Mitlaufens bei Paraden oder von Stationentheater, sei es in der aktiven Partizipation bei der Vorstellung oder einfach durch die Tatsache, dass sich der Zuschauer während der Vorstellung oftmals frei bewegen kann. Aufgrund der oftmals fehlenden Einlasssituation kann der Besucher später kommen oder früher gehen, ohne Sanktionen erwarten zu müssen (Dicale/Gonon 2009)1. Der Zuschauer ist damit aktiver Teil der Theatervorstellung, wie auch jeder Gast zwangsläufig durch sein Zu-Gast-Sein ein Fest mitgestaltet bzw. prägt. Die Theaterarbeit im öffentlichen Raum fußt, wie auch die Arbeit in festen Häusern, kulturgeschichtlich auf der Wandertheatertradition. Mit der Etablierung von »stehenden Theatern« als Vorläufer der Hof- und Stadttheater bildet sich zweierlei heraus: die Erschaffung von festen Infrastrukturen für den Theaterbetrieb und der Beginn des subventionierten Theaters (Michael/ Daiber 1990). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verschwinden die Wandertheater weitgehend. Die »stehenden Theater« manifestieren sich und vermauern im wortwörtlichen Sinne ihre Arbeit durch feste Häuser und einen regelmäßigen Spielbetrieb. Zum Ende desselben Jahrhunderts wird mit der Diskussion um die Funktion des Theaters als Bildungsinstrument der Grundstein für ein »Massentheater [...] ein neues Volkstheater« (Fischer-Lichte 1993: 259) gelegt. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bilden sich im Umkreis der Dadaisten und Surrealisten neue Theaterformen, die sich wieder stärker in den öffentlichen Raum orientieren. Das revolutionäre Theater der Arbeiterbewegung, »das politische Aufklärungstheater [...] im Rahmen der Protestbewegung gegen die Remilitarisierung der 1

Anne Gonon hat sich ausführlich in verschiedenen Veröffentlichungen mit der besonderen Beziehung von Darstellern und Darstellung und dem Publikum im französischen Straßentheater auseinandergesetzt (vgl. http://agonon.free.fr/ [28.04.2011]).

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Bundesrepublik« in den 1960er Jahren und das Studententheater der 1968er »veränderte[n] [...] das Theater und die anderen künstlerischen Disziplinen« (Ruppert 2005: 5). Die in der Öffentlichkeit dargestellten Vorstellungen hatten »ein eindeutig politisches Aufklärungsinteresse« (ebd.) und waren bewusst in der Öffentlichkeit und in alltäglichen Umgebungssituationen der Menschen platziert. Der Einfluss der New Yorker Theater-Untergrund-Bewegung und die sich in Amsterdam gegründeten Fools führten zu einer Ästhetisierung der Straßentheatervorstellungen in Deutschland. »In den 70er Jahren verlor das Straßentheater in Deutschland seine explizite politische Ausrichtung und im Zuge der Freien Theaterbewegung erweiterten sich seine ästhetischen Stilmittel« (ebd.). Es gründeten sich in den folgenden 20 Jahren eine Vielzahl von Theatergruppen und Festivals, die sich mit dem öffentlichen Raum als Darstellungsort auseinandersetzen. Bis heute sind die Akteure des Theaters im öffentlichen Raum ausnahmslos der Freien Szene zugehörig. Der Unterschied zwischen einer Vorstellung des Theaters im öffentlichen Raum und einer Open-Air-Veranstaltung eines Stadttheaters lässt sich anhand von zwei Theaterabenden auf der Nordseeinsel Spiekeroog aus dem Jahr 2009 gut definieren: Innerhalb weniger Wochen gab das Theater Bremen die »Aida« (2009) und die Freie Theatergruppe Das letzte Kleinod den »Der Untergang der Johanne« (2009). Während für die einen eine überdachte Bühne mit Licht- und Tontechnik und ein überdachter Zuschauergradin direkt am Hafen aufgebaut wurde, weil das der einzige Ort war, an dem man die technischen Anforderungen auf der an sich autofreien Insel realisieren konnte, bauten die anderen eine Zuschauertribüne am Strand auf, benutzen den Sand als Bühne und den Horizont, inklusive atmosphärischer Veränderungen durch den Sonnenuntergang, als Bühnenbild. Das Bremer Theater zeigte mit »Aida« ein Stück aus seinem Repertoire unter freiem Himmel, wenngleich Bühne wie Zuschauerraum in weiten Teilen überdacht war. Das letzte Kleinod arbeitet demgegenüber mit einer Methode, die die Gruppe selbst als Dokumentartheater beschreibt. Sie hatten sich über die gesamte Recherche- und Probenzeit mit der Geschichte der Strandung des Auswandererschiffs »Johanne« im Jahr 1854 vor der Insel Spiekeroog auseinandergesetzt und diese mit ihren theatralen Mitteln zu einer Theatervorstellung verarbeitet. Die eine wie die andere Vorstellung war den Zuschauern ein Fest, wenngleich bei den einen eine aktive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Raum zu erkennen ist, während bei den anderen die Auseinandersetzung wohl einzig logistischer Natur war. Dieser Unterschied dürfte nach meinem Verständnis auch zu einem gänzlich unterschiedlichen Theatererlebnis führen. Bleibt man beim oben genannten Bild des Gastes als aktivem Teil der Fest-Inszenierung, so darf

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sich der Zuschauer am Strand auch als Teil der einmaligen Vorstellung begreifen: Die Zuschauer erlebten den Untergang der »Johanne« förmlich physisch mit, indem sie, wie die Spiekerooger des 19. Jahrhunderts, zum Beobachten verdammt sind und nicht helfend eingreifen können. Zuschauen wird damit zum aktiven Mit- bzw. Nacherleben des Erzählten. Jede Vorstellung ist in seiner Wirkung überdies von den Witterungsumständen abhängig. Der Zuschauer erlebt einen Schiffbruch im Sturm, im Regen oder im klaren Sonnenuntergangszenario. Die Besucher der Vorstellung im Hafen genossen Verdis Oper an einem besonderen Ort. Witterungsbedingte Unstimmigkeiten im akustischen Erlebnis wurden technisch ausgeglichen. Diese Unterscheidung im Rezeptionserlebnis ist für mich fundamental in der Definition, was ein Theatererlebnis im öffentlichen Raum von einer Open-Air-Veranstaltung unterscheidet. Eine weitere Besonderheit am Darstellen im öffentlichen Raum ist die Tatsache, dass der öffentliche Raum meist frei zugänglich bzw. nur mit niedrigen Schwellen behaftet ist. Die Menschen können und dürfen sich den Platz aneignen und in festgelegtem Maße nutzen. Diese Theaterform findet in der alltäglichen Erlebniswelt der Zuschauer statt. Dazu braucht es keineswegs die ortsspezifische Inszenierung. Dies kann auch eine inszenierte Parade durch die Innenstadt, eine Vorstellung auf dem Marktplatz, eine Tanzperformance vor einem öffentlichen Gebäude leisten. Oftmals sind dabei die Zuschauer nicht im klassischen Sinne Theatergänger, vielleicht sogar zufällige Flaneure im Stadtgeschehen, die von der Aufführung überrascht am gemeinsamen Theaterfest teilnehmen. Das Theater erhält mit dieser Kunstform wieder eine Funktion im Alltagsleben der Menschen. Eine Funktion, die ihr im westlichen Europa mit der Entstehung der feudalistischen Hochkultur abhanden gekommen ist und nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus auch in den östlichen Ländern an Bedeutung verloren hat. Aber wie frei ist der öffentliche Raum wirklich? Dieser Fragestellung hat sich das Kölner Künstlerinnen-Kollektiv Bauchladen Monopol in ihrem Projekt »Darf man 2010 in the rain tanzen« (2010) gewidmet. Sie tanzten eine kurze sich perpetuierende Tanzabfolge, angelehnt an das Bewegungsvokabular aus dem Film »Singing in the Rain« (1952), unangekündigt und ohne Erklärung auf öffentlichen Plätzen, vor Ämtern und in Einkaufspassagen.

»Der öffentliche Raum. Ort des Begegnens, des Austausches, des Widerspruchs, der Spannungsverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und ökonomischen Interessen, als Identitätsraum, politischer Raum, Standortfaktor, Aufenthaltsraum, Erlebnisraum, Ruhe- und Rückzugsraum, Verkaufsraum, Schauraum, Verwertungsraum. Ort der

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geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze. Kann man an so einem Ort tanzen?« (Festival 150% Made in Hamburg 2011).

Oftmals führte der Tanz zu großer Irritation bis hin zur Verständigung der Polizei zur Herstellung der alten Ordnung. Die Erfahrungen beim Tanzen im öffentlichen Raum wurden im Folgenden zu einer Lecture-Performance verarbeitet und 2011 auf dem Hamburger Festival »150% Made in Hamburg« gezeigt. Diese Theaterarbeit bewegt sich damit auf der Grenze zwischen Theater im öffentlichen Raum und einer Form des Indoor-Theaters. Welche passendere Form als die des Tanzes hätte man wählen können, um die Möglichkeiten des Theaters als Fests im öffentlichen Raum auszuloten. In den Innenstädten gähnt uns zwischen Konsumtempeln und Shopping-Malls der tatsächliche Leerstand wie eine empfundene inhaltliche Leere an, die geradezu nach künstlerischer Zwischennutzung schreit. Was Philipp Löhne als »Land wie grade nicht da« beschreibt, lässt sich auf viele Städte in Ost und West der Republik übertragen (2010: 12). Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beschreibt im »Weissbuch Innenstadt« die Bedeutung der Kultur und Kulturprojekte für die Entwicklung der Innenstädte wie folgt: »Die Innenstädte mit ihren öffentlichen Räumen und Gebäuden sind Orte für Kultur, Integration und Erlebnis. Sie sind zugleich Orte bürgerschaftlichen Erlebens und Handelns und damit gesellschaftlich unverzichtbar« (BMVBS 2011: 48).

Sinkende Bevölkerungszahlen, die gesellschaftliche Überalterung und inhaltsleere kommerzielle Angebote sorgen jedoch landauf, landab für menschenleere Zentren, die einer Wiederbelebung zu einem gemeinschaftlichen Ort der Begegnung bedürfen. So verwundert es dann auch nicht, dass »in vielen Städten [...] Kulturprojekte als zentraler Baustein einer Revitalisierungsstrategie für das Stadtzentrum« (dies.: 47) gelten. Hier brauchte es Feste und Festivals, Künstler und Darsteller, Kreative und Verrückte, die den öffentlichen Raum als Begegnungsraum und Versammlungsort zurückerobern und neues Leben einhauchen. Kurz: die ihn feiern, fernab jeglicher zweckgebundenen Nutzung. Theater im öffentlichen Raum ist ein Fest! Es trennt sich von einer vielfach als elitär empfundenen Rezeptionssituation und kehrt zurück zu seiner im Mittelalter manifestierten Funktion eines Massenmediums. Die Stadt ist die Bühne, jeder mögliche Raum kann ein Spielort sein.

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L ITERATUR Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, BMVBS (Hg.) (2011): Weissbuch Innenstadt, Berlin und Bonn. Dicale, Bertrand/ Gonon, Anne (2009): Oposito: L'art de la tribulation urbaine, Montpellier : Éditions L’Entretemps. Festival 150% Made in Hamburg (2011): »Darf man 2010 in the rain tanzen?«. Online: http://www.festival150prozent.de/2010-in-the-rain-theater.html [29. 04.2011]. Fischer-Lichte, Erika (1993): Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen: Francke. Fischer-Lichte, Erika (2011): BMBF-Forschungsverbund »Theater und Fest in Europa. Zur Inszenierung von Identität und Gemeinschaft«. Online: http:// www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/forschung/eu_bmbf_projekte/theater undfest/index.html [28.04.2011]. Löhne, Philipp (2010): »Ein Land wie grade nicht da«, in: Theater der Zeit (9/2010), Berlin: Theater der Zeit. Michael, Friedrich/ Daiber, Hans (1990): Geschichte des deutschen Theaters, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ruppert, Nicole (2005): »Ursprünge der europäischen Street Art Bewegung«. Vortrag zur Street Art Konferenz Münster am 8. Juni, unveröffentlicht.

Vom Bestellen lokaler Klangfelder Freies Musiktheater im deutschsprachigen Raum H ANS -J ÖRG K APP

Es gibt sie, die »Freie Musiktheater-Szene«, wenngleich dieser Terminus derzeit noch kaum jemandem so leicht über die Lippen geht wie etwa die verwandten Begriffe »Freier Tanz« oder »Freie Szene«. Beschreiben Letztere ästhetisch und theaterpraktisch ein recht klar konturiertes Genre, so ist das beim Freien Musiktheater noch nicht ernsthaft der Fall. Die Produktionsweisen, Traditionslinien und auch die ästhetischen Ausformungen sind dafür derzeit noch zu heterogen. Das ist einigermaßen verwunderlich, da sich sowohl die Akteure als auch die kulturpolitischen Vertreter des Freien Musiktheaters in den letzten zwei Jahrzehnten durchaus bemüht haben, das Genre voranzubringen. Ablesbar ist das etwa daran, dass es bereits in vielen Kommunen und Bundesländern eine eigene Musiktheater-Förderung im Rahmen der Freien Kulturförderung gibt. Dennoch finden Produzenten, Rezensenten, Musikwissenschafter, Komponisten, Dirigenten, Dramaturgen, Regisseure und Musiker im Freien Musiktheater noch nicht wirklich zueinander. Die Gründe dafür werden zu diskutieren sein.

M USIKTHEATER – EIN IN DIE J AHRE GEKOMMENER K AMPFBEGRIFF Der Begriff »Musiktheater« erlebte einen ersten großen Aufschwung in den 1960er Jahren. Walter Felsenstein, Theaterleiter und Regisseur an der Komischen Oper Berlin, positionierte den Terminus in den 1950er Jahren als Gegenbegriff zur Oper. Felsenstein beabsichtigte, die Oper zu »humanisieren« im Zeichen einer Einheit von »Mensch und Gesang« (Felsenstein 1976: 65). Sein Ziel

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war es, dem Besucher ein Theatererlebnis zu ermöglichen und so den Interaktionsprozess zwischen Publikum und Darsteller überhaupt erst in Gang zu bringen. Dabei war sich Felsenstein den Fallstricken des Mediums bewusst, wie etwa dem Umstand, dass sich ein großer Teil des Opernpublikums mehr für die »Freude am Wohllaut menschlicher Stimmen« (Felsenstein 1976: 66 ) interessiert und dafür gern das Theater opfert: »Diese Genüsse schließen das echte Theatererlebnis nicht aus. Sie sind aber auch nicht an das Theatererlebnis gebunden« (Felsenstein 1976: 68). In diesem Sinne haben Felsenstein, seine Mitarbeiter und Schüler damit begonnen, für viele Opernwerke überhaupt erst eine ernsthafte Lektüre zu entwickeln. Der Begriff des Musiktheaters ist daher theaterhistorisch zu Recht mit Felsensteins Namen verknüpft, der die bislang erste und einzige ernstzunehmende Musiktheater-Bewegung im Zeichen eines realistischen Regietheaters initiiert hat. Der theaterhistorisch klar verortbaren Verwendung des Begriffs »Musiktheater« steht eine zweite, sehr viel spekulativere Verwendung gegenüber, die sich eher als eine Art von Auffangbecken für vielerlei Erneuerungsbestrebungen im Bereich des Musikalischen Theaters in den vergangenen Jahrzehnten begreift. Dieser Bereich umfasst unter anderem die Entwicklungslinie des Instrumentalen Theaters, wie etwa Mauricio Kagels Experimente mit musikalischen Formen und Aufführungspraktiken. Doch ist auch diese Begriffsverwendung bereits deutlich in die Jahre gekommen. Dem Begriff des Musiktheaters haftet stets der Ruch des Musealen an. Insofern passt es ins Bild, dass sich ein heutiges Label durchaus Zeitgenössische Oper Berlin nennen darf, ohne dabei einen Beigeschmack des Konservativen zu haben.

D AS M USIKTHEATER DER 1980 ER J AHRE : K AMMEROPER , F REIE S ZENE UND M ARTHALER Die Dekade der 1980er Jahre hat das Medium Musiktheater grundsätzlich neu ausgerichtet. Unter der Vorreiterschaft der Frankfurter Oper hat es sich von einer realistischen Lesart gelöst und stark mit Formen experimentiert. So stehen Regisseure wie Achim Freyer oder Axel Manthey für ein bildgesättigtes Theater, in dem psychologische Realismen in den Hintergrund treten. Doch die Zeichen des bevorstehenden Niedergangs kündigten sich bereits an: Kammeropern wie etwa Udo Zimmermanns »Die weiße Rose« (1986) oder Adriana Hölszkys »Bremer Freiheit« (1987) führten das Medium Kammeroper zu einem letzten Höhepunkt. Danach gelingt keiner Kammeroper im deutschsprachigen Raum mehr der Spagat zwischen Individualität und großer Rahmenerzählung. Die Studiobühnen, die

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seit den 1970er Jahren die Rolle der Experimentierstätten der Opernhäuser übernahmen, verlieren ihre Bedeutung. Parallel zu dieser Entwicklung begannen die Freien Musiktheater-Macher damit, aktuelle Darstellungsformen des Freien Theaters für das Musiktheater zu adaptieren. Allerdings trauten sie sich noch kaum, in die Rhetorik der Werke oder deren Zeitstruktur einzugreifen. Auf diese Weise entstand in den 1980er Jahren ein typischer Musiktheater-Look: Weiß geschminkte Sänger in weißen Räumen spielen betont emotionslos, während sich die Handlung in die Länge zieht und einem die Musik die jeweiligen Pathosformeln um die Ohren haut. Während der Freie Tanz und die Sprechtheaterszene unter dem starken BeneluxEinfluss damit begannen, ihre Produktionsumstände neu zu definieren, ist dieser Schritt im Freien Musiktheater bis heute noch nicht wirklich erfolgt. Es scheint, als sei die Oper doch jener von Brecht beschriebene Apparat, dem eine Erneuerung der ihm eigenen Produktionsumstände nicht wirklich gelingt (Brecht 1989: 14). Ebenfalls in den 1980er Jahren begann der Theatermusiker Christoph Marthaler in Süddeutschland und der Schweiz damit, ein gänzlich neues Verständnis von musikalischem Theater zu entwickeln. »Man vergisst leicht, dass Christoph Marthaler ursprünglich aus der Freien Szene stammt«, bemerkt der Dramaturg und langjährige Marthaler-Mitarbeiter Malte Ubenauf dazu (Ubenauf 2011). »Marthaler hat damals an unterschiedlichsten Häusern Theatermusiken gemacht und dann zunächst in den simpelsten, einfachsten Zusammenhängen seine ersten Arbeiten realisiert. So hat er für ein Dada-Festival in Zürich die Arbeit Blanc et immobile (1983) erarbeitet, die er als seinen ersten wirklichen Abend bezeichnen würde. Aber er hat auch viele Arbeiten im Freien gemacht, wie etwa auf dem Züricher Bellevue-Platz« (ebd.).

Ab 1990 haben sich Christoph Marthaler und seine eng in den Entstehungsprozess eingebundene Bühnenbildnerin Anna Viebrock mit dem Ansatz der Musikalisierung sämtlicher Parameter des Theaterereignisses an den großen Bühnen durchgesetzt und insbesondere auf die Sprechtheater-Szene eine enorme Wirkung ausgeübt. Damit wurde erstmalig ein Theatermacher von der Peripherie direkt in den Fokus des Stadttheaters katapultiert. »Man kann zwar nicht unmittelbar nachweisen, dass Marthalers Entwicklung den Weg für andere geebnet hätte, aber natürlich hat eine solche Erfolgsgeschichte eine psychologische Wirkung auf die hiesige Theaterlandschaft« (ebd.).

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Seit jener Zeit gibt es jedenfalls einige Theaterkarrieren, wie etwa die von Ruedi Häusermann oder David Marton, die von der Nähe zu den Arbeiten Marthalers und Viebrocks profitiert haben. Regisseur David Marton etwa assistierte bei Marthaler und inszenierte später an den Berliner Sophiensaelen. 2007 inszenierte er an der Berliner Volksbühne einen »Wozzeck«, bei dem er aus Bergs Musik und Büchners Drama einen eigenständigen Theaterabend komponierte. »Das schöne an David Martons Entwicklung ist, dass er mit ganz anderen Materialien etwa aus dem Pop-Bereich arbeitet, obwohl tatsächlich sein Materialbegriff viel mit dem von Marthaler gemein hat« (Ubenauf 2011).

Es sagt einiges über den Zustand des Genres Musiktheater aus, dass die meisten Theatermacher aus dem Umfeld von Christoph Marthaler sehr erfolgreich an Sprechtheaterbühnen arbeiten, nicht etwa an Opernhäusern.

T EAMSTRUKTUREN UND P RODUKTIONSFORMEN 1990 ER J AHREN

SEIT DEN

Seit den 1990er Jahren etablieren sich vor allem in den Metropolen festere Strukturen im Freien Musiktheater, wobei das Musiktheater die Entwicklungsstufe der selbstbestimmten Freien Gruppe ausgelassen hat. Viel eher sind es Leitungsteams (Regie, Dramaturgie, musikalische Leitung), welche die Freie Musiktheaterszene geprägt haben und die sich jeweils ihr Ensemble von Produktion zu Produktion neu zusammenstellen. Neben größeren, in diesen Konstellationen arbeitenden Formationen wie etwa das Berliner Musiktheater Novoflot gibt es im Freien Musiktheater aber auch einige ernstzunehmende und erfolgreich arbeitende Ein- oder Zwei-PersonenTeams. So sind etwa seit 1991 unter dem Label Micro Oper München die Sängerin Cornelia Meliàn und die Pianistin Sabine Liebner tätig, die mutige Inszenierungen mit zeitgenössischer Musik verbinden. In Düsseldorf erarbeiten unter dem Namen Theater Kontra-Punkt Annette Bieker und Frank Schulz seit vielen Jahren anspruchsvolle Musiktheater-Inszenierungen. Grundlage der Arbeit Freier Musiktheater-Macher ist zuvorderst die kommunale Förderung, die in den meisten Bundesländern noch nicht genrespezifisch tätig ist, sondern das Musiktheater als Teil einer allgemeinen Freien Projektförderung behandelt. Ausnahmen stellen dabei einige wenige Kammeropern dar, die punktuell über eine kontinuierlichere Förderung verfügen. Neben der kommunalen Förderung der Freien Szene ist für das Musiktheater auch die Festspiel-

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kultur seit den Neunziger Jahren ein interessanter Auftraggeber. In Zeiten, in denen die Sponsorengelder noch lockerer saßen, war es im Rahmen von Festivals gut möglich, Produktionsweisen zu erproben, die so am Stadttheater nicht hätten funktionieren können. Neben »High-End-Festivals« wie zum Beispiel die RuhrTriennale ist dabei etwa die einflussreiche Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater zu erwähnen. Aber auch profilierte Neue-Musik-Festivals wie MaerzMusik in Berlin oder das Festival Eclat in Stuttgart sind ein Forum für aktuelles Musiktheater. Allerdings entsteht bei diesen Festivals mittlerweile ein gravierendes »High-End-Problem«: Zeitgenössische Ensembles wie etwa das ensemble recherche in Freiburg agieren inzwischen so erfolgreich im internationalen Konzertbetrieb, dass es kaum möglich ist, eine Musiktheaterproduktion mit den erforderlichen mehrwöchigen szenischen Proben zu finanzieren. Zudem ist die Aufbruchstimmung der Festivalkultur inzwischen verflogen: Viele Festivals sind deutlich im Griff regionaler Marketingbestrebungen mit starker Tendenz zu Repertoirestücken vor schöner Naturkulisse.

Z WEI E RFOLGSGESCHICHTEN DES F REIEN M USIKTHEATERS : D IE P OCKET O PERA C OMPANY UND DAS M USIKTHEATER VON H EINER G OEBBELS Die Stadt Nürnberg kann für sich reklamieren, eine Erfolgsgeschichte des Freien Musiktheaters zu beheimaten. Dort existiert seit 1975 die Pocket Opera Company (POC), die unter ihrem langjährigen Leiter Peter Beat Wyrsch erfolgreich Freies Musiktheater erarbeitet. Die POC ist aus einem Verein hervorgegangen, der 1975 Offenbachs »Die Großherzogin von Gerolstein« außerhalb des Theaters erfolgreich aufführte. In der Folge sind der POC eine große Reihe von Inszenierungen geglückt, die aus der Beschäftigung mit eher entlegenen Werken des Repertoires des 19. Jahrhunderts resultierten, wie etwa Marschners Oper »Vampyr« (1978) oder Catalanis »La Valli« (1980). Die Sänger der Produktionen entstammten zumeist dem Ensemble der Nürnberger Oper, an der Wyrsch ebenfalls als Regisseur tätig war. Die Produktionen basierten auf extra eingerichteten Kammermusikfassungen, waren geschickt gegen den Strich gebürstet und wagten auch mal den Bruch mit dem Genre in Richtung Parodie. Eine Besonderheit der Produktionen bestand darin, dass sie an ungewöhnlichen Spielorten aufgeführt wurden, wie etwa in einem Ausbesserungswerk der Bahn oder in einem Einkaufszentrum. »Raus aus den Häusern, dahin wo das Leben tobt, ist unsere Devise« (Beer 1999: 49). Aus heutiger Sicht ist die POC einem künstlerischen Ansatz verhaftet, der sich noch stark aus der tradierten Lektüre des Regietheaters

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speist. Hinsichtlich des Produktionsansatzes jedoch bietet die POC ein ernstzunehmendes Rollenmodell an, denn die Koexistenz der Oper Nürnberg und der Pocket Opera Company stellt bis heute eines der ganz wenigen überzeugenden Koexistenzmodelle von Stadttheater und Freier Szene dar. Ganz anders situiert sich dagegen das Musiktheater des Frankfurter Komponisten Heiner Goebbels. Der Leiter der Ruhr-Triennale gehört zum Typus des inszenierenden Komponisten. Die Tätigkeit als Regisseur hat sich bei Goebbels aus der kompositorischen Arbeit nach und nach herausgeschält. Als Komponist und Instrumentalist mit einem politischen Selbstverständnis war Goebbels zwar anfangs auch als Theatermusiker tätig und hat sich dann dem Genre des Hörspiels gewidmet. Doch merkt man Goebbels Inszenierungen an, dass es im Zentrum seines Komponierens einen zunächst an Brecht und später an Heiner Müller orientierten Materialbegriff gibt, der sich viel weniger dem Herstellen von Szene verschreibt als vielmehr einem Denken des Visuellen, das sich in produktiver Spannung zur Musik verhält. Viele Inszenierungen wie etwa »Schwarz auf Weiß« (1996) oder »Eislermaterial« (1998) entstanden in enger Kooperation mit dem Ensemble Modern. Bezeichnenderweise sind es bei Goebbels oftmals die Musiker, die eine szenische Aktion ausführen; die Szene ist dabei fast eine Art Nebenprodukt der Arbeit am physischen Herstellen von Klang. Die Vorstellung einer Utopie des Musiktheaters als Einheit von Mensch und Gesang ist Goebbels gänzlich fremd. »Was mich interessiert ist das Gegenteil: Mir geht es nicht um ein geschlossenes Weltbild, in dem die einzelnen Künste nur Teilmomente sind [...]« (Goebbels 2002: 137). Heiner Goebbels gibt den Ganzheitsanspruch im Sinne der Vorherrschaft eines Sängersubjekts oder eines dramatischen Handlungskerns auf. Gerade das lässt sein Œuvre nach wie vor als wegweisend für das Freie Musiktheater erscheinen.

AKTUELLE E RSCHEINUNGSFORMEN F REIEN M USIKTHEATERS

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Die Kammeroper als Struktur und Genre Es fällt schwer, dieses Genre ernsthaft unter den Begriff des Freien Musiktheaters zu subsumieren. Dafür ist es künstlerisch zu antiquiert; erzählt es doch im Wesentlichen geglückte oder gescheiterte bürgerliche Individuationsgeschichten. Kammeropern existieren unter anderem in Augsburg, Frankfurt, Köln oder Berlin. Darunter befinden sich einige ernstzunehmende Institutionen wie die von Siegfried Matthus initiierte Kammeroper Schloß Rheinsberg. Das Genre domi-

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nieren allerdings jene Privattheater, deren Erfolgsmodell darin besteht, die drei Opernakte in ein Vier-Gänge-Menü einzuspannen. Dagegen stellen Opernaufführungen an Stadttheatern wahre Bollwerke der Emanzipation dar. Die Barockoper Die Wiederentdeckung der Barockoper war ein enorm wichtiges Spielfeld für die Freie Musiktheater-Szene seit den 1980er Jahren. Dabei spielten auch praktische Gründe eine Rolle, wie etwa die kleineren Instrumentalbesetzungen und die daraus resultierenden überschaubareren Anforderungen an die Größe von Spielorten. Vor allem der hohe Stilisierungsgrad und die starke musikalische Rhetorik ließen die Barockoper zu einer ernstzunehmenden Alternative zur Literaturoper werden: Die Freie Szene war es, die etwa die Venezianischen Opern von Cavalli oder Stradella wiederentdeckt hat. Daneben interessierten sich die Theatermacher aber ebenso für Madrigale von Monteverdi oder Gesualdo. Gerade weil es sich bei diesen Werken nicht um geschlossene Opern handelte, reizten diese Stücke die Freie Szene ganz besonders.1 Uraufführungen von Literaturopern Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten sind kein Alleinstellungsmerkmal des Freien Theaters, wenngleich sie anfangs noch häufig gefördert wurden. Doch auch wenn Stadttheater-Uraufführungen erzählerischer und stärker darstellerbetont sind und die Freie Szene sich lieber mit Avantgarde- oder PostAvantgarde-Texten – etwa von Gertrude Stein – auseinandersetzt, in ästhetischer Hinsicht sind Literaturopern so oder so mehr als fraglich. Zumeist fallen sie entschieden hinter die Dekomposition des Opernbegriffs seit Cage oder Nono zurück. Viel erfreulicher dagegen ist die aktuelle Tendenz, dass sich zunehmend Kollaborationen zwischen Komponisten, Regisseuren und Ensembles ergeben, die auch neue Produktionsformen erproben und denen Förderinstitutionen wie der Fonds experimentelles Musiktheater in NRW Rechnung tragen (Roesner 2010: 221ff.).

1

Als aktuelles Beispiel sei hier auf das Händel-Pasticcio »Anaesthesia« verwiesen, das Nicola Hümpel mit ihrem Ensemble Nico and the Navigators 2009 bei den HändelFestspielen in Halle/Saale erarbeitet hat und das seitdem auf zahlreichen Festivals gastiert.

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Inszenierte Konzerte Seit Konzertveranstalter ihre Aufführungskonzepte stark überdenken, stellt das inszenierte Konzert eine spannende Schnittstelle zur Freien Musiktheaterarbeit dar: Hier wie da wird Musik als per se dramatisch wirkendes Material angesehen. Auch interessieren sich beide Genres für den Akt des Musizierens als einen performativen Vorgang. Markus Fein, Leiter der Musiktage Hitzacker, hat einmal die Chronologie der Jahre 2005 bis 2008 nachgezeichnet und damit den breiten Gestaltungsspielraum für unterschiedliche Konzertformen bezeugt: Er zeichnet verantwortlich für Konzerte in der Natur, Konzerte bei Tagesanbruch im Weinberg, thematische Konzerte, Wandelkonzerte etc. (Fein 2009: 211). Auch die Erweiterung der visuellen Ausdrucksmöglichkeiten durch die Medien Light-Design oder Video bereichern die Formensprache dieses Genres zunehmend. Elektronische Musik und Multimedia Elektronische Musik und Multimedia-Kompositionen sind seit einigen Jahren auf dem Weg, der Freien Musiktheater-Szene neue Impulse zu geben. Nachdem die Neue Musik und der Tanz bereits seit vielen Jahrzehnten mit diesen neuen Ausdrucksmitteln arbeiten, hat das Musiktheater diese Techniken lange ignoriert. Georg Hajdu, Komponist und Leiter des Studiengangs »MultimediaKomposition« an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg (HfMT), sieht diese Entwicklung als Teil einer grundsätzlichen Neuausrichtung der darstellenden Künste, welche die Komposition ebenso tangiert wie etwa das Bühnenbild. Allerdings sind die szenischen Arbeiten nicht immer von Erfolg gekrönt: »Es hapert hierzulande derzeit noch an einer gemeinsamen Sprache für diesen Bereich« (Hajdu 2011). Hajdu verweist als Positivbeispiel auf die Niederlande, in denen die Entwicklungen auf dem Terrain der Multimedia-Inszenierung bereits viel weiter vorangeschritten sind (Hajdu 2011). Sonstige Formen Neben diesen Formen gibt es weitere Musiktheater-Gattungen, die im Freien Theater vertreten sind, deren Profil allerdings nicht genuin ein freies ist – das betrifft etwa den Liederabend oder die Mischform Sprechtheater/Musiktheater. Der Liederabend ist inzwischen in den Stadttheatern fest beheimatet, wenngleich die Liederabende von Erik Gedeon oder Franz Wittenbrink auch nicht im Ansatz mit der szenischen Eigenständigkeit eines Marthaler-Abends zu vergleichen sind.

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Mischformen aus Sprechtheater und Musiktheater wie etwa die Semi-Operas von Henry Purcell wurden von findigen Intendanten oder Dramaturgen der Mehrspartentheater in den letzten Jahren entdeckt, da sie sich grundsätzlich innerhalb der vorgegebenen Produktionsabläufe umsetzen lassen.

AUF DEM W EG ZU DEN G OLDENEN Z WANZIGERN F REIEN M USIKTHEATERS

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Dass viel zusammenkommen muss, um eine Musiktheaterinszenierung glücken zu lassen, stimmt heute ebenso wie zu Felsensteins Zeiten. Welches wären die wichtigsten Gebiete, um das Freie Musiktheater voranzubringen? Erfreulich ist in jedem Fall, dass sich in den vergangenen Jahren ein neues und positives Selbstverständnis unter den Akteuren des Freien Musiktheaters entwickelt hat. So gibt es etwa den Komponisten-Performer, der grundsätzlich performativ denkt und auch gern selbst an der Performance mitwirkt. Oder etwa die Vokal-Performerin, die ihre Stimmarbeit nicht auf den Bereich des Operngesangs eingrenzen lassen möchte. Oder es gibt den Typus des Dirigenten-Perfomers, der an einer Integration von performativen Elementen in die musikalische Aufführung aktiv mitgestaltet. Meines Erachtens sind es allerdings zwei Bereiche, in denen das Freie Musiktheater noch großen Nachholbedarf hat. 1. Abgleich zwischen den Produktionsstrukturen Auf lange Sicht kommen die Staatsopern und Stadttheater an einer Öffnung in Richtung der Freien Szene nicht vorbei. Allerdings sind auf diesem Weg noch viele Hürden zu überwinden. So stöhnt etwa Thomas Fiedler, MusiktheaterRegisseur und Grenzgänger zwischen Freier Szene und Stadttheater: »Ich bekomme in Berlin erstklassige Musiker, die die schwierigsten Kompositionen auf dem Kopf stehend bewältigen, doch ein Streichquartett an einem Stadttheater zu bekommen, das ist nicht möglich, weil das tarifvertraglich anders geregelt ist« (Fiedler 2011).

Und Xavier Zuber, Dramaturg an der Oper Stuttgart und Leiter der zeitoper, formuliert: »Wenn man andere Produktionsformen nachhaltig im Stadttheater integrieren will, muss man diese quasi als Theater im Theater denken. Nur auf diese Weise ist es zu leisten, dass

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der tradierte Vorstellungsbetrieb und die Experimentierformen adäquat behandelt werden« (Zuber 2011).

Derzeit haben solche grenzgängerischen Projekte allerdings noch den Charakter des Singulären. »Einmal pro Spielzeit gelingt es, so ein Projekt zu realisieren« (Zuber 2011). Doch auch Modelle der friedlichen Koexistenz nach Nürnberger Vorbild sind grundsätzlich denkbar. Erfreulicherweise hat die Kulturstiftung des Bundes mit dem Programm »Doppelpass« einen hohen Betrag für Kooperationsprojekte zwischen Freier Szene und Stadttheater zur Verfügung gestellt. Es ist zu hoffen, dass dieses Förderinstrument auch dem einen oder anderen Freien Musiktheater-Projekt zugutekommt. 2. Die Etablierung eines eigenständigen Musiktheater-Diskurses Wie die Freie Musiktheater-Szene selbst ist auch der Freie Musiktheater-Diskurs derzeit noch eine randständige und regionale Angelegenheit. Er läuft zwar in Publikationen wie etwa in »Theater der Zeit« oder in den Opern-Monatsmagazinen so irgendwie mit. Aber noch diskutieren Theatermacher, Theaterwissenschaftler, Publizisten und Entscheidungsträger viel zu oft nur in ihrer eigenen Sub-Szene.2 Auch fehlt hierzulande ein ernstzunehmendes Festival für zeitgenössisches Musiktheater, das die Anstrengung unternimmt, die besten Arbeiten nebeneinander zu präsentieren. Die dringend erforderliche Qualitätsdiskussion kann jedoch nur gelingen, wenn sich die unterschiedlichen Sub-Szenen vernetzen, auch wenn dann vielleicht mal die Positionen heftig aufeinanderprallen. Ach, flögen endlich einmal wieder die Fetzen im Freien Musiktheater! Wie froh wäre man doch über jeden Hinweis darauf, dass es da noch etwas auszutragen gibt, anstatt dass alle einander nur immer wieder versichern, welch schützenswerte Kulturlandschaft man da hegt und pflegt.

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Allerdings lässt sich erfreut feststellen, dass sich die Musikwissenschaft seit einigen Jahren intensiver der zeitgenössischen Formen des Musiktheaters annimmt.Vgl. hierzu etwa den Aufsatz von Betzwieser (2011).

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L ITERATUR Beer, Monika (1999): »Dort, wo das Leben tobt«, in: Opernwelt. Das internationale Opernmagazin (9-10/1999), S. 49. Betzwieser, Thomas (2011): »Von Sprengungen und radialen Systemen: das aktuelle Musiktheater zwischen Institution und Innovation – eine Momentaufnahme«, in: Mungen, Anno (Hg.): Mitten im Leben? Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance.Thurnauer Schriften zum Musiktheater 23, Würzburg, S. 149-164. Brecht, Bertolt (1989): »Die Dialektik auf dem Theater«, in: Schriften zum Theater, 21. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 14. Fein, Markus (2009): »Musikkurator und RegieKonzert«, in: Tröndle, Martin (Hg.): Das Konzert – Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form. Bielefeld: transcript, S. 211-237. Felsenstein, Walter (1976): »Methode und Gesinnung – Vortrag in der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien« (1963), in: Stompor, Stephan (Hg.): Schriften zum Musiktheater, Berlin: Henschel, S. 118. Felsenstein, Walter (1976): »Die Operninszenierung« (1957), in: Stompor, Stephan (Hg.): Schriften zum Musiktheater, Berlin: Henschel, S. 67-71. Fiedler, Thomas (2011): Gesprächsnotizen, basierend auf Telefoninterview von Hans-Jörg Kapp (05.08.2011). Goebbels, Heiner (2002): »Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste«, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Komposition als Inszenierung, Berlin: Henschel, S. 135-138. Hajdu, Georg (2011): Gesprächsnotizen, basierend auf Telefoninterview von Hans-Jörg Kapp (04.08.2011). Roesner, David (2010): »Die Utopie ›Heidi‹ – Arbeitsprozesse im experimentellen Musiktheater am Beispiel von Leo Dicks Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat?«, in: Röttger, Kati (Hg.): Welt – Bild – Theater. Band I: Politik des Wissens und der Bilder, Tübingen, S. 221-234. Ubenauf, Malte (2011): Gesprächsnotizen, basierend auf Telefoninterview von Hans-Jörg Kapp (12.08.2011). Zuber, Xavier (2011): Gesprächsnotizen, basierend auf Telefoninterview von Hans-Jörg Kapp (02.08.2011).

»Warten Sie nicht auf das Theater!« Notizen aus der Ungewissheitszone E STHER B OLDT

Festival Theaterformen, Hannover, 23.06.11 Allein steigt man ins Halbdunkel des Schiffsbauchs hinab. Im Winkel spielt eine Geige sich selbst, Schlagzeugklöppel trommeln gegen den Bug, getrieben von einem Mechanismus aus Seilzügen. In einem engen Parcours roher Holzregale durchläuft der Zuschauer eine Ausstellung seltsamer Miniatur-Maschinerien: In einer Wasserflasche erzeugt ein Magnetfeld einen Strudel, ein Mülleimerdeckel klappt auf und zu, ein Röhrenradio rauscht plötzlich auf und eine Plastikblume erblüht. Dazwischen sitzen oder stehen kleine Figuren in Holzkisten und starren selbstversunken hinauf zu einem Ort, von dem der Betrachter nichts weiß. Oder auf ihre Füße. Im »Ship O’Fools« (2010) von Janet Cardiff und George Bures Miller werden Reste und Dachbodenfunde zu Ausstellungsstücken, gerahmt, ausgeleuchtet und mechanisch belebt durch Hebel- und Zugmechanismen. Dinge, die sonst am Rande unserer Wahrnehmung liegen, werden in ihr Zentrum gerückt und fordern uns heraus: Eins zu eins, gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht, wird der Betrachter konfrontiert mit einem Arsenal der Verlassenheit, das ihn zugleich anzieht und zurückweist, da die Inszenierung der Dinge eine Sinngebung suggeriert, die sich jedoch nicht erschließen will. Auch wenn das Schiff stillsteht, versetzt es ihn in Schwanken. In den Nachbarschaften der Dinge sucht er nach Verwandtschaftsbeziehungen und kleinen Geschichten, doch die Apparaturen klappern und klopfen, rasseln und sirren in ihrem selbstgenügsamen Rhythmus weiter, und Plastikblüte und Bohnenbüchse gehen kein stabiles Verhältnis ein.

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Ist das nun Theater? Diese chinesische Dschunke mit ihrem schnitzereiverzierten Bug und den verblendeten Fensterluken, aufgebockt vor der Hannoveraner Oper, ein elf Meter langes gestrandetes Modell jenes großen Bruders, mit dem Captain Jack Sparrow seit einigen Kinosommern die Weltmeere unsicher macht? Ist es ein »underground workshop«, wie die Künstler es nennen? Oder ein »Percussionsinstrument«, wie die Theaterkritikerin Dagmar Walser vorschlägt? Es weist dem Betrachter einen ambivalenten Ort zu: Ist er nun Zuschauer, Flaneur, Beobachter oder gar Teilzeitperformer – aktualisiert sich die (Un-) Ordnung der Dinge doch erst in seiner Bewegung und seiner Wahrnehmung? Gerade das stete Changieren zwischen Wahrnehmung und Sinnaufschub, zwischen Weltwerden oder Sinnstiftung und barer sinnlicher, dinglicher Gegebenheit zeichnet das »Ship O’Fools« aus – ebenso wie andere Hybridformen und Bastarde, die in den letzten Jahren in Grenzbereichen des Theaters gesprossen sind. Hier treffen disparate Prinzipien und Inszenierungsweisen verschiedener Künste aufeinander, Künstler entleihen anderen künstlerischen oder auch wissenschaftlichen Disziplinen Methoden und Strategien der Darstellung und Analyse von Gegenständen und greifen damit jeweils unterschiedlich in unser Wirklichkeitsgefüge ein. Sie entfremden diese Strategien durch Kontextverschiebung, öffnen die Felder aufeinander hin und richten in dieser Öffnung eine Ungewissheitszone ein. In dieser temporären Zone gehen die Disziplinen gerade nicht nahtlos ineinander auf, vielmehr treten dort mit den unterschiedlichen Strategien und Verfahrensweisen auch verschiedene Gesellschafts- und Wissensordnungen in eine (mitunter konflikthafte) Auseinandersetzung. Mit Jacques Rancière ist die Gleichgültigkeit der Gattungen, die einen Ort der Äquivalenz schafft, Voraussetzung dieser Auseinandersetzung verschiedener Gesellschafts- und Wissensordnungen (Rancière 2002). Gehen diese Ordnungen nicht restlos ineinander auf, wird ein Potenzial im Dritten geschaffen: Es entstehen ein »Ort und Formen für die Begegnung zwischen zwei ungleichartigen Vorgängen« (ders.: 42). Hier tritt eine Störung ins Blickfeld, ein Dissens oder eine Spannung, etwas, was im Theaterraum üblicherweise nicht vorkommt und so gewohnte Weisen der Wahrnehmung und der Sinnproduktion unterbricht. Damit positionieren sich die Grenzbewegungen des zeitgenössischen Theaters in der Geschichte einer Moderne, die mit dem repräsentativen Regime der Künste und seiner hierarchischen Ordnung brach und ein ästhetisches Regime hervorbrachte, das Äquivalenz herstellt: Kunstwerke gelten nicht mehr aufgrund bestimmter Produktionsprinzipien oder Bestimmungsorte als Kunstwerke, vielmehr sind sie »zu gleichberechtigten Bewohnern eines neuartigen gemeinsamen Sensoriums geworden« (Rancière 2006: 75, Hervorhebung im Original). Das immer neue Aufsuchen von Ungewissheitszonen ist konstitutiv für dasjenige Theater,

»W ARTEN S IE NICHT

AUF DAS

T HEATER!«

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welches in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung noch immer unter dem Kampfbegriff »Freies Theater« geführt wird. Für sein Selbstverständnis ist zweierlei zentral: Seine Produktionsweisen und seine Übersetzung von Gegenständen und Verhandlungen des öffentlichen Interesses in künstlerische Vorgänge. Die Entwicklung neuer Organisationsformen und Arbeitsweisen ist hier notwendig verknüpft mit einer Erprobung neuer Inszenierungsweisen. Für beide Prozesse ist mit Henning Fülle der Modus der Unterbrechung wesentlich, der Unterbrechung etablierter Wahrnehmungsweisen und kulturell-gesellschaftlicher Systeme (Fülle 2007). Zu diesen kulturell-gesellschaftlichen Systemen gehören auch die künstlerischen Genres, die dieser Buchabschnitt verhandelt. Unter welchen Voraussetzungen kann hier also von Gattungen des Freien Theaters die Rede sein? Wozu nützt der Genrebegriff? Mit der Anfrage, ihn für diese Publikation zu reflektieren, geht auch einmal mehr der Auftrag einher, als Kritikerin und Autorin in der Gegenwart die Zukunft zu lesen, künstlerische Entwicklungen auszumachen und anhand ihrer Prognosen auszusprechen. Doch wie werden künstlerische Tendenzen sichtbar, und wie werden sie sichtbar gemacht? Wie artikuliert sich in den Grenzüberschreitungen zwischen den Genres Zeitgenossenschaft?1 Wenn Formatentwicklungen im engen Zusammenhang mit institutionellen Strukturen und ihrer Kritik sowie mit der Entwicklung anderer Arbeitsweisen stehen (Kunst 2011), so kann man zudem nicht über Gattungsfragen sprechen, ohne Produktionsbedingungen zu thematisieren – heute mehr denn je. Denn jene als experimentell und subversiv eingeführten, projektgebundenen und flexiblen Arbeitsweisen, die die schweren Tanker der großen Institutionen infrage stellen sollten, sind längst von ihnen selbst adaptiert worden: »Zeitgenössische Institutionen müssen progressiv, dynamisch und flexibel sein« (dies.: 25). Wo die flexiblen Kulturarbeiter zur Avantgarde einer sich mobilisierenden Dienstleistungsgesellschaft erklärt werden, greifen die etablierten Abgrenzungsstrukturen nicht mehr, die konstitutive Forderung nach Widerständigkeit, Politisierung und Innovation muss notwendig immer wieder neu überprüft werden. Diese Problemstellungen skizzieren den Kontext der folgenden Überlegungen, die eine notwendig unvollständige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation mit Rezeptionserfahrungen verbin1

Zeitgenossenschaft ist in den letzten Jahren zu einem höchst wirkmächtigen Kriterium geworden, das »modern« und »postmodern« weitgehend abgelöst hat und die Kunst in einer ewigen Gegenwart verhaftet (vgl. Belting 2010). Während die künstlerischen Avantgarden der Moderne »in die Zukunft strebten, um die bloße Zeitgenossenschaft abzuschütteln und eine neue Welt zu entwerfen« (ebd.), soll Zeitgenossenschaft die Kunst des 21. Jahrhunderts vielmehr in der gesellschaftlichen Gegenwart verankern und ihre Relevanz für ebendiese ausweisen.

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den, in den Linien der Gegenwart jedoch nur bedingt Stoßrichtungen einer Zukunft aus- und bedeuten sollen. PACT Zollverein, Essen, 07.07.11 Vor einer schwarzglänzenden Wand stehen fünf Tänzer, ein scheinbar regloses Tableau aufrechter Kreuze und hängender Arme. Langsam werden minimale Bewegungen erkennbar, eine Hand dreht sich im Gelenk, ein Schulterblatt sinkt herab, ein Brustbein kreist und das Bild versetzt sich in Bewegung. Mit den anschwellenden Feedback-Schleifen weiten die Tänzer allmählich ihren Radius aus, nehmen Raum in Anspruch. Gemeinsam und jeder für sich schaffen sie eine energetische Landschaft aus detailreichen kinetischen Skulpturen, durchbrandet und getragen von den Vibrationen der Live-Musik aus Elektronik und Schlagzeug, die bald auch die Organe des Zuschauers in Schwingung versetzen. Wellenförmig branden Bewegung und Musik immer höher empor, der Modus der Steigerung betrifft in Meg Stuarts »Violet« (2011) alles: Musik, Performance, Licht. Lautstärke und Vibration bilden einen gemeinsamen Raum aus, der Bühne wie Publikum umfasst. Zugleich abstrahiert die Lautstärke die Physis der Tänzer, da ihre Erschöpfung unhörbar bleibt, vielmehr werden sie zu Körper-Bildern von Energieproduktion, die stoisch das Bühnengeschehen vorantreiben: höher, weiter, schneller. Sie sind ex-zentrische Subjekte, die sich durchpulst und vorangetrieben vom Rhythmus der Zeit veräußern und in exzesshaften Szenenieren disparate Schauplätze der Gegenwart aufrufen: Schlachtfelder des Kampfes gegen den Terror, den atomaren GAU von Fukushima und andere Krisengebiete, aber auch den Technoklub, die Überproduktion, das Turbokapital, den Exorzismus. In »Violet« entwickelt Meg Stuart aus einem Tableau einen energetischen Raum-Körper und schafft ein Bewegungsstück, das höchst konsequent mit den Extensionen und Intensitäten des Körpers arbeitet. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat die Choreografin oft an der Schnittstelle zu anderen Künsten gearbeitet, unter anderem mit Bildenden Künstlern, Filmemachern und Komponisten. Nun spricht sie selbst davon, zur Bewegung als »primärem Motor« – und damit zum Tanz – zurückzukehren. Was also leisten Gattungsbezeichnungen? Ihre Verwendung setzt die Existenz von Distinktionsmerkmalen voraus, die künstlerische Arbeiten eindeutig als Tanz, Schauspiel, Performance et cetera klassifizierbar machen. Sie rufen Vorabinformationen und Erwartungshaltungen beim Zuschauer auf, sie »stellen […] Kontexte bereit, in denen die Stücke jeweils rezipiert werden und in denen sie ihre Wirkung entfalten« (Siegmund 2006: 85) und bestimmen folglich bis zu einem gewissen Grad auch die Aussage. Doch

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nicht nur ästhetisch, auch strukturell und ökonomisch sind diese Grenzziehungen präsent: Sie definieren die Verantwortungsbereiche professioneller Zuschauer wie Intendanten, Dramaturgen, Kritiker und Kuratoren; darüber hinaus regeln sie die Mittelvergabe der öffentlichen Hand nach bestimmten Fördertöpfen und damit Zuständigkeitsbereichen. Einerseits dient der Gattungsbegriff also noch immer der Unterscheidung künstlerischer Produkte, strukturell wie ästhetisch stellt er Kontexte (und Reibungsflächen) bereit und schafft strukturelle Rahmen für ein künstlerisches Ereignis. Andererseits sind Grenzüberschreitungen zwischen den Gattungen zum Teil der Disziplin selbst geworden, der Transfer von Strategien aus Wissenschaft, Bildender Kunst, Musik zum festen Element des künstlerischen Produktionsprozesses. Dabei sind Ungewissheitszonen notwendig temporär und also per se gefährdete Gebiete: Sie laufen Gefahr, strukturell vereinnahmt und damit faktisch ausgeräumt zu werden.2 Ausdruck dieser Ambivalenz sind Begriffsneuschöpfungen als Versuche, den Öffnungsprozessen einerseits nachzukommen, andererseits jedoch Orientierungshilfe zu leisten. So entstand beispielsweise in den 1990er Jahren das unglückliche Gegensatzpaar von »Konzepttanz« und »Tanz-Tanz«. Spielerischer verhandelt das Festival steirischer herbst in Graz diese definitorischen Grauzonen. Seine Veranstaltungen zwischen Bildender Kunst, Musik, Literatur, Theorie, Film und Theater werden als Gemengelagen ausgewiesen, deren Zusammensetzung prozentual errechenbar ist: Die Arbeit »Les spectateurs« (2011) der Regisseurin Lotte van den Berg beispielsweise besteht aus »52% Theater, 31% Bildern, 17% Fremdheit« (steirischer herbst 2011), »Cesena« (2011) von der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und dem Chorleiter Björn Schmelzer weist ein Mischungsverhältnis von »40% Tanz, 10% Schönheit, 40% Gesang, 10% Klarheit« (ders.) auf. Die Umwandlung eines künstlerischen Produktes in ein Tortendiagramm formuliert den Kontext »Gattung« als Fragestellung und benutzt ihn zugleich als Annäherungswert. Auf diese Weise können Genrebezeichnungen und ihre definierenden Parameter Hilfestellung leisten, um sich etwas Neuem anzunähern, für das es noch keine Sprache gibt – fragen diese verschiedenen Formate doch danach, wie wir unsere Wirklichkeit erfahren: »Wie wird sie uns gegeben, wie wird sie repräsentiert?« (Siegmund 2006: 83).

2

So wurden in den letzten zehn Jahren beispielsweise die neuen Formatentwicklungen »Lecture Performance« und »Doku-Theater« rasch zum Label: Im Zuge des Erfolges von Arbeiten unter anderem Xavier Le Roys, Jérome Bels sowie des Regietrios Rimini Protokoll etablierten sich bestimmte künstlerische Strategien als zuverlässige Problemlösungen. Versuchsanordnungen werden so inkorporiert und gerinnen zu Lösungsmodellen, entgegen anderer Vorzeichen wird der Horizont wieder geschlossen.

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Damit adressieren sie auch das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen sowie die Frage, wie sich eines ins andere verwandelt. Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main, 28.06.11 Diese Welt hat System. Und sie ist in höchstem Maße endlich: In 8:31 Minuten wird sie untergehen, denn so lange braucht das letzte Licht der Sonne nach ihrer Explosion, um zur Erde zu reisen. Höchste Zeit also für eine letzte Bestandsaufnahme und etwaige Neuordnung von allem, was wir haben: Eine aus rohen Dachlatten gezimmerte Insel bedeckt den Boden der Studiobühne, aus ihr erwachsen Tische, auf denen sich Objekte, Karteikarten, Briefe und Zeitungsausschnitte anhäufen – ein Tisch stellt beispielsweise »254 Gebrauchsgegenstände, Objekte und vergessene[] Memorabilia« aus, ein anderer »107 Dinge, die in einer geschlossenen Hand verschwinden können« (Herbordt und Mohren 2011). Kopfhörer und MP3-Player mit zwei Tonspuren liegen bereit, auf zwei Flachbildschirmen läuft der Countdown. Eine Reihe gewaltiger Papierrollen bedeckt eine Wand, Inventarlisten hängen neben einem durchnummerierten Katalog von 170 Fragen, sie bilden das unheimliche Herz dieser eigenwilligen Sammlung. Ein komplexes Verweissystem aus Inventarzetteln ordnet ein jedes Ding einer Frage zu: Eine Antwort auf die Frage 1067, »Wie werden Welten gemacht?«, findet sich in Form eines Glases mit Schraubverschluss, versehen mit der handschriftlichen Notiz: »ein einfaches Glas mit Mücken, Fliegen und anderen Insekten«. Neben ihm liegt ein von Paketband zusammengeschnürter Stapel Landkarten mit der Bemerkung: »eine Sammlung alter Stadtpläne und Karten«, bezugnehmend auf Frage 1057: »Wo versammeln wir uns?«. Fürderhin versammeln wir uns hier, in diesem temporären Archiv, eingerichtet in einer Black Box. Und während man Stöße von Zetteln, Fotografien und Zeitungsartikeln sichtet und den Stimmen im Kopfhörer lauscht, kann man verhohlen andere Besucher dabei beobachten, wie sie sich ihren Weg durch das disparate Material bahnen, ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagern, im Raum auf- und abgehen. »Welterzeugung«, besagt ein Zitat von Nelson Goodman zur Frage 1067, »beginnt mit einer Version und endet mit einer anderen«. Streunend zwischen Objekten und Listen, sich verzettelnd und wiederfindend auf der Fährte bestimmter Fragen, werden in »Alles was ich habe #5: Zuschauen« (2011) von Herbordt/ Mohren solche Versionen der Welterzeugung entworfen, unvollständige und flüchtige Utopien. Die ungefüge Materialanhäufung des Recherche- und Archivprojektes »Alles was ich habe« (2009-2011) spannt Netze um das Kernzentrum der 170 Fragen. Netze, durch die sich der Besucher frei bewegen kann (und deren Parameter sich

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mit jedem Schritt verändern), um anhand des angesammelten, selektierten und vorsortierten Materials eigene Verknüpfungen zu erstellen oder sich mit Hilfe zweier Tonspuren einen Weg hindurch zu bahnen. Seit 2009 hat das Künstlerduo Herbordt/Mohren ausgehend von den Fragen ein stetig wachsendes Archiv angelegt, das für jede Version des langfristig angelegten Projektes neu sortiert und präsentiert wird. Diese Präsentationen nennen sie »Inszenierte Ausstellung«, das »Ship O’Fools« wurde vom Festival Theaterformen als »begehbare Installation« angekündigt. Beiden installativen Anordnungen ist gemein, dass sie ohne Darsteller, Performer oder Schauspieler, also ohne leibliches Gegenüber auskommen: Im Narrenschiff begegnet der Betrachter einem Arsenal bewegter Objekte und musikalischer Apparaturen, im begehbaren Archiv kann er Fragmente von Weltordnungen nach eigenem Gutdünken zusammenfügen – oder sich bei der Recherche zum Schöpfungsakt gründlich verlieren. Obgleich sie im institutionellen Kontext des Theaters präsentiert werden, weisen beide Arbeiten also ein Grundmoment des Theaters nicht auf, das stets als sein Alleinstellungsmerkmal gehandelt wird: die leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern. »Theater ist nicht allein der Ort der schweren Körper, sondern auch der realen Versammlung […]. Im Unterschied zu allen Künsten des Objekts und der medialen Vermittlung findet hier sowohl der ästhetische Akt selbst (das Spiel), als auch der Akt der Rezeption (der Theaterbesuch) als reales Tun in einem Hier und Jetzt statt« (Lehmann 2001: 12).

Beide Arbeiten aber folgen einer zeitlichen Dramaturgie, in der der Rezipient das Relationssystem Raum handelnd konstituiert und die jeweils besondere Räume der Zusammenkunft schafft: Den Takt des Narrenschiffes bestimmt ein sechsminütiger Loop, der die Bewegung aller Objekte und Instrumente gliedert. Da zudem jeder Besucher den Schiffsbauch einzeln betritt, wird auch das gemeinsame Warten auf Deck, das Lauschen auf Untergrundgeräusche und Beobachten des heraufziehenden Nebels, alsdann das einsame Verschwinden und Wiederauftauchen zum Teil dieser Inszenierung. »Alles was ich habe #5: Zuschauen« wird strukturiert durch einen Lichtverlauf, eine 8:31-minütige Dämmerung. So wird ein »Environment« geschaffen, ein Raum-Zeit-Gefüge oder ein »begehbarer Zeitraum« (Melanie Mohren), in dem der Betrachter sich frei bewegen und mit dem er selbstbestimmt in Dialog treten kann. Allerdings wird dieser Raum durchaus manipuliert, führt der Zeitstrahl doch die Rezeption ins Dunkel und damit an ihr (vorübergehendes) Ende. Dabei diffundiert die »Grenze zwischen Gegenstand der Beobachtung und der Beobachtung selbst« (Brandstetter 2005: 75) so weit, dass die Stellen von Rezeption und Performanz in unmittelba-

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re Nachbarschaft fallen. In »Alles was ich habe« sogar im doppelten Sinne: Aufgrund der gleichzeitigen Anwesenheit von zehn bis fünfzehn Besuchern entsteht eine temporäre Gemeinschaft, in der jeder Besucher auch zum Performer werden kann, von den anderen beobachtet oder gar verfolgt. Die Tonspur fordert zu beidem auf: Zur Beobachtung und Imitation anderer Besucher wie zur Performance, beispielsweise durch das Ausführen bestimmter Bewegungsmuster. Beide Arbeiten schaffen folglich »Situationen, in denen Kommunikation erprobt, provoziert, intensiviert, neu gestaltet werden kann« (Lehmann 2009: 78), die Art und Weise, in der Theater Gemeinschaft stiftet, ist hier zunächst unselbstverständlich und steht also neu zur Verhandlung. Der Rezipient betritt Räume, die Modelle oder »die Fiktion einer anders funktionierenden Welt« erzeugen (Bourriaud 2009: 106, Hervorhebung im Original) und in denen das Theater sein Gegenüber wechselt. Im »Ship O’Fools« wird Randständiges ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt, und »Alles was ich habe« schlägt Neuordnungen des Kosmos vor. Somit verknüpfen sich in beiden Projekten diverse Materialien zu alternierenden Wissensordnungen und Universen, die die Frage nach ihrer Rahmung von vornherein ins Spiel bringen und aufs Spiel setzen. Der Blick des distanzierten Zuschauers hat sich gewandelt, er ist Leib geworden in der Durchquerung des Raumes. Er wird zur determinierenden Kraft oder Energie, die Geschehnisse (mit)erzeugt; er ist ein Flaneur, und seine Bewegungs- ist eine Erkenntnisform. Im Echo seiner Schritte gilt es, die Begriffe in Bewegung zu halten, sie nicht zu fixieren, sondern künstlerische Genres im Lichte der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu abzutasten und zu befragen. Denn, wie es auf der Tonspur 1 von »Alles was ich habe« heißt: »Warten Sie nicht auf das Theater!«. Es hat bereits begonnen.

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L ITERATUR Belting, Hans (2010): »Was bitte heißt ›contemporary‹?«. Online: http://www. zeit.de/2010/21/Global-Art [03.11.2011]. Bourriaud, Nicolas (2009): Radikant, Berlin: Merve Verlag. Brandstetter, Gabriele (2005): »Figuration der Unschärfe. Der (un)beteiligte Betrachter«, in: Texte zur Kunst, Berlin, S. 75-79. Cardiff, Jane/ Miller, George Bures (2010): Ship O’Fools. UA Luminato Festival Toronto (Kanada). Fülle, Henning (2007): »Sprengung der Normative – oder: Warum man nicht länger von ›Politik im Freien Theater‹ sprechen sollte«, in: Fonds Darstellende Künste/ Jeschonnek, Günter (Hg.): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven. Bonn: Klartext Verlag, S. 66-70. Herbordt/Mohren (2010-2011): Alles was ich habe #1- #5. UA am 11.07.2010, Berliner Sophiensaele. Kunst, Bojana (2011): »Jenseits von Projektkultur«, in: Mackert, Josef/ Goebbels, Heiner/ Mundel, Barbara (Hg.): Heart of the City. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft. Arbeitsbuch Theater der Zeit 2011, Berlin: Theater der Zeit, S. 24-29. Lehmann, Hans-Thies (2001): Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren. Ders. (2009): »Marx und Theater lesen – zwanzig Jahre nach der Wende«, in: Flierl, Thomas/ Raddatz, Frank M. (Hg.): WeltenWende. Arbeitsbuch Theater der Zeit 2009, Berlin: Theater der Zeit, S. 77-79. Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books Verlag. Ders. (2002): Das Unvernehmen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Siegmund, Gerald (2006): »Diesseits von Eigentlichkeit und Identität. Über die Verschiebung und Auflösung der Genregrenzen zwischen Theater, Tanz und Bildender Kunst«, in: Deuflhard, Amelie (Hg.): Spielräume produzieren. Sophiensaele 1996-2006, Berlin: Theater der Zeit, S. 83-87. Steirischer Herbst (2011): Les spectateurs. Online: http://www.steirischerherbst. at/2011/deutsch/kalender/kalender.php?eid=23 [03.11.2011]. Steirischer Herbst (2011): Cesena. Online: http://www.steirischerherbst.at/2011/ deutsch/kalender/kalender.php?eid=3 [03.11.2011]. Stuart, Meg (2011): Violet. UA am 07.07.2011, PACT Zollverein Essen. Walser, Dagmar (2011): »Das »Ship o’Fools« liegt in Berlin vor Anker«, Interview DRS 2011. Online: http://www.drs.ch/www/de/drs/sendungen/drs2ak tuell/2643.bt10184102.html [22.10.2011].

D.

Das Freie Theater und seine Strukturen

Von den Anfängen des Bundesverbandes Freier Theater bis heute Versuch einer Rekonstruktion M ARTIN H EERING

»Einen Interessenverband Freier Theater zu gründen – das gehörte nicht zu unseren ersten Gedanken. Wir schufen zuerst unsere Theater, ziemlich aus dem Nichts, anderswo und auch hier in Niedersachsen. Es gab einige Vorbilder in Amerika, Straßentheater, es gab das Living Theatre, die Tradition des russischen Theateroktobers und die großen Meister Brook und Grotowski, die uns prägten. Es gab die ersten Gruppen in München und natürlich in NRW, die wunderbare Arbeit der Kollegen um Peter Möbius [von Hoffmanns Comic Teater, Anm. MH], in Berlin die Rote Grütze, das Grips – die lange Zeit die Spannbreite eines damals noch offensichtlicher politisch orientierten Theaters ausmachten. 1

Aber viel mehr gab es nicht« (Henze 2011) .

So erinnert sich Peter Henze an die Zeit der Anfänge des Landesverbandes Freier Theater in Niedersachsen, die nahezu zeitgleich mit denen des Bundesverbandes Freier Theater liegt. In beiden Zusammenhängen spielte der Mitinitiator der 1976 gegründeten Theaterwerkstatt Hannover eine Rolle. Folgt man seinen Erinnerungen weiter, dann war die Gründung eines Bundesverbandes weder zwangsläufig noch unumstritten: »Einige der Kollegen hielten eine solche Vereinigung nicht für notwendig, hatten wir uns doch so oft gegen feste Strukturen und Verbände ausgesprochen – andere spürten, wenn

1

Ich bedanke mich bei Peter Henze für die Überlassung seiner Aufzeichnungen zu seinem Festvortrag anlässlich des 20. Jubiläums des Landesverbandes Freier Theater in Niedersachsen, gehalten am 07.11.2011 in Hannover.

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wir mehr sein wollten als eine temporäre Erscheinung, dann mussten und wollten wir uns gemeinsam formulieren gegenüber der Politik« (ebd.).

Dass sich 1990 der Bundesverband Freier Theater gründete, war sicher Ergebnis dieser Abwägung. Freilich hatte es Vorläufer gegeben: So schlossen sich einige Gruppen aus der gesamten Bundesrepublik 1977 zur Initiative für Freie Theaterarbeit (IFTA) zusammen, die bis in die 1980er Jahre hinein als nichtinstitutionalisierte (und nichtsubventionierte) Interessenvertretung und Informationsbörse der Freien Theater bestand. Die Aktivitäten der IFTA wurden, zumindest zeitweise, durch das legendäre Hoffmanns Comic Teater gemanagt. Die Themen des Zusammenschlusses waren ganz aus dem Selbstverständnis einer politischen Theaterarbeit formuliert: Ein Buch zur Zensur entstand, man setzte sich mit den Mechanismen der Kulturförderung als Ausschluss politisch relevanter Theaterarbeit auseinander und diskutierte die affirmativen Tendenzen der neu entstehenden Kulturarbeit-Studiengänge (vgl. Rohberg 1981).

S ICH GEMEINSAM GEGENÜBER P OLITIK FORMULIEREN

DER

Die Geschichte der IFTA verläuft indes im Dunkeln. Einige der IFTA-Aktivisten tauchen jedoch noch heute in den Mitgliederlisten der Landesverbände Freier Theater auf, und so darf man vermuten, dass der Bundesverband Freier Theater ein neuer Anlauf zu einer nun verbindlicheren Organisation war. Treibend waren die Kolleginnen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, denen aus einer gewerkschaftlichen Orientierung heraus Organisationspolitik näher war als manch anderen. Bereits seit 1985 bestand die Kooperative Freier Theater NRW als wohl erster Landesverband Freier Theater. Und so wundert es nicht, dass das Gründungstreffen des Bundesverbandes in Herne, dem damaligen Sitz des Theaterbüros der Kooperative stattfand. Über 300 Theaterschaffende sollen es gewesen sein, die am 24. März 1990 in die »Flottmannhallen« nach Herne kamen, um über »Sinn und Zweck« eines gemeinsamen Verbandes zu diskutieren, wie es in dem damaligen Aufruf hieß. Aus den in Herne Versammelten wurde eine Gründungsversammlung. Vier regionale Zusammenschlüsse – die Kooperative Freier Theater NRW, der Landesverband Freier Theater Hessen, SPOTT Berlin (Selbsthilfe-Projekt von OffTheatern und Theatergruppen) und der Verein zur Förderung der Professionellen

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Freien Theater in Norddeutschland – und einige Einzelmitglieder bildeten den Kern des neuen Verbands. Die ersten Ziele des Bundesverbands Freier Theater waren in einem NeunPunkte-Katalog zusammengefasst. Er enthielt, neben der naheliegenden allgemeinen »Interessenvertretung in struktureller und finanzieller Hinsicht für die Freien Theater« und der damit verbundenen Mitwirkung in kulturpolitischen Vereinigungen, zahlreiche sehr konkrete Aufgaben: »Informationen der Mitglieder über Festivals und Zuschussmöglichkeiten«, »Weitergabe von Arbeitsgesuchen«, »Schaffung von attraktiven Fortbildungsangeboten«, »Kampagne für faire Einnahmeteilung und Verträge mit Veranstaltern« sowie die »Verbesserung der sozialen Sicherheit der Freien Theater«. Ebenso nahm der Verband sich die »Kontaktaufnahme zu Freien Theatergruppen in der ehemaligen DDR« vor.

E NTWICKLUNG DER L ANDESVERBÄNDE . E NGE K OOPERATION MIT DER K ULTURPOLITIK Schon sehr bald gründeten sich in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz/Saarland neue (oder aus den Regionalverbänden hervorgehende) Landesverbände und wurden bis Ende 1991 Mitglied des Bundesverbands. Schnell hatte man sich so von der anfangs vorgesehenen Mitgliedschaft von regionalen »Zusammenschlüssen Freier Theater« verabschiedet. Der Bundesverband sollte – das wurde 1992 auch im Zuge einer Satzungsänderung festgehalten – als Zusammenschluss von Landesverbänden agieren. Dabei erwies sich bald, dass eine enge und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Kulturverwaltungen der Länder von entscheidender Bedeutung für die Arbeit dieser Landesverbände sein sollte. Eine aufgeschlossene Landeskulturpolitik begünstigt bis heute nicht nur die Arbeit der Verbände, sondern in der Folge auch ihre Wirkungsmöglichkeiten für die positive Entwicklung einer qualitätsbewussten professionellen Szene. So konnte der Landesverband Niedersachsen, der fast unmittelbar nach seiner Gründung 1991 durch das Kulturministerium institutionell gefördert wurde, für die niedersächsischen Theater über viele Jahre eine zentrale Stellung in der Freien Theaterszene erarbeiten und behaupten, weil er in enger Kooperation mit der Kulturpolitik des Landes ein schlüssiges Förderinstrumentarium für Freies Theater entwickelt hat. Aufgrund gänzlich anderer Voraussetzungen gelang die Gründung von Verbänden in den nach 1989/1990 neu gegründeten Bundesländern nicht sogleich. Das Freie Theater hatte hier eine von den alten Ländern grundverschiedene Entstehungsgeschichte, die sich in den 1990er Jahren naturgemäß auch in einer zeit-

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versetzten Institutionalisierung bemerkbar machte (vgl. Büscher/ Schlewitt 1991). Erste »offizielle« Begegnungen zwischen Freien Theatermachern aus Ost und West, wie etwa ein Treffen des Bundesvorstands 1991 mit Kolleginnen und Kollegen in Jena, blieben ohne institutionelle Folgen. 1995 dann gründeten Freie Theaterschaffende aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen auf eigene Initiative die Theaterkooperative Ost (TKO). Dieser länderübergreifende Zusammenschluss wurde bis zu seiner Auflösung 1997 Mitglied des Bundesverbandes. Während sich in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg daraufhin eigenständige Landesverbände bildeten, die – ebenso wie das bereits 1991 gegründete Landeszentrum Spiel und Theater in Sachsen-Anhalt – nun dem Bundesverband beitraten, blieben Sachsen und Thüringen noch bis 2007 bzw. 2012 ohne eigenen Verband für die professionellen Freien Theater. Heute (Stand 2012) ist der Bundesverband Freier Theater mit Ausnahme von Bremen und Schleswig-Holstein in allen Bundesländern mit eigenen Landesverbänden vertreten.2

D IE 1990 ER J AHRE : K ONKRETE S ERVICEANGEBOTE DIE T HEATER – ABER KEINE G ESCHÄFTSSTELLE

FÜR

Mit der Gründung des Bundesverbandes begann der Bundesvorstand um den ersten Vorsitzenden Stefan Kuntz beherzt, die in Herne aufgestellte Agenda umzusetzen. Schon bald stellten sich erste Erfolge ein, insbesondere in Sachen konkreter Angebote an die Mitglieder. Regelmäßige Rundschreiben – die »OffInformationen« – ermöglichten einen bundesweiten Informationsaustausch, ein Katalog über die Angebote der Freien Theater wurde in Zusammenarbeit mit der INTHEGA (Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen) geplant und mehrfach herausgebracht, der Verband stellte eine Veranstalteradresskartei für die Akquise von Gastspielen zusammen, und nicht zuletzt erschien bereits 1994 mit der ersten Auflage des Survivalkit3 ein seitdem bis heute ständig erweitertes Nachschlagewerk zu allen denkbaren Fragen rund um die Freie Theaterarbeit. Die Anerkennung als Vertretung der Freien Theaterschaffenden erfolgte

2

Kurzfristig existierte Anfang der 1990er Jahre auch ein Verband in Bremen sowie von 1998 bis 2001 in Schleswig-Holstein. Einzelne Theater aus diesen beiden Bundesländern sind seitdem Mitglied in den Landesverbänden Hamburg und Niedersachsen.

3

Zurzeit ist die 8. vollständig aktualisierte Auflage (2010) des von Stefan Kuntz verfassten »Survivalkit. Freies Theater und Freier Tanz« beim Bundesverband Freier Theater sowie im Buchhandel erhältlich.

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schrittweise. So berief das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schon 1992 den Vorsitzenden Kuntz als Vertreter der Künstler in den Beirat der Künstlersozialkasse. Andererseits blieben alle Versuche zur Institutionalisierung des Verbandes, etwa durch die Einrichtung einer auskömmlich finanzierten Bundesgeschäftsstelle, ohne Erfolg. Noch im Gründungsjahr versuchte der Vorstand beim zuständigen Bundesministerium des Inneren und bei der Kulturstiftung der Länder eine Finanzierung des Verbandes zu erreichen. Doch die Antworten blieben mit einem Hinweis auf die grundsätzliche Mittelknappheit sowie die Zuständigkeit der Länder kurz und entschieden: »Deshalb ist eine unmittelbare Projektförderung Ihres Bundesverbandes […] leider nicht möglich.« 4 Man möge sich an den Fonds Darstellende Künste wenden. Statt der erhofften Bundes- oder Landesförderung gewährte indes die Stadt Herne dem Bundesverband in seinen Anfangsjahren eine Projektzuwendung in Höhe von, man staune, 7.500 DM. Das deckte immerhin ein paar Kosten der ansonsten weiterhin ehrenamtlichen Arbeit. Als jedoch die Stadt Herne 1995 verlangte, der Zuschuss an den Bundesverband möge doch für ein Projekt, dass konkret den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Herne zugute komme, Verwendung finden, entschied sich der Verband, auf diese minimale Unterstützung zu verzichten. Die offizielle Geschäftsanschrift wurde ins baden-württembergische Rastatt an den Sitz des dortigen Landesverbands verlegt. Ein zugleich unternommener neuer Anlauf, Bundesförderung zu erhalten, diesmal immerhin mit parlamentarischer Schützenhilfe von einzelnen Bundestagsabgeordneten der Grünen und der Freien Demokraten, wurde jedoch mit den gleichen Argumenten wie 1990 abschlägig beschieden.5 Ebenso ging es mit der vier Jahre später, 1999, beim neu installierten Kulturstaatsminister vorgestellten Initiative, dem Verband einen Reisekostenfonds für die Förderung des Theateraustauschs zur Verfügung zu stellen.

4

So ein Schreiben des zuständigen BMI-Referatsleiters vom 01.10.1990 an den Bundesverband Freier Theater. Ablehnend verhielt sich auch die Kulturstiftung der Länder.

5

Bundesinnenminister Manfred Kanther teilte dazu am 09.11.1995 in einem Schreiben an die Abgeordnete Albowitz die Einschätzung seines Hauses mit: »Der Bundesverband Freier Theater e.V. ist ein Zusammenschluß von sieben Landesverbänden professioneller gewerblicher Theater. Der ihm vergleichbare Verband der öffentlichen Theater, der Deutsche Bühnenverein, wird ebenfalls weder unmittelbar noch mittelbar über die Kulturstiftung der Länder mit BMI-Mitteln finanziert.« – Eine Argumentation, die sich noch lange halten sollte.

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Schon bald zehrte die anstrengende ehrenamtliche Verbandsarbeit ebenso an den Nerven der Akteure wie wohl auch Auseinandersetzungen darüber, wie die Freien Theater »richtig« zu vertreten seien. In der Folge führte man Mitte der 1990er Jahre nach einem Diskussionspapier aus Baden-Württemberg eine zeitlang die Debatte, ob der Bundesverband sich entweder (a) lieber auflösen solle, um als Arbeitsgemeinschaft der Landesverbände fortgeführt zu werden oder (b) versuchen solle, sich bzw. die Geschäftsführung aus eigener Kraft zu professionalisieren. Die Auseinandersetzung verlief im Sande und es blieb beim unbefriedigenden Stand der Dinge. Als Stefan Kuntz im Jahr 2000, zehn Jahre nach der Verbandsgründung, den Vorsitz aufgab, zog er deshalb das etwas launische Resümee: »Der BUFT hat in den letzten Jahren mit viel Selbstausbeutung versucht, einen großen Schritt zu machen heraus aus einer laienhaften Verbandstümelei hin zur Politikfähigkeit« (Kuntz 2000: 73). Der das schrieb, hatte sich seit 1990 so manche interne und externe Anfeindung zugezogen. Doch sein Verdienst ist und bleibt, den Bundesverband Freier Theater mit viel Kraft durch die überaus schwierigen Anfangsjahre gesteuert und so die Basis für die weitere erfolgreiche Arbeit gelegt zu haben. Seine bereits 1992 im Namen der IG Medien anlässlich eines Fachgesprächs zu den Freien Theatern verfasste Stellungnahme an die Mitglieder des Kulturausschusses im nordrhein-westfälischen Landtag ist auch heute noch lesenswert. Die darin geforderte Qualifizierung und bessere Ausstattung von Förderinstrumenten verschiedenster Ressorts auf der Basis einer Evaluation der durch Freie Theater erbrachten Leistungen, insbesondere in der Fläche, hat an Aktualität nicht verloren.6

P ROFESSIONALISIERUNG UND P OLITIKFÄHIGKEIT : K ULTUR -E NQUETE UND F ACHTAGUNGEN Politikfähigkeit, wie Kuntz schrieb, hat der Bundesverband Freier Theater tatsächlich erlangt. Dabei kamen dem Verband nach seinem Ausscheiden zweifelsohne der große Einsatz und die Fähigkeiten im Umgang mit Kulturpolitik und -verwaltung von Kirsten Haß zugute, die Kuntz als Bundesvorsitzende folgte. Haß, seit 1995 Geschäftsführerin des Landesverbandes in Niedersachsen und vertraut mit kooperativer Zusammenarbeit auf landespolitischer Ebene, setzte diesen Stil auch im Bundesverband fort. Ihr Anliegen war es, Vertrauen bei den

6

Schreiben der IG Medien, Fachgruppe Theater, an die Mitglieder des Ausschusses für Kultur des Landtages von Nordrhein-Westfalen vom 25.06.1992. Zur 1992 insgesamt noch recht überschaubaren Förderlandschaft für Freies Theater (vgl. Wagner 1992).

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Partnern zu gewinnen insbesondere auch dort, wo sich im Laufe des zähen Ringens um Anerkennung des Verbandes der eine oder andere ruppige Ton eingeschlichen hatte. Und sie setzte mit ihrem Vorstand, der – auch das war neu – nun zunächst ausschließlich aus hauptberuflichen Geschäftsführern von Landesverbänden bestand, die sich die Arbeit in den verschiedenen Themenbereichen zudem aufteilten, auf eine umfangreiche Informationsarbeit zu den Freien Darstellenden Künsten. Ihr Ziel war eine, wie sie sagt, »diskursfähige Auseinandersetzung im Sinne einer nahezu wissenschaftlichen Herangehensweise an den Gegenstand Freie Theater«7. Aufklärungsarbeit war ja vonnöten. Noch um die Jahrtausendwende, wenn nicht bis heute, wurden die Freien Theater vielfach mit Soziokultur verwechselt – mit oft fatalen Folgen für das Förderverständnis der öffentlichen Hand. Und manch einer konnte oder mochte nicht sehen, dass sich die deutsche Theaterlandschaft durch die kontinuierliche Entwicklung und zunehmende Institutionalisierung des Freien Theaters in professionellen Spielstätten und nationalen wie internationalen Festivals längst auf mehr als nur die eine Säule Stadttheater stützte. Die Fruchtbarkeit dieses neuen Ansatzes der Verbandsarbeit sollte sich in der Debatte um den Bericht der 2003 vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« erweisen. In dem am 15.11.2005 zum Ende der Legislatur vorgelegten Tätigkeitsbericht der Enquete-Kommission wurden die Freien Theater, trotz einer eigens angesetzten Anhörung, kaum nennenswert erwähnt.8 Kirsten Haß erreichte mit einer unter tatkräftiger Mitwirkung von Wolfgang Schneider (Universität Hildesheim), Alexander Opitz (stellvertretender Bundesvorsitzender) und anderen erarbeiteten Eingabe an die inzwischen neu eingesetzte Kommission, dass es im Juni 2006 zu einer neuen Anhörung zum Freien Theater kam. Dass alle in dieser Anhörung vom Bundesverband Freier Theater vorgebrachten Punkte in den Schlussbericht aufgenommen wurden, bezeichnet Haß als den »greifbar größten Erfolg« ihrer Arbeit. 9 Ebenso wirkungsvoll wie die »Kommissionsarbeit« und entscheidend für die weitere Verbandsentwicklung war ohne jeden Zweifel die Zusammenarbeit mit dem Fonds Darstellende Künste. Das betonen alle Akteure aus dieser Zeit ausdrücklich. Der Bundesverband war, vor allem dank der erheblichen Zeitbudgets, die vor allem die Mitglieder des Bundesvorstands neben ihrer eigentlichen Tä7

Gespräch mit Kirsten Haß am 23.01.2012 in Berlin.

8

Vgl. Deutscher Bundestag (2005): »Tätigkeitsbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹, 15. Wahlperiode«, EK-Kultur, AU 15/154 (siehe unter: http:// webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/parlament/gremien/kommissionen/archiv1 5/kultur_deutsch/bericht/taetigkeitsbericht_15wp.pdf [12.02.2012]).

9

Gespräch mit Kirsten Haß am 23.01.2012 in Berlin. Vgl. auch Haß 2006.

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tigkeit in den Landesverbänden aufbrachten, in der Lage, eine pragmatische und auf Überzeugungsarbeit bauende Politik zu verfolgen. Aber er konnte nicht zugleich in erheblichem Umfang die Mitgliedschaft für die Durchsetzung seiner Ziele mobilisieren. Dazu fehlte ihm schlicht die zusätzliche Kraft. Der Fonds hingegen war seit 1985 auf Bundesebene etabliert, pflegte naturgemäß intensive Kontakte zu zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern, hatte die finanziellen Ressourcen und mit Günter Jeschonnek einen engagierten und oftmals hilfsbereiten Geschäftsführer. Auf seine Vermittlung hin kamen zahlreiche Kontakte zustande. Und es war geradezu folgerichtig, dass die Zusammenarbeit im Januar 2006 anlässlich des 25-jährigen Fondsjubiläums im ersten großen bundesweiten Symposium zu den »Förderstrukturen des Freien Theaters in Deutschland« ihren ersten vorläufigen Höhepunkt fand. Über 220 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Bundesländern, Theaterschaffende und Kulturpolitiker waren angereist. In der Dokumentation des Fonds schreibt Günter Jeschonnek durchaus zutreffend: »Das Symposium löste nicht nur bei den Künstlerinnen und Künstlern Initiativen aus; die Mehrheit der Anwesenden sprach von der Einleitung eines Paradigmenwechsels in der Wahrnehmung und Anerkennung der Leistungen des professionellen Freien Theaters in Deutschland« (Fonds Darstellende Künste 2007: 7).

Erstmals war es gelungen, die vielfältigen Stimmen aus der Theaterpraxis und der Verbandsarbeit nicht nur allein in der Kulturpolitik oder allein in der Szene, sondern übergreifend und für eine größere Öffentlichkeit erkennbar auf die zentralen Themen der Freien Theater zu konzentrieren.

K ULTURPOLITISCHE A NERKENNUNG : E MPFANG BEIM B UNDESPRÄSIDENTEN »R EPORT D ARSTELLENDE K ÜNSTE «

UND

Ende 2006 wurde Alexander Opitz aus Baden-Württemberg Bundesvorsitzender, nachdem Kirsten Haß eine neue Aufgabe bei der Kulturstiftung des Bundes übernommen hatte. Opitz hatte sich bereits seit seinem Eintritt in den Bundesvorstand mit großem Erfolg für die Betreuung bestehender und die Gründung von neuen Landesverbänden eingesetzt. Auch als Vorsitzender hat er sich der Einbindung möglichst vieler Mitglieder in die Arbeit des Verbandes verschrieben. Und er setzte sich unermüdlich für die kulturpolitische Anerkennung der Freien Theater ein. Während viele Verbandsvertreter vor der Nichtbeachtung des

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Bundesverbands durch die Kulturpolitik auf Bundesebene kapituliert zu haben schienen, entwickelte er hier eine fast stoische Beharrlichkeit. Beispielhaft sei der lange Weg zum Empfang des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler für die Freien Theater im Januar 2009 erwähnt. Bereits 2003 hatte Opitz mit dessen Amtsvorgänger Johannes Rau korrespondiert. Rau hatte als Zwischenbericht der von ihm berufenen Arbeitsgruppe »Zukunft von Theater und Oper in Deutschland« ein »Bündnis für Theater« angeregt, jedoch die Freien Theater nicht berücksichtigt. Nachdem Opitz in seinem Schreiben darauf hingewiesen hatte, erhielt er eine Einladung. Das Gespräch mit dem Bundespräsidenten setzte sich fort und mündete schließlich in dem Empfang, den Köhler mit den Worten eröffnete: »Schon häufig waren Gäste in Schloss Bellevue Zeugen interessanter Theateraufführungen und Darbietungen des zeitgenössischen Tanzes. Aber ein Schlossabend, der ausschließlich von Freien Theatern in Deutschland gestaltet wird, den gab es noch nicht. Angesichts der Bedeutung, die den Freien Theatern in Deutschland zukommt, ist er längst überfällig, und so freue ich mich, dass wir ihn heute erleben können.« 10

Zu diesem Zeitpunkt liefen schon längst die Arbeiten an einem der bislang wohl umfangreichsten und wichtigsten Rechercheprojekte zum Freien Theater in Deutschland. Nachdem die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in ihrem Schlussbericht 2007 ausführlich auf die soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler Bezug genommen hatte,11 regte der Fonds Darstellende Künste 2008 an, die wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland zu erheben, um daraus kultur- und sozialpolitische Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Wichtigster Partner des Projekts wurde der Bundesverband Freier Theater (nachdem der Deutsche Bühnenverein seine Beteiligung abgesagt hatte). In zahlreichen Arbeitsstunden trugen die ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter sowie die Mitglieder in allen Landesverbänden die quantitativen und qualitativen Daten zum Report Darstellende Künste zusammen. Im Mai 2009 wurden die Ergebnisse der Erhebung auf einem weiteren Symposium des Fonds und des Internationalen Theaterinstituts

10 Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler beim Schlossabend für Freie Theater am 20. Januar 2009 in Berlin (siehe unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/ Bulletin/2009/01/06-1-bpr-theater.html [12.02.2012]). 11 Deutscher Bundestag (2007): »Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹«, BT-Drs. 16/7000, Kap 4.5.

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(ITI) in Berlin vorgestellt und diskutiert,12 2010 schließlich publiziert (Fonds Darstellende Künste 2010). Und erneut traf die Veranstaltung einen Nerv – das Thema »Soziale Lage der Kulturschaffenden« ist seitdem fest verankert auf der bundespolitischen Agenda. Sie ließ nebenbei aber auch erkennen, dass der Fonds begonnen hatte, sich im Spagat von Förderinstitution auf der einen und dem eigenen Anspruch auf politische Interessenvertretung auf der anderen Seite zu überfordern; wohl auch deshalb, weil er mit dem von ihm vorgegebenen Tempo selbst nur noch mühsam Schritt halten konnte. Erneut stand deshalb nun die Institutionalisierung des Bundesverbandes ganz weit vorn auf dem Arbeitsplan des Bundesvorstands. Alle Tätigkeiten des Verbands und seiner immer zahlreicheren Unterstützer hatten deutlich erwiesen, dass eine wirksame Vertretung der Freien Theater auf Bundesebene dringend erforderlich ist. Zudem konnte jeder erkennen, dass die Verbandstätigkeit auf rein ehrenamtlicher Basis nicht mehr zu leisten war. Und mit dem seit 2006 vorhandenen Rückenwind sollte das seit 1990 erstrebte Bundesbüro der Freien Theater nun endlich Wirklichkeit werden.

N ACH 20 J AHREN : EIN K ONGRESS UND

EINE

G ESCHÄFTSSTELLE

Ein erster Antrag auf Förderung einer Bundesgeschäftsstelle beim Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) scheiterte im Herbst 2009. Doch im Laufe des Haushaltsjahres 2010 war schließlich doch noch Geld vorhanden, das Dank einflussreicher politischer Fürsprecher in Richtung Bundesverband fließen sollte – allerdings für einen Kongress. Aber der Stein war ins Rollen gebracht. »20 Jahre Bundesverband Freier Theater« waren sicherlich Anlass genug für eine Zwischenbilanz und einen frischen Blick nach vorn. In diesem Sinne wurde der »Erste Bundeskongress der Freien Darstellenden Künste« im Dezember 2010 in Stuttgart ein beeindruckender Erfolg. Und schließlich erhielt der Verband auch die Zusage für die Förderung einer Geschäftsstelle durch das BKM. So konnte 2011 nach 20 Jahren endlich mit dem seit Gründung des Verbandes angestrebten Aufbau eines Bundesbüros begonnen werden.

12 Das Symposium »Report Darstellende Künste. Die Lage der Theater- und Tanzschaffenden im Kontext internationaler Mobilität« fand vom 4. bis 6. Mai 2009 in der Akademie der Künste, Berlin statt.

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Damit fängt die Arbeit erst an, denn es gibt weiterhin viel zu tun. Der Bundesverband Freier Theater hat sich seit seiner Gründung ein profundes Wissen um die Rahmenbedingungen Freier Kunstproduktion in Deutschland erarbeitet. Insbesondere die sozialen Fragen des Berufsfeldes hat er im Blick, ebenso aber auch die künstlerischen und kulturpolitischen Entwicklungen. Hieran wird in Zukunft angeknüpft werden; und hier wird der Verband seine Instrumente weiter schärfen. Künftig soll es einen turnusmäßig wiederkehrenden Bundeskongress sowie regelmäßigen Austausch zu kulturpolitischen, künstlerischen und sozialen Fragen der Darstellenden Künstler im Rahmen von Fachtagungen geben. Ebenso wird der Bundesverband weiter über die Arbeit der Freien Darstellenden Künste in Deutschland und Europa informieren, um das Wissen über die Formen und Produktionsbedingungen deutlich zu verbessern. Und er wird sein gewonnenes Wissen nicht nur an die Partner in Politik und Verwaltung bringen, sondern, zum Beispiel über Qualifizierungsangebote, auch an die Tanz- und Theaterschaffenden zurückgeben. Die Bundesgeschäftsstelle wurde im Kunstquartier Bethanien am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg eingerichtet. Und auch wenn das alles nun neu ist, so ist es doch auch so etwas wie eine Rückkehr an den Ursprung. Denn hier fing es irgendwie an. Wer das nicht glaubt, der lese bei Dietmar Rohberg nach – Peter Henze hat ihn so schön zitiert, dass er hier das Schlusswort haben soll: »In der Arbeiterklasse sagte man früher am Ende einer solchen Rede ›Glück auf‹ und sang die Internationale – ich belasse es heute, weil eines der ersten Bücher über Freies Theater ›Theater muß wie Fußball sein‹ hieß – bei einem ehemaligen Fußball-Bundestrainer: Spielt schön!«

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L ITERATUR Roberg, Dietmar (1981): Theater muss wie Fußball sein. Freie Theatergruppen – eine Reise über Land, Berlin: Rotbuch, S. 68-74. Büscher, Barbara/ Schlewitt, Carena (Hg.) (1991): Freies Theater. Deutschdeutsche Materialien, Hagen: Kulturpolitische Gesellschaft. Fonds Darstellende Künste (Hg.) (2010): Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, Bonn: Klartext Verlag. Fonds Darstellende Künste/ Jeschonnek, Günter (Hg.) (2007): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Bonn: Klartext Verlag. Henze, Peter (2011): »20 Jahre LaFT. Festrede zum 20-jährigen Bestehen des Landesverbandes Freier Theater in Niedersachsen«, gehalten am 7. November 2011 in Hannover [unveröffentlichtes Redemanuskript]. Haß, Kirsten (2006): »Wie viele Säulen tragen die Deutsche Theaterlandschaft?«, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 113, Bonn: Kulturpolitische Gesellschaft, S. 69. Kuntz, Stefan (2000): »AusgeBUFT? Der Bundesverband Freier Theater (BUFT) nach 10 Jahren. Ein persönliches Resümee seines scheidenden Vorsitzenden«, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 91, Bonn, S. 72-73. Wagner, Bernd (1992): »Öffentliche Förderung und Fördermodelle Freier Theaterarbeit in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Sievers, Norbert/ Wagner, Bernd (Hg.): Bestandsaufnahme Soziokultur. Beiträge, Analysen, Konzepte, Stuttgart: Kohlhammer, S. 243-273.

E.

Serviceteil

Autorinnen und Autoren

Boldt, Esther, arbeitet als freie Autorin und Kritikerin für verschiedene Zeitungen und Magazine, unter anderem für die taz, nachtkritik.de, tanz, Theater der Zeit und corpusweb. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Deck, Jan, arbeitet als freier Dramaturg, Regisseur und Kurator und ist seit 2006 Geschäftsführer von laPROF, dem Landesverband Professionelle Freie Darstellende Künste Hessen. Er ist seit 2008 Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Freier Theater und studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Geschichte in Mainz, Bonn und Frankfurt. Neben seinem Ensemble Profi Kollektion arbeitet er künstlerisch an der Schnittstelle unterschiedlicher Medien, Disziplinen und Formate. Seit 2008 konzipiert und leitet er gemeinsam mit Natalie Driemeyer die Veranstaltungsreihe Forum Diskurs Dramaturgie, eine AG der Dramaturgischen Gesellschaft. Zudem war und ist er Mitglied in verschiedenen Jurys, unter anderem beim Residenzprojekt »flausen«, und arbeitet in unterschiedlichen Beiräten und Arbeitsgruppen mit. Als Herausgeber publizierte er unter anderem mit Angelika Sieburg die Bücher »Paradoxien des Zuschauens« (2008) und »Politisch Theater machen« (2011). Fanizadeh, Andreas, leitet seit 2007 das Kulturressort der Berliner Tageszeitung taz. Zuvor war er Auslandsredakteur von Die Wochenzeitung in der Schweiz. Zusammenarbeit mit Schorsch Kamerun und Stefanie Carp am Schauspielhaus Zürich und der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Er studierte in Frankfurt am Main Politik- und Literaturwissenschaften. In den 1990ern war er Lektor des Berliner ID-Verlags und Herausgeber der Zeitschrift Die Beute (Untertitel: Politik und Verbrechen, vierteljährlich).

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Freundt, Michael, ist seit 2003 stellvertretender Direktor des deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts (ITI). Er studierte an der Theaterhochschule Hans Otto Leipzig und der Universität Leipzig Theaterwissenschaft, Philosophie und Tanzwissenschaft und war als freier Journalist und Kritiker unter anderem für Theater der Zeit und die Berliner Zeitung tätig. Als Regisseur, Dramaturg und Theaterproduzent gehörte er zum Gründungs- und Leitungsteam der INSELbühne Leipzig und des Hackeschen Hof-Theaters. Seit 1997 war er Pressereferent und künstlerischer Mitarbeiter und 2001/2002 Künstlerischer Leiter der euro-scene Leipzig. Heering, Martin, ist seit 2011 Geschäftsführer des Bundesverbandes Freier Theater. Er studierte an der Universität Leipzig Mittlere und Neuere Geschichte, Theaterwissenschaft und Alte Geschichte. 2002 bis 2011 war er Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Produktionszentrums LOFFT in Leipzig. In dieser Zeit leitete er unter anderem Festivals wie Westend (2004), UWAGA! Polen kommen (2005) oder Tanzoffensive (2007 bis 2011). Von 1996-1998 war er Mitglied der künstlerischen Leitung des Poetischen Theaters der ehemaligen Studiobühne der Universität Leipzig. Als Regisseur und Ausstatter arbeitete er unter anderem unter dem freien Label kapustnik und war erster Preisträger des Leipziger Bewegungskunstpreises. Hinz, Melanie, hat Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim studiert. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. In Lehre und Forschung befasst sie sich mit Geschlechterforschung, Probenanalyse, Performativitäts- und Körperdiskursen im Gegenwartstheater, und in ihrem Promotionsprojekt geht sie den Diskursverflechtungen von Theater und Prostitution nach. Veröffentlichung: Hg. mit Jens Roselt: »Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater« (2011). Sie ist Gründungsmitglied des Performance-Kollektivs Fräulein Wunder AG und arbeitet als Performerin, Regisseurin und Theaterpädagogin im Freien und Institutionellen Theater, zuletzt inszenierte sie »FKK. Eine Frauenkörperkomödie« mit 17 Dresdner Bürgerinnen am Staatsschauspiel Dresden (2010). Huber, Martin, ist Schauspieler und Regisseur, geboren 1964. Nach der Ausbildung an der staatlichen Schauspielschule in Graz und einem dreijährigen Festengagement in Braunschweig seit 1993 freischaffend. Langjähriger Schwerpunkt auf Solostücke. Martin Huber lebt und arbeitet seit 2006 in Saarbrücken, Mitbegründer des Netzwerk Freie Szene Saar e.V, Mitarbeit im Bundesverband

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Freier Theater. Neben theaterpädagogischen Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und gelegentlichen Gastspielen am Staatstheater realisiert er pro Jahr eine freie Theaterproduktion, in der Regel mit eigenem Text und in eigener Regie. Jahnke, Manfred (Dr.), ist freier Kritiker, Lehrbeauftragter am Institut für Theaterwissenschaft an der LMU München (Dramaturgie des Kinder- und Jugendtheaters), an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, Abteilung Figurentheater (Dramaturgie des Figurentheaters) und an der adk-ulm (Theaterpädagogik und Theatertheorie). Kahmann, Ute, studierte Kulturwissenschaft und Wirtschaft in Ost-Berlin, Schauspiel in West-Berlin, Puppenspiel im Rahmen der Ausbildung für Amateure in Ost-Berlin und der freien Bildungsstätte Idstedt und Bochum. Seit 1988 Soloinszenierungen und Mitwirkung in mehreren Gemeinschaftsinszenierungen, unter anderem Konzerthaus Berlin. Von 1990 bis 1993 Gesellschafterin des Berliner Figuren Theaters. Gastspiele auf nationalen und internationalen Festivals, Auftragsinszenierungen unter anderem für das Jüdische Museum Berlin, Regieaufträge, Workshops für Kinder und Erwachsene. Von 2004 bis 2011 im Vorstand des Verbandes Deutscher Puppentheater e. V. kainkollektiv, bestehend aus Alexander Kerlin, Fabian Lettow und Mirjam Schmuck, erarbeitet seit 2004 gemeinsam Theaterprojekte unter anderem von Händl Klaus, Elfriede Jelinek, Einar Schleef, Franz Kafka und Heiner Müller. 2010 hat Kainkollektiv die Projektreihe »STADT OHNE GELD« am Schauspiel Dortmund, die Tanz-Musik-Performance »Skinology« (Ringlokschuppen Mülheim/Ruhr, ForumFreiesTheater Düsseldorf, Pumpenhaus Münster) und »DER KNACKS« am Schlosstheater Moers inszeniert. Kerlin, Lettow und Schmuck, studierten Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und arbeiten als Regisseure, Dramaturgen, Theaterwissenschaftler, Autoren, Musiker und Performer und kollaborieren mit unterschiedlichen freien Künstlern und Gruppen aus den Bereichen Theater, Musik, Tanz, Bildende Kunst und Neue Medien. (http://www.kainkollektiv.de) Kapp, Hans-Jörg, ist seit 1997 künstlerischer Leiter des Freien Hamburger Musiktheaters opera silens und seit 2010 Professor für Dramaturgie im Studiengang Szenografie/Kostüm der Fachhochschule Hannover. Mit opera silens erarbeitete er unter anderem »Amnesie International« nach Erik Satie (opera stabile 1999), »acqua acqua acqua acqua« nach Monteverdi (Kampnagel 2001) , »Der Räuber«

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nach Robert Walser (opera stabile 2005) oder das Tourette-Stück »Neurovisions« (Kampnagel 2010). Hans-Jörg Kapp ist Gründungsmitglied des Dachverbands Freier Theaterschaffender Hamburg e. V. (DFT Hamburg). Koch, Gabriele, ist Leiterin des internationalen Straßenzirkusfestivals LA STRADA Bremen und Vorsitzende des Bundesverbands Theater im öffentlichen Raum e. V. Zudem hat sie die Projektleitung im theaterkontor bremen inne und ist Gründungsmitglied der Produktionsstätte Schaulust. Als freiberufliche Kulturmanagerin ist sie in internationalen Kulturprojekten tätig. Laufenberg, Iris, war von 2003 bis 2012 Leiterin des Theatertreffens der Berliner Festspiele. Sie studierte von 1986 bis 1991 Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Anschluss folgten Stationen als Dramaturgin am Schauspiel Bonn (1992 bis 1997) und am Bremer Theater (1997 bis 2001). In den Jahren 1994, 1996 und 2002 leitete sie gemeinsam mit Tankred Dorst und Ursula Ehler das europäische Theaterfestival Bonner Biennale – Neue Stücke aus Europa am Schauspiel Bonn. An der Technischen Universität Berlin unterrichtete sie von 2004 bis 2006 im weiterbildenden Masterstudiengang Bühnenbild, an der Universität Hildesheim im Wintersemester 2008/2009 Kulturmanagement und an der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2009/2010 Kultur- und Festivalmanagement. Im Sommer 2012 wurde sie neue Schauspieldirektorin des Konzert Theater Bern. Mittelstädt, Eckhard, ist Geschäftsführer des Landesverbandes Freier Theater in Niedersachsen und stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes Freier Theater. Zuvor war er viele Jahre Geschäftsführer der ASSITEJ und für das Exekutiv-Komitee der Internationalen ASSITEJ tätig. Er studierte Germanistik (M. A.), Theaterwissenschaften und Soziologie in Frankfurt am Main, war von 2000 bis 2007 Herausgeber von Grimm & Grips, dem Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater, ist seit 2005 verantwortlicher Redakteur von IXYPSILONZETT, dem Magazin für Kinder- und Jugendtheater, und hat zahlreiche Beiträge zum Theater veröffentlicht. Opitz, Alexander, ist seit 2002 Geschäftsführer des Landesverbandes Freier Theater Baden-Württemberg und seit 2006 Vorsitzender des Bundesverbands Freier Theater. Er absolvierte eine Ausbildung zum Schauspieler und arbeitete als Schauspieler und Dramaturg in verschiedenen Engagements unter anderem in Ettlingen, Karlsruhe und Frankfurt. Parallel dazu Studium der Theaterwissen-

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schaft, Neuere Geschichte und Neuere Literaturwissenschaft in München. Von 1992 bis 1994 war er Intendant des Harzer Bergtheaters Thale. Peters, Nina, ist Lektorin im Suhrkamp Verlag, Theater & Medien. Sie studierte Theaterwissenschaft und Neuere deutsche Literatur in Berlin und London und war von 2003 bis 2007 Redakteurin bei Theater der Zeit. Bis 2011 war sie Mitglied der Jury Tanz & Theater des Berliner Senats. Pinto, Alexander, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität Hamburg im Studiengang Kultur der Metropole und als freischaffender Kulturmanager und –berater. Derzeit ist er unter anderem als Projektleiter für das von ihm entwickelte Projekt »Choreographie der Nachbarschaft« am K3Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg tätig, das vom TANZFONDS PARTNER (Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes) gefördert wird. Er studierte Soziologie und Volkswirtschaft in Hamburg und war als Lehrbeauftragter für Kulturmanagement unter anderem an der Universität Hamburg tätig. Von 2008 bis 2011 war er Vorsitzender des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg e. V. (DFT Hamburg). Sassmannshausen, Caroline ist seit 2010 bei der Hamburgischen Kulturstiftung für den Projektbereich Kinder- und Jugendkultur/Kulturelle Bildung und die Betreuung des Freundeskreises zuständig. Sie studierte Betriebswirtschaft an der Philipps-Universität Marburg sowie Theater- und Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Sorbonne Nouvelle Paris (Studienschwerpunkte: Freies Theater, Intermedialität, Ästhetische Erfahrung). Seit ihrem Studienabschluss arbeitet sie als freie Theater- und Filmwissenschaftlerin im Bereich der Kulturberatung. 2010 verfasste sie im Auftrag des Dachverbands Freier Theaterschaffender Hamburg e. V. (DFT Hamburg) die Studie »Förderstrukturen für Freie Theater in der Bundesrepublik Deutschland« und wirkte als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Theaterforschung an der Universität Hamburg an der von der Kulturbehörde Hamburg beauftragten »Potentialanalyse der freien Theater- und Tanzszene in Hamburg« mit. Šimic, Branko, arbeitet als freier Regisseur. Er studierte Schauspiel an der Akademie für Szenische Künste der Universität Sarajevo und Regie am Institut für Theater, Musiktheater und Film an der Universität Hamburg. 1999 war er Stipendiat der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. 2002 erhielt Branko Šimic den Hamburger Förderpreis für Theaterregie der Johannisloge Zu den drei Rosen. Er produziert und inszeniert in Deutschland und den Ländern Exjugoslawiens unter

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anderem am HAU Berlin, Kampnagel Hamburg, Thalia Theater Hamburg, FFT Düsseldorf, Pumpenhaus Münster, Theaterlabor Bielefeld, Staatstheater Sarajevo, Volkstheater Tuzla. Seine Arbeiten wurden unter anderem auf den Wiener Festwochen, bei dem Beyond Belongings Festival in Berlin, dem YoungStar Fest in Hamburg und dem internationalen MESS Festival in Sarajevo gezeigt. In seinen letzten Projekten beschäftigte er sich mit dokumentarischen Theaterformaten, die Realität und Fiktion miteinander verbinden. Stüting, Eva-Maria, ist seit 2008 Geschäftsführerin von Kunstwerk e. V und seit 2009 künstlerische Leiterin des YoungStar Festes, einem internationalen Festival der Künste von Jugendlichen für Jugendliche in Hamburg. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Performing Arts an der Nottingham Trent University, UK. Seit 1995 hat Eva Maria Stüting als Autorin, Regisseurin und Performerin mehrere Theaterstücke geschrieben, konzipiert und inszeniert. Sie arbeitete von 2000 bis 2007 als Dramaturgin auf Kampnagel in Hamburg. Für die Universität Hamburg ist sie seit 2005 als freie Dozentin in der Theaterwissenschaft und der Theaterpädagogik tätig. Kunstwerk e. V. ist ein Verein, der Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Sozialem in den Bereichen Interkultur, Kunst und Behinderung und Jugendkultur initiiert und produziert. Schneider, Wolfgang (Prof. Dr.), ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und war Sachverständiges Mitglied der EnqueteKommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages, dort selbst unter anderem Berichterstatter für Theater; Veröffentlichungen: »Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung« (Bielefeld 2009), »Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis« (Bielefeld 2010), »Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und Praxis« (Hildesheim, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2011); Herausgeber des Magazins für Kinder- und Jugendtheater IXYPSILONZETT (Beilage zu Theater der Zeit), Chefredakteur von http://www.theaterpolitik.de. Wesemann, Arnd, ist seit 1997 Redakteur der Zeitschrift tanz mit Sitz in Berlin. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und veröffentlichte 2008 das Buch »Immer Feste Tanzen« im transcript Verlag, Bielefeld.

Ergänztes Literaturverzeichnis1

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1

Alle als »weiterführende Literatur« eingefügten zusätzlichen Literaturangaben sind mit * gekennzeichnet.

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ANTHOLOGIEN / S AMMELWERKE Bockhorst, Hildegard/ Reinwand, Vanessa-Isabelle/ Zacharias, Wolfgang (Hg.) (2012): Handbuch Kulturelle Bildung, München: kopaed.* Büscher, Barbara/ Schlewitt Carena (Hg.) (1991): Freies Theater. Deutschdeutsche Materialien, Hagen: Kulturpolitische Gesellschaft. Deck, Jan/ Sieburg, Angelika (Hg.) (2011): Politisch Theater Machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den Darstellenden Künsten, Bielefeld: transcript.* Deuflhard, Amelie (Hg.) (2006): Spielräume produzieren. Sophiensaele 19962006, Berlin: Theater der Zeit. Fiebach, Joachim (Hg.) (1999): Theater der Welt. Theater der Welt 1999 in Berlin. Theater der Zeit Arbeitsbuch 8, Berlin: Theater der Zeit. Fonds Darstellende Künste (Hg.) (2010): Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, Bonn: Klartext Verlag. Fonds Darstellende Künste (2007): Konzeptionsförderung 2008 – 2009 – 2010, Berlin.

E RGÄNZTES L ITERATURVERZEICHNIS

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230 | DIE FREIEN DARSTELLENDEN K ÜNSTE IN DEUTSCHLAND

Z EITSCHRIFTENBEITRÄGE Beer, Monika (1999): »Dort, wo das Leben tobt«, in: Opernwelt. Das internationale Opernmagazin (9-10/1999). Berendt, Eva (2003): »Die umfassend reflektierte Theaterpersönlichkeit. Der Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim bildet denkende Theaterarbeiter und theaterpraktisch versierte Generalisten aus«, in: Theater heute (06/2003). Boldt, Esther (2010): »The Power of Politics. Die Theatergruppe Fräulein Wunder AG betreibt Theater als politische Praxis«, in: Theater der Zeit (10/2010), Berlin: Theater der Zeit. Brandstetter, Gabriele (2005): »Figuration der Unschärfe. Der (un)beteiligte Betrachter«, in: Texte zur Kunst. Löhne, Philipp (2010): »Ein Land wie grade nicht da«, in: Theater der Zeit (9/2010), Berlin: Theater der Zeit. Petras, Arnim (2010): »Was machen Sie in zehn Jahren? Teil II«, in: brand eins. Wirtschaftsmagazin (06/2010), S. 86. Pilz, Dirk (2011): »Im Zwischen«, in: Impuls (1/2011), Berlin, S. 5-10. Raddatz, Frank / Tiedemann, Kathrin / Gypens, Guy/ Vanackere, Annemie: »Die Krise der Überproduktion. Die künstlerischen Leiter Guy Gypens (Kaaitheater Brüssel), Kathrin Tiedemann (FFT Düsseldorf) und Annemie Vanackere (Rotterdamse Schouwburg) im Gespräch«, in: Theater der Zeit (02/2011), Berlin: Theater der Zeit, S. 17-19. Rapp, Tobias (2010): »Das Wunderkind der Boheme«, in: Der Spiegel (3/2010). Wille, Franz (2010): »Yes, They Can. Vom Schlachten des gemästeten Lamms – oder wie man das Nachwuchs-Festival Körber Studio Junge Regie in Hamburg gewinnt«, in: Theater heute (05/2010).

Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater August 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute August 2013, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart September 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2467-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion 2012, 752 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1809-9

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien Dezember 2013, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Juli 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Rosemarie Brucher Subjektermächtigung und Naturunterwerfung Künstlerische Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen Januar 2013, 284 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2270-6

Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee : Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juli 2013, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juli 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Denis Hänzi Die Ordnung des Theaters Eine Soziologie der Regie Mai 2013, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2342-0

Joy Kristin Kalu Ästhetik der Wiederholung Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances Juli 2013, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2288-1

Gunter Lösel Das Spiel mit dem Chaos Zur Performativität des Improvisationstheaters Juni 2013, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2398-7

Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0

Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft (Hg.) Freispieler Theater im Gefängnis April 2013, 106 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2349-9

Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien Januar 2013, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9

Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8

Daniela A.M. Schulz Körper – Grenzen – Räume Die katalanische Theatergruppe »La Fura dels Baus« und ihre Performances Februar 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2316-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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