Körper von Wert: Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung [1. Aufl.] 9783839418253

Die Stammzellforschung mobilisiert Begehren aller Art - ob als therapeutisches Versprechen oder als nationale Zukunftsök

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Inhalt
DANKSAGUNG
A. EINLEITUNG – STAMMZELLEN UND GESCHLECHTERLEIBER
B. BIOETHIK ALS DISPOSITIV
B.1 Zum Selbstverständnis dominanter Bioethik
B.2 Der foucaultsche Dispositivbegriff
B.2.1 Der strategische Aspekt
B.2.2 Machtverhältnisse im bioethischen Dispositiv
B.2.3 Das Verhältnis von ‚materiellen‘ Biotechnologien und ‚diskursiver‘ Bioethik
B.2.4 Zusammenfassung
B.3 Die Rekonstruktion des Dispositivs der Bioethik
B.3.1 Von der traditionellen Arzt- zur biomedizinischen Ethik selbstregierter Subjekte
B.3.2 Bioethik als Subpolitik: Die Bioethik-Konvention
B.3.3 Die neoliberale Umstrukturierung lokaler Ethikkommissionen
B.3.4 Die Etablierung politischer Ethikkommission
B.3.5 Die Privilegierung des Embryos als Rechtssubjekt im entstehenden Biorecht
B.3.6 Die ‚Verwissenschaftlichung‘ der Bioethik: Bioethik- Institute und die Institutionalisierung der Bioethik als akademische Disziplin
B.3.7 Der Kampf im Bereich bioethischer Bildung
B.3.8 Die Konstruktion des Embryos als Rohstoff
B.3.9 Das Stammzellgesetz und die ZES
B.3.10 Die Zukunft der Stammzellforschung
B.3.11 Zusammenfassung
C. DIE ANALYSE DER BIOETHISCHEN DISKURSE ZUR STAMMZELLFORSCHUNG
C.1 Lebenswissenschaftliche Diskurse – Vom totipotenten Embryo zur Netzwerkzelle
C.1.1 Der Begriff der Totipotenz: Vom Einheitsprinzip zum Teamprodukt
C.1.2 Zusammenfassung
C.2 Theologische Diskurse – Gottebenbildliche Eigenleiblichkeit des Embryos, sündiges weibliches Fleisch und heteronormative Lebensvielfalt
C.2.1 Koordinaten des theologisch-ethischen Diskurses zur Stammzellenproblematik
C.2.2 Körper- und Geschlechtermetaphern in theologischer Bioethik
C.2.3 Zusammenfassung
C.3 Philosophische Diskurse – Zweckrationales Leben und Personen bioethischer Entscheidungen
C.3.1 Der philosophische Personbegriff
C.3.2 Rationales Leben und vernünftige Körper: Philosophische Wendungen biologischer Lebensbegriffe
C.3.3 Zusammenfassung
C.4 Rechtsphilosophische Diskurse – Privatrechtliche Körpereigentümer, bloßes biologisches Leben und embryonale Grundrechtssubjektivität
C.4.1 Die Zygote als Grundrechtssubjekt: Rechtsphilosophische Argumentationen gegen Stammzellforschung
C.4.2 Leben ohne Rechtsstatus: Der Embryo als bloßes biologisches Leben
C.4.3 Biologisches Leben und Grundrechtssubjekt: Unvereinbare Gegensätze?
C.4.4 Unsichtbare Väter und monströse Mütter
C.4.5 Abtreibung als selbstbestimmte Praxis von Frauen?
C.4.6 Stammzellen aus Nabelschnurblut: Das Kind als privatrechtlicher Eigentümer seiner Stammzellen
C.4.7 Zusammenfassung
C.5 Das Zusammenwirken der bioethischen Diskurse
C.5.1 Das Zusammenwirken der Lebensschützer
C.5.2 Das Zusammenwirken der Befürworter von Stammzellforschung
C.5.3 Zu den Gemeinsamkeiten von Gegnern und Befürwortern
D. ZURÜCK ZUM INTEGRALEN FRAUENKÖRPER? EINE INTERDEPENDENTE PERSPEKTIVE AUF DIE INWERTSETZUNG DES REPRODUKTIVEN LEIBES
D.1 Die Inwertsetzung des Leibes als eine Inwertsetzung des Frauenkörpers? Die Kategorie Geschlecht in feministischen Genderansätzen
D.2 Potentiale der Entgeschlechtlichung? Queere/transgendere Perspektiven auf Neue Technologien und Körperfragmentierung
D.3 Die Unmöglichkeit der Möglichkeit reproduktiver Subjektivierung: Reproduktion, NRTs und Körperfragmentierung aus Sicht der Disability Studies
D.3.1 Komplexe Subjektivierungsbedingungen
D.3.2 Stammzellforschung und neue Eugenik
D.4 Zusammenfassende Schlussbetrachtungen: Eine interdependente Perspektive auf die Inwertsetzung des Körpers
E. LITERATUR
F. GLOSSAR
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Körper von Wert: Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung [1. Aufl.]
 9783839418253

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Ute Kalender Körper von Wert

Gender Studies

Ute Kalender (Dr.) ist Post-Doc in einem transnationalen Forschungsprojekt zur Kritik von Biological Citizenship aus Genderperspektive. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Biokapitalismus, reproduktive Subjektivierung und Biowert sowie Queer-Crip theory.

Ute Kalender

Körper von Wert Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung

Gefördert vom Berliner Programm zur Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Ute Kalender Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1825-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

DANKSAGUNG | 9 A. E INLEITUNG – STAMMZELLEN UND GESCHLECHTERLEIBER | 11 B. BIOETHIK ALS DISPOSITIV | 39 B.1 Zum Selbstverständnis dominanter Bioethik | 39 B.2 Der foucaultsche Dispositivbegriff | 42 B.2.1 Der strategische Aspekt | 45

B.2.2 Machtverhältnisse im bioethischen Dispositiv | 47 B.2.3 Das Verhältnis von ‚materiellen‘ Biotechnologien und ‚diskursiver‘ Bioethik | 61 B.2.4 Zusammenfassung | 67 B.3 Die Rekonstruktion des Dispositivs der Bioethik | 69

B.3.1 Von der traditionellen Arzt- zur biomedizinischen Ethik selbstregierter Subjekte | 70 B.3.2 Bioethik als Subpolitik: Die Bioethik-Konvention | 75 B.3.3 Die neoliberale Umstrukturierung lokaler Ethikkommissionen | 86 B.3.4 Die Etablierung politischer Ethikkommission | 89 B.3.5 Die Privilegierung des Embryos als Rechtssubjekt im entstehenden Biorecht | 92 B.3.6 Die ‚Verwissenschaftlichung‘ der Bioethik: BioethikInstitute und die Institutionalisierung der Bioethik als akademische Disziplin | 95 B.3.7 Der Kampf im Bereich bioethischer Bildung | 104 B.3.8 Die Konstruktion des Embryos als Rohstoff | 111 B.3.9 Das Stammzellgesetz und die ZES | 118 B.3.10 Die Zukunft der Stammzellforschung | 124 B.3.11 Zusammenfassung | 127

C. DIE ANALYSE DER BIOETHISCHEN DISKURSE ZUR S TAMMZELLFORSCHUNG | 131 C.1 Lebenswissenschaftliche Diskurse – Vom totipotenten Embryo zur Netzwerkzelle | 132

C.1.1 Der Begriff der Totipotenz: Vom Einheitsprinzip zum Teamprodukt | 136 C.1.2 Zusammenfassung | 169 C.2 Theologische Diskurse – Gottebenbildliche Eigenleiblichkeit des Embryos, sündiges weibliches Fleisch und heteronormative Lebensvielfalt | 173

C.2.1 Koordinaten des theologisch-ethischen Diskurses zur Stammzellenproblematik | 173 C.2.2 Körper- und Geschlechtermetaphern in theologischer Bioethik | 200 C.2.3 Zusammenfassung | 223 C.3 Philosophische Diskurse – Zweckrationales Leben und Personen bioethischer Entscheidungen | 226 C.3.1 Der philosophische Personbegriff | 228

C.3.2 Rationales Leben und vernünftige Körper: Philosophische Wendungen biologischer Lebensbegriffe | 265 C.3.3 Zusammenfassung | 273 C.4 Rechtsphilosophische Diskurse – Privatrechtliche Körpereigentümer, bloßes biologisches Leben und embryonale Grundrechtssubjektivität | 276

C.4.1 Die Zygote als Grundrechtssubjekt: Rechtsphilosophische Argumentationen gegen Stammzellforschung | 278 C.4.2 Leben ohne Rechtsstatus: Der Embryo als bloßes biologisches Leben | 283 C.4.3 Biologisches Leben und Grundrechtssubjekt: Unvereinbare Gegensätze? | 287 C.4.4 Unsichtbare Väter und monströse Mütter | 290 C.4.5 Abtreibung als selbstbestimmte Praxis von Frauen? | 299

C.4.6 Stammzellen aus Nabelschnurblut: Das Kind als privatrechtlicher Eigentümer seiner Stammzellen | 304 C.4.7 Zusammenfassung | 319 C.5 Das Zusammenwirken der bioethischen Diskurse | 323

C.5.1 Das Zusammenwirken der Lebensschützer | 329 C.5.2 Das Zusammenwirken der Befürworter von Stammzellforschung | 338 C.5.3 Zu den Gemeinsamkeiten von Gegnern und Befürwortern | 345

D. ZURÜCK ZUM INTEGRALEN F RAUENKÖRPER? E INE INTERDEPENDENTE PERSPEKTIVE AUF DIE I NWERTSETZUNG DES REPRODUKTIVEN LEIBES | 355 D.1 Die Inwertsetzung des Leibes als eine Inwertsetzung des )UDXHQkörpers? Die Kategorie Geschlecht in feministischen Genderansätzen | 359 D.2 Potentiale der Entgeschlechtlichung? Queere/transgendere Perspektiven auf Neue Technologien und Körperfragmentierung | 372 D.3 Die Unmöglichkeit der Möglichkeit reproduktiver Subjektivierung: Reproduktion, NRTs und Körperfragmentierung aus Sicht der Disability Studies | 380 D.3.1 Komplexe Subjektivierungsbedingungen | 381 D.3.2 Stammzellforschung und neue Eugenik | 386 D.4 Zusammenfassende Schlussbetrachtungen: Eine interdependente Perspektive auf die Inwertsetzung des Körpers | 392

E. LITERATUR | 397 F. G LOSSAR | 435

Danksagung

Ich danke allen, die mich während der Entstehung dieses Buches begleitet haben. Ich danke vor allem meinen Eltern für ihre Unterstützung in allen Hinsichten. Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden. Danke schön! Ferner danke ich meiner Doktor‚mutter‘ Martha Zapata Galindo für ihre intellektuelle Scharfsichtigkeit und ihre persönliche Integrität. Gerburg Treusch-Dieter hat die Arbeit bis zu ihrem Tod mit ihrem wertvollen unkonventionellen Denken und ihren inspirierenden Beiträgen begleitet. Ulrike Schultz danke ich dafür, dass sie nach dem Tod Gerburg Treusch-Dieters die Arbeit begutachtet hat. Das Berliner Programm zur Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre hat die Arbeit durch die finanzielle Förderung erst ermöglicht. Schließlich geht mein Dank an meine Berliner Familie. Besonders danke ich Katrin Lehnert, Dr. Ralf Schweimeier und Ellen Reitnauer. Sie haben das Manuskript begeistert (Ralf), akribisch (Ellen) und kritisch-konstruktiv (Katrin) gelesen.

A. Einleitung – Stammzellen und Geschlechterleiber

Diskussionen um Biotechnologien*1,2 und die moderne Medizin*3 sind in den letzten Jahren zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der medialen Öffentlichkeit geworden. Das Für und Wider von lebensverlängernden Maßnahmen durch die Intensivmedizin, die Möglichkeit des Klonens* oder die Frage, wer verfügbare Organe erhalten soll, wird fast täglich in Talkshows, in der Presse und in Dokumentarfilmen beleuchtet. Diese immense Aufmerksamkeit spiegelt wider, dass durch die neuen Technologien gesellschaftliche Verhältnisse in Bewegung geraten sind, die lange als natürlich und unveränderlich galten. Eine der Reaktionen darauf ist die Entstehung der Bioethik. Sie versteht sich als ein ethisches Nachdenken über den Umgang mit Biomedizin* und Gentechnologien* und umfasst in der Regel Experten4 aus den Lebenswissenschaften, den Rechtswissenschaften, der Theologie und der Philosophie. Der Deutsche Ethikrat oder die Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen Medizin sind 1

Begriffe, die mit dem Zeichen * versehen sind, werden im anhängigen Glossar näher erläutert.

2

Unter Biotechnologien verstehe ich alle gentechnologischen Verfahren, die auf die Veränderung der sogenannten Erbeigenschaften des Menschen zielen wie das Klonen* oder die Keimbahntherapie*.

3

Mit moderner Medizin oder Biomedizin sind medizinische Verfahren gemeint, die sich auf die Gentechnologie stützen wie Pränataldiagnostik (PND)*, Präimplantationsdiagnostik (PID) oder Stammzelltherapien*.

4

Ich verwende im Folgenden die männliche Form für alle Geschlechter.

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dabei nur die bekanntesten bioethischen Institutionen. Unlängst bieten auch etliche Universitäten Seminare zu bioethischen Themen an, Biotechnologie-Unternehmen haben eigene Bioethik-Beauftragte und selbst kleinere Krankenhäuser verfügen mittlerweile über Kommissionen, in denen professionelle Bioethiker Ärzten beratend zur Seite stehen. Als akademische Teildisziplin, als Bestandteil der Politikberatung und in Form von staatlichen Gremien hat Bioethik folglich im letzten Jahrzehnt eine rasante Karriere gemacht und sich als der gesellschaftliche Ort schlechthin für die Klärung von Fragen rund um lebenswissenschaftliche und biotechnologische Themen etabliert. Bioethik ist zu einer – wenn nicht der – wichtigsten Kraft in der (Re-) Strukturierung von Biotechnologien samt ihrer gesellschaftlichen Kontexte geworden. Stammzellforschung*5 ist wiederum ein Kernthema innerhalb der Bioethik. Denn seit es dem US-Amerikaner James Thomson 1998 erstmals gelang, Stammzellen im Labor herzustellen,6 gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern dieser Forschungsrichtung.7 Letztere lehnen die Forschung mit menschlichen Stammzellen ab, weil sie aus einem Embryo* gewonnen werden, der dabei zugleich zerstört wird: Dem Embryo werden aus seiner inneren Zellmasse, der sogenannten Blastozyste*, einige Zellen entnommen. Diese Zellen werden dann durch spezielle Prozeduren weiter zu Zelllinien* entwickelt und sollen aufgrund ihrer großen Teilungsfreude das Ausgangsmaterial für weitere Forschung bilden. Weil der Embryo jedoch essentiell auf die Gesamtheit seiner Zellen angewiesen ist, kann er selbst sich nicht weiter entwickeln und stirbt ab. Gegner kritisieren dieses Vorgehen, weil der Embryo bereits zu diesem Zeitpunkt ein menschliches Lebewesen sei und ihm als solchem Würde zukomme. Seine Vernutzung sei deshalb die gewollte Tötung menschlichen Lebens.8

5

Mit Stammzelle bezeichne ich im Folgenden menschliche embryonale Stammzellen. Wenn tierische oder adulte Stammzellen* gemeint sind, wird das gekennzeichnet.

6

Vgl. Bentele (2007): 124.

7

Vgl. dies.: 201.

8

Vgl. dies.

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UND

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Befürworter argumentieren wiederum, dass diese ethischen Bedenken zu vernachlässigen seien, weil Stammzellen das Potential in sich bergen, Krankheiten zu heilen. Aus den ‚Alleskönnern‘ sollen Ersatzgewebe, ganze Organe oder Therapien entwickelt werden, mit denen eines Tages Krankheiten wie Diabetes, Parkinson oder Multipler Sklerose entgegen getreten werden könnten. Doch dazu müsste zuerst die Forschung zugelassen und die Zerstörung von Embryonen in Kauf genommen werden. Denn die Aussicht auf eine Heilung von Millionen von Menschen wiege so stark, dass daraus zwingende ethische Pflichten gegenüber den Kranken dieser Gesellschaft und nachfolgenden Generationen erwüchsen.9 So sagt beispielsweise Gerhard Ehninger, Leukämie-Spezialist und Sprecher eines Sonderforschungsbereiches der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), zum Thema Stammzellen: „Wir Forscher sind uns der Verantwortung bewusst, wenn wir mit Zellen aus Embryonen arbeiten. Das muss mit dem nötigen Respekt geschehen. Wir haben aber auch die Verantwortung, für heute noch hoffnungslose Patienten neue Therapieformen zu suchen. Dazu tragen die weltweiten Forschungen bei.“10

Bislang sei jedoch keines der Versprechen eingelöst worden, hält die andere Seite dagegen. Vielmehr haben Stammzellen gleich Krebszellen die Eigenschaft, unbegrenzt zu wuchern. Forschern stelle sich deshalb nach wie vor die Frage, wie man Stammzellen nach ihrer Verpflanzung davon abhalten könne, sich weiter beliebig zu teilen. Das kritische Bioethik-Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft unterstreicht in einer Stellungnahme deshalb, dass derzeit der potenzielle Nutzen der embryonalen Stammzellforschung lediglich „in der Toxitätsprüfung von Medikamenten und in der Erforschung von genetischen Krankheitsfaktoren [...] und nicht in der Entwicklung von Zellersatztherapien“ liege. Von einer Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit könne deshalb nicht gesprochen werden. Denn für die anvisier-

9

Vgl. dies.

10 Ehninger (2008): 18.

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ten Ziele der Stammzellforschung stünden andere Forschungsmethoden zur Verfügung.11 Eine dieser ethisch unproblematischen Alternativen ist Gegnern zufolge die Forschung mit adulten Stammzellen*, die deshalb ausgeweitet werden müsse. Erwachsene Stammzellen befänden sich in vielen Geweben des Körpers wie im Verdauungstrakt, in der Haut oder im Zentralnervensystem. Stammzellen könnten auch aus dem Knochenmark isoliert werden und sich etwa in Leberzellen oder in Zellen des Nervengewebes umwandeln.12 Weil sie nicht nur weit wandlungsfähiger seien, als bislang angenommen, sondern mit den daraus entwickelten Therapien auch die Vernutzung des Embryos vermieden werden könnte, müsse die Forschung an adulten Stammzellen stärker gefördert werden. Kurzum: Sowohl Gegner als auch Befürworter führen auf den ersten Blick zwingende Argumente für die eigene Position ins Feld, die wiederum auf unhinterfragbaren wissenschaftlichen Fakten und ethischen Gründen zu basieren scheinen. Doch trotz der Heftigkeit und der Aporien der Debatte zeigen sich signifikante Einseitigkeiten. Denn Stammzellforschung umfasst weit komplexere Verhältnisse, die weder in der Rede von den Heilungschancen für Kranke noch in dem Plädoyer für das Lebensrecht des Embryos benannt werden: Ein elementarer Bestandteil von Stammzellforschung sind wirtschaftliche Prozesse und Interessen, die Stammzellforschung einbetten und die Richtung ihrer Entwicklung leiten. Auf staatlicher Ebene gilt Stammzellforschung als eine Hochtechnologie, durch deren Förderung Arbeitsplätze entstehen und Gewinne erzielt werden sollen. Im Rahmen einer globalisierten Ökonomie wird der Ausbau von Stammzellforschung für den deutschen internationalen Wettbewerbsstaat als eine Möglichkeit gehandelt, sich gegen konkurrierende Staaten durchzusetzen.13 Für Forscher ist

11 IMEW (2007). 12 Adulte Stammzellen werden tatsächlich bereits seit den 1970er Jahren in der Knochenmarkstransplantation zur Behandlung bestimmter Leukämieformen – zur Regeneration des Blutsystems – eingesetzt. Vgl. Hauskeller (2006): 43. 13 Vgl. Dolata (2006): 297.

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Stammzellforschung wiederum eine Option der Spezialisierung und eine Möglichkeit Forschungsgelder einzuwerben.14,15 Darüber hinaus umfassen diese wirtschaftlichen Prozesse – und darin liegt die eigentliche ethische Brisanz der Stammzellforschung – ein neues gesellschaftliches Phänomen: Die Inwertsetzung des Körpers und seiner Substanzen. Zwar werden Materialien spätestens seit Entstehung der Medizin vom Körper abgetrennt und als Forschungsobjekte verwendet. Doch erst seit einigen Jahren wird ihnen eine große ökonomische Bedeutung zugeschrieben. Sowohl embryonale als auch adulte16 Stammzellen werden aus menschlichen Körpern er-

14 Selbst Forscher, die nicht mit embryonalen Stammzellen arbeiten, sprechen sich für eine unbegrenzte Forschung an Embryonen aus. Denn alle sind auf Mittel der im Bereich bundesdeutscher Stammzellforschung bedeutendsten Wissenschaftsorganisation, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), angewiesen. Die DFG setzt sich für eine freizügige Regelung ein: „Wenn sie sich kritisch äußern, würden sie ihre Karriere opfern.“ Berndt (2008): 18. 15 Auch für Geisteswissenschaftler spielt Forschungsförderung eine Rolle: Die Entscheidung, sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen, findet auch in Abhängigkeit von Kriterien der Finanzierung statt. Nichtsdestotrotz macht es einen Unterschied, ob diese Kräfte benannt oder unsichtbar gemacht werden. So bezeichnete ein Lebenswissenschaftler in einem Interview für mein Post-Doc-Projekt die eigene im Vergleich zu geisteswissenschaftlicher Forschung als höherrangig, weil sie Leben retten würde. Zur eigenen Positionierung u. 16 Auch die Forschung an adulten Stammzellen ist eine Forschung am Körper, das heißt eine Praxis, die mittels Körperstoffen Mehrwert schaffen soll. Adulte Stammzellforschung ist deshalb nicht per se ethisch unbedenklich und kann ebenso wie Forschung mit Embryonen Teil der Inwertsetzung des Körpers sein. Zu bedenken ist ebenfalls, dass der Begriff adulte Stammzellen als Gegensatz zu embryonalen Stammzellen funktioniert und seine Bedeutung vor allem aus der Differenz zieht. Christine Hauskeller hat darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung adulte Stammzellen in der Debatte suggeriert, dass sie adulten – erwachsenen – Personen entnommen werden und dahinter eine ethisch unproblematische Forschung steht. Doch im Grunde umfassen adulte Stammzellen alle Zellen außer

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schlossen und fungieren dann im Labor als Rohmaterial der Forschung. Durch ihre Bearbeitung werden sie zu einem essentiellen Teil von Wertschöpfungsprozessen, zu einem Produktionsstoff.17 Als Werkzeuge der Grundlagenforschung sind Stammzellen bereits realer Bestandteil von profitabler Forschung. Darüber hinaus wird an Stammzellen auch ein Markt projektiert:18 Stammzellen sollen zukünftig zu Körperstoffen, Geweben, Medikamenten oder Therapien verarbeitet werden, auf die Patente vergeben und die mit hohen Gewinnen verkauft werden können. Diese Gewinne kommen dann aber nicht der Person zu, der die Körperstoffe entnommen worden sind, sondern demjenigen, der das Patent auf das neue Medikament, die Therapie oder den hergestellten Körperstoff hält – einem Unternehmen, einer Institution oder einem Forscher.19 Der Körper ist somit nicht nur grundlegender Bestandteil von Stammzellforschung, sondern auch für die daraus resultierenden Gewinne.20

den Embryoblast-Zellen*: Adulte Stammzellen sind jegliche Stammzellen, die einem Entwicklungsstadium nach der Blastozyste entnommen worden sind. Darunter fallen auch Stammzellen aus abgetriebenen Embryonen und Föten, von Kindern, aus Nabelschnurblut etc. Das Paar adult/embryonal konnotiert somit erlaubte und unerlaubte Forschung, obgleich die Forschungspraxis hinter dem Begriff wesentlich komplexer ist. Vgl. Hauskeller (2006): 43. 17 Vgl. Feyerabend (2002): 26. Vgl. Gehring (2006): 17ff.; Bock von Wülfingen (2007): 309. 18 Vgl. Feyerabend (2002): 26. 19 Das Patent für die Gewinnung und für mögliche, sich anschließende Therapien von embryonalen menschlichen Stammzellen halten Thomson und WARF, die Technologietransferstelle der University of Wisconsin. Vgl. Rubin (2007): 183. In Deutschland hat sich der Neuropathologe Oliver Brüstle das Patent auf die Herstellung und ‚therapeutische Nutzung‘ neuraler Vorläuferzellen gesichert. Vgl. Feyerabend (2004): 199. 20 Vgl. auch das Stichwort Eizell-Business: In den USA nimmt die Bereitschaft besonders von Studentinnen, ihre Eizellen zu verkaufen, zu. Der Gen-ethische Informationsdienst (GiD) spricht in einer Nachricht von einem neuen Trend: Etwa 30.000 Kinder wurden dort bereits aufgrund einer Eizell‚spende‘ geboren. Frauen, die als mit einem besonders ‚hohen

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Die folgende Arbeit will deshalb die Frage beleuchten, wie die Bioethik – die ethische Problematisierung der Stammzellforschung – auf den ‚Zugriff‘ neuer bioökonomischer Praktiken auf den Körper reagiert: Sehen Bioethiker in der zunehmenden Kapitalisierung des Körpers ein Problem? Wie werden die Ökonomisierung des therapeutischen Raumes und die Rolle des Körpers im Zuge neuer Bio- und Reproduktionstechnologien in bioethischen Konzepten thematisiert? Mittels welcher ethischer Konzepte versuchen bioethische Diskurse, die Kommodifizierung des Körpers zu fassen? Der Zusammenhang von Stammzellforschung und Geschlechterleib Eine weitere sich geradezu zwangsläufig anschließende Frage ist die nach Geschlecht. Denn die angesprochenen Inwertsetzungsprozesse verlaufen nicht geschlechtsneutral, sondern zielen besonders auf einen reproduktiven – und damit immer auch vergeschlechtlichten – Körper.21 Feministische Medizinkritik hat vor allem den Einbezug des Frauenkörpers herausgearbeitet.22 Ihr zufolge können Stammzellen auf vier Weisen aus dem Frauenleib gewonnen werden: •



Aus abgetriebenen Föten, denen Vorläufer von Ei- und Samenzellen* entnommen werden. Die Vorläuferzellen werden dann im Labor weiter entwickelt.23 Diese Möglichkeit der Stammzellgewinnung begründet, dass in der Debatte um Stammzellforschung auch Abtreibung regelmäßig diskutiert wird. Durch In-vitro-Fertilisation (IVF)*, ‚künstliche Befruchtung, bei der mehrere Eizellen* befruchtet werden, aber nicht alle in die Gebärmutter der Frau übertragen, sondern eingefroren werden. Mit der IVF standen erstmals Embryonen außerhalb des Frauenleibes zur Verfügung, weshalb auch IVF zu einem Thema im Stammzelldiskurs geworden ist.24 IQ‘ oder als herausragend ‚gut aussehend‘ eingestuft werden, verlangen teilweise für ihre Eier Spitzenpreise und machen daraus einen regelrechten „Eizellspenden-Business“. Vgl. GiD (Dezember 2002/Januar 2003).

21 Vgl. Gehring (2006): 79. 22 Vgl. Krones (2005): 34. 23 Vgl. Schneider (1995): 172ff.; Feyerabend (2004): 198. 24 Vgl. Sexton (2005).

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Durch das sogenannte therapeutische Klonen, bei dem Embryonen für die Stammzellforschung hergestellt werden: Durch den Transfer eines Zellkerns aus Körpergewebe in eine zuvor entkernte Eizelle entstehen Leibesfrüchte. Für das Forschungsklonen wird eine große Anzahl von Eizellen benötigt.25 Aus Nabelschnurblut, auch Plazentarestblut genannt. Es wird während des Geburtsvorganges gewonnen. Die Nabelschnur wird nach der Geburt des Kindes und vor der Geburt der Plazenta durchtrennt. Dann wird eine Nadel eingeführt und das Blut in einem Beutel aufgefangen.26

Diese Aufzählung macht vor allem Zweierlei deutlich: Erstens werden mit Entstehung der Stammzellforschung ‚Materialienʻ wie abgetriebene Leibesfrüchte, Blut und nicht eingesetzte IVF-Embryonen nicht länger als Abfall eingestuft, sondern zu einer wert-vollen bioökonomischen Ressource. Zweitens ist der Frauenleib in Verfahren rund um die Stammzellforschung intensiv eingebunden: Frauen, so die feministische Medizinkritik, gehen durch die IVF starke Risiken ein.27 So trage bei einer künstlichen Befruchtung (IVF) die psychische und gesundheitliche Belastung des ungewollt kinderlosen Paares vor allem die Frau – auch in Fällen, in denen die Ursachen beim Mann liegen: Vor der Durchführung einer In-vitro-Fertilisation muss sich die Frau zunächst einer Hormonbehandlung unterziehen. Denn pro weiblichem Zyklus reift normalerweise nur eine Eizelle heran. Für die künstliche Befruchtung werden jedoch mehrere Eizellen benötigt. Deshalb werden hohe Hormondosen verabreicht, die dann zur gewünschten Reifung mehrerer Eizellen führen und mit einer Hohlnadel unter Ultraschallkontrolle entnommen werden. Im Glas, in vitro, werden die Eizellen anschließend mit dem männlichen Sperma zusammengebracht, wobei ein einzelnes Spermium mit Hilfe einer feinen Glaspipette in die Eizelle eingefügt wird. Zur Herbeiführung einer Schwangerschaft werden die be-

25 Vgl. Graumann/Poltermann (2006): 15 & 17; Feyerabend (2004): 198. 26 Vgl. Manzei (2005): 8ff. 27 Zu einem Überblick über die feministische deutsche Debatte vgl. Krones (2005).

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fruchteten Eizellen im Labor zwei Tage kultiviert und schließlich in die Gebärmutter gesetzt.28,29 Für Stammzellforschung und für IVF gilt somit gleichermaßen, dass die Eizellgewinnung für die Frau immer eine Hormonbehandlung bedeutet und dass sie starke gesundheitliche Risiken bergen kann. So bekommen 0,7 Prozent der Frauen in Folge der Hormonbehandlung ein im Extremfall lebensbedrohliches Hyperstimulationssyndrom. Die Eizellpunktion ist zudem mit Eingriffsrisiken wie vaginalen Blutungen und Darmverletzungen verbunden und neue Studien haben ergeben, dass Langzeitfolgen wie ein erhöhtes Risiko für Eierstockkrebs verstärkt bei ehemaligen IVF-Patientinnen auftreten. Nicht zuletzt bedeutet In-vitro-Fertilisation, dass versucht wird, das sozial erzeugte Phänomen des Kinderwunsches30 rein medizinisch zu lösen. Dabei sind die Erfolgsaussichten, durch eine IVF schwanger zu werden, eher gering, während die psychische Belastung durch Hoffen, Bangen, Warten und oft durch wiederholte Misserfolge einen grundlegenden Bestandteil der Behandlung ausmacht.31 Schließlich haben Feministinnen auch auf die ökonomische Interessen hingewiesen, die im Kontext der künstlichen Befruchtung von Bedeutung sind: Für Ärzte stelle die künstliche Befruchtung ein lukratives Geschäft dar. Diese Gewinnmöglichkeiten begünstigen aber, so die Kritik, dass den Frauen oft kein realistisches Bild von Erfolgsaussichten vermittelt wird.32

28 Vgl. Graumann (2002): 27. 29 Von ‚überzähligen‘ oder ‚verwaisten‘ Embryonen wird gesprochen, weil zwar mehrere Eizellen in Kultur befruchtet worden sind, jedoch nicht mehr zur Herbeiführung einer Schwangerschaft verwendet werden. Diese ‚IVF-Embryonen‘ werden stattdessen eingefroren und sind fortan für Stammzellforscher als potentielles Rohmaterial ihrer Forschungen von besonderem Interesse. Geben Paare in den USA ihre Embryonen für Forschungszwecke frei, müssen sie eine Erklärung unterschreiben, dass sie kein Geld dafür bekommen und keine Verfügungsrechte mehr darüber haben. Vgl. Keller (2008). 30 Zum Kinderneid als biographischer Effekt vgl. Mense (2004). 31 Vgl. Graumann (2002): 28f. 32 Vgl. dies.: 29. Vgl. Krones (2005): 34ff.

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Kurzum: Außer Frage steht, dass die Frau samt ihrem Körper intensivst und risikoreich in das Geschehen rund um IVF und Stammzellforschung eingebunden ist.33 Nichtsdestotrotz bleiben in der skizzierten feministischen Medizinkritik Vergeschlechtlichungsprozesse jenseits der Identität die Frau unbedacht: Welche Rolle der männliche Partner im Kontext IVF spielt, inwiefern oder auf welche Weise auch reproduktive Körper, die beispielsweise als Männerkörper oder als Körper jenseits der Geschlechter Mann und Frau klassifiziert werden, von Inwertsetzungsprozessen betroffen sind oder welche Rolle Kategorien wie Behinderung oder Heteronormativität spielen, bleibt ungeklärt.34 Ebenfalls ist der genaue Zusammenhang von reproduktiver Subjektivierung und Ökonomisierung bislang wenig untersucht: Wie wirken sich ökonomische Kalküle, die Möglichkeit IVF-Embryonen auch für Stammzellforschung zu verwenden, auf das klinische Geschehen der In-Vitro-Fertilisation konkret aus?35 Trotz dieser in der deutschen Genderdebatte um Gen- und Reproduktionstechnologien bislang wenig beleuchteten Fragen, kann für die folgenden Untersuchungen der Bioethik festgehalten werden, dass Bio- und reproduktionstechnologische Vorgänge nicht nur in einem engem Zusammenhang mit Inwertsetzungsprozessen des Leibes stehen, sondern dass diese Vorgänge auch vergeschlechtlicht sind. Ge-

33 Um nicht jene hierarchischen Geschlechterdifferenzen, die in der Gewinnungspraxis reproduktiver Substanzen zweifelsohne bestehen und hergestellt werden, unsichtbar zu machen, spreche ich im Folgenden von reproduktiven Geschlechterleibern und Frauenleib. 34 Zu Männlichkeitskonstruktionen in britischer Gesundheitspolitik und durch neue Bio- und Reproduktionstechnologien vgl. Daniels (2006). 35 Die Arbeiten von Sarah Franklin stellen hier die bislang nuancierteste Behandlung dar und beziehen sich aufgrund der rechtlichen Situation – in Deutschland ist die Verwendung und Herstellung von IVF-Embryonen für Stammzellforschung bislang verboten – auf den britischen Kontext. Franklin untersucht aus einer ethnographischen Perspektive den Raum zwischen dem klinischen Kontext der IVF und der Stammzellforschung – dem „IVF-Stem Cell Interface“. Vgl. Franklin 2006. Zu einer Diskussion ihres Ansatzes u. D.

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schlecht und Ökonomie sollen in der folgenden Arbeit zentrale Analysekategorien bilden und untersucht werden, wie die geschlechtlichökonomischen ‚Färbungenʻ der Bio- und Reproduktionstechnologien in den Diskursen der Bioethik verhandelt werden. Die vorliegende Arbeit stellt damit keine Klärung der Frage dar, ob Stammzellforschung zugelassen oder verboten werden sollte. Auch die Auswirkungen der technologisch-empirischen Praxen geben zwar den Hintergrund für diese Arbeit ab, sollen aber nicht direkt behandelt werden. Den Gegenstand der Untersuchung sollen vielmehr die bioethischen Wissensproduktionen bilden. Das Ziel ist folglich eine Dechiffrierung ihrer ‚zugrunde liegenden ʻ Körper- und Geschlechtercodierungen. Dabei soll besonders gefragt werden, ob bioethische Diskurse die Kommodifizierung des Körpers als eine Inwertsetzung des Geschlechterleibes reflektieren: Nehmen Bioethiken zur Kenntnis, dass sich die wirtschaftliche Nutzung des Körpers geschlechtsdifferenzierend36 auswirkt und wie thematisieren sie diese Tatsache? Geschlecht, Heteronormativität und Behinderung Geschlecht verstehe ich nicht als zugrunde liegendes Wesen oder als feststehende Identität, sondern als gesellschaftliches und historisches Produkt. Die Bezeichnungen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ oder ‚Frau‘ und ‚Mann‘ werden als historisch entstandene, gesellschaftliche ‚Strukturierungsprinzipien‘ verwendet. Ich versuche folglich, die skizzierten Tendenzen zu erfassen, zugleich aber einen dekonstruierenden Blick auf die binären Kategorien zu entwickeln. Denn besonders im Kontext von Reproduktionstechnologien birgt wie angedeutet der Verweis auf eine weibliche Perspektive die Gefahr des Essentialismus, der Festschreibung von Frauen auf ihre Gebärfähigkeit. Zugleich werden damit ‚nicht-heterosexuell Lebendeʻ und Existenzweisen in den Räumen zwischen dem, was als Mann und Frau bezeichnet wird, ausgeblendet.37 Ich strebe deshalb im Folgenden keine allein feministische, sondern eine transgendere sowie queer-feministische38 Perspektive auf bioethische Diskurse an und interessiere mich dafür, inwiefern 36 Zur Geschlechtsdifferenzierung u. 37 Vgl. dazu auch D. 38 Zum Verhältnis der Begriffe ‚queer‘, ‚feministisch‘ und ‚postfeministisch‘ vgl. Voß (2007): 70ff.

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Bioethiken existierende heteronormative Gesellschaftsarrangements stabilisieren oder entprivilegieren. Mit der Bezeichnung transgender und queer-feministisch oder trans/queer wird Diskussionen um diese Begriffe Rechnung getragen: Der Begriff „Queer“, der für ein Denken, eine Politik und Auseinandersetzungen steht, die heterosexuelle Geschlechterregime hinterfragen, ist seit seiner Einführung in das Feld der Geschlechterstudien umkämpft.39 Die ausschließliche Konzentration queerer Analysen auf die Opposition von Homo- und Heterosexualität führe – so die Kritiken – dazu, dass transgeschlechtliche, transsexuelle und intersexuelle Existenzweisen aus dem Blick geraten oder schlichtweg vereinnahmt werden. Auch würden transgendere Perspektiven die Frage des geschlechtlichen Körpers noch einmal stärker thematisieren als queere.40 Statt jedoch an dieser Stelle neue disziplinäre Identitäten zu schaffen und die Frage der sexuellen Praktik dem Feld der Queer Theorie und die des geschlechtlichen Körpers den Transgender Studies zuzuordnen, versuche ich queer und transgender zusammen zu denken und beide Begriffe in Form von transgender/queer oder trans/queer als kritische Perspektiven auf Heteronormativität zu verwenden. Anders ausgedrückt: Heteronormativität ist durch eine sich gegenseitig bedingende und hierarchisierende Beziehung binärer Konzepte von Gender sowie Heterosexualität gekennzeichnet. Zwischen hierarchischer Geschlechterdifferenz und normativer Heterosexualität besteht eine konstitutive ‚Wechselseitigkeit‘.41

39 Georg Klauda zeigt, dass der Bezug auf die Zeichen Queer und Transgender zu einer Entdifferenzierung verschiedener Existenzweisen beiträgt. Zwischen den zwangsheterosexualisierenden Erfahrungen von Transsexuellen und Intersexuellen bestehe beispielsweise ein bedeutender Unterschied, weil erstere durch einen Geschlechtsübergang eine eindeutige Geschlechtsmarkierung begrüßen, den letztere als gewaltsame Verortung erleben würden. Vgl. Klauda (2002): 42. 40 Zum teils problematischen Verhältnis von Transgender und Queer vgl. Stryker (2006). 41 Ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis meint jedoch nicht, dass es sich bei den Kategorien Sexualität und Geschlecht um zwei abgeschlossene

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Im Folgenden versuche ich dieses Verhältnis beider Kategorien mit dem Begriff heteronormativ zu fassen. Heteronormativität betont dabei mehr als normative Heterosexualität, dass nicht lediglich sexuelles Begehren, Sexualpraktiken, sexuelle Vorlieben und Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch gesellschaftliche Bereiche wie Ökonomie, Recht, Staat, Medien, Wissenschaft etc. durch die unmarkierte Norm einer naturalisierten Heterosexualität gekennzeichnet sind.42 Ich gehe mit der Verwendung dieses Begriffs somit davon aus, dass Heteronormativität soziale Praktiken einschließlich individueller Gesundheitsvorsorge, medialer Debatten, biorechtlicher Entscheidungstexte, staatlicher Gesundheitspolitiken und mehr umfasst. Darüber hinaus wird die Heterosexualisierung von Geschlecht und umgekehrt die geschlechterhierarchische binäre Anordnung der sozialen Organisation von Sexualität hervorgehoben.43 Die Begriffe transgender, queer und feministisch verwende ich abwechselnd oder in Form von trans/queer und queer/feministisch, darauf verweisend, dass sie einen unterschiedlichen sich teilweise überschneidenden Entstehungskontext haben und wie skizziert bestimmte Herrschaftsverhältnisse beinhalten. Schließlich soll die Fragestellung auch um die Kategorie Behinderung erweitert werden. Diese Weitung des Blickes bietet sich an, weil Bio- und Reproduktionstechnologien jene Kategorie immer schon als Negativfolie eingeschrieben ist: Vorstellungen von Behinderung sind in der biomedizinischen Praxis und Forschung ohnehin stets präsent – präsent allerdings nur allzu oft in einem problematischen Sinne. Denn es ist kaum zu übersehen, dass das Ideal der Stammzellforschung ein nicht-kranker und nicht-behinderter Mensch ist. So weist Ernst-

Einheiten handelt. Dass (Homo- und Hetero-)Sexualität als ein umgrenzter, definierbarer und ahistorischer Bereich gesellschaftlich wahrgenommen wird, ist vielmehr selbst ein Produkt von gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtverhältnissen. Vgl. Hark (1999): 71. 42 Vgl. Engel (2002): 59. Vgl. Butler (1998); Boudry et al. (2000): 12f. 43 Engel (2002): 10. Der von mir verwendete Begriff ‚Vergeschlechtlichung‘, ‚geschlechtsspezifisch‘ oder ‚geschlechtlich codiert‘ beinhaltet daher die dargestellten Aspekte von Heteronormativität und Zwangsheterosexualität.

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Ludwig Winnacker, Ex-DFG-Chef und Generalsekretär des European Research Council darauf hin, dass Stammzellforschung in der Grundlagenforschung derzeit vor allem dazu dient, den Ablauf von embryonalen Entwicklungsvorgängen zu untersuchen. Aus der Untersuchung von Stammzellen sollen Rückschlüsse über die Voraussetzungen gezogen werden, die notwendig sind, damit sich ein Embryo entwickelt.44 Unbenannt bleibt dabei, dass diese Entwicklung als eine ‚normale‘ vorausgesetzt wird – als eine, aus der kein Menschen mit Behinderung hervorgehen darf. Menschen mit Behinderung sind jedoch nicht nur in besonderem Maße von Bio- und Reproduktionstechnologien betroffen. Sie sind auch in etlichen feministischen, kulturwissenschaftlichen oder medizinhistorischen Arbeiten zu den Lebenswissenschaften kein Thema oder werden auf problematische Weise dargestellt. So entwirft Donna Haraway, eine der meist rezipiertesten feministischen Wissenschaftstheoretikerinnen, ihre eigene Theorie anhand von Beispielen, in denen „Behinderte“ eine Rolle spielen. Dabei wird Behinderung jedoch nicht als vielschichtige und ambivalente Lebenserfahrung dargestellt, sondern auf eine defizitäre Figur reduziert.45 Behinderung wird im Folgenden nicht medizinisch, als individuelles Phänomen, sondern als gesellschaftlich bedingt und sozial praktiziert verstanden. Dennoch: Ich setze die Kategorie Geschlecht als Ausgangspunkt und versuche transgendere und queere Kritik sowie Perspektiven der kritischen, feministischen und queer-feministischen Disability Studies einzubeziehen bzw. auf diese Weise in die Wissensproduktionen der Gender Studies einzubringen. Mit dieser Setzung geht zweifelsohne

44 Vgl. Winnacker (2008): 18. Vgl. auch die Forderung Jürgen Heschelers, Stammzellforscher an der Universität Köln, der Anfang 2008 für eine Verschiebung des Stichtages im Stammzellgesetz (StZG) plädiert, weil die alten Zellen „zahlreiche Chromosomendefekte“ hätten, ihr Erbgut „schwerwiegend verändert“ sei. Hescheler (2008): 18. Vgl. Bentele (2007): 122. 45 Der behinderte Körper bildet die Folie für ihre Körperdiskussion und reproduziert indirekt das Ideal des nicht-behinderten Körpers. Vgl. Marz (2004); Kalender (2009).

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die Gefahr der Hierarchisierung einher.46 Ich habe mich dennoch aus Gründen der kritischen Selbstpositionierung dafür entschieden.47 Erstens bewege ich mich vor allem im institutionellen Kontext der Gender Studies. Akademische Sozialisierungen, institutionelle Anbindungen, Finanzierungen, Einladungen zu Konferenzen oder Workshops fanden und finden vor allem im Kontext der Gender Studies und nicht jenen der Queer, Transgender oder Disability Studies statt. Vor diesem institutionellen Hintergrund begreife ich meine eigenen Wissensproduktionen als kritische Intervention in die Gender Studies. Zweitens werde ich tagtäglich als nicht-behindert, eindeutige und zumeist auch heterosexuelle Frau klassifiziert – samt der Zuteilung damit verbundener materieller, ökonomischer, symbolischer, emotionaler oder institutioneller Privilegien. Von der Kategorie Geschlecht auszugehen bedeutet somit auch, dass ich beispielsweise die Kategorie Behinderung zwar als gleichwertig und bedeutend erachte und versuche zu berücksichtigen, dass ich mir jedoch nicht anmaße gleichsam als oder über ‚Behinderte‘ zu sprechen. Diese Aussage soll einer kritischen Selbstpositionierung Rechnung tragen und keine Distanzierung von Behinderung bedeuten, sprich: Ich versuche mir der eigenen Privilegierungen und zugleich der eigenen behinderten Anteile bewusst zu sein, also der täglichen Klassifikation qua Sichtbarkeitsregimen als Nicht-Behinderte sowie der Fragilität dieser Identifikationen – der immer vorhandenen Möglichkeit in die Kategorie Behinderte zu rutschen. Nichtsdestotrotz bleibt auch diese kritische Selbstreflexion ein bloßes Gestehen der eigenen Privilegien, eine weitere eingeübte Selbsttechnologie und damit eine Abstraktion von den Verhältnissen, wenn nicht die institutionellen, materiellen, wissenspolitischen und weitere Verhältnisse verändert werden: Wenn nicht als Frauen mit Behinderung, Transgender oder als intersexuell klassifizierte Menschen (um nur einige zu nennen) Zugang zu den genderwissenschaftli-

46 Ebenfalls behandele ich Fragen der ‚Rass‘ifizierung und ‚Ethni‘sierung nicht und bin mir bewusst, dass ich damit die Weiße Genealogie der Geschlechterstudien und besonders der feministischen Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologien fortschreibe. 47 Zur kritischen Selbstpositionierung oder Hegemonieselbstkritik vgl. Dietze (2008).

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chen Wissensproduktionen erhalten und sie maßgeblich selbst gestalten. Biomedizinische Körper und eigener Leib? Körper werden im Spannungsfeld der drei Dimensionen Institution, Diskurs und Leiblichkeit generiert.48 Eine Institution kann eine Einrichtung wie das Gericht oder das Krankenhaus sein. Unter eine Institution fallen aber auch Phänomene wie die Heterosexualität, die sich nicht auf einen Ort begrenzen lassen. Gemeinsam ist verschiedenen Institutionen jedoch, dass sie mit der Macht ausgestattet sind, Diskurse zu bündeln und zu verdichten. Wolfgang Haug bezeichnet eine Institution deshalb als eine „soziale Reproduktionsform“, als das sich „zwischen anerkannter Regelmäßigkeit und normativer Geregeltheit [...] Wiederholende“.49 Für die folgende Untersuchung ist festzuhalten, dass Institutionen als Regulierungsinstanz fungieren, die gesellschaftliche Kräfteverhältnisse mehr oder weniger einheitlich in eine spezifische Richtung lenken können. Dabei sind ihnen bestimmte objektivierte Körperverständnisse eingeschrieben, die eine größere gesellschaftliche Verbindlichkeit beanspruchen als die Ebene der Leiblichkeit oder des Diskurses. Diskurse sind wiederum konstitutiv für eine Institution und können umgekehrt meist an eine Institution rückgebunden werden. Denn Diskurse flottieren nicht frei im Raum, sondern sind für ihre Existenz und Realisierung auf Institutionen angewiesen. Institutionen bestehen folglich unter anderem aus Diskursen, sind jedoch in ihrer relativen materiellen Anordnung stabiler als Diskurse und verleihen umgekehrt bestimmten Diskursen Stabilität. Diskurse transportieren meist die Körperverständnisse von Institutionen. Sie sind jedoch nicht mit der Institution identisch, sondern einer Institution ‚vorgängig‘ bzw. wandelbarer und bieten so eine größere Möglichkeit für konfligierende Körperverständnisse. Leiblichkeit meint wiederum die Ebene des individuellen Körpers und verweist darauf, dass Subjekte selbst zu Produzenten von spezifischen Verständnissen des Leibes werden können. Leiblichkeit findet zum Beispiel dann statt, wenn sich ein Mann über die Lieblosigkeit 48 Vgl. Frank (1991): 49; Kalitzkus (2003): 19. 49 Haug (2004): 1221.

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aufregt, mit der Ärzte seine Frau behandeln, die im Krankenhaus im Wachkoma liegt. Aus der Perspektive des Mannes lebt die Frau. Denn sie atmet, schwitzt und scheidet aus und vor allem: Sie zeigt emotionale Regungen, wenn ihr Mann sie berührt. Für die Ärzte ist die Frau hingegen bereits tot und wird nur noch künstlich belebt. Die Aufregung des Mannes ist aus ihrer Sicht die eines Laien; sie entspricht aber nicht den objektiven Fakten medizinischer Wissenschaft. An dieser Stelle unterscheidet sich die institutionelle Körperlichkeit der Medizin von der erlebten Leiblichkeit des Mannes, weshalb es zu Konflikten kommt. Leiblichkeit ist jedoch eine analytische Bezeichnung, weil auch individuelle Leiblichkeit nie gänzlich in seiner Eigentlichkeit beschrieben werden kann, sondern immer schon auf Diskurse und Institutionen bezogen ist und erst in diesem Verhältnis konstituiert wird. Zwischen Leiblichkeit und dem objektiviertem Körper einer Institution können spannungsreiche Differenzen bestehen. Beide können jedoch auch schlicht zusammen fallen. Denn andere Menschen in der oben beschriebenen Situation übernehmen intensivmedizinische Verständnisse und halten ihre Frau selbst für tot. Für die Frage nach gesellschaftlicher Veränderung und Möglichkeiten der Intervention ist jedoch die analytische Trennung zwischen beiden Ebenen wichtig. Denn nur so können Differenzen zwischen hegemonialen Körpermodellen und Selbstverhältnissen erfasst werden. Körper entstehen folglich in einem Konstruktionsprozess, der sich aus institutionellen und diskursiven Körper- sowie aus individuellen Leibverständnissen zusammensetzt. Im Zentrum der folgenden Untersuchung steht der diskursive Körper: Die Körperverständnisse in bioethischen Expertendiskurse, das heißt die institutionell geleitete Konstitution des Körpers. Um jedoch diese Körpermodelle besser herausarbeiten zu können, behalte ich die begriffliche Unterscheidung von Körper und Leib bei. Leib fungiert als argumentative Kontrastfigur zu Körper und soll eine Differenz zu bioethischen Körperkonzepten herstellen. Ich verwende den Leibbegriff folglich nicht, um einen authentischen, nicht-überformten oder vorgesellschaftlichen Ort von Leiblichkeit zu beschreiben.50 Denn die

50 Zum Begriffspaar und zur Unterscheidung Körper/Leib vgl. KrügerFürhoff (2005): 70.

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Betonung von Eigenleiblichkeit kann leicht selbst zum Teil von Machtverhältnissen werden.51 Der affirmative Bezug auf eine vorgesellschaftliche weibliche Körperlichkeit hat beispielsweise in Teilen der medizinkritischen Bewegung dazu geführt, dass eine neue Norm authentischer Sexualität und Weiblichkeit erfunden wurde. Das Sexualitätsdispositiv wurde dadurch lediglich erweitert, jedoch nicht ins Politische gewendet.52 Zudem haben, wie bereits angemerkt, Arbeiten zum Selbst in biomedizinischen Kontexten gezeigt, dass biomedizinische Körpermodelle und leibliche Selbstwahrnehmung deckungsgleich sein können. Die Betonung eines gelebten Selbst ist deshalb nicht per se widerständig.53 Die Körperverständnisse in bioethischen Diskursen entsprechen ferner dem „politischen Körper“.54 Mit der Bezeichnung politischer Körper soll die Ebene der Bio-Macht in den Blick genommen werden, die wiederum ein von Michel Foucault geprägter Begriff ist. Der französische Philosoph wies mit der Bezeichnung auf ein spezifisches Charakteristikum neuzeitlicher Machtverhältnisse hin, die ‚das Leben selbst‘ für ihre Zwecke einspannen. Den Mittelpunkt der Bio-Macht mit den beiden Polen Disziplinarmacht und Biopolitik der Bevölkerungen55 bildet der Körper. Als individueller soll der Körper normalisierend diszipliniert und seine Kräfte einer kapitalisierten Ökonomie

51 Vgl. u. C.2.2.2. 52 Vgl. Bührmann (1995); Hannah und Bernd (2007): 62. 53 Kalitzkus zeigt für den Kontext Organtransplantation, dass Menschen biomedizinische Körperkonzepte übernehmen (die meines Erachtens neoliberalen Nutzenkalkülen entsprechen) und das nicht als Fremdbestimmung beschreiben. Vgl. Kalitzkus (2003a): 47. Vgl. zur PID auch Krones (2006): 210; zur IVF Hess (2008): 5. 54 Die Bezeichnung politischer Körper geht auf Scheper-Hughes/Locke (1987) zurück, die zwischen individuellem, sozialem und politischem Körper differenzieren und den drei Unterscheidungen verschiedene theoretische Herangehensweisen zuordnen: Phänomenologische Ansätze befassen sich mit dem individuellen Körper, das heißt mit dem gelebten Selbst. Strukturalismus und Symbolismus sind primär mit dem sozialen Körper beschäftigt und ‚der‘ Poststrukturalismus mit dem politischen Körper. 55 Vgl. Foucault (1997): 161ff.

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zugeführt werden.56 Durch Regulierung des Kollektivkörpers sollen zudem bevölkerungspolitische Ziele realisiert werden. Auf dieser Ebene gilt ein „männlicher Normkörper“, zu dem alles ‚Abweichende‘ (‚Frauen‘, ‚Juden‘, ‚Kranke‘, ‚Behinderte‘ oder ‚Fremde‘) abwertend ins Verhältnis gesetzt und im extremsten Fall vernichtet wurde.57 Foucault ging implizit von einem integralen Körper aus. In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch um eine qualitativ neue Macht über das Leben. Denn Biotechnologien wie die Stammzellforschung dringen unter die Haut und erschließen den Körper vor allem in seiner ‚Tiefe‘ als einen neuen „Interventionsraum“.58 Diese Bio-Macht löst Körpergrenzen folglich auf und fragmentiert den Körper.59,60 Organe, Gewebe oder Zellen werden in aufwendigen Verfahren aus dem Körper herausgelöst, im Labor weiterverarbeitet und teils in den Körper rücküberführt. Über den individuellen Körper hinaus werden in diesen Prozessen auch Körpergrenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen Körpern verschiedener Menschen und Generationen überschritten

56 Ders. (1997): 168f. 57 Vgl. Feyerabend (2002): 26. 58 Vgl. dies. Vgl. Lemke (2004a): 268 & ders. (2000): 240; Birke (1999): 43. 59 Vgl. Feyerabend (2002): 26ff. Zur Infragestellung eines integralen Körpers in wissenschaftlichen Konzeptionen vgl. Baudrillard (1991): 90; Duden (1987); Birke (1999): 43; Haraway (1995): 51 & 171 & 186; Lemke (2004a): 268. 60 Die Erschließung des Körperinneren durch Machtverhältnisse ist keine neue historische Tatsache und bereits von der Körperhistorikerin Barbara Duden untersucht worden. Sie rekonstruiert in ihrer Geschichte unter der Haut, wie vor allem der weibliche Körper gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch verschiedene Wissenschaften von innen erschlossen wurde. Vgl. Duden (1987): 14ff. Duden zeigt jedoch, dass durch visualisierende Technologien und medizinisches Wissen das Körperinnere erschlossen wird und es dadurch zu einer objektivierenden Betrachtung des Körpers kommt. Den Hintergrund meiner Untersuchung bildet jedoch die Kapitalisierung des Körpers, seine ‚innere Landnahme‘ in einer genetisierten Machtökonomie. Dudens Ergebnisse bilden die Grundlage oder den epistemologischen Raum für die Vorgänge, die in meine Untersuchungen hineinspielen.

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oder besser in Frage gestellt. Biomedizinische Verfahren wie die Xenotransplantation, die Verpflanzung von Tierorganen in Menschen, stehen ebenso auf der Tagesordnung wie die Geburt geklonter Kinder, denen Organe für ihre kranken Geschwister entnommen werden sollen.61 Methode und Gegenstand Ein zentraler Bestandteil der Arbeit soll die gesellschaftswissenschaftlich geleitete diskursanalytische Untersuchung der bioethischen Diskurse zu Stammzellforschung sein. Diskurs ist in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem der meistverwendeten und zugleich schwammigsten Begriffe in den Geisteswissenschaften avanciert. Der Ausdruck wird oft mit neuerer französischer Philosophie und besonders mit Foucault in Verbindung gebracht.62 Er verwendete den Diskursbegriff erstmalig in der Archäologie des Wissens und beschrieb damit Verknüpfungen einzelner Aussagen nach bestimmten Formationsregeln: „Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören.“63 Diskurs ist hier eine bestimmte Anzahl von wissenschaftlichen Aussagen, die durch einen relativen Zusammenhalt gekennzeichnet sind. Den Zusammenhang denkt Foucault jedoch nicht als tiefe zugrunde liegende und verborgende Struktur, sondern als Oberfläche, die festellbare und beschreibbare Regeln aufweist. Diese Struktur des Wissens liegt sozusagen auf der Hand und wird dennoch nicht als solche benannt: Sie bleibt den Wissenschaftlern, die immer auch Alltagssubjekte sind, ‚unbewusst‘. Zugleich lenkt diese Struktur jedoch ihr Denken und ihr Handeln. Ein in sich geregelter Diskurs steuert und begrenzt somit gesellschaftliche Prozesse der Wissens(re)produktion, indem er bestimmte Aussagen wahrscheinlicher macht als andere. Mit der Bezeichnung des Diskurses oder besser der diskursiven Praxis lokalisiert Foucault Wissen in einem sozialen Kontext: Wissen und Macht sind keine sich ausschließenden Entitäten, sondern konstitutiv miteinander verschränkt. Macht ist dabei die Kraft, die entschei61 Vgl. Lemke (2004a): 270. Zu ‚hybriden Organismen‘ vgl. beispielsweise Haraway (1996): 374; Latour (1991): 7ff. 62 Vgl. Angermüller (2001): 7; Bock von Wülfingen (2007): 25f. 63 Foucault (1992): 170.

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denden Einfluss auf die Richtung des Diskurses hat. Diskurse sind in einem gesellschaftswissenschaftlichen Sinn folglich „mehr oder weniger erfolgreiche Versuche [...], Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren.“64

In einer Diskursanalyse bioethischer Texte kann es somit nicht darum gehen, Texte zu einem bestimmten Thema für sich und losgelöst aus ihren gesellschaftlichen und historischen Kontexten zu interpretieren. Stattdessen gilt es, die Art des Zusammenhaltes von bioethischen Texten verschiedener Disziplinen zu untersuchen und die (Re)Produktion von bestimmten Bedeutungen (und der damit einhergehende Ausschluss anderer) an ‚umfassendere‘ institutionell und gesellschaftlich bedingte Vorgänge rückzubinden. Fragen von Macht, Herrschaft und Hierarchien können damit als konstitutiver Bestandteil von Diskursen thematisiert werden. Die foucaultsche Diskursanalyse unterscheidet sich damit von sprachwissenschaftlichen, linguistischen oder objektiv-hermeneutischen Diskursanalysen. Denn beispielsweise haben linguistische Diskursanalysen zwar den Anspruch, Diskurse sozial zu verorten, die „formale Organisation der Sprache“ bleibt jedoch der zentrale Gegenstand der Diskursanalyse:65 „Die linguistischen Dimensionen (Syntax, Rhetorik, Morphologie, Semantik, Metaphernanalyse, Pragmatik) sind der eigentliche Schauplatz der methodologischen Untersuchungen.“66 Prägnante Rückschlüsse über die Frage, warum ein bestimmter Diskurs zu einer bestimmten Zeit entsteht und wie seine Struktur mit ge-

64 Keller (2004): 7. 65 Vgl. Diaz-Bone (2003); Angermüller (2001): 8. 66 Ders. Für die objektive Hermeneutik beschreibt beispielsweise Wernet den Text als die grundlegendste Manifestation sozialer Wirklichkeit: „Empirische Sozialwissenschaft muss sich für Texte interessieren, weil ihr Gegenstand ihr in Texten gegenübertritt und weil sie die Aussagen über ihren Gegenstand an nichts anderem als an Texten überprüfen kann.“ Wernet (2000): 11 & 12, Herv. i.O.

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sellschaftlichen Hierarchien, Machtverhältnissen und Transformationen zusammen hängt, lassen linguistische Diskursanalysen nur begrenzt zu. Beispielhaft ist dafür die sprachwissenschaftliche Untersuchung des Diskurses zu Stammzellforschung von Constanze Spieß. Sie stellt fest, dass es im Stammzelldiskurs Verweise zu anderen Diskursen wie Abtreibung, Klonen, Organspende, Transplantation und Präimplantationsdiagnostik (PID)* gebe und schließt daraus: „Hier wird deutlich, dass die Grenzen zwischen unterschiedlichen Diskursen nicht eindeutig sind: Ein Diskurs geht fließend in einen anderen über.“ Auch ist für Spieß die Dissoziation von Menschenwürde und Menschenleben eine „semantische Auseinandersetzung um bestimmte Wörter“.67 Doch warum diese Verbindungen zu anderen Diskursen hergestellt oder semantische Entkopplungen vollzogen werden und welche Funktionen diese Vorgänge in einem sozial-ökonomischen Setting haben, kann so nicht erklärt werden. Um die soziale Relevanz eines Diskurses nachzuvollziehen, geht eine gesellschaftswissenschaftliche Diskursanalyse deshalb über die Analyse einzelner Aussagen oder über das Aufzeigen der zeitlichquantitativen Verteilung bestimmter Wörter in verschiedenen Texten hinaus und untersucht stattdessen beispielsweise ganze Textarchive in Organisationen.68 Denn nur so könnte von Textkorpora auf diskursive Formationen und letztendlich auf eine historisch-spezifische Gesellschaftsordnung oder gesellschaftliche Phänomene geschlossen werden. Um also von Wissensordnungen auf Sozialstrukturen bzw. von diskursiven auf nicht-diskursive Praktiken schließen zu können, müsste eine rein textuelle Analyse ausgeweitet werden und die „Homologie von Wissensordnungen und Sozialstruktur“ bzw. der „Zusammenhang von diskursiven Praktiken und institutionellen Praktiken“ rekonstruiert werden.69 Foucault erweiterte seine Analysen deshalb um die Untersuchung von Dispositiven.70 Wie bioethische Diskurse als ‚Ausdruck‘

67 Spieß (2007): 41 & 60. 68 Vgl. beispielsweise Foucault (1976): 16 & 53, der dort Archive des Parlamentes oder des Gerichtes analysiert. 69 Diaz-Bone (2003). 70 Diskursive und nicht diskursive Praktiken sind verschiedene Formen gesellschaftlicher Praxis und werden deshalb beide als materiell gefasst.

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kollektiver Wissensordnungen institutionell reguliert werden, soll deshalb durch die Rekonstruktion des bioethischen Dispositivs in Kapitel B verdeutlicht werden. Aus diesem Diskursverständnis ergeben sich verschiedene forschungspraktische Kriterien für die Analyse bioethischer Diskurse: •

Inhalt: Ein Diskurs besteht aus einem abgrenzbaren Textkorpus, dessen Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche Kriterien bestimmt wird. Zum untersuchten bioethischen Korpus zähle ich alle Texte, deren Gegenstand das Thema Forschung an embryonalen Stammzellen ist. Durch diesen gemeinsamen Gegenstand stehen die bioethischen Texte untereinander in einer semantischen Beziehung und weisen einen gemeinsamen Funktionszusammenhang auf: Die Klärung der Frage, ob Forschung an Embryonen legitim ist und zugelassen werden sollte oder nicht. Dazu nehmen Bioethiker ebenfalls Bezug auf Themen wie Abtreibung, Klonen, Präimplantationsdiagnostik (PID) oder In-vitro-Fertilisation (IVF)*. Texte zu diesen Problematiken werden deshalb ebenfalls zum Textkorpus gerechnet. In der Diskursanalyse ist jedoch eine analytische Distanz zu diesen thematischen Verknüpfungen zu wahren: Die ideologischen Gründe für die diskursive Kopplung

Auch für den foucaultschen Diskursbegriff ist somit zentral, dass die Ebenen der Wissens- und der Sozialgeschichte nicht als sich binär gegenüber stehende Einheiten verstanden werden. Dennoch gibt es in seinem Werk einen Unterschied zwischen Dispositiven und Diskursen bzw. fand eine Verschiebung vom Diskurs- zum Dispositivbegriff statt. Denn Foucaults detaillereiche Analysen historischen Materials nach der Archäologie stellen eher Dispositiv- und keine Diskursanalysen dar. In dem sechs Jahre nach der Archäologie veröffentlichten Überwachen und Strafen und den folgenden Arbeiten taucht der Diskursbegriff kaum noch auf. In Sexualität und Wahrheit 1 verwendet Foucault den Diskursbegriff lediglich zur Beschreibung spezifischer Instanzen des Sprechens oder Schreibens über Sexualität. Vgl. Sawyer (2003): 53. Diese Verschiebung steht im Zusammenhang mit seinem veränderten Machtverständnis in seinen Spätarbeiten. Vgl. Lemke (1997): 259

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verschiedener gesellschaftlicher Praxisfelder sollen ebenfalls untersucht werden. Zeit: Der Textkorpus wird auf den Zeitraum von 1998 bis 2008 eingegrenzt. Das ist insofern sinnvoll, als das Jahr 1998 den Beginn der Stammzelldebatte in Deutschland markiert. Mit den Forschungsergebnissen von Thomson setzt eine auf den ersten Blick sehr kontrovers geführte Debatte um die Legitimität von Stammzellforschung ein. Zwar bauen die Diskussionen auf den moralisch-ethischen Auseinandersetzungen auf, die schon seit Mitte der 1980er Jahre mit Etablierung der In-vitro-Fertilisation geführt werden. Denn bereits die IVF hatte den moralischen Status des Embryos in Kultur zur Disposition gestellt. Stammzellforschung wird jedoch erstmals explizit zum Thema öffentlicher Auseinandersetzung. Diese Diskussion wird wiederum zunächst in den bundesdeutschen Feuilletons geführt.71 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind jedoch die ‚verwissenschaftlichen‘ bioethischen Diskurse, sprich ihre ‚Verlagerung‘ in wissenschaftliche Institutionen und ins akademische Feld.72 Denn diese Verschiebung zeigt die Ausbildung des bioethischen Dispositivs an: Hinter der Verwissenschaftlichung steht die biopolitische Strategie, gesellschaftliche Verhältnisse mittels bioethischer Institutionen, Gesetze etc. systematisch zu lenken. Bioethische Expertise soll so eine weitere gesellschaftliche Relevanz erhalten.73 Verortung: Ich analysiere zudem den deutschen und nicht den europäischen Diskurs zu Stammzellforschung. Obgleich die Europäische Union seit Anfang der 1980er Jahre als eigenständiger Akteur auf die biopolitische Bühne tritt,74 bleiben bundesdeutsche Politiken weiterhin der zentrale Faktor in der Strukturierung von Biotechnologien und ihren gesellschaftlichen Kontexten in

71 Vgl. die Beiträge in Geyer (2001). Zur linguistischen Diskursanalyse der Feuilletondebatte vgl. Spieß (2007) 72 Vgl. Herrmann (2008); Schultz (2008): 23: „Zudem haben sich bioethische Debatten [...] ausdifferenziert und sind zunehmend professioneller und akademischer geworden.“ 73 Vgl. Herrmann (2008): 56ff. 74 Zur Analyse europäischer Biopolitik vgl. Lösch (2001).

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Deutschland. Ein Grund dafür ist, dass Biotechnologien in Deutschland besonders über das Steuerungsinstrument der Forschungsförderung reguliert werden. Dieses Mittel der Governance, der spezifisch neoliberalen und dezentralen Form der Kontextsteuerung,75 liegt aber in den Händen des Bundesforschungsministeriums und der großen nationalen Wissenschaftsorganisationen, die personell eng verwoben sind.76 Die EU ist bislang aufgrund ihres kleineren Forschungshaushaltes in Deutschland hingegen kein zentraler Steuerer.77 Autoren: Ein weiteres Kriterium ist die ‚Bedeutung‘ bestimmter Autoren im Dispositiv der Bioethik. Nach 10 Jahren der Diskussion über Stammzellforschung ist der bioethische Textkorpus zu Stammzellforschung immens. Dennoch gibt es darin argumentative Grundlinien und Bioethiker, denen Schlüsselpositionen zugewiesen werden und denen stärker als anderen die Befugnis zugeschrieben wird, einen ‚legitimen Expertendiskurs‘ zu produzieren. Der Textkorpus wird deshalb auf Beiträge von Bioethikern zu Stammzellforschung eingeschränkt, die im interdisziplinären bioethischen Kontext aktiv sind und die bestimmte Positionen in den Institutionen des bioethischen Dispositivs einnehmen. Es handelt sich somit um die Texte von Autoren, die die Möglichkeit haben, über den eigenen Fachdiskurs hinaus auch die gesellschaftliche Praxis zu beeinflussen. Ich beanspruche somit nicht, die gesamte bioethische Diskussion zu Stammzellforschung repräsentativ darzustellen oder auszuwerten.78 Stattdessen habe ich nach dem Schneeballsystem Texte ausgewählt, die von anderen Bioethikern zur Kenntnis genommen worden sind und auf die andere Diskursproduzenten Bezug nehmen. Den Experten des bioethischen Dis-

75 Zum Begriff der ‚Governance‘ als spezifisch neoliberale Herrschaftsform vgl. Türk/Lemke/Bruch (2002): 292. 76 Dazu u. B.3.8.1. 77 Vgl. Grüber (2006): 279. 78 So handelt es sich nicht um eine korpuslinguistische Diskursanalyse, die den umfangreichen Gesamtdiskurs bestehend aus einer Vielzahl von Einzeltexten nach lexikalischen oder thematischen inhaltlichen Kriterien zusammenstellt. Vgl. Keller (2004): 23.

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positivs folge ich nur teilweise zum besseren Verständnis in den Fachdiskurs, der meines Erachtens weit differenzierter und widersprüchlicher ist als theologische, philosophische, rechtsphilosophische und lebenswissenschaftliche Bioethik. Eingeschränkte Interdisziplinarität: Ich untersuche die bioethischen Diskurse der Disziplinen Lebenswissenschaften, Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften und versuche besonders die Frage nach ihrer Zusammenarbeit zu stellen. Ich gehe somit nicht über ihre Dominanz im bioethischen Feld hinaus und beziehe keine jüdischen, muslimischen oder ‚ganzheitlich-medizinischen‘ Perspektiven auf die Biowissenschaften* ein. Mit dem Begriff Bioethik bezeichne ich nicht wie vielfach üblich lediglich die philosophische Bioethik, sondern alle ethischen Diskurse der genannten Disziplinen rund um die neuen Biotechnologien. Ferner versuche ich die spezifischen erkenntnisleitenden Fragen der einzelnen Disziplinen, ihre je eigenen epistemischen Bedingungen, herauszuarbeiten. Die zentrale Forschungsfrage ist deshalb dahingehend zu spezifizieren, wie die jeweiligen Disziplinen die Problematik reproduktive Subjektivierung und Inwertsetzung des Geschlechterkörpers reflektieren: Welches jeweilige Erbe drückt sich in den Körper- und Geschlechtermetaphern lebenswissenschaftlicher, rechtswissenschaftlicher, theologischer und philosophischer Bioethiken aus?

Forschungsstand Die Forschungsliteratur zum Thema Reproduktion, Geschlecht und Biotechnologien ist zweifelsohne ausdifferenziert. Sie lässt sich grob in verschiedene Stränge einteilen. Zum einen gibt es kulturhistorische Arbeiten, die die einschneidenden Veränderungen in geschlechtsspezifischen Körper- und Selbstverhältnissen nachzeichnen, die durch genund reproduktionstechnologische Verfahren stattfinden.79 Einen weiteren Bereich bilden wissenssoziologische Perspektiven auf biowissenschaftliche Erklärungsmodelle, die zugrunde liegende Verständnisse vom Körper herausarbeiten. Der Forschungs,gegenstand‘ sind natur79 Ich nenne in den nachfolgenden Fußnoten jeweils einige Beispiele und keine vollständige Aufzählung der Arbeiten im Forschungsfeld. Bergmann (1997); Duden (2002b); Treusch-Dieter (1990).

A. EINLEITUNG – S TAMMZELLEN

UND

GESCHLECHTERLEIBER | 37

wissenschaftliche Erkenntnisprozesse und Modelle.80 Andere feministische Arbeiten untersuchen die medizinischen Praktiken im humangenetischen Bereich und kritisieren die Auswirkungen auf das körperliche Selbstverhältnis von Frauen, ihre Abwertung zum fötalen Umfeld, ihre Entmündigung oder ihre Disziplinierung durch Ausblendung der weiblichen Perspektive.81 Ein weiteres in den deutschen Geisteswissenschaften eher junges Theoriefeld ist die Untersuchung der Genals Regierungstechnologie. Sie versteht den Gendiskurs als neues geschlechtsdifferenzierendes Politikfeld und reflektiert Expertendiskurse und die ambivalente Rolle von feministischen, soziologischen, rechtsund medizinkritischem Wissensproduktionen als Elemente einer Regierungsrationalität in einem ‚neoliberalen Gesellschaftsgefüge‘.82 Die vorliegende Arbeit ist vor allem im letzten Bereich anzusiedeln. Sie bietet jedoch davon ausgehend eine neue Perspektive und einen eigenen Untersuchungsansatz. Denn zum einen steht eine kritische kultur- oder sozialwissenschaftliche Untersuchung der Bioethik aus, die über den pauschalen Vorwurf, die Bioethik sei Akzeptanzbeschafferin für Wirtschafts- und Forschungsinteressen in der Bevölkerung, hinausgeht und fragt, welche Funktion bioethisches Wissen in einem neoliberalen Gefüge einnimmt. Zum anderen hat der Körper zwar seit etwa zwei Jahrzehnten sein Schattendasein als ‚das Verdrängte‘ der europäischen Moderne und ihrer Wissenschaften aufgegeben und ist zu einer zentralen Problemstellung in den Kultur- und Sozialwissenschaften geworden. Dennoch existieren bisher kaum Arbeiten, die fragen, wie die Bioethik als eine der momentan zentralsten gesellschaftspolitischen Kräfte in der (Re)Strukturierung neuer Bio- und Reproduktionstechnologien die Inwertsetzung des Geschlechterkörpers reflektiert. Die Arbeit unterteilt sich in drei Blöcke. Im ersten Teil soll ein Verständnis der Bioethik als Dispositiv erarbeitet werden. Dazu wird

80 Birke (1999); Haraway (2001 & 1995); Martin (2002); Scheich (1995). 81 Degener (1992); Griese (2000). 82 Lemke (2000): 240 & ders. (2004); Lettow (2003) & dies. (2004). Diese Forschungsperspektive ist vor allem im anglo-amerikanischen Raum im Feld der Cultural und Critical Health Studies weiter entwickelt. Vgl. d’Agincourt-Canning (2001); Conrad/Leiter (2003).

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zunächst der Dispositivbegriff Foucaults vorgestellt, der den Blick auf die Entstehung der Bioethik leiten soll (B.2). Von diesen theoretischen Vorbemerkungen ausgehend soll der Formationsprozess der Bioethik mit Konzentration auf die Stammzellproblematik rekonstruiert werden. Zentrale bioethische Akteure und Institutionen in Deutschland und teils auf europäischer Ebene sollen vorgestellt werden, weshalb das Kapitel auch einen kritischen einführenden Charakter in den Gegenstand Bioethik hat. Die eigentliche Funktion dieses Kapitels besteht aber im Aufzeigen der institutionellen, wirtschaftlichen, rechtlichen und personellen Rahmenbedingungen der bioethischen Diskurse (B.3). Die Diskursanalyse bildet den zweiten Teil. Sie nimmt die Diskurse der einzelnen Disziplinen in den Blick und versucht, zentrale Begriffe und Argumentationsfiguren sowie die jeweiligen disziplinären Kontexte darzustellen. Die Lebenswissenschaften, die Rechtswissenschaften, die Theologie und die Philosophie werden dabei je für sich betrachtet und nach den spezifischen Hintergründen ihrer bioethischen Wissensbildung gefragt (C.1 bis C.4). Anschließend soll ihr Zusammenarbeiten in einem eigenen Kapitel beschrieben werden (C.5). Im dritten Teil soll schließlich die Konsequenz aus den kritischen Betrachtungen bioethischer Wissensproduktion gezogen und mit dem Versuch einer erweiterten gesellschaftstheoretischen Perspektive auf die Bio- und Reproduktionstechnologien über dominante bioethische Konzepte hinausgegangen werden. Zudem soll das letzte Kapitel die Ergebnisse an gendertheoretische Ansätze zu reproduktiver Subjektivierung rückbinden: Aus einer interdependenten gendertheoretischen, trans/queeren sowie enthindernden Perspektive soll reproduktive Subjektivierungen so diskutiert werden, dass sie möglichst komplex gefasst und vor allem: für Inwertsetzungsprozesse weniger gut anschließbar sind (D).

B. Bioethik als Dispositiv

B.1 Z UM S ELBSTVERSTÄNDNIS

DOMINANTER

B IOETHIK

Der Begriff Bioethik wurde Anfang der 1970er Jahre in den USA geprägt und setzt sich offensichtlich aus der Vorsilbe Bio und dem Wort Ethik zusammen. Bio geht auf das griechische Wort bíos für Leben zurück; der Begriff Ethik wird wiederum erstmals von Aristoteles als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin verwendet, die Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche (ethos) wissenschaftlich reflektieren soll.1 Bioethik ist diesem Verständnis zufolge die wissenschaftliche Reflexion von menschlichen Verhaltensweisen, die sich auf das Leben beziehen. Im zeitgenössischen Lexikon der Bioethik wird Bioethik deshalb so beschrieben: „Unter Bioethik wird in diesem Lexikon die ethische Reflexion jener Sachverhalte verstanden, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben betreffen.“2 Doch zwischen dem heutigen bioethischen und dem antiken Begriff des Lebens bestehen grundlegende Unterschiede. In der griechischen Antike meinte bíos die menschliche Lebensweise, das politisch qualifizierte Leben3 und war damit an die polis gekoppelt.4 Die polis war aber das Gemeinwesen, eine Sphäre, dessen Gesetze durch

1

Vgl. Düwell/Hübenthal/Werner (2006): 1.

2

Korff (1998): 7, Herv. i.O.

3

Vgl. Agamben (2002): 12. Vgl. dazu auch Toellner et al. (1980): 52: „Bios ist oft mit der eigentlich menschlichen Welt verknüpft und bezeichnet vorzugsweise die Lebensdauer, die Lebensart.“

4

Müller (1971): 948.

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menschliche Verhaltensweisen konstituiert wurden.5 Anders ausgedrückt: Das bíos der griechischen Antike bezeichnete nicht das natürliche Leben, sondern eine politische Praxis, die das menschliche Zusammenleben gestalten sollte.6 Das Lebensverständnis der Bioethik hingegen erscheint als ein spezifisch neuzeitliches und das heißt ein wissenschaftlich bestimmbares Leben: Leben wird in bioethischen Beiträgen allzu oft als abgrenzbares, natürliches und vorgesellschaftliches Objekt verstanden, auf das äußerlich – ethisch – eingewirkt werden kann.7,8 Als solches umfasst der Gegenstand der Bioethik nicht allein menschliches, sondern ebenso pflanzliches und tierisches Leben. Bioethik bedeutet deshalb auch die Tierethik, die ökologische Ethik sowie eine auf diese Bereiche bezogene Forschungsethik. In der vorliegenden Arbeit konzentriere ich mich jedoch ausschließlich auf die biomedizinische Ethik, die ‚den Menschen‘ betreffende Problematiken artikuliert. Denn der Begriff Bioethik entsteht in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem im Kontext biomedizinischer Entwicklungen und markiert den Umbruch von einer medizinischen zu einer biomedizinischen Ethik oder anders ausgedrückt von der klassischen zur genetisierten Medizin. Ging es in der früheren medizinischen Ethik um Fragen wie Abtreibung, Geburtenregelung oder Sterbehilfe,

5

Das bedeutet nicht, dass der antike Lebensbegriff, der immer schon in Bezug auf die polis gedacht wurde, weniger Ausschlüsse als eine biologische Definition produzierte. Denn Frauen oder Unterworfene gehörten nicht zum politisch qualifizierten Leben: „Wer immer zu dieser Ebene [der polis] keinen Zutritt hat, steht außerhalb der Polis, außerhalb der Gesellschaft, im Grenzfall außerhalb der Menschheit wie der Sklave.“ Vernant (1998): 25. Die Gegenüberstellung von neuzeitlich biologischem und antikem Lebensbegriff geschieht zweifelsohne aus einer zeitgenössischen Perspektive und soll die Relativität des heutigen bioethischen Bios verdeutlichen.

6

Vgl. kritisch zur ‚verzerrenden‘ Rezeptionsgeschichte der polis Perko (2005): 68ff.

7

Vgl. Korff (1998); Düwell (2003): 24.

8

Dazu u. C.1. Kritisch zur Begriffsgeschichte der Bioethik vgl. Lettow (2003a): 122.

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so kommen mit der Genetisierung der Medizin und der biomedizinischen Forschung Probleme der Reproduktionsmedizin*, der Organtransplantation und der Humangenetik* hinzu.9 Wie die Bereiche Ethik und Bios in einer wissenschaftlichen Reflexion zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, war jedoch in den anfänglichen bioethischen Diskussionen umstritten. So existierte zunächst ein weites Verständnis von Bioethik, das der sozial-gesellschaftlichen Dimension im Verhältnis von Leben und ethischem Handeln großes Gewicht beimaß und Bioethik global dachte. Der Onkologe Van Rennselaer Potter schlug beispielsweise 1971 die Etablierung einer neuen Disziplin vor, die er eine „globale Überlebenswissenschaft“ nannte. Die Synthese von Naturwissenschaft und Moralphilosophie sollte eine ‚Brücke in die Zukunft‘ bauen und die Überlebensbedingungen der Menschheit auf der Basis eines ganzheitlichen Verständnisses von Welt, Wissenschaft und Mensch formulieren.10 „Überleben und das fortschreitende Wohlergehen der Menschen“, sowie die „Harmonie der Mitwelt“ standen bei dieser globalen Ethik im Vordergrund. Sie sollte alle relevanten Themen der Biowissenschaften umfassen, interdisziplinär und methodenkritisch sein.11 Bereits im gleichen Jahr schränkte der Physiologe und Sozialmediziner Andre Hellegers den Begriff der Bioethik ein. Unter Bioethik verstand auch er eine Verbindung von Ethik mit Medizin und Naturwissenschaften, im Zentrum standen jedoch die Anwendungsdimension der Ethik und „konkrete Problemlösungsstrategien“.12 Das Objekt bioethischen Nachdenkens – das Leben – und die damit verbundenen ethischen Probleme, wurden damit als natürlich und gegeben verstanden. Dieses eingeschränkte Verständnis von Bioethik hat sich durchgesetzt. Das dominante Verständnis von Bioethik impliziert somit, dass die sozial-gesellschaftliche Konstitution des Lebens, die Frage der Macht, ausgeblendet wird. Für das weitere Vorgehen schlage ich deshalb vor, Bioethik als Dispositiv zu begreifen und mit dem Dispositivbegriff

9

Vgl. Korff (1998): 7.

10 Vgl. Ach/Runtenberg (2002): 13. 11 Dies. 12 Dies.: 14.

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das herrschende Selbstverständnis der Bioethik zu hinterfragen. Der Dispositivbegriff wird im Folgenden vorgestellt und seine Vorzüge für die theoretische Fassung der Bioethik hervorgehoben. Anschließend versuche ich, die Entstehung des bioethischen Dispositivs in Deutschland zu rekonstruieren.

B.2 D ER

FOUCAULTSCHE

D ISPOSITIVBEGRIFF

In den Gesellschaftswissenschaften macht der terminus tecnicus Dispositiv dem foucaultschen Diskursbegriff mittlerweile starke Konkurrenz, was sich vor allem aus methodischen Vorzügen erklärt. Besonders für eine soziologische Analyse von Wissen ist der Dispositivbegriff relevant, weil mit ihm die Homologie von textuellen Wissensordnungen und Sozialstruktur bzw. der Zusammenhang von diskursiven und institutionellen Praktiken verfolgt werden kann. Der Dispositivbegriff erlaubt eine „Brücke“ zwischen Interpretationen des linguistisch erschließbaren bioethisch-philosophischen Textkorpus und ihren soziologischen Kontexten zu schlagen.13 Was genau ist ein Dispositiv? Foucault entlehnte ihn dem militärischen, medizinischen und juristischem Sprachgebrauch14 und verwendete ihn in verschiedenen seiner späteren Arbeiten seit Überwachen und Strafen. Die deutlichste, allgemeinste und meist zitierte Aussage über ein Dispositiv findet sich in der Aufsatzsammlung Dispositive der Macht. Dort sagt Foucault: „Was ich unter diesem Titel [unter Dispositiv] festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes

13 Diaz-Bone (2003). 14 Le dispositif bezeichnet in diesen französischsprachigen Kontexten „die (materiellen) Vorkehrungen, die eine strategische Operation durchzuführen erlauben.“ Foucault (1997): 35.

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umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“15

Die Elemente in dieser Definition sind höchst heterogen und haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. So führt Foucault im Begriff des Dispositivs Dinge wie ein Gebäude mit einem philosophischen Lehrsatz zusammen. Ein Dispositiv stellt somit eine relativ stabile Anordnung verschiedenster gesellschaftlicher Elemente dar.16 Die Teile eines Dispositivs entstehen in unterschiedlichsten Bereichen und verbinden sich, wenn eine historische Notwendigkeit besteht.17 So zählt Foucault in seiner Dispositivanalyse der Sexualität nicht nur den Diskurs über den Sex innerhalb der Bildungsanstalten zum Sexualitätsdispositiv – das würde ein Dispositiv auf eine Institution oder eine Organisation beschränken. Die Elemente, die später zum Auftauchen eines geschichtlichen Phänomens wie der Sexualität als gesellschaftlicher Regelungsmechanismus führen, entstehen im 18. und 19. Jahrhundert gleichzeitig auch in gesellschaftlichen Feldern wie der Medizin, Psychiatrie, Demographie, Biologie, Moral oder in der Strafjustiz. Der einheitliche Diskurs des Mittelalters um das Thema des Fleisches und die Praktik der Beichte wird zerlegt, verstreut und vermehrt und findet sich nun transformiert in unterschiedlichsten Bereichen. Diese „Verstreuung der Brennpunkte“, die ein gleichzeitiges Anwachsen bedeutet, führt dazu, dass jede ‚Institution‘ ihren spezifischen Diskurs und Gegenstand produziert. Zusammen führen sie zur Entstehung der Sexualität:18

15 Foucault (1978): 119f. 16 Vgl. Deleuze (1996): 15. 17 Ausführlich zum Aspekt der historischen Dringlichkeit u. B.2.1. 18 Foucault (1997): 43. Dies erklärt, warum Foucault Zeitangaben wählt, die teilweise ein oder zwei Jahrhunderte umfassen. Die Verkettung und das Zusammenwirken der Kräfte aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Feldern entwickelt sich nur langsam, da kein intentionales Subjekt – ein König, ein Staat, eine Gruppe oder eine gesellschaftliche Institution – diesen Prozess oder Vorgang bewusst initiiert, leitet oder herbeiführt.

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„Doch zeigt dieser erste Überblick auch, dass es sich weniger um einen Diskurs als vielmehr um eine Vielheit von Diskursen über den Sex handelt, Produkte einer Serie von Apparaten, die innerhalb verschiedener Institutionen funktionieren.“19

Auch variieren die ‚Ausprägungen‘ eines Dispositivs und seine Modi je nach gesellschaftlichem Bereich. Sie werden jedoch durch eine ‚polymorphe‘, das heißt vielgestaltige aber geregelte Gemeinsamkeit verbunden und wirken rückblickend, als läge ihnen eine zentrale gemeinsame Struktur zugrunde. So zeigt Foucault bei seiner Untersuchung des Sexualitätsdispositivs, wie dieses zuerst in seinen komplexesten und intensivsten Formen von den privilegierten Klassen – dem Bürgertum – zum Zwecke der Distinktion entwickelt wird. Um den gesamten Gesellschaftskörper zu durchdringen, muss das Sexualitätsdispositiv jedoch den verschiedenen Bereichen entsprechende Formen annehmen und unterschiedliche Instrumente einsetzen. So unterscheiden sich die Rollen des Gesundheitswesens von denen der Rechtspflege und ebenso funktioniert die Medizin je nach Bereich entsprechend eines anderen Modus.20 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Dispositiv keine starre Struktur bildet. Stattdessen stellt es ein bewegliches Netz von heterogenen Elementen dar, deren Relationen dem Dispositiv seine „Existenz“ verleihen. Das Dispositiv ist somit eine spezifische Anordnung von Kräfteverhältnissen und als solches flexibel und dynamisch genug, um auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren zu können bzw. selbst Teil dieser Veränderungen zu sein. Begreift man die Bioethik als Dispositiv, so gelangt ein heterogenes Ensemble in den Blick bestehend aus medialen und interdisziplinären akademischen Diskursen, Gesetzen wie dem Stammzellengesetz, Maßnahmen wie die Einrichtung von Ethikkommissionen, ihren Empfehlungen oder Stellungnahmen, die Etablierung des Ethikunterrichts an Schulen, Lehrmaterial von Biotechnologieunternehmen, die Ausbildungspraxis von Pflegepersonal oder bioethische Politikberatung.

19 Foucault (1997): 47, Herv. d.V. 20 Vgl. ders.: 147.

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B.2.1 Der strategische Aspekt Foucault spricht dem Dispositiv ferner eine strategische Funktion zu. Das Auftreten eines Dispositivs ist somit nicht zufällig, sondern reagiert auf eine „historische Dringlichkeit“ oder „Notwendigkeit“ („urgence“) und bezeichnet „eine Art von sagen wir Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.“ 21

Seine Elemente werden durch einen strategischen Imperativ verbunden und sind ihm untergeordnet. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Teile des Dispositivs ihre Positionen oder Funktionen innerhalb des Netzes verändern können. Denn zwischen den Elementen, ob diskursiv oder nicht, führt Foucault weiter aus, gebe es „ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.“22 So entstand beispielsweise das Sexualitätsdispositiv nicht, um den Sex zu unterdrücken und ihn zu reinen Reproduktionszwecken einzusetzen, sondern als eine Antwort auf die Notwendigkeit ihn „durch nützliche und öffentliche Diskurse zu regeln.“23 Mit Hilfe des Sexes wird es möglich, eine gesamte Bevölkerung – ihre Geburtenrate, ihre sexuellen Verhaltensweisen, die Häufigkeit der Geschlechtsbeziehungen etc. – kalkuliert regulieren zu können. Siegfried Jäger beschreibt das Zustandekommen eines neuen Dispositivs so: „Es tritt ein Notstand oder eine Zwangslage, ein Druck auf. Aufgrund dessen entsteht Handlungsbedarf, und der Sozius oder die hegemonialen Kräfte, die damit konfrontiert sind, sammeln die Elemente zusammen, die sie bekommen können, um diesem Notstand zu begegnen, also Reden, Menschen, Messer, Kanonen, Institutionen etc., um die entstandenen Lecks – den Notstand – wieder abzudichten. Was diese Elemente verknüpft ist nichts anderes, als dass sie

21 Foucault (1978): 120. 22 Ders. 23 Ders. (1997): 37.

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einem gemeinsamen Zweck dienen, den momentanen oder permanenten Notstand abzuwehren.“24

Dennoch stellt die Notwendigkeit keine Ursache dar, die die Entstehung gleich einem metaphysischen zugrunde liegenden Prinzip vorantreibt oder lenkt. Die Dringlichkeit und die Ausrichtung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bewegen sich auf der gleichen Ebene. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Elementen sind Teil des Dispositivs: „Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“25 Foucault sagt an dieser Stelle nicht „existiert“ oder „muss“ geknüpft werden, sondern verweist mit dem Verb „kann“ auf die Möglichkeit der Verbindung zwischen verschiedenen Elementen. Die Wahrscheinlichkeit von Kombinationen ist jedoch nicht beliebig, das heißt, manche Kombinationen sind denkbarer als andere. Welche Verknüpfungen zwischen diesen Punkten im Dispositiv plausibel oder intelligibel erscheinen und welche nicht, korrespondiert mit historischspezifischen hegemonialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Die Ausrichtungen der Elemente eines Dispositivs gestalten das gesellschaftliche Feld somit in spezifischer Weise: „Ein Dispositiv ist eine komplexe Anordnung von Diskursen, Disziplinen und Mechanismen, die in ihrer Gesamtheit nicht chaotisch sind, sondern sich so organisieren, daß sie das gesellschaftliche Feld in einer bestimmten Dimension und Weise gestalten.“26

Worin bestand die historische Dringlichkeit für die Entstehung eines Dispositivs der Bioethik? Die Gründe für die Entstehung des bioethischen Dispositivs sind vielfältig und sollen unter Punkt zwei dieses Kapitels erläutert werden. Allgemein kann jedoch festgehalten werden, dass mit den biotechnologischen Entwicklungen Anordnungen von Körpern, Geschlecht, Familie und Verwandtschaft sowie Fortpflanzungspraktiken in Bewegung geraten sind und ein ‚Vakuum‘ ent-

24 Jäger (2001): 76. 25 Foucault (1978): 120. 26 Hauskeller (2000): 226.

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standen ist. Zudem formierte sich ein therapeutisch-medizinischer Raum, der rechtlich, medizinisch, ökonomisch und ethisch nicht reguliert war. Die Entstehung des bioethischen Dispositivs stellt eine Reaktion auf diese Veränderungen dar und versucht diese freigesetzten Kräfteverhältnisse neoliberal zu reorganisieren. B.2.2 Machtverhältnisse im bioethischen Dispositiv Die Konzipierung des Dispositivbegriff in Foucaults ‚Spät‘schriften steht in einem engen Verhältnis zur Entwicklung seines Begriffs der Bio-Macht. Dabei haben Bio-Macht und Bioethik zwar gemeinsam, dass es bei beiden um den Bios – um das Leben – geht, doch die Absicht des foucaultschen Lebensbegriffs ist dem bioethischen diametral entgegen gesetzt: Herrscht in der Bioethik größtenteils ein affirmativer und normativer Begriff des Lebens vor,27 auf das regulierend und disziplinierend zugegriffen werden soll, so sind Foucaults Bestrebungen vor allem kritischer Natur. Denn er zeigt in seinen Dispositivanalysen, wie ‚das Leben‘ als Untersuchungsgegenstand humanwissenschaftlichen Wissens überhaupt erst entsteht und als solches optimal verwaltet und nutzenbringend reguliert werden soll. Das Arbeiten mit dem Begriff des Dispositivs kann deshalb nicht erfolgen, ohne den Aspekt der Macht zu beachten.28 Das Konzept der Bio-Macht wird in Sexualität und Wahrheit 1 erstmals benannt und setzt sich aus den beiden Polen der Disziplinarmacht und der Biopolitik der Bevölkerungen zusammen. In dem zuvor verfassten Überwachen und Strafen begreift Foucault disziplinäre Machtverhältnisse noch als allgemeines Charakteristikum für moderne Gesellschaften.29 In den anschließenden Arbeiten modifiziert er dieses Verständnis dann. So wird in der Vorlesung vom 17. März 1976 und in dem Teil von Sexualität und Wahrheit 1, der sich mit der BioMacht befasst, deutlich, dass Foucault die Disziplinarmacht „nur noch“ als eine spezifische Machtform konzipiert. Sie stellt neben der Bio-Politik einen Strang innerhalb des Konzeptes der umfassenderen

27 Dazu u. C. 28 Vgl. Seier (2001): 103. 29 Vgl. Balbus (1987): 122; Foucault (1976): 385ff.

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Bio-Macht dar. Die Disziplinartechnologie wird von einer neuen Machttechnologie, die eine andere, diesmal nichtdisziplinäre Machttechnologie darstellt, umfasst, integriert, teilweise modifiziert und vor allem benutzt.30 Die Disziplinarmacht fügt sich in die Bio-Macht ein und setzt sie fest: „Diese neue Technik [die Biopolitik] unterdrückt die Disziplinartechnik nicht, da sie ganz einfach auf einer anderen Ebene, auf einer anderen Stufe angesiedelt ist, eine andere Oberflächenstruktur besitzt und sich anderer Instrumente bedient.“31

Sowohl die Machtverhältnisse, die Foucault begrifflich mit der Disziplinarmacht erfasst, als auch die Biopolitik der Bevölkerungen operieren produktiv: Foucault entwickelt in Überwachen und Strafen und in seinen späteren Arbeiten ein „positives“ Verständnis von Machtverhältnissen und bricht damit mit traditionellen Theoretisierungen, die Macht zuvorderst als repressiv begreifen.32 Unterdrückung als Funktionsweise der Macht existiert laut Foucault zwar, doch haben Theoretiker und auch Linke diesen Aspekt von Machtverhältnissen überbewertet. Macht in ihrem Funktionieren als ausschließlich unterdrückend und beschneidend zu begreifen, sei nicht adäquat, um gesellschaftliche Machtverhältnisse umfassend zu analysieren und bekämpfen zu können.33 Es decke nur einen minimalen Ausschnitt aus dem Spektrum ihrer möglichen Wirkungen ab. Es geht Foucault vor allem darum, die subtilen Funktionsweisen von Machtverhältnissen zu theo-

30 Vgl. ders. (1997): 159ff. & (1976a). 31 Foucault (1976a): 279. 32 Lemke argumentiert, dass Foucault im Unterschied zur Konzeption der Ideologie Schwierigkeiten gehabt hätte, sich vom Begriff der Repression zu lösen. Obgleich Foucault bereits in den 1970er Jahren festgestellt habe, dass Macht als Unterdrückungsmacht unzureichend konzeptionalisiert würde, habe Foucault bis Der Wille zum Wissen implizit mit der Repressionskonzeption gearbeitet. Vgl. Lemke (1997); Foucault (1978a): 34; Deleuze (1996): 15. 33 Vgl. Foucault (1978a): 34f.

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retisieren.34 Sie sind jedoch produktiv und stellen Realitäten und Materialitäten her. Zudem würden durch die Reduktion von Macht auf Repression „verschiedenste Formen von Beherrschung, Unterwerfung, Verpflichtung und Einflussnahme auf den Imperativ des Gehorsams [reduziert], ohne das Faktum des Gehorsams selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Da sich Gehorsam ‚von selbst versteht‘, stelle sich innerhalb der Konzeption der Repressionsmacht nicht mehr die Frage nach den Bedingungen und Voraussetzungen des Gehorsams, so dass letztlich Macht durch Macht erklärt wird.“35

Stattdessen muss jeweils gefragt werden, wie Macht funktioniert, welche Strategien eingesetzt werden, warum Gehorsam geleistet wird und offensichtlich benachteiligende Effekte und Machtverhältnisse von allen akzeptiert werden.36 Foucaults kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen Ideologie und Repression bestreitet jedoch nicht, dass es ideologische Verschleierung und physische Repression gibt. Diese Modalitäten der Macht sind für ihn historische Tatsachen: „Es geht ihm also nicht um Leugnung von Ideologie und/oder Repression als Mittel der Politik; eher will er zeigen, dass diese Modalitäten der Macht nicht das gesamte Feld der Machtwirkungen abdecken und möchte die Selektivität dieser Modelle herausarbeiten, die sich allein auf die ‚negativen‘ Effekte von Machtwirkungen konzentrieren.“37

In Überwachen und Strafen zeichnet Foucault beispielsweise historisch nach, wie sich die Disziplinen von lokal begrenzten und repressiven Machtverhältnissen in einen positiven und produktiven Machtmechanismus in modernen abendländischen Gesellschaften transformieren und zu einem gesamtgesellschaftlichen produktiven Mechanismus wird. Die Disziplin soll nicht mehr negieren und bestimmte

34 Vgl. ders. (1994): 251. 35 Lemke (1997): 93. 36 Vgl. Foucault (1994): 251 & 253. 37 Lemke (1997): 94.

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Verhaltensweisen an ganz bestimmten geschlossenen Orten unterdrücken, sondern „eine positive Rolle spielen und die mögliche Nützlichkeit von Individuen vergrößern.“38 Foucault zeigt, wie die Disziplin vom Rand – das heißt aus quasi geschlossenen Institutionen wie dem Kolleg, der Kaserne oder dem Spital – in die Mitte der Gesellschaft rückt und sich mit wichtigeren, zentraleren und produktiveren Bereichen der Gesellschaft verbindet. Die Disziplin funktioniert so als Machtmodus der Bio-Macht effektiver als die Repression, denn: „es ist besser, zu produzieren, heraufzusetzen und zu intensivieren als zu zwingen, zu verbieten und zu verhindern.“39 B.2.2.1 Eine Kritik am juridischen Machtmodell – Die Rolle des Biorechts Foucaults Ansatz, Machtverhältnisse als produktiv und unmittelbar hervorbringend zu denken, entstand vor allem aus seiner Unzufriedenheit mit existierenden Analyseschemata von Macht. Diese Konzeptionen – so seine Annahme – würden Macht vor allem in juridischen Kategorien und Rechtsbegriffen darstellen und dadurch lediglich einen Bruchteil „bestehender“ komplexer Machtverhältnisse erfassen. Machtmechanismen, die negativ und auf ein Gesetz bezogen operieren, existieren auch heute noch, im Grunde ist dieses Verständnis jedoch veraltet. Gesetze und Recht stellen demzufolge Endpunkte der Macht dar oder sind selbst zu Machttechnologien geworden. Der Fokus auf juristische Vorgehensweisen in unserer Gesellschaft, das Gewicht und die große Bedeutung, die wir, die Medien und das Allgemeinverständnis diesen zumessen, ist laut Foucault dazu da, die Norm als Machtmechanismus erträglich zu machen. Im Grunde jedoch hält sie uns davon ab, die ‚wahren‘ Machtmechanismen wahrzunehmen, zu dechiffrieren und gegen sie anzugehen. Für das immer noch vorherrschende juridische Verständnis von Machtverhältnissen, sei es im Alltagsverständnis, sei es in der politischen Theorie, führt Foucault zwei Gründe an. Die Macht kann in modernen Gesellschaften nur funktionieren, indem sie sich in ihren Mechanismen unsichtbar macht: „nur unter der Bedingung, dass sie einen wichtigen Teil ihrer selbst ver-

38 Foucault (1976): 270. 39 Ewald (1991): 165.

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schleiert, ist die Macht erträglich.“40 Dies sei historisch bedingt. Die großen Machtinstitutionen wie der Staat mit seinen Apparaten oder die Monarchie entwickelten und setzten sich als solche im Mittelalter durch, indem sie sich die Sprache des Rechts gaben. Nur da sie sich als Repräsentant des Rechts darstellten, wurden sie von allen akzeptiert. Die abendländischen Monarchien sind als Rechtssysteme entstanden, haben sich in den Rechtstheorien reflektiert und sind in der Form des Rechts durchgesetzt worden. Dieses Verhältnis von Norm und Recht ist auch für die Rekonstruktion der Bioethik als Dispositiv von Interesse. Denn Recht, das Problematiken neuer Reproduktions- und Biotechnologien regelt, kurz Biorecht, erhält aus dieser Perspektive einen anderen Stellenwert: Verhandlungen von gesellschaftlichen Fragen, die die Regulierung und Disziplinierung des Lebens betreffen, werden vor allem in der Bioethik und nicht im Recht betrieben. Gesetze wie das Stammzellengesetz bündeln bioethische Diskurse und sind ihre Materialisierungen, jedoch nicht ursächliche und repressive Ausdrücke staatlicher Macht. Sie verstärken, verdichten und verfestigen bestimmte Machtarrangements und haben meines Erachtens eine starke symbolische Bedeutung, sie sind jedoch nicht allein verantwortlich für die neoliberale Organisation des Lebens. Diese ‚Ethisierung des Rechtes‘ drückt sich im Selbstverständnis der Bioethik verschiedentlich aus. So wird nicht nur die zweite Enquete-Kommission von „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ in „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ umbenannt, um der größeren Bedeutung der Ethik gegenüber dem Recht in der Regulierung moderner Biotechnologien Ausdruck zu verleihen.41 Auch im „Lexikon der Bioethik“ wird ein Verständnis von Recht und Ethik betont, das die Bedeutung des Rechts relativiert: „Bei aller Dringlichkeit rechtlicher Regelungen, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben zum Ziel haben, ist daher eine Balance zu wahren zwischen der notwendig scheinenden Regelungsdichte und einer größt-

40 Foucault (1997): 107. 41 Vgl. Rothhaar (2006): 181.

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möglichen Wahrung des Subjektsstatus des Menschen als des Trägers aller sittlichen Verantwortung.“42

Ein Rechtssubjekt muss immer auch zugleich ein moralisches selbstreg(ul)iertes Tugendsubjekt sein, das nur, indem es sich als ethisches Subjekt vergesellschaftet, auch seine äußere Freiheit als Rechtssubjekt realisieren kann.43 Die Rolle des Rechts wird in dem oben stehenden Zitat ausdrücklich mit Verweis auf das (neoliberale und formal) ‚freie‘ Subjekt relativiert, wenn es um Fragen der Regulierung des Lebens geht. Biorecht hat deshalb keine zuvorderst repressive Funktion, sondern die Aufgabe, den Einsatz neuer Biotechnologien in ökonomisch Nutzen bringende Bahnen zu lenken. Biorecht soll Technologien der Menschenproduktion nicht unterdrücken oder sie bremsen, sondern ihren Einsatz grundsätzlich ermöglichen und so regulieren, dass ihr ökonomisches Potential möglichst optimal genutzt werden kann. Dahinter steht ein spezifisches Funktionieren des Staates im Neoliberalismus. Ulrich Dolata hat darauf hingewiesen, dass der Staat bezüglich der Regulierung von Biotechnologien ein „Wettbewerbsstaat“ ist. Denn der Staat konkurriert mit anderen Staaten um die Ansiedlung heimischer und ausländischer Unternehmen und Wissenschaftler, weshalb staatliche Aktivitäten auf die „Bereitstellung möglichst attraktiver Rahmenbedingungen für Forschung und Industrie im Zeit-

42 Korff (1998): 10. Biorecht regelt die Sphäre der äußeren Freiheit und stellt einerseits Verdichtungen und Materialisierungen von Bioethik dar. Biorecht ist jedoch keine ursächliche Folge aus der Bioethik. Beide bauen vielmehr aufeinander auf. Denn wo Recht dem Einzelnen unbekannt oder sein Charakter zu formal ist, da greifen bioethische Normierungen. Die Bemerkung des Philosophen Ludwig Siep, Mitglied in der ZES, bringt den Charakter der Bioethik im Verhältnis zum Recht auf den Punkt. Er weist darauf hin, dass Ethikkommissionen einen Raum regeln soll, der rechtlich nicht erfasst ist: „Vielleicht geht es oft um Fälle, die gesetzlich nicht genau geregelt oder in denen Gesetze auslegungsfähig sind.“ Siep (2003): 125. 43 Zur Kritik dieses kantischen Rechts- und Ethikverständnisses u. C.4.6.

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alter der Internationalisierung und Standortkonkurrenzen“ zielen.44 Staatliches Biorecht ist folglich ein regulierender Rahmen für die Selbstorganisation sowohl auf Ebene des Subjektes, als auch für Forschungs- und Innovationsprozesse, die von außerstaatlichen Akteuren wie den großen Forschungsgemeinschaften geprägt werden.45 Zu juridischen Machttheorien zählen auch feministische Ansätze, die Macht anderen Kategorien unterordnen. Patriarchale Machtprozesse dienen in diesem Verständnis der Reproduktion der universalen Männerherrschaft und haben primär ausführenden Charakter. Die Modalitäten wären dann Verbote, Zwang oder Ausschließung und würden vor allem der Aufrechterhaltung und Fortsetzung sozialer Verhältnisse wie patriarchaler Herrschaft dienen, die ihr selbst äußerlich sind.46 Ein Beispiel dafür ist die Aktivistin und Theoretikerin Gena Corea, die sich gegen Reproduktionstechnologien einsetzt. Sie stellt fest: „Unter Technologien verstehe ich etwas im Interesse des Patriarchats Geschaffenes, mit dem die Frau zum Ding reduziert wird.“ Das Patriarchat wird in ihrer Aussage als eine zugrunde liegende und begründende Ursache gedacht, die Technologien einsetzt. Aus der Perspektive einer foucaultschen feministischen Analyse müsste dem entgegenhalten werden, dass die Reproduktionstechnologie eine bestimmte geschlechtlich codierte Machtform – eine Regierungstechnologie – ist, die hierarchisch verortete Subjekte unmittelbar hervorbringt. Ebenso müsste die foucaultsche Kritik feministische Theorien zu Reproduktionstechnologien erfassen, die ihre Auswirkungen auf die Kategorie Geschlecht ausschließlich in repressiven und negativen Vorgängen thematisieren. Geschlechtliche Existenzweisen in biowissenschaftlichen Kontexten entstünden dann vorwiegend durch Verbote, Einschränkungen und Untersagungen. Andrea Trumann zeigt jedoch für

44 Dolata (2006): 306. 45 Vgl. ders. 46 Foucault vereinfacht die Darstellung juridischer Machtkonzeptionen in seiner Kritik und wird der Komplexität der meisten politischen, marxistischen und feministischen Theorien seiner Zeit sicher nicht gerecht. Wichtig sind jedoch die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der verschiedenen politischen Diskurse, die sich dann durchaus auf die angeführten Merkmale einer juridischen Konzeption „reduzieren“ lassen.

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das Thema Pränataldiagnostik und Behinderung, wie „eugenische Wünsche“, Entscheidungen und Handlungen von Frauen vor allem innerhalb von Beratungssituationen produziert werden.47 Indem sie deutlich macht, dass eugenische Ansichten erst in der konkreten ArztPatientin-Interaktion hergestellt werden, widerlegt sie das resistente Argument, dass ein weibliches Subjekt mit spezifischen Ansichten zu Humangenetik bereits vor dem Kontakt mit biowissenschaftlichen Erkenntnissen und Forderungen existiert. Frauen – so der weit verbreitete Glaube – würden aufgrund bestimmter Vorstellungen eines nichtbehinderten Kindes genetische Beratungen* einfordern. Genetische Beratungen und das Angebot pränataler Diagnostik* sei deshalb nur eine Reaktion auf die Wünsche der modernen selbstbestimmten Kundin und würde zu ihrer Beruhigung beitragen. B.2.2.2 Bioethische Normalisierung und Selbst-Reg(ul)ierung im Neoliberalismus Über das Kennzeichen der Produktivität hinaus sind den Machtverhältnissen, die Foucault in seinen Dispositivanalysen Überwachen und Strafen und Sexualität und Wahrheit 1 untersucht, eine spezifische Subjektivierungsweise eingeschrieben: die Normalisierung.48 Die entsprechende Gesellschaftsform nennt Foucault Normalisierungsgesellschaft. Er arbeitet die disziplinierende und die regulatorische Normalisierung als verschiedene Operationsmodi der Norm heraus. Sie bilden jedoch keine getrennten gesellschaftlichen Bereiche, sondern kennzeichnen unterschiedliche Aspekte der Normalisierungsgesellschaft.49 Die beiden Arten der Normalisierung stelle ich im Folgenden dar.

47 Vgl. Trumann (2006). 48 Die Aspekte Produktivität und Normalisierung stehen im foucaultschen Machtverständnis somit in einem engen Zusammenhang: „Die Norm bzw. das Normative erlaubt zugleich die Umwandlung der Disziplin als Blockade [also als repressives und negatives Machtverhältnis] in Disziplin als Mechanismus – die Matrix, die Negatives in Positives umwandelt –, und wird als das, was aufgrund dieser Umwandlung errichtet werden wird, die disziplinäre Verallgemeinerung erlauben.“ Ewald (1991): 165. 49 Vgl. Sohn (1999): 14ff.

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Die Norm taucht in Foucaults Arbeiten erstmals in der Dispositivanalyse Überwachen und Strafen auf. Dort wird sie als der zentrale Mechanismus verstanden, mit Hilfe dessen disziplinäre und hervorbringende Machtverhältnisse es ermöglichen, bestimmte Verhaltensweisen einzelner Individuen in bezug auf ein Ganzes zu systematisieren und vergleichbar zu machen. Diese normierenden und zugleich individualisierenden Operationen lösen den Menschen auf, indem sie einzelne Taten, Verhaltensweisen oder Leistungen auf eine Gesamtheit beziehen, die „sowohl ein Vergleichsfeld, einen Differenzierungsraum und eine zu befolgende Regel darstellt.“50 Die Norm ist ein Vergleichsmaß ohne transzendente oder substanzielle Referenz. Sie ist eine rein gesellschaftliche und historisch spezifische Funktion: „Die disziplinäre Individualisierung geschieht ohne die Voraussetzung irgendeines Wissens. Positive Individualisierung und Individualisierung ohne Metaphysik, ohne Substanz, ein wenig wie – im System der Sprache – die Opposition der Signifikanten immer nur auf Differenzen zurückverweist, ohne dass man jemals an einer Substanz der Signifikanten Einhalt finden könnte. Sie ist eine reine Beziehung, eine Beziehung ohne Träger. Die normative Individualisierung ist also auch didaktisch, lateral und relativ.“51

Diese „präetablierte Ideal-Norm“ identifiziert einzelne Menschen nicht mit Bezug auf einen Durchschnitt, sondern in Relation zu einer vorgängig bestimmten Norm.52 Zwar ist die Norm wie das Recht eine Art Regel, erstere resultiert jedoch nicht wie das Recht „aus einem souveränen (Volks)Willen“, sondern hat einen eigenen theoretischen Hintergrund: die Humanwissenschaften. Foucault zeigt anhand der Analyse disziplinärer Machtverhältnisse, wie humanwissenschaftliches Wissen und Macht in einem konstitutiven Bedingungs- und Entstehungsverhältnis zueinander stehen. Er bricht dadurch mit der Auffassung, dass Wissenschaft und Erkenntnis frei von Machtverhältnissen sind.53 Dies ist besonders

50 Seier (2001): 100. Vgl. Foucault (1976): 323ff. & 236ff. 51 Ewald (1991): 168. 52 Hark (1999): 44. 53 Vgl. Foucault (1976): 393ff.

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für die Bioethik relevant, da sie sich als wissenschaftliche Disziplin versteht und versucht, sich als solche zu konstituieren, ihre eigene Machtverwobenheit mit staatlichen und bioindustriellen Interessen jedoch zugleich ausblendet. Die große Bedeutung von humanwissenschaftlichem Wissen in der Regulierung „des Lebens“ macht beispielsweise Paul Mikat, Herausgeber des Lexikons der Bioethik, deutlich. Für ihn sind bioethische Normen von größerer Bedeutung für die Regulierung biowissenschaftlicher und biomedizinischer Praktiken als gesetzliche Regelungen: „Wir wollen damit [mit der Herausgabe des Lexikons der Bioethik] einen Beitrag zur Ethikdiskussion leisten, die vor allem in den Naturwissenschaften und in der Medizin unerlässlich für die Selbstregulierungskräfte in der Wissenschaft ist, denen aus meiner Sicht ein höherer Stellenwert beizumessen ist als staatlicher Gesetzgebung.“54

Auch in der Analyse des Sexualitätsdispositivs in Sexualität und Wahrheit 1 geht es um humanwissenschaftliches Wissen, das Instrumente für die produktive Normalisierung der Individuen bereitstellt. Foucault präsentiert neben der disziplinierenden Norm einen weiteren Typ: die regulatorische Norm. Neben der Disziplinarmacht aus Überwachen und Strafen arbeitet Foucault in diesem Buch als zweiten Pol der Bio-Macht die Bio-Politik der Bevölkerung heraus.55 Dieser regulierenden Kontrollmacht ist ein anderer Typ der Norm eingeschrieben: Sie zielt nicht auf das einzelne Individuum, sondern auf die Bevölkerung und geht daher von der Masse und vom Kollektiv aus. Die disziplinäre Normalisierung wird historisch nicht durch die regulierende abgelöst. Es handelt sich eher um zwei verschiedene Modi, die in der aktuellen Gesellschaftsform nebeneinander existieren. In Form der Bio-Macht werden beide in ein wechselseitig konstitutives Verhältnis gesetzt. Die biopolitische Normalisierung verteilt die Individuen in aufeinander bezogene Gruppen, die sich selbst beobachten. Sie ist jedoch auf die disziplinierende Norm angewiesen und baut darauf auf, da diese die Individuen zuerst als „Disziplinarindividuen“ verfertigen

54 Mikat/Beck/Korff (1998): 5. 55 Vgl. Foucault (1997): 166ff; Deleuze (1996): 16f.

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muss. Die disziplinäre und die regulatorische oder auch bio-politische Norm bilden zusammen den gesellschaftlichen Ordnungsmechanismus der Bio-Macht, den Foucault Normalisierung nennt.56 Es geht Foucault in seinen Arbeiten nicht darum zu kritisieren, dass es Normen gibt oder um die Norm an sich – alle Gesellschaften verfügen über Normen und versuchen ihre Mitglieder dadurch zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Im Vordergrund steht die Dechiffrierung der Funktionsweise derzeitiger Normen als Normalisierung. Diese sei eine spezifische und besonders gefährliche Art, unsere heutigen modernen Gesellschaften zu strukturieren. Was unterscheidet nun die Normalisierungsgesellschaft von anderen Gesellschaftsgefügen? Der Unterschied zwischen der normalisierenden und der juridischen Macht liegt darin, dass die Norm statt mit dem Tod zu drohen, reguliert und korrigiert. Da die Bio-Macht das Leben so organisiert, dass daraus Wert und Nutzen zu ziehen ist, würde sie sich mit exzessiven Auswüchsen den eigenen Wirkungsbereich zerstören. Die positive Macht unterwirft deshalb, indem sie produziert. Da die normalisierende Macht qualifiziert, abstuft, misst und abschätzt, richtet sie die Subjekte effektiv an einer Norm aus, „indem sie sie um diese herum anordnet.“57 Die Norm ist, wie dargestellt, präexistent, das heißt, sie definiert schon im Voraus das ‚Normale‘, um dann von diesem Punkt aus das ‚Anormale‘ und ‚Abweichende‘ zu isolieren und zu behandeln. Die Regulierung der Verhaltensweisen bis ins Kleinste ist auf diese Art und Weise viel effektiver als der Einsatz physischer Gewalt, die strikte Unterteilung in Verbotenes und Erlaubtes oder der Drohung mit dem Gesetz. Normalisierung bildet laut Dreyfus „den Kern des reichhaltigen Sortiments von Techniken, Praktiken, Kenntnissen und Diskursen, die Foucault behandelt hat.“58 Ein weiterer Grund für die Effizienz und Vorrangstellung der Norm als Machtmechanismus in modernen Gesellschaften ist, dass ihr bestimmte Subjektivierungsweisen eingeschrieben sind. Sowohl die disziplinäre als auch die regulatorische Normalisierung bringen Subjekte unmittelbar hervor, indem sie in ein spezifisches Macht/Wissen-

56 Vgl. Foucault (1997): 171f. 57 Ders.: 172. 58 Dreyfus/Rabinow (1994): 300.

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Arrangement eintreten. Normen werden dann nicht lediglich internalisiert, sondern produzieren bestimmte bioethische, heteronormative, ‚rass‘ifizierte oder andere Selbstverhältnisse. Ein Beispiel für eine normalisierende Subjektivierung der BioMacht ist die Entstehung des/der Behinderten (und der Gesunden oder Normalen): Menschen mit Behinderung werden nach einem medizinischen Modell von Behinderung aufgrund ihres Körpers, ihres Aussehens und ihres Habitus zu einer Spezies gemacht. Behinderung wird als Defekt betrachtet und in der Person lokalisiert.59 Ein Mensch mit Behinderung wird in seinem ganzen Menschsein als ‚abweichend‘ und anormal definiert, das heißt der Behinderte gilt als krank, gestört oder irre. Der Behinderte in einer Gesellschaft der Bio-Macht wurde lange Zeit als Bedrohung für den gesunden Volkskörper betrachtet und deshalb in ein Heim ausgelagert. Heute soll sein krankes und leidendes Dasein möglichst umfassend durch PND verhindert werden. Der Unterschied zwischen der disziplinär- und der regulatorischnormalisierenden Subjektivierung ist, dass erstere auf das einzelne Individuum, auf seinen Körper, zielt und es in bezug auf eine präetablierte Norm als Disziplinarindividuum verfertigt. Die regulatorische Subjektivierung ist der Bio-Politik zuzuordnen und geht nicht vom einzelnen Individuum aus, sondern von der Bevölkerung. Sie stützt sich zwar auf die disziplinierende Subjektivierung, geht jedoch über die Verfertigung einzelner Disziplinarindividuen hinaus.60 Normen in gegenwärtigen Gesellschaften entfalten ihre Wirkmächtigkeit, indem sie Subjekte verfertigen. Sie operieren somit mittels Mechanismen, die „im Subjekt selbst“ wirksam sind. Die regulierende Normalisierung zielt auf die Selbstbeobachtung der Individuen und etabliert dadurch ein Selbstverhältnis, in dem die Individuen normalisierend in die Überwachung ihres Selbst eingreifen.61 Die Norma-

59 Vgl. Hirschberg (2005): 15. 60 Vgl. Hark (1999a): 74 ff; Sohn (1999). 61 Vgl. Deleuze (1996): 16f. Hark bezeichnet die regulierende im Vergleich zur disziplinierenden Normalisierung als eine Normalisierung auf höherem Niveau. Sie ist auf die erfolgreiche Konstituierung der Individuen als Disziplinarindividuen angewiesen. Diese greifen nun normalisierend in die Überwachung ihres Selbst ein: „Normen werden ex post errechnet, die In-

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lisierung verläuft nun nicht mehr „außengesteuert“, sondern wird in das Individuum verlegt. Bublitz beschreibt diesen produktiven Prozess der „Selbstvergesellschaftung“ der Individuen durch Normalisierung so: „Das Konzept der ‚Normalisierung‘ stellt insofern ein interessantes analytisches Konzept für die historisch-soziologische Forschung dar, als es konstituierende und regulierende Prozesse als Vorgänge gesellschaftlicher (Selbstbeobachtung und Selbst)Regulierung beschreibt, die zugleich nicht nur Voraussetzung für die Integrations- und Legitimationsproblematik moderner Gesellschaften, sondern auch für Prozesse der ‚Vergesellschaftung des Individuums‘ oder, in einem Focault’schen Terminus, der modernen Subjektkonstitution bilden.“62

Dem bioethischen Dispositiv ist eine spezifisch neoliberale Subjektivierung eingeschrieben. Das Etikett ‚Neoliberalismus‘ bezeichnet dabei einen Prozess, dessen soziale Gesetzmäßigkeiten sich weder auf politisch-rechtliche noch auf ökonomische Prinzipien alleine reduzieren lassen, sondern beide ineinander verweben. „Das Ökonomische“ bildet in diesem Restrukturierungsprozess keinen abgetrennten, fest umrissenen und eingegrenzten Bereich, dessen eigene Regeln sich von anderen etwa zivilgesellschaftlichen, medizinischen etc. Sphären klar unterscheiden ließe. Die Ökonomie „besteht vielmehr aus der Gesamtheit menschlichen Handelns, insofern dieses durch die Allokation ‚knapper Ressourcen‘ zu konkurrierenden Zielen gekennzeichnet ist.“63 Neoliberalismus bedeutet demnach ein Kalkül, das Individuen dazu anhält, ihre Ressourcen, das heißt ihre Kräfte, Lebenszeiten, Körpermaterialien oder anderes, eher für bestimmte Ziele und nicht für andere einzusetzen. Die bioethische Lenkung von Formen menschli-

dividuen übernehmen ihre Adjustierung an diesen Werten selbst. Strategien des ‚Monitoring‘, des ‚Surveying‘ sowie weitere indirekte Methoden des Identifizierens und der Etablierung von Verhaltensnormen, die auf die Kontrolle der Bevölkerung im Großen zielen, ersetzen tendenziell die disziplinierende, außengesteuerte Intervention.“ Hark (1999): 44. 62 Bublitz (1999): 41. 63 Lemke/Bröckling/Krasmann (2000): 16.

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chen Verhaltens geschieht nicht durch die Ausübung von Zwang, sondern durch das Einflussnehmen auf die Subjektivierung von Menschen. Damit bedeutet „neoliberale Vergesellschaftung“ eine Struktur, der unter anderem eigentümlich ist, dass es ihr gelingt, die eigenen Ziele nicht über eine repressive Fremdführung zu realisieren, sondern über Selbst-Führungstechniken, denen eine spezifische Wissensproduktion vorangeht.64 Vertreter der Gouvernementality Studies bezeichnen diese spezifische Form des neoliberalen Wissens als „politisches Wissen“, womit sie hervorheben, dass Politik und Wissen nicht gegenübergestellt wird, sondern nach ihrer spezifischen Verbindung gefragt wird.65 Neoliberalismus ist dann im Anschluss an Foucault „eine Form der ‚Problematisierung‘, die einen politisch-epistemologischen Raum oder ein ‚Möglichkeitsfeld‘ definiert. Im Zentrum steht also nicht die Frage nach dem Verhältnis von Praktiken und Rationalität, ihrer Korrespondenz oder Nicht-Entsprechung im Sinne einer Verzerrung oder Verkürzung der Vernunft. Es geht um mehr als die Legitimation von Herrschaft oder die Verschleierung der Gewalt: Eine politische Rationalität ist eine Rationalität der Politik und nicht eine Reflexion über Politik. Das Interesse richtet sich auf das den Praktiken immanente Wissen, die Systematisierung und ‚Rationalisierung‘ einer Pragmatik der Führung.“66

Rationalität spielt im Konzept der Gouvernementalität nicht die Rolle eines normativen Maßstabs, sondern hat eine relationale Bedeutung: Praktiken werden analytisch nicht daraufhin befragt, ob sie rational sind oder nicht. Stattdessen gehe es darum, Praktiken als historisch zu verorten, davon auszugehen, dass in ihrem Kontext bestimmte Wahrnehmungs- und Beurteilungsstrategien generiert werden und herauszufinden, „welchen Typ von Rationalität sie [die Praktiken] anwenden“.67

64 Vgl. dies: 25; Foucault (2000): 65f. & 70. 65 Lemke/Bröckling/Krasmann (2000): 20. 66 Dies. 67 Dies.

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B.2.3 Das Verhältnis von ‚materiellen‘ Biotechnologien und ‚diskursiver‘ Bioethik Der foucaultsche Dispositivbegriff ermöglicht, die Materialität von Biotechnologien zu erfassen, ohne sie als vorgesellschaftliche natürliche Tatsache zu verstehen. Dies ist besonders für ein Verständnis von biowissenschaftlichen Praktiken im Verhältnis zur Bioethik interessant, da einerseits die materielle Wirkmächtigkeit von Biotechnologien erfasst werden kann, sie anderseits in ihrer immer auch kulturellen Dimension historisiert und als veränderbar begriffen werden können. So können beispielsweise gentechnologische Erfindungen und neue Praxen begrifflich gefasst werden, ohne sie als feststehende naturwissenschaftliche „hard facts“ zu betrachten, die ethischer Urteilsbildung vorgängig sind und sie ursächlich bedingen.68 Doch zunächst ist zu klären, wie Foucault die Unterscheidung und die Gegenüberstellung von Materiellem und Nicht-Materiellem im Dispositivbegriff durch ein anderes Denken des sozialen Raumes ersetzt und in welchem Verhältnis die Begriffe Diskursives und NichtDiskursives zueinander stehen. In Sexualität und Wahrheit 1 bezeichnet Foucault die Sexualität als den Namen, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann: „Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten.“69

68 Vgl. dazu Latour, prominentester Vertreter der Actor-Network-Theory, der sowohl die Gegenüberstellung von Natur und Kultur als auch eine ausschließliche sozialwissenschaftliche Kritik am Naturdeterminismus aufgibt. Stattdessen plädiert er dafür, dass das Zusammenspiel von heterogensten Elementen wie Menschen, Tieren, Geräten (und sogar von ‚unbelebten Dingen‘ wie Stühlen) analysiert werden muss. Latour (1987): 205. 69 Ders. (1997): 128.

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Bereits in diesem Zitat wird deutlich, dass ein Dispositiv sowohl das erfasst, was „unser Allgemeinverständnis“ dem Bereich der Materialität zuordnet – ein Begriff wie Körper –, als auch das, was als NichtMaterielles oder Geistiges verstanden wird: Wissen, Erkenntnisse oder ein Diskurs. Foucault durchbricht mit dem Begriff des Dispositivs die binäre Gegenüberstellung von Materiellem und Nicht-Materiellem, denn sie ist für ihn selbst ein Produkt der Geschichte. Das Sexualitätsdispositiv entspricht in diesem Sinne keiner zugrunde liegenden materiellen Sexualität, die in ihrer Wahrheit oder ihrem einzigartigen Wesen abgebildet werden kann. Stattdessen benutzt Foucault für alle Elemente des Dispositivs das Bild des Oberflächennetzes. Er geht jedoch noch weiter, indem er dem Gegensatz die Funktion eines zentralen Machtverhältnisses im (Sexualitäts-)Dispositiv zuspricht: Der Glaube an eine wahre Materialität des Sexes ist ein machtstrategischer Aspekt des Dispositivs und kennzeichnet den Imperativ, durch den man den Diskurs hervortreibt, die Pflicht über den Sex zu sprechen und ihn zu gestehen.70 Foucault hebt im Begriff des Dispositivs die Unterscheidung zwischen Materiellem und Nicht-Materiellem auf und drückt dies in einem Interview so aus: „[...] für das, was ich mit dem Dispositiv will, ist es kaum von Bedeutung zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht. Vergleicht man etwa das architektonische Programm der Ecole Militaire von Gabriel mit der Konstruktion der Ecole Militaire selbst: Was ist da Diskursiv, was institutionell? Mich interessiert dabei nur, ob nicht das Gebäude dem Programm entspricht. Aber ich glaube nicht, dass es dafür von großer Bedeutung wäre, diese Abgrenzung vorzunehmen, alldieweil mein Problem kein linguistisches ist.”71

Ein Programm umfasst in Foucaults Untersuchungen politischtheoretische Bücher, theologische Abhandlungen, Polizeireglements,

70 „Nun müßte man aber gerade die geläufige These in Zweifel ziehen, wonach der Sex außerhalb des Diskurses steht und man nur über die Beseitigung eines Hindernisses und den Bruch eines Geheimnisses den Weg zu ihm finden kann. Gehört nicht die These zu dem Imperativ, durch den man den Diskurs hervortreibt?“ Foucault (1997): 48. 71 Ders. (1978): 125.

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juristische Fachbücher, Kriminalitätsanalysen etc. Seine Analysen haben nicht die tatsächlichen, historisch-realen Praktiken im Unterschied zu Vorstellungen, Ideen und Intentionen zum Gegenstand. Historische Untersuchungen auf der Ebene eines Programms durchzuführen, eröffnet eine völlig neue Ebene. Foucault erfasst Wissen und Formen von Rationalität, die das Handeln von Menschen anleiten.72,73 Programme sind weder mit der Realität identisch noch können sie direkt „angewandt“ oder „umgesetzt“ werden, sondern bilden ein Teilgebiet der historischen Realität. Foucaults Forschungen verfolgen dabei nicht das Ziel, sich als eine eigene Geschichtsschreibung gegen bereits bestehende Ansätze zu profilieren. Stattdessen soll der historischen Arbeit ein neues Feld erschlossen werden.74 Dass Foucault auf der Ebene des Programms nicht mehr zwischen diskursiv und nicht-diskursiv unterscheidet, bedeutet jedoch keinesfalls, dass seine Arbeiten auf einer rein sprachlichen oder gedanklichen Ebene angesiedelt sind.75 So zeigt er in Überwachen und Strafen,

72 Diese Kennzeichen der foucaultschen Programmanalyse entsprechen seinem Begriff der Gouvernementalität und seinem Verständnis von Macht als ‚Führen von Führungen‘, die im dritten Kapitel dieser Arbeit behandelt werden. 73 Müller kritisiert an dieser Stelle Gouvernementalitätsstudien für die Teilung der sozialen Welt in eine Sphäre der Programmatiken und Diskurse einerseits und eine nicht näher bestimmte Realität andererseits. Meines Erachtens ist ihr Einwand nicht überzeugend, da sie damit den Stellenwert des Machtverständnisses in den foucaultschen Arbeiten verkennt. Vgl. Müller (2003). Foucault geht davon aus, dass Macht in (neo-)liberalen Gesellschaften vor allem durch ein Kalkulieren mit dem Verhalten von ‚freien‘ Subjekten ausgeübt wird und in einem Möglichkeitsfeld stattfindet. Vgl. Foucault (1992): 32. 74 Vgl. Lemke (1997): 158. 75 Vgl. Müller (2003): 102. Auch Foucaults Studien zur Gouvernementalität stellen Programmanalysen dar, die mehr als nur diskursive Praktiken zum ‚Gegenstand‘ haben: „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht

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dass die ‚Mikrophysik der Macht‘ ‚reale‘ und materielle Effekte hat. Die Macht wirkt physisch und unmittelbar hervorbringend, indem sie direkt auf den Körper zielt. Wissen und nicht-diskursive disziplinierende Praktiken sind konstitutiv verzahnt. Foucault unterscheidet in diesem Zusammenhang nicht mehr zwischen einer abstrakten Idee und ihrer ‚tatsächlichen‘ Realisierung. Stattdessen fragt er nach der spezifischen strategischen Verbindung von materiellen und nichtmateriellen Elementen in dieser Machtökonomie. Foucault wendet sich mit seiner Argumentation gegen die These, dass zwischen Sozialgeschichte und Geistesgeschichte ein Bruch bestehe und versucht, die Vielfalt von Prozessen und deren Beziehungen zueinander zu untersuchen: In Überwachen und Strafen „kämpfen Texte, Praktiken und Menschen gegeneinander.“76 Foucault analysiert in seinen Büchern historische Transformationsprozesse, nicht um deren „materielle Ursachen“ – dieses verbindet er mit der marxschen Perspektive – herauszufinden, „sondern um alle Faktoren, die aufeinander einwirken, und die Reaktionen der Menschen zu erhellen.“77,78 Die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verliert mit Einführung des Dispositivbegriffs an Relevanz. Dennoch lässt Foucault die Differenzierung nicht vollends fallen, sondern denkt ihre Beziehung anders.79 Im Falle der Analyse des Kerkersystems in Überwachen und Strafen zeigt Foucault beispielsweise, wie Wissen „das Sichtbare“ und „das Sagbare“ verknüpft und „Diskurse und Architekturen, Programme und Mechanismen zusammen“ schließt.80 Macht ist die dabei vorausgesetzte „Ursache“. Zur Ordnung

spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben.“ Foucault (2000): 64. 76 Ders. (1982): 21. 77 Ders. 78 Gilles Deleuze verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Foucault in seinen Analysen von ‚Gegenständen‘ wie die Delinquenz den sozialen Raum neu denkt und Gegensatzpaare wie Signifikant/Signifikat, Idee/Materie oder Inhalt/Ausdruck in diesem Kontext ihre Bedeutung verlieren. Vgl. Deleuze (1992): 49 & 58 & ders. (1996): 14f. 79 Vgl. ders. (1996): 14f. 80 Ders.: 58.

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des Sagbaren gehören zum Beispiel Diskurse oder Literatur, die jedoch nicht in bestimmten Architekturen oder einer Institution wie dem Gefängnis materialisiert werden. Denn die von Foucault analysierten ‚Objekte‘ wie das Panopticon sind selbst Produzenten von Sichtbarkeiten und stellen Funktionen her, die den sozialen Raum in spezifischer Weise gestalten. Foucault geht es nicht darum, sich auf die Frage der Grenze oder der Vermittlung zwischen Diskursivem und NichtDiskursivem einzulassen, sondern die Art ihrer Beziehung zu analysieren und die historisch spezifischen Modalitäten der gesellschaftlichen Kräfte- und Machtverhältnisse als ihre ‚Ursache‘ zu dechiffrieren. Hannelore Bublitz stellt dieses so dar: „Der vielen RezipientInnen und KritikerInnen problematisch erscheinende Zusammenhang von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken löst löst sich in eine nicht-hierarchisch und nicht gegensätzlich gedachte Beziehung zwischen diskursiven und nichtdiskursiven, institutionellen Praktiken auf; beides bewegt sich bei Foucault auf derselben Analyseebene. Damit überwindet er die Dichotomie von materieller und idell-sym bolischer Wirklichkeit, von Sein und Bewusstsein, von reale und symbolischen Praxen.“

81,82

Die Neuordnung der Beziehung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken mit Einführung des Dispositivbegriffs steht im Zusammenhang mit der strategisch-produktiven Ausrichtung des Machtverständnisses in Foucaults Arbeiten nach der Archäologie des Wissens. Dadurch verändert sich auch das Verhältnis von Diskurs und Macht. Foucault identifiziert in der Archäologie des Wissens Diskurse als Verknüpfungen einzelner Aussagen nach bestimmten Formationsregeln: „Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören.“83 In dem sechs Jahre später veröffentlichtem Überwachen und Strafen und den folgenden Arbeiten taucht der Diskursbegriff namentlich kaum noch auf. In Sexualität und Wahrheit 1 verwendet Foucault den Diskursbegriff ledig-

81 Bublitz (1999): 63. Vgl. dies.: 188. 82 Vgl. Engel (2002): 131. 83 Foucault (1992): 170.

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lich zur Beschreibung spezifischer Instanzen des Sprechens oder Schreibens über Sexualität.84 Der Dispositivbegriff markiert somit innerhalb des foucaultschen Denkgebäudes einen Perspektivwechsel, der von der Aufgabe der Identifizierung einzelner Diskurse, wie sie die Archäologie des Wissens nahe legt, zur Analyse von Machtstrategien führt, in denen die Diskurse einen Bestandteil neben anderen bilden.85 Der Unterschied zwischen den Begriffen Diskurs und Dispositiv ist, dass Diskurse einzelne Aussagen nach bestimmten Formationsregeln verknüpfen, Dispositive die Elemente Diskurse, Praktiken und Macht auf einer analytischen Ebene verorten. Der diskursiven Formation und dem Dispositiv ist gemeinsam, dass „deren relativer Zusammenhalt durch kein reduktives oder repräsentatives Schema gewährleistet ist und [der] Transformation unterschiedlicher Art offen stehen.“86 Aus der Perspektive der Dispositivanalyse ist die diskursive Praxis ein Spezialfall des zu untersuchenden Gesamtkomplexes von Praktiken. Der Dispositivbegriff stellt somit ein neues Raster dar, das die Perspektive auf das analysierte Material entlang der Achse der Macht lenkt.87,88 Was bedeuten die dargestellten Aspekte des Dispositivs für ein Verständnis von Bioethik und Biotechnologien? Mit dem Begriff des Dispositivs werden biowissenschaftliche Praktiken wie In-vitroFertilisation oder experimentelle Forschungspraxen anders als in bioethischen Wissensproduktionen89 nicht als dem bioethischem Wissen entgegen gesetzt verstanden, sondern auf einer Ebene gedacht. Die Entwicklung von humangenetischen Verfahren, Grundlagenforschung

84 Vgl. Sawyer (2003): 53. 85 Dies entspricht einer Verschiebung von der archäologischen zur genealogischen Perspektivierung, beide beschäftigen sich jedoch mit diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Es ist der Ausgangspunkt der foucaultschen Analyse, der sich verändert. Vgl. Bührmann (1997): 142. 86 Seier (1999): 80. 87 Vgl. dies. 88 Vgl. Bührmann (1997): 139: „Der Begriff Dispositiv beschreibt insofern ein bestimmtes Verhältnis zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem im Macht-Wissen-Komplex.“ 89 Vgl. Mikat/Beck/Korff (1998): 5.

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und Reproduktionstechnologien wird als in kulturelle Prozesse konstitutiv eingebettet verstanden. Hans Jörg Rheinberger hat bereits für die Gentechnologie gezeigt, dass auf der Ebene der molekularbiologischen Labortechniken jede Unterscheidungsmöglichkeit ‚zwischen etwas Natürlichem und etwas Künstlichem‘ aufgehoben wird und die Differenzierung zwischen einer vorgängigen Natur und einem kulturellen Zugriff nicht zu halten ist. Denn bei gentechnologischen Verfahren wie der Genspleißung stellen die Manipulationswerkzeuge selbst molekulare Werkzeuge dar, die in ihrer Beschaffenheit nicht mehr von den Prozessen unterschieden werden können, mit denen sie interferieren. Denn „‚die Scheren und Nadeln, mit denen Gene* geschnitten und gespleißt werden und die Träger, mit denen man sie transportiert, sind selbst Makromoleküle‘“.90 Auch wird mit dem Begriff des Dispositivs ‚das Leben‘ entnaturalisiert. Bioethik greift nicht auf das Leben als etwas Natürliches, rein Biologisches oder Vorgesellschaftliches zu, sondern konstituiert es zuallererst, um es dann entlang von produktiven Logiken zu regulieren. Dabei sind ökonomische Verhältnisse oder Forschungspolitik nicht die Basis, sondern immer schon Teil bioethischer Regulierungsstrategien. B.2.4 Zusammenfassung Welche Kennzeichen des Dispositivbegriffs bleiben für die weitere Untersuchung der Bioethik festzuhalten? •

Ein produktives und strategisches Verständnis von Machtverhältnissen ist zentral für das Dispositiv, das eine spezifische Anordnung heterogener Elemente charakterisiert. Machtverhältnisse und Dispositiv sind jedoch nicht ein und dasselbe,91 denn die Dimen-

90 Lösch (2001): 21, zitiert Rheinberger (1997): 275. Zur Bedeutung von Metaphern in der Geschichte der Gentechnologie vgl. Bock von Wülfingen (2007): 320f.; Weigel (2002): 228. 91 Hauskeller beschreibt das Dispositiv als Macht-Konfiguration. Dadurch hebt sie jedoch die Unterscheidung zwischen Machtverhältnissen und Dis-

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sion der Macht erklärt, dass und wie die Anordnungen des Dispositivs produktiv in eine Richtung wirken.92 Bioethik als Dispositiv zu begreifen, bedeutet somit, dass Machtverhältnisse in der Rekonstruktion der Entstehung der Bioethik einen zentralen Fokus bilden.93 Gesetze stellen Endpunkte der Macht oder Bestandteile von Machttechnologien dar. Biorecht wird mittels des Dispositivbegriff somit als ein wichtiges jedoch nicht als ein ursächliches Instrument begriffen, um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse im Zeitalter neuer Bio- und Reproduktionstechnologien in eine bestimmte Richtung zu lenken. Der Dispositivbegriff ermöglicht, ein spezifisches Zusammenwirken von Macht und wissenschaftlichem Wissen zu untersuchen und weist darauf hin, dass die ‚Objekte‘ der Bioethik zugleich geschaffen und reguliert werden. Diese Macht/Wissen-Komplexe ‚realisieren‘ sich besonders über Subjektivierung: Wissenschaftliches machtdurchtränktes Wissen schafft ein Möglichkeitsfeld, in dem sich Menschen auf eine bestimmte Weise vergesellschaften – subjektivieren – können. Ein Dispositiv ist kein starres Gebilde, sondern ein heterogenes Arrangement von verschiedenen Elementen: Wissen, Körpervorstellungen, Praktiken und Institutionen bilden eine strategische Verkettung und wirken in eine bestimmte Richtung. Damit ist eine denaturalisierte Perspektive auf die ‚Objekte‘ der Bioethik und der Biowissenschaften verbunden. Der Dispositivbegriff bedeutet deshalb auch, dass Natur und Kultur analytisch nie auseinanderdividiert, sondern nur in ihrer Vermittlung gedacht werden können. Ökonomische Verhältnisse und Interessen sind elementare Bestandteile des Dispositivs. Sie können theoretisch berücksichtigt

positiven – und dadurch auch den analytischen Gewinn des letzteren Begriffes – tendenziell auf. Vgl. Hauskeller (2000): 226. 92 Vgl. Foucault (1994): 251. 93 Macht spielt in Untersuchungen zur Entstehung der Bioethik meist keine Rolle. Ach und Runtenberg thematisieren Machtverhältnisse eher nebenbei. Vgl. Ach/Runtenberg (2002). Vgl. Düwell/Steigleder (2003).

B. B IOETHIK ALS DISPOSITIV

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werden, ohne in ein Basis-Überbau-Denken zu fallen. Neoliberale Kräfte werden auf einer Ebene mit anderen Verhältnissen angeordnet. Auf den Dispositivbegriff beziehe ich mich jedoch als Idee und beanspruche nicht, ihn gleich Foucault zu verwenden. Denn Foucault versuchte mit dem Dispositivbegriff anhand der historisch spezifischen und detaillereichen Rekonstruktion von Phänomenen wie dem Wahnsinn weitere gesellschaftliche Transformationen abzuleiten. Zwischen Bioethik und den foucaultschen ‚Entitäten‘ existieren jedoch Unterschiede, das heißt der Dispositivbegriff für den Wahnsinn ist ein anderer als für die Bioethik. Ein entscheidender Unterschied liegt dabei in der Perspektive. Denn Foucault stellte ausgehend ‚von unten‘, das heißt von Praktiken die zunächst staatsfern entstehen, die Frage, wie Staatlichkeit funktioniert.94 Biorechtliche Regelungen, Gesetze, Äußerungen von Parteienpolitikern und halbstaatliche Einrichtungen wie Ethikräte oder Kommissionen bilden hingegen einen entscheidenden Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Die Fassung der Bioethik als Dispositiv soll somit gerade das spezifische Zusammenwirken von juridischen, staatlichen, wissenschaftlichen und anderen Elementen deutlich machen. Denn Bioethik ist meines Erachtens als Dispositiv interessant, weil es zwischen diesen Elementen ein spezifisches Zusammenwirken gibt.

B.3 D IE R EKONSTRUKTION

DES

D ISPOSITIVS

DER

B IOETHIK

Unter Beachtung des bisher abstrakt Dargestellten, soll im Folgenden die Entstehung der Bioethik als Dispositiv rekonstruiert werden.95 Be-

94 Foucault spricht deshalb von Verstaatlichung und nicht vom Staat. Denn der Staat ist für ihn keine monolithische Institution, sondern ein permanenter Versuch der Einflussnahme auf, der Lenkung und Regulierung von Praktiken. Vgl. Foucault (2000a): 69. 95 Vgl. auch Lösch (2001), der auf europäischer Ebene Bioethik als Dispositiv untersucht und Lettow (2004), die die philosophische Bioethik als Dispositiv rekonstruiert.

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sondere Aufmerksamkeit werde ich dabei auf das Thema Stammzellen legen, weil Gegenstand der Untersuchung in Kapitel C der eingeschränkt interdisziplinäre bioethische Diskurs zur Stammzelldebatte ist. Ferner soll das Dispositiv auf seine impliziten Körper- und Geschlechtervorstellungen hin befragt werden, denn ein – wenn nicht das – ‚unbewusste‘ strategische Ziel des Dispositivs ist die ‚innere Landnahme‘ des Körpers, die wiederum alles andere als geschlechtsneutral verläuft.96 Ich versuche die Bioethik anhand verschiedener thematischer Unterteilungen zu rekonstruieren und zugleich zeitliche Verläufe zu berücksichtigen. Die Ereignisse werden jedoch nicht streng chronologisch dargestellt, sondern überschneiden sich teilweise. Grob können zwei Phasen unterschieden werden: Die erste Phase kennzeichnet das Lebensschutzgebot des Staates. Sie reicht von der beginnenden Bioethik ab etwa Mitte der 1980er Jahre bis 1998 (B.3.1 bis B.3.7). Die zweite Phase umfasst den Zeitraum von 1998 bis heute und entspricht der zeitlichen Begrenzung des Textkorpus, der im zweiten Teil dieser Arbeit analysiert wird. Sie ist stärker durch das ‚therapeutische Versprechen‘ bestimmt, mit dem auch die Absolutheit des staatlichen Lebensschutzgebotes in Frage gestellt wird (B.3.8 bis B.3.10). Ich konzentriere mich auf die Bioethik in Deutschland97 und ziehe nur im Fall der Bioethik-Konvention Vorgänge auf europäischer Ebene hinzu, weil die Konvention entscheidend für die Formierung des bioethischen Dispositivs und der Diskurse in Deutschland war. B.3.1 Von der traditionellen Arzt- zur biomedizinischen Ethik selbstregierter Subjekte Als Gründe für die Entstehung der Bioethik werden meist ‚technologische Fortschritte‘ in der Biomedizin selbst genannt: Die Entwicklung von Reproduktionstechnologien* wie die In-vitro-Fertilisation (IVF)*, von Gentechnologien* oder einer verbesserten Transplantationspraxis hätten zu einem Problemdruck geführt, den die traditionelle medizini-

96 Zur neoliberalen Inbesitznahme des Körpers o. A. 97 Zur Begründung o. A.

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sche Ethik nicht mehr bewältigen konnte.98 Damit übernehmen Erzählungen über die Entstehung der Bioethik ein lebenswissenschaftliches Verständnis von Biotechnologien als ‚hard facts‘, die quasi als Ursache auf andere gesellschaftliche Bereiche wie die Ethik einwirken.99 Wird Bioethik aber als Dispositiv begriffen, verschiebt sich die Perspektive auf weitere Faktoren: Biomedizin oder neue Reproduktionstechnologien sind zwar durchaus ‚treibende Kräfte‘ in der Geschichte der Bioethik, sie entwickeln sich jedoch immer auch in einem Zusammenspiel mit kulturellen Faktoren. Für die Entstehung der IVF in den 1980er Jahren waren beispielsweise Mythen wegbereitend, die bereits in der Antike zu finden sind.100 Zwar konnten sie zu dem Zeitpunkt technisch noch nicht umgesetzt werden, doch träumten bereits damalige Philosophen von einer Zeugung ohne Frauenleib.101 Bereits im sechsten Jahrhundert vor Christus imaginiert etwa Alkmaion von Kroton, dass Menschen aufgrund der aktiven Kraft eines männlichen unstofflichen Prinzips entstehen.102 Realisiert wird der alte Traum einer Zeugung jenseits des Frauenleibes 1978: Louise Brown wird als erstes Kind in vitro gezeugt. Ihre Geburt leitet die Etablierung der In-vitro-Fertilisation (IVF)* in der Medizin ein.103 Die im Reagenzglas herbeigeführte Verschmelzung von Ei- und Samenzelle wird neben medizinischen Verfahren wie

98

Vgl. Düwell/Steigleder (2003): 15ff.; Korff (1998): 7; Ach/Runtenberg

99

Zur Kritik eines lebenswissenschaftlichen Verständnisses von hard facts

(2002): 38. vgl. beispielsweise Latour (1987): 205. Dazu auch u. C.1. 100 Vgl. Treusch-Dieter (1990): 59. 101 Zu dieser ‚abendländischen Wissensphantasie‘ vgl. auch Braun/Stephan (2005): 14. 102 Vgl. Treusch-Dieter (1990): 59. Darüber hinaus wird Zeugung bei Alkmaion nicht nur geschlechterhierarchisch, sondern auch entsprechend eines Nutzenprinzips und nicht etwa als Verschwendung begriffen. Bock von Wülfingen spricht von „reprogenetischen Zukünften“ und zeigt mit Philippe Ariès, dass „dass eine Technologie nur breiter angewendet werden kann, wenn ihre Vorstellbarkeit (pensabilité) hergestellt ist.“ Bock von Wülfingen (2007): 14 & 20. 103 Vgl. Krebs (1998): 291.

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Hormonstimulation, Insemination* oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion (IZSI)* in bioethischen Diskussionen als eine Methode dargestellt, die Paaren, die durch ‚herkömmlichen‘ Geschlechtsverkehr keine Kinder zeugen können, mittels medizinischer Assistenz helfen kann. In der BRD wird sie deshalb über die gesetzlichen Krankenkassen finanziert.104 Für die Entwicklung der Stammzellforschung wird die IVF von immenser Bedeutung sein. Zum einen auf diskursiver Ebene: Mit ihrer Etablierung wird der Status des Embryos außerhalb des weiblichen Körpers zu einem Topos in den Debatten um Reproduktionstechnologien. Lebensschützer, Feministinnen, Mediziner und andere diskutieren in den 1990er Jahren die neuen Reproduktionstechnologien. Aus diesen Auseinandersetzungen gehen rechtliche Regelungen wie das Embryonenschutzgesetz (ESchG) hervor, das wiederum die Koordinaten für die Stammzelldebatte abgibt.105 Zum anderen schafft die IVF auch die technologischen Möglichkeiten für Stammzellforschung. Denn sie stellt erstmals in großen Mengen Embryonen auch außerhalb des Frauenkörpers für die Forschung zur Verfügung. Bei einer Invitro-Fertilisation (IVF) werden in Kultur zwar mehrere Eizellen befruchtet, die aber nicht alle in die Gebärmutter einer Frau übertragen, sondern stattdessen eingefroren werden.106 Die In-vitro-Fertilisation setzt somit direkt am Frauenleib an. Darüber hinaus ist das Verfahren mit starken gesundheitlichen Risiken für die Frau verbunden. Um Eizellen entnehmen zu können, muss ein Eisprung künstlich herbeigeführt werden und dazu müssen Frauen wiederum eine Hormonbehandlung über sich ergehen lassen. Eine Studie der US-Amerikanerin Louise Brinton vom National Cancer Institute in Rockville hat 2007 bestätigt, dass IVF die Wahrscheinlich-

104 Vgl. Haker (2001): 143f. 105 Vgl. Rubin (2007): 181. 106 Die Reproduktionsmedizin* ermöglichte auch die Keimbahntherapie an menschlichen Keimbahnzellen. Die IVF wird deshalb häufig in den Komplex der moralisch-ethischen Probleme der Gentechnik diskutiert, obgleich sie wie die Reproduktionsmedizin* im strengsten naturwissenschaftlichen Sinne nicht zur Gentechnik zu rechnen ist. Vgl. Zülicke (1996): 14f.

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keit, Krebs zu bekommen, erhöht. Denn je „öfter die Oberfläche der Eierstöcke im Zuge eines Eisprungs verletzt wird“, so Brinton, desto größer ist das Tumorrisiko.107 In den 1990er Jahren wurde die IVF deshalb von breiten Teilen der medizinkritischen Frauenbewegung abgelehnt. Die IVF wurde als Technisierung und Verdinglichung der Fortpflanzung kritisiert. Gesellschaftliche Probleme wie die ‚ungewollte Kinderlosigkeit‘ und der dahinter stehende soziale Druck würden auf Kosten der Frau und rein technisch gelöst werden.108 Zwanzig Jahre später scheint die Reproduktionstechnologie von Frauen jedoch weitgehend akzeptiert zu sein. So konstatiert Sigrid Graumann 2002, dass die IVF medizinisch etabliert und in der Bevölkerung breit akzeptiert sei. Die IVF werde mittlerweile von vielen Frauen selbstbewusst und offensiv in Anspruch genommen.109 Invitro-Fertilisation gilt Vielen deshalb als eine Technologie, die Ärzte auf Wunsch ihrer Patientinnen einsetzen und die damit die Selbstbestimmung von Frauen fördern. Die Patientin wird in biomedizinischen Entscheidungsprozessen als eine eigenverantwortlich handelnde Person begriffen. Dieses Arzt-Patienten-Verhältnis, in dem der Patient seinem Arzt als informierter Kunde gegenübertritt, beschreiben Vertreter der Bioethik als Ergebnis einer Demokratisierung des Gesundheitssystems. Die Stärkung der Selbstbestimmung des Patienten resultiere wiederum aus einer Sensibilisierung des allgemeinen Bewusstseins für medizinethische Probleme. So sei die traditionelle, am hippokratischen Verständnis orientierte Arztethik durch die weniger paternalisierende Bioethik abgelöst worden, weil die Öffentlichkeit besser über technologische und politische Entwicklungen unterrichtet gewesen sei und ärztliche Standesethik den Forderungen nach Einbezug des Patienten nicht Genüge leisten konnte.110 Der Patientenautonomie werde in der heuti-

107 GiD (2007): 33. 108 Vgl. Graumann (2005): 13f. 109 Vgl. dies.: 23. 110 Vgl. Ach/Runtenberg (2002): 23. Ach und Runtenberg argumentieren, dass die Bioethik entstanden ist, weil sich unter anderem das ArztPatienten-Verhältnis „infolge eines Strukturwandels der Medizin und des

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gen Medizin größeres Gewicht beigemessen als in der früheren medizinischen Ethik: „Die traditionelle ärztliche Ethik wird vielmehr tendenziell ersetzt durch ein Verständnis biomedizinischer Ethik, das die Ideen der Autonomie und des informed consent in den Mittelpunkt rückt und moralische Fragen in der Medizin generell zu öffentlichen Fragen erklärt.“111

Die Inanspruchnahme der IVF durch Frauen ist dieser Definition zufolge das Ergebnis eines demokratischen Mündigwerdens der Patientinnen. Frauen werden über die „Chancen und Risiken“ einer IVFBehandlung informiert und können dann zustimmen oder nicht. Die behandelnden Mediziner, in der Regel Gynäkologen, kommen damit lediglich dem freien Wunsch ihrer Kundinnen nach. Doch ob der ‚Einbezug‘ von Patienten in biomedizinische Entscheidungsprozesse mit dem Begriff Demokratisierung treffend beschrieben wird, ist fraglich. Denn bedarf die Umwandlung des medizinischen in ein biomedizinisches Terrain nicht selbstbestimmterer, sondern schlicht anderer – selbstregierter – Subjekte?112 Die Transformation der Subjektivierungsweisen, vom bevormundeten zum angeleiteten Patienten, ist somit eher Ausdruck sozial-ökonomischer Veränderungen: Für eine neoliberale Gesellschaftsformation, in der auch gesellschaftliche Felder wie der Gesundheitsbereich verschärft ökonomisiert werden, ist ein Arzt-Patienten-Verhältnis optimal, in dem der Patient sich selbst steuert – in dem er sich und seine Gesundheit möglichst ökonomisch, entsprechend produktiver Logiken, verwaltet. Die Verschiebungen im Arzt-Patienten-Verhältnis bilden umgekehrt wiederum die Grundlage für eine neoliberale Neustrukturierung von therapeutischen, das heißt forschungsrelevanten Räumen. In den USA verfügen beispielsweise etliche Fertilisationskliniken über ein

ärztlichen Handlungsfeldes“ verändert hat. Ach/Runtenberg (2002): 23. Vgl. auch Taupitz (2003): 818. 111 Ach/Runtenberg (2002): 16. 112 Vgl. Waldschmidt (1997); Lösch (2001); ders. (2001a); Lemke (2000).

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eigenes Eizell-‚Spende‘-Programme.113 Nach vollzogener künstlicher Befruchtung treten Mediziner an die Eltern mit der Bitte heran, ihre Embryonen für Forschungszwecke zu ‚spenden‘. Die Paare werden dabei entsprechend des bioethischen ‚informed consent‘ aufgeklärt. Ihnen wird erklärt, was mit den Embryonen geschieht und vor allem dass sie mit ihrer Gabe den (nationalen) Fortschritt unterstützen. Anschließend müssen die Paare eine Erklärung unterschreiben, dass sie keine Ansprüche an Gewinne stellen, die aus etwaigen Ergebnissen der Stammzellforschung resultieren.114 B.3.2 Bioethik als Subpolitik: Die Bioethik-Konvention Ein weiteres Kennzeichen der Bioethik als Dispositiv und das heißt als Bestandteil einer Neoliberalisierung der Gesellschaft ist, dass sie eine Form der Subpolitik darstellt. Neoliberalismus wird von unterschiedlichsten Theoretikern wie Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Ulrich Beck oder Rosemary Hennessy – sehr vereinfachend dargestellt – als einen Rückzug des Staates und der Politik und als die Ausdehnung der Ökonomie in verschiedene gesellschaftliche Bereiche, als die ungebremste Herrschaft des Marktes verstanden.115 Mit Bezug auf Foucaults Studien zur Gouvernementalität und deren Ausarbeitungen durch die Gouvernementality Studies bevorzuge ich für die folgenden Argumentationen jedoch einen Begriff von Neoliberalismus, der die Trennung zwischen Ökonomie und Gesellschaft und zwischen Ökonomie und Politik selbst als Programmatik des (Neo-)Liberalismus dechiffriert. Neoliberale Vorgänge umfassen spezifische gesellschaftliche Restrukturierungen, einen anders organisierten Kapitalismus, die nicht durch „eine Abnahme staatlicher Souveränität und Planungskapazitäten, sondern eine Verschiebung von formellen zu informellen Formen der Regierung“ – zu sogenannten Subpolitiken – gekennzeichnet sind. Thomas Lemke, Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling fassen diesen Prozess so zusammen:

113 Ich spreche im Folgenden statt von Spende von Gabe. Der Begriff Spende ist euphemistisch, weil er Inwertsetzungsvorgänge dethematisiert. 114 Vgl. Keller (2008). 115 Vgl. Giddens (2001); Bourdieu (1996); Beck (1997); Hennessy (2000).

76 | KÖRPER VON W ERT „Diese [Verschiebung] umfasst die Verlagerung von nationalstaatlich definierten Handlungsmustern auf suprastaatliche Ebenen ebenso wie die Etablierung neuer Formen von ‚Subpolitik‘, die gleichsam ‚unterhalb‘ dessen operieren, was traditionellerweise das Politische ausmachte.“116

Subpolitik ist somit eine Form der Politik, die nicht mehr zuvorderst in Institutionen wie dem Parlament stattfindet, die explizit als staatlich gelten, sondern in neu geschaffene Einrichtungen wie Räte, Gremien, Experten-Kommissionen oder Institute verlagert wird. Sie werden nicht ausdrücklich als staatliche definiert, ermöglichen dem Staat jedoch auf eine vielleicht effektivere Weise regulierende Eingriffe in gesellschaftliche Dynamiken, Diskurse und Praktiken. Die Entstehung der Bioethik ist für die Etablierung subpolitischer Räume paradigmatisch. In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich, stellen zum Beispiel Bernd Krippner und Armin Pollmann fest, ist die „‚Vorverlagerung‘ politischer Meinungsbildungsprozesse“ so auffällig wie im Bereich der Bioethik.117 Doch diese Vorverlagerung bedeutet keine Entdemokratisierung in einem demokratietheoretischen Sinn. Die ‚Öffentlichkeit‘ wird nicht einfach aus politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, sondern auf spezifische Weise – durch die Vermittlung von Expertenwissen – einbezogen. Dieses Expertenwissen wird wiederum in den neu geschaffenen subpolitischen Räumen generiert und kann als politisches Wissen bezeichnet werden: Bioethisches Wissen eröffnet Handlungsfelder, vermittelt Vorgaben guter Praxis, strukturiert eine (bioethische) Lebensführung und ist vor allem mit ökonomisch-rationalen Regierungszielen kompatibel. Die Schaffung der Bioethik-Konvention118 durch den Europarat in einem Zeitraum von etwa 1985 bis 1997 ist der erste entscheidende

116 Lemke/Bröckling/Krasmann (2000): 26. 117 Krippner/Pollmann (2004): 239. 118 Der deutsche Titel ist offiziell das Menschenrechtsübereinkommen zur Bioethik und zu den Menschenrechten. Kritiker nennen den Regelungsversuch schlicht Bioethik-Konvention. Auch die Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights (Genomdeklaration oder Deklaration) der UNESCO ist ein Instrument zur Regulierung von Körpersubstanzen – von genetischen Informationen. Vgl. Braun (2000): 196.

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Versuch, neue Biotechnologien auf europäischer Ebene einheitlich zu regulieren. Das Übereinkommen ist ein Beispiel der Verschiebung von biopolitischen Regierungsmaßnahmen von der nationalstaatlichen auf die suprastaatliche Ebene und ist als eine Form von Subpolitik zu begreifen.119 Denn die EU hat sich seit Anfang der 1980er Jahre im Bereich des Biorechtes als eigenständiger Akteur in der Biopolitik etabliert.120 Die Entstehung der Bioethik-Konvention soll deshalb nachgezeichnet werden.121 Bereits 1987 und 1988 ergreift die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PV) die Initiative zur Erstellung einer Konvention, die sich mit neueren Entwicklungen in Biologie und Medizin befassen soll.122 Die Versammlung fordert den Ministerausschuss des Europara-

Vgl. kritisch dazu Lösch (2001). Für die Stammzellproblematik ist jedoch die Bioethik-Konvention wichtiger, so dass hier ihre Entstehung verfolgt wird. 119 Mit dem Begriff Subpolitik sollen die qualitativen Veränderungen im Bereich staatlicher Politiken deutlich gemacht werden und keine Verlagerung von politischen Entscheidungsprozessen auf eine dem Nationalstaat untergeordnete Ebene. Ich verwende den Begriff Subpolitik deshalb anders als Lemke, Bröckling und Krasmann für Restrukturierungsprozesse, die Politiken sowohl auf europäischer als auch auf nationalstaatlicher Ebene umfassen. 120 Die EU zielt ebenfalls auf die Regulierung von Biotechnologien. Ein Beispiel sind die Forschungsrahmenprogramme, die Forschungsakteure, -institutionen und -regionen europaweit vernetzen sollen. Vgl. Dolata (2006): 297. 121 Ich beziehe mich dazu in weiten Teilen auf die Arbeit von Kathrin Braun (2002) und Artikel des Gen-Ethischen Informations Dienstes (GiD). 122 Die PV ist eine beratende Versammlung innerhalb des Europarates. Sie soll dem Europarat Anstöße zur Entwicklung von Konventionen geben. Die PV setzt sich aus Delegationen der nationalen Parlamente des Europarates (nicht der EU) zusammen, deren Größe sich nach der Bevölkerungszahl des Mitgliedsstaates richtet und die fraktionelle Zusammensetzung der nationalen Parlamente repräsentieren sollen. Die PV gibt bezüglich Konventionen Empfehlungen an das Ministerkomitee des Europarates. Das Ministerkomitee ist wiederum das wichtigste Organ des

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tes auf, einen übernationalen rechtlichen Rahmen zur Biomedizin und Biotechnologie zu schaffen. Sie wird jedoch im folgenden Prozess der Regelungsschaffung mehrfach übergangen. So wird die Erarbeitung der Konvention erst 1990 weiter voran getrieben, als das Ministerkomitee das Ad-hoc-Komitee des Europarates zur Bioethik (CAGBI) beauftragt, die Möglichkeit einer entsprechenden Rahmenkonvention zu prüfen.123 Das Ministerkomitee des Europarates reagiert damit jedoch nicht auf die Empfehlung der PV, sondern auf eine Resolution der Konferenz der europäischen Justizminister: Das Ad-hoc-Komitee des Europarates zur Bioethik (CAHBI) wird 1990 auf der Grundlage von Beschlüssen gegründet, die die europäische Ministerkonferenz in Wien und die europäischen Justizminister in Edinburgh 1985 trafen.124 1991 beauftragt das Ministerkomitee den CAHBI in Zusammenarbeit mit dem Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH) und dem Europäischen Gesundheitsausschuss (CDSP) eine Rahmenkonvention zum Schutz der „menschlichen Person“ („human person“) im Kontext von biomedizinischer Forschung vorzubereiten.125 1992 wird das Ad-hoc-Komitee zur Bioethik in einen regulären Lenkungsausschuss für Bioethik (CDBI) – zu englisch das Steering-Committee on Bio-ethics – umbenannt und so politisch aufgewertet.126 Er setzt sich

Europarates: Es setzt sich aus den Außenministern der Mitgliedsstaaten zusammen und hat insofern auch legislative Kompetenzen. Das Ministerkomitee entscheidet abschließend über alle entworfenen Konventionen. Vgl. Braun (2000): 202ff. Zur genauen Funktion des Europarates beim Entwurf von supranationalen Konventionen und dem Unterschied zur EU vgl. dies. 202f. 123 Ad-hoc-Kommissionen werden für eine kurze Zeitspanne und mit einem ganz bestimmten thematischen Auftrag – meist der fachlichen Expertise für Gesetzgebungsverfahren – eingerichtet. Vgl. Krippner/Pollmann (2004): 251. 124 Vgl. GiD (1999): 6; Billig (1998): 19; Braun (2000): 203. 125 Vgl. dies.: 204. 126 Vgl. Billig (1998): 19; GiD (1999): 6. Die Arbeit eines sogenannten Lenkungsausschusses für Bioethik liegt zwischen Initiative der PV und dem Vorliegen eines beschlussreifen Entwurfes. Der Lenkungsausschuss leistet die eigentliche Erstellungsarbeit und besteht aus Delegationen der

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aus je einem bis zu vier Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammen, die von den nationalen Regierungen ernannt wurden. Die nationalen Delegationen haben innerhalb des Lenkungsausschusses nur jeweils eine Stimme, das heißt sie müssen sich intern auf eine einheitliche Position einigen. Dem Ausschuss gehören auch Abgesandte der PV und der EU-Kommission an. Die BRD entsendet einen Mitarbeiter des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und einen des Bundesjustizministeriums (BMJ), sowie als Sachverständige den Leiter des Bonner Instituts für Wissenschaft und Ethik,127 Prof. Dr. Ludger Honnefelder und Prof. Dr. Elmar Doppelfeld vom Ethik-Komitee der Bundesärztekammer.128

Mitgliedstaaten und Staaten mit Beobachterstatus, aus Delegationen weiterer mit der Materie befasster Institutionen und Organisationen, sowie in etwa der Hälfte der Fälle aus Vertretern der PV. Die erste Stufe der Erstellung einer Konvention ist abgeschlossen, wenn die PV den entsprechenden Entwurf abschließend debattiert hat. Das Votum der PV geht als Empfehlung an das Ministerkomitee, das Vorschläge der PV prüft und sich schließlich auf einen Konventionstext einigt, der dann den nationalen Regierungen vorgelegt wird. Auf einer dritten Stufe entscheiden Mitgliedstaaten, ob sie der Konvention beitreten oder nicht. Erst wenn (wie im Falle der Bioethikkonvention) fünf Mitglieder die Konvention unterzeichnet und ratifiziert haben, tritt sie in den Staaten in Kraft. In der BRD ist für die Ratifizierung ein Bundesgesetz notwendig, das heißt die gesetzgebenden Körperschaften müssen dem Gesetz zustimmen. Vgl. Braun (2000): 203. 127 Zum IWE u. B.3.6. 128 Vgl. Braun (2000): 204f. Taupitz und Doppelfeld werden im bundesdeutschen bioethischen Dispositiv Leitungspositionen in den staatlichen ‚Ethik-Monopolen‘ einnehmen und die Konvention bis heute als wichtiges Regelungsinstrument begreifen. Doppelfeld etwa befürwortet die Konvention in einem Beitrag zum Stand der Ethikkommissionen in Deutschland, den er 2002 auf einer Versammlung des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen hielt. Er unterstützt dort ebenfalls den Vorschlag der Harmonisierung der lokalen Ethikkommissionen und folgt damit der Bioethik-Konvention. Vgl. Doppelfeld (2003): 18.

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Die bis hier skizzierte Geschichte der Bioethik-Konvention zeigt bereits, wie Bioethik als Subpolitik etabliert wird und selbst die subpolitische Regulierung bioethischer Problematiken auf nationaler Ebene vorantreibt. Denn die Konvention wird zu diesem Zeitpunkt quasi hinter ‚verschlossenen Türen‘ entworfen. Obgleich der Lenkungsausschuss nicht ‚demokratisch gewählt‘ wird, soll er völkerrechtliche Verbindlichkeit für die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten haben. Die europäische Bioethik, stellt Jobst Paul bereits 1994 in einem Artikel fest, habe sich „in einem halbstaatlichen Bereich breit gemacht, also ‚unterhalb‘ der Regierungen, aber ‚oberhalb‘ der Parlamente. Sie agiert weitgehend nicht-öffentlich, wird aber überwiegend öffentlich finanziert. Dabei nutzt sie die Netzwerke der staatlichen Wirtschafts- und Forschungsförderung.“129

Der politische Prozess um die Konvention spielt sich folglich von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre in einer „politisch-rechtlichen Sonderzone“ ab und wird von den Regierungen zwar politisch abgeschirmt, jedoch zugleich machtpolitisch genutzt, ohne parlamentarischer Kontrolle zu unterliegen.130 Im Mai 1994 werden die Vorbereitungen für eine gesetzliche europäische Regelung jedoch gestört: In der Frankfurter Rundschau wird ein Entwurf der Bioethik-Konvention veröffentlicht. Initiiert wird das unter anderem von Erika Feyerabend, Ursel Fuchs, Jobst Paul und Wilma Kobusch, die daraufhin die Internatonale Initiative gegen die geplante Bioethik-Konvention und das Europäische Bioethische Netzwerk gründen. Sie rufen in einem Schreiben zur Unterschriftensammlung auf und lösen vor allem in der BRD eine breite Diskussion und starken Widerstand aus.131

129 Paul (1994): 16. Auch Andreas Lösch beschreibt die Bioethik-Beratung auf europäischer Ebene als „eine Schaltstelle [...], welche die Interessen der Forschung und Industrie und des Rechts direkt miteinander verkoppelt.“ Lösch (2001): 173. 130 Ders. 131 Vgl. Braun (2000): 201.

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Nach den Protesten veröffentlicht das CDBI im Juni 1994 einen Entwurf, der den Mitgliedsländern nahe legt, Fragen der biomedizinischen Entwicklung zum Gegenstand „angemessener“ öffentlicher Diskussion zu machen. Die im nächsten Jahrzehnt erfolgende Etablierung bioethischer Institutionen kann als eine Umsetzung dieses Passus’ interpretiert werden. Dabei geht es jedoch nicht um die Schaffung eines kritischen ethischen Bewusstseins, um die grundlegende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den neuen Technologien, sondern um die breite Etablierung von Biotechnologien und die Erweiterung ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz. Am 26. Januar 1995 findet auf Betreiben einiger Abgeordneter eine Debatte im deutschen Bundestag statt. Besonders Robert Antretter (SPD), späteres Mitglied im Kuratorium des IMEW132, setzt sich als Vizepräsident der PV kontinuierlich für eine Verbesserung der Schutzbestimmung in der Konvention ein. Dabei gibt es interfraktionelle Übereinstimmung zwischen SPD, Grünen, PDS, Liberalen und Angehörigen der CDU, die fordern, den Entwurf aufgrund seines nicht ausreichenden Schutzes der Menschenwürde zurückzuweisen. Als Subjekt der Menschenwürde wird dabei besonders der Embryo privilegiert. Denn die parlamentarische überschneidet sich mit der ‚öffentlichen‘ Kritik unter anderem im Widerstand gegen Embryonenforschung und gegen die Ermöglichung von Eingriffen in die menschliche Keimbahn*. Auch der Bundesrat kritisiert in einer Stellungnahme zur Bioethik-Konvention im Mai desselben Jahres zur BioethikKonvention den „unzureichenden Embryonenschutz“.133 Im September 1995 erstellt das CDBI einen neuen Entwurf, der wiederum durch die Internationale Initiative gegen die geplante Bioethik-Konvention an die Öffentlichkeit gelangt. Erneut regt sich heftiger Protest, weil sich an umstrittenen Kernaussagen nichts geändert hat.134 Forschung an Embryonen wird weiterhin befürwortet und die Forschungspraxis von Ländern wie Großbritannien indirekt unter-

132 Zum IMEW u. B.3.6. 133 Dies.: 207. 134 Vgl. Rennenberg (1996): 6; Braun (2000): 207.

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stützt.135 Forscher sollen weitreichende Zugriffsrechte auf den menschlichen Körper erhalten.136 Das CDBI einigt sich im Juni des darauf folgenden Jahres auf einen letzten Entwurfstext, der zu dieser Zeit die Kurzbezeichnung „Convention on Human Rights and Biomedicine“ trägt, weil „Bioethics“ vor allem in der deutschen Öffentlichkeit mit Eugenik* und Euthanasie in Verbindung gebracht wird. Die deutsche Delegation im CDBI stimmt als einzige gegen Text.137 Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig (FDP) erklärt jedoch, dass „die Bundesregierung bei einer befriedigenden Lösung der noch offenen Fragen ihre Haltung revidieren wird“ und die Bundesregierung verkündet, sie werde „ihre politische Entscheidung unter sorgfältiger Abwägung der innen- und außenpolitischen Tragweite ihres Beschlusses treffen“. Angedeutet wird damit, dass für die Bundesregierung ethische Bedenken nicht der ausschlaggebende Punkt für die Zurückhaltung sind.138 Am 26. September 1996 wird der Konventionstext dann noch einmal in der PV debattiert und schließlich verabschiedet. Dabei wird der umstrittenste Punkt der fremdnützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen akzeptiert. Auch Anträge, die ein eindeutiges Verbot der Keimbahnmanipulation und der Embryonenforschung fordern, finden keine Mehrheit. Sie stammen überwiegend von Mitgliedern der deutschen Delegation, sowie vom Rechtsausschuss der PV unter Vorsitz des Österreichers Walter Schwimmer.139 Am 19. November 1996 nimmt auch das Ministerkomitee den Entwurf an. Deutschland enthält sich neben Polen und Belgien der Stimme. Das geschieht jedoch nicht aus ethischen, sondern aus politisch-taktischen Gründen. Denn laut Aussage Schmidt-Jortzigs würde die deutsche Öffentlichkeit eine Zustimmung Deutschlands zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verstehen.140 Die wäre jedoch nötig,

135 Großbritannien hat in Europa die liberalsten Gesetze zum Gentechnologiekomplex. 136 Vgl. Rennenberg (1996): 6. 137 Vgl. Braun (2000): 207. 138 Dies.: 208. 139 Vgl. dies.: 209. 140 Vgl. dies.: 210.

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um den Embryo als Forschungsrohstoff konstruieren und damit eine der Grundlagen der neuen staatlichen Biopolitik schaffen zu können. Denn seit Mitte der 1990er Jahre verfolgen die verschiedenen bundesdeutschen Regierungen das Ziel, Deutschland zum führenden Biotechnologiestandort in Europa zu machen.141 Über ein Jahr später tritt dann der Widerstand des Lebensschutzes an die bundesdeutsche Öffentlichkeit: Am 5. Februar 1998 findet eine Veranstaltung des Bündnis’ für Menschenwürde gegen die BioethikKonvention statt. Der Protest repräsentiert eine Bandbreite von Initiativen, Verbänden, Sachverständigen, kirchlichen Organisationen, Behinderten- und Sozialverbänden und Bürgerinitiativen. Kleinster gemeinsamer Nenner der Akteure ist die Rechtssubjektivität des Embryos. Die Kritiker der Bioethik-Konvention unterstreichen die Unteilbarkeit der Menschenwürde und lehnen die Einteilung von Menschen in verschiedene moralische Statusgruppen ab. Embryonenforschung würde dem Prinzip der Menschenwürde zuwiderlaufen.142 Feministische geschweige denn queer-feministische Organisationen bestimmen die Veranstaltung nicht maßgeblich mit, woraus sich die Ausklammerung der Kategorie Geschlecht und folglich von Themen wie Heteronormativität oder die Einbindung des Frauenleibes im Kontext neuer Biotechnologien ergibt. Nichtsdestotrotz markiert die Veranstaltung den Beginn einer ‚kritischen Bioethik‘, die in dieser Form nur in Deutschland existiert. Braun begründet die Tatsache, dass der Schwerpunkt des Protestes in Deutschland liegt, mit der Kombination dreier Faktoren, die es in anderen Ländern so nicht gebe: • •

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus, die in den Auseinandersetzungen stark präsent ist. Der Einfluss der kantischen Moral- und Rechtstradition auf die bundesdeutsche Geistes- und Sozialgeschichte. Sie schlage sich nicht zuletzt im Menschenwürdegrundsatz des Grundgesetzes nieder, auf den in den Auseinandersetzungen vielfach Bezug genommen wird.

141 Vgl. Dolata (2006): 306. 142 Vgl. Braun (2000): 211.

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Die Existenz einer ausgeprägten Skepsis gegenüber wissenschaftlich-technologischen Fortschrittsversprechungen in breiten Teilen der deutschen Bevölkerung, die sich auch in anderen sozialen Bewegungen (Anti-Volkszählungsbewegung, Anti-Atomkraft und Ökologiebewegung) ausdrückt.143

Obgleich sich deutsche Parteienpolitiker gegen die Bioethik-Konvention stellen, lassen sich in der BRD bereits zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Kräfte finden, die den menschlichen Körper für Wertschöpfungsprozesse zugänglich machen wollen. So fordern die organisierte Ärzteschaft und die Zentrale Ethik-Kommission der Bundesärztekammer noch vor Annahme der Konvention durch den Ministerrat des Europarates, Versuche an Menschen zuzulassen. Die 14. Jahresversammlung des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der BRD setzt sich sogar dafür ein, die Regeln der Bioethik-Konvention zur fremdnützigen Forschung an sogenannten Nicht-Einwilligungsfähigen zu übernehmen. Auch das Bundesjustizministerium zeigt keine klare Ablehnung gegenüber einer möglichen Deregulierung der Forschung an Menschen ohne persönliche Zustimmung und das BMJ fordert eine „differenzierende Diskussion“ zu diesen „schwierigen ethisch-rechtlichen Abwägungsfragen“.144 Die „Bioethik-Konvention“ wird schließlich im spanischen Oviedo am 4. April 1997 zur Unterzeichnung ausgelegt. Die BRD gehört aufgrund des Widerstandes ‚in der Bevölkerung‘ nicht zu den Unterzeichnern. Dennoch ist das Ergebnis trotz der zweieinhalbjährigen Auseinandersetzung ein internationaler Vertrag, in dem die Behandlung von Menschen als Material der Forschung grundsätzlich erlaubt ist. So ermöglichen die Artikel 17 und 20, Versuche an Menschen gegen deren Zustimmung zuzulassen und Menschen in Kategorien von abgestuften moralischen Status einzuteilen.145 Das Übereinkom-

143 Vgl. dies.: 212. 144 Dies.: 246. 145 Vgl. Europarat (1997): § 17 & 20. Vgl. Braun (2000): 9. Zur Inwertsetzung ganzer Körper durch eine Abstufung des moralischen Status u. C.3.1.1.

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men delegiert die Definition von „Mensch“ an die Einzelstaaten.146 „Fremdnützige Forschung ohne persönliche Zustimmung“, so Braun, sei weiterhin möglich und die Weitergabe von Ergebnissen genetischer Tests an Versicherungen und Arbeitgeber ebenfalls. Auch Embryonenforschung wird grundsätzlich nicht verboten und die Entscheidung den Einzelstaaten überlassen. In Artikel 18, Absatz 1 heißt es: „Die Rechtsordnung hat einen angemessenen Schutz des Embryos zu gewährleisten, sofern sie Forschung an Embryonen in vitro zuläßt.“147 Auch die Präimplantationsdiagnostik wird nicht grundsätzlich ausgeschlossen und „in bezug auf die Keimbahnmanipulation wird nur verboten, daß sie beabsichtigt wird – nicht daß sie gemacht wird.“ Brauns Fazit zur Bioethik-Konvention lautet deshalb so: „Der Europäische Gerichtshof kann bei Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der Biomedizin nicht angerufen werden, die wenigen Rechte, die die Konvention enthält, sind praktisch nicht durchsetzbar. Eine Unterteilung der Menschen, auch der geborenen, in Rechtsträger und verwertbare menschliche Materie ist [...] weiterhin möglich.“148

Die Konvention ist somit in mehreren Hinsichten für den Entstehungsprozess des bioethischen Dispositivs in Deutschland relevant. Zum einen ist sie Startpunkt von Aktivitäten vieler kritischer Bioethiker.149 Widerstände gegen die ‚Menschenproduktion‘ und die Inwertsetzung von menschlichen Leibern und Leibessubstanzen nehmen mit der Konvention ihren Ausgangspunkt und münden beispielsweise in die Gründung von ‚Gegeninstitutionen‘ zur dominanten Bioethik. Zum anderen ist die Allianz aus Forschung, Wirtschaft und Politik einer der ersten biorechtlichen Schritte auf europäischer Ebene, den menschlichen Leib für die neuen Biotechnologien als Forschungsrohstoff zu konstituieren und seinen Zugriff zu regulieren. Der institutionelle Prozess, der die Schaffung begleitet, ist ein Beispiel, wie Bioethik als Subpolitik etabliert wird und zugleich selbst die subpolitische

146 Braun (2000): 66. 147 Vgl. Taupitz/Brewe (2003a): 86. 148 Braun (2000): 246f. 149 Vgl. http://www.bioethik-konvention.de.

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Regulierung bioethischer Problematiken auf nationaler Ebene vorantreibt. Denn die Konvention ist einerseits hinter ‚verschlossen Türen‘ entworfen worden. Andererseits sieht sie selbst die Etablierung von nationalen Ethikkommissionen vor, wie im folgenden Abschnitt ausführlicher erläutert werden soll. B.3.3 Die neoliberale Umstrukturierung lokaler Ethikkommissionen Auch in Deutschland formieren sich ab Mitte der 1990er Jahre zunehmend Felder bioethischer Subpolitik: Auf nationaler, föderaler und lokaler Ebene werden Bio-Ethikkommissionen geschaffen oder neoliberalen Kalkülen entsprechend umstrukturiert. Zwar ist das Phänomen medizinischer Ethikkommissionen nicht neu. Denn ihren Einsatz beschloss der deutsche Staat erstmals bereits 1900 – lange bevor die bioethische Debatte in Deutschland überhaupt einsetzte.150 Zwischen ‚klassischen‘ und bioethischen Ethikkommissionen gibt es jedoch relevante Unterschiede, die das spezifisch neoliberale ‚Anliegen‘ des bioethischen Dispositivs anzeigen. Die klassischen Ethikkommissionen waren lokale Gremien, die direkt an den medizinischen Fakultäten, den Kliniken der Universitäten, den Krankenhäusern, den öffentlich-rechtlichen Ärztekammern oder bei der forschenden Industrie angesiedelt waren. 151 Sie können grob in „medizinische Ethik-Kommissionen“ und „Krankenhaus-Ethikkommissionen“ unterschieden werden. Erstere beschäftigten sich mit Projekten medizinischer Forschung am Menschen. Letztere fokussierten thematisch die Behandlung von Kranken und standen deshalb vorwiegend im Dienste der Krankenhäuser.152 Gemeinsam war lokalen Ethikkommissionen, dass ihr Ziel die ‚freiwillige Selbstkontrolle‘ von Ärzten und Forschenden war und dass die Reichweite der ethischen Arbeit oft begrenzt auf die jeweilige Institution, ihr Personal und ihre Arbeitsschritte war.153 Lokale Ethikkommissionen behandelten beispielsweise die Frage, was in einem be150 Vgl. Doppelfeld (2003): 5f. 151 Vgl. Taupitz (2003): 816. 152 Vgl. Doppelfeld (2003): 5. 153 Vgl. Krippner/Pollmann (2004); Ach/Runtenberg (2002): 138.

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stimmten Fall zu tun war und unterstützten einen entscheidenden Arzt in einem problematischen Einzelfall.154 Diese ortsgebundenen Kommissionen beschäftigten sich im Gegensatz zu nationalen Kommissionen nicht mit „grundsätzlichen Fragen“,155 sondern strukturierten den Klinik- und Forschungsalltag entsprechend vorgegebener gesetzlicher Normen oder anderer Richtlinien.156 Auf nationaler Ebene sind sie bis heute im Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen zusammengeschlossen. Er ist eine Art Dachverband und koordiniert ihre Belange und Tätigkeiten. Kommissionen auf lokaler Ebene bilden bis heute die Mehrzahl von Ethikkommissionen. Krippner und Pollmann sprechen 2004 von insgesamt mehr als 50. Dazu kommen 28 Gremien an Universitätskliniken. Der Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen führt wiederum derzeit auf seiner Internetseite 34 Ethikkommissionen auf, die an den medizinischen Fakultäten angesiedelt sind und 18 öffentlich-rechtliche Ethikkommissionen der Ärztekammer der einzelnen Länder.157 Genaue Erfassungen oder empirische Untersuchungen existieren nicht. Festgehalten werden kann jedoch, dass nach wie vor die Mehrzahl der Personen, die als Bioethiker in Deutschland tätig sind und konkrete bioethische Entscheidungen treffen, Mediziner sind. Die entscheidende Transformation findet dann mit der einsetzenden bioethischen Debatte Mitte der 1990er Jahre statt. Es bilden sich Ethikkommissionen, die auf föderaler und nationaler Ebene agieren und explizite politische Funktionen haben.158 Zugleich wird die ethische Ausrichtung der lokalen Kommissionen unter der Bundesärztekammer vereinheitlicht und stärker neoliberalen Kalkülen unterstellt. Am 14. Oktober 1994 verabschiedet der Vorstand der Bundesärztekammer ein Statut zur „Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten“, der die Grundlage der damit gegründeten

154 Vgl. dies.: 139. 155 Doppelfeld (2003): 5. 156 Vgl. Dewitz/Luft/Pestalozza (2004): 34. 157 Vgl . www.DRZE.de/liks/Ethik-Kommissionen&www.ak-med-ethik-komm. de. 158 Dazu u. B.3.6.

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Zentralen Ethikkommission (ZEKO) abgeben soll.159 Die erste Amtsperiode der ZEKO beginnt am 1. Januar 1995. Die Zentrale Ethikkommission soll zwar ähnlich den lokalen Ethikkommissionen „in Fragen, die unter ethischen Gesichtspunkten im Hinblick auf die Pflichten bei der ärztlichen Berufsausübung von Grundsätzlicher Bedeutung sind, Stellung [...] nehmen“. Auch soll sie „auf Wunsch der Ethikkommission einer Landesärztekammer oder einer medizinischen Fakultät bei Wahrung der Unabhängigkeit dieser Ethikkommission für eine ergänzende Beurteilung einer ethischen Frage von grundsätzlicher Bedeutung zur Verfügung [...] stehen.“ Anders als lokale Ethikkommissionen soll sie Handlungsmöglichkeiten jedoch über einzelne Kliniken, Fälle oder Forschungsprojekte hinaus ethisch beurteilen: Die ZEKO soll die ärztliche Tätigkeit und die biomedizinische Forschung ethisch regulieren, indem sie Stellungnahmen zu grundsätzlichen ethischen Fragen artikulieren soll, „die durch den Fortschritt und die technologische Entwicklung in der Medizin und ihren Grenzgebieten aufgeworfen werden und die eine gemeinsame Antwort für die Bundesrepublik Deutschland erfordern“. Die Zentrale Ethikkommission erlangt mit ihrer nationalen Ausrichtung „weit größeren gesellschaftlichem Einfluß“ als der Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen160 und Doppelfeld weist darauf hin, dass die Empfehlungen der ZEKO von den lokalen medizinischen Ethikkommissionen beachtet würden.161 Zudem sollen neben der Medizin weitere wissenschaftliche Disziplinen einbezogen werden, was ebenfalls eine qualitative Veränderung in der ethischen Regulierung medizinischer Handlungsoptionen anzeigt, die auf die das bioethische Dispositiv kennzeichnende eingeschränkte Interdisziplinarität verweist.162 Die ZEKO soll aus bis zu 16 Mitgliedern bestehen, wobei fünf Vertreter aus der Medizin und zwei aus den Naturwissenschaften berufen werden sollen. Ferner sollen zwei Philosophen oder Theologen, zwei Rechtswissenschaftler und

159 http://www.zentrae-ethikkommission.de 160 Krippner/Pollmann (2004): 243. 161 Vgl. Doppelfeld (2003): 18. Vgl. Krippner/Pollmann (2004): 243; Taupitz (2003): 816. 162 Zur eingeschränkten Interdisziplinarität der Bioethik u. B.3.6.

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ein Repräsentant der Sozialwissenschaften zugegen sein. Sie werden vom Vorstand der Bundesärztekammer ernannt. Der Unterschied zwischen standesrechtlichen und neoliberal restrukturierten Ethikkommissionen manifestiert sich ferner in den ethischen Themen, mit denen sich bioethische Kommissionen beschäftigen. Mit der Neoliberalisierung der Medizin, das heißt im Zuge ihrer Umwandlung zur Biomedizin, wird der Körper nicht mehr ausschließlich als Arbeitskraft, sondern zunehmend auch in seiner Substanz erschlossen.163 Ethikkommissionen beschäftigen sich deshalb besonders mit dem ‚ethisch richtigen‘ Umgang mit Körpersubstanzen. So konstatiert Doppelfeld etwa, dass sich „das Aufgabenfeld“ medizinischer Ethik-Kommissionen in den letzten Jahren um die Bereiche „Daten“ und „körpereigenes entnommenes Gewebe“ erweitert habe.164 In der sechsten Stellungnahme befasst sich die ZEKO mit dem Thema Stammzellforschung, für die sie sich grundsätzlich ausspricht. These acht befürwortet beispielsweise, dass überzählige IVF Embryonen für die Forschung verwendet werden dürfen, falls die Ergebnisse nicht anderweitig erreicht werden können. Das bioethische Dispositiv baut somit einerseits auf dem Sockel lokaler Kommissionen auf.165 Andererseits transformiert es sie entsprechend bioethisch-neoliberaler Kalküle und ordnet sie nationalen Politiken unter: Die Formierung des Dispositivs der Bioethik oder der „Prozeß der bioethischen Kommissionierung“ begann „‚im Kleinen‘ und eher politikfern“ und greift auf das bundesweite Netz von lokalen Ethikkommissionen zurück.166 B.3.4 Die Etablierung politischer Ethikkommission Mitte der 1990er Jahre entstehen erste Bioethikkommissionen, die erstens ‚nationalen‘ und zweitens ‚politischen‘ Charakter haben und deren Schaffung Ausdruck einer „zunehmenden Delegierung biopoliti-

163 Dazu o. A. Vgl. Lemke (2000): 240. 164 Doppelfeld (2003): 7. 165 Vgl. Taupitz (2003): 816. 166 Krippner/Pollmann (2004): 241. Vgl. Taupitz (2003): 816.

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scher Meinungsbildungsprozesse an Expertenkommissionen“ ist.167 Gleich medizinischen Ethikkommissionen sind sie dem Bereich des Subpolitischen zuzurechnen. Nationale Ethik-Kommissionen beziehen jedoch stärker Stellung zu Gesetzen wie dem Stammzellgesetz: Die Funktionen der Politikberatung und die Gestaltung von Biorecht gehören zu ihren Kernaufgaben. Bereits im August 1984 richtet der Bundestag eine EnqueteKommission zu Chancen und Risiken der Gen-Technologie ein, die bis 1987 arbeitet. Den Vorsitz hat der heutige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesforschungsministerium Wolf-Michael Catenhusen (SPD).168 Sie fällt zeitlich mit dem Beginn einer breiten bundesdeutschen Debatte um die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien zusammen und reagiert besonders auf die Etablierung der ‚künstlichen‘ Befruchtung (IVF)*.169 Größere Beachtung in der Öffentlichkeit und der Fachliteratur findet jedoch die etwa zeitgleich eingerichtete interministerielle und interdisziplinäre Arbeitsgruppe In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie, die sogenannte Benda-Kommission. Sie wird 1984 vom damaligen Bundesminister der Justiz, Hans A. Engelhard, und vom Bundesminister für Forschung und Technologie, Heinz Riesen-

167 Krippner/Pollmann (2004): 241. Die beiden Politikwissenschaftler fokussieren allein auf sogenannte Demokratiedefizite und blenden ökonomische und geschlechtliche Verhältnisse aus bzw. thematisieren sie nicht umfassend genug. Anders Kathrin Braun. Sie kritisiert die zunehmende Delegierung bioethischer Auseinandersetzungen in Expertengremien und merkt an, dass Expertengremien Herrschaftswissen produzieren. Braun berücksichtigt zwar Geschlechterverhältnisse, konzentriert sich jedoch auf eine ‚weibliche‘ Sicht. Eine queer-feministische Perspektive fehlt auch bei ihr. 168 Das Bundesforschungsministerium spielt in der Gestaltung der deutschen Forschungslandschaft zu Stammzellforschung eine bedeutende Rolle, weil es im Gegensatz zu anderen Institutionen auf europäischer und Länderebene über nennenswerte Gelder verfügt. Vgl. Grüber (2006): 279. 169 Vgl. http://www.dw-world.de/dw/article/0,2144,416957,00.html.

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huber, eingesetzt und steht unter Leitung des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgericht Ernst Benda. Die Kommissionen sind im Hinblick auf die Formierung des bioethischen Dispositivs interessant, weil sie politische bioethische Entscheidungen auf einem nationalen Level in einen Bereich außerhalb des Parlamentes verlagern. Beide Kommissionen haben die Funktion eines Wegbereiters für den späteren Nationalen Ethikrat, weil „nicht das Parlament, sondern einzelne Bundesministerien, das heißt exekutive Instanzen, federführend“ sind.170 Zudem sind sie maßgeblich an der Vorbereitung des Embryonenschutzgesetzes (EschG) und des Gentechnikgesetzes beteiligt.171 Die Benda-Kommission etwa veröffentlichte einen Bericht zur Vorbereitung eines Embryonenschutzgesetzes. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht neben den Themen Genomanalyse und Gentherapie, die Aufgabe, sich mit den gesellschaftlichen Folgen auseinanderzusetzen, die mit der Möglichkeit, menschliche Eizellen in vitro zu befruchten, entstehen.172 Die Benda-Kommission spricht sich zunächst für „eine hochrangige, dem Lebensschutz dienende Forschung an Embryonen“ aus, die unter „engen Voraussetzungen“ betrieben werden soll.173 Die Inwertsetzung des Körpers wird somit bereits zu diesem Zeitpunkt von staatlicher Seite in Erwägung gezogen. In weiteren Vorarbeiten zum ESchG setzt sich dann aber die Auffassung durch, dass „eine Verzweckung menschlichen Lebens in keinem Fall zu rechtfertigen sei“. Die gezielte Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken wird für grundsätzlich nicht vertretbar eingestuft. Damit wird der so genannten Objektformel bei den parlamentarischen Beratungen zum ESchG eine erhebliche Rolle zugedacht. Sie geht auf den einflussreichen Kommentator des Grundgesetzes (GG) Günter Dürig zurück174 und meint im Hinblick auf den Lebensschutz des Embryos, dass mit der im GG verankerten Men-

170 Krippner/Pollmann (2004): 245. 171 Vgl. dies. 172 Vgl. Huwe (2006): 23. 173 Vgl. Bülow (2001): 44. 174 Vgl. Rixen (2004).

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schenwürde die Verwendung ‚menschlichen Lebens‘ zu ‚fremdnützigen Zwecken‘ nicht in Einklang zu bringen sei.175 Die Benda-Kommission perpetuiert den staatlich festgeschriebenen Lebensschutz und stellt somit die Weichen, in denen sich die Argumentationen der Lebensschützer in den nachfolgenden Jahren bewegen: Der Embryo wird als Rechtssubjekt der Würde gesetzt und unter Lebensschutz gestellt. Der Frauenkörper wird zugleich staatlichen Interessen unterworfen und Reproduktionstechnologien heteronormativ reguliert.176 B.3.5 Die Privilegierung des Embryos als Rechtssubjekt im entstehenden Biorecht Ab Mitte der 1990er Jahre treten weitere großinstitutionelle Akteure in den Kampf um die Regulierung der neuen Reproduktionstechnologien ein: Die beiden christlichen Kirchen äußern sich in der Debatte zur Invitro-Fertilisation (IVF) und Embryonenforschung. Zunächst wird 1987 die römische „Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung“, kurz „Donum vitae“, unter Federführung des damaligen Präfekten Joseph Ratzinger veröffentlicht. Bis heute stellt sie aufgrund der Organisiertheit der katholischen Kirche einen wichtigen Bezugspunkt für die Argumentation katholischer Theologen dar.177 Die Ideale des heterosexuellen Paares und des vermeintlich natürlichen Fortpflanzungsaktes bilden den unumgänglichen Ausgangspunkt der „Donum vitae“. Neue Reproduktionstechnologien und Forschung an Embryonen werden als illegitim angesehen, weil

175 Vgl. Bülow (2001): 44f. 176 Denn mit der In-vitro-Fertilisation (IVF), mit der künstlichen Befruchtung im Labor, wird eine Trennung von Koitus, Befruchtung, Schwangerschaft und sozialer Elternschaft vollzogen, die jedoch nicht reflektiert wird. Die neuen Reproduktionstechnologien werden somit in herkömmlichen heterosexuellen Geschlechterarrangements stilllegt. Dazu u. D.2.2. Ausführlich zu den Kommissionen und ihrer Aufgabe der öffentlichen Akzeptanzbeschaffung vgl. Gill (1991): 169 & 107 ff. 177 Vgl. Ratzinger (1987).

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sich der Mensch damit die ‚Herrschaft über die göttliche Schöpfung‘ anmaßen würde. IVF widerspricht aus der Perspektive katholischer Kirchenoberhäupter der „besonderen Weitergabe des menschlichen Lebens“, das heißt dem „persönlichen Akt von Mann und Frau“. Besonders der Frauenleib wird beispiellos dem christlichen Diktum des Lebensschutzes unterworfen und Abtreibung als „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ gebrandmarkt.178 Im November 1989 warnen dann die deutsche evangelische und die katholische Kirche in einer gemeinsamen Erklärung zum Lebensschutz vor der Anwendung der künstlichen Befruchtung und der Pränataldiagnostik (PND) und lehnen Forschung an Embryonen auch bei „noch so hochrangigen Forschungszielen“ ab.179 Bis heute vertreten die Leitungen der Kirchen diese grundlegende Linie.180 Fünf Jahre nach der Benda-Kommission und 15 Jahre nach Etablierung der IVF wird am 13. Dezember 1990 das Embryonenschutzgesetz erlassen. Das EschG stellt im Problemkontext IVF die erste Verdichtung bioethischer Diskurse in nationales deutsches Biorecht dar. Für die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen legt das Gesetz die juridischen und ‚diskursiven‘ Koordinaten fest.181 Folgt man dem juridischen Selbstverständnis, so verbietet das Gesetz die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken. Der „mißbräuchlichen Anwendung von Fortpflanzungstechniken“ soll, wie es in Artikel 1 des Gesetzes heißt, entgegen getreten werden. In der Tat schützt das Gesetz den Embryo davor, zum vernutzbaren Forschungsrohstoff zu werden. Zugleich wird die Frau davon ausgenommen, zur Rohstofflieferantin oder zur ‚Leihmutter‘ zu werden. Differenz-feministische Positionen wie die Sigrid Graumanns schreiben dem Gesetz deshalb einen positiven Wert zu.182 Aus einer queer-feministischen Perspektive betrachtet ist das Gesetz jedoch problematisch. Denn die Funktion der Regelung ist nur

178 Dazu u. C.2.2.5. 179 http://www.dw-world.de/dw/article/0,2144,416957,00.html. 180 Zur Abweichung protestantischer Theologen von der Kirchenleitungspolitik u. C.2.1.2. 181 Vgl. Rubin (2007). 182 Vgl. Graumann (2002): 25.

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teilweise beschränkend. Das ESchG stellt auch ein Instrument zur produktiven Regulierung der Fortpflanzung dar: Dem Gesetz liegt das Ideal der natürlichen heterosexuellen Fortpflanzung zugrunde und das heterosexuelle Paar bildet seine unausgesprochene Norm. Denn die missbräuchliche Anwendung bezieht sich auf die natürliche zweigeschlechtliche Fortpflanzung. Das Gesetz schützt somit besonders ‚heterosexuell-lebende‘ Frauen und privilegiert heterosexuelle Mutterschaft. Zusammen mit einer heteronormativen gesellschaftlichen Praxis und Rechtsprechung begünstigt das Gesetz zudem eine spezifische Norm von Vaterschaft: Den unter 50 jährigen heterosexuellen Mann. So wird in der Ärzte Zeitung vom 15. Juni 2007 berichtet, dass das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel eine Altersgrenze für Männer bei einer künstlichen Befruchtung gebilligt und damit die derzeitige Praxis von Krankenkassen bestätigt hat. Gesetzliche Krankenkassen zahlen eine IVF nur, wenn der Mann jünger als 50 ist. Die Entscheidung wurde mit dem Kindswohl begründet, das wiederum in der Ehe lokalisiert wurde: „Es müsse davon auszugehen sein, dass ‚jedenfalls bis zum regelmäßigen Abschluss der Berufsausbildung des Kindes die Ehe als eine Lebensbasis für das Kind besteht‘“.183 Zudem werden die reproduktiven Rechte der Frau wie bereits in den Abtreibungsgesetzen auch im EschG zugunsten des Embryos eingeschränkt. Denn die Trennung zwischen Frau und Embryo wird beibehalten und der grundrechtliche Subjektstatus des Embryos betont. Das geschieht maßgeblich durch die Kopplung des medizinischen Begriffs der Totipotenz* mit dem rechtssubjektiven Status des Embryos. In Artikel 8, Absatz 1 wird der Embryo folgendermaßen bestimmt: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzung zu teilen und zu einem Individuum entwickeln vermag.“

183 GiD (2007): 33.

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Das Embryonenschutzgesetz führt somit die heterosexistische Tradition fort, in der der Embryo als autonomes Individuum begriffen und der Frau zugleich ihre körperliche Selbstbestimmung abgesprochen wird. Die Verfügungsmacht über den eigenen Körper ist jedoch grundlegend, um im bürgerlichen Rechtsstaat als mündiger Bürger zu gelten.184 Die Privilegierung des Embryos bedeutet darüber hinaus konsequent zu Ende gedacht einen Gebärzwang für Frauen. Die Definition von Totipotenz wird in der Debatte um Stammzellforschung in Deutschland eine prominente Rolle spielen. B.3.6 Die ‚Verwissenschaftlichung‘ der Bioethik: Bioethik-Institute und die Institutionalisierung der Bioethik als akademische Disziplin Wie im ersten Teil herausgearbeitet, ist für ein Dispositiv eine konstitutive Verschränkung von Wissen und Macht zentral. Denn Macht/ Wissen-Komplexe eröffnen epistemologische Möglichkeitsfelder, in denen bestimmte Verhaltensweisen legitim erscheinen und andere nicht. Deshalb ist es kein Zufall, dass Bioethik einerseits als Subdisziplin im Bereich der philosophischen, theologischen und medizinischen Ethik an den Universitäten etabliert wird und dass der Formationsprozess des bioethischen Dispositivs andererseits die Gründung von außeruniversitären Instituten umfasst, die sich ausdrücklich als wissenschaftliche Institutionen verstehen. Zwischen 1990 und 1995 werden eine Reihe solcher BioethikInstitute errichtet. Sie gehen von einer Trennbarkeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aus und sehen eine ihrer wesentlichen Aufgaben in der ‚Vermittlung‘ zwischen bioethischem Wissen und Bevölkerung. In ihren wissenschaftlichen Ausrichtungen und biopolitischen Strategien unterscheiden sie sich jedoch erheblich: Auf der einen Seite stehen ‚Ethik-Monopole‘, deren Ziel die Vermittlung bioethischer neoliberaler Perspektiven in die Gesellschaft ist. Die regulierte Ausbreitung von Biotechnologien entlang von Kosten-Nutzen-Kalkülen steht dabei auf dem Programm. Auf der anderen Seite sind kritische Bioethik-Institute zu finden, die jedoch meist den Embryo als Rechts-

184 Vgl. Hird (2007): 15.

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subjekt setzen und deshalb der Vielschichtigkeit geschlechtlicher Codierungen im Kontext neuer Biotechnologien nicht gerecht werden. Das erste wissenschaftliche deutsche Bioethik-Institut ist das 1990 gegründete Interfakultäre Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, das IZEW. Das Forschungszentrum der Eberhard Karls Universität Tübingen wird von Dietmar Mieth, katholischer Theologe, geleitet. Es will laut Selbstdarstellung die Zusammenarbeit von Forschern über disziplinäre Grenzen hinweg und den wissenschaftlichen Nachwuchs im Bereich „Ethik in den Wissenschaften“ fördern. Zudem soll die Koordination von regionalen und internationalen Netzwerken zu ethischen Themen unterstützt werden. Essentieller Teil ist das Graduiertenkolleg Ethik in den Wissenschaften (1991–2000), das seit Januar 2004 schlicht Bioethik heißt. Seine drei Schwerpunkte – die eigene Forschung zu bioethischen Themen, die Dokumentation von bioethischem Wissen und der Transfer von wissenschaftsethischer Forschung aus dem akademischen in den Bereich der Ausbildung – sind typische Merkmale bioethischer Institute. Der Lebensschutz des Embryos bildet den ethischen Rahmen für Forschungsprojekte des IZEW zu den neuen Biotechnologien. So wurden im Projekt „Ethische Fragen der In-vitro-Techniken am Beginn des menschlichen Lebens“185 zwar das Zusammenspiel von Experten- und öffentlicher Meinung untersucht und kritisch festgestellt, dass die mediale Inszenierung bioethischer Debatten zu einer Erosion von Werten wie Würde oder Person geführt habe. Weitergehende Reflexionen über die problematischen und heteronormativen Geschlechterkontexte solcher Begriffe waren jedoch nicht Gegenstand des Projektes. Im Dezember 1993 wird das Institut für Wissenschaft und Ethik e.V. (IWE) auf Initiative der Universität Bonn, der Universität Essen, des Forschungszentrums Jülich (FZJ) und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) gegründet. Das IWE ist das erste staatlich geförderte und normwissenschaftliche Institut.186 Uta Wagenmann be-

185 Vgl. http://www.izew.de. 186 Laut Paul war das IWE das erste Bioethik-Institut in der BRD und wurde von heftigen Protesten begleitet. Vgl. Paul (1994): 15.

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zeichnet diese Art der entstehenden Institute deshalb als „staatliche Ethik-Monopole“.187 Die Gründung des IWE markiert den Beginn der Verwissenschaftlichung der dominanten Bioethik. Bioethik-Instituten soll mit der Unterstreichung ihrer Wissenschaftlichkeit größere symbolische Geltungskraft verliehen werden, um den Meinungsbildungsprozess der Öffentlichkeit entlang ökonomischer Kalküle besser regulieren zu können. Forschungsprojekte, wissenschaftliche Einzelpublikationen, Fachtagungen, Kolloquien und interfakultäre Lehrangebote wie auch seine universitäre Anbindung zeigen einerseits den Anspruch der Bioethik an, von der Bevölkerung als wissenschaftliche Institution wahrgenommen zu werden und wissenschaftlich abgesichertes Expertenwissen zu produzieren. Andererseits wird auch die akademische bioethische Ausbildung von Fachkräften politisch-ökonomischen Strategien unterstellt. Zudem spielen Bioethik-Institute eine wichtige Rolle in der „schleichenden Umsetzung“ der Bioethik-Konvention,188 was sich deutlich im ersten internationalen Symposium des IWE zeigt. Die im Mai 1994 stattfindende Veranstaltung trägt den Titel Biomedizinische Ethik in Europa. Ludger Honnefelder, geschäftsführender Direktor und Gründer sowohl des IWEs als auch des DRZEs, war bereits als deutsches Mitglied an der Schaffung der Bioethik-Konvention maßgeblich beteiligt.189 Honnefelder stellt die Bioethik-Konvention vor und beschreibt, so Wagenmann, „die damals noch völlig unveränderte erste Fassung als ‚Fortschreibung der Europäischen Menschenrechtskonvention‘“.190 Honnefelder selbst befürworte „unter anderem den Einsatz von Gentests an Erwachsenen und Föten, fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen und den tödlichen Abbruch medizinischer Behandlung bei Komapatienten, wenn dritte von einer ‚mutmaßlichen Einwilligung‘ des Betroffenen ausgehen“.191 Das in-

187 Wagenmann (1999a). 188 Dies. (1999b): 4. 189 Der Philosoph und katholische Theologe war Mitglied im Lenkungsausschuss Bioethik des Europarates und ist Mitglied in der Europäischen Akademie für Wissenschaft und Künste. 190 Wagenmann (1999a): 11. 191 Vgl. dies. (1999b): 6.

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haltliche Programm des IWEs ist somit durch das Ziel der Ökonomisierung des therapeutischen Raumes gekennzeichnet. Honnefelder hat mittlerweile das Amt des geschäftsführenden Direktors an Dieter Sturma übergeben, der wiederum eine der neu gegründeten Bioethik-Professuren an der Universität Bonn innehat. Es handelt sich um eine Professur für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Ethik in den Biowissenschaften, deren Besetzung eine der vielen Querverbindungen zwischen Bio-Ethik-Instituten und akademischer Bioethik deutlich macht. Im September 1998 wird dann das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE) als Arbeitsergebnis der Förderinitiative Bioethik der DFG und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gegründet.192 Die Ausschreibung wurden vom IWE und vom BMBF vorgenommen, das das DRZE in seiner Aufbauphase von 1999 bis 2003 mit insgesamt 5 Millionen Mark finanziert. Seit Januar 2004 ist das DRZE die „Arbeitsstelle der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften für die Erarbeitung der ‚Grundlagen, Normen und Kriterien der ethischen Urteilsbildung in den Biowissenschaften‘“ und wird als „zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität Bonn geführt“.193 Das DRZE spiegelt die mit der Verdichtung bioethischer Diskurse in Instituten einhergehende Etablierung der Bioethik als akademische Disziplin wieder. Die Einrichtung soll zum nationalen Dokumentations- und Informationszentrum werden, „um die wissenschaftliche Grundlagen für eine qualifizierte bioethische Diskussion im deutschen, europäischen und internationalen Rahmen zu schaffen“. Dementsprechend legt das DRZE den Schwerpunkt auf die ‚eingeschränkt interdisziplinäre Zusammenarbeit‘194 der Naturwissenschaften, der Medizin, der Rechtswissenschaften, der Philosophie, der Theologie und der Sozialwissenschaften. Darüber hinaus rief das DRZE, so Wagenmann, 1999 Forschungsprojekte ins Leben, die von der DFG von 1999 bis 2004 mit 7,5 Millionen Mark unterstützt wurden. Die vierzehn bewilligten Projekte

192 Vgl. http://www.drze.de/das_drze. 193 Dass. 194 Zur eingeschränkten Interdisziplinarität der Bioethik u. B.3.6.

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schätzt sie als „Mittel der wissenschaftlichen Rechtfertigung für Grenzverschiebungen“ im bioethischen Feld ein.195 So leitet Honnefelder, erklärter Befürworter der Präimplantationsdiagnostik (PID), beispielsweise ein Projekt zur „Selektion aufgrund genetischer Diagnostik“. Kritiker beschreiben die Gründung des Instituts als Ausdruck des „Bioethik-Filz“ und Ursel Fuchs von der Initiative Bürger gegen Bioethik warnt vor einer „gefährlichen Machtkonstellation“: „Es entstehe ein ‚Ethik-Monopol, das Bürgern wie Politikern das Nachdenken abnehmen soll.‘“196 Im Oktober 1998 wird der juridische Diskurs zur Bioethik dann im Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Universität Mannheim gebündelt. Geschäftsführender Direktor wird Jochen Taupitz, Rechtswissenschaftler, der vier Jahre später auch Mitglied im Nationalen Ethikrat wird und Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer ist. Die ‚interdisziplinäre‘ und ‚integrative‘ Forschung, die das Institut anstrebt, soll in der Erarbeitung von Gutachten und Stellungnahmen zu Problemen des Medizin- und Gesundheitsrechts sowie der Bioethik, besonders zu Gesetzesvorhaben und sonstigen nationalen und internationalen Regelungsvorhaben realisiert werden. Auch soll die Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses unter Vermittlung der „integrativen Sichtweise“ und die Vorbereitung auf die Praxisberufe im Medizin- und Gesundheitswesen eine Aufgabe des Institutes sein. Wie das konkret aussieht, zeigt sich in Artikeln von Taupitz, in denen er zum Beispiel die Bioethik-Konvention befürwortet. Die Ratifizierung würde eine Anhebung des Schutzniveaus für Deutschland bedeuten und aus juristischer Perspektive gebe es keine Vorbehalte gegen einen Beitritt Deutschlands. Das Institut ist zudem eng mit Interessen der Bioindustrie verflechtet. So soll die praxisorientierte Forschung des Instituts als juristische Expertise für das biotechnologische Umfeld im Rhein-Neckar-Dreieck fungieren. Juridische bioethische Expertise wird so zu einer Dienstleistung für die Privatwirtschaft.197

195 Vgl. Wagenmann (1999a): 12. 196 Dies. 197 Vgl. dies.

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Am 1. Oktober 2001 wird das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) gegründet. Mit seiner Eröffnung gibt sich der bundesdeutsche Widerstand gegen die hegemoniale Bioethik und Biopolitik ein wissenschaftliches Institut. Die Würde des Menschen steht im Zentrum seiner Politik, weshalb sich das Institut gegen Stammzellenforschung und für den Lebensschutz des Embryos einsetzt. Die starke Fokussierung auf den rechtssubjektiven Status des Embryos liegt in seiner Finanzierung begründet: Getragen wird das Institut von den neun Behinderten- und Fachverbänden. In seiner (wissenschafts-)politischen Praxis versucht das Institut, „die Auswirkungen der modernen Biomedizin auf behinderte und chronisch kranke Menschen sowie insgesamt auf die Gesellschaft“ stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.198 Das Institut realisiert eine kritische und differenzierte Perspektive auf die neuen Genund Reproduktionstechnologien, wie besonders seine Publikationen zur Stammzellforschung zeigen. Dennoch: Hinsichtlich der Frage von Geschlecht ist die Institutionalisierung sowohl der kritischen als auch der hegemonialen Bioethik in außeruniversitären Zentren und Instituten problematisch. In den Diskursen der Bioethik-Monopole wird der Frauenleib zum Ort, um produktive Logiken zu realisieren.199 Der Impetus der kritischen Bioethik-Institute ist dagegen zwar gesellschaftskritisch angelegt, weil jedoch Geschlecht keine ausdrückliche Kategorie ist und keine queer/feministischen Positionen berücksichtigt werden,200 wird stark auf den Lebensschutz des Embryos fokussiert. Einerseits wird dadurch die Frau als Subjekt in den Biowissenschaften und der Biomedizin

198 IMEW (2003): 1. 199 Dazu u. B.3.7. 200 Dass kritische Diskurse zu Behinderung, nicht aber zu Geschlecht, in Deutschland in einem Bioethik-Institut wie dem IMEW institutionalisiert werden, liegt historisch darin begründet, dass die deutsche anders als beispielsweise die schwedische Frauenbewegung Institutionen gegenüber kritisch eingestellt war. Vgl. Phillips (1995): 137ff. Queer-feministische sowie enthinderungspolitische Ansätze zielen zudem bereits auf theoretischer Ebene nicht auf identitäre und institutionelle Repräsentation.

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nicht wahrgenommen. Zum anderen wird die heteronormative Färbung der Lebensschutzpositionen fortgeführt. Die Formierung des bioethischen Dispositivs manifestiert sich auch in der Etablierung der Bioethik als universitäre Subdisziplin. Wurden medizinethische Fragestellungen bis in die 1990er an den medizinischen Fakultäten behandelt, so ist Bioethik im letzten Jahrzehnt ebenfalls zu einem zentralen Bestandteil akademischer Theologie und Philosophie geworden: „Als Subdisziplin der angewandten Ethik ist sie seit geraumer Zeit [...] auch aus der philosophischen Lehre und Forschung nicht mehr wegzudenken“.201 Darüber hinaus werden auch interdisziplinär angelegte spezielle Professuren für Bioethik geschaffen. Dabei existieren zwischen den universitären BioethikLehrstühlen und den Bioethik-Zentren meist enge personelle Verflechtungen. Beispiele sind Eve-Marie Engels, seit dem Sommersemester 2007 Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen, Sprecherin des IZEW und Mitglied im Nationalen Ethikrat; Eberhard Schockenhoff, Mitglied im Nationalen Ethikrat und Professor für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau mit Forschungsschwerpunkt Bioethik; Peter Dabrock, seit Oktober 2002 Juniorprofessor für Bioethik an der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Evangelische Theologie und Mitglied in der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO) oder Bettina SchöneSeifert, die seit 2003 einen Lehrstuhl für Medizin-Ethik in Münster innehat und Mitglied des Nationalen Ethikrates ist. Eingeschränkte Interdisziplinarität Für die wissenschaftlichen Institute der hegemonialen Bioethik ist eine spezifische eingeschränkte Interdisziplinarität kennzeichnend. Interdisziplinarität wird in bioethischen Standardwerken und in den Selbstdarstellungen bioethischer Zentren als Kernaufgabe beschrieben. So steht im Lexikon der Bioethik: „Es geht [bei dem Projekt Bioethik] um den Versuch, die Verantwortung des Menschen für Leben in der Vielfalt ihrer Aspekte systematisch aufzuschlüs201 Ach/Runtenberg (2002): 17.

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seln und in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang zu rücken. Dies kann freilich nur im Rahmen eines interdisziplinären Dialogs gelingen, in dem das verfügbare Wissen und Beurteilungspotential über die Grenzen der einzelwissenschaftlichen Forschung hinaus in eine gemeinsame Diskussion eingebracht werden.“202

Doch der bioethische Begriff der Interdisziplinarität ist ein Beispiel, wie ein ehemals emanzipativer Begriff in sein Gegenteil verkehrt worden und zum Bestandteil von Herrschaftswissen geworden ist. Interdisziplinarität sollte in seinen Anfängen ein kritisches Programm bezeichnen, mit dem die wissenschaftliche Verlogenheit der ‚großen‘ Disziplinen wie der Theologie oder der Philosophie verdeutlicht und überkommen werden sollte. Die vermeintliche Objektivität, Reinheit und Distanziertheit ihrer Wissensproduktionen sollten als eine partikulare eurozentrische Sicht entlarvt werden, die nur durch die Abspaltung ‚des Fremden‘ aufrechterhalten werden konnte. Sie basierte auf einer hierarchisch strukturierten Gesellschaftsordnung und lieferte umgekehrt wissenschaftliche ‚Erkenntnisse‘, die gesellschaftliche Machtverhältnisse legitimierten.203 Interdisziplinarität sollte durch einen steten Perspektivenwechsel zwischen den verschiedenen Disziplinen die jeweilige Situiertheit und Relativität des eigenen Standpunktes verdeutlichen und die damit einhergehenden Wahrheitsansprüche in Frage stellen. In der Zusammenarbeit der bioethischen Disziplinen wird dieser Anspruch nicht nur nicht eingelöst, sondern das interdisziplinäre bioethische Wissen trägt im Gegenteil zur Etablierung neuer Hierarchien in gesellschaftlichen Geschlechter-, Generationen- und Verwandtschaftssettings bei. Denn die Interdisziplinarität der Bioethik ist eingeschränkt, weil sie ausschließlich die klassischen ‚Normwissenschaften‘ umfasst: Medizin, Rechtswissenschaften, christliche Theologie, Philosophie und in geringem Umfang Sozialwissenschaften sind die Disziplinen, die in den wissenschaftlichen Bioethik-Instituten repräsentiert sind. Normwissenschaftlich meint, dass der Wissensproduktion dieser Disziplinen bestimmte subjektivierende Normen einge-

202 Korff (1998): 8. 203 Nowotny (1999): 76.

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schrieben sind, die nicht reflektiert werden und auf diese Weise die ethische Urteilsfindung unbemerkt leiten.204 Im Mittelpunkt steht zumeist das Weiße, geschlechtslose und nicht-behinderte Subjekt und bezüglich Stammzellforschung ist das Ergebnis ein normierender ‚Regulierungsdiskurs‘, der „wenig Raum für weitergehende Reflexionen über Stammzellforschung im gesellschaftlichen Kontext“ eröffnet.205 Historisch lässt sich die Begrenzung der Interdisziplinarität auf die traditionellen Disziplinen dadurch erklären, dass sie das gesellschaftliche Definitionsmonopol über ‚das Leben‘ haben oder hatten. Dieses Definitionsmonopol wurde wiederum durch ‚das alte Projekt der Unsterblichkeit‘ begründet, das lange Zeit sowohl das wissenschaftliche Programm der Theologie in ihrer christlichen Anthropologie, sowie der Philosophie in ihrer Phantasie vom ‚Weltgeist‘ bildete und das heute die Lebenswissenschaften anstreben.206 Christliche Anthropologie gründete auf dem Versprechen des ewigen jenseitigen Lebens. In der Philosophie wurde die Idee des Weltgeistes etwa bei Schelling als ein vitalistisches Prinzip begriffen, das unbewusst schaffend die ganze Natur zu einem allgemeinen Organismus verknüpft207 und der heutige Begriff der Lebenswissenschaften beschäftigt sich ebenfalls nicht mit dem konkreten diesseitigen Leben, sondern mit dem Versprechen auf ein zukünftiges gesundes ewiges Leben (etwa durch die Klontechnik).208 Zudem soll normwissenschaftlich darauf verweisen, dass Repräsentanten der Gender-, queer-, Critical Whiteness- oder der Disability Studies, der Kritischen Männerforschung, der Kulturwissenschaften

204 Dazu u. C. 205 Rubin (2007): 186. 206 Vgl. Braun/Stephan (2005): 9. 207 Auch die kantische Ethik, obgleich nicht länger theologisch begründet, mag die Gegenüberstellung zweier Welten nicht aufgeben und säkularisiert das Versprechen in der Gegenüberstellung von empirischer und intelligibler – ‚jenseitiger‘ – Welt. 208 Stacey beschreibt das so: „Wenn wir Jean Baudrillards Erklärung folgen, steht das Klonen für das ‚perfekte Verbrechen‘, hervorgerufen durch das Streben nach Unsterblichkeit, eine trügerische Nachahmung des Lebens.“ Stacey (2008): 224.

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oder der Europäischen Ethnologie in der eingeschränkten Interdisziplinarität nicht zu finden sind. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Ansätze und Disziplinen per se jenseits von normierenden Machtverhältnissen agieren und dass die Normwissenschaften gänzlich normierendes Wissen produzieren, verfügen sie doch teils über jahrzehntelange feministische und auch queer-feministische Ansätze.209 Sie sind jedoch im bioethischen Dispositiv nicht präsent.210 Die relativ jungen Disziplinen bieten meines Erachtens eine größere Möglichkeit, Fragen von Macht aus einer Perspektive zu thematisieren, die weitere ökonomisch-soziale Bedingungen der Wissensproduktion reflektiert und eine grundlegende Kritik an neoliberaler Vergesellschaftung artikuliert.211 B.3.7 Der Kampf im Bereich bioethischer Bildung Die bioethische Regulierung der Gesellschaft entlang neoliberaler Kalküle setzt nicht zuletzt im Bereich der Bildung an. Die Etablierung eines bioethischen Dispositivs umfasst deshalb den Versuch, Bildungsprogramme mit bioethischen Argumentationsmustern zu durchsetzen: Die Schaffung neuer Bioethik-Lehrstühle an den Universitäten, die Etablierung des Themas Bioethik in verschiedenen Studiengängen,212 Projekte der Bioethik-Institute, deren Ziel die Ausbildung von Pflegepersonal und von Studierenden verschiedener Fachrichtungen ist, stellen Interventionsfelder der Bioethik dar. Darüber hinaus lancieren Biotechnologieunternehmen einzelne Bildungsprojekte, denen zufolge im Schulunterricht möglichst forschungsfreundlich über ethische Probleme rund um die neuen Biotechnologien nachgedacht werden soll.

209 Vgl. u. C.2.1.2.. 210 Vgl. Krones (2005): 25. 211 Wie genau sich die normwissenschaftliche Ausrichtung dominanter Bioethik äußert, soll in C.1 bis C.5 herausgearbeitet werden. 212 Bioethik wird als fachübergreifendes Querschnitts-Thema beispielsweise im Lehramtsstudiengang Biologie der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe Universität verankert. Vgl. http://www.uni-frankfurt.de/studium/ studienangebot/lehramt/I5/I5-bio.html.e

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Der schulische Bildungsbereich ist jedoch ein umkämpftes Gebiet. Denn sowohl Bioethik-Monopole als auch Institutionen kritischer Bioethik versuchen Schüler mit bioethischen Themen ‚vertraut‘ zu machen.213 Den letzt Genannten stehen jedoch oft weit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung als einem vom BMBF und durch die BioIndustrie geförderten IWE. Dominante Bioethik manifestiert sich beispielsweise in „wissenschaftlich-technisch determinierten Denkmustern“ in Schulbüchern, die ein widerspruchsfreies ‚positives‘ Verhältnis zu den Biowissenschaften vermitteln sollen.214 Auch soll das Anliegen biowissenschaftlicher Forschung ganz praktisch erfahren werden, beispielsweise indem im Biologieunterricht an Schulen Gentechnologie ‚im Kleinen simuliert‘ wird. So fördert die Robert-Bosch-Stiftung in den Regierungsbezirken Freiburg, Tübingen und Karlsruhe Netzwerke, sogenannte Stützpunktschulen, „die einfache und zum Teil auch anspruchsvolle Experimente im Bereich der angewandten Biologie ermöglichen“.215 Ein weiteres Beispiel der gezielten Verankerung von produktiven Logiken im Bereich Schulbildung sind die Projekte der BIOPRO Baden-Württemberg GmbH. In ihrem Auftrag veranstaltet das Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrer zur Problematik Gentechnik. Denn für einen „zeitgemäßen und praxisnahen Unterricht“, so Biopro, würde die Hauptlast bei den Lehrkräften liegen. Seit 1999 fanden deshalb vier Mal im Jahr Fortbildungen statt, bei denen Pränataldiagnostik (PND),

213 Anfang 2007 stellten das Gen-ethische Netzwerk und die Aktion Mensch kritische Schulmaterialien zu Gentechnik, Stammzellforschung und Reproduktionsmedizin* zur Verfügung. Vgl. www.1000fragen.de/ lebensfragen. 214 Lettow bezieht sich auf Svea Luise Herrmanns Untersuchung zu Schulbüchern der Bioethics Education: Lettow (2003a): 132. In Schulmaterialien werden Genetik und Biotechnologie größtenteils verkürzt und teilweise sogar falsch dargestellt, stellt auch Feuerlein nach Betrachtung von Schulbüchern auf der Frankfurter Buchmesse fest. Vgl. Feuerlein (2007): 61f. 215 http://www.bio-pro.de. Vgl. http://www.stuetzpunktschulen.de.

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Gendiagnostik*, Grüne Gentechnik und Gentechnik bei Tieren auf der thematischen Tagesordnung standen. Welche Interessen die Projekte leiten, lässt die Tatsache vermuten, dass die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellforschung im Juni 2005 und 2006 zwei Forschungsanträge im Bereich Stammzellforschung genehmigte, die vom Fraunhofer Institut für biomedizinische Technik (IBMT) gestellt worden waren.216 Das Anliegen der BIOPRO Baden-Württemberg ist ebenfalls zuvorderst wirtschaftlicher Natur, was in einer Selbstdarstellung deutlich wird: Aufgabe der GmbH sei es, als zentrale Anlaufstelle des Landes die Stärken der führenden Biotechnologieregion national und international optimal zu positionieren und den Zukunftsstandort zu entwickeln. Spezifisch angelegte Wirtschaftsfördermaßnahmen würden helfen, Wissen und Arbeitsplätze im Land zu sichern und „das große Potential der innovativen Forschung“ in die Wirtschaft zu transferieren. Unterstützt werden soll dieses wirtschaftliche Anliegen durch eine „breit angelegte Öffentlichkeitsarbeit“, die „allgemeinverständlich“ und „sachlich“ informiert.217 Auf dem Biotech/Life Sciences Portal Baden-Württemberg mit dem Titel Bioethik – ein gesellschaftlicher Auftrag informiert die GmbH über ihre Öffentlichkeitsarbeit.218 Dort wird die Informationsveranstaltung zum Projekt Biotech & Schule vorgestellt und gezeigt, wie die Lehrerfortbildung aussieht. Die Begrüßung auf der Informationsveranstaltung übernahm der „Staatsrat für Lebenswissenschaften“ der baden-württembergischen Landesregierung, der seinen Vortrag mit einer Auflistung von Krankheiten, die „Gehirnprobleme“ umfassen, begann. 127 Millionen Menschen in der EU würden an einer Gehirnkrankheit leiden, die damit verbunden Kosten schätzte er auf 386 Milliarden Euro. Sie sei eine „Herausforderung zur Umgestaltung unserer Lebenswelten“ zu denen die Biotechnologien einen entschei-

216 ZES (2007): 4. 217 http:/www.bio-pro.de/de/life/magazin/03067/index.html. 218 http://www.bio-pro.de/de/life/magazin/01453/index.html.

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denden Beitrag leisten sollen.219 Das BioLab on Tour habe gezeigt, dass Schüler „unvoreingenommen und neugierig“ seien.220 Diskursprojekte Der Anstieg von sogenannten Diskursprojekten zu bioethischen Themen ist ein weiteres Anzeichen für die Ausbreitung des bioethischen Dispositivs.221 Sie werden sowohl von Befürwortern wie von Kritikern von Biotechnologien genutzt. Diskursprojekte werden als Veranstaltungen beschrieben, die den Diskurs in der ‚Öffentlichkeit‘ anregen und die ‚Zivilgesellschaft‘ stärken sollen.222 Zentrales Anliegen von Diskursprojekten im Schulbereich ist die Frage: „Wie können SchülerInnen und Studierende dazu motiviert werden, sich mit den aktuellen ethischen Fragen zum Beispiel der Biotechnologie auseinander zu setzen?“223 Diskursprojekte können schlicht Herrschaftsinstrumente, Teil einer neoliberalen „Reorganisation der Lebensführung“224 sein, wenn sie dazu dienen, Möglichkeitsfelder zu eröffnen, in denen Menschen mit Expertenmeinungen konfrontiert werden und Verhaltensweisen einüben, die biotechnologischen Kalkülen entsprechen. So gab es 2006 einen Testlauf des Diskursprojektes diskurslernen zum Thema Klonen. Durchgeführt wurde das Projekt vom DRZE, dessen Direktor

219 Zur Kritik am therapeutischen Versprechen und am Ideal des nichtbehinderten und nicht-kranken Menschen der Stammzellforschung u. D. 220 Das BioLab ist ein „rollendes Genlabor“, das von den Chemieverbänden Baden-Württembergs unterstützt wird und Schüler forschungsfreundlich über Inhalte der Lebenswissenschaften ‚informieren‘ will. Vgl. http:// www.biolab-bw.de. 221 Zum Förderprogramm für Diskursprojekte des BMBF vgl. Herrmann (2008): 57. 222 Schicktanz definiert Diskursverfahren als „die Strukturierung von Kommunikationsprozessen, zur Planung und Bewertung von Optionen und der Verständigung auf Handlungsstrategien und Entscheidungen.“ Schicktanz (2006): 105. 223 Dietrich et al. (2006): 12. 224 Lettow (2003a): 132.

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Ludger Honnefelder dem Vorstand des Kompetenznetzwerks Stammzellforschung NRW angehört.225 Finanziert wurde es vom BMBF und in Kooperation mit dem IWE und einem „professionellen Konzeptionsteam“ erarbeitet. diskurslernen wurde in einer fünftägigen Projektwoche an drei verschiedenen Schulen im Raum Köln/Bonn in der Jahrgangsstufe 11 einer Gesamtschule, eines Gymnasiums und einer Berufsschule im zweiten Ausbildungsjahr getestet. Die „diskursive Kompetenz“ der Schüler, so die Darstellung des DRZE, sollte gestärkt werden und besondere „Erfordernisse bioethischer Verständigung erfahrbar“ gemacht werden. Das Wissen, das bei dem Diskursprojekt einfloss und den Möglichkeitsraum strukturierte, wird auf den Internetseiten des Projektes dargestellt. Der „Sachstand Ethik/Recht“ spiegelt die eingeschränkte Interdisziplinarität wieder. Zwar wird erwähnt, dass die Gewinnung von Eizellen für Frauen mit „physischen und psychischen Risiken verbunden“ sein kann, die vom Unwohlsein während der Hormonbehandlung bis zu Unfruchtbarkeit reichen können. Die zentrale Frage ist dann aber, „ob und wie überhaupt Frauen bewegt werden können, sich außer für eine künstliche Befruchtung der aufwendigen Prozedur zu unterziehen“.226 Hier scheint als Subtext die Notwendigkeit der Einwilligung bereits vorausgesetzt zu sein.227 Die Ergebnisse des Erlernens ‚diskursiver Bioethikkompetenz‘ werden in Form von Voten der jeweiligen Schule dargestellt. Auffällig ist dabei, dass sich die gängigen dominanten Thesen zum Forschungsklonen, die auch auf den Seiten des Projektes dargestellt wurden, wieder finden. So sprechen sich alle drei Voten für das therapeutische Klonen aus. In ihrer Meinungsbildung unterstützt worden, seien die Schüler durch Experten, heißt es im Votum der Gesamtschule Trois-

225 Das Kompetenznetzwerk wurde wiederum vom damaligen NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement unterstützt, der auch Oliver Brüstle in seiner Vorreiterrolle als Stammzellforscher förderte. 226 http://diskurslernen.de/therapeutisches_klonen/2_4/. 227 Hüppe kritisiert diskurslernen dafür, dass Erfolge der Klontechnik postuliert wurden, die so noch nicht erbracht worden seien. Vgl. Hüppe (2006).

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dorf. Die Unterstützung zeigt sich vor allem in einer problematischen Perspektive auf die eizellgebende Frau: „Wir würden auch soweit gehen, Eizellspenderinnen zu akzeptieren, allerdings unter bestimmten Bedingungen. Zunächst müssen die Spenderinnen volljährig und gebärfähig sein, außerdem sollten sie noch nicht in den Wechseljahren sein. Eine weitere wichtige Bedingung ist die Aufklärung über die Risiken (z.B. der Hormonbehandlung und Entnahme), die Einwilligung der Spenderin sowie ihre psychische und physische Stabilität. Diese Voraussetzungen sollten durch gewissenhafte, strenge Kontrollen unter Beobachtung von qualifizierten Psychologen und Medizinern überprüft werden.“

Das Votum des Gymnasiums zieht ebenfalls eindeutige Parallelen zur Abtreibung, die ja auch nicht unter Strafe stehen würde. Einige Gesetze müssten folglich geändert oder abgeschafft werden. Beispielsweise könnte die Definition vom Menschsein im GG geändert und der Embryo erst ab dem 14. Tag als Mensch angesehen werden. Denn: „Die Risiken für die Eizellspenderin sind für die gesamte Zahl der Teilnehmer kein zentrales Argument für ihre Meinungsfindung im Bezug auf therapeutisches Klonen, da die Freiwilligkeit der Spende garantiert sein muss.“

Auch ist der neue technizistische Organismusbegriff228 sowohl in der expertengeleiteten Sachstandsdarstellung als auch in den Meinungen der Schüler gleichermaßen zu finden. So heißt es im Votum: „Beim therapeutischen Klonen soll kein vollständiger Mensch erschaffen werden, sondern nur bestimmte Zelltypen, die kranke oder abgestorbene Zellen ersetzen sollen. Dadurch könnten z.B.: Diabetes-, Multiple Sklerose-, Parkinsonoder Herzinfarktpatienten behandelt werden. Der derzeitige Forschungsstand zeigt bereits Erfolge bei Tierversuchen.“

Die ZES begrüßte und kommentierte die Ergebnisse des Diskursprojektes: „Beim Umgang mit dem Thema Klonen sind die Menschen häufig emotionalisiert. Die Schüler waren in ihrer differenzierten

228 Dazu u. C.1.1.

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Meinungsbildung aber besser als Politiker“, wird Jan Beckmann von der zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung zitiert.229 Ein Diskursprojekt der kritischen Bioethik heißt Konkrete Diskurse. Statt auf die Einübung von bioethisch-neoliberalen Selbstbetrachtungen zu zielen, unterstreicht es die Widersprüche und Konflikte zwischen den verschiedenen Subjektivierungsweisen im biomedizinischen Feld. Das Projekt wurde vom Tübinger IZEW, von der Koordinationsstelle Umwelt (KU) der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen Geislingen (HfWU) und der Landesarbeitsgemeinschaft Theater-Pädagogik Baden-Württemberg e.V., Reutlingen (LAG) ins Leben gerufen und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Es umfasste 16 „kleinere, teilnehmerInnenorientierte und praxisnahe Diskursprojekte“ an Schulen und Hochschulen in Baden-Württemberg. Gleich dem Projekt diskurslernen eröffnet es ein Feld der Problematisierung, in dem über bioethische Themen nachgedacht werden soll. Der Unterschied ist jedoch, dass es nicht um Gesetzgebungsverfahren oder um die Erarbeitung parteienpolitischer Ausrichtungen gehen soll, sondern „um die Entscheidungsnöte konkreter AkteurInnen, LandwirtInnen, ImkerInnen, ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen oder Hebammen, die in ihrem Alltag mit Fragen der Biotechnologie konfrontiert sind.“230 Konkrete Diskurse sollen auf einer „mittleren Ebene zwischen Gesellschaft und Individuum“ entstehen und die Fragestellungen „aus den großen politischen und gesellschaftlichen Debatten um Biomedizin und Biotechnologie“ auf die Ebene von individuellen Handlungsspielräumen verschieben: „Die Zielebene der Konkreten Diskurse ist nicht eine allgemeine, sondern eine konkrete Öffentlichkeit.“ Damit ist nicht per se gesagt, dass kritische Diskurse generiert werden, die einer neoliberalen Kosten-Nutzen-Logik oder der Inwert-

229 GiD (2006): 3. Beckmann ist seit 1996 Mitglied des Direktoriums des IWE und seit 1999 des DRZE. Von 2000 bis 2004 war er Fachgutachter für Geschichte der Philosophie der DFG und seit 2002 ist er stellvertretendes Mitglied der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung. 230 Dietrich et al. (2006): 12.

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setzung des Körpers entgegenstehen. Dennoch bietet das Projekt meines Erachtens die Möglichkeit einer kritischen Reflexion und eine multidimensionale Auseinandersetzung. Nicht zu letzt durch die Beteiligung der Theaterpädagogik sollte die Fähigkeit, verschiedene Rollen einzunehmen, unterstützt werden – biopolitische Subjektivierung kann dadurch unterwandert oder zumindest in ihrer Widersprüchlichkeit erfahren werden. B.3.8 Die Konstruktion des Embryos als Rohstoff Eine zweite Phase der Konstitution des bioethischen Dispositivs setzt 1998 ein und mündet in das Stammzellgesetz von 2002. Sie steht erneut im Zusammenhang mit einer biotechnologischen Entwicklung: Im November 1998 kultiviert der us-amerikanische Entwicklungsbiologe James A. Thomson mit seinen Kollegen als erster menschliche Embryonen im Labor.231 Diese technologische Entwicklung leitet den Beginn eines neuen Forschungsgebietes ein: Der humanen Stammzellforschung. Zugleich entfacht sie eine öffentliche Diskussion um Stammzellforschung, die zunächst in den Feuilletons der deutschen Printmedien ausgetragen wird.232 Die zweite Phase kennzeichnet, dass der Lebensschutz des Embryos auch im Bereich staatlicher Biopolitik zunehmend in Frage gestellt. Wurde der Embryo aus der Perspektive des Staates bisher als unantastbares Grundrechtssubjekt eingestuft, wird sein absolutes Recht auf Leben nicht länger vorwiegend von Stammzellforschenden und Pharmaindustriellen angefochten, sondern vermehrt auch von Vertretern staatlicher Macht. Denn mit den Forschungsergebnissen Thomsons werden Embryonen, die bis dahin als überzählig galten, zu einem wertvollen Produktionsstoff. „With this development, ‚surplus‘ embryos accelerated their transformation from ‚waste‘ to ‚ressource‘“

231 Vgl. Thomson et al. (1998). 232 Rubin bezeichnet 1998 als den eigentlichen Beginn der Stammzelldebatte. Im Kontext IVF ging es nicht um Stammzellen, sondern um den Status des Embryos. Vgl. Rubin (2007): 181. Spieß liefert einen guten Überblick über die Feuilleton-Debatte. Spieß (2007). Zu den Diskussionen um die PID vgl. Krones (2006).

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stellt Sarah Sexton fest.233 Für die Erschließung dieses Rohstoffes formiert sich eine Allianz aus Forschung, Politik und Wirtschaft, die im Folgenden nachgezeichnet werden soll. B.3.8.1 Eine Allianz aus Wissenschaftsgemeinde, Politik und Pharmaindustrie Im März 1999 eröffnet die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter Ernst-Ludwig Winnacker mit ihrer ersten Stellungnahme in Deutschland die Diskussion und plädiert für die Lockerung des ‚strikten deutschen Verbotes‘ durch das ESchG. Sie setzt sich für eine „begrenzte Ermöglichung der Forschung an und mit embryonalen Stammzellen“ ein.234 Im Juni 2000 richtet die DFG als Konsequenz das Schwerpunktprogramm Embryonale und gewebespezifische Stammzellen – Regenerative Zellsysteme für Zell- und Gewebeersatz für eine Laufzeit von sechs Jahren ein. Der Bonner Neuropathologe Oliver Brüstle und sein Institutschef Otmar Wiestler stellen daraufhin einen von rund 40 Anträgen für den ersten Durchgang des Programms. Sie fordern den Import von humanen embryonalen Zelllinien, um Forschungen daran durchführen zu können.235 Brüstle wird in den nächsten Jahren für die Etablierung der Stammzellforschung eine Vorreiterrolle einnehmen – als Stammzellforschender im lebens-

233 Sexton (2005): 2. Ebenfalls im November 1998 erscheint in den Proceedings of the National Academy of Sciences ein weiterer Forschungsreport, der die Gewinnung von Stammzellen aus abgetriebenen Föten bzw. aus ihren Keimzellen beschreibt. Auch bei dieser Stammzellgewinnung stehen folglich der weibliche Körper und seine ‚Substanzen‘ im Mittelpunkt des Forschungseinsatzes. Vgl. Merkel (2002a): 11. 234 DFG (1999): 6. Die DFG ist die bedeutendste Wissenschaftsorganisation im Bereich der Förderung von Stammzellforschung. Sie unterstützt Firmen und Projekte im universitären Bereich mit jährlich einer Milliarde Euro Forschungsgelder. Zwar gilt sie als staatlich unabhängig, unterhält aber über den Hauptausschuss Verbindungen zum Staat und zur Forschung. Vgl. Grüber (2006): 278. Zu den Verbindungen zwischen DFG und Bundesforschungsministerium und der Ausgrenzung der ‚Zivilgesellschaft‘: Vgl. dies. (2006): 280 235 Vgl. Wagenmann (2001): 32.

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wissenschaftlichen Feld, sowie durch seine Präsenz als ‚Experte‘ in zentralen bioethischen Foren und Institutionen.236 Die Bestrebungen der Wissenschaftsorganisation und der Stammzellforscher stoßen auch in der Politik verstärkt auf Unterstützung, denn in der staatlichen Biopolitik manifestiert sich ein Kurswechsel. Am 21. Dezember 2000 erscheint in Die Woche ein Beitrag von Gerhard Schröder. Der Kanzler spricht sich in dem Artikel dafür aus, die „ideologischen Scheuklappen und grundsätzlichen Verbote“ in der Humangenom-Forschung abzulegen.237 Ulla Schmidt schließt sich diesen Veränderungen an, nachdem sie am 18. Januar 2001 Bundesgesundheitsministerin geworden ist. Die SPD-Politikerin legt das geplante Fortpflanzungsmedizingesetz ihrer Vorgängerin Andrea Fischer auf Eis, das ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) enthalten sollte. Die Grünen-Politikerin war neun Tage zuvor unter anderem wegen der Dominanz wirtschaftlicher Interessen in der Gesundheitspolitik zurückgetreten.238 Im Gegensatz zu Fischers zielt Schmidts politischer Einsatz auf einen begrenzten Dialog zwischen „Lobbyisten aus Ärzteschaft, Wissenschaftsgemeinde und Pharmaindustrie“.239 Aus dieser Art des Dialoges ging auch Schröders Beitrag hervor. Denn weite Teile des Plädoyers in der Woche hatte der Kanzler aus einem Manuskript von Ernst-Ludwig Winnacker übernommen.240 In der DFG hatte Winnacker einen grundlegenden Wandel durchgesetzt. Stand die Wissenschaftsorganisation unter Wolfgang Frühwald Stammzellforschung Mitte der 1990er Jahre noch kritisch gegenüber, stellte Winnacker das Lebensrecht eines Embryos und das Recht auf Forschungsfreiheit nach seiner Ernennung zum Präsidenten immer wieder auf eine Ebene.241 1999 erwirkte er schließlich, dass die DFG

236 Dazu u. Vgl. auch u. C.1.1.3. 237 Schröder (2000). 238 Vgl. Fischer (2001). 239 Berg/Graumann/Schneider (2001): 43. 240 Vgl. Mimkes (2002). Vgl. auch Sprenger (2001): 38. Am 2. Mai 2001 beruft Schröder den DFG-Präsidenten in den Nationalen Ethikrat. 241 Vgl. Knobloch (2001): 25. Winnacker ist von 1998 bis 2006 DFGPräsident.

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ihre Statuten änderte, so dass die forschungspolitische Ausrichtung der DFG fortan mit Embryonenforschung vereinbar war.242 Winnacker ist jedoch nicht nur DFG-Präsident, sondern unterhält auch enge Verbindungen zu biotechnologischen Unternehmen. So sitzt Winnaker in den Aufsichtsräten bei Bayer, bei der von ihm selbst mitgegründeten Firma MediGene und bei Nasca Cell.243 Der Bayerkonzern war Ende der 1990er Jahre auf neue Einsatzfelder angewiesen. Die Fortschritte in der humanen Stammzellforschung kamen daher wie gerufen. Mittlerweile steht das globalisierte Unternehmen zu allen deutschen Firmen, die Stammzellforschung betreiben, in engem Kontakt. So ist beispielsweise Ende 2002 der Wissenschaftler und Unternehmer Peter Stadler zum Vorsitzenden der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie (DIB) gewählt worden. Er ist bekannt für seine harsche Kritik am seiner Meinung nach mäßigem Gentechnikstandort Deutschland. Stadler hat früher bei Bayer gearbeitet, ehe er 1998 gemeinsam mit Christiane Nüsslein-Volhard und Klaus Rajewsky die Firma Artemis Pharmaceuticals gründete.244 Im Management der Biotechnologie-Firmen Peptor GmbH und der Cardion AG sitzt Joachim Bender, ein langjähriger Bayer-Mitarbeiter. Der BayerKontakt zu fast allen Firmen läuft wiederum über das Aufsichtsratmitglied Winnacker.245 Letztendlich unterhält Bayer ebenfalls enge Verbindungen zu Oliver Brüstle. Auf ihn gehen weitgehend die „Empfehlungen zur Forschung mit menschlichen Stammzellen“ zurück, auf deren Basis die Überarbeitung der DFG-Satzung vorgenommen wurde. Privat sicherte sich Brüstle mehrere Patente auf die Arbeit mit embryonalen Stammzellen und ist Inhaber des Biotechnologieunternehmens Life & Brain. B.3.8.2 Nationaler Ethikrat und Enquete-Kommission des Bundestages In der zweiten Phase werden bioethische Diskurse in nationalen Bioethikkommissionen weiter gebündelt. Wie die Benda- und die erste

242 Vgl. Mimkes (2002). 243 Vgl. Knobloch (2001): 25. 244 Vgl. GiD (2002). 245 Vgl. Mimkes (2002).

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Enquete-Kommission Chancen und Risiken in den 1990er Jahren haben der Nationale Ethikrat und die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin die Funktion der Politikberatung. Beide arbeiten an der Schaffung von Gesetzen – an der Umsetzung bioethischer Normierungen in Recht. Anders als die nationalen Bioethikkommissionen der ersten Phase haben sie jedoch erstmals dauerhaften Charakter. Im Gegensatz zu lokalen Kommissionen verfügen sie zudem über große finanzielle, personelle und logistische Ressourcen. Arbeiten die Mitglieder lokaler Ethikkommissionen oft ehrenamtlich, so werden die ‚professionellen Bioethiker‘ des Nationalen Ethikrates und der Enquete-Kommissionen für ihre bioethische Arbeit entlohnt. Zudem stehen Gelder für Archive und Dokumentationsstellen, Gutachten, Publikationen, Lektoren und Weiteres zur Verfügung. Schließlich finden die Stellungnahmen in den Medien größere Resonanz.246 Den Einsatz der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin beschließt der Deutsche Bundestag nach den Empfehlungen der DFG zum Import von Stammzellen am 22. März 2000.247 13 Abgeordnete des Parlaments und 13 Sachverständige sollen ethische und rechtliche Fragen der Entwicklung und Anwendung der Biotechnologie und der modernen Medizin untersuchen. Eine EnqueteKommission ist bezüglich ihrer Arbeitsweise somit durchaus mit einem Untersuchungsausschuss vergleichbar. Über Bundestagsabgeordnete hinaus sind jedoch auch die Externen stimmberechtigte Mitglieder.248 Dabei handelt es sich um Wissenschaftler, die nach Parteienproporz benannt wurden. Der Funktion der Politikberatung, die besonders für den Bundestag ausgeübt wird und nach Ablauf der Legislaturperiode in Empfehlungen für Gesetzesentscheidungen mün-

246 Die Mitglieder verfügen größten Teils selbst über C-4-Professuren, sprich über eine eigene Ausstattung, was wiederum die schnelle Ausarbeitung von Stellungnahmen, Gesetzentwürfen oder Publikationen ermöglicht. Damit haben nationale Kommissionen auch einen größeren Einfluss auf hegemoniale Diskurse als kleinere kritische Initiativen. 247 Vgl. Bülow (2001). 248 Vgl. Gill (1991): 168. Zur Geschichte der Enquete-Kommissionen in der BRD vgl. ders.

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det,249 soll mit der Erweiterung außerparlamentarischer Experten somit auch ein wissenschaftlicher Anstrich gegeben werden.250 In den ersten vier Jahren ihres Bestehens beschäftigt sich die Enquete-Kommission vor allem mit den Themen Präimplantationsdiagnostik (PID), Stammzellforschung und Genetische Daten*. Menschenwürde und Menschenrechte bilden für die ethischen und rechtlichen Einschätzungen die leitenden Ideen. Anders als der Ethikrat sprechen sich die Mitglieder im November 2001 folglich für den Menschenwürdeschutz für menschliche Embryonen aus und bekräftigen seinen im EschG festgeschriebenen rechtssubjektiven Status. Die Enquete-Kommission lehnt sowohl die PID als auch die Stammzellforschung ab.251 Mit den vorgezogenen Neuwahlen des Deutschen Bundestages beendet die Enquete-Kommission ihre Arbeit. Am 2. Mai 2001 stellt die Bundesregierung der Enquete-Kommission den Nationalen Ethikrat gegenüber.252 Er konstituiert sich am 8. Juni 2001 als ‚nationales Forum‘ des Dialogs über ethische Fragen in den Lebenswissenschaften und wird in den ersten vier Jahren mit 4,5 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt finanziert. Der Beginn seiner Arbeit fällt in die Hochphase der Debatte um Stammzellforschung.253 Schröder beruft in den Ethikrat vorwiegend Experten, die sich für Stammzellforschung aussprechen. Repräsentanten der Selbsthilfe- und Behindertenverbände gehören ebenso wenig wie queer-feministische Kritikerinnen von Reproduktionstechnologien zum Gremium. Stattdessen werden Forscher wie Christiane Nüsslein-Volhard, Embryologin und Inhaberin eines Biotechnologieunternehmens254 und Mitglieder der Huntington-Hilfe berufen, die sich aus der Stammzellforschung direkte Erfolge versprechen. Eberhard Schockenhoff kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Befürworter von Embryonenfor-

249 Vgl. IMEW (2003a). 250 Vgl. Taupitz (2003): 819. 251 Vgl. Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin (2002): 240. 252 Vgl. http://www.ethikrat.org. 253 Vgl. Krippner/Pollmann (2004): 245; Geyer (2001). 254 Zu Nüsslein-Volhards inhaltlichen, entwicklungsbiologischen Positionen u. C.1.1.3.

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schung in der Ratszusammensetzung dominieren würden. Der katholische Moraltheologe merkt an, dass „der Bundeskanzler die anderen ethischen Beratungsgremien wie die Enquetekommission des Bundestags und den Ethikbeirat beim Gesundheitsministerium aushebeln möchte“. Schockenhoff bewertet ferner seine eigene Berufung in den Rat skeptisch: Ihr habe lediglich die Strategie zugrundegelegen, dem Rat einen demokratischen Anstrich zu geben.255 Die Verwobenheit von ‚staatlicher Subpolitik‘ und bioindustriellen Interessen wird auch in der Presse stark kritisiert. Der Nationale Ethikrat wird als Ausdruck einer Präsidialdemokratie, als Ethik-Zentrale des Kanzlers und seine Etablierung als Scharlatanerie bezeichnet.256 Die erste Stellungnahme wird im Dezember 2001 veröffentlicht und behandelt das Thema Import menschlicher embryonaler Stammzellen. Darin spricht sich die Mehrheit der Ratsmitglieder für Stammzellforschung ebenso wie für die Präimplantationsdiagnostik (PID) aus.257 In der Schaffung des Nationalen Ethikrates und der EnqueteKommission perpetuiert sich auch für die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien die Institutionalisierung staatlicher Biopolitik, die Leben optimal verwalten und nutzen will. Doch anders als die Enquete-Kommission versucht der Ethikrat dieses Ziel nicht länger durch die Konstruktion des Embryos als zukünftiges Rechtssubjekt zu realisieren,258 sondern das ökonomische Potential der Stammzellforschung zu nutzen: Der Körper und seine Substanzen sollen dem deutschen Wettbewerbsstaat als neues Territorium für die Schaffung von Wert nicht länger vorenthalten werden. Sowohl die Enquete-Kommission als auch der Nationale Ethikrat stellen somit keine „Schwächung der repräsentativen Demokratie“ dar,259 sondern sind Ausdruck einer Restrukturierung staatlicher Macht in Bereiche der Subpolitik. Die Politiken von Ethikrat und En-

255 Vgl. Schockenhoff (2001). Zum Ethikbeirat vgl. Krippner/Pollmann (2004): 245. 256 Zur Kritik am Ethikrat vgl. Wagenmann (1999): 43. 257 Vgl. Nationaler Ethikrat (2003): 106ff. 258 Zum Zusammenhang von kantischem Würdebegriff und der Inwertsetzung des Frauenleibes u. C.3.1.3. 259 Körtner (2005): 135f.

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quete-Kommission sind somit keine grundsätzliche Kritik, sondern haben die Funktion, neue Gen- und Reproduktionstechnologien möglichst produktiv zu regulieren. Beatrix Rubin beschreibt den Regulierungsdiskurs in Deutschland so: „Deutschland zählt damit zu jenen Nationen, in denen politische Initiativen lanciert werden, die darauf zielen, die HES-Forschung [die humane embryonale Stammzellforschung] so zu regulieren, dass eine gesellschaftlich getragene Implementierung möglich wird.“260

Die These, dass die Enquete-Kommission technikkritisch und der Ethik-Rat forschungsfreundlich sei und Gegensätze bilden, ist deshalb begrenzt. Sie lässt sich nur halten, wenn man innerhalb einer beschreibenden Perspektive auf die Strukturierung des biopolitischen Feldes verbleibt.261 Die Frage nach Standpunkten, die gesellschaftliche Kontexte um die neuen Technologien grundlegender angehen, wird damit von vorneherein ausgeblendet. Dazu gehören zum Beispiel Stellungnahmen anderer Initiativen und Institutionen wie beispielsweise den Behindertenverbänden, dem Netzwerk gegen Selektion oder medizinkritischen feministischen Arbeitszusammenhängen. B.3.9 Das Stammzellgesetz und die ZES Dem Erlass des Stammzellgesetzes (StZG) geht die Veröffentlichung der zweiten DFG-Stellungnahme zum Thema Stammzellforschung am 3. Mai 2001 voraus. Sie wird sich weitgehend mit dem Stammzellgesetz decken. Der Text spricht sich mit Verweis auf „die verfassungsrechtliche Garantie der Forschungsfreiheit“ dafür aus, „die Forschung mit legal im Ausland hergestellten embryonalen Stammzellen grund-

260 Rubin (2007): 186. 261 So beispielsweise auch in medialen Berichterstattungen jener Jahre. Bioethische Themen wurden dort nahezu ausschließlich als Gegenüberstellung von Positionen des Ethikrates und der Enquete-Kommission behandelt.

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sätzlich [nicht] auszuschließen“.262 Die DFG bezieht sich damit auf das EschG. Es enthält bis zu dem Zeitpunkt eine für die Forschungspraxis bedeutende Gesetzeslücke: Das Gesetz verbietet die Herstellung von Embryonen, die Einfuhr und Verwendung sind jedoch nicht geregelt. Ferner rekurriert die DFG auf das gängige Argument der freien Verfügbarkeit von „Nidationshemmern“* – von Verhütungsmitteln – und auf die Gesetzgebung zur Abtreibung. Beide hätten den Lebensschutz des Embryos bisher ohnehin nicht absolut gehandhabt.263 Die Argumentation koppelt damit Abtreibungs- und Stammzellforschungsdiskurs. Ferner fordert sie die Einrichtung einer ‚unabhängigen‘ Kommission zur ethischen Prüfung von Forschungsanträgen.264 Am 31. Januar 2002 werden im Bundestag drei Anträge zum Stammzellgesetz vorgelegt. Die Gegner der Stammzellforschung um die Abgeordneten Hubert Hüppe (CDU) und Wolfgang Wodarg (SPD) beantragen das gesetzlich abgesicherte vollständige Verbot des Importes der Stammzellen (Nein-Antrag). Er erhält mit 265 Stimmen nicht die Mehrheit. Die Befürworter der Forschung um die Abgeordneten Ulrike Flach (FDP) und Peter Hintze (CDU) sprechen sich in ihrem Antrag für den nahezu vorbehaltlosen Import aus (Ja-Aber-Antrag).265 Diese Linie entspricht der Bundestagsfraktion der FDP und etwa 60 Abgeordneten der CDU, die im Parlament einen Entwurf zur Reform des geltenden ESchGs im Parlament zur Abstimmung stellen. Das Gutachten hatte der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel erstellt. Der Entwurf wird jedoch in der ersten Abstimmung von der Mehrheit abgelehnt.266 Die Abgeordneten um Margot von Renesse (SPD) und Andrea Fischer (Die Grünen) befürworten die Kompromisslösung eines Imports in Ausnahmefällen (Nein-Aber-Antrag). Er erhält in der zwei-

262 DFG (2001). „Die DFG spricht sich daher dafür aus, die bestehende rechtliche Zulässigkeit des Imports menschlicher embryonaler Stammzellen nicht einzuschränken“ DFG (2001). 263 Dies.: 4. 264 Vgl. dies.: 5. 265 Vgl. Klopfer (2006): 33. 266 Merkel (2002a): 9. Zu Merkels diskursiver Strategie u. C.4.2.

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ten Abstimmung die Mehrheit von 340 Stimmen und mündet schließlich in den Erlass des StZGes am 25. April 2002.267 Das Gesetz stellt aus juridischer Perspektive ein strafrechtliches Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung dar. Das offizielle Ziel der Regelung ist, die Lücke des ESchGes zu schließen und den Import embryonaler Stammzellen aus dem Ausland rechtlich zu sanktionieren. Mit der Stichtagsregelung soll das StZG verhindern, dass im Ausland Anreize geschaffen werden, Stammzelllinien für die deutsche Forschung herzustellen. Embryonen müssen vor dem 1. Januar 2002 hergestellt worden sein, um nach Deutschland importiert werden zu können.268 Wird der Erlass des StZG jedoch machtanalytisch betrachtet, so ermöglicht das Gesetz die regulierte Anwendung der Stammzelltechnologie. Denn der Import bestimmter Zellkulturen ist zugelassen: Das Gesetz gibt formal den staatlichen Lebensschutz für Embryonen nicht auf, ermöglicht jedoch, in Deutschland Stammzellforschung durchzuführen. Die im Gesetz formulierten Ausnahmen zeigen somit weniger grundsätzliche Restriktionen als vielmehr die Richtung der produktiven Regulierung an. So wird in Artikel 1, Absatz 3 der Zweck des Gesetzes festgelegt. Er bestehe darin, „die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen ausnahmsweise zu Forschungszwecken zugelassen sind.“ In Artikel 4, Absatz 2 wird die Einfuhr und Verwendung von embryonalen Stammzellen erlaubt, wenn sie aus einer IVF hervorgehen, jedoch nicht mehr zum Zwecke der Herbeiführung einer Schwangerschaft benötigt werden. Das bereits im EschG angelegte Ideal der natürlichen und somit heterosexuellen Schwangerschaft wird somit auch im StZG weitergeführt und Stammzellforschung mit traditionellen Normen von Fortpflanzung gekoppelt.269 Eine weitere Voraussetzung für den Import von Stammzellen ist zudem die ‚Hochrangigkeit‘ der Forschungszwecke.270

267 Vgl. Klopfer (2006): 33. 268 StGZ § 4, 2 1. a. 269 Dazu o. B.3.5. & u. D.2.2. 270 StZG § 3 5, 1.

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„Forschungsarbeiten an embryonalen Stammzellen dürfen nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass 1. sie hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen dienen [...].“271

Mit dem Begriff der Hochrangigkeit übernimmt der Gesetzgeber das therapeutische Versprechen der Stammzellforschung und schreibt es in Recht fest: das Postulat, dass Stammzellforschung grundsätzlich zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit beitragen kann. Doch bislang sind keine Erfolge erzielt worden und es bleibt fraglich, ob Stammzellforschung zu hochrangigen Ergebnissen führen wird. Zudem wird durch die Fokussierung auf grundlagenorientierte Stammzellforschung andere patientenorientierte Forschung vernachlässigt, die den Ist-Zustand von Menschen akzeptiert. Grundlagenorientierte Forschung zielt auf die ‚Erkennung‘ und Behebung von Pathologien in der Embryonalentwicklung. Ihr liegt somit das Ideal des normalen nicht degenerierten Embryos zugrunde. Damit wird jedoch implizit angenommen, dass nicht-behinderte Menschen wünschenswert sind. Das Gesetz schreibt somit die Richtung von Forschung und Forschungsförderung fest, die nicht auf den konkreten, sondern auf einen abstrakten zukünftigen gesunden Menschen fokussiert.272 Zudem legt das Gesetz die Einrichtung einer überregionalen EthikKommission fest:273 Am Robert-Koch-Institut wird mit Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Juli 2002 die Zentrale Ethikkommission für

271 StZG § 3 5, 1. 272 Grüber hat herausgearbeitet, dass mit der schwerpunktmäßigen Förderung der Grundlagenforschung durch bundesdeutsche Institutionen wie das Bundesforschungsministerium andere patientenorientierte Forschung vernachlässigt wird. Pflegewissenschaftliche Forschung entspricht beispielsweise zwar nicht der Rhetorik des Wirtschaftsstandortes Deutschland, sie zielt jedoch auf die ‚Selbstbestimmung‘ von Menschen mit Behinderungen, weil sie beim Umgang damit ansetzt. Vgl. Grüber (2006): 289. Zum Begriff der Grundlagenforschung o. A. 273 StZG § 7.

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Stammzellenforschung (ZES) ins Leben gerufen. Die Aufgabe dieser medizinischen Bioethik-Kommission besteht in der Prüfung von Forschungsprojekten. Seit Beginn ihrer Arbeit hat die ZES bis auf drei Anträge ausschließlich Genehmigungen für die Forschung an embryonalen Stammzellen erteilt. Dabei setzt die ZES die Konzentration auf die Grundlagenforschung des StZG um. Denn die Vorhaben sollen „wesentliche Aussagen über die Faktoren und Bedingungen erbringen [...], unter denen die Differenzierung von humanen ES-Zellen möglich ist, und damit zum grundlegenden Verständnis der humanen Stammzelldifferenzierung beitragen.“274

Die Anträge wurden mehrheitlich von Universitäten wie der Charité, dem Physiologischen Institut Gießen, dem Universitätsklinikum Bonn oder dem Institut für Neurophysiologie der Universität Köln und von Forschungseinrichtungen wie dem Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin gestellt. Teilweise beantragten privatwirtschaftliche Unternehmen wie die ProteoSys AG, Mainz oder die LIFE & BRAIN GmbH von Oliver Brüstle, Forschung an Embryonen durchführen zu können. Auch die ZES stellt somit ein weiteres subpolitisches bioethisches Instrument zur produktiven Regulierung der Stammzellforschung dar. Wie die oben behandelten Bioethikkommissionen hat die ZES im bioethischen Dispositiv eine implementierende Funktion und keinen beschränkenden Charakter. Auf den ersten Blick gehört die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung zu den klassischen Ethikkommisionen, weil sie konkrete Einzelprojekte im Bereich Stammzellforschung ethisch bewertet.275 Ihre personale Besetzung, ihre nationale und inhaltliche Ausrichtung und ihre politisch-strategischen Ziele zeigen jedoch, dass sie Teil des bioethischen Dispositivs ist. Die Mitglieder werden auf Vorschlag des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von der Bundesregierung berufen und sind mehrheitlich Vertreter der Le-

274 ZES (2003): 4. 275 Zu den klassischen Kommissionen o. B.3.3.

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benswissenschaften, sowie der Philosophie und der Theologie.276 Als Mitglieder für den Zeitraum von 2005 bis 2008 sind unter anderen der Reproduktionsbiologe Henning M. Beier und die Biologin Anna M. Wobus, der Bioethiker Anthony D. Ho, die evangelischen Theologen Klaus Tanner und Hartmut Kreß berufen worden. Ihre fachspezifischen Ansätze entsprechen einem ‚postmodern‘ gewendetem Normwissen, das neoliberale Kalküle transportiert: Beier ist im lebenswissenschaftlichen Diskurs zur Stammzellforschung ein prominenter Verfechter des technizistischen Organismusmodells, mittels dessen er Embryonen zu biologischem Leben umdefinieren kann.277 Kreß und Tanner gehören wiederum der exklusiven Gruppe von Theologen an, die im bundesdeutschen Kontext von der rigoros kritischen Linie der Evangelischen Kirche abweichen und Stammzellforschung befürworten.278 Die ZES spiegelt somit das Zusammenarbeiten von Bioethik und Forschungsinteressen wieder, das durch die eingeschränkte Interdisziplinarität gefördert wird. Zudem beschränkt sich die Kommission nicht wie lokale Kommissionen auf die Bewertung einzelner Forschungsprojekte, sondern bezieht allgemein Stellung zu politischen Fragen im Kontext Stammzellforschung. So kommt laut Ludwig Siep Embryonen vor der Implantation in den Mutterleib kein staatlicher Schutz zu, womit er das Embryonenschutzgesetz in Frage stellte.279 Auch wird die Stichtagsregelung beispielsweise am Ende des dritten Tätigkeitsberichtes in Frage gestellt. Der erste Import menschlicher Stammzellen aus Israel findet Weihnachten 2002 statt. Nachdem der entsprechende Antrag des Biologen Oliver Brüstle von der ZES am 15. November 2002 genehmigt worden war,280 werden Stammzellen aus Haifa eingeführt.281

276 Vgl. Krippner/Pollmann (2004): 244. 277 Dazu u. C.1.1.3. 278 Dazu u. C.2.2.6. 279 Vgl. Hüppe (2005). 280 Vgl. ZES (2003): 4. 281 Vgl. Zunke (2004): 10.

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B.3.10 Die Zukunft der Stammzellforschung Mit Erlass des Stammzellgesetzes ebbt die öffentliche Diskussion um die moralische und rechtliche Legitimität zunächst ab. Die Auseinandersetzungen werden fortan in den neu geschaffenen Expertengremien geführt. In Beiträgen von Politikern wird jedoch immer wieder deutlich, dass das staatliche Lebensschutzgebot für den Embryo mit Entstehung der Stammzelltechnologie ins Wanken geraten ist und nicht mehr als absolut gilt. Die Wende in der staatlichen Biopolitik bringt Brigitte Zypries, Bundesjustizministerien, 2003 in einem Vortrag auf den Punkt: „Das Recht auf Leben wird durch das Grundgesetz jedoch nicht absolut geschützt – auch wenn es innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen ‚Höchstwert‘ darstellt, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat. Auf Grund eines Gesetzes darf in dieses Recht eingegriffen werden. Dieser Gesetzvorbehalt ermöglicht es, den Schutz des Lebens abzustufen, ihn mit fortschreitender Verkörperung anwachsen zu lassen, wie es der Gesetzgeber in den §§ 218 ff. StGB auch für das natürlich gezeugte Leben getan hat. Das Recht auf Leben lässt also einen Spielraum für Abwägungen mit den Rechten der Eltern und der Forscher.“282

Die SPD-Politikerin rückt damit von der bisherigen Position des Justizministeriums ab und stellt die staatliche Garantie der Menschenwürde für IVF-Embryonen offen in Frage. Auch Schröder führt in seiner Amtszeit seinen forschungsfreundlichen Kurs fort und fordert am 14. Juni 2005 in einer Rede an der Universität Göttingen, den Embryonenschutz zugunsten der Forschungsfreiheit zu lockern: „Wir dürfen uns in der Bio- und Gentechnik nicht vom Fortschritt in der internationalen Forschung abkoppeln.“283 Damit verbleibt er im Einklang mit der DFG-Linie. Die Wissenschaftsorganisation veröffentlicht im Oktober 2006 ihre bislang jüngste und dritte Stellungnahme zum Thema Stammzellforschung, in der sie sich weiterhin für Stammzellforschung ausspricht: Neuere, im Ausland hergestellte und verwendete Stamm-

282 Zypries (2003). 283 Schröder (2005).

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zelllinien sollen deutschen Forschern zugänglich gemacht werden. Die Stichtagsregelung des StZG soll ersatzlos gestrichen und die mit dem StZG verbundene Strafandrohung gegen Stammzellforschende aufgehoben werden. Die DFG argumentiert besonders mit dem Wissenschaftsstandort Deutschland. Aufgrund der ‚restriktiven‘ Politik würden Konkurrenznachteile entstehen. Auf der Internetseite der DFG heißt es: „Gerade die Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen habe das Wissen über die Eigenschaften von Stammzellen, beispielsweise im Zusammenhang mit regenerativen Zelltherapien oder Untersuchung genetischer Krankheiten erheblich erweitert und präzisiert. Die Wissenschaft in Deutschland könne allerdings aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen nur einen begrenzten Beitrag leisten. Durch die im Stammzellgesetz 2002 festgelegte Stichtagsregelung und die Strafandrohung seien deutsche Forscher vom Zugriff auf neue Zelllinien und von der Arbeit an internationalen Projekten weitgehend ausgeschlossen.“284

Die Reaktionen von Politikern der FDP und der CDU sowie von Angela Merkel sind positiv. Sie befürworten ein Ende der Stichtagsregelung in der deutschen Stammzellforschung.285 2007 entbrennt die Debatte um eine Änderung des Stammzellgesetzes in Deutschland deshalb erneut. Im März 2007 schließt Edelgard Bulmahn, Forschungsministerin, ein Nachdenken über eine Lockerung des StZG nicht aus: „Wichtig ist, dass wir die wissenschaftliche Entwicklung aufmerksam verfolgen und immer wieder prüfen, inwieweit wissenschaftliche Ergebnisse zu neuen Abwägungen führen müssen.“ Bulmahn bezieht sich auf den Vorsitzenden des Nationalen Ethikrates Spiros Simitis,

284 http://www.dfg.de/aktuelles_presse/themen_dokumentationen/stamm zellen/dfg_und_stammzellforschung.html. 285 Vgl. GiD (2006/2007): 31. Bündnis 90/Die Grünen lehnen eine Änderung der Stichtagsregelung ab. Ebenso warnen Europaabgeordnete vor einer Aufweichung des deutschen Gesetzes: Die DFG vertrete erstmals offen die Verfolgung kommerzieller Perspektiven. Vgl. GiD (2006/ 2007a): 32.

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der darauf hingewiesen habe, dass im Stammzellgesetz die dauerhafte Prüfung sogar festgeschrieben sei.286 Am 16. Juli 2007 veröffentlicht der Nationale Ethikrat eine Stellungnahme Zur Frage einer Änderung des Stammzellgesetzes. Darin setzt sich das Gremium für die Abschaffung der Stichtagsregelung ein. Die Stellungnahme wird wiederum durch den Vizepräsidenten der DFG, Jörg Hinrich Hacker, begrüßt und die Übereinstimmung zwischen der DFG-Linie und dem Nationalen Ethikrat betont: „Die DFG hatte bekanntlich im November 2006 in einer Denkschrift Änderungen an drei Punkten des Gesetzes empfohlen. Diese zielen auf eine Abschaffung der Stichtagsregelung, auf einen Wegfall der Strafbewehrung und auf die Zulassung von Stammzellen für diagnostische, präventive und therapeutische Zwecke ab. Schon in der wichtigsten Frage der Stichtagsregelung gibt es keinen inhaltlichen Dissens zwischen den Empfehlungen der DFG und des Ethikrates, allenfalls unterschiedliche Ansichten über das Verfahren. Und die beiden anderen Empfehlungen der DFG hat der Ethikrat in seiner Stellungnahme inhaltlich voll übernommen. Eine Änderung des Gesetzes auf dieser Grundlage wäre ein wichtiger Impuls für die Stammzellforschung in Deutschland.“

Eine zentrale Argumentationsfigur der Befürworter von Stammzellforschung in den letzten Jahren ist somit, dass das Gesetz dem wissenschaftlichen Fortschritt angepasst werden müsse. Was unter neuesten Forschungsergebnissen verstanden wird und inwiefern diese Modelle mit den skizzierten Politiken harmonieren, soll im Folgenden Kapitel herausgearbeitet werden.

286 Tageschau.de (2007). Beier versucht, den Begriff der Totipotenz so zu verschieben, dass Forschungsmaterial freigesetzt wird. Er fordert, das Modell des französischen Bioethikgesetzes auch für Deutschland zu übernehmen. Das Gesetz schließe eine fünfjährige Geltungsdauer ein und müsse danach dem „aktuellen Forschungsstand“ angepasst werden. Dadurch würde eine Anpassung der Gesetzeslage an „neueste Forschungsergebnisse und „wissenschaftliche Fakten“ von „unabhängigen Forschern“ gewährleistet: Beier (2001): 67.

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B.3.11 Zusammenfassung Die Entstehung der Bioethik als Dispositiv zu rekonstruieren, war Ziel dieses Kapitels. Konzentriert habe ich mich dabei thematisch einerseits auf Stammzellforschung, andererseits habe ich die meines Erachtens wichtigsten Vorgänge versucht herauszugreifen. Dazu zählen: •



die Bioethik-Konvention, die in einem Zeitraum von Ende der 1980er bis Ende der 1990er Jahre erstellt wurde. Sie ist auf europäischer Ebene einer der ersten zentralen Versuche, neue Bio- und Reproduktionstechnologien einheitlich zu regeln. Die Konvention markiert die Verschiebung staatlicher Politiken von formellen zu informellen Formen des Regierens und stellt deshalb eine Form von Subpolitik dar, die für die Bioethik typisch sein wird. Ziele des Instrumentes sind, Technologien der Menschenproduktion zu legitimieren und den Embryo sowie Körpersubstanzen ökonomisch als verwertbare Ressource zu konstituieren. Obgleich Deutschland aufgrund des starken Widerstandes verschiedener Gruppen nicht zu den Unterzeichnern gehört, ist die Konvention für die Formierung des bioethischen Dispositivs auf nationaler Ebene von Bedeutung. Das Übereinkommen markiert zum einen den Startschuss für die kritische Bioethik in Deutschland. Zum anderen sieht der Konventionstext die Verlagerung von bioethischem Nachdenken in Expertenkommissionen vor, zu der auch die Harmonisierung lokaler nationaler Ethikkommissionen gehört. Zudem gibt es enge personelle Verflechtungen zwischen deutschen Delegierten und den späteren Ethik-Monopolen. Denn die Repräsentanten der deutschen Regierung unterzeichnen die Konvention aus taktischen Gründen nicht, weil die Öffentlichkeit stärker aufgeklärt werden müsse. Diese spezifische Aufklärung wird dann in den folgenden Jahrzehnten durch Expertengremien übernommen. die bioethische Kommissionierung, die einen weiteren wichtigen Vorgang in der Etablierung des bioethischen Dispositivs darstellt. Zum einen werden, wie im Konventionstext vorgesehen, lokale Ethikkommissionen im Zuge sich entfaltender neuer Biotechnologien unter der ZEKO vereinheitlicht. Die Zentrale Kommission verfolgt einen forschungsfreundlichen Kurs und bezüglich

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Stammzellforschung spricht sie sich für Stammzellforschung aus. Zum anderen entstehen seit Mitte der 1990er Jahre Ethikkommissionen, die nationalen und politischen Charakter haben und die in Form der Enquete-Kommissionen Chancen und Risiken und Recht und Ethik, des Nationale Ethikrates, sowie der ZES vor allem eine Delegierung von ethischem Nachdenken und handfester Entscheidungen an Expertengremien bedeuten. die Schaffung von kritischen Bioethik-Instituten und staatlichen Ethik-Zentren. Sie lassen sich in Institutionen kritischer Bioethik und Ethik-Monopole unterteilen. Erstere gehen vom Lebensschutz des Embryos aus, wodurch die Frau konsequent zu Ende gedacht auch im Kontext neuer Bio- und Reproduktionstechnologien dem Gebärzwang unterworfen wird. Auch eine breitere queer/feministische Reflexion über neue Bio- und Reproduktionstechnologien sind nicht Teil ihrer Politiken. Die Bioethik-Monopole propagieren dagegen eine (neo-)liberalistische spezifisch weibliche Subjektivierung, die die Frau als altruistische Spenderin – sprich als Rohstofflieferantin – begreift. die ‚Verwissenschaftlichung‘ der Bioethik. Die Schaffung von wissenschaftlichen Bioethik-Zentren und von Bioethik-Lehrstühlen, sowie die Etablierung der Bioethik als akademisches Fach verlagert die Feuilletondebatte und verschafft bestimmten Positionen Gewicht. Das Personal der außeruniversitären Institute und der akademischen Bioethik setzt sich aus einem begrenzten Kreis von ‚Experten‘ zusammen. die Durchsetzung des Bildungsbereiches mit bioethisch-technischen Denkmustern: die Konstruktion von Subjekten bioethischer Entscheidungen. Stützpunktschulen, Bildungsprojekte der Bioindustrie, Diskursprojekte der Ethik-Monopole sind Beispiele, wie bioethische Bildung vor allem forschungsfreundlich gestaltet werden soll. die Schaffung von Biorecht in Form des EschG und des StZG. Beide Gesetze sind Manifestationen eines Regulierungsdiskurses, denn sie haben einen produktiv-regulierenden und keinen begrenzenden Charakter. Mögliche Potentiale der Entgeschlechtlichung neuer Biotechnologien legen die Regelungen hingegen in heteronormativen Arrangements still: Natürliche heterosexuelle Fort-

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pflanzung und das Ideal der Kleinfamilie bzw. der Zwei-PersonenLebensgemeinschaft liegen den Gesetzen zugrunde. die Bildung einer Allianz aus Regierungsvertretern, Pharmaindustrie und Ärzteschaft, die mit einem Kurswechsel in der staatlichen Biopolitik verbunden ist. Der neoliberale Wettbewerbsstaat will das ökonomische Potential der Stammzellforschung nutzen und den Embryo als Forschungsrohstoff zugänglich machen.

C. Die Analyse der bioethischen Diskurse zur Stammzellforschung

In den folgenden Kapitel, C.1 bis C.4, analysiere ich die Diskurse von Bioethikern aus den Lebenswissenschaften (C.1), der Theologie (C.2), der Philosophie (C.3) und den Rechtswissenschaften (C.4) zum Thema Stammzellforschung. Das im vorherigen Kapitel B rekonstruierte Dispositiv der Bioethik bildet den institutionellen Rahmen der diskursiven Praxis1, die nun im Mittelpunkt steht. Dabei interessiert mich vor allem, wie die Inwertsetzung des geschlechtlichen Leibes in der Forschung an Stammzellen in den bioethischen Diskursen reflektiert wird, welche Rolle also die Kategorien Geschlecht und Körper in der Bioethik spielen. Ich beginne mit den lebenswissenschaftlichen Diskursen, analysiere dann die theologischen und philosophischen Wissensprodukte und schließe mit den rechtswissenschaftlichen Bearbeitungen.2 Zu guter letzt beschreibe ich in C.5, wie diese Diskurse zusammenwirken.

1

Zum foucaultschen Begriff der diskursiven Praxis o. A. Vgl. auch Bock von Wülfingen (2007): 32.

2

Zur Methode und Auswahl der Texte o. A.

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C.1 L EBENSWISSENSCHAFTLICHE D ISKURSE – V OM TOTIPOTENTEN E MBRYO ZUR N ETZWERKZELLE Insgesamt muß die Verfolgung der genannten Ziele in ethischer Hinsicht als dringlich betrachtet werden, geht es doch um die Förderung des menschlichen Lebens selbst, dem als einem fundamentalen Gut im Vergleich zu anderen Gütern ein besonderer Rang zukommt. DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT3

Unter der Bezeichnung „lebenswissenschaftliche Diskurse“ fasse ich im Folgenden Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, die sich direkt oder indirekt mit dem Thema Stammzellforschung beschäftigen. Darunter fallen unterschiedliche Forschungszweige wie die Embryotoxikologie, die Gynäkologie, die Molekularbiologie*, die Entwicklungsbiologie*, früher als Embryologie* bezeichnet, oder die medizinische Therapie- und Transplantationsforschung. Stammzellforschung wird somit in verschiedenen Bereichen der Lebenswissenschaften betrieben.4 Der Begriff Lebenswissenschaften geht wiederum auf die usamerikanische Bezeichnung ‚life sciences‘ zurück. Auch er benennt über die Stammzellforschung hinaus ein weites Spektrum von Disziplinen. Denn neben der Biologie, der Humanmedizin, der Forschung zu Gen- und Reproduktionstechnologien werden auch die Tier- und Phytomedizin, die Agrar- und Forstwissenschaften, die Pharmazie und Pharmakologie, die lebensmittelkundlichen Wissenschaften und die Gesundheitswissenschaften, die Public Health Sciences, zu den Lebenswissenschaften gezählt.5 Ich spreche deshalb vom lebenswissenschaftlichen Diskurs zur Stammzellforschung, um auf die Breite der

3

DFG-Bewertung der Ziele der Stammzellforschung: Deutsche For-

4

Vgl. Hauskeller (2006): 43.

5

Vgl. Palm (2005): 180.

schungsgemeinschaft (2003): 37.

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involvierten Disziplinen zu verweisen. Dabei untersuche ich jedoch den bioethischen Diskurs von Lebenswissenschaftlern, das heißt nur diejenigen Ansätze zur Stammzellforschung, die Lebenswissenschaftler in bioethischen Kontexten wie interdisziplinären Symposien, Sammelbänden etc. beigetragen haben.6 Der eigentliche Diskurs von Lebenswissenschaftlern zum Thema Stammzellforschung ist weit heterogener und widersprüchlicher.7 Entwicklungsbiologisches Wissen hat im lebenswissenschaftlichen Diskurs zur Stammzellforschung eine gewisse Vormachtstellung.8 Das hat verschiedene Gründe. Zum einen konnten sich die theologischen, rechtsphilosophischen, philosophischen und lebenswissenschaftlichen Diskurse auf das ‚entwicklungsbiologische Potential‘ als wichtigstes Definitionskriterium des Embryos und der Stammzelle einigen: Gegner von Stammzellforschung sehen darin den Beweis, dass der Embryo menschliches Leben ist.9 Befürworter führen das vermeintlich unbegrenzte Entwicklungspotential der Stammzelle hingegen als Grundlage für ihre Heilungsversprechen an.10 Die Entwicklungsbiologie beschäftigt sich aber mit beiden Aspekten und kann deshalb beiden Lagern als Bezugspunkt dienen: Zum einen ist der Gegenstand der Entwicklungsbiologie der embryonale Organismus und eine ihrer leitenden epistemologischen Fragen ist zudem, welchen Organisationsprinzipien oder inneren Gesetzmäßigkeiten lebendige Körper im Allgemeinen folgen.11 Zum anderen nimmt die Forschung an embryonalen Stammzellen ihren historischen Aus-

6

Zur Methode und zur Eingrenzung des Textkorpuses o. A.

7

Einen guten Überblick über die teils konfligierenden Ergebnisse derzeiti-

8

Vgl. z.B. die Zusammensetzung des Nationalen Ethikrates oder des inter-

ger Stammzellforschung bietet Bentele (2007): 190ff. disziplinären Statusseminars des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: http://www.ethikrat.org; Bundesministerium für Bildung und Forschung (2001). 9

Dazu u. C.1.1.1 & C.2.2 & C.3.1.2 & C.4.1 & C.5.1.

10 Vgl. Ehninger (2008); Beier (2001); Brüstle (2001); Gearhart (2001); Nüsslein-Volhard (2003) & (2004). 11 Vgl. Burren/Rieder (2000): 59 & 22.

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gangspunkt in der Entwicklungsbiologie.12 Dort entstand sie jedoch in den 1970er Jahren als ein Nebenprodukt der entwicklungsbiologischen Forschung – als ein Nebenprodukt deshalb, weil die Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen zu therapeutischen Zwecken nicht zentrales Anliegen der Entwicklungsbiologie war. Ihr ging es vielmehr um die „Bedingungen der Gewinnung und dauerhaften Kultivierung“ von Stammzellen.13 Denn die Entwicklungsbiologie ist Teil der Grundlagenforschung, die sich jedoch zu dem Zeitpunkt mit der „Struktur- und Funktionsaufklärung von Lebewesen“14 und nicht zuvorderst mit der Entwicklung neuer Therapien für den Menschen beschäftigte. Stammzellforschung diente Embryologen deshalb dazu, die Entwicklungsprozesse des Embryos zu untersuchen und seinen entwicklungsbiologischen Status zu klären. Erkenntnisse der Stammzellforschung sollten ‚lediglich‘ Rückschlüsse über die molekulargenetischen Vorgänge in der embryonalen Entwicklung und der embryonalen Genexpression zulassen.15 Erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Frage nach der Organismusentwicklung durch ein medizinisches Interesse abgelöst:16 Der US-Forscher James Thomson und seine Kollegen sprechen in einem Artikel von 1995 erstmals von dem großen medizinischen Nutzen für die Allgemeinheit, die eine zukünftige Stammzellforschung bereit halten könne.17 Das „therapeutische Versprechen“, so Beatrix Rubin, findet Eingang in die Entwicklungsbiologie und die Gewinnung von Stammzellen wird ab jetzt nicht mehr als rein entwicklungsbiologischer, sondern als medizinischer Erfolg gewertet: Stammzellforschung wird nicht länger betrieben, um die entwicklungsbiologische Frage zu klären, wie sich der Embryonalorganismus entwickelt, sondern wie man Stammzellen therapeutisch nutzen kann. Diese Verschiebung im

12 Vgl. Rubin (2007): 182. 13 Vgl. dies. 14 Palm (2005): 188. 15 Vgl. Rubin (2007): 182. 16 Vgl. dies: 183. 17 Vgl. Thomson et al. (1995).

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wissenschaftlichen Interesse öffnet das Feld der Stammzellforschung für verschiedene Forschungszweige.18 Umgekehrt eröffnet das therapeutische Versprechen den Raum für eine breite ethische Diskussion. Die Forschungsergebnisse Thomsons und besonders das Heilungsversprechen des Forschers führen dazu, dass Stammzellforschung als bedeutsam für die ‚Gesundheit‘ der ‚gesamten Gesellschaft‘ wahrgenommen und ab 1998 zum Gegenstand heftiger öffentlicher Diskussionen wird.19 Die Debatte wirkt jedoch auch ins lebenswissenschaftliche Feld strukturierend zurück. So hat sie fördernde Effekte für biowissenschaftliche Forschung, die ihre Praxis am therapeutischen Versprechen auszurichten beginnt und ermöglicht die Etablierung eines neuen medizinischen Forschungszweiges:20 der regenerativen Medizin.21 Im bioethischen Dispositiv wird dieses Zusammenspiel von ‚inner‘wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen für die ‚Erfolgsgeschichte‘ der Stammzellforschung jedoch ausgeblendet.22 Thomsons Ergebnisse von 1998 gelten als das Aufdecken naturwissenschaftlicher Fakten, als unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese Sicht auf lebenswissenschaftliches Wissen findet sich auch im Selbstverständnis der Bioethik. Denn dem dominanten Verständnis von Bioethikern zufolge liefern die Lebenswissenschaften das naturwissenschaftliche Fundament – die ‚hard facts‘ – in der eingeschränkt interdisziplinären Zusammenarbeit von Rechtswissenschaften, Philosophie und Theologie: Lebenswissenschaftliche Erkenntnisse gelten als empirisch begründetes Tatsachenwissen, auf dem die anderen Disziplinen aufzubauen haben und von dem ethische Problematiken abgeleitet werden sollen.23 Das ‚Bios‘ der Bioethik – der

18 Vgl. Rubin (2007): 183. 19 Dies: 180. 20 Dies: 189. 21 Die regenerative Medizin ist allein dazu da, diagnostische und therapeutische Verfahren und Theorien zur Behandlung von Krankheiten auf der Basis von Stammzellforschung zu entwickeln. Vgl. Gesellschaft für regenerative Medizin (2008). 22 Dazu u. 23 Vgl. Düwell (2003): 24.

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Begriff des Lebens – soll durch die Lebenswissenschaften erschöpfend geklärt werden. Angemessene ethische Normen sollen hingegen die übrigen Disziplinen liefern.24 C.1.1 Der Begriff der Totipotenz: Vom Einheitsprinzip zum Teamprodukt Einer der Zentralbegriffe in den genannten bioethischen Auseinandersetzungen um Stammzellforschung ist die ‚Totipotenz‘. Seine Besetzungen spiegeln wie kein anderer Terminus die gesellschaftspolitischen Kämpfe um die neuen Reproduktionstechnologien und besonders um Stammzellforschung und sollen im Folgenden nachgezeichnet werden. Die Bezeichnung Totipotenz entsteht in der klassischen Embryologie der Säugetiere. Dort verwendet 1928 erstmals Hans Spemann, späterer Nobelpreisträger und noch heute in der Entwicklungsbiologie anerkannt, den Begriff, um den Entwicklungsprozess bei Amphibienembryonen zu beschreiben. Der Embryologe schnürte befruchtete Eizellen dieser Tiere durch und erzeugte so ‚identische Doppelbildungen‘ aus ein und derselben Eizelle. Die ‚Fähigkeit‘ der geteilten Zellen, sich auch nach der Trennung zu einem ganzen Amphibienorganismus zu entwickeln, nannte er Totipotenz.25 Toti soll dabei auf den ganzen Organismus verweisen, vom lateinischen totus für ganz. Das Wort Potenz leitet sich wiederum vom lateinischen potens ab, was fähig bedeutet. Spemann versteht unter Totipotenz folglich die Fähigkeit einer Zelle, sich zu einem ganzen Organismus entwickeln zu können.26

24 Diese Arbeitsteilung ist durch die „epistemologische Aufspaltung der Wissenschaftskulturen“ in Natur- und Geisteswissenschaften begründet. Braun/Stephan (2005). Sie zeigt sich beispielsweise im Aufbau von philosophischen oder juristischen Arbeiten, die im ersten Teil die naturwissenschaftlichen Tatsachen darstellen und im zweiten die ‚daraus entstehenden‘ rechtlichen oder ethischen Positionen klären. Vgl. Huwe (2006); Klopfer (2006); Wahle (2005). 25 Vgl. Beier (2001): 56. 26 Vgl. ders.

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Diese Bedeutung nimmt der Gesetzgeber 1990 auf. Im Embryonenschutzgesetz (EschG) wird Totipotenz im § 8 Abs. 1 folgendermaßen definiert: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich beim Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.“27

In den nachfolgenden Paragraphen wird dann die Forschung an totipotenten Zellen als rechtswidrig bestimmt.28 Der Staat greift damit in die zu diesem Zeitpunkt geführten Diskussionen um Reproduktionstechnologien ein und will mit dem Gesetz die Forschung an Embryonen verbieten, bei der es sich jedoch noch nicht um Stammzellforschung, sondern um Präimplantationsdiagnostik (PID), Eingriffe in die Keimbahn* oder das Klonen handelt. Mit seiner gesetzlichen Festschreibung fungiert der Begriff Totipotenz fortan als Scheidelinie zwischen erlaubter und unerlaubter Forschung29 und legt eine Trennung zwischen Forschungsrohstoff und „lebenswertem Leben“ oder anders ausgedrückt zwischen Körpersubstanzen und Grundrechtsträger fest. Der Embryo wird, wie bereits in den Abtreibungsgesetzen, in der Etablierung neuer Biotechnologien als Rechtssubjekt konstituiert. Mit den Forschungsergebnissen Thomsons30 gerät Totipotenz dann erneut ins Kreuzfeuer öffentlicher Auseinandersetzungen. Die Diskussionen um die Bedeutungen des Begriffs werden ab 1998 aufgrund des therapeutischen Versprechens von neuem geführt.31 Dabei halten die Gegner von Embryonenforschung an der Definition von Totipotenz* fest, wie sie acht Jahre zuvor im EschG festgeschrieben worden war. Die entwicklungsbiologische Definition von Totipotenz*, als die Kraft, sich zu einem ganzen Organismus zu entwickeln, ist deshalb

27 EschG § 8,1. 28 Vgl. EschG § 9 & § 10 & § 11 & § 12. 29 Vgl. Hauskeller (2006): 43. 30 Dazu o. A. 31 Vgl. Rubin (2007): 180.

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Grundlage für Lebensschutzpositionen in der bioethischen Debatte.32 Diesen Organismusbegriff bezeichne ich im Folgenden als ‚klassisch‘ und skizziere ihn nun. C.1.1.1 Der klassische Organismusbegriff in der Bioethik: Die unantastbare Korporealität des Embryos und die Frau als fötales Umfeld Fuat S. Oduncu denkt den Begriff der Totipotenz mittels eines entwicklungsbiologischen Ansatzes so, dass er von den Gegnern der Stammzellforschung und ‚Lebensschützern‘ in Theologie, Philosophie und Recht übernommen werden kann.33 Seine Argumentation ist beispielhaft dafür, wie die interdisziplinären Diskurse im bioethischen Dispositiv zusammenwirken. Als Mediziner und studierter Bioethiker beansprucht Oduncu eine spezifische Funktion der Übersetzung, die – seinem Selbstverständnis nach – biomedizinisches Tatsachenwissen in adäquate bioethische Begriffe umwandelt.34 Das Ziel Oduncus ist, das aus seiner Sicht metaphysisch und ontologisch begründete Menschsein des Embryos zu beweisen.35 Kants Begriff der Person soll dazu mit Erkenntnissen der Entwicklungsbiologie* untermauert werden. Entwicklungsbiologisches Wissen behandelt der Bioethiker als vorgesellschaftliche wissenschaftliche Tatsachen, von dem aus gesicherte Erkenntnisse über das Wesen des Menschen und seinen Lebensbeginn abgeleitet werden können.36

32 Dazu u. C.2.2 & C.3.1.2 & C.4.1. 33 Dazu u. C.5.1. 34 Ich konzentriere mich im Folgenden vor allem auf seine entwicklungsbiologische Argumentation und nicht auf seinen Bezug auf Kant und Aristoteles, weil kantische und aristotelische Ansätze in der Bioethik in C.3 und C.4 diskutiert werden. 35 Vgl. Oduncu (2003): 213 & 214. 36 Sein Anliegen sei, „den moralischen Status, das heißt den (Eigen-)Wert, menschlicher Embryonen zu ermitteln“. Dazu habe er einen Ansatz gewählt, „der seine Begründung u.a. auf neuere Entwicklungen der modernen Embryologie stützt“ ders., Herv. i.O.

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Oduncu bezieht sich besonders auf Aristoteles’ Begriff des Formpotentials.37 Damit will er Kants Personenbegriff so reformulieren, dass er auf Embryonen übertragbar ist:38 Bereits der Embryo muss demzufolge als Mensch gelten, weil er wie Geborene das Potential aufweise, sich zu einem ‚ganzen Menschen‘ zu entwickeln. Oduncus Beitrag baut jedoch nicht einfach auf Aristoteles’ Zeugungstheorie auf, sondern ‚modernisiert‘ seine Annahmen mit zeitgenössischen entwicklungsbiologischen Theorien: Aristotelische und entwicklungsbiologische Begriffe formulieren das Phänomen der Menschwerdung lediglich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Sprachen, im Grunde beschreiben sie jedoch den gleichen ontologischen Vorgang. So könne das aristotelische Formpotential des Embryos auch mit neuen Erkenntnissen der Entwicklungsbiologie bewiesen werden. Die genetische Information* im Zellkern und die epigenetische* Information des Zytoplasmas* entsprechen dem genuinen in sich selbst identischen Formpotential, das die Entwicklung des Embryos aus entwicklungsbiologischer Sicht ermöglicht und anstößt. Dieses aktive Prinzip ist maßgeblich für die Entwicklung eines Organismus und führt dazu, dass das autonome Embryosubjekt seine Menschwerdung beginnt. In Oduncus Worten hört sich das so an: „Weitere notwendige Bedingungen, die zur Realisierung des Formpotentials des Keimlings beitragen, sind Faktoren wie die Implantation der Blastozyste oder die Ausbildung des Primitivstreifens (räumliche Achsenbildung und Verlust der Zwillingsbildung). Mit anderen Worten: Der Embryo nutzt seine maternal-uterine Umgebung, um zu dem auszureifen, woraufhin er programmatisch phänomenologisch festgelegt ist. Allerdings setzt die embryonale Potenz

37 Aristoteles gilt bis heute als Begründer der Embryologie. Vgl. Müller/ Hassel (1999): 4. Vgl. auch Gruss (1997): 49. So finden sich Gedanken zur Entwicklung des Embryos in seinen Schriften Über die Seele und in seiner Metaphysik. Vgl. Aristoteles 1959. Dazu C.3.2. Zudem hat er für theologische Ethik eine besondere Bedeutung. 38 Kants Verständnis der Person ist über den Begriff der äußeren rechtlichen Freiheit als intersubjektives Verhältnis konzipiert, so dass er nicht ohne weiteres auf den Embryo übertragbar ist. Zum kantischen Personbegriff u. C.4.6.

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ihrerseits ein bereits strukturell realisiertes Minimum quasi als Initiator voraus, welches Aristoteles Realpotenz nennt. Dieses erste aktualisierte Minimum stellt entwicklungsbiologisch nicht erst der eingenistete Embryo, sondern bereits die Zygote dar, bestehend aus der genetischen Information (dem neuen Genom) und der epigenetischen Information (dem Zytoplasma). Von diesem ersten aktualisierten Minimum ausgehend nimmt die Entwicklung des neuen menschlichen Wesens seinen Lauf.“39

Die Einschreibungen von Körper- und Geschlecht der aristotelischen Philosophie werden hier mit nicht weniger problematischen entwicklungsbiologischen Begriffen verknüpft. Zwar folgt Oduncu den neueren Erkenntnissen der Entwicklungsbiologie und begreift auch epigenetische Faktoren40 im Zytoplasma als bedeutsames Prinzip in der Organismusentwicklung, dennoch bleibt die Frau der irdische Stoff: Sie ist die „maternal-uterine Umgebung“, die Körper-Materie, die der Embryo als Formpotential nutzt. Oduncu entwirft folglich zwei Verständnisse des Körpers: Die unvergängliche Körperlichkeit des Keimlings, zurückgehend auf das männliche Prinzip der Form. Sie begründet die Rechtssubjektivität und Unantastbarkeit des späteren Staatsbürgers und die irdischmaterielle Körperlichkeit der Frau, die ‚bloße Biomasse‘. Sie wird in der relativen Bedeutsamkeit des Zytoplasmas und der maternaluterinen Umgebung begrifflich gefasst, der weder politisches Gewicht noch Rechtssubjektivität zukommen. So schlussfolgert Oduncu: „Die früheste Form menschlicher Korporealität repräsentiert das menschliche Individuum ab dem Zeitpunkt seiner allerersten Erscheinung – als Embryo.“41 Die geschlechtlich codierten Körperverständnisse im diskutierten Beitrag resultieren aus einem Organismusbegriff, dessen Entstehungslinien bis zum antiken Wissen zurückreichen. Zu einem Grundbegriff der sich formierenden Lebenswissenschaften avanciert der Organis-

39 Oduncu (2003): 215f. 40 Epigenetische Faktoren sind die Entwicklungsfaktoren im ‚weiblichen‘ Ei. Sie bilden das Komplement zu den genetischen Anlagen des ‚männlichen‘ Zellkerns. Dazu u. C.1.1.2. 41 Oduncu (2003): 218f.

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musbegriff im 19. Jahrhundert,42 wobei er einerseits die alten hierarchischen Verständnisse von Geschlecht fortführt. Andererseits fließen in das Modell damalige bürgerliche Vorstellungen von Geschlecht ein.43 Die Geschlechtergeschichte des Organismusbegriffs soll deshalb im folgenden Abschnitt skizziert werden. C.1.1.2 Skizzen zur (Geschlechter-)Geschichte des klassischen Organismusbegriffs Die Großmetapher des Organismus erlangt zu einer Zeit Bedeutung, in der auch ‚das Leben‘ als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses und die Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem geschaffen werden. Zwischen den Begriffen entsteht ein enges Verhältnis und fortan wird organisch zu einem Synonym für Lebendig. Anorganisch wird hingegen dem Bereich des Nicht-Lebendigem zugeordnet. Erst die Verbindung beider Kategorien ermöglicht die Formierung einer Wissenschaft des Lebendigen oder anders ausgedrückt: Die Verwobenheit von Organismus und Lebendigkeit stellt die epistemischen Bedingungen für die Entstehung der Biologie dar, die innerhalb der Naturwissenschaften als die Wissenschaft vom Leben schlechthin gelten und das Deutungsmonopol der Definitionen vom Leben erhalten wird.44 Der Begriff des Organismus steht für die Vorstellung eines funktionalen Ganzen. Diese Einheit ist „im Gegensatz zum Aggregat nicht bloß die Summe selbstständig existierender Teile“, sondern bestimmt

42 Vgl. Rose (2007): 41. 43 Vgl. Deuber-Mankoswki (2005): 204. Obgleich die Lebenswissenschaften und mit ihnen das moderne Verständnis des ‚männlichen Menschen‘ als Gegenspieler zur Natur erst im 18. Jahrhundert entstehen, knüpfen sie jedoch „in der Verwendung sexueller Metaphern zur Benennung der Natur und in der Konnotation des Naturverständnisses in den Kategorien männlich und weiblich [...an] einen Wissensapparat [...], der bis in die griechische Antike zurückgeht.” Dies. Zur Bedeutung von Geschlecht in der Umstrukturierung des Organismusbegriffs im Verlauf des 19. Jahrhunderts vgl. Palm (2008). 44 Vgl. Burren/Rieder (2000): 58; Rose (2007): 41.

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den Ort und die Funktion der Teile im Ganzen und für das Ganze.45 Der Organismus ist somit der Bezugsrahmen für eine Funktionalitätszuschreibung von verschiedenen Teilen. Erst wenn der übergeordnete Organismus ausgemacht ist, lässt sich das Verhältnis bestimmen, in dem sich seine einzelnen Elemente befinden.46 Das Zusammenwirken der Teile wird wiederum auf ein immanentes vitales Prinzip zurückgeführt: Der Organismus wird als eine Kraft konzipiert, die der lebenden Materie selbst eigen ist und sie bewegt, ohne dass etwas Außenstehendes wie die Seele oder der Geist Einfluss ausüben würde.47 So wendet sich Jean-Baptiste Lamarck, der den Lebensbegriff der Biologie maßgeblich prägt,48 gegen die aristotelische Idee der Sukzessivbeseelung, die eine Einsenkung der göttlichen Geistseele in den Körper annimmt. Der Organismusbegriff unterscheidet sich damit auch von der Iatromechanik, die einen anderen prominenten Ansatz des damaligen Körperverständnisses darstellt. Der medizinische Ableger des Cartesianismus geht davon aus, dass organische Phänomene das „Resultat mechanischer oder physikalischer Bewegungen“ seien.49 Denkt Descartes den Körper noch als Maschine und lokalisiert die Ursache für die Bewegungen außerhalb des Körpers, so wird dieses Modell mit dem aufkommenden Organismusbegriff hinterfragt: Körperbewegungen leiten sich nicht aus einem letztlich außerweltlichen Bewegungsimpuls ab, den die Körpermaterie am Anfang der Welt erhalten hat, sondern aus einem dem Leben selbst innewohnenden Prinzip.50 So spricht Claudia Honegger von einer „unteilbare[n] Seele im ganzen Körper“, um das Spezifische des Organismusbegriffs zu fassen.51 Der Organismusbegriff steht folglich für einen inneren Zusammenhalt: Ein Organismus weist ein „inneres Gesetz“ auf, das den Zusammenhang von innerer anatomischer Struktur und sichtbarem

45 Burren/Rieder (2000): 57. 46 Vgl. dies. 47 Vgl. Honegger (1991): 128ff. 48 Vgl. Rose (2007): 41. 49 Honegger (1991): 128. 50 Vgl. dies.: 130. 51 Dies.

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Merkmal lebendiger Körper gewährleistet.52 Damit unterscheidet sich der Organismusbegriff Foucault zufolge von Klassifizierungskonzepten des klassischen Zeitalters, in dem es „lediglich Lebewesen [gab], die durch einen von der Naturgeschichte gebildeten Denkraster erschienen“.53 Die Unterschiede zwischen Lebewesen wurden jedoch nicht als Differenz zwischen den einzelnen Lebewesen gedacht, sondern als Unterschiede zwischen Attributen und Eigenschaften der verschiedenen Arten. So wurden Vögel beispielsweise dadurch in verschiedene Arten klassifiziert, dass die eine Art nachts jagte, eine andere auf dem Wasser lebte und wieder eine andere sich von lebendigen Tieren ernährte. Der Organismusbegriff hingegen fokussiert nicht auf sichtbare Elemente, sondern auf die „internen Abhängigkeitssysteme“ wie eine bestimmte Atmungsweise, die Existenz eines Blutkreislaufstyps oder das Skelett: „Die internen Gesetze des Organismus werden an Stelle der unterscheidenden Merkmale zum Gegenstand der Wissenschaften der Natur.“54 Zentrales Kennzeichen des Organismusbegriff der Biologie des 19. Jahrhunderts ist somit, dass er auf einer „Epistemologie der Tiefe aufbaut“:55 Der Organismus wird als abgeschlossenes, tiefes, inneres Wesen gedacht und impliziert eine Vorstellung von Ganzheitlichkeit, Selbstidentischsein und Selbstgesetzlichkeit. Auch im heutigen Lexikon der Bioethik wird der biologische Lebensbegriff im Rückgriff auf den „umfassenden Begriff“ des Lebendigen des Schweizers Adolf Portmann definiert, der in seinen anthropologischen Studien die vermeintliche biologische Sonderstellung des Menschen nachweisen wollte: Innerlichkeit, Selbstdarstellung, Selbsterhaltung, Selbstaufbau und Arterhaltung bestimmen ‚das Lebendige‘ grundlegend. Die „sichtbare Vorliebe für das Präfix ‚Selbst-‚“ geht in Portmanns Ansatz wiederum auf den entwicklungsmechanischen Ausdruck der „‚Selbsttätigkeit‘“ oder Autoergie zurück.56 Für Portmann sei die wesentliche

52 Vgl. Duden (1991): 124. 53 Foucault (1974): 168. 54 Ders.: 189. 55 Rose (2007): 42. 56 Kummer (1998): 525. Auch Oduncu bezieht sich auf Kummer und auf Portmann: „Sehr treffend bezeichnet Adolf Portmann den menschlichen

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Lebensleistung „das innere Erleben und Verhalten der Organismen, das in der Selbstdarstellung nach außen in Erscheinung tritt“.57 Die Analogien zu Definitionen von bürgerlicher Subjektivität liegen auf der Hand.58 Denn die innere maximengeleitete Zwiesprache bestimmt bei Kant maßgeblich das moralisch-ethische Tugendsubjekt, wohingegen sich die äußere Freiheit des Rechtssubjektes im nach außen getragenen Verhalten manifestiert.59 Doch dieser Organismusbegriff gilt nicht für beide Geschlechter gleichermaßen. Er entsteht im 19. Jahrhundert vielmehr vor dem Hintergrund bestimmter Umwälzungen im Geschlechterverhältnis und spiegelt eine hierarchisierende Neuordnung von Geschlecht wieder. So wie der Organismusbegriff die Existenz jedes Lebewesen mit einem inneren Gesetz begründet, so wird auch Geschlecht auf ein inneres biologisches Wesen zurückgeführt. Die Wirkungen, die der neue Organismusbegriff auf das Denken von Geschlecht hatte, beschreibt Kerstin Palm so: „War Geschlechtlichkeit aus mechanistischer Sicht auf die Geschlechtsorgane beschränkt gewesen, durchdrang sie nun im Lichte der organisch-ganzheitlichen Vorstellungen den gesamten menschlichen Körper und betraf nicht nur alle Organe, sondern aufgrund der nun angenommenen Verbindung zwischen Genitalität und Geschlechteridentität auch die moralische und geistige Verfasstheit. Auf diese Weise konnte eine umfassende psycho-physiologische Differenz zwischen den Geschlechtern begründet werden, in der die bürgerliche Geschlechterordnung gespiegelt war und sich damit zugleich eine naturalistische Legitimation verschaffte.“60

Säugling als ‚Nesthocker‘ und das erste Lebensjahr des Menschen als das ‚extra-uterine Jahr des Embryo‘ mit einer überlangen Zeit der Angewiesenheit auf die Pflege und Fürsorge seiner Eltern.“ Oduncu (2003): 218. Zu Oduncus Argumentation und impliziten Geschlechtercodierungen o. C.1.1.1. 57 Kummer (1998): 525. 58 Vgl. Frietsch (2002): 185f. 59 Zu Kants Rechtssubjekt und seiner Rezeption in der Bioethik u. C.4.6. 60 Palm (2005): 188. Vgl. auch Honegger (1991): 147.

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Mittels des biologischen Organismusbegriff wird somit auch Geschlecht als Organismus gedacht und das heißt als natürliches inneres Wesen der beiden Geschlechter: Mann und Frau werden als zwei Organismustypen aufgefasst, deren Natur grundsätzlich unterschiedlich ist. Aus dieser „biologischen Totaldifferenz“ werden wiederum verschiedene Geschlechtscharaktere abgeleitet,61 was besonders für das Verständnis der Frau schwerwiegende Konsequenzen hat. Denn sie wird anders als der Mann als gänzlich natürlich determiniert begriffen: Sie sei, so behaupten damalige Wissenschaftler, nicht fähig zu höherer Wissenschaft und zur Vernunft und vollkommen sinnlich und sexuell bestimmt. Auf den Punkt gebracht, werden alle „affektiven und intellektuellen Fähigkeiten [der Frau] auf physische Sinneswahrnehmungen“ reduziert.62 Der Uterus erhält in der Definition des weiblichen Geschlechtscharakters und der Frau eine Leitfunktion, woraus wiederum Mutterschaft als die wichtigste moralische und biologische Aufgabe der Frau in der Gesellschaft geschlussfolgert wird.63 Honegger beschreibt die damalige Bedeutung des ‚Unter-Leibes‘ als ein Organ, das die Frau in ihrem Inneren trage und „das bis zu den fürchterlichsten Krämpfen reizbar sei, das sie beherrsche und in ihrem Gemüt Phantasmen jeglicher Art erzeuge.“64 Der Mann genießt dagegen den Status des allgemeinen Menschen, der nicht zuvorderst durch seine Biologie moralisch festgelegt ist und gegenüber seiner organischen Natur einen größeren Gestaltungsspielraum hat.65 Damit wird der Mann als Rechtsbürger und geistig-moralisches Subjekt definiert und das heißt ganz im Sinne Kants: als intelligible, autonome und selbstgesetzgebende Person. Der Begriff des Organismus wird jedoch nicht nur herangezogen, um biologischen Vorstellungen von Geschlecht zum Durchbruch zu verhelfen, sondern umgekehrt wird auch auf gängige Metaphern von Geschlecht zurückgegriffen, um Theorien embryonaler Organismus-

61 Vgl. dies.: 134. 62 Dies.: 134. Vgl. dies. 137 & 144. 63 Dies.: 141 & 148. 64 Dies.: 141. 65 Vgl. dies.: 147.

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entwicklung zu plausibilisieren. Die Kategorie Geschlecht hat für die Formierung der Biologie als genetisierte Wissenschaftsdisziplin eine konstitutive Bedeutung. So entsteht zunächst die klassische Embryologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, deren zentrale Forschungsfragen die Entwicklung eines befruchteten Eies zu einem ganzen Organismus betreffen: Welche Rolle spielt dabei die Umwelt? Welche spezifischen Organisations- und Funktionsweisen weist der Organismus auf? Was bewirkt das Zytoplasma?66 Die klassische Embryologie wird jedoch bereits in den 1920er und 1930er Jahren von der Genetik verdrängt, deren Frage nicht zuvorderst der Gesamtorganismus,67 sondern die Erforschung der ‚grundlegenden Struktur des Lebens‘ – der Gene – ist.68 Aus dem Bereich der zeitgenössischen Forschung zur Geschlechtsbestimmung werden Ergebnisse herangezogen, um dem Lager zum Durchbruch zu verhelfen, das den Zellkern mit seinem unter dem Lichtmikroskop beobachtbaren Chromosomen als Hauptakteur im Entwicklungsprozess ansieht.69 Der Zellkern wird als Träger der entwicklungsdeterminierenden Faktoren im befruchteten Ei bestimmt und in ihm die Genaktivität* lokalisiert. Andere Positionen meinen hingegen, dass das Zytoplasma – die Zellstrukturen, die sich außer-

66 Vgl. Burren/Rieder (2000): 23. 67 Wie Gene zur Entwicklung eines Organismus führen, konnte die Embryologie nicht erklären oder besser: Sie sah diese Frage erkenntnistheoretisch lange Zeit nicht als relevant an. Nach einem jahrzehntelangen Randdasein erhält die Embryologie erst Ende der 1960er Jahre unter der neuen Bezeichnung Entwicklungsbiologie wieder Auftrieb, als sie selbst eine Genetisierung durchläuft, das heißt ihr eigenes Wissen mit Annahmen der Genetik fundiert. Die Entwicklungsbiologie erforscht nun die Differenzierungs- und Determinationsprozesse in der Embryogenese mit Fokus auf die molekulargenetische Ebene biologischer Entwicklungsvorgänge. Vgl. dies. 23 & 20. 68 Vgl. Fox Keller (1996): 314ff. 69 Entscheidend war die Annahme, dass das Geschlecht eines Organismus durch die Vererbung bestimmt sein muss. Vgl. Burren/Rieder (2000): 23. Auch Scheich weist darauf hin, dass Linné die Sexualorgane und die Funktion der Fortpflanzung als bestimmend für den Begriff des Lebewesens ansah. Vgl. Scheich (1995): 277.

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halb des Zellkerns befinden – der Hauptverantwortliche für die organismische Entwicklung sei. Der Begriff Genaktivität bezeichnet dabei einen hypothetischen Vorgang, der den Genen die Fähigkeit attestiert, die Entwicklung des Organismus mit all seinen phänotypischen Merkmalen hervorzubringen. Gene werden als aktive (anthropomorphe) sich an einem Zweck orientierende Handlungsträger des Organismus betrachtet,70 wobei jedes einzelne Gen in dieser Vorstellung eine bestimmte Anzahl von Anweisungen erteilt.71 Die embryonale Entwicklung wird nun als „die Entfaltung vorgängig existierender Fähigkeiten, ein Ausführen genetisch verschlüsselter Befehle“ gedacht.72 Darüber hinaus wird seit den 1920er Jahren das Zytoplasma mit dem mütterlichen Ei und der Zellkern mit dem männlichen Sperma gleichgesetzt und das Erste als das passive und das Zweite als das aktive Prinzip in der Organismusentwicklung verstanden: Die kausale Bedeutung in der Organismuserzeugung wird ausschließlich dem Zellkern des Spermas zugeschrieben. Die angenommene Entsprechung von Ei und Zytoplasma und Spermium und Zellkern führt die unterschiedlichen aristotelischen Gewichtungen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Beitrag zur Reproduktion fort. Auch die genetisierte Embryologie begreift das männliche als das aktive und lebensspendende Prinzip, das weibliche als das passive und bloß stoffliche.73 Diesen Metaphern der Organismusentwicklung sind somit auch geschlechtlich codierte Körperverständnisse eingeschrieben: Denn das Ei wird nicht allgemein mit Weiblichkeit assoziiert, sondern vor allem mit dem weiblichem Körper, der Materie. Der Zellkern wird hingegen mit dem entkörperlichten und deshalb höherwertigen Prinzip der belebenden Seele gleichgesetzt.74 Burren und Rieder stellen zu den geschlechtlich gefärbten Metaphern in der genetisierten Entwicklungsbiologie fest:

70 Vgl. Burren/Rieder (2000): 23. 71 Vgl. dies.: 29. 72 Fox Keller (1996): 315, zitiert den Genetiker Sir Peter Medawar. 73 Vgl. Burren/Rieder (2000): 110f. 74 Vgl. dies.: 111. Vgl. Fox Keller (1996): 319.

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„Aufschlussreich ist die Ähnlichkeit der Metaphern, mit der früher das Spermium, später der Zellkern und auch das Gen belegt wurden: Das autonome, selbstaktive, Entscheidungen treffende Gen wird mit einem ‚kleinen Menschen im Menschen‘ mit dem Homunculus75 verglichen. Diese metaphorische Tradition lässt deutlich werden, wie selbstverständlich – wenn nicht schon als zwingende Notwendigkeit – die Gleichsetzung des testisdeterminierenden76 mit dem geschlechtsbestimmenden Gen erfolgen musste.“77

Diese Körper- und Geschlechtercodierungen sind bis heute in verschiedenen Ansätzen der Entwicklungsbiologie existent. In einem Lehrbuch für Entwicklungsbiologie von 1999 finden sich diese Geschlechtermetaphern beispielsweise in der Darstellung des Befruchtungsvorganges wieder. Die Passage ist mit dem vielsagenden Satz „Dornröschen wird wachgeküsst“ übertitelt: „Die noch unbefruchtete Oocyte [das weibliche Ei] schläft: Transkription, Proteinsynthese, Zellatmung sind auf oder nahe dem Nullpunkt. Der Kontakt des finalen Spermiumliganden [...] mit dem entsprechenden Rezeptor in der Eizellmembran [...] löst eine Kaskade dramatischer Ereignisse aus: a. An der Kontaktstelle fusionieren die Membranen von Spermium und Eizelle. Es wird eine Passage freigemacht, durch die nicht nur der Kern und das Centrosom des Spermiums geschleust werden, sondern auch ein vom Spermium geliefertes besonderes Protein, das die Aktivierung des Eies einleitet.“78

Schließlich finden solche geschlechtlich codierten Annahmen über embryonale Entwicklungsprozesse auch in entwicklungsbiologisches Wissen Eingang, das zur Untermauerung oben dargestellter bioethischer Positionen bemüht wird. Denn die gesellschaftliche Perspektive,

75 Homunculus ist das Bild eines kleinen Menschen im Spermium, das auf Aristoteles zurückgeht und seine Vorstellung von Reproduktion ausdrückt. 76 Das testisdeterminierende Gen ist eine DNA-Sequenz auf dem ‚männlichen‘ Y-Chromosom. Es wurde 1987 als das entscheidende Gen der Geschlechtsbestimmung bezeichnet, das für die Ausbildung des anatomischen Geschlechtes verantwortlich sein soll. Vgl. Butler (1991): 159ff. 77 Burren/Rieder (2000): 116. Vgl. dies.: 111. 78 Müller/Hassel (1999): 211.

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die die Genaktivität des Zellkerns entsprechend des Bildes vom mündigen männlichen Rechtssubjekt darstellt, ist in den Begriff der Totipotenz eingeflossen und wird wie bei Oduncu mit der Fähigkeit zur Selbststeuerung des zukünftigen Rechtssubjektes gleichgesetzt. Auch Christiane Nüsslein-Volhard, Mitglied im Nationalen Ethikrat und seit 1998 Inhaberin der Biotechnologie-Firma Artemis Pharmaceuticals vertritt die Annahme, dass der Zellkern im Zeugungsvorgang die ‚genetischen Informationen‘ übermittelt.79 In ihrem Vortrag „Wann ist der Mensch ein Mensch?“, gehalten 2002 auf einer Tagung des Ethikrates, sagt sie dazu: „Mit Kreuzungsexperimenten konnte man die Frage beantworten, was denn nun die Erbträger enthält, das Zytoplasma oder der Kern. Es war lange schon bekannt, dass bei Kreuzungen zwischen zwei verschiedenen Arten die Bastarde sowohl mütterliche als auch väterliche Eigenschaften haben. Tauscht man die Eltern, so ergibt sich kein deutlicher Unterschied, und das, obwohl das Zytoplasma ausschließlich vom Ei, also vom mütterlichen Organismus beigetragen wird. Ein Zytoplasmaklümpchen ohne Kern, von einem Spermium einer anderen Art befruchtet, wird zu Minilarven, deren Gestalt der des Vaters, aber nicht der Mutter gleicht. Das beweist, dass der Kern und nicht das Zytoplasma Träger der genetischen Information ist.“80

Die Embryologin bewies jedoch in den 1970er Jahren experimentell, dass die Zytoplasma-Struktur eine entscheidende Rolle in der Organismusentwicklung bereits vor der Befruchtung spielt.81 NüssleinVolhard gilt deshalb in feministischer Literatur zur Geschichte der Biowissenschaften als wichtige Kritikerin der reduktionistischen Perspektive auf die Genaktivierung, weil sie eine in der Entwicklungsbiologie lange Zeit marginalisierte ‚weibliche‘ Sicht auf den Befruchtungsvorgang einnahm.82 Die heutige Ethikrätin bereitete damit der Berücksichtigung der Zytoplasmarolle in Theorien embryonaler Ent-

79 Auf Nüsslein-Volhard bezieht sich kritisch z.B. der Lebenswissenschaftler Oduncu (2003): 216. Zu seinen Positionen o. C.1.1.1. 80 Nüsslein-Volhard (2003): 8. 81 Ebenso Kummer (1998): 527. 82 Vgl. Fox Keller (1998): 52 & dies. (1996): 319ff.

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wicklung den Weg. In ihrem Vortrag weist sie deshalb darauf hin, dass das Zytoplasma bewirke, welche Gene sich ausprägen: „Zusammen mit den Faktoren im Zytoplasma, die die Gene kontrollieren, stellen die Gene so einen Bauplan für den sich entwickelnden Organismus dar, der in aufeinander aufbauenden Stufen verwirklicht wird.“83

Zweifelsohne hat Nüsslein-Volhard mit ihrer Kritik zu einem Paradigmen-Shift in der Entwicklungsbiologie beitragen. Entwicklungsvorgänge in der Embryogenese werden nicht länger ausschließlich auf die Aktivität des Zellkerns zurückgeführt und die Rolle des ‚mütterlichen Organismus‘ wird beachtet und aufgewertet.84 Nüsslein-Volhard und anschließende Embryologen nehmen folglich in der Entwicklungsbiologie eine differenzfeministische Position ein, die die Rolle des in ihren Augen weiblichen Zytoplasmas im entwicklungsbiologischem Wissen ‚ermächtigt‘ hat. Inwiefern sie dennoch einem heteronormativen Denken verhaftet bleibt und welche Funktion diese vermeintlich ausgewogenere Sicht auf embryonale Entwicklungsvorgänge im bioethischen Dispositiv hat, soll am folgenden Beispiel technizistischer Organismusvorstellungen im bioethischen Wissen geklärt werden. Denn die hier dargestellte Kritik am klassischen Organismusmodell taucht in ähnlicher Form bei Befürwortern von Stammzellforschung wieder auf. Mit einem Unterschied: Es ist eine ‚Dekonstruktion‘, die nicht nach Machtverhältnissen fragt. C.1.1.3 Lebenswissenschaftliche Netzwerktheorien des Organismus: Totipotenz als Teamleistung Lebenswissenschaftler, die Stammzellforschung befürworten, gehen ebenfalls vom totipotenten embryonalen Organismus aus. Sie interpretieren Erkenntnisse der zeitgenössischen Entwicklungsbiologie jedoch so, dass der ‚frühe Embryo‘ nicht unter die gesetzliche Definition der Totipotenz fällt. Dazu ziehen sie neuere Organismuskonzepte aus naturwissenschaftlichen System- und Netzwerktheorien heran. Der Aufsatz „Zur Problematik von Totipotenz und Pluripotenz“ von Henning

83 Nüsslein-Volhard (2003): 11. 84 Vgl. Fox Keller (1996): 317f.

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M. Beier,85 Professor für Anatomie und Reproduktionsbiologie, zeigt eindringlich, wie entwicklungsbiologisches Wissen so gewendet werden kann, dass – in Analogie zu rechtsphilosophischen und philosophischen bioethischen Argumentationen –86 die Leibesfrucht als bloße ‚potenzlose‘ Zellmasse erscheint. Seine Position soll im Folgenden dargestellt und auf dieselben Strategien bei anderen Lebenswissenschaftlern verwiesen werden. Denn sie ist paradigmatisch für eine Veränderung in den Lebenswissenschaften, in denen neben organistischen auch technizistische Organismusmodelle87 präsent sind. Zudem haben sowohl der Wissenschaftler Beier als auch seine Argumentation gegen den Begriff der Totipotenz eine Schlüsselstellung im bioethischen Dispositiv: Beier ist Repräsentant lebenswissenschaftlicher Expertise in der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung, die in Deutschland Stammzellforschung reguliert;88 und seine Positionen dienen Diskursproduzenten aus den Disziplinen Recht und Philosophie, die Stammzellforschung befürworten, als Bezugspunkt.89 Wie geht der Reproduktionsbiologe argumentativ vor? Beier zufolge ist die Definition von Totipotenz im § 8 ESchG nach ‚neuesten Erkenntnissen‘ der Entwicklungsbiologie ‚wissenschaftlich nicht exakt‘: Im Gesetzestext gelte die befruchtete menschliche Eizelle vom

85 Der Aufsatz ging aus einem Vortrag hervor, den Beier auf einem Statusseminar gehalten hatte. Die Veranstaltung mit dem Titel „Die Verwendung humaner Stammzellen in der Medizin – Perspektiven und Grenzen“ fand am 29. März 2000 im Wissenschaftszentrum Berlin statt und wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert. Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (2001): V. 86 Dazu u. C.3.1.1 & C.4.2 & C.5.2. 87 Der Begriff technizistischer Organismus geht auf Kerstin Palm zurück. Vgl. Palm (2005): 193. 88 Dazu o. B.3.9. 89 So bezieht sich die DFG in einer Stellungnahme auf Beier. Die DFG stellt eine der einflussreichsten Institutionalisierungen des befürwortenden Diskurses zur Stammzellforschung dar. Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2003): 9f. Auch Krebs bezieht sich in seinem Artikel zu Embryonenforschung auf Beier. Vgl. Krebs (1998a): 559. Ebenso Merkel (2002a): 24ff.

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Zeitpunkt der Kernverschmelzung an als Embryo. Die Regelung differenziere ferner jede totipotente Zelle als Embryo, die sich zu einem ganzen Individuum entwickeln könne.90 Beier unterstreicht, dass „hier im Singular formuliert ist, eine Zelle, jede dem Embryo entnommene totipotente Zelle.“91 Aus dieser Gesetzesformulierung will er die seines Erachtens „entscheidende gesellschaftliche, wissenschaftliche, politische Diskussion“ ableiten, die sich auf die zentrale Frage bringen lasse: „Wie lange existiert nach den [...] Teilungsschritten [einer befruchteten Eizelle] noch eine totipotente Zelle in der Embryonalentwicklung?“92 Um diese Frage zu beantworten, grenzt Beier die Totipotenz einer Zelle von der Totipotenz eines Teils der Embryoblasten ab. Der Embryoblast bildet mit dem Trophoblasten* einen etwa 200 zelligen Embryo – die Blastozyste. Sie umfasst die embryonale Entwicklung ab dem 16- bis zum ungefähr 32-Zell-Stadium. Die innere Zellmasse der Blastozyste wird nun Embryoblast genannt und jede dieser Zellen galt in der Entwicklungsbiologie* bisher als totipotent und maßgeblich für die Entstehung des Embryos.93 Beier will jedoch zeigen, dass nur ein Teil des Embryoblasten die Fähigkeit hat, die Entwicklung eines ‚ganzen Individuums‘ anzustoßen und den klassischen Definitionen von Totipotenz entspricht. Die übrigen Zellen des Embryoblasten würden jedoch in einer Art Teamarbeit lediglich dazu beitragen, dass ein Embryo entstehe:94 „In der Weltliteratur ist embryologisch-klassisch Totipotenz immer verstanden worden als die Entwicklung oder die Entwicklungsbefähigung einer Zelle zu einem ganzen Individuum. Ferner hat sich herausgestellt, dass klar wissenschaftlich definiert ist, dass auch die Entwicklung eines embryonalen Gewebeverbandes, zum Beispiel der inneren Zellmasse oder der Keimscheibe, zu einem harmonischen ganzen Individuum noch gelingen kann, wenn eine Teilung erfolgt. Auch diese embryo-

90 Vgl. Beier (2001): 56. 91 Ders. 92 Ders. 93 Vgl. ders. 57f. 94 Ders.: 58.

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nale Gewebepotenz muss man dann Totipotenz nennen, aber nicht mehr einer einzelnen Zelle, sondern sozusagen Teamwork einer bestimmten, artspezifisch bekannten Menge von Zellen, die dazu befähigt sind, schließlich ein ganzes, lebensfähiges Individuum zu bilden.“95

Der Reproduktionsbiologe äußert sich der gleichen Logik folgend ebenfalls kritisch zu einem Experiment von Thomson, auf das besonders Gegner von Embryonenforschung Bezug nehmen. Der US-Forscher hatte 1996 nachgewiesen, dass sich embryonale Stammzellen von Weißbüschelaffen in Kultur zu einem so genannten „embryoid body“ entwickeln konnten und daraus den Schluss gezogen, dass diese Zellen zu einer Embryonalentwicklung fähig seien. Laut Beier sei der Begriff embryoid body jedoch schwierig, weil dieser Embryonenkörper nicht aus einer einzelnen Stammzelle, sondern aus einem Cluster, aus einem Zusammenschluss von mehreren Zellen entwickelt, worden sei.96 In seiner Argumentation gibt Beier die Kopplung von Totipotenz und Rechtssubjekt, wie sie dem EschG eingeschrieben ist, nicht grundsätzlich auf. Die beiersche Totipotenz fällt jedoch nicht mehr unter den Subjektbegriff des EschGes: Seine totipotenten Zellen ‚machen‘ bei der Herstellung eines Embryos nur noch ‚mit‘, das heißt sie arbeiten mit anderen Zellen zusammen.97 Für die Entwicklung eines ganzen embryonalen Individuums sind sie aber nicht verantwortlich. Denn lediglich acht bis elf Prozent der isolierten Blastomeren* aus einem Achtzeller würden im klassischen Sinne als totipotent gelten.98 Diese reduzierte Totipotenz führt Beier interessanterweise auf die Mitwirkung des Zytoplasmas zurück99 und berücksichtigt damit femi-

95 Ders.: 57f. 96 Vgl. ders.: 64. 97 Bal zeigt, dass die Konzentration auf den Begriff Zusammenarbeit, der in den letzten Jahrzehnten in der Biologie stattgefunden hat, auch ein Effekt der feministischen Wissenschaftskritik am darwinschen Begriff der Konkurrenz ist. Vgl. Bal (2002): 50. 98 Vgl. Beier (2001): 64. 99 Vgl. ders.: 62. „Es ist die Eizelle, das Zytoplasma der Eizelle, das das Entscheidende schafft, damit eine neue totipotente Zelle entsteht.“ Ders.: 60.

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nistische Kritik an der Entwicklungsbiologie, die den ‚weiblichen‘ Beitrag des Zytoplasmas in Zeugungstheorien vernachlässigt sah. So hatten wie erwähnt feministische Embryologinnen in den 1970er Jahren darauf hingewiesen, dass die Aktivität des weiblichen Zytoplasmas in der embryonalen Organismusentwicklung vernachlässigt und ausschließlich die Genaktivität des männlichen Zellkerns als relevant angesehen worden sei.100 Im Netzwerkkonzept stehen nun die Genaktivität des Zellkerns und die Aktivität des Zytoplasmas gleichberechtigt nebeneinander: Ob sich eine befruchtete Eizelle zu einem ganzen Individuum entwickelt, ist in entscheidendem Maße von der Zytoplasmamasse abhängig.101 Schon mit der Etablierung einer reifen Eizelle und den ersten Furchungsteilungen lägen, so Beier, ungleiche Zytoplasmaverhältnisse* vor. 102 Bereits im Vierzell- und Acht-ZellStadium seien die Blastomeren nicht mehr identisch und diese Verteilung habe in dieser frühen Phase schon einen Einfluss darauf, „ob aus einer solchen Blastomere ein ganzes oder nicht mehr ein ganzes Individuum werden kann“.103 Daraus zieht Beier die bedeutsame Schlussfolgerung, dass die Totipotenz einer Zelle eher vor als nach dem Achtzellstadium endet: „Das heißt, dass von acht Zellen nur noch eine befähigt ist, und nicht alle acht, und eventuell von vier Zellen nur noch zwei, und nicht mehr alle vier, nach einer Isolierung sich zu ganzen Individuen entwickeln zu können.“104

Die Totipotenz einer Zelle müsse deshalb per Definition von der Totipotenz eines Teils des Embryoblasten, „also von der Teamarbeit von Zellen der Keimscheibe oder der inneren Zellmasse“, abgegrenzt werden.105 Beiers Netzwerk-Embryo ist somit zu einer Zellmasse geworden, die sich aus totipotenten und potenzlosen Stammzellen zusam-

100 Vgl. Fox Keller (1998): 52. 101 Vgl. Beier (2001): 62f. 102 Ebenso argumentiert Anthony D. Ho, der ebenfalls Mitglied der ZES ist. Vgl. Ho et al. (2000): 82. 103 Beier (2001): 64. 104 Ders.: 64. 105 Ders.: 58.

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mensetzt. Damit hat Beier den Begriff der Totipotenz differenziert und totipotente Zellen in verschiedene Arten unterteilt. Per Definition hat er einen Typ von Stammzellen geschaffen, auf den Stammzellenforschende als Forschungsrohstoff zugreifen können, ohne den Gegenstand des EschGes zu vernutzen und rechtswidrig zu handeln. Viele Befürworter von Stammzellforschung in den Lebenswissenschaften übernehmen Beiers Kritik oder argumentieren ähnlich. Die Dissoziation von Potenz und Totipotenz embryonaler Stammzellen schlägt sich auch im Referat von Oliver Brüstle nieder, das er auf demselben Statusseminar gehalten hatte. Brüstle, Neuropathologe der Universität Bonn und Geschäftsführer des Biotechnologieunternehmens Life & Brain106, war im bundesdeutschen Raum der erste Lebenswissenschaftler, dessen Forschung an Stammzellen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Er konnte die Technologie ‚erfolgreich‘ bei einer ‚Modellerkrankung‘ einsetzen.107 Für Brüstle geht es bei Embryonenforschung nicht um die Forschung an Embryonen, sondern lediglich an Zellen. Die Bezeichnung Zelle wendet er wiederum in den positiv besetzten Begriff der Spenderzelle, der Altruismus konnotieren soll. Diese zweifache Begriffsverschiebung hört sich in seinen Worten so an: „In der jetzigen Diskussion ist es sehr wichtig, einzelne Fach- und Problembereiche differenziert zu betrachten. So haben Forschungsarbeiten zur In-vitroDifferenzierung embryonaler Stammzellen primär nichts mit Embryonenforschung zu tun. Es geht weder darum, Embryonen herzustellen, noch an Embryonen selbst zu forschen. Unser unmittelbares Ziel ist es vielmehr, aus bereits etablierten und möglicherweise uneingeschränkt vermehrbaren humanen embryonalen Stammzellen Spenderzellen für solche Erkrankungen herzustellen, für die bis heute keine adäquaten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.“108

106 Vgl. http://www.lifeandbrain.com. 107 Dazu o. B.3.8.1. 108 Brüstle (2001): 115.

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John D. Gearhart, Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe und Direktor der us-amerikanischen Division of Developmental Genetics,109 schlägt vor, embryonale Stammzellen nicht als totipotent, sondern lediglich als pluripotent zu bezeichnen. Biologische Tatsachen machten das notwendig: „Wir [die Stammzellforscher in den USA] bezeichnen unsere Zellen als ‚pluripotent‘, nicht als ‚totipotent‘. Es ist interessant, dass der Begriff ‚totipotent‘ in ihrem Land dieselben Assoziationen hervorruft wie bei uns bei den Senatoren und Kongressabgeordneten. Eine ‚totipotente‘ Zelle kann nicht nur jeden anderen Zelltyp produzieren, sondern sie hat auch die Fähigkeit, all diese Zelltypen in einem Organismus zu organisieren. Sagen wir nun ‚pluripotent‘, um diesem Terminus politisch aus dem Wege zu gehen? Nein. Hier geht es um eine biologische Tatsache: Unsere Zellen können einige der extraembryonalen oder Plazentastrukturen nicht produzieren, die absolut notwendig sind, um ein Embryo zu bilden. Somit sind sie ‚pluripotent‘, sie bilden nur viele Zelltypen.“110

An anderer Stelle antwortet er deshalb auf eine Frage aus dem Publikum, ob embryonale Stammzellen pluri- oder totipotent seien: „Wissen Sie, die einzige Frage, die ich im Zusammenhang mit diesen Experimenten stellen möchte, ist, ob die so gewonnenen Strukturen in der Lage waren, einen Embryo oder einen Fetus zu bilden, wenn sie in den Uterus eingepflanzt werden. Waren sie dazu in der Lage? Die Antwort darauf ist nein.“111

109 Der US-Forscher John Gearhart erlangte 1998 internationale Bekanntheit, als er Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte. Ihm war erstmals gelungen, undifferenzierte Zellkulturen aus Stammzellen abgetriebener Föten zu entwickeln. Bisher war es nur möglich gewesen, Zellen zu züchten, die sich nicht mehr in verschiedene Gewebearten entwickeln können. Er wurde wie Thomson vom us-amerikanischen Unternehmen Geron finanziert. Vgl. Riewenherm (2001): 7. Auf Gearhart bezieht sich beispielsweise Merkel (2002a): 11. 110 Gearhart (2001): 14. 111 Ders.: 21.

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Auch Nüsslein-Volhard spricht sich für die Vernutzung embryonaler und sogar fetaler Zellen aus und baut ihre Argumentation auf einem Modell des Organismus auf, der ein komplexes Zusammenspiel von Faktoren umfasst. Sie fordert, der Mensch werde erst mit der Geburt zum Menschen und schließt ihren Vortrag auf einer Tagung des Nationalen Ethikrates so: „Wie gesagt ist es nicht die Aufgabe der biologische[n] Wissenschaft, über Schutz, Würde und Rechte menschlichen Lebens zu befinden. Aber Richtlinien für eine Einschätzung geben kann sie schon. Gewiss ist bereits die Eizelle mit dem Zytoplasma, das die Faktoren zur Instruktion des embryonalen Genoms bis zur Blastozystenbildung enthält, eine besondere kostbare Zelle (Millionen von Spermien haben sie umschwärmt und sind zu Grunde gegangen). Die befruchtete Eizelle (allerdings nicht jede, denn mehr als die Hälfte der Eier sind nicht lebensfähig) hat das gesamte Erbgut – die Summe aller Gene eines möglichen Menschen, und damit sein genetisches Programm. Um dieses zur Ausführung zu bringen, braucht es aber zusätzlich die intensive Wechselwirkung, die Symbiose, mit dem mütterlichen Organismus. Diese ist unersetzlich, und unabdingbar. Damit ist erst mit der Einnistung in den Uterus das Programm zur Menschwerdung vollständig, und erst mit der Geburt ist es ausgeführt. Erst mit der Geburt ist aus dem werdenden Menschen ein getrennter, selbstständiger Organismus, der atmet und einen eigenen unabhängigen Stoffwechsel hat, geworden. Sicher ist der Säugling noch bedürftig, aber er wird jetzt von außen ernährt und kann daher zur Not auch ohne Mutter weiterleben. Dann ist der Mensch ein Mensch. Und da sind sich wirklich alle einig.“112

Zweifelsohne bleibt Nüsslein-Volhard ihrer differenzfeministischen Stoßrichtung in der Entwicklungsbiologie treu: Der mütterliche Beitrag, das Zytoplasma, so die Entwicklungsbiologin, und ihr Körper sind wichtig und spielen eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle wie der Zellkern und die Genaktivität in der Entwicklung eines embryonalen Organismus. Gleich Beier betont Nüsslein-Volhard die Interaktivität von verschiedenen Komponenten in der Embryonalentwicklung und verschiebt die Organismusentstehung auf den Zeitpunkt der Geburt. Dennoch zeigt sich hier, wie ein differenzfeministischer

112 Nüsslein-Volhard (2003): 24. Vgl. dies. (2004): 189f.

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Ansatz – gerade weil es das Komplement zum männlichen Diskurs der Genaktivität bildet – nur die andere Seite der heteronormativen Macht über das Leben darstellt und die Inwertsetzung des Körpers unterstützt. Nüsslein-Volhard betont ausdrücklich eine Perspektive der Frau, ohne die der Embryo sich überhaupt nicht entwickeln könnte. Doch weil die Firmeninhaberin die Einbettung ihrer eigenen Begriffe in neoliberale Prozesse ausblendet, liefert sie einen entwicklungsbiologischen Organismusbegriff, der ohne Probleme von Argumentationen pro Stammzellforschung in den anderen bioethischen Disziplinen aufgenommen werden kann.113 Die Positionen verbindet, dass sie den Begriff Totipotenz dissoziieren und den Embryo entwicklungsbiologisch nicht länger als menschliches Leben begreifen. Zugleich versuchen sie, die Annahmen als neueste Erkenntnis der Entwicklungsbiologie und somit als naturwissenschaftliche-empirische Fakten zu etablieren. Was die zitierten Lebenswissenschaftler als zeitgenössischeres und forschungsrelevanteres Wissen bezeichnen, ist jedoch vielmehr ein wissenschaftlicher Shift in den Organismusmodellen der Entwicklungsbiologie oder besser die Wiederbelebung eines alternativen Modells des Organismus: des Organismus als multifaktorielles System. Stand wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt lange Zeit das Bild des klassischen genaktiven Organismus im Vordergrund, so konkurriert es nun mit dem netzwerkartigen Organismus. Im Hinblick auf das erste Modell gingen Embryologen davon aus, dass die Entwicklung des Organismus durch die Genaktivität des neuen Zellkerns einer befruchteten Eizelle angestoßen wird und sich diese Totipotenz des Zellkerns auch in den durch weitere Teilungen entstehenden Embryozellen hält. Daneben ist ein weiteres entwicklungsbiologisches Organismusmodell entstanden, das seine Entwicklungsbewegung nicht kausal-reduktionistisch auf die genetische Information der einen befruchteten Eizelle reduziert, sondern von einem Systemzusammenhang von Zellen ausgeht. Im Zentrum dieses technizistischen Organismusmodells steht, so Fox Keller, nicht mehr die Erforschung der Genaktivität, sondern der Genaktivierung.114 Lebenswissenschaftler fokussieren nicht länger ausschließlich

113 Dazu u. C.4.6. 114 Vgl. Fox Keller (1996): 317.

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Gene, die die Entwicklung des Organismus steuern und kontrollieren, sondern gehen von einer komplexen biochemischen Dynamik von Zellen aus, „die untereinander in ständiger Kommunikation stehen“.115 Fox Keller selbst drückt diesen Sachverhalt so aus: „Die Befunde, die daraus resultieren, deuten weder auf eine Determinierung durch das Cytoplasma noch durch den Zellkern, sondern eher auf ein komplexes, aber hochgradig koordiniertes System regulierender Dynamiken, die gleichzeitig auf allen Ebenen operieren: auf der Ebene der Transkriptionsaktivierung, der Translation, der Proteinaktivierung und der interzellulären Kommunikation – im Zellkern, im Cytoplasma und im Organismus als Ganzem.“116

Verfechter dieses Organismusmodells beziehen sich interessanterweise einerseits auf Modelle, die in der Embryologie existierten, bevor genetisches Wissen dominant wurde.117 Andererseits sind auch Elemente der naturwissenschaftlichen Systemtheorie in solche Ansätze eingegangen. Ihr Einfluss spiegelt sich in einer Systemorientierung in den Biowissenschaften wieder, in dem „biologische Wirkungsvorgänge“ auf ihren Systemcharakter hin analysiert“ werden bzw. „von der Interaktion verschiedener Faktoren innerhalb eines Systems“ ausgegangen wird.118 Der frühe Embryo wird als System von Zellen konzipiert, als Zellverband, dessen einzelne Zellen, wie Beier es ausdrückt, in der Entwicklung Teamarbeit leisten und als Netzwerk interagieren.119 Als Endprodukt dieser multifaktoriellen Zusammenarbeit entsteht dann der neue Organismus des Embryos. Oduncus Metapher der einen totipotenten Zelle, die für den selbstzweckhaften und autonomen Entwicklungsbeginn des Organismus steht und Beiers Organismusbegriff eines Netzwerkes von mehr oder weniger totipotenten Zellen, die erst in der Interaktion die Embryo-

115 Dies.: 316. 116 Dies.: 317. 117 Vgl. dies.: 313f. 118 Burren/Rieder (2000): 85 119 Ebenso Gearhart: „Entscheidend ist, dass das Schicksal einer Zelle in einem Säugetierembryo von dem Umfeld, das sie sieht, regelrecht diktiert wird.“ Gearhart (2001): 15. Vgl. auch Brüstle (2001): 112.

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entwicklung bewirken, sind in der Embryologie somit zwei konkurrierende wissenschaftliche Standpunkte. Auf der einen Seite wird Leben auf die Realpotenz des Zellkerns der befruchtenden Spermazelle reduziert. Auf der anderen Seite wird Leben grundsätzlich als Systemleistung begriffen. Dabei kann Beiers Organismusbegriff nicht als wahrer, jedoch sicherlich als zeitgenössischer beschrieben werden. Denn sein Verständnis vom Organismus harmonisiert mit einem Menschenbild, das auch in außermedizinischen Gesellschaftsbereichen vorherrscht und den Kalkülen des Neoliberalismus entspricht: Der Mensch als Teil eines auf den ersten Blick dehierarchisch erscheinenden Netzwerks, in dem nicht mehr der Chef der einzig aktive und kontrollierende Part ist, sondern Mitarbeiter in einem Team verschiedene Funktionen übernehmen und erst zusammen ein Endprodukt gestalten. Dabei kontrollieren sie sowohl sich selbst als auch ihre Kollegen. C.1.1.4 Körper ohne Grenzen? Wertet Oduncu den Frauenleib im Begriff des uterinen Umfeldes noch zu Gunsten des unantastbaren integralen Körpers des Keimlings ab, so wird im Diskurs der Befürworter jeder Körper zu einem Körper ohne Grenzen, dessen Substanzen innerhalb und außerhalb seiner selbst ausgetauscht werden können. Der Körper wird nicht nur selbst als Netzwerk konzipiert, sondern als Element innerhalb eines Netzes von Netzwerkkörpern gedacht. Theise und Harris begreifen den Körper in ihrer postmodernen Biologie der Stammzelle beispielsweise so: „Von einem molekularen Standpunkt aus, der von interagierenden biomolekularen Akteuren in flüssigen Zuständen ausgeht, könnte der Körper ebensogut als ein flüssiges Synzytium120 begriffen werden, wobei Zellwände lediglich die halbdurchlässigen Zwischenwände flüssiger Innenräume repräsentieren.“121

120 Ein Synzytium bezeichnet in der Zellbiologie eine mehrkernige Zelle, die durch Verschmelzung von mehreren Einzelzellen oder durch Kernteilungen ohne anschließende Teilung des Zytoplasmas entsteht. Vgl. http://flexikon.doccheck.com. 121 „From the molecular point of view, with interacting biomolecular agents in fluid states, the body might just as readily be conceived as a fluid syn-

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Theise und Harris schließen von Organismuskonzepten, die zunächst Prozesse auf molekularer Ebene veranschaulichen sollen, auch auf die Beschaffenheit des Körpers im Allgemeinen. Auch im Diskurs der Befürworter stehen Prozesse auf zellulärer Ebene für ein Verständnis des ganzen Körpers. Zum anderen drückt sich das Modell eines fragmentierten Körpers auch darin aus, dass als zentrale Ziele der Stammzellforschung immer wieder die Ersetzung defekter Körperteile, Organe oder Zelleinheiten genannt werden. Sowohl Beier als auch NüssleinVolhard sprechen sich etwa für die Legitimierung der Stammzellforschung aus, weil aus Stammzellen Körpergewebe gezüchtet und auf andere Körper übertragen werden könnte: „Mögliche Anwendungsgebiete [von Stammzelltherapien] sind vor allem Krankheiten, bei denen bestimmte Zelltypen degenerieren und nicht vom Körper ersetzt werden können, zum Beispiel Kinderdiabetes (Typ 1) und Morbus Parkinson, auch Multiple Sklerose.“122

Bei Beier und Nüsslein-Volhard gilt folglich weder der Körper der Frau, noch der Körper des Embryos als integer und ganz. Stattdessen wird der Körper als Systemzusammenhang gedacht, dessen Grenzen nicht starr sind, sondern durchlässig oder sogar aufgelöst werden. Die Substanzen und Teile dieses flexibilisierten Körpers sollen dann in biomedizinischen Praktiken frei zirkulieren können.123 Dieses Körperkonzept der vielfachen Rekombination und Verschaltung124 wird auch im Bild des „universellen Spenders“ deutlich,

cytium, cell walls simply representing semi-permeable partitioning of the fluid compartment.“ Theise/Harris (2006): 404. Übers. v.V. 122 Nüsslein-Volhard (2004): 187. Vgl. dies.: 23. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft beschreibt die möglichen Erfolge einer Transplantation von Stammzellen oder den daraus gewonnenen Geweben so: „Menschen mit chronischen, aber auch akuten Organausfällen infolge vererbter oder erworbener Krankheiten würden von solchen Therapieansätzen bezüglich Lebenserwartung und Lebensqualität sehr profitieren.“ Deutsche Forschungsgemeinschaft (2003): 1. Ebenso Zander (2003): 16. 123 Vgl. Fox Keller (1996): 329. 124 Vgl. Haraway (1995): 60.

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das im lebenswissenschaftlichen Diskurs zur Stammzellforschung vielfach verwendet wird. Für den universalen Spender sollen beliebige Mengen an Organen oder Geweben mit Hilfe des ‚therapeutischen Klonens‘ erzeugt werden. Der sogenannte Spender stellt dafür eine Körperzelle zur Verfügung, deren ‚Erbgut‘ in die entkernte Eizelle einer Frau eingefügt werden soll. Diese befruchtete Zelle beginnt sich zu teilen und soll sich in Körpergewebe entwickeln, das dem universellen Spender implantiert werden kann. Gearhart beschreibt den universellen Spender so: „Es gibt andere mögliche Wege, um dieses Ziel [das der minimalen Gewebeabstoßung] zu erreichen. Einer davon wird sehr kontrovers diskutiert. Er wird als ‚therapeutisches Klonen‘ bezeichnet. Wir befassen uns nicht mit diesen Arbeiten. Wir glauben, dass der effizienteste Weg für dieses Verfahren über den ‚universellen Spender‘ verläuft. Beim ‚therapeutischen Klonen‘ wird dem Patienten eine Zelle entnommen. Danach wird deren Kern in ein entkerntes Ei eingebracht. Hieraus werden embryonale Stammzellen gewonnen, zum spezifischen Zelltyp differenziert und danach zurück in den Patienten implantiert, so dass diese Zellen immunologisch genau zu den Zellen des Patienten passen.“125

Der universelle Spender ist ein Beispiel dafür, dass der Netzwerkkörper nicht nur Grenzen zwischen verschiedenen Körpern aufbricht, sondern auch innerhalb eines individuellen Körpers. Denn die Zelle wird dem Körper des Patienten entnommen, mit Körpersubstanzen aus einem anderen Körper fusioniert, im Labor weiterverarbeitet und das transformierte Körpermaterial wieder in den Patientenkörper eingefügt. In Gearharts Beschreibung des universellen Spenders wird jedoch allein der Nutzen für den Empfänger in den Vordergrund gestellt, wodurch geschlechtliche Hierarchien in der biomedizinischen Praxis ignoriert werden. Denn zum Forschungsklonen werden eine enorme Anzahl weiblicher Eizellen benötigt: Um eine einzelne embryonale Stammzelllinie zu erzeugen, sind durchschnittlich mindestens 280 Eizellen nötig. Bei „Unfruchtbarkeitsbehandlungen“ von Frauen werden

125 Gearhart (2001): 17.

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Eizellen produziert, die jedoch bei weitem nicht genügen.126 Sie werden zudem in einer oft belastenden Prozedur aus dem Frauenleib gewonnen. Die Entnahme einer Körperzelle ist dagegen weit weniger problematisch. Die ‚eigentliche‘ Spende oder besser Gabe wird in diesem Prozess somit von der Frau geleistet. Sie taucht bei Gearhart jedoch nur im Bild des Eies auf. Die neue Figuration des Netzwerkkörpers baut somit auf alten Hierarchien auf. Denn der Frauenleib wird in biomedizinischen Verflüssigungsprozessen von Körpergrenzen letztendlich nicht so freigesetzt, dass Frauen beliebig jede Körpersubjektivität annehmen oder Erfahrungen jenseits medizinisch-therapeutischen Wissens machen könnten. Stattdessen soll der Körper ohne Grenzen vor allem einen Körper bezeichnen, auf den Ärzte und Bioindustrie einen unbegrenzten Zugriff hätten.127 Dem lebenswissenschaftlichen Diskurs sind jedoch nicht nur hierarchisierende Geschlechtercodierungen eingeschrieben, sondern auch die Norm des gesunden nicht-behinderten Menschen. Denn leitendes Ideal ist ein Körper, der durch Stammzelltherapie aus- und verbessert werden kann. Die Metapher des nicht-behinderten Körpers begrenzt sich dabei nicht auf Lebenswissenschaftler, die Stammzellforschung befürworten. Auch Biomediziner, die Forschung an embryonalen Stammzellen ablehnend gegenüber stehen, reflektieren oft nicht, dass ihren Argumentationen spezifische Annahmen über Behinderung, Krankheit und Körper zugrunde liegen, die für Menschen mit Behinderung diskriminierend sein können oder zumindest nicht immer rein positiv besetzt sind. So wird beispielsweise im Rahmen einer Ringvorlesung der Universität Hamburg, deren Ziel die „Selbstreflexion der Universität“ in bioethischen Fragen war, kritisch auf die fraglichen Erfolge von Forschung mit embryonalen Stammzellen hingewiesen. Zudem werden die wirtschaftlichen Interessen und die ethischen Probleme, die mit der Vernutzung von Leben entstehen würden, thematisiert.

126 Koechlin (2001): 3. 127 Für Gearhart ist deshalb auch „die Beschaffung des [fötalen] Materials – das heißt die Zustimmungsproblematik“ und die Klärung, „wessen Eigentum dieses Material ist“ eine der wichtigen Fragen in der Arbeit von Medizinern. Gearhardt (2001): 17.

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Forschung an adulten Stammzellen sei stattdessen eine ernst zu nehmende Alternative.128 Für sie spreche, dass sie leicht gewinnbar wären, es keine ethischen Bedenken dagegen gebe und sie zum Teil gut expandierbar seien. Doch das Ziel der Forschung mit adulten wie mit embryonalen Stammzellen ist, defekte Teile, Organe etc. durch Gewebezüchtungen austauschen zu können. Zander et al. drücken das so aus: „Die expandierten und charakterisierten Zellen werden [...] als Stammzellen eingesetzt, um gewebsspezifische, differenzierte Zellen in vivo zu generieren, die in der Lage sein sollen, bestehende Defekte zu reparieren und die volle Funktionsfähigkeit des entsprechenden Organs wieder herzustellen.“129

Christopher Baum, Hämatologe und Onkologe beschreibt das Ziel von adulter Stammzellforschung ebenfalls als die Optimierung eines defekten Körpers: „Besonders erfolgversprechend ist die Kombination der Gentherapie daher mit der Stammzelltherapie. Hier werden Zellen dem Körper entnommen, die in der Zellkultur vermehrungsfähig sind und nach Rückgabe in den Körper das Potential haben, defekte Organfunktionen durch Reparatur und Rekonstitution wiederherzustellen.“130

Mit der Betonung, dass Stammzellforschung und –ersatztherapien ermöglichen, Körperdefekte ausbessern zu können, nehmen Lebenswissenschaftler implizit an, dass ein den Normen entsprechender Körper für alle erstrebenswert ist. Lebenswissenschaftler argumentieren deshalb oft, dass sie im Dienste von Behinderten forschten und ihre Projekte darauf zielten, individuelles Leid zu lindern. Damit setzen sie aber auch voraus, dass Menschen mit Behinderung oder mit chronischen Krankheiten mit ihrem körperlichen Zustand nicht zufrieden sind. Sie reagieren jedoch ebenso wie Menschen, die als normal gelten, unterschiedlich auf die Heilungsversprechen von Lebenswissen-

128 Zur Kritik am Begriff adulte Stammzellen o. A. 129 Zander (2003): 16. 130 Baum (2003): 78.

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schaftlern. Manche, sicher die Mehrzahl, versprechen sich davon Vorteile für sich selbst. Es gibt jedoch auch Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, die sich nicht angesprochen fühlen oder ein ambivalentes Verhältnis gegenüber den Forschungsversprechen haben. Hans Zähner, an Parkinson erkrankt und emeritierter Mikrobiologe, hat kritisiert, dass sich Menschen mit unheilbaren Krankheiten auch ausgenutzt fühlen, wenn sie als diejenigen angeführt werden, die immens von Stammzellforschung profitieren würden. Denn sie würden vorgeschoben, um die Widerstände gegen Stammzellforschung zu überwinden. Auch würde jeder „neue Therapievorschlag so formuliert, dass er Hoffnungen weckt.“ Doch mit den Enttäuschungen bliebe der Patient dann allein.131 Behinderung wird in lebenswissenschaftlichen Diskursen zudem meist mittels eines medizinischen Modells gefasst: Behinderung ist ein Defekt und wird im einzelnen Individuum lokalisiert. Zugleich werden die sozial-gesellschaftlichen Umstände, die Menschen mit Behinderung zu Behinderten machen, ausgeblendet. Biomedizinische Forschung erscheint als einzige ‚Lösung‘ des ‚Problems Behinderung‘. Chronische Erkrankungen und Behinderungen sind jedoch das Resultat einer Normalisierungsgesellschaft, die Gesundheitssysteme, Forschungsziele, Architektur, Arbeitsplatzanforderungen und vieles mehr auf einen funktionierenden, leistungsorientierten und flexiblen (Erwerbsarbeits-)Menschen ausgerichtet hat. Die Heilungsversprechen der Stammzellforschenden, die immer auch suggerieren, dass Krankheit und Behinderung eines Tages verschwinden werden, tragen deshalb nicht unerheblich dazu bei, dass die tatsächlichen Ursachen von Behinderung nach wie vor kaum reflektiert werden. C.1.1.5 Die heteronormative (Re-)Biologisierung des Lebens und von Elternschaft Elternschaft wird im Diskurs der Lebenswissenschaftler als heteronormatives Ereignis verstanden: Die Entstehung menschlichen Lebens wird grundsätzlich zweigeschlechtlich gedacht und diese Zweigeschlechtlichkeit wird wiederum biologisch begründet. Zentral für ein

131 Vgl. Bentele (2002): 71f.

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heteronormatives Verständnis von Elternschaft ist die Metapher der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. So heißt es bei Oduncu: „Der Mensch ist von Natur aus Mensch, weil dessen Eltern selbst Menschen sind. Der Begriff [des Menschen] drückt also eine reale Wesenheit aus, die ursprünglich und vorgegeben ist. Die Entwicklung des Menschen ist von seinem Anfang an, das heißt ab der Befruchtung, in einen unauflöslichen biopsychischen Dialog und ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem heranwachsenden Embryo und seiner Umwelt (mütterlicher Organismus) eingebunden.“132

Der Lebensbeginn, die Definition vom Menschen wird auf die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle reduziert und beide werden wiederum als Repräsentanten von Mann und Frau begriffen. Der Lebensanfang wird folglich im entwicklungsbiologischen Wissen auf einen molekulargenetischen Prozess verengt, in dem zwei binärgeschlechtliche Entitäten aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit heterosexuell interagieren. Diese lebenswissenschaftlichen Interpretationen von Elternschaft können als Versuch gelesen werden, einem möglichen ‚debiologisierenden‘ und ‚entgeschlechtlichenden Impetus‘ neuer Reproduktionstechnologien entgegenzutreten. Anders ausgedrückt: Der Einsatz neuer Technologien bringt einmal mehr auf den Punkt, dass Fortpflanzung immer schon ein gesellschaftlich bedingtes Ereignis ist. Vor allem transgendere und queere Positionen haben diesen Aspekt von NRTs aufgegriffen und unterstrichen, dass sie zu einer ‚Entgeschlechtlichung‘ und ‚Entheterosexualisierung‘ der Fortpflanzung beitragen könnten. Reproduktionstechnologien wie die In-vitro-Fertilisation (IVF) könnten, so die Argumentationen, die Entkopplung von heteronormativem Geschlechtsakt, Schwangerschaft, Geburt und anschließender Kindererziehung weiter in Frage stellen. Durch die IVF sei die biologisch-heterosexuelle Dimension des Zeugungsaktes an sich in Frage gestellt worden, weil die Befruchtung jetzt von vorne herein außerhalb des weiblichen Körpers, im Reagenzglas, stattfinden kann. Darüber hinaus sei die Institution der Mutter- und der Vaterschaft mit einer neuen Qualität fragmentiert worden. Neben dem Verständnis

132 Oduncu (2003): 217.

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von Mutterschaft, die die soziale und biologische Mutter in einer Person lokalisiert, entstünden mit der IVF drei Möglichkeiten, Mutter zu sein: eine ‚genetische‘, von der die Eizelle stammt, eine ‚austragende‘, die neun Monate schwanger ist und das Kind gebiert sowie eine soziale Mutter, die das Kind versorgt. Auch könne es mittlerweile einen genetischen Vater geben, von dem das Sperma stammt und einen sozialen, der sich um das Kind kümmert.133 Diskurse der Befürworter von Stammzellforschung denken Elternschaft und die Entstehung von menschlichen Leben ebenfalls als biologisch und zweigeschlechtlich bestimmt. Ihre Argumentationen weisen jedoch gewisse Ähnlichkeiten mit queer/transgenderen Perspektiven auf die neuen Technologien auf. So lehnen es beide Stränge ab, eine allgemeine Definition vom Menschen von der Befruchtung abzuleiten. Anders als transgendere und queere Positionen verstehen lebenswissenschaftliche Befürworter von Stammzellforschung Lebensbeginne und Elternschaft jedoch nicht gänzlich als gesellschaftlich bedingt, die Biologisierungen setzen nur an einem anderen Punkt an: Ausgangspunkt ist ebenfalls die teleologische Entwicklung der befruchteten Eizelle. Biologische Elternschaft wird jedoch in diesem Entwicklungsprozess als zeitlich später einsetzend konzipiert. So geht Nüsslein-Volhard beispielsweise davon aus, dass Elternschaft erst mit der Geburt beginne: „Erst mit der Geburt ist aus dem werdenden Menschen ein getrennter, selbstständiger Organismus, der atmet und einen eigenen unabhängigen Stoffwechsel hat, geworden. Sicher ist der Säugling noch bedürftig, aber er wird jetzt

133 So zum Beispiel Mense (2004): 157. Fragmentierte Elternschaft ist zweifelsohne nichts gänzlich Neues. Mittels spermadurchtränkter Tampons ist der heterosexuelle Geschlechtsakt beispielsweise bereits vor Entstehung von NRTs umgangen worden. Die Frauenheirat in Afrika ist ein weiteres Beispiel für die bewusste Fragmentierung von biologischer und sozialer Vaterschaft. Für den Hinweis danke ich meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Ulrike Schultz. Die Probleme, die mit solchen queer-transgenderen Argumentationen verbunden sind, werden im letzten Kapitel aus einer interdependenten Perspektive diskutiert.

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von außen ernährt und kann daher zur Not auch ohne Mutter weiterleben. Dann ist der Mensch ein Mensch. Und da sind sich wirklich alle einig.“134

Auch die Versuche von Forschern, den Frauenkörper im Reproduktionsprozess ganz zu ersetzen, kommen Forderungen der Entgeschlechtlichung recht nah. So legt bereits 1992 das Team von Yoshinori Kuwabara, Juntendo Universität in Tokio, Ziegen-Föten in Plastikwannen mit Fruchtwasser. Ihre Nabelschnüre verbinden sie mit Maschinen, die Nährstoffe zufügen und Abfallprodukte entfernen. Die Föten überleben auf diese Weise bis zu zehn Tagen. Im Falle von Fehl- oder Frühgeburten, glaubt der Forscher, könnte so die Gebärmutter ersetzt werden.135 Im Mai 2002 wird dann über Forschungen berichtet, die eine menschliche Gebärmutter künstlich herstellen sollen: Hung-Ching Liu und ihr Team vom Cornell University’s Center for Reproductive Medicine and Infertility kleiden mit speziellen Zellen eine Gebärmutter aus und setzten sie nach einer Behandlung mit Hormonen und Wachstumsfaktoren auf ein Gerüst aus biologischem Material. Dort wachsen die Zellen durch die Zugabe von Nährungsstoffen und Hormonen zu Gewebe, während sich das Gerüst nach und nach auflöst. Schließlich werden Embryonen aus IVF-Programmen in das Laborgewebe gesetzt, die sich an die Wand heften und einnisten. Aufgrund der us-amerikanischen Bestimmungen zur IVF bricht Liu den Versuch jedoch nach sechs Tagen ab. Die Vorteile dieser Versuche beschreiben die Forscher zum einen damit, dass kranken Frauen auf diese Weise ermöglicht werden könnte, Kinder zu haben. Zum anderen sei die künstliche im Gegensatz zur natürlichen Gebärmutter sicher. Denn Schadstoffe wie Alkohol und Medikamente der Mutter könnten dem heranwachsenden Leben nichts anhaben. Sowohl Liu als auch Kuwabara glauben daran, dass die künstliche Gebärmutter, in der ein Kind neun Monate wächst, in wenigen Jahren Realität sein wird.136 Leitend für die Interpretationen der Bioethiker ist somit nach wie vor ein im nordamerikanischen und europäischen Raum dominantes Verständnis von Verwandtschaft als Bluts- oder als genetisch begrün-

134 Nüsslein-Volhard (2003): 24. 135 Vgl. McKie (2002). 136 Vgl. Weß (1992): 23f.

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dete Verwandtschaft, das darüber hinaus den heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Körper als Basis einer normalen Fortpflanzung setzt.137 Für die Frage, an welcher Stelle die Rebiologisierungen einsetzen, sind jedoch die gesellschaftspolitischen Motive von Bedeutung, die den Einsatz der Argumentationen leiten. So werden die Normen heteronormativer Eltern- und Verwandtschaft in den Diskursen der befürwortenden Lebenswissenschaftler erst ab der Geburt rebiologisiert, da eine frühere einer Vermenschlichung gleichkäme, wie sie die Gegner anstreben. Es handelt sich somit sowohl in den Diskursen der Befürworter als auch in jenen der Gegner um strategische Rebiologisierungen – für die heteronormative Vorstellungen vom Lebensbeginn sowie von Elternschaft nach wie vor hilfreich sind. C.1.2 Zusammenfassung Der lebenswissenschaftliche bioethische Diskurs zur Stammzellforschung wird von der Diskussion um den Begriff Totipotenz bestimmt. Zwei konträre Definitionen von Totipotenz haben sich dabei als hegemonial herauskristallisiert: Die erste beruht auf dem klassischen Organismusbegriff der Embryologie und versteht Totipotenz als das Potential einer befruchteten Eizelle, sich zu einem ganzen Individuum zu entwickeln. Der Embryo stellt aus dieser Perspektive die kleinste Einheit des menschlichen Organismus’ dar. Der zweite Begriff konzipiert Totipotenz als das Ergebnis einer ‚Teamwork‘ verschiedener Zellen: Totipotenz – und folglich ein ganzes Individuum – entstehen erst durch die Zusammenarbeit verschiedener Zellen, weshalb nur einige Zellen des Embryos im alten Sinne als totipotent gelten können. Beide Ansätze verstehen ihre Erkenntnisse als ‚hard facts‘ und bloße Abbildungen natürlicher Vorgänge. Dieses Selbstverständnis des lebenswissenschaftlichen Diskurses als Produzent von empirischem Tatsachenwissen ist für die Frage von Geschlechtercodierungen und Körperverständnissen relevant. Denn die lebenswissenschaftlichen Ansätze zur Stammzellforschung basieren auf Annahmen von Geschlecht und auf Erkenntnissen aus Geschlechtertheorien, haben aber keinen Begriff von Gender: Lebenswissenschaftliche Begriffsbil-

137 Vgl. Mense (2004): 154.

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dungen wie Totipotenz, Embryo oder Organismus blenden die sie konstituierenden Geschlechtercodierungen aus und tragen deshalb dazu bei, dass Fragen von Geschlecht und Körper in der biomedizinischen Praxis rund um die Stammzellforschung unsichtbar gemacht werden. Die Konstruktionen von Körper und Geschlecht in den beiden Argumentationslinien sind jedoch unterschiedliche. Lebenswissenschaftler, die den Embryo vor der Vernutzung schützen wollen, dient der klassische Organismusbegriff dazu, die Körperlichkeit des Embryos hervorzuheben und sein leibliches Menschsein biologisch zu begründen. Das Verständnis der Frau als Unter-Leib wird mit diesem Organismusbegriff jedoch ebenfalls reproduziert: Die Körpersubjektivität des Embryos wird auf-, die der Frau hingegen als maternal-uterines Umfeld abgewertet. Die Privilegierung des Embryos und die Abwertung der Frau resultieren aus der Geschlechtergeschichte des klassischen Organismusbegriffs. Denn mit Entstehen des biologischen Organismusbegriffs im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde auch Geschlecht als Organismus rekonzipiert und das heißt als natürliches inneres Wesen der beiden Geschlechter. Dabei wurde die Frau anders als der Mann auf ‚ihre Natur‘ festgeschrieben: den Sinnen machtlos ausgeliefert, durchdrungen von Sexualität, unfähig zu ‚höheren‘ wissenschaftlichen Tätigkeiten oder zur Vernunft. Kurzum: alle „affektiven und intellektuellen Fähigkeiten [der Frau wurden] auf physische Sinneswahrnehmungen“ reduziert.138 Dem Uterus wurde eine besonders wirkmächtige Rolle in der Definition des weiblichen Geschlechtscharakters und der Frau zugesprochen und Mutterschaft als die wichtigste moralisch-biologische Funktion der Frau in der Gesellschaft festgelegt.139 Umgekehrt wurden heteronormative Geschlechtervorstellungen herangezogen, um dem klassischen Organismusmodell zum Durchbruch zu verhelfen. Das Ei und sein Zytoplasma wurden als passiver weiblicher Beitrag, das Sperma mit dem Zellkern hingegen als aktives männliches Element im Zeugungsvorgang begriffen. In diesen Metaphern der Organismusentwicklung sind somit auch geschlechtlich co-

138 Honegger (1991): 134. Vgl. dies. 137 & 144. 139 Vgl. dies.: 141 & 148.

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dierte Körperverständnisse eingeschrieben: Denn das Ei wird vor allem mit dem weiblichem Körper, der Materie, assoziiert. Der Zellkern wird hingegen mit dem entkörperlichten und deshalb höherwertigen Prinzip der belebenden Seele gleichgesetzt.140 Lebenswissenschaftlich wurde Elternschaft deshalb als heterosexueller Vorgang begriffen, was sich bis in den heutigen bioethischen Diskurs fortgesetzt hat: Die befruchtete Eizelle ist biologischanthropologisch betrachtet ein Mensch, weil er in einem natürlich heterosexuellen Vorgang entstanden ist. Diese heteronormativen Auffassungen von Elternschaft stehen zu den ‚tatsächlichen‘ biotechnologischen Vorgängen in einem paradoxen Verhältnis. Denn mit den neuen Reproduktionstechnologien entsteht die Möglichkeit, Elternschaft zu ‚desexualisieren‘ und zu fragmentiert. Neben der ‚genetischen Mutter‘, die ihre Eizelle gibt, kann es eine ‚biologische Mutter‘ geben, die das Kind austrägt und eine oder viele soziale Mütter, die das Zusammenleben mit dem Kind gestalten. Auch Vaterschaft ist so kein eindeutiger Begriff mehr und kann ebenfalls in zwei oder mehrere Väter gesplittert werden: einen, der ‚zeugt‘ und weitere, die mit dem Kind leben. Darüber hinaus können andere geschlechtliche Akteure am Fortpflanzungsprozess beteiligt sein, die das Konzept heterosexueller Elternschaft sprengen: Mediziner, Samenbankinhaber oder weitere enge Bezugsperson, die weder Frau noch Mann sind, um nur einige zu nennen. Der zweite Strang begreift den Körper als Netzwerk. Lebenswissenschaftler versuchen, den klassischen Begriff der Totipotenz als wissenschaftlich veraltet darzustellen: Nach ‚neuesten entwicklungsbiologischen Erkenntnissen‘ entstehe Totipotenz erst durch Teamwork, weil in einem „embryonalen Gewebeverband“ immer viele Zellen zusammenarbeiten würden. Auch seien manche Zellen in diesen Prozessen totipotente als andere. Dabei ist die differenzfeministische Kritik am klassischen Organismusmodell in diese Argumentation integriert worden. Denn ob ein Embryo ausgebildet werde, hinge nicht allein vom Zellkern des männlichen Spermas ab, sondern sei ein komplexes Zusammenwirken vieler Faktoren, unter denen auch das weibliche Zytoplasma* eine ent-

140 Vgl. Burren/Rieder (2000): 111. Vgl. auch Fox Keller (1996): 319.

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scheidende Rolle spiele. Weder der Frau noch dem Embryo wird folglich in neueren lebenswissenschaftlichen Ansätzen eine privilegierte (Körper-)Subjektivität zugeschrieben. Stattdessen dominieren Modelle des Körpers, in denen seine Grenzen nicht länger eindeutig bestimmbar sind – sowohl innerhalb eines als auch zwischen verschiedenen Körpern. Das Bild des universellen Spenders ist für die Auflösung von Körpergrenzen paradigmatisch. Denn für den universellen Spender wird eine Zelle aus seinem Körper entnommen und in die Eizelle aus einem Frauenkörper eingefügt. Diese Fusion wird in den ‚Spender‘körper rückübertragen. Damit gelten aber sowohl die Frau als auch der Embryo in diesem Szenario nur noch als Körperrohstoffe, die biotechnologisch verarbeitet werden sollen – verarbeitet um dem Wohl des Patienten und vor allem dem Forschungsinteresse des Forschers zu genügen.

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C.2 T HEOLOGISCHE D ISKURSE – G OTTEBENBILDLICHE E IGENLEIBLICHKEIT DES E MBRYOS , SÜNDIGES WEIBLICHES F LEISCH UND HETERONORMATIVE L EBENSVIELFALT Die Sache der Theologie und der Fokus des öffentlichen Bewußtseins konvergieren im Thema ‚Leben‘. EILERT HERMS141 Denn beim ‚Leben‘ handelt es sich nicht mehr, wie beim Fötus, um eine radikale Veränderung im Körpererlebnis, sondern um einen Vorgang, in dem dieses Erlebnis ausgelöscht wird. Jenes ‚Leben‘, das den gegenwärtigen Diskurs mit seiner ethischen Selbstherrlichkeit überragt, gehört in die Geschichte von Trug und Wahn – oder vielleicht von Religion – und nicht in die Geschichte des Körpers. BARBARA DUDEN142

C.2.1 Koordinaten des theologisch-ethischen Diskurses zur Stammzellenproblematik Gegenstand des folgenden Kapitels ist der theologische, oder genauer: der christlich-theologische Diskurs zu Stammzellforschung. Er umfasst katholische und protestantisch-evangelische Positionen gleichermaßen.143 Ich konzentriere mich im Folgenden ausschließlich auf

141 Das Zitat ist dem Vorwort eines Beitragsbandes entnommen. Er versammelt Vorträge, die 2002 auf dem elften Europäischen Kongress für Theologie Leben. Verständnis. Wissenschaft. Technik gehalten wurden: Herms (2005): 9. 142 Duden (1991): 122. 143 Unterschiede existieren sowohl zwischen als auch innerhalb der beiden konfessionellen Ethiken. Ich bezeichne sie zwecks Lesbarkeit dennoch als ‚den theologisch-ethischen Diskurs‘. Zu den Parallelen und Unter-

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christliche Positionen, weil es mir nicht um den Entwurf einer theologischen Ethik geht, sondern um die kritische Rekonstruktion theologischer Bioethiken. Diese folgt der Dominanz und der Privilegierung von in christlicher Tradition stehenden, theologischen Argumenten im bioethischen Dispositiv.144 Denn islamische, buddhistische, jüdische oder Positionen anderer Religionen werden in den deutschen Diskussionen und der politischen Praxis der Bioethik marginalisiert.145 Ferner untersuche ich die theologisch-ethische Reflexion auf die gesellschaftliche Problematik der Stammzellforschung: den wissenschaftlichen Ethikdiskurs von Theologen. Religiöse Praktiken oder Predigttexte für Gottesdienste der beiden christlichen Kirchen werden nicht analysiert. Kirchenrechtliche und -politische Stellungnahmen wie die Donum vitae146 ziehe ich nur vereinzelt hinzu, wenn sie für akademische Theologen einen Bezugspunkt bilden. Im Zentrum der Untersuchung stehen jedoch bioethische Positionen von Theologen, die in Institutionen des bioethischen Dispositivs agieren und deren Wissensprodukte als theologische Ethik-Expertise wahrgenommen werden. Sie lassen sich sicher nicht eindeutig von organisationellen Strukturen der christlichen Kirchen oder von christlich-religiöser Praxis trennen. Denn besonders im katholischen Kontext soll theologisches Wissen als Direktive für kirchliche Institutionen fungieren. Dennoch geht es nicht darum, den theologischen Diskurs oder die Position christlicher Kirchen zur Stammzellforschung erschöpfend zu erfassen, sondern das Zusammenwirken der verschiedenen Diskurse

schieden zwischen katholischer und protestantischer Ethik vgl. Kreß (2005): 78. 144 Vgl. zum Beispiel die Beiträge im Lexikon der Bioethik von Mikat/Beck/ Korff (1998) oder in der Einführung zur Bioethik von Düwell/Steigleder (2003). Auch die Zusammensetzung von Bioethikkommissionen wie dem Nationalen Ethikrat oder der Zentralen Ethikkommission spiegelt die Konzentration auf christliche Positionen. Vgl. http://ethikrat.org & http://zentrale-ethikkommission.de. 145 Im ‚innerdisziplinären‘ theologischen Fachdiskurs werden dagegen Perspektiven anderer Religionen berücksichtigt. Vgl. Herms (2005). 146 http://www.vatican.va/roman_curia/congregaions/cfaith/documents/rc_con cfaith_doc_19870222_respect-for%20human-life_ge.html.

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zur Stammzellforschung zu rekonstruieren. Im Zentrum des folgenden Kapitels stehen deshalb Metaphern, die im bioethischen Dispositiv eine Relevanz haben.147 Die leitende Frage ist auch in diesem Kapitel, welche Vorstellungen von Körpern und Geschlechterverhältnissen theologischen Diskursen zur Stammzellforschung eingeschrieben sind. C.2.1.1 Selbstverständnis christlicher Theologie und theologischer Ethik Theologen gelten innerhalb der Bioethik als Experten, die sich bereits lange vor Entstehen der Lebenswissenschaften mit normativen Fragen auseinandergesetzt haben. Als gleichsam geübteste Ethiker hätten sie sich deshalb auch als erste und fast zwangsläufig den virulent werdenden ethischen Problemen in der modernen Medizin angenommen.148 Zwei Publikationen von evangelischen Theologen werden deshalb in der Geschichte der Bioethik als wegweisend genannt: Joseph F. Fletchers Morals und Medicine. The Moral Problems of the Patient’s Right to Know the Truth, Contraception, Artificial Insemination, Sterilization, Euthanasia von 1954 und Paul Ramseys 1970 veröffentlichtes Buch The Patient as Person. Exploration in Medical Ethics gelten als grundlegend für die Bioethik.149 Diese Bewertung hat sich bis heute gehalten. Theologische Ethik ist mittlerweile ein selbstverständlicher Bestandteil der bioethischen Interdisziplinarität. Theologische Ethiker sind aus bioethischen Einrichtungen nicht wegzudenken und in den Medien werden Kirchenvertreter regelmäßig um Stellungnahmen zu rechtlichen Regelungen und neuen Forschungsergebnissen im Bereich der Lebenswissenschaften gebeten.150 Was sind also die spezifischen Charakteristika theologischer Ethik? Im Brockhaus findet sich die simple Definition von Theologie als die Frage nach der „religiösen Verfasstheit des Menschen“ sowie

147 Zur Methode und Auswahl der Texte o. A. Zum Begriff des Dispositivs o. B. 148 Vgl. Düwell/Steigleder (2003): 18. 149 Vgl. dies.: 18f. 150 Vgl. dies.: 18. Vgl. auch Lettow (2003a): 134.

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nach den „Ausprägungen von Religionen in der Geschichte“.151 Um sich von Religions-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften zu unterscheiden, reicht dieses Verständnis jedoch nicht aus. Weiterführend ist deshalb die Aussage Christof Mandrys, katholischer Theologe, der Theologie als „die Rede von Gott und seiner Geschichte mit den Menschen im Sinne einer reflexiven und argumentativen Auslegung des christlichen Glaubens im Verstehenshorizont der jeweiligen Gegenwart“ bestimmt.152 Gott bildet in dieser Definition den zentralen Bezugspunkt theologischen Wissens. Mit der Formulierung der „Rede von Gott“ rückt jedoch ebenfalls der Mensch in die Reflexion: Auch in den theologischen Diskurs hat die Idee des Menschen, das heißt das neuzeitliche sich selbst reflektierende Subjekt, Einzug gehalten. Dennoch geht der theologische Diskurs davon aus, dass der Mensch nicht vollends Autor seiner selbst ist, sondern sein ‚Wesen‘ nur in Abhängigkeit von Gott begriffen werden kann.153 Gott als ein den einzelnen Menschen übersteigendes Moment, oder besser: die Beziehung zwischen einem übergeordneten Gott und dem Menschen ist eine zentrale Argumentationsfigur im theologischen Diskurs.154 Die theologische Reflexion der Beziehung von Mensch und Gott steht wiederum im Zusammenhang mit Interpretationen der biblischen Texte. Ulrich Körtner, evangelischer Theologe, drückt die Bedeutung der Bibel für theologische Ethik so aus: „Schriftgemäßheit ist das entscheidende Kriterium evangelischer Theologie, nicht nur in Fragen des Glaubens, sondern auch in Fragen der Ethik.“155 Manfred Kock, Präses und früherer Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), fragt in seinem Synodenbericht ebenfalls: „Kommen wir [die evangelischen Theologen] zu einem unterschiedlichen Verständnis menschlicher Embryonen aufgrund gegensätzlicher Deutung der Heiligen Schrift?“156 Den Stellenwert, den Theologen der Bibel im theologischen Wissen beimessen, ist jedoch unterschiedlich.

151 Brockhaus (2006): 319. 152 Mandry (2006): 520. 153 Vgl. Körtner (2005): 184. 154 Vgl. Wabel (2004): 14. 155 Körtner (2005): 105. 156 Manfred Kock, Synodenbericht, zitiert aus Körtner (2005): 105.

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So existieren neben historischen Zugängen, die die Bibel als autoritativen Text, als Niederschrift der ‚einen Wahrheit‘ oder des Wortes Gottes in Frage stellen, auch Lesarten, die die Bibel in theologischer Wissensbildung durchaus als Grundtext ansehen, dessen tieferer intrinsischer Sinn erschlossen werden kann.157 Die Bibel wird dann tendenziell als genuines Wissen über den Menschen idealisiert. Dass biblische Texte selbst schon Ergebnis von Interpretationen und von jahrtausendealten Machtkämpfen sind, wird in der Betonung ihres reichen Gehaltes an anthropologischen Aussagen ausgeblendet. Ingolf Dalferth und Eberhard Jüngel begreifen die Bibel beispielsweise allgemein als die „Geschichte des Menschwerdens des Menschen“, ohne sie zu historisch zu kontextualisieren geschweige denn den Androzentrismus des biblischen Textes zu reflektieren.158 Ohne an dieser Stelle das genaue Verhältnis von Bibel und Theologie bestimmen zu können, kann jedoch festgehalten werden, dass Theologie in Relation zur Bibel steht und somit auch zu ihren Geschlechterverständnissen und Körpercodierungen: Der biblische Text liefert wichtige Koordinaten für theologisches Wissen und diskursive Strategien. Seine Metaphern finden sich, teils direkt übernommen, teils sublimiert, in theologischer Bioethik wieder. Das drückt sich unter anderem in der Häufigkeit aus, mit der in theologischen Texten biblische Bilder, Szenarien oder Figuren zur Stützung der eigenen Positionen herangezogen werden. Die Bibel ist folglich weder das wahre Wort Gottes noch ein ursprünglicher Text, sondern ihrerseits schon eine Interpretation historischer, mündlich oder schriftlich überlieferter Texte.159 Esther Fuchs hat gezeigt, dass der Bibel eine eigene „Agenda“ inhärent ist.160 Sie unterstreicht damit die vereinheitlichenden politisch-diskursiven Strategien, die bestimmte (heteronormative und männliche) Subjektivitäten privilegieren und andere marginalisieren. Soweit hilfreich werde ich deshalb die Bibelstellen aufgreifen, die auch in theologischer Bio-

157 Vgl. Becker (2005): 52. 158 Dalferth/Jüngel (1981): 70. 159 Vgl. Fuchs (2000): 25. 160 Vgl. dies.

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ethik zur Stammzellforschung dominant sind und auf biblische Figuren eingehen. Darüber hinaus werde ich feministische Theologie kritisch gewendet hinzuziehen, die in theologischer Ethik zu biowissenschaftlichen Problematiken und in anderen theologischen Bereichen konsequent ignoriert wird. Zwar unterscheidet sich mein eigenes Erkenntnisinteresse von dem feministischer Theologie. Es geht mir nicht um die Beziehung von Gott und den Menschen. Doch feministische Theologie verfügt sowohl über reichhaltige Kenntnisse der historischen Entstehungsprozesse der heutigen Bibel als auch über einen Begriff von Gender.161 Daraus ergibt sich eine Lesart ‚gegen den Strich‘ von zentralen theologisch-ethischen Argumentationsfiguren wie der Gottebenbildlichkeit und die Thematisierung von Herrschaft, Macht und Gewalt. C.2.1.2 Der theologische Begriff des Lebens Im Mittelpunkt theologischer Diskurse zur Stammzellforschung steht ‚das Leben‘ des Embryos. Theologen und die christlichen Kirchen haben in der deutschen Stammzelldebatte den Lebensschutz des Embryos am stärksten hervorgehoben. Zwar werden in evangelischer Theologie, anders als in Positionen evangelischer und katholischer Kirchenvertreter und katholischer Theologen, auch Ausnahmen im Hinblick auf den Lebensschutz vertreten,162 doch setzen auch sie am embryonalen Lebensbegriff an. Der theologisch-bioethische Lebensbegriff und die daraus abgeleitete embryonale Würde bewegen sich wiederum bis heute im Begriffskontext der Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie sie im Schöpfungsmythos des Ersten Testamentes entworfen wird. Denn die um 1000 und 600 vor Christus entstehende biblische Schöpfungsgeschichte ist bis heute maßgebend für das Menschenbild der christlichjüdischen Religion und ihre Anthropologie.163 Deshalb skizziere ich zunächst die Metapher der Gottebenbildlichkeit und ihre theologiege-

161 Vgl. Maier (2007); Gössmann (2000) & (2002). 162 Vgl. Dabrock/Klinnert (2001); Anselm et al. (2002); Körtner (2005). 163 Vgl. Gössmann (2000): 11; Barth (2003): 347.

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schichtliche Rezeption, um dann auf ihre aktuellen Wendungen im bioethischen Diskurs einzugehen. „... und Gott schuf sie als Mann und Weib“ – Zum Verhältnis von Gottebenbildlichkeit und Zweigeschlechtlichkeit Die Figur der Gottebenbildlichkeit im 1. Buch Mose wird, wie theologische Bibelforschung gezeigt hat, in zwei Narrationen der Schöpfung entwickelt. Die Texte sind unterschiedlichen Entstehungsdatums und nachträglich zur heute vorliegenden biblischen Erzählung zusammengefügt worden. Die jüngere Darstellung der Schöpfung – das sogenannte Sechstagewerk – entstand etwa im sechsten oder fünften Jahrhundert vor Christus.164 Sie schildert die Schöpfung des Menschen durch Gott als die Erschaffung zweier Geschlechter, was sich folgendermaßen liest: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und Weib.165

Dichotome Zweigeschlechtlichkeit ist somit ein grundlegendes Kennzeichen der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Doch nicht nur die Bibel, sondern auch die christliche Anthropologie und die theologische Ethik haben diese geschlechtliche Bestimmung des göttlichen Menschen übernommen.166 So bestimmen Ingolf Dalferth und Eberhard Jüngel in ihrer theologischen Theorie der Person Zweigeschlechtlichkeit als grundlegende Wesenseigenschaft des gottebenbildlichen Menschen. Die zitierte Stelle des 1. Buch Mose interpretieren sie so: „Trotz der kontroversen Auslegungsgeschichte dieser klassischen Belegstelle für die Lehre von der Gottebenbildlichkeit steht so viel fest, daß der Mensch in der im wesentlichen geschlechtsverschiedenen Gemeinschaftlichkeit mit anderen Menschen hier als Geschöpf Gottes bestimmt wird, und zwar als dasjenige

164 Vgl. ders. 165 1. Gen, 27. 166 Stone (2006). Zu den ursprünglich ambivalenten Bedeutungen von Geschlecht in der hebräischen Bibel. Vgl. Gössmann (2000): 13.

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Geschöpf Gottes, das sich als dessen Bild von allen anderen Geschöpfen unterscheidet.“167

Auch Eberhard Schockenhoff, katholischer Moraltheologe und Vertreter der katholischen Kirche im Nationalen Ethikrat, bestimmt die Zweigeschlechtlichkeit als elementaren Bestandteil der Gottebenbildlichkeit und der christlichen Anthropologie im Allgemeinen: „Die Relationalität menschlichen Daseins, die in vertikaler Linie durch die schöpferische Anrede Gottes grundgelegt ist, verlängert sich in horizontaler Richtung in der Angewiesenheit des Menschen auf ein menschliches Du. In Gen 1,27 ist dieser Zusammenhang so eng gedacht, daß die Bestimmung des Bild-Gottes-Seins unabhängig von der konkreten Existenz des Menschen im Zueinander von Mann und Frau überhaupt nicht aussagbar ist.“168

Zweigeschlechtlichkeit ist folglich nicht nur Teil des christlichanthropologischen Menschenbegriffs, sondern hat eine essentielle und stabilisierende Funktion für die Imago-Lehre: Die irdische horizontale Unterscheidung von Mann und Frau soll die transzendentale vertikale Differenz von Gott und Mensch unterstreichen.169 Denn Gottebenbildlichkeit bedeutet nicht, dass Mensch und Gott identisch sind. Vielmehr wird zwischen Gott und Mensch eine Differenz gesetzt und der geschlechtliche Mensch im Gegensatz zu Gott als unvollkommen bestimmt. Diese Verschiedenheit von Gott und Mensch drückt sich auch in der Tatsache aus, dass der geschlechtliche Mensch im Gegensatz zu Gott ein körperliches Wesen ist.170 Denn Gott erschafft den Menschen nicht als rein ‚spirituales‘ Wesen, sondern als zuvorderst irdischmateriellen Körper. In der Schöpfungsgeschichte heißt es deshalb:

167 Dalferth/Jüngel (1981): 71. 168 Schockenhoff (1996): 239f., Herv. i.O. „Menschliches Leben kann nach der Aussage beider biblischer Schöpfungsberichte nur in einer menschlichen Gemeinschaft gelingen, die auf die polare Zuordnung der Geschlechter gegründet ist.“ Ders.: 240. 169 Vgl. Braun (2002). 170 Vgl. Schockenhoff (1996): 242 & ders. (2002).

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Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.171

Gott erschafft den Menschen somit als körperliches Wesen, weshalb im ersttestamentlichen Prophetenbuch Gott auch als „der Gott allen Fleisches“ bezeichnet wird.172 Deutlich wird in dieser Bibelstelle jedoch auch, dass der Mensch seine Lebendigkeit und folglich seine Gottebenbildlichkeit nicht allein dadurch erhält, dass Gott natürliches Material zu einem menschlichen Körper formt, sondern erst durch den göttlichen übermateriellen Odem.173 Die transzendentale Seele und nicht der Körper ist das Prinzip des von Gott geschaffenen Lebens oder anders ausgedrückt: Die Seele stellt den „Vollzugsort göttlichen Lebens und Konzentrationspunkt personaler Existenz“ dar.174 Der zweigeschlechtliche menschliche Körper markiert in der Bibel und christlicher Anthropologie somit nicht die Besonderheit, die Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern gerade seine Verschiedenheit vom unkörperlichen Gott.175 Denn die hebräische Bibel schildert Gott als asexuell und unkörperlich.176 Die Unterschiedlichkeit zu Gott, die leibliche „‚Versehrtheit‘ des sterblichen Menschen“ findet „in der geschlechtlichen Differenz ihren Ausdruck“177 und der geschlechtliche

171 2. Gen, 7, Herv. i.O. 172 32. Jer, 27. 173 Das hebräische Wort nefes für Odem bedeutet sowohl Seele als auch Atem und Leben. Vgl. Maier (2002): 332. Vgl. auch Schockenhoff (2002) & ders. (1996): 242. 174 Barth (2003): 348. In die ersttestamentliche Schöpfungsgeschichte und ihren Lebensbegriff ist somit die altgriechische Auffassung eingeflossen, dass die Seele Prinzip des Lebens ist. Barth weist darauf hin, dass der vorplatonische, aber auch der platonische und aristotelische Gebrauch von psyche überraschende Gemeinsamkeiten mit dem ersttestamentlichen Begriff der Seele aufweisen würden. 175 Vgl. Seelbach (2002): 176; Schockenhoff (1996): 243. 176 Vgl. Braun (2002): 19f. & dies. (2006): 57f. 177 Braun (2002): 19. Vgl. Becker (2005): 56.

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Unterschied in der Gottebenbildlichkeit wird als eine Differenz zwischen zwei geschlechtlichen Körpern interpretiert. Als ‚erste Frau‘ das Letzte – Die eingeschränkte Gottebenbildlichkeit der Frau Die Gottebenbildlichkeit ist der zentrale Bezugspunkt für die Sonderstellung, die dem Menschen im frühen Schöpfungstext im Vergleich zu den anderen Lebewesen zugeschrieben wird. Diese Besonderheit liest sich in der heutigen Fassung der Bibel als ein Überlegenheitsverhältnis des Menschen gegenüber seiner ‚Umwelt‘, was sich zum Beispiel im göttlichen Auftrag des Herrschens über die Tiere ausdrückt.178 Die Schöpfung der Frau wird an dieser Stelle nur im Zusammenhang der allgemeinen Schaffung des Menschen benannt. Doch feministische Theologinnen haben bereits für das Sechstagewerk gezeigt, dass zwischen den beiden letzten Versen eine grammatische Spannung besteht und die biblischen Formulierungen nicht eindeutig nahe legen, dass die Gottebenbildlichkeit für beide Geschlechter gilt.179 Im zweiten und dritten Kapitel der Genesis, das heißt im älteren Text der Schöpfungsgeschichte, die etwa im achten oder siebten Jahrhundert vor Christus entsteht, wird die Schöpfung der Frau dann näher beschrieben.180 Eva wird dort nicht mehr als Teil der allgemeinen Menschheit oder als simples Gegenüber des Mannes geschaffen, sondern als seine „Gehilfin“: Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.181

178 1. Gen, 28. Mit Verweis auf den hebräischen ‚Urtext‘ wird in der zeitgenössischen Theologie diese Stelle oft ausdrücklich nicht als Herrschaftsverhältnis interpretiert. Vgl. Gössmann (2000): 13f. 179 „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und Weib.“ Das Bild Gottes wird hier nur auf ihn, auf Adam, bezogen. Vgl. Schüngel-Straumann (2002a): 257. 180 Herv. i.O. Zum historischen Kontext der Genesisentstehung und den Geschlechterimplikationen vgl. Gössmann (2000): 13f. 181 2. Gen, 18, Herv. i.O.

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Erst jetzt formt Gott Eva aus der Rippe Adams. Die Formung der Frau wird zeitlich nach der Schöpfung des Mannes geschildert. Die Kulturphilosophin Gerburg Treusch-Dieter folgert aus dieser erzählerischen Abfolge, dass im „epochalen Schöpfungsmythos“ Gott „den Menschen als Mann“ hervorgebracht habe und aus dem Mann wiederum die Frau. Eva ist „als ‚erste Frau‘ folglich ‚das Letzte‘“.182 Angesprochen sind damit zwei Aspekte. Erstens wird Gottebenbildlichkeit als Hierarchie entworfen: An oberster Stelle steht Gott. Der Mann ist authentischer Repräsentant Gottes und erst dann folgen die Frau und die Tiere. Zweitens sind der Gottebenbildlichkeit zwei geschlechtliche Körper eingeschrieben, die ebenfalls hierarchisch angeordnet sind. Denn Eva wird aus der Rippe Adams konzipiert und ihr Dasein geht letztlich aus der Formung des Materials hervor. Gott beseelt und vergöttlicht jedoch nur Adams Körper.183 Die Folge ist, dass seit der hellenistischen Antike in der biblischen Rezeptions- und Theologiegeschichte nicht nur die Gottebenbildlichkeit Evas, sondern der Frau im Allgemeinen in Frage gestellt wird. Die Uneindeutigkeit im frühen Schöpfungsbericht, die erst später geschilderte Erschaffung Evas und ihre Formung aus Adams Körper statt ihrer göttlichen Beseelung, dienten Bibelinterpreten dazu, der Frau die Gottebenbildlichkeit abzusprechen oder sie für ‚das weibliche Geschlecht‘ zumindest einzuschränken: Der Mann ist das eindeutige Abbild Gottes und durch Gott realisierte Schöpfung. Der Bezug des diesseitigen Frauenlebens zu Gott ist indes nicht klar. Fuchs beschreibt diesen Sachverhalt so:

182 Treusch-Dieter (1997): 229. 183 Im Frühchristentum folgen aus den beiden geschlechtlichen Körpern Kontroversen über die Leiblichkeit Christi: „So fragt sich nicht nur der gebildete Platoniker Celsus, warum der göttliche Geist nach Ansichten einiger Christen ausgerechnet in den Leib einer Frau eingehen mußte, und warum es nicht denkbar sei, daß Christus einen ganz eigenen Leib gehabt habe, der nicht in diese ‚verabscheuungswürdige Verunreinigung‘ gestürzt worden sei.” Greschat (2003): 150.

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„Diesem System zufolge ist der Mann ein ‚authentischerer‘ Repräsentant Gottes, weil Gott männlich ist und Gott ist männlich, weil die Bibel eine männliche Konstruktion des Göttlichen widerspiegelt.“184

Solche Interpretationen der Schöpfungsgeschichte werden seitdem fortgeführt. Die Lesarten der Geschlechterdifferenz erfolgen dabei historisch spezifisch. Im Mittelalter etwa trat die Rolle der Vernunft in Auslegungen der Schöpfungsgeschichte verstärkt in den Vordergrund, die wiederum geschlechtlich codiert wurde. Eine zentrale Bedeutung hatte der Kirchenvater Augustinus (354-430 n. Chr.). Er nahm großen Einfluss auf die Theologie- und Geistesgeschichte des Mittelalters sowie auf die reformatorischen und gegenreformatorischen Kirchen der Frühen Neuzeit.185 Mit seinen philosophischen Auslegungen der Genesis strebte er besonders eine gegenseitige Durchdringung von Philosophie und Theologie an.186 Zwar versuchen feministische Theologinnen seine Aussagen zur Weiblichkeit ‚gegen den Strich‘, sprich weniger misogyn zu lesen,187 rezipiert wurden jedoch vor allem seine für die Frau negativ ausfallenden Interpretationen der Genesis. Dort stellt er die weibliche Gottebenbildlichkeit in Frage: Weil die Frau rational unterlegen gewesen wäre, leitete sich daraus ihre Anfälligkeit gegen die Versuchung der Schlange ab. Der Mann hingegen verfügte über einen schärferen Intellekt, weshalb er immuner gegen die Versuchung des Gottgleichseinwollens war als die Frau. Augustinus schreibt der Frau darüber hinaus die Aufgabe der Reproduktion zu188 und konnotiert das seiner Meinung nach minderwertige Fleisch als weiblich, den höherwertigen Geist hingegen als männlich. So sei das

184 Fuchs (2000): 12. Übers. v.V. 185 Seelbach bezeichnet Augustinus als den meist gelesenen „Autor des christlichen Westens nach Paulus.” Seelbach (2002): 13. 186 Vgl. Russel (1999): 365. 187 Vgl. Seelbach (2002). 188 Vgl. dies.: 178.

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Fleisch wie die Gattin des Mannes, die es nicht zu verachten, jedoch gefügig zu machen gelte.189 Auch die mittelalterliche Scholastik nimmt diese Ansichten auf. Ihre Repräsentanten betonen die Nähe der Frau zur Natur, woraus sich, so Gössmann, eine „doppelte Unterwerfung der Frau“ ergibt: Sie sei nicht nur auf die Natur festgeschrieben, sondern auch durch den Sündenfall bestimmt.190 Als besonders problematisch schätzt Gössmann eine allegorische Psychologisierung von Genesis 3 ein, die im mittelalterlichen theologisch-philosophischen Wissen starken Widerhall gefunden habe: „Jede Versuchung wird mit einem Anteil des Männlichen, des Weiblichen und der ‚Schlange‘ erklärt: Die Schlange (= Sinnlichkeit) verführt die niedere Vernunft (= Frau), diese wiederum die höhere Vernunft (= Mann). Wenn nur die niedere Vernunft zustimmt, also ‚die Frau ohne den Mann isst‘, handelt es sich um eine lässliche, wenn aber ‚auch der Mann mitisst‘, also die höhere, nach augustinischer Vorgabe auf Gott bezogene Vernunft, sich von der niederen, auf die Welt gerichteten Vernunft verführen lässt, handele es sich, so heißt es viele Male um eine schwere Sünde.“191

Das Ereignis des Sündenfalls wird darin durch die Brille spezifischer Geschlechtscharaktere gesehen und Sünde, Weltlichkeit und weltliche Vernunft – das Andere der göttlichen Vernunft – als weiblich begriffen. Männlichkeit gilt hingegen als göttliche und deshalb höhere Vernunft. Gott als Schöpfer allen Lebens – Das Verschwinden der Frau in der Fortpflanzung Das Bild der Gottebenbildlichkeit impliziert ferner, dass Gott der Schöpfer jeglichen Lebens ist.192 Im ersttestamentlichen Psalm 36

189 Vgl. Braun (2002a): 3. Zur Rezeption des Neuplatonismus durch Augustin und seiner der Abwertung des Leibes gegenüber dem Geist vgl. Wendel (2003): 253. 190 Vgl. Gössmann (2002): 128. 191 Dies.: 128f. 192 1. Gen, 1 & 2.

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wird Gott deshalb als „Quelle des Lebens“ bezeichnet.193,194 Das aktive oder bewegende Moment im Begriff des Lebens wird in der jüdisch-christlichen Geschichte fortan nicht dem Menschen, sondern grundsätzlich Gott zugesprochen: Menschliches Leben gilt als „Geschenk Gottes“ und somit als heilig.195 Leben ist etwas, was ganz in Gottes Hand ist, den einzelnen Menschen übersteigt und normativ verstanden seiner Verfügungsmacht entzogen bleiben soll. Folglich hat der Mensch das Leben von Gott dem Schöpfer nur für eine bestimmte Zeit erhalten196 und kann letztendlich nicht nach Belieben darüber disponieren. Leben wird deshalb im theologischen Diskurs nicht biologisch – etwa als bloßes Leben – oder allein aus der Perspektive des Menschen begriffen.197 Zugleich wird der Frau das Prinzip der Lebensgabe symbolisch abgesprochen: Der biblische Schöpfungsmythos artikuliert die menschliche Phantasie, Menschen ohne das Zutun und den Körper der

193 Ps 36, 10. Vgl. Becker (2005): 56. 194 Die Rückführung allen Lebens auf Gott drückt sich beispielsweise in einem zeitgenössischen Lehrschreiben Joseph Ratzingers aus: „Das menschliche Leben ist heilig, weil es von Beginn an ‚der Schöpfermacht Gottes‘ bedarf und für immer in einer besonderen Beziehung zu seinem Schöpfer bleibt, seinem einzigen Ziel. Nur Gott ist der Herr des Lebens von seinem Anfang bis zu seinem Ende: Niemand darf sich, unter keinen Umständen, das Recht anmaßen, ein unschuldiges menschliches Wesen direkt zu zerstören.” Vgl. Schockenhoff (1996): 238f. 195 „Alles Leben hat in Gott seinen Ursprung; Leben gilt als Gabe des Schöpfergottes.“ Liess (2002): 135. In der Dokumentation der Deutschen Bischhofskonferenz vom 7. März 2001 heißt es: „Menschliches Leben ist heilig und steht weder an seinem Anfang noch an seinem Ende zur Disposition.“ 196 Vgl. Seebaß (1990): 523. Leben kann deshalb „nicht ohne Beziehung von Gott her und auf Gott hin verstanden werden“ werden. Toellner et al. (1980): 55. 197 „Christlicher Glaube lebt aus der Gewißheit, von Gott geschaffen zu sein. Der Ursprung oder Grund der eigenen Lebensgeschichte in Gott ist aber von einem zeitlich fixierbaren Anfang zu unterscheiden.“ Körtner (2005): 181.

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Frau schaffen zu können. Selbst die Frau wird in der Genesis nicht aus dem Körper einer Frau, sondern eines Mannes erschaffen. Das ‚weibliche‘ Erleben der irdisch-materiellen Menschengeburt wird in Genesis 3, 16 hingegen als Strafe für die sündige Frau dargestellt und mit ihrer Unterordnung unter den Mann in Verbindung gebracht: Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.198

Treusch-Dieter lokalisiert die Anfänge der biblischen Fortpflanzungserzählung bereits in antiken Philosophien. Sie zeigt, dass in damalige Materiebegriffe Geschlechtercodierungen aus antiken Zeugungstheorien eingeflossen sind. So habe bereits Alkmaion von Kroton im sechsten Jahrhundert vor Christus über „Wesen und Ursprung des Zeugungsstoffes“ spekuliert und darauf hingewiesen, dass das Verhalten des Männlichen zum Weiblichen unter der Voraussetzung stattfindet, dass der Zeugungsstoff – der männliche Samen – unstofflich und dass sein Wesen oder Ursprung kein physischer sondern ein metaphysischer ist. Darauf folgende zeugungstheoretische Positionen sprechen dem Männlichen die Zeugungskraft eines unstofflichen Prinzips zu und setzen das Männliche deshalb mit Vollkommenheit gleich, wohingegen das Weibliche das Unvollkommene repräsentiert. An „den Stoff gebunden, verfügt es über keinerlei Zeugungskraft“, schlussfol-

198 Diese Gottesstrafe für die gebärende sündige Frau, wird später im Pietismus als „gnädige Vaterstrafe“ umgewertet, die allein den „Leib um der Sünde willen strafe“ und Gott als „wahre Hebamme“ begriffen. Gleixner (2002): 77 & 97. Auch Becker begreift in seiner zeitgenössischen Bibellektüre Gott als Hebamme. Vgl. Becker (2005): 56. Die Abwertung und Verdrängung der Geburt aus einem weiblichen Körper findet sich auch im Neuen Testament und tritt in der Aufklärung und sogar in der heutigen Biophilosophie Sloterdijks wieder auf, der einen Mythos der geistigen Geburt entwirft. Vgl. Zapata (2002): 549.

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gert Treusch-Dieter.199 Aristoteles nimmt das Bild des geist- und vernunftlosen Materiestoffes, der als weiblich begriffen wird, schließlich ebenfalls in seine Philosophie auf. Über Boethius wird diese Annahme durch das Mittelalter bis in die heutige Bioethik transportiert. Treusch-Dieters Argumentation deckt sich trotz unterschiedlicher wissenschaftspolitischer Absichten mit feministischer Theologie und Bibelforschung. Schüngel-Straumann etwa zeigt, dass die Evafigur in der hebräischen Bibel vor ihrer Übersetzung ins Griechische und Lateinische nicht als minderwertige Frau von Adam, sondern als Mutter allen Lebendigen gegolten hat.200 Eva wurde als allgemeine Urmutter, als hawwah, bezeichnet. Das leitet sich wiederum vom hebräischen Wort haj für Leben ab. Die erste Frau galt als solche nicht als das individuelle und untergeordnete Gegenüber Adams, sondern wurde in Relation zum Kollektiv gedacht und besaß eine positivere Bedeutung. Erst in nachfolgenden Interpretationen wurden Adam und Eva zum erotisierten Paar stilisiert. Laut Schüngel-Straumann steht diese Bedeutungsverschiebung in der Konstruktion der biblischen Evafigur in einem engen Zusammenhang mit ‚Modeerscheinungen‘ der damaligen Zeit, in der auch biblische Geschichten mit einem erotisierten Unterton erzählt wurden. Darüber hinaus hätten sich Strömungen durchgesetzt, in denen die Lebenszeugung als männlich codiert wurde. Denn im Lauf der biblischen Tradition sei der Erhalt der Stämme und die Weitergabe des Lebens und des Landes immer mehr mit der Leistung des Mannes – mit dem männlichen Samen – verknüpft worden.201

199 Treusch-Dieter (1997): 59. 200 Vgl. Schüngel-Straumann (2002): 125. Vgl. Seelbach (2002): 183; Gössmann (2000): 14. 201 Vgl. Schüngel-Straumann (2002): 125. Hier scheint die aristotelische Analogie von Samen und Leben aufgegriffen worden zu sein, die später in das christliche „Paradigma der Sünde des ‚vergeudeten Samens‘“, wie Christina von Braun gezeigt hat, transformiert wird. Braun (2002): 7. Zur Weiterführung vorplatonischer, platonischer und aristotelischer Seelenkonzepte im alten Testament, die Rezeption des hellenistischen Denkens im Christentum und die Perpetuierung durch Augustin. Vgl. Barth (2003): 348.

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In den Jahrhunderten vor Christus entsteht so aufgrund der Verbindung verschiedenster Strömungen und Kulturen eine verhängnisvolle Mischung von Argumenten, die zu einer Uminterpretation alter Erzählungen der Schöpfungsgeschichte führt: Eva wird zunehmend eine negative Rolle zugeschrieben und schließlich dominiert eine Sichtweise, in der die Schöpfung des menschlichen Lebens durch den Sündenfall gestört worden und in Unordnung, Unfriede und Unfreiheit geraten ist. Eva kommt in diesem Szenario die entscheidende Rolle als Verführerin Adams zu. Sie samt dem weiblichen Beitrag zur Reproduktion wird nicht nur als unbedeutend bewertet, sondern als „Hauptursache für alles Übel der Schöpfung“ gebrandmarkt.202 Die skizzierten Genderimplikationen in der biblischen Schöpfungsgeschichte stellen zweifelsohne Lesarten der Bibel dar, die die im Text angelegte Heteronormativität und Unterordnung der Frau betonen. Theologen haben darauf hingewiesen, dass die exegetischen Grundlagen ambivalente Deutungen zulassen und besonders feministische Theologie hat hervorgehoben, dass zwischen hebräischer Bibel, theologiegeschichtlicher Rezeption und den christlichen Kulturen unterschieden werden müsse.203 So unterstreicht Stefanie SchäferBossert die prinzipielle Deutungsoffenheit des Textes im Hinblick auf normierende Geschlechtsidentitäten: „Der biblische Schöpfungsbericht gibt jedenfalls in Gen 1,27 mehr Spielraum als erwartet werden könnte: Entgegen so mancher Adaption beispielsweise in Trauagenten wird das Kollektiv ‚Mensch‘ nicht etwa in ‚Mann‘ und ‚Frau‘ aufgeteilt, sondern nur als ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ charakterisiert, womit genau genommen noch nichts über die Verteilung auf Individuen gesagt ist und eine polare Opposition nicht die einzige Interpretationsmöglichkeit – des Textes wie der durch ihn aitiologisierten Menschen – sein muss.“204

202 Schüngel-Straumann (2006): 163. 203 Zu einer differenzierten Betrachtung von hebräischer und christlicher Bibel und ihren Rezeptionen von Geschlechtervorstellungen vgl. Gössmann (2000): 12. 204 Schäfer-Bossert (2006): 66. Der aitiologisierte Mensch ist das Menschenbild, das sich in den „Strafsprüchen Gottes“ in Genesis 3 findet. Laut Gössmann handelt es sich dabei jedoch um Zustandsschilderungen

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Dennoch ist es für mein Vorhaben sinnvoll, die meines Erachtens im biblischen Text durchaus angelegte Heteronormativität einerseits und die hierarchischen Geschlechterbilder andererseits nachzuzeichnen. Denn feministische Bibelforschung und Theologie hat sich bisher nicht als selbstverständlicher Bestandteil ethisch-theologischer Wissensbildung durchgesetzt. In den theologischen Lebensbegriff im bioethischen Dispositiv sind folglich keine feministischen, geschweige denn queer-feministischen Lesarten eingeflossen. Gottebenbildlichkeit im neuen Testament vermittelt durch die Christusfigur Hierarchisierende Einschreibungen von Zweigeschlechtlichkeit und Körper in der Gottebenbildlichkeit werden im Neuen Testament weitergeführt. Doch die Gottebenbildlichkeit ist nicht expliziter Gegenstand in neutestamentlichen Texten, sondern wird vermittelt über die Christusfigur gedacht.205 Denn die Grundthemen im Ersten und Neuen Testament sind unterschiedliche: Wird im Ersten Testament das diesseitige menschliche Leben als ‚unmittelbare Gabe Gottes‘ behandelt und liegt „ganz in Gottes Hand“206, so geht es im Neuen Testament um das ‚kommende Leben nach dem Tod‘. Jürgen Becker, evangelischer Theologe, beschreibt den Unterschied zwischen dem Lebensbegriff im Ersten und Neuen Testament so: „Das Leben zwischen Geburt und Tod bleibt [auch im Neuen Testament] Gabe des Schöpfers (Röm 1,19; 1 Kor 8,6). Doch weil es schon von Gottes erlösendem Wirken erfaßt ist, wird es neu vermessen und auf das Kommende ausgerichtet (Phil 3,20; 1 Joh 3,2).“207

Der Lebensbegriff wird deshalb nicht mehr mit einem eindeutigen Bezug auf die Schöpfungsgeschichte gedacht und das diesseitige Leben des einzelnen Menschen in seiner unmittelbaren Relation zu Gott verder patriarchalischen Gesellschaft, wie sie während der Verfassung von Genesis 3 bestand. Vgl. Gössmann (2000): 13. 205 Zur Bedeutung der biblischen Christusgeschichte für die christliche Anthropologie vgl. Mell (2001). 206 Seebaß (1990): 523. 207 Becker (2005): 68.

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handelt, sondern thematisch in den Rahmen des Heilsversprechen gestellt und „als die kommende Gottesherrschaft“ gesehen.208 Innertheologisch könnte man auch sagen: Spricht Gott den Menschen in der ersttestamentlichen Schöpfungsgeschichte sündig, vergibt er ihm seine Schuld durch die Taten Christus’ für das jenseitige Leben. Im Neuen Testament gibt „das von Gott her gestiftete Heilsverhältnis“ durch Christus den semantischen Rahmen für die Rede von der Ebenbildlichkeit ab. Adam und Christus werden in der Typologie Paulus’, wie Becker kritisch anmerkt, unter Auslassung der Geschichte Israels zu den „menschheitsbestimmenden Gestalten“ zusammengefügt.209 Während Adam den aus dem Paradies vertriebenen Menschen und folglich die sündige Menschheit repräsentiert, steht Christus für den erlösten Menschen oder die vollendete Menschheit:210 Christus ist das „wahre Ebenbild“ Gottes.211 Die über Christus vermittelte Heiligkeit des einzelnen menschlichen Lebens wird etwa im Johannesevangelium deutlich, wenn Jesus sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; [...]“.212 Auch in Paulus’ Brief an die Epheser ist Christus der Hauptakteur. Dort macht er den diesseitigen fleischlich-sündigen und deshalb symbolisch toten Menschen lebendig und zum Ebenbild Gottes: „Unter ihnen [den sündigen Menschen] haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unsres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Sinne und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern. Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden –, und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, [...]“.213

208 Ders.: 67. 209 Ders.: 53 & 63. Zur Theologiegeschichte der Idee der Gottebenbildlichkeit im Christentum vgl. Barth (2003): 351f. 210 Vgl. Schüngel-Straumann (2002a): 259. 211 Körtner (2005): 186. 212 Joh 11,25 213 Eph 2, 3-6.

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Dieses Zitat zeigt auch, dass der Text des Neuen Testamentes zwei Körperverständnisse enthält: das sündige Fleisch des diesseitigen und symbolisch toten Menschen und den beseelten Leib, der eine Teilnahme an Christus bedeutet und folglich mit Leben gleichgesetzt wird. Christus stellt als Menschwerdung Gottes nicht das sündige Fleisch, sondern den beseelten göttlichen Leib dar. Schrey beschreibt diese beiden Körperauffassungen im Neuen Testament so: „Während ‚Fleisch‘ den Menschen in seiner Preisgegebenheit an die Versuchlichkeit der Welt meint, ist ‚Leib‘ die in die Entscheidung für oder gegen Gott gestellte Person.“214

Die Unterscheidung zwischen minderwertigem sündigem Fleisch und erlöstem Leib erinnert an die Gottebenbildlichkeit der Schöpfungsgeschichte. Dass auch die durch Christus vermittelte Gottebenbildlichkeit auf geschlechtlichen Hierarchien basiert, zeigen die Bilder, mittels denen Paulus das Verhältnis zwischen Christus und den Menschen veranschaulicht. So ist für Paulus Gott das Urbild. Christus ist wiederum das Abbild Gottes und zugleich das Haupt des Mannes. Der Mann ist schließlich das Haupt der Frau.215 Hören wir Paulus selbst zum Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern. Im ersten Brief an die Korinther sagt er: Ich lasse euch aber wissen, daß Christus das Haupt eines jeden Mannes ist; der Mann aber ist das Haupt der Frau; Gott aber ist das Haupt Christi.216

Diese Hierarchie verknüpft der Apostel dann im Folgenden mit der Gottebenbildlichkeit: Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz.217

214 Schrey (1990): 640 215 Vgl. Schüngel-Straumann (2002a): 259. 216 1. Kor 11, 3.

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Denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann.218

Paulus zementiert mit dieser Aussage die problematischen Geschlechterverständnisse der Schöpfungsgeschichten und spricht der Frau die Gottebenbildlichkeit ab: Sie gilt nicht als Bild Gottes im vollen Sinne. Allein der Mann steht somit in einer direkten Beziehung zu Christus und ist für Paulus authentischer Repräsentant Gottes auf Erden. Die Frau hat nur vermittelt über den Mann Anteil an der Gottebenbildlichkeit bzw. an Christus. Darüber hinaus leitet der Apostel die eingeschränkte Gottebenbildlichkeit der Frau paradoxerweise daraus ab, dass die Frau aus dem Mann entstanden ist. Damit bestätigt Paulus die Aussagen der hebräischen Bibel für das Neue Testament: Das symbolisch als wertvoll erachtete Prinzip der Lebenszeugung wird als männlich und der Beitrag von Frauen zur Reproduktion als bedeutungslos begriffen.219 Der sündige, irdische Frauenleib meint jedoch bei Paulus nicht nur die Frau, die Metapher des unreinen Frauenleibes steht wiederum auch für die sündige Gemeinde. Durch Christus wird sie jedoch zum gottebenbildlichen oder erlösten Gemeindeleib. In Paulus Brief an die Epheser heißt es: Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.220 Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist, die er als seinen Leib erlöst hat.221 Aber wie nun die Gemeinde sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen ihren Männern unterordnen in allen Dingen.222 Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und sich selbst für sie dahingegeben, um sie zu heiligen. Er hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, damit er sie vor sich stelle als eine Gemeinde, die

217 1. Kor 11, 7. 218 1. Kor 11, 8. 219 Vgl. Schüngel-Straumann (2002a): 259. 220 Eph 5, 22. 221 Eph 5, 23. 222 Eph 5, 24.

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herrlich sei und keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern die heilig und untadelig sei.223 So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst.224

Interessanterweise nimmt Paulus wenige Verse später direkten Bezug auf den ersttestamentlichen Schöpfungsmythos, in dem es heißt: „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein.“225 Paulus interpretiert diese Stelle neutestamentlich durch die Christusfigur: „ich deute es aber auf Christus und die Gemeinde.“ Der Satz, dass Eva und Adam oder Mann und Frau, ein Fleisch sein werden, ist für Paulus somit Ausdruck des Verhältnisses von Christus zur Gemeinde. Ein hierarchisches Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit, die bereits in der Genesis in Körpermetaphern dargestellt wird, wird somit von Paulus fortgeführt und in die Christusthematik des Neuen Testamentes übersetzt. Die hierarchische und binäre Geschlechterdifferenz, die der schöpfungsmythischen Gottebenbildlichkeit des Ersten Testamentes eingeschrieben ist, wird somit im Neuen Testament zementiert. Ferner wird auch im Neuen Testament die Frau auf das sündige Fleisch – den unreinen Leib – festgeschrieben und kann nur über den Mann am erlösten Leib teilhaben. Die ‚Ausdehnung‘ der Gottebenbildlichkeit auf die Leibesfrucht Der theologische Lebensbegriff umfasst lange Zeit ausschließlich den geborenen Menschen: Bis in die Neuzeit wird die Leibesfrucht im christlich-theologischen Wissen und kirchlicher Praxis in den ersten zwölf Wochen nach der Befruchtung nicht als gottebenbildlicher Mensch begriffen, sondern als ‚Teil‘ der Frau.226 Denn bis dahin ist 223 Eph 5, 27. 224 Eph 5, 28. 225 1. Gen 2, 24. 226 Die Bezeichnung ‚Teil der Frau‘ ist jedoch nicht nach heutigen juridischen Maßstäben als verfügbarer Körperteil der Frau zu verstehen. Denn damalige Körpervorstellungen entsprachen nicht zeitgenössischen Konzeptionen, die den Körper als Eigentum begreifen: Der Embryo gehörte

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die auf Aristoteles zurückgehende Annahme einflussreich, dass der irdisch-materielle Leib beseelt werden müsse. Erst dann erhalte der Mensch seine Fähigkeit zur Vernunft und zur Freiheit, die wiederum sein Menschsein begründen würde.227 So bilden den Kern der hochmittelalterlichen Kreatinismuslehre des Thomas von Aquin (1225-1274 n. Chr.) aristotelische Zeugungsvorstellungen. Danach vollzieht sich die Beseelung des Leibes erst nach und nach. Die Idee der Sukzessivbeseelung bedeutet, dass der Embryo ein Stadium von drei Seelen durchläuft: der vegetativen (pflanzlichen), der sensitiven (tierischen) und der rationalen (vernünftigen) Seele. Erst wenn der Embryo das Stadium der Vernunft- oder Geistseele erreicht hat, kommt ihm die volle Dignität und Schutzwürdigkeit spezifisch menschlichen Lebens zu.228 Die Geistseele wird unmittelbar von Gott geschaffen und in den von den Eltern gezeugten materiellen Kindesleib eingesenkt. Der Vorgang vollzieht sich am 40. Tag bei männlichen und am 80. Tag bei weiblichen Embryonen. Daraus wurde ein abgestuftes Lebensrecht abgeleitet, das noch heute den Kern der Fristenlösung bildet.229 Erst mit Entstehung neuzeitlicher Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die Frage, ob die Leibesfrucht ein individueller Mensch ist, zum theologischen und kirchlichen Problem. Besonders embryologisch-medizinische Konzeptionen des Ungeborenen und die Ausdehnung des mikroskopischen Blickes eröffnen einen Raum, in dem der ‚Kinds‘körper überhaupt erst zu einem epistemologischen Objekt und der Status des Ungeborenen als theologische Frage aber auch als Problem in der religiösen Praxis diskutiert werden kann. Haben bis dahin abgegangene Leibesfrüchte einen Zwischensta-

der Frau nicht, sondern wurde vor der Geburt schlichtweg nicht als separier- und verwaltbarer Teil problematisiert. Zur historischen Entstehung der heutigen juridischen Wahrnehmung des Körpers als Eigentum vgl. Lüdemann (1996). 227 Vgl. Wildfeuer (1998): 542. 228 Vgl. ders. & Göbel (2005): 95. 229 Die Dreimonatsfrist des § 218 StGB beruht auf der aristotelischen Annahme, dass sich die ‚Einstiftung der Geistseele‘ am 90. Tag vollzieht. Vgl. Kreß (2005): 80.

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tus zwischen Diesseits und Jenseits, wird ab nun in der Kirche mit nicht gekannter Dringlichkeit die Frage virulent, ob sie getauft werden müssen und zur Gemeinde, zum Leib und Leben Christus’, gehören.230 Die protestantische Kirche stellt daraufhin das Ungeborene dem Geborenen gleich.231 Im Pietismus wird das Heil des Ungeborenen auch an die Gebete und den frommen Lebenswandel der Eltern gebunden. Mittels einer ‚gottzugewandten‘ elterlichen Lebensweise soll die Heiligkeit des ungeborenen Lebens gewährleistet werden.232 Besonders der Frauenleib wird dabei zur Zielscheibe religiöser Praktiken233 und so die Grundlage für heutige disziplinierende Gesundheitspolitiken gelegt. Das „moralische Wohlverhalten“ der schwangeren Frau wird zur Voraussetzung einer gelungenen Geburt. Zugleich wird die biblische Bewertung der Fruchtbarkeit als Gabe Gottes bestätigt und Mutterschaft als Beruf allen Frauen verordnet.234 Die katholische Kirche hingegen verlegt die Taufe schlichtweg auf Leibesfrüchte im Mutterleib vor.235 Sie ontologisiert auf diese Weise die Lehre des Kreatianismus, die sich bis heute in katholischtheologischen Annahmen findet.236 Protagonisten der katholischen Kirche gehen in der Stammzelldebatte davon aus, dass der Embryo vom Moment seiner Befruchtung an eine Person ist, Personwürde besitzt und unter absolutem Schutz steht. Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik (PID) und Stammzellforschung, die Nutzung der In-vitroFertilisation (IVF)* sowohl von gleichgeschlechtlichen als auch von

230 Vgl. Duden (2002a): 34. 231 Vgl. dies.: 35. 232 Vgl. dies.; Vgl. Gleixner (2002). 233 Die Disziplinierung des Leibes war im Protestantismus stärker als im Katholizismus. Das hing mit der Veränderung von starren kirchlichen Strukturen im Protestantismus zusammen, die eine Verschiebung der institutionellen Disziplinierung auf den Körper begünstigte. Vgl. Moltmann-Wendel/Ammicht-Quinn (2002): 337. 234 Vgl. Gleixner (2002): 77ff. 235 Vgl. Duden (2002a): 34. 236 Schockenhoff bezieht sich beispielsweise auf Aquins Kreatismuslehre. Vgl. Schockenhoff (2002).

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heterosexuellen Paaren sind deshalb per se verboten.237 Diese problematische Linie wird in voller Tragweite in einem Lehrschreiben aus dem Jahr 1987 deutlich, in dem Joseph Ratzinger, damals noch Präfekt, die Kreatinismuslehre so formuliert: „Vom Augenblick der Empfängnis an muß jedes menschliche Wesen in absoluter Weise geachtet werden, weil der Mensch auf der Erde die einzige Kreatur ist, die Gott ‚um ihrer selbst willen gewollt‘ hat, und die Geistseele jedes Menschen von Gott ‚unmittelbar geschaffen‘ ist; sein ganzes Wesen trägt das Abbild des Schöpfers“.238

Solche Lehrschreiben sind Ausdruck der strikten Handlungsanweisungen und -verbote, die die katholische Kirche für ihre Mitglieder artikuliert. Denn katholisches Kirchenrecht, das kanonische Recht, soll dogmatisch bindend sein.239 Die Kongregation hat, so Ratzinger, für die Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche die Funktion, „die Glaubens- und Sittenlehre in der ganzen katholischen Kirche zu fördern und zu schützen“.240 Katholische Ethiker beziehen sich in deshalb in Texten zu bioethischen Themen oft auf Stellungnahmen der katholischen Kirche.241 Viele Repräsentanten der evangelischen Kirche haben sich der grundsätzlichen Kritik der katholischen Kirche an neuen Bio- und Reproduktionstechnologien angeschlossen.242 Die Sprecher evangelischer Kirchen haben die von Ratzinger geäußerte kreationistische Begründung, „die Personwürde des Embryos beruhe auf der Einstiftung einer Geistseele durch Gott zum Zeitpunkt der Befruchtung der Eizel-

237 Vgl. Kreß (2005): 77. 238 Ders. 239 Vgl. ders.: 77f. 240 Ratzinger (1987). 241 Auf Ratziger bezieht sich beispielsweise Hilpert (1998): 296, der in D.2.2 besprochen wird. 242 Vgl. Kreß (2005): 77; Körtner (2005). Anselm et al. grenzen evangelische von katholischer Ethik dadurch ab, dass aus dem ‚rein Natürlichen‘ keine normativen ethischen Urteile abgeleitet werden könnten. Vgl. Anselm et al. (2002).

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le“, für ihre eigenen Argumentationen jedoch nicht übernommen.243 Aufgrund der fehlenden kirchenrechtlichen Befugnis und theologischen Legitimation haben die evangelischen Kirchenleitungen zudem kein förmliches Verbot der IVF ausgesprochen. Dennoch haben Rat und Synode der Evangelischen Kirchen in Deutschland im November 1987 erklärt, dass aufgrund des Embryonenschutzes von der IVF abzuraten sei.244 Eine bemerkenswerte ‚Ausnahme‘ bildet eine Gruppe von evangelischen Theologen, die sich 2002 in einem Schreiben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegen die Leitung der evangelischen Kirchen stellen. Sie sprechen sich für den Import embryonaler Stammzellen und für die Zulassung von Stammzellforschung unter staatlicher Kontrolle aus, was wiederum vom Ratsvorsitzenden der EKD-Synode Manfred Kock als Abweichung von der EKD-Linie in seiner Abschiedsrede kritisiert wurde.245 Diese forschungsfreundlichen evangelischen Ethiker werden dann auch diejenigen Repräsentanten des theologischen Diskurses sein, die in den folgenden Jahren in staatliche Bioethikinstitutionen wie die Zentrale Kommission für Stammzellenforschung berufen werden.246 Für die Analyse des theologischen Diskurses zu Stammzellforschung im nächsten Abschnitt bleiben folgende spezifische Kennzeichen des theologischen Lebensbegriffes festzuhalten: 1. Die Schöpfungsgeschichte liefert nicht nur die Koordinaten des theologischen Lebensbegriffes im Ersten und Neuen Testament sowie für die theologiegeschichtlichen Rezeptionen biblischer Texte, sondern auch für die christliche Anthropologie und ihren Personbegriff. 2. Leben wird in der Genesis nicht vom Mann geschweige denn von der Frau gegeben, sondern unmittelbar von Gott: Leben ist heilig und etwas, was den einzelnen Menschen übersteigt und seiner Verfügung entzogen sein soll. Auch im Neuen Testament wird der

243 Kreß (2005): 77. Dazu kritisch Körtner (2005): 140. 244 Vgl. Kreß (2005): 78. 245 Vgl. ders.; Anselm et al. (2002). 246 Dazu o. B.3.9.

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Mensch nicht als Schöpfer seines eigenen Lebens angesehen. Stattdessen wird das Leben des Einzelnen in Bezug auf Christus gedacht: Nur vermittelt durch Christus kann der diesseitige Mensch an einem erlösten Leben teilhaben. Der schöpfungsgeschichtliche und der neutestamentliche Lebensbegriff beziehen ihre ‚innere‘ Stabilität aus einer erotisierten heterosexuellen Geschlechterdichotomie. Das Leben der Frau wird jedoch weder im Ersten noch im Neuen Testament als eindeutige Schöpfung Gottes bestimmt: Gottebenbildlich ist nur der Mann. Für das Neue Testament zementieren besonders paulinische Texte diese Aussage. Dort wird Gott als das Urbild, Christus als das Abbild Gottes und zugleich als Haupt des Mannes beschrieben. Der Mann wird schließlich als das Haupt der Frau dargestellt. Allein der Mann steht somit in einer direkten Beziehung zu Christus und ist für Paulus authentischer Repräsentant Gottes auf Erden. Die Frau hat nur vermittelt über den Mann Anteil an der Gottebenbildlichkeit bzw. an Christus. Die Frau wird in der Bibel und in ihrer theologiegeschichtlichen Interpretation jedoch nicht nur als das Ausgeschlossene oder als das Andere des gottebenbildlichen Lebens verstanden, sondern im Begriff der Sünde sogar als lebensfeindliches Prinzip. Dem korrespondieren zwei geschlechtlich codierte Körperbegriffe: Der beseelte Leib und das sündige Fleisch. In der Genesis wird Adams Schöpfung als Beseelung seines Leibes dargestellt. Die Frau ist hingegen Adams Rippe, das heißt fleischlicher aber nicht eindeutig beseelter Körper. Im Neuen Testament wird dann die sündige Gemeinde mittels der Metapher des weiblichen Körpers dargestellt. Damit sind die Koordinaten für historisch spezifische und variierende Interpretationen der Gottebenbildlichkeit durch das Mittelalter bis heute festgelegt. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass die Frau im Vorgang der Reproduktion als vernunft- bzw. gottloser Körperrohstoff begriffen wird. Die Codierung des gottebenbildlichen Lebens als männlich und die Abwertung der Frau als Sünde gehen in den Dualismus von Rationalität/Vernunft und Irrationalität des neuzeitlichen Wissens über und kulminieren in der

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„Vorstellung christlichen Lebens als Vermännlichung und Vergottung“.247 8. Mit Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften entsteht ein Raum, in dem die Frage erstmals virulent wird, ob der Embryo ein gottebenbildlicher Mensch ist. Aufgrund der dargelegten Einschreibungen von Geschlecht und Körper im theologischen Lebensbegriff wird er ‚gegen den Leib‘ der Frau als heiliges Leben definiert. C.2.2 Körper- und Geschlechtermetaphern in theologischer Bioethik Im zeitgenössischen theologischen Diskurs zur Stammzellforschung wird die Konstruktion des menschlichen Lebens als gottebenbildlich in den kantischen Begriff der Menschenwürde gewendet.248 Theologische Positionen können so den diskursiven Regeln der eigenen Disziplin genügen: Menschliches Leben wird in eine Beziehung zu Gott gestellt und als heilig gedacht. Darüber hinaus lässt sich das theologische Anliegen des Embryonenschutzes mit ‚säkular-symbolischer‘, politischer und institutioneller Macht ausstatten. Denn mit Kant sollen ethische Lebensschutzpositionen zur Stammzelldebatte in Kategorien artikuliert werden, die über das theologische und religiöse Feld hinaus plausibel erscheinen.249 Bündnisse mit rechtswissenschaftlichen und

247 Kuhlmann (2006): 31. 248 So beispielsweise bei Kreß (2000): 24; Höver/Baranzke (2002); Fuchs (2004). 249 Wolfgang Göbel, katholischer Moraltheologe, beschreibt die Notwendigkeit, sich in einer theologischen Ethik auf die Vernunft‚ als letzte Instanz im Normativen zu beziehen, folglich so: „Hier wie da, innerhalb und außerhalb des christlichen Ethos ist bei der Orientierung der Praxis die eine allen Menschen gemeinsame Instanz tätig, die Instanz, deren spezifische Aufgabe es ist, den Menschen nach eigener Wertung und Wahl den richtigen Weg finden zu lassen durch das weite Feld grundsätzlich offener Handlungsmöglichkeiten. Diese Instanz heißt traditionell praktische Vernunft. Und sie hat sich dann auch in der Grundlagendis-

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philosophischen Positionen können so über den Begriff der Würde des Embryos hergestellt werden, solange sie ebenfalls seinen Lebensschutz stärken wollen.250 Die Verbindungen werden dadurch erleichtert, dass die Figur der Gottebenbildlichkeit den Kern des Menschenwürdebegriffs bildet und auch in das Grundgesetz eingegangen ist.251 Zudem ist zumindest die evangelische Kirche durch das Staatskirchenrecht auf eine Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen verpflichtet.252 Theologische Ethiker, die eine Verbindung zwischen Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde herstellen, beziehen sich jedoch auf unterschiedliche Ansätze. Eine Argumentationslinie begreift sowohl Menschenwürde als auch Gottebenbildlichkeit als Geschenk Gottes und folglich als göttliche Attribution. Beide gründen in der Transzendenz des Schöpfergottes und seien deshalb innerweltlich unverfügbar. Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit werden folglich als göttliche Essenz des Menschen verstanden, die der Menschengesellschaft vorgängig ist.253 Die andere Strömung denkt Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit zwar auch als gottgegeben, sie argumentiert jedoch stärker über klassisch philosophische Begriffe wie Freiheit und interpretiert sowohl Menschenwürde als auch Gottebenbildlichkeit ausgehend von Kants Idee der praktischen Vernunft. Diese Version

kussion als die eigenständige, unhintergehbare, entscheidende Instanz im Normativen behauptet.” Göbel (2005): 96. 250 Dazu u. C.3.1.2 & C.4.1 & C.5.1. 251 Vgl. Stein (2002). Zur Transformation theologischer Figuren in Staatskonzeptionen im Mittelalter vgl. Kantorowicz (1994). 252 Vgl. Freiherr von Campenhausen (2001): 79; Körtner (2005): 143. 253 Kreß beschreibt diesen Ansatz so: „Doch schon die hebräische Bibel hatte einem jeden Einzelnen einen unverfügbaren, ohne Vorbedingung geltenden Eigenwert zugesprochen, indem sie ihm das Attribut der Gottebenbildlichkeit zuerkannte.“ Kreß (2000): 24. Kerstin Fuchs stellt diese Interpretation der Verbindung zwischen Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit folgendermaßen dar: „Doch für Christen gilt auch heute noch die Zusage Gottes, dass der Mensch als Mensch einen Wert hat – vorgegeben, unverfügbar, geschenkt – egal, was er als Mensch leistet.“ Fuchs (2004): 22.

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von Würde und Gottebenbildlichkeit ist unter theologischen Bioethikern prominenter als erstere und wird deshalb im Folgenden dargestellt. C.2.2.1 Gottebenbildliche Menschenwürde Die theologische Interpretation der schöpfungsgeschichtlichen Gottebenbildlichkeit in kantischen Begriffen kann grob so dargestellt werden: Bereits in der Schöpfungsgeschichte wird der Mensch mit Erhalt der Gottebenbildlichkeit in eine Beziehung zu Gott gestellt.254 Denn Gott erschafft dort jeden einzelnen Menschen nach seinem Ebenbild. Folglich sind die Menschen nicht nur unter einander gleich, sondern befinden sich von nun an in einer je individuellen Beziehung zu Gott. Diese Beziehung enthält zudem ein normatives und reflexives Moment. Weil der Mensch zwar nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden ist, zwischen Schöpfer und Geschöpf aber eine Differenz besteht, hat der Mensch auch den Auftrag erhalten, sich mittels Selbstbetrachtung zu vervollkommnen und sein irdisches Dasein dem Bild Gottes anzunähern. Damit unterscheidet sich der Mensch vom Tier, das als ‚bloßes‘ Lebewesen geschaffen worden ist: Weil ihm die Gottebenbildlichkeit ausschließlich unmittelbar zukomme, steht es in keiner normativen und selbstreflexiven Beziehung zu Gott. In diesen Interpretationen der Gottebenbildlichkeit liegt die Betonung anders als in der ersten Linie stärker auf der Beziehung zwischen dem erschaffenen Menschen und Gott, das heißt zwischen Schöpfer und Geschöpf. Gottebenbildlichkeit wird nicht als bloße Zuschreibung oder als natürliches Attribut interpretiert, das von Gott geschenkt worden ist. Gott ist ebenfalls kein ‚einfach‘ gedachter, universaler Lebenserhalter, sondern nimmt in der Gottebenbildlichkeit jede Lebensgestaltung unter seinen Schutz. Höver und Baranzke bringen diese kantische Interpretation der Gottebenbildlichkeit so auf den Punkt:

254 Körtner, Barth oder Huber interpretieren die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Beziehung zwischen Mensch und Gott, in der der Mensch von Gott als freies und sittliches Wesen angesprochen und zur Antwort aufgerufen wird. Die Würde der Person wird als gottebenbildlich und deshalb transzendental gedacht. Vgl. Körtner (2005): 107; Barth (2003): 349f. & 351; Huber (2001): 9f. & 14 & 16.

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„‚Heiligkeit des menschlichen Lebens‘ ist aber eine Auszeichnung höchstens im Sinne eines besonderen nicht-natürlichen Auftrages, nämlich sein Leben durch eine besondere Lebensführung – die ‚Imitatio Christi‘ zu heiligen. Wie die Gottebenbildlichkeit so ist auch die Heiligkeit des Lebens kein ontologisches Qualifizierungsmerkmal, welches der Mensch passiv mit sich herumträgt, sondern einerseits ein gottesrechtlich begründeter Verantwortungsbegriff, sein eigenes Leben vor der göttlichen Verantwortungsinstanz zu rechtfertigen; zugleich ist er ein Schutzbegriff, der die vor Gott gleichberechtigten Menschen voreinander unter den göttlichen Schutz stellt.“255

Den Zusammenhang zwischen Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde beschreiben Höver und Baranzke folglich so: „Die Idee der Menschheit ist gewissermaßen ein durch praktische Vernunft geschärftes reflektiertes normatives Selbstverständnis, das sich über individuelle Vorlieben hinaus in den universalen Horizont menschlichen Selbstverständnisse stellt. Die Idee der Menschheit entspricht traditionell gesprochen der moralischen Entelechie eines jeden Menschen, nämlich dem Menschenbild, nach dem sich jeder Mensch perfektionieren soll.“256

Gottebenbildlichkeit und Würde – die ‚gottebenbildliche Würde‘ – werden als Auftrag der reflexiven Selbstvervollkommnung begriffen. Das Ideal für das Streben nach Gottebenbildlichkeit ist Gott. Um Würde zu erlangen, bedarf es der Idee des intelligiblen Menschen. Denn sowohl Adam und Eva als auch der empirische Mensch der praktischen Vernunft sind aufgrund der (weiblich bestimmten) Sünde oder der Sinnlichkeit im materiell-irdischen Dasein situiert. Ihr Streben nach Vervollkommnung, zu dem sie aufgrund ihres reflexiven Selbstverhältnisses zu Gott oder zum obersten Zweck fähig sind, machen sie aber zum Teil Gottes oder zum homen noumenum. C.2.2.2 Die Würde des Embryoleibes Wie lässt sich der Embryo mit dem Begriff der gottebenbildlichen Würde fassen? Der Embryo verfügt nach den Kriterien des neuzeitli-

255 Höver/Baranzke (2002): 157. 256 Dies.: 163, Herv. i.O.

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chen Vernunftsubjektes über kein reflexives Selbstverhältnis, mittels dessen er sich einem Ideal annähern könnte. Um das skizzierte theologische Konzept gottebenbildlicher Würde auf den Embryo zu übertragen, greifen theologische Ethiker interessanterweise auf verschiedene Leibbegriffe zurück: Der Lebensbegriff wird an den „gelebten Leib“ oder besser den Körper gebunden.257 Denn – so die theologische Argumentation – in der Theologie wird das Leben nicht wie etwa in philosophisch-platonischen Ansätzen reduktionistisch gewertet, sondern integral als Einheit von Leib und Seele verstanden. So heißt es im Lexikon der Bioethik zum theologischen Lebensbegriff: „Das Leben wird als Einheit gesehen und gewertet; ein Leib-Seele-Dualismus ist der Bibel, anders als der platonischen Philosophie, fremd. Das Wort ‚Schalom‘, Heil, schließt sowohl das physische Wohlergehen als auch das Seelenheil ein. In der Redewendung von der ‚Fülle des Lebens‘ wird dieses umfassende Verständnis vom Leben als Grundvoraussetzung von Wohlergehen, Glück und Heil fassbar.“258

Nachdem der Leib im christlich-theologischen Wissen erst im letzten Jahrhundert überhaupt in den Blickpunkt gerückt ist, wird er in zeitgenössischen Ansätzen theologischer Ethik ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion.259 Der theologische Personbegriff in der Stammzellendebatte beinhaltet folglich die Dimension der Leiblichkeit.260

257 Zum Unterschied und zur Verwendung der Begriffe Körper und Leib o. A. 258 Honecker (1998): 535. Vgl. Maier (2002): 331f. 259 Zur Marginalisierung und Geschichte des Leibes in philosophischer Theologie vgl. Wendel (2003). 260 „Die Basis personalen Lebens ist vielmehr der Leib, die Eigenleiblichkeit. Die Achtung der Personwürde und der Schutz des Lebensrechts beziehen sich auf die gesamte Person, einschließlich ihrer Körperlichkeit.” Honecker (1998): 536. „Der eigene Körper ist allerdings die notwendige Bedingung unserer Existenz als Person.“ Körtner (2005): 115 & 148. Ebenso Schockenhoff (1996): 242 & (2002); Moxter (2003); Dabrock/Klinnert (2001); Ratzinger (1987). Zur theologischen Kritik am vernunftzentrierten Menschenbegriff vgl. Fuchs (2004): 21f.

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Doch welcher Leib letztendlich politisches Gewicht erhält, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Peter Dabrock und Lars Klinnert haben den Leibbegriff im theologischen Diskurs zu Stammzellforschung meines Erachtens am stärksten herausgearbeitet.261 Die theologischen Bioethiker beziehen sich auf Kants Ethik und versuchen seinen Würdebegriff auf Embryonen zu übertragen, so dass sie als menschliches Leben gelten und vor der Vernutzung geschützt werden können.262 Subjekt der Würde ist die Person und zentrales Kennzeichen der Person ist für Dabrock und Klinnert wiederum die Fähigkeit, Interessen zu artikulieren, Selbstbewusstsein und Moralfähigkeit. Diese Attribute seien grundlegend, um einem Wesen Würde zuschreiben zu können.263 Die Vernunftkomponente steht somit bei Dabrock und Klinnert im Zentrum des Personbegriffs, womit sie den in der Debatte dominanten Personbegriff als Kern der Würdezuschreibung übernehmen. Der Leib bildet jedoch den Sockel der Vernunft. Das Entscheidende in ihrer Argumentation ist folglich, dass sie einen vernunftzentrierten Personbegriff theoretisch auf „Leiblichkeit als konstitutive Weise der Vernunft und des Vernunftträgers“ gründen.264 Der Leib wird somit nicht nur in den Personenbegriff integriert, sondern sogar als Grundlage der Vernunft gesetzt. Den Leibbegriff begründen sie wiederum mit Rückgriff auf die Theorie des französischen „Existenzialphänomenologen“ Maurice Merleau-Ponty: Alle vernünftige Erkenntnis ist ihm zufolge verkörpert.265 Der Personenbegriff umfasst deshalb sowohl den Leib als auch

261 Vgl. Dabrock/Klinnert (2001). Dabrock war von 2004 bis 2007 Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer und ist seit 2002 Juniorprofessor für Bioethik und Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Lars Klinnert ist katholischer Theologe. Körtner bezieht sich positiv auf sie. Vgl. Körtner (2005): 118. 262 Ebenso die katholischen Moraltheologen Höver/Baranzke (2002). 263 Vgl. Dabrock/Klinnert (2001): 16. 264 Dies.: 16f. 265 Vgl. Dreyfus/ Rabinow (1994): 17f. & 58 & 197 & 67. Im Zentrum der merleau-pontyschen Phänomenologie steht der „gelebte Körper“: Der

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das personale Ich, wobei beide nicht identisch seien sollen. Denn der Leib habe für das Ich eine zentrale Bedeutung als „Medium“ – erst durch den Leib sei das Ich in der diesseitigen Welt.266 Darüber hinaus komme das Ich jedoch nicht nur mittels des Leibes in die Welt: Der Leib sei zudem Möglichkeitsbedingung des In-der-Welt-Seins des Ich. Anders ausgedrückt: ohne Leib kein personales Ich. Die leibliche „Verankerung in der Welt“ manifestiere sich vor allem in Grenzerfahrungen, die der Mensch mache. Geburt, Krankheit, Verwundung und Tod seien Beweise dafür, dass leibliche Erfahrungen wie Trägheit, Materialität, Verletzlichkeit und Endlichkeit den „unhintergehbaren Status des leiblichen Ich“ darstellen. Dabrock und Klinnert schreiben dem Leib damit einen transzendentalen Status zu: „Unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit bedeutet in der philosophischen Terminologie aber nichts anderes als: transzendental.“267 Sie erarbeiten mit ihrem Bezug auf Merleau-Ponty einen theoretischen Personbegriff, der den Körper ausdrücklich umfasst und für Erkenntnis als konstitutiv ansieht und gehen von einem theologischen Leibbegriff aus, der perspektivisch und standortgebunden ist. Zugleich verstärken sie jedoch den Aspekt des Transzendentalen in der phänomenologischen Konzeption des Körpers als transzendental-empirisches Doppel.268 Theologische Leiblichkeit wird als Eigenleiblichkeit so als etwas Vorgesellschaftliches, Vordiskursives und Unmittelbares konzipiert, um die Distanz zu einem biowissenschaftlichen Leib- und Lebensbegriff zu betonen.269

Körper und nicht das transzendentale Ego organisiere die Erfahrung, weshalb der Leib und seine Grenzen die Existenzbedingungen allen Wissens darstellen. Folglich sei der Wissende selbst und somit alle vernünftige Erkenntnis verkörpert. 266 Der Mensch ist „durch seine Leiblichkeit“ mit dem „Leben als solchem“ verbunden. Honecker (1998): 536. Vgl. Wendel (2003): 252. 267 Dabrock/Klinnert (2001): 17. 268 Merleau-Ponty fasste den Leib als eine Gesamtheit von Vermögen und als solchen begriff er ihn wiederum als eine „doppeldeutige Entität“, das heißt zugleich als eine Tatsache und doch auch als das, was erst alle Tatsachen ermöglicht. Vgl. Dreyfus/Rabinow (1994): 67. 269 Vgl. Wendel (2003): 252.

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Daraus resultiert auch die Konstatierung, dass der Leib und nicht nur das personale Ich zur Selbstdistanzierung und Desintegration fähig sei. Der theologische Leib wird nicht als rohstoffliches Objekt begriffen, das dem kontrollierenden Ich unterworfen werden kann und soll. Vielmehr werden bei Dabrock und Klinnert die traditionell eng mit dem Personbegriff assoziierten Attribute wie Erfahrung, Bewusstsein, Vernunft, Ausdruck, Sprache und Sinn unaufhebbar mit Leiblichkeit verknüpft. Insofern ist aber auch die kantische „Vernunft apriorisch nie als rein zu charakterisieren, sondern als inkarnierte Vernunft, als ‚reflexion sensible‘ zu beschreiben“.270 Bereits der Embryonenkörper sei diese inkarnierte Vernunft und als leibliche Vernunft sei er wiederum „Würdepretendent“.271 Das Verhältnis von klassischen Dualismen und Leibbegriff beschreiben Dabrock und Klinnert so: „Leiblichkeit liegt also nicht nur den bekannten ontologischen Grundentscheidungen wie ‚Aktiv–Passiv‘, ‚Geist–Materie‘, ‚Idealität–Realität‘, ‚Individuelles–Allgemeines‘ voraus, sondern durch den Auftrags- und Sozialitätscharakter den lupenreinen moral- und sozialtheoretischen Scheidungen von ‚Deskriptivität–Normativität‘ oder ‚Natur–Kultur‘.“272

Angesprochen wird in diesem Zitat ein weiterer Aspekt ihres Leibbegriffes: Der Leib ist als Auftrag oder als Potential zu verstehen. Denn der Leib ist ein „Aktivitätszentrum“. Er ist in einen „konstitutiven Resonanzraum aus Passivität und Potentialität“ eingebettet.273 Indem Dabrock und Klinnert Leiblichkeit als Potentialität verstehen, können sie am Würdebegriff festhalten, in dessen Zentrum die Vernunftkomponente steht. Zugleich können sie ihn auf Menschen übertragen, die über solche Fähigkeiten entweder gar nicht oder nur im begrenzten Maße verfügen: Denn auch ein Schlafender, ein Mensch mit geistiger

270 Dabrock/Klinnert (2001): 17, Herv. i.O. 271 So verfährt auch Moxter. Er greift jedoch auf Fichtes Gestaltbegriff zurück: „Der menschliche Leib – so laute der Fluchtpunkt des Gedankens – ist die Gestalt seiner Freiheit.“ Moxter (2003): 128. 272 Dabrock/Klinnert (2001): 17. 273 Dies.: 18.

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Behinderung oder eben der Embryo verkörpert das Potential zur Vernunftfähigkeit, zum Ich-Bewusstsein oder zur Selbstreflexivität. Leiblichkeit sei deshalb als ein Auftrag zur Gestaltung zu sehen. Zugleich können Dabrock und Klinnert eine Analogie zu einer weiteren sozialphilosophischen Konzeption des Körpers herstellen: Zum Körper als System oder als einem autopoietischen Prozess. Denn Potentialität oder vernünftiges „leibliches Werden“ ist den beiden Theologen zufolge ein „autopoietischer Prozess“.274 Autopoisesis verstehen sie im Anschluss am Humberto R. Maturana und Nicklas Luhmann als „die selbstorganisationelle Reproduktion eines System aus dem ihm eigenen Programm heraus“.275 C.2.2.3 Die autopoietische Zygote als transzendentaler Embryonenkörper Die begriffliche Fassung des embryonalen Leibes als autopoietisches System ermöglicht Dabrock und Klinnert auch, an einen embryologischen Körperbegriff anzuschließen – und auf diese Weise ein Lebensrecht des Embryos zu postulieren. Damit stehen sie im theologischethischen Diskurs zur Stammzellforschung nicht alleine da. Denn die Mehrzahl theologischer Lebensschutzargumentationen ziehen „embryologische Erkenntnisse“ heran, um ihrer eigenen spezifisch theologischen Deutung Plausibilität und ‚weltliche Wirkmächtigkeit‘ zu verleihen.276 Dabei unterscheiden sich die theoretischen Strategien und das philosophische Niveau. Kleinster gemeinsamer Nenner ist dennoch das klassische Organismusmodell der Embryologie: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstehe eine neue Zygote*. Diese totipotente Zelle müsse als menschliches Leben angesehen werden, weil sie sich ab diesem Zeitpunkt kontinuierlich zu einem ganzen Individuum entwickeln könne. Dem klassischen Organismusverständnis liegt die Annahme eines immanenten Entwicklungsgesetzes zugrunde.277 Theologen ziehen daraus den Schluss, dass die befruchtete Ei-

274 Dies. 275 Dies. 276 Göbel (2005). 277 Zu den Organismusmodellen der Lebenswissenschaften o. C.1.

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zelle ein gottebenbildliches Subjekt der Würde ist und unter den grundgesetzlich festgeschriebenen Lebensschutz fällt. Dabrock und Klinnert formulieren den Zusammenhang zwischen dem Konzept des embryonalen autopoietischen Leibes und dem Würdebegriff beispielsweise so: „Wenn die Leiblichkeitsperspektive der Würdezuschreibung weiß, dass zur Leiblichkeit kontinuierliches Werden hinzugehört, kann sie am derzeitig als gesichert geltenden embryologischen Wissen nicht vorbeigehen, dass dieses Werden in der normalen leiblichen Schwangerschaft bis zur Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zurückführbar ist. Ab diesem Zeitpunkt wird aus zwei unterschiedlichen Keimzellen mit haploiden Chromosomensätzen eine neue Zygote mit einem neuen diploiden Chromosomensatz; es beginnt ein autopoietischer Entwicklungsprozess, der bei nichtwidrigen Umweltvoraussetzungen [d.h. der Frau!] als das Werden eines Individuums zu charakterisieren ist.“278

Der biologische Lebensbegriff stellt für sie jedoch keine ontologische Entität dar. Stattdessen versuchen sie eine Analogie zwischen theologischem und embryologischem Leibbegriff nachzuweisen: Die lebenswissenschaftliche Konzeption des embryonalen Körpers als ein sich selbst reproduzierender Organismus werde in der Logik der leiblichen Vernunft auf den Punkt gebracht. Der biologische Lebensbegriff wird somit nicht einfach als Tatsachenwissen, sondern als adäquate Beschreibung des Wirkens der leiblichen Vernunft im Menschsein begriffen. Denn Dabrock und Klinnert nehmen einen biologischen Begriff vom Menschen nicht einfach als Basis ethischtheologischen Philosophierens, sondern wollen zeigen, dass der menschlichen ‚Natur‘ selbst vernünftige Prinzipien immanent sind.279 Eine Analogie zwischen einem theologischen und einem embryologischen Begriff des Embryoleibes wird im theologisch-bioethischen Diskurs ferner mittels Aristoteles hergestellt. Das liegt nahe, denn

278 Dabrock/Klinnert (2001): 19f., Herv. i.O. Zum Bild der Frau als „nichtwidrige Umweltvoraussetzung“ u. C.2.2.4. 279 Ebenso Zunke, die sich gegen das Theologische Robert Spaemanns jedoch vehement abgrenzt. Vgl. Zunke (2004). Dazu o. C. 3.2.

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Aristoteles gilt bis heute als Begründer der Embryologie.280 Darüber hinaus spielte er für die Institutionalisierung der Theologie an den Universitäten eine wichtige Rolle. Die Etablierung sowohl der katholischen Theologie als auch der theologischen Ethik stand in engem Zusammenhang mit der Rezeption seiner Schriften im 13. Jahrhundert.281 Theologische Lebensschutzpositionen beziehen sich besonders auf den aristotelischen Begriff der Realpotenz. Denn er konnotiert Selbstorganisation, immanente Entwicklung und inneres Entwicklungsgesetz. Wolfgang Göbel, katholischer Moraltheologe, verschaltet begrifflich zum Beispiel Realpotenz mit seines Erachtens neuestem embryologischem Wissen: Die Verbindung von „weiblichem und männlichem Erbgut“ ergebe eine „Entität mit Programm“ – eine Potenz. Die Potentialität des Embryos sei folglich eine „Potenz an sich“. Göbel unterscheidet sie als „programmatische Entität“ von einer bloßen „potentia passiva“. Die Luft fällt beispielsweise unter den Begriff der passiven Potenz, weil sie von der Sonne erwärmt werden kann. Die Potenzialität des frühen Embryos sei hingegen alles andere als passiv, weil die Realpotenz aktiv das Werden des Embryos zu einem menschlichen Individuum betreibe.282 In Göbel’s Worten hört sich das so an: „Die Potenzialität des frühen Embryos betreibt ihre Realisierung. Die mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle entstandene Wirkeinheit sendet bereits Signale an den mütterlichen Organismus, die das Zusammenwirken mit ihm einleiten und lenken. Sie formt die mütterlichen Impulse, verarbeitet sie zu den eigenen Zwecken. Sie entwickelt eine eigene Dynamik, die auf Realisierung ihres Programms drängt. Sie bewirkt die Zellteilung und wirkt später mit bei der Zelldifferenzierung und so fort. Von Anfang an und ein Leben lang betreibt die hier wirksame Potenz die Aktivierung des Informations- und Steuerungssystems, das mit ihrem Programm vorliegt. Der frühe Embryo ist eine potentia activa (capacitas ad actum producendum), eine aktive Realpotenz.

[...]

280 Vgl. Müller/Hassel (1999): 4. 281 Vgl. Mandry (2006): 521. 282 Vgl. Göbel (2005):

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Schon mit der ersten Zellteilung stellt sich der frühe Embryo zudem als eine Wirkeinheit dar, die ihre Entwicklung nach eigenem Programm selbst steuert. Eine solche Selbstorganisation kennzeichnet ein Lebewesen. Das wirksame Programm des frühen Embryos ist die aktive Realpotenz eines Lebewesens.“283

Göbel konzipiert somit den Embryo mittels des aristotelischen Begriffs der Realpotenz und des klassischen Organismusbegriff als menschliches Leben. Unabhängig des Beitrags der Frau und ihres Körpers entwickelt er sich aus sich selbst heraus zu einem Individuum.284 Die Realpotenz wird als transzendentale Aktivität gedacht, die das grundlegende Prinzip der gottebenbildlichen Menschenentwicklung ausmachen. Viele theologische Ethiker greifen ‚direkt‘ auf embryonale Körperbegriffe zurück, ohne ein spezifisch theologisches Konzept des Körpers auszuarbeiten. Lebenswissenschaftliche Modelle werden als biologische Tatsachen, als ‚hard facts‘ dargestellt, die Entwicklungsprozesse des Lebens lediglich abbilden und auf dem theologische Argumentationen aufzubauen haben.285 So kritisiert der protestantische Theologe Hartmut Kreß, Mitglied in der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, in der ZES und im Kompetenznetzwerk Stammzellenforschung des Landes NRW, beispielsweise kreatinistische Beseelungstheorien.286 Stattdessen will er diese vorwiegend in katholischer Bioethik beliebten Ansätze durch embryologisches Wissen ersetzen. Der „moderne naturwissenschaftliche Erkenntniszuwachs“ hat bewiesen, so der Ethiker, dass der Embryo gattungsspezifisches menschliches Leben ist. Er entwickelt sich „innerhalb der mütterlichen Umgebung aus seinem Genom heraus zu einem vollständigen Menschen“. Damit sind die alten religiösen und philosophischen Spekulationen über die Beseelung entwicklungsbiologisch widerlegt.287 Die heutige Ethik, rät Kreß, muss sich für die Bewertung des Embryostatus’

283 Göbel (2005): 97f. 284 Zur Frage von Geschlecht u. C.2.1.2. 285 Vgl. Schockenhoff (2002). 286 Dazu o. 287 Vgl. Kreß (2005): 81.

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„diesen empirisch fundierten naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand zur Grundlage [...] nehmen, denn ethische Urteile werden dadurch plausibel und tragfähig, dass sie einen gemischt normativen Status besitzen und sich aus empirischen Sach- und normativen Werturteilen zusammensetzen.“288

Die eindeutigste Gleichsetzung von embryologischem Organismusbegriff und theologischer Gottebenbildlichkeit des Embryos findet sich bei Jürgen Becker. Für ihn sind embryologische Lebenskonzepte nichts anderes als eine Artikulation des göttlichen Schaffens in einer anderen Wissenschaftssprache: „Schon für die befruchtete Eizelle ist allgemein zugestanden, daß sie in sich die Potentialität eines Menschen trägt. Eben dieses Phänomen besitzt eine theologische Innensicht, nämlich die gleichzeitige Teleologie göttlichen Schaffens. Die Kunst, diesen Aspekt christlichen Gottesverständnisses zu suspendieren, müßte m.E. erst noch erfunden werden.“289

Gleich ob theologische Ethiker den Begriff der luhmannschen Autopoiesis, der aristotelischen Realpotenz oder der Teleologie göttlichen Schaffens bemühen, im Zentrum steht die Körperlichkeit des Embryos. Gemeinsamer Punkt ist, dass theologische Leibbegriffe den embryonalen Körper als Zentrum göttlicher Aktivität verstehen und so die Gottebenbildlichkeit des Embryos nachweisen wollen. C.2.2.4 Mutterleiber Die theologische Konstruktion des Embryos als transzendentales leibliches Subjekt der Würde ermöglicht, der Inwertsetzung des – embryonalen – Körpers entgegen zu wirken und die Gefahr seiner Vernutzung als Körpersubstanz zu thematisieren. So kritisieren kirchliche und theologische Vertreter ökonomische Interessen, die hinter Definitionen des Embryos als ‚bloßes‘ biologisches Leben stehen: „Ethische Prinzipien werden durch ökonomische Nutzenerwägungen nicht auf-

288 Ders.: 81f. & ders. (2000): 23. Körtner verfährt ebenso. Er unterscheidet aber zwischen sozialer, schöpfungstheologischer und biologischer Dimension. Vgl. Körtner (2005): 108. 289 Becker (2005): 69.

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gehoben“, stellt etwa Eberhard Schockenhoff fest.290 Auch sprechen theologische Bioethiker normierende Vorstellungen von Behinderung und Normalität an und kritisieren eine eugenische Alltagspraxis.291 Dennoch bergen die Argumentationen theologischer Bioethiker für die Geborenen Nachteile. Denn auch die theologische Konzeption des embryonalen Leibes als transzendentales Fundament des gottebenbildlichen Menschen stellt eine partikulare und heteronormative Perspektive auf den Körper dar. Fortpflanzung wird als ein Ereignis begriffen, in dem Gott der Hauptakteur ist und an dem lediglich die beiden Geschlechter Mann und Frau beteiligt sind.292 Zudem werden die Frau und der Frauenleib auf problematische Weise thematisiert. Die Bezeichnungen ‚nichtwidrige Umweltvoraussetzungen‘ (Dabrock und Klinnert), ‚mütterlicher Organismus ohne eigene Zwecke‘ (Göbel) oder die ‚mütterliche Umgebung‘ (Kreß)293 reduzieren Frauen im Fortpflanzungsprozess auf bloßes Material und letztendlich auf die Funktion biologischer Mutterschaft. Mutterschaft wird damit implizit als zentrale Wesenseigenschaft von Frauen im Allgemeinen festgeschrieben, denn in Diskussionen um Stammzellforschung geht es immer auch um die ordnende Aushandlung weiterer gesellschaftlicher Arrangements. Zugleich wird der weibliche Beitrag im Vorgang der Fortpflanzung auf diese Weise als bedeutungslos erachtet. Denn eine biologische Versorgungsmasse gilt nicht als wertvoll, sondern als ohnehin gegeben. Das resultiert aus den oben dargelegten hierarchischen Einschreibungen von Geschlecht im Begriff der Gottebenbildlichkeit, die den historischen Hintergrund der skizzierten theologischen Leibbegriffe bilden. Bereits in der Konzentration theologischer Bioethiker auf die Begründung der Gottebenbildlichkeit des Embryos, manifes-

290 Schockenhoff (2002): 44. 291 Vgl. Göbel (2005): 103; Huber (2001): 12; Schockenhoff (2005): 219. Körtner weicht zwar davon ab, indem er das Recht auf gesunde Kinder kritisch thematisiert. Zugleich spricht er sich jedoch für die PID zwecks Vermeidung eines nicht lebensfähigen Kindes aus. Vgl. Körtner (2005): 117f. & 120. 292 Zum heteronormativen Aspekt u. C.2.2.6. 293 So auch Körtner (2005): 116f.; Anselm et al. (2002): 5.

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tiert sich die heteronormative Konstruktion der Frau als das Andere der Gottebenbildlichkeit. Die vernünftige Leiblichkeit, Realpotenz oder Teleologie des Embryos soll symbolisch als eine ‚starke Leiblichkeit‘ etabliert werden und als transzendental, heilig und nicht relational gelten. Der Embryo erhält damit einen privilegierten Leib, dessen Antastbarkeit in der Stammzelldiskussion als nicht diskutabel durchgesetzt werden soll. Die Leiblichkeit eines ‚pränatalen Jenseits‘ hat folglich im theologischen Diskurs mehr Gewicht als die Leiblichkeit der Geborenen. Denn die Frau wird auf das weniger gewichtete irdisch-materielle Prinzip festgeschrieben – auf eine diffuse ungeordnete Biomasse. Durch die mittelalterlichen Vernunftkonzeptionen, über die neuzeitliche Ausdehnung der Gottebenbildlichkeit auf den Embryo bis zum heutigen Begriff der leiblichen Vernunft des Embryos wird Leben als jenseits des weiblichen Körpers konzipiert. Obgleich der theologische Leib- anders als viele lebenswissenschaftliche, philosophische und rechtsphilosophische Körperbegriffe294 die Möglichkeit bietet, gesellschaftliche Hierarchien und heterogene Erfahrungen in biowissenschaftlichen Settings zu thematisieren, wird er als transzendental-embryonaler Leib vom misogynen Erbe theologischen Wissens eingeholt. Bettina Mathes erklärt die Abwertung des mütterlichen Körpers im christlich-jüdischen Monotheismus so: „Julia Kristeva hat gezeigt, dass mit dem jüdischen und christlichen Monotheismus neue Sichtweisen auf den mütterlichen Körper entstanden, die diesen als das ‚Andere‘ der symbolischen Ordnung entwarfen – eine symbolische Ordnung, die Linearität (statt zyklisches Denken), Individualität (statt Zweiheit) und den Vorrang des Geistes vor dem Körper besagt. In dieser neuen Ordnung binärer Hierarchien erscheint der mütterliche Körper nicht nur als passiv (er trägt nichts zur Schöpfung bei), sondern auch als unrein und gefährlich.“295

Mathes spricht damit an, dass die Konstruktion der Frau als fötales Umfeld nicht nur eine Entsubjektivierung für die Frau bedeutet. Im Begriff der Sünde wird sie sogar als lebensfeindliches Prinzip verstanden. Eine theologische Sicht auf den weiblichen Körper, die ihn

294 Dazu o. C.1 & u. C.3 & C.4. 295 Mathes (2006): 163.

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nicht nur als nutzlos für die Schöpfung menschlichen Lebens erachtet, sondern als gefährlich oder als moralisches Übel begreift, tritt besonders deutlich in den theologischen Abtreibungspositionen zutage. C.2.2.5 „Verabscheuungswürdige Verbrecherin“ – Theologische Äußerungen zur Abtreibung Vertreter der christlichen Kirchen und der Theologie waren zentrale Kräfte, die über die Jahrhunderte und besonders in den letzten Jahrzehnten entscheidend zur Konstruktion der Leibesfrucht als schützenswertes menschliches Leben beigetragen haben. Die Perspektive der Schwangeren wird dabei kontinuierlich ausgeblendet und ihr Körper dem Lebensschutzinteresse unterstellt.296 Abtreibung wird und wurde konsequent abgelehnt und als Fetozid verurteilt.297 Theologische Bioethiker verhandeln Abtreibung im Kontext von Stammzellforschung deshalb, um ihre Lebensschutzpositionen zu stärken:298 Das moralische Kernproblem sowohl der Abtreibungsfrage als auch der Stammzellendebatte sei der Status des Embryos. Deshalb könnte ein Bezug auf die Abtreibungsproblematik helfen, die Frage zu klären, ob der Embryo menschliches Leben sei oder nicht. Die Verhandlung der komplexen Lebenssituation der Beteiligten, die in der Metapher der Abtreibung zusammengefasst wird, wird so ausschließlich als Frage nach dem Status des Embryos gestellt und in die eigenen Lebensschutzpositionen eingewoben.299 Im theologischen Diskurs zu Abtreibung existieren unterschiedliche Konstruktionen der schwangeren Frau. Zum einen wird die Frau offen kriminalisiert, wenn sie sich für eine Abtreibung entscheidet. Die katholische Kirche ist prominentes Beispiel für wenig verhaltene frauenfeindliche Positionierungen. So bezeichnet Joseph Ratzinger in der Donum vitae Abtreibung als „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ und brandmarkt implizit auch die Frau als Straftäterin.300

296 Vgl. Duden (1996). 297 Vgl. Klötli (2007); Krones (2005): 27. 298 Vgl. Dabrock/Klinnert (2001): 8; Anselm et al. (2002). 299 Vgl. Huber (2001): 16. 300 Ratzinger (1987).

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Evangelische Positionen greifen zwar auf weniger drastische Bilder zurück. Die ‚Selbstbestimmung‘ der Frau haben jedoch auch sie nicht zum Ziel. Dabrock und Klinnert blenden die Perspektive der Frau weitgehend aus und versuchen eine Diskussion der Abtreibungsproblematik wohl aus taktischen Gründen zu umgehen. Ihre Haltung wird jedoch in einer Randbemerkung deutlich. Dort wird die abtreibende Frau implizit als moralisch Schuldige gedacht. Die „rechtliche Toleranz einer moralisch fragwürdigen Handlung“, so die beiden Theologen, bedeute „noch keine Legitimation für ein weiteres Schuldig werden in anderen Fällen“.301 Sie fahren fort: „Vielmehr müsste im genannten Beispiel umgekehrt über die mögliche Korrekturbedürftigkeit der Abtreibungsgesetzgebung nachgedacht werden. Die Forderung nach Gleichheit des Rechtsschutzes darf nicht in eine Forderung nach Gleichheit des Unrechts verkehrt werden.“302

Dabrock und Klinnert kritisieren an dieser Stelle den § 218. Das Gesetz begreift Abtreibung zwar als rechtswidrige Handlung, ermöglicht jedoch, sie straffrei durchzuführen. Sie stellen sich zudem gegen bioethische Verweise auf den Paragraphen, mit denen Embryonenforschung legitimiert werden soll.303 Die beiden Theologen sprechen dem Embryo hingegen einen transzendentalen Status zu und begreifen Abtreibung folglich als moralisches Vergehen gegen menschliches Leben und gegen Gott. Zwar benennen sie an dieser Stelle die Frau nicht explizit als Handelnde. Im Zentrum von Schwangerschaft und Abtreibung steht jedoch der Frauenkörper. Die Frau ist letztendlich diejenige, die eine Abtreibung am eigenen Leib durchführen lässt und somit ist auch sie es, die implizit als Schuldige angeprangert wird.

301 Dabrock/Klinnert (2001): 8. 302 Dies. 303 In rechtsphilosophischen Bioethiken bezieht sich beispielsweise Reinhard Merkel auf den ‚inkonsistenten Rechtssubjektstatus‘ des Embryos im § 218, aus dem eine Abschaffung des EschG und des StZG folgen müsse. Vgl. Merkel (2002a): 34. Zu Merkel u. C.3.1.1. Vgl. auch Schöne-Seifert (2002).

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Eine letzte Figur in den theologischen Abtreibungsverhandlungen ist die schwangere Frau, der eine Abtreibung zugestanden wird, wenn ihr Leben gefährdet ist.304 Das Lebensrecht der Frau wird hier großzügig mit dem des Embryos auf eine Stufe gestellt. Doch auch dieses Zugeständnis an die Frau geht von einer grundsätzlichen Austragungspflicht aus und erkennt der Frau die Selbstbestimmung über den Leib ab, um sie ihr dann als eine Ausnahme wieder zurückzugeben.305 Gerade weil im Zentrum allein das ‚Leben‘ des Embryos steht, ist das Lebensrecht der Frau im Abtreibungsszenario nichts Selbstverständliches. Es muss als etwas Gleichwertiges ausdrücklich markiert werden. Denn das Leben der Frau galt lange Zeit weder im biblischen Schöpfungsbericht noch in ihrer theologiegeschichtlichen Rezeption oder in der kirchlichen Praxis als eindeutige von Gott realisierte Schöpfung. In den Positionen zeigt sich das Jahrtausende alte Erbe christlicher Theologie, in dem die Perspektive der Frau nicht nur ausgeblendet wird, sondern sie auch als lebensfeindliches Prinzip der Schöpfung, als Schuldige oder eben als Sünderin begriffen. Konsequent zu Ende gedacht wird sie einem Gebärzwang unterstellt. Die Perspektiven auf die Frau bringen auf den Punkt, worum es im bioethischen Dispositiv im Kern geht: Um die Organisierung und nutzbringende Förderung der Staatsbürgerlebens entlang neoliberaler Kalküle, in die sich auch der theologische Diskurs des Lebensschutzes ungewollt einreiht. Zwar wird der Konstruktion des Embryos als bioökonomisches Forschungsmaterial im theologischen Diskurs ein Riegel vorgeschoben: Lebensbegriffe wie etwa das eugenisch selektierte oder das bloße biologische und verwertbare Leben werden kritisch zurückgewiesen. Auch die ökonomisch-rationale Konstruktion der Frau als Gebende ihres Körperrohstoffes Embryo wird im theologischen Diskurs nicht bemüht. Dennoch wird der embryonale Lebensschutz zu Lasten der Frau durchgesetzt. Theologische Positionen zur Abtreibung spiegeln somit die „symbolische Aneignung der weiblichen Gebärfähigkeit

304 Vgl. Tanner (2002). 305 Vgl. Wersig (2007): 150.

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durch den Mann“ wieder306 und unterstellen sie staatlichen und kirchlichen Lebensschutzinteressen.307 Wie in anderen Diskurse werden die Implikationen von Geschlecht, Macht und Hierarchien in Lebenskontexten ausgeblendet und Abtreibung und Embryonenforschung unter der Figur des Embryonenstatus vereinheitlicht. Dass Abtreibungsszenarien neben dem „menschlich-leiblichen Leben“ des Embryos auch noch Erfahrungen, Körperrealitäten, Abhängigkeiten, ökonomische, soziale und kulturelle Privilegien, Benachteiligungen und Diskriminierungen umfassen, wird nicht thematisiert. Entscheidungen für oder gegen eine Schwangerschaft finden in vielfältigen relationalen gesellschaftlichen Settings statt, die weder mit der Figur des embryonalen Rechtssubjektes noch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau allein zu fassen sind.308 C.2.2.6 Heteronormative Lebensvielfalt und freigesetzte Embryonen – Die theologische Kritik am Biologismus Verschiedene Repräsentanten des christlich-theologischen Diskurses artikulieren Kritik am reduktionistischen Biologismus lebenswissenschaftlicher Positionen. Sie gehen damit über die oben angesprochene Untermauerung des theologisch-transzendentalen Lebensbegriffs durch biologische Organismusmodelle hinaus und betonen, dass der Mensch aufgrund seines Freiheitsvermögens mehr ist als ‚seine Natur‘.309 Am deutlichsten formuliert das der Zusammenschluss evangelischer Ethiker, die sich auf diese Weise gegen einen Naturalismus der katholischen Kirche abgrenzen.310 Dazu wird unter anderem ein theologischer Leibbegriff stark gemacht.311 So kritisiert Thomas Wabel, dass naturwissenschaftliche Verständnisse von Gesundheit und

306 Gerstendörfer (2002): 37. 307 Vgl. Huber (2001): 20. Körtner sieht in der Abtreibungsfrage für kirchliche und theologische Positionen die Möglichkeit begründet, ein spezifisches Profil herauszuarbeiten. Vgl. Körtner (2005): 142. 308 Dazu u. D.2.1. 309 Vgl. GiD (2001): 34; Huber (2001): 17. 310 Vgl. Anselm et al. (2002): 8ff.; Körtner (2005): 109f. 311 Vgl. GiD (2001): 34.

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Krankheit ihre eigene gesellschaftliche Bedingtheit ausblenden würden. Zugleich könnte für Menschen ein Druck entstehen, diese vermeintlich objektiven Selbstbeschreibungen übernehmen zu müssen. Andere ambivalente Deutungen des eigenen Zustandes stünden dann nicht mehr für die eigene Selbstbetrachtung zur Verfügung. Das sei verkürzend und würde die Vielfalt von Selbstdeutungen beschränken, mit denen Menschen sich und ihre Leiblichkeit wahrnehmen könnten. Wabel greift argumentativ auf Paulus’ Zweiten Brief an die Korinther zurück. Der Apostel schildere darin den Verlust physischer Gesundheit nicht allein als Leiden oder als Schwäche, sondern auch „kontrafaktisch als Gottes Kraft, die ‚in den Schwachen mächtig ist‘ (2 Kor 12,9)“. So gelange er „zu der paradoxen Formulierung, ‚wenn ich schwach bin, so bin ich stark‘ (2 Kor 12,10).“312 Wabel will verdeutlichen, dass biomedizinische Begriffe nicht adäquat sind, um konkretes und auch ambivalentes Körpererleben von Gesundheit und Krankheit zu fassen. Auch Dabrock und Klinnert versuchen mit ihrem Begriff des Eigenleibes eine biologistische Sichtweise auf die IVF-Problematik zu überwinden. Sie sprechen sich dafür aus, zwischen dem Würdestatus von Embryonen „in vitro“ und Embryonen „in vivo“ zu unterscheiden. Denn ob die autopoietische Leibentwicklung gestartet würde, hänge entschieden von vielfältigen sozialen und nicht allein von biologischen innerzellulären Faktoren ab.313 Die Vieldimensionalität gesellschaftlicher Settings, in die biomedizinische Praktiken eingebettet sind, thematisiert auch Tanner. Ausgangspunkt ist jedoch nicht der Leib, sondern die Begriffe „Lebensdimensionen“ und „Lebensbezüge“.314 Das Mitglied der ZES zielt ebenfalls auf eine Kritik am Reduktionismus biowissenschaftlicher Ansätze. Er setzt sich mit dem oben dargestellten Bestreben bioethischer Positionen auseinander, den Lebensanfang auf die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle festzulegen. Tanner verweist auf die

312 Wabel (2004): 10. 313 Vgl. Dabrock/Klinnert (2001): 22. 314 „Evangelische Ethik zielt auf eine Sensibilität für das individuelle, das einzelne Leben.“ Anselm et al. (2002): 11.

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komplexe Lebenssituation, in denen sich Paare befinden, die eine IVF in Anspruch nehmen wollen. In Tanners Worten hört sich das so an: „Anfänge [des Lebens] sind wohl schwieriger zu definieren als es auf den ersten Blick erscheint. Gehört der Entschluss eines Paares, Kinder zu bekommen nicht ebenfalls zu dieser Geschichte? Gerade an Paaren, die sich einer IVFBehandlung unterziehen lässt sich studieren, welche wirklichkeitsprägende Macht der scheinbar ‚bloße Gedanke‘ haben kann, ein Kind zu wollen. Wer meint Anfänge in Lebensgeschichten punktgenau definieren zu können, reduziert kräftig die Vielfalt und Komplexität menschlicher Lebensdimension und 315

Lebensbezüge.“

Die skizzierten Positionen verweisen zu Recht darauf, dass Definitionen von Lebensanfängen sozialer Art sind. Embryologische Modelle wie die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle blenden ihre Bedingtheit durch gesellschaftliche Arrangements aus und negieren ihre Verwobenheit mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Doch die Vielzahl bioethisch-theologischer Positionen bleibt in ihrer Argumentation heteronormativ und damit diskriminierend. So betont Tanner zwar einerseits den sozialen Charakter entwicklungsbiologischer Definitionen von Lebensanfängen, nimmt jedoch andererseits das heterosexuelle Paar und seine Entscheidungen als leitendes Bild seiner Argumentation. Tanner ist kein Einzelfall im theologischen Diskurs. Denn heterosexuelle Normen werden im Denken von Fortpflanzung und Elternschaft von keinem theologischen Bioethiker in Frage gestellt. Auch Körtner argumentiert, dass der Mensch aus der „intimen Gemeinschaft der Eltern“ hervorgehe, im Mutterleib heranwachse und sein Leben in die „größere Gemeinschaft der Familien und Sippen“ einbringe.316 In der Donum vitae formuliert Ratzinger schließlich: „Die menschliche Fortpflanzung erfordert das verantwortliche Mitwirken der Eheleute mit der fruchtbaren Liebe Gottes; das Geschenk des menschlichen

315 Tanner (2002): 3. 316 Körtner (2005): 108. Auch Schockenhoff begreift die Annahme des eingenisteten Embryos durch ‚die Mutter‘ als sozialen und nicht biologischen Vorgang. Vgl. Schockenhoff (2002).

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Lebens muß innerhalb der Ehe mittels der spezifischen und ausschließlichen Akte der Eheleute verwirklicht werden gemäß den Gesetzen, die ihnen als Personen und ihrer Vereinigung eingeprägt sind.“317

Die Privilegierung dominanter Lebensweisen resultiert aus der gelinde gesagt ‚mangelnden Sensibilisierung‘ für Genderfragen: Geschlechtlich codierte Machtverhältnisse, Hierarchien oder Abhängigkeiten in biowissenschaftlichen Settings zu hinterfragen, ist nicht die Absicht theologischer Bioethiker. Damit verkehren theologische Ansätze das Ziel, an die Stelle eines biologischen Determinismus die Vielfältigkeit von Lebensweisen zu setzen ins Gegenteil. Sie legen so die durch neue Biotechnologien erodierten gesellschaftlichen Verhältnisse in heteronormativen Ordnungen erneut still. Mit den Begriffen von Lebensbezügen oder leiblicher Vernunft können die verschiedenen Problemkontexte und ihre jeweiligen Subjektivierungsmodi nicht angemessen in den Blick genommen werden, die wiederum auf bestimmten Körperverständnissen und Geschlechtervorstellungen beruhen. So gehen theologische Positionen von Zeugung, Schwangerschaft und Elternschaft als natürliche Verleiblichung des heterosexuellen Zusammenlebens aus. Der theologische Diskurs bleibt somit im Hinblick auf Geschlecht ganz innerhalb seiner Grundkoordinaten. Denn die christliche Kirche ist die einzige religiöse Institution, die die Ehe als zentrale Grundlage ihrer Religion etabliert hat: In der paulinischen Ehelehre ist nicht nur der Bund zwischen Christus und seiner Gemeinde als Ehe konzipiert, sie bildet auch als unauflösliches, personales und schöpfungsgeschichtlich bestimmtes Verhältnis zwischen Mann und Frau den einzig legitimen Rahmen für Sexualität, Fortpflanzung und menschliches Zusammenleben. Über die kanonische Rechtsauslegung der mittelalterlichen Papstkirche erhält die Norm der heterosexuellen und zweigeschlechtlichen ‚Vertragsehe‘ samt ihrer stillschweigenden Unterwerfungsverhältnisse Einzug in das weltliche Recht. Sie wird dann durch die Aufklärung im individualistischen Sinne fortentwickelt und bildet bis heute, trotz diverser rechtsformaler Aufweichungen wie die einge-

317 Ratzinger (1987).

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tragene Lebenspartnerschaft, das gängige privatrechtliche Modell des Zusammenlebens der Geschlechter. Doch gelebte Elternschaft umfasst weit mehr. Bereits bei Paaren, die sich als Kleinfamilie bezeichnen würden, sind oft mehr als die zwei ‚biologischen‘ Elternteile an einem Zusammenleben mit Kindern beteiligt wie die Eltern, Geschwister oder Freunde des Paares. Sie stellen weitere enge Bezugspersonen für das Kind dar und übernehmen reproduktive Aufgaben. Wird Elternschaft zudem grundsätzlich hinterfragt, so würden weitere ‚elterliche Existenzweisen‘ in den Blick gelangen wie Menschen, die die heterosexuelle Paarform ablehnen, queere Elternschaft oder Alleinerziehende.318 Eine Kritik am Biologismus wird zudem gerade von theologischen Ethikern in die Debatte eingebracht, die zu der geringen Anzahl von Theologen zählen, die Embryonenforschung nicht konsequent ablehnen. Lars Klinnert und Peter Dabrock sprechen sich für eine Forschung an so genannten verwaisten Embryonen aus. Embryonen sind für sie Subjekte der Würde, weil diesen das Prinzip der Autopoiesis immanent sei. Sie trügen deshalb das Potential in sich, sich zu einem ganzen Menschen zu entwickeln. Sind folglich ausschließlich In-vivoEmbryonen Würdeschutzträger, „weil allein sie die Möglichkeit haben, dass die entsprechende Umwelt in utero die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Autopoiesis bereitstellt?“ Aus einer rein biologischen Sicht sei das richtig. Weil die beiden Theologen jedoch mit ihrem Konzept der leiblichen Vernunft einen biologischen Organismusbegriff theologisch-philosophisch unterfüttern, reicht ihnen diese Sicht nicht aus. Sie argumentieren deshalb so: „Würde man allein biologisch argumentieren, wäre dieser Gedankengang folgerichtig. Im Blick auf den Menschen, das heißt leibphänomenologisch betrachtet, greift die Hypothese zu kurz. Denn bei der Entwicklung des Leibes zählt nicht nur die autopoietische Entwicklung des Systems, also das embryonale Programm der Menschwerdung selbst, nicht nur die biologische Umwelt, sondern muss auch die sozial-kommunikative Umwelt berücksichtigt werden. Das heißt konkret: Ohne die soziale Umwelt – die Bereitschaft der an Fruchtbarkeitsstörungen leidenden Eltern, sich der sie psychisch und physisch enorm

318 Zur Kritik u. D.2.2.

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fordernden medizinischen Behandlung zu unterziehen, ohne die Umwelt des naturwissenschaftlichen und technischen Wissens der Reproduktionsmediziner und ohne die ökonomische Umwelt der Solidargemeinschaft der Versicherten, zumindest eine begrenzte Zahl der kostenintensiven Behandlung zu bezahlen – wäre diese Autopoiesis überhaupt nicht gestartet.“319

Weil ‚überzählige In-vitro-Embryonen‘ deshalb nicht per se menschliches Leben seien, könnten sie auch zu Forschungszwecken vernutzt werden. Ein ‚konstruktivistisches‘ Verständnis embryonalen Lebens als relational autopoietisches System dient somit nicht einer Kritik an diskriminierenden Reduktionismen, sondern dem Gegenteil: Mit Verweis auf das Soziale sollen IVF-Embryonen als Forschungsrohstoffe freigesetzt werden. C.2.3 Zusammenfassung Im Mittelpunkt des theologischen Diskurses steht ‚das Leben‘ des Embryos. Die historischen und epistemischen Koordinaten für den Begriff des embryonalen Lebens bildet wiederum die Metapher der Gottebenbildlichkeit, wie sie in den Schöpfungsgeschichten der hebräischen und christlichen Bibel beschrieben wird. Der Begriff der Gottebenbildlichkeit bezieht seine innere Stabilität aus einer Geschlechterdifferenz, die als hierarchische und binärgeschlechtliche gedacht wird. Darüber hinaus ist ihr die Vorstellung zweier Körper eingeschrieben ist: Der beseelte göttliche Leib und das irdisch-materielle und sündige Fleisch. Der privilegierte Leib wird im biblischen Text und in seinen theologiegeschichtlichen Interpretationen als männlich gedacht und mit Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft auf den Embryo ausgedehnt. Die Frau wird hingegen mit dem sündigen Fleisch gleichgesetzt und ihrem Körper eine größere Sündhaftigkeit zugesprochen. Die ‚Leibfeindlichkeit‘ in Theologie und christlicher Kultur wird seit einigen Jahrzehnten in verschiedensten gesellschaftlichen Berei-

319 Dabrock/Klinnert (2001): 22. Anders wiederum bei Körtner, der einen biologisch-embryologischen Leibbegriff mit der Begründung ablehnt, der Lebensanfang und folglich das Kriterium der Personalität seien transzendental. Vgl. Körtner (2005): 116.

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chen kontinuierlich und kritisch in Frage gestellt. Besonders feministische Theologie hat dabei im Zuge der sogenannten Zweiten Frauenbewegung den geschlechtlichen Aspekt innertheologisch thematisiert. Die Kritik am Leib-Seele-Dualismus haben Theologie und theologische Ethik mittlerweile aufgenommen, so dass der personale Mensch ausdrücklich als leiblicher Mensch gedacht wird. Auch der heutige theologisch-bioethische Diskurs zu Stammzellforschung bezieht den Leib explizit ein: Die Konstruktion des Embryos als gottebenbildliches Subjekt der Würde umfasst im theologischen Diskurs explizit den ‚Körper‘ des Embryos. Dabei bildet der embryonale Leib nicht nur einen Bestandteil, sondern die Grundlage der embryonalen Gottebenbildlichkeit. Er ist der Ausgangspunkt der leiblich-göttlichen Vernunft, wodurch der Embryo vor der Vernutzung geschützt werden soll. Der theologische Diskurs artikuliert so, obgleich nicht als solches motiviert, einen Schutz vor der neoliberalen Inwertsetzung des Körpers und seiner Substanzen. Der theologische Diskurs greift dabei nur teilweise auf einen biologischen Lebens- und Leibbegriff als ontologische Entität zu. Stattdessen versuchen theologische Bioethiker eine Analogie zwischen theologischem und embryologischem Leibbegriff nachzuweisen: Die lebenswissenschaftliche Konzeption des embryonalen Körpers als ein sich selbst reproduzierender Organismus werde in der Logik der leiblichen Vernunft auf den Punkt gebracht. Der biologische Lebensbegriff wird somit nicht einfach als Tatsachenwissen, sondern als adäquate Beschreibung des Wirkens der leiblichen Vernunft im Menschsein begriffen. Ein biologischer Begriff vom Menschen wird nicht schlicht als Fundament ethisch-theologischen Philosophierens genommen, sondern theologisch gewendet: Die Biologie drücke nur aus, dass der menschlichen ‚Natur‘ selbst göttliche oder vernünftige Prinzipien immanent seien. Dennoch holen die jahrtausendealten heteronormativen und hierarchisierenden Geschlechtergeschichten, die theologischen Vorstellungen vom Körper eingeschrieben sind, bioethische Begriffsbildungen ein. Denn der Frauenleib und andere geschlechtliche Leiber werden ausgeschlossen oder auf problematische Weise thematisiert. Deutlich wird das in den Bildern, mit denen theologische Ethiker den weiblichen Körper fassen. So ist die Rede vom Unter-Leib, von der nicht-

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widrigen Umweltvoraussetzung oder vom Organismus ohne eigene Zwecke, wenn es um den schwangeren Frauenleib geht. Auf diese Weise werden Frauen nach wie vor symbolisch einer Pflicht des Gebärens unterstellt, an die wiederum staatliche Politiken anschließen können. Der theologische Lebensschutz ist somit ein sehr partieller Schutz vor der Inwertsetzung von Körpern und Körpersubstanzen. Theologische Bioethiker reproduzieren in der Stammzelldebatte ferner die christlich-theologische „Verknüpfung von Frausein, Körper, Sterblichkeit und dem Bösen“.320 Das manifestiert sich besonders in den Bezügen zur Abtreibungsdiskussion, mit denen misogyne Annahmen gegenüber Frauen, die abtreiben wollen, erneut in die Debatte eingebracht werden. Frauen werden nicht als Subjekte wahrgenommen, die letztendlich entscheiden können sollten, ob sie ein Kind austragen wollen oder nicht und die in vielfältige Verhältnisse eingebunden sind. Stattdessen bewegen sich theologische Positionen zwischen paternalisierenden Bildern der schwangeren Frau als Mutter, die geschützt und deren Verhalten geleitet werden muss und Abwertungen als verbrecherisch Handelnde. Der theologische Diskurs zeigt somit, dass die ausdrückliche Thematisierung des Körpers in bioethischen Konzepten nicht unbedingt seine ‚Befreiung‘ bedeuten muss. Denn statt die im Leibbegriff angelegten Potentiale zu nutzen und eine Bioethik der Heterogenität zu entwerfen, in der vielfältige Leib-, Lebens- und Geschlechterentwürfe Platz hätten, stellt der Embryo als abstrakte Größe des zukünftigen Menschen das alleinige Projekt theologisch-ethischen Nachdenkens dar.

320 Maier (2007): 244.

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C.3 P HILOSOPHISCHE D ISKURSE – Z WECKRATIONALES L EBEN UND P ERSONEN BIOETHISCHER E NTSCHEIDUNGEN Philosophische Bioethik als akademische Disziplin ist in Deutschland ein relativ junges Phänomen. Während im angloamerikanischen Raum Philosophen schon seit den 1970er Jahren an bioethischer Wissensproduktion mitarbeiten, geschieht das in Deutschland erst seit Mitte der 1980er Jahre. Denn Philosophen zeigten zunächst kein großes Interesse daran, sich in bioethische Diskussionen einzumischen.321 Einer der Gründe für diese Zurückhaltung liegt im Selbstverständnis der deutschen Philosophie. Zwar lässt sich nicht genau sagen, was die Philosophie ist. Ein allgemein anerkannter Philosophiebegriff existiert nicht.322 Ein wesentliches Merkmal zeitgenössischer Philosophie ist jedoch die kontinuierliche Benennung dessen, was Philosophie nicht ist: Der Ausschluss des vermeintlich Nicht-Philosophischen ist, so Hilge Landweer, eine charakteristische Strategie, sich seiner selbst als Disziplin zu vergewissern.323 Angewandte Ethik, eine Philosophie der ‚konkreten Problemlösungen‘, wurde ebenso wie eine Philosophie, die sich mit vermeintlich empirischen Phänomenen wie dem Körper beschäftigt, deshalb lange dem Bereich des Nicht-Philosophischen zugerechnet.324 Bioethik definiert sich nun als eine solche Philosophie der Problemlösung. Jochen Taupitz, Mitglied in der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung (ZES) und auf Vorschlag der SPD im Deutschen Ethikrat,325 bestimmt beispielsweise „das Wesen der Ethik im Ermitteln, Sichten und Beurteilen von (rationalen) Gründen für Verbote und Gebote“.326 Im Hinblick auf die Bioethik wird die „Anwendungsdimension“ zum „Zielpunkt der ethischen Reflexion“.327 Die Lösung von Problemen und die Entscheidungen über richtige und fal-

321 Vgl. Ach/Runtenberg (2002): 38. 322 Vgl. Landweer (2006): 233. 323 Vgl. dies. 324 Vgl. dies. 325 Dazu o. B.3.9. 326 Taupitz (2003): 818, Herv. i.O. 327 Düwell (2006a): 243.

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sche Handlungsoptionen und Normen wird somit nicht nur als leistbar verstanden, sondern als zentrale Aufgabe philosophischer Bioethik definiert. Wie schafft es die Bioethik somit, sich als Teil akademischer Philosophie zu etablieren und sich zugleich ‚die Blöße zu geben‘, sich mit konkreten alltagsweltlichen Problemen zu beschäftigen? Wie konnte sich Bioethik als eine ‚bereichsspezifische Ethik‘ neben Wirtschaftsethik, Technikethik, Umweltethik unter anderem zum festen Bestandteil der Angewandten Ethik in der akademischen Philosophie durchsetzen, während ihre akademischen Repräsentanten zugleich als Politikberater für Parteien agieren?328 Bioethik kann sich, so die These des nachfolgenden Kapitels, innerhalb akademischer Philosophie als eine anerkannte Philosophierichtung etablieren, indem sie zwar konkrete Problemlösungen erarbeitet, dieses Konkrete jedoch zugleich als ‚neues Allgemeine‘ durch Schließungen etabliert: Geschlechter- und Körperverhältnisse sind nicht ‚Gegenstand‘ philosophischer Bioethik. Besser ausgedrückt: Die Geschlechterdifferenz ist zentraler Bestandteil, teils sogar Grundlage philosophisch-bioethischer Wissensbildungen. Sie wird jedoch nicht als legitimer Reflexionsgegenstand behandelt. Elementare Begriffe philosophischer Bioethik sind deshalb daraufhin zu befragen, welche geschlechtlichen Körper und Subjektivitäten ihnen eingeschrieben sind. Philosophisches Nachdenken über Problematiken rund um die neuen Biotechnologien umfasst auch Biophilosophien wie die Jürgen Habermas’ oder Peter Sloterdijks.329 Sie gestalten ‚den philosophischen Diskurs‘ über Auftritte im Fernsehen, Vorträge oder Publikationen im akademischen Feld und im Bereich der Printmedien. Ich konzentriere mich im Folgenden jedoch auf Philosophen, die sowohl im akademischen Kontext als auch in bioethischen Institutionen agieren. Sie sind für die Fragestellung dieser Arbeit nach der Entstehung eines

328 Vgl. ders. 329 Vgl. Habermas (2001); Sloterdijk (1999). Dazu kritisch Zapata (2002); Lettow (2003): 55ff.; die röteln (2006).

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bioethischen Dispositivs relevanter.330 Denn sie haben ‚direkten‘ Anteil an Politikprozessen, Gesetzgebungsverfahren und akademischen Debatten und nehmen Schlüsselpositionen im bioethischen Dispositiv ein. C.3.1 Der philosophische Personbegriff Ein zentraler Begriff im bioethischen Dispositiv ist die Person. Er stellt eine Schnittstelle zwischen den verschiedenen Diskursen dar, was durch seine Herkunft aus und Wanderung durch sowohl theologisch-religiöse wie rechtsgeschichtliche als auch philosophische Kontexte begünstigt wird.331 Die genaue etymologische Herkunft des Personenbegriffs ist unklar.332 Meistens wird jedoch auf die Bedeutung der Maske, die das Wort persona in der römischen Antike hatte, verwiesen.333 In der Theatersprache verstand man darunter die Maske, „durch die der Schauspieler im Theater spricht und an der sich die von ihm zu verkörpernde Rolle (die Figur, der Charakter) zeigt“.334 Später wurde persona auch zur Beschreibung prägnanten Verhaltens – Rollenverhaltens – in gesellschaftlichen Bereichen verwendet, die dem Theater strukturell ähnelten wie dem Gerichtswesen, dem staatlichen Beamtenapparat, der ständisch gegliederten Gesellschaft oder der Familie.335 In der römischen Rechtssprache bezeichnete persona schließlich den „in einer bestimmten Weise handelnd in Erscheinung tretenden Menschen“.336

330 Zum Dispositivbegriff und zur begründeten Eingrenzung des Textkorpus o. A & B.2. 331 Wildfeuer stellt die Geschichte des Personenbegriffs zwar geschlechtsneutral, jedoch bezüglich seiner geschichtlichen Verankerung in verschiedenen Disziplinen aufschlussreich dar. Vgl. Wildfeuer (1998a): 5. Vgl. Konersmann (1993): 219. 332 Zur Kulturgeschichte der Person vgl. ders.: 202f. 333 Vgl. ders.: 201; Wildfeuer (1998a): 5. 334 Ders., Herv. i.O. 335 Vgl. Konersmann (1993): 204. 336 Wildfeuer (1998a): 5.

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Die spezifisch neuzeitliche Bedeutung, die mit der Person einen authentischen und selbstidentischen Kern des Menschen assoziiert, fehlte zu dieser Zeit gänzlich. In der römischen Ethik, etwa bei Aristoteles, ist persona deshalb ein pädagogischer und ästhetischer Begriff, der durch den Bezug auf das direkte Gegenüber definiert wird und nicht durch ein inneres Wesen.337 Auch sind die Elemente Wahrheit, Gehorsam und Identität noch nicht essentieller Bestandteil der persona. Ralf Konersmann bezeichnet die Geschichte des Personbegriffs deshalb als die „Geschichte einer grandiosen Bedeutungsverschiebung, um nicht zu sagen: einer Bedeutungsverkehrung“.338 In den christlich-religiösen und theologischen Kontext hält der Personbegriff zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert Einzug.339 Die „Hintergrundmetaphorik des Theaters“ wird in christlichen Interpretationen jedoch als sittenlos verworfen und deshalb nicht daran angeschlossen.340 Die Theologie bildet für die nächsten Jahrhunderte den entscheidenden Bedeutungskontext für den Personbegriff und stellt die Weichen für das moderne ‚subjektivistische‘ Personverständnis. Die theologische Konturierung der Person als tiefes inneres und gottebenbildliches Wesen wird jedoch zunächst paradoxerweise vor dem Hintergrund von Kämpfen gegen Säkularisierungstendenzen wichtig. Auch gehen ältere Bedeutungsschichten nie ganz verloren,341 was seine zentrale Stellung und die unterschiedlichen teils unvereinbaren Besetzungen des Personbegriffs im heutigen bioethischen Dispositiv erklärt. Kirchenväter wie Augustinus greifen im 4. Jahrhundert auf den römisch-rechtlichen Personbegriff zurück342 und führen ihn in die Trinitätslehre ein. Die Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit Gottes manifes-

337 Vgl. Konersmann (1993): 207. Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen griechisch-römischen antiken und neuzeitlichen Subjektbegriffen vgl. Foucault (1994a): 285; Vernant (1998). 338 Konersmann (1993): 202, Herv. i.O. 339 Zur Bedeutung des römischen Rechts für modernes Recht vgl. Schwab (1975). 340 Konersmann (1993): 208f. 341 Vgl. ders.: 208. 342 Zu den Geschlechtercodierungen bei Augustinus o. C.2.1.2.

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tiert sich ihrzufolge in drei wesensgleichen göttlichen Personen: Dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist. Die drei Personen sind Träger des göttlichen Wesens. Sie unterscheiden sich in ihrem ‚innergöttlichen Wesen‘ jedoch darin, dass vom Vater, dem „ursprungslosen Ursprung“, der Sohn und vom Vater und vom Sohn, der heilige Geist ausgeht. In christologischer Hinsicht wird unter Person die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur verstanden. Als lateinisches Äquivalent zum griechischen Wort hypostasis erhält das Wort Person die Bedeutung von Christus als Person, der zwei Naturen trage – eine göttliche und eine menschliche. Der Personbegriff wird somit in christlichen Lehren herangezogen, um ‚das Wesen‘ Gottes bestimmen zu können. Zugleich leitet die christlich-theologische Besetzung des Personbegriffs umgekehrt auch die „Vergöttlichung der Persönlichkeit, und zwar der menschlichen Persönlichkeit“ in die Wege.343 Anders ausgedrückt: Die theologische Interpretation hat den neuzeitlichen philosophischen Personbegriff, der Würde als innerste oder unantastbare Substanz des Menschen postuliert, erst ermöglicht. Der römische Philosoph Boethius (480-524 v. Chr.) prägt die bis heute maßgebliche Definition der Person: „persona est individua rationalis naturae substantia“, die zu deutsch das „individuelle Dasein einer vernünftigen Natur“ meint. Boethius erweitert den Personbegriff entscheidend um die „geistige Besonderheit“ und denkt den Personbegriff substantivisch.344 Er verbindet den Personbegriff dabei bereits mit der Würde. Auch Thomas von Aquin übernimmt im 13. Jahrhundert die Verknüpfung von Vernunft und Würde im Personbegriff:345 Weil es „von großer Würde ist, in einer vernünftigen Natur zu substituieren, wird jedes Individuum einer vernünftigen Natur Person genannt“. Verantwortlichkeit für das eigene Handeln macht das vernünftige Individuum für Aquin zum Vollkommensten in der ganzen Natur. Seine ‚Natur‘ als Geist- und Freiheitswesen machen den Menschen zum Ebenbild Gottes. Deutlich werden an dieser Aussage die Parallelen zur

343 Konersmann (1993): 214. 344 Ders. 345 Vgl. ders.

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Lehre der Gottebenbildlichkeit und der christlich-jüdische Kern des Personbegriffs.346 Boethius und Aquin beziehen sich in ihren Personbegriffen auf Aristoteles und sind maßgeblich an der Vermittlung der aristotelischen Schriften vom Altertum ins Mittelalter beteiligt.347 Neben aristotelischen Begriffen wird in der deutschen Bioethik besonders Kants Personenbegriff bemüht, der das neuzeitliche Subjektverständnis im Personbegriff auf den Punkt bringt und der unter C.3.1.2 ausführlich besprochen wird. Auch er führt mit dem Würdebegriff den christlichjüdischen Kern des Personbegriffs fort. Die Verankerung des philosophischen Personbegriffs im römischen Recht und in theologischer Geschichte begründet seine Anschlussfähigkeit sowohl für rechtsphilosophische als auch für theologische Argumentationen.348 Im philosophischen Diskurs wird das theologische Erbe jedoch meist ausgeblendet und versucht, Kants Personbegriff in der praktischen Vernunft zu fundieren. Bioethiker streben an, philosophische Ethik als ‚säkulares‘ ethisches Wissen darzustellen und sich auf diese Weise gegen die Theologie abzugrenzen.349 So legt Volker Gerhardt Wert darauf, dass philosophische Bioethik im Gegensatz zur Theologie auf wissenschaftlichem Wissen und nicht auf Glauben gründe. Die Verbindlichkeit der Normen im theologischen Diskurs müsste deshalb in Frage gestellt werden.350 Gerhardt kann eine rein weltliche Herkunft bioethischer Normen jedoch nur behaup-

346 Dazu o. C.2.1.2. 347 Boethius trug durch Übersetzung und Kommentierung maßgeblich zur Vermittlung der aristotelischen Schriften vom Altertum ins Mittelalter bei. 348 Vgl. Wildfeuer (1998a): 6. 349 Vgl. Lettow (2004): 154. „Seit Ende der siebziger Jahre wurde der bioethische Diskurs stärker [...] durch die Sprache der Philosophie als der Theologie geprägt. Man war jetzt darum bemüht, zur Reflexion ethischer Probleme eine säkulare Art und Weise der Problembeschreibung und Problemanalyse zu finden. Der Einfluss der Philosophie und des Rechts auf die Bioethik nahmen gegenüber der Theologie zu.“ Ach/Runtenberg (2002): 20f. 350 Gerhardt (2002): 46.

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ten, indem er die Übertragung von Begriffen aus ursprünglich religiöstheologischen Kontexten negiert und ihre Geschichte ausblendet. Wie genau der Personbegriff in philosophischen Bioethiken besetzt wird und welche Rolle die Kategorien Geschlecht und Körper spielen, soll nun dargelegt werden. C.3.1.1 Personales Leben und „rein körperliches menschliches Leben“: Die Inwertsetzung des Leibes im Utilitarismus Utilitaristische Personbegriffe sind international in der Bioethik am dominantesten und wurden besonders von Peter Singer und Helga Kuhse medienwirksam inszeniert. In Deutschland bringen die im Kapitel zum rechtsphilosophischen Diskurs besprochenen Autoren Norbert Hoerster und Reinhard Merkel die singerschen Ideen in die bundesdeutsche bioethische Debatte ein.351 Philosophisch werden sie vor allem von Georg Meggle, Professor für Philosophie an der Universität Saarbrücken, vertreten.352 Utilitaristische Positionen setzen am Personenbegriff John Lockes an. Der englische Empirist greift in seinem Essay On Human Understanding, Diversity and Identity von 1690 auf die Rechtssprache zurück, um im Zuge dessen zwischen Personen und Menschen zu unterscheiden. Menschen sind ein bestimmter Typus von Organismen, wohingegen Personen nicht etwas ‚rein Empirisches‘ sind, sondern eine bestimmte Kombination von Bewusstseinszuständen darstellen: „Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort [Person] ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich als sich selbst betrachten kann. Das heißt es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört.“353

351 Vgl. u. C.4.2. 352 Vgl. Fehige/Meggle (1991); Spaemann (2001): 419. 353 Locke (1962): 419f.

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Vernunft und Selbstbewusstsein stehen im Zentrum seiner Persondefinition.354 Es ist keine aristotelische Substanz, die die Identität der Person begründet, sondern das Selbstbewusstsein selbst ist maßgeblich für die Einheit und Identität der vernünftigen Person. Das Gedächtnis ist dabei die Klammer der verschiedenen Bewusstseinstatsachen, so dass Locke den Personbegriff neben dem Bewusstsein auch durch Erinnerung definiert, in der sich jemand selbst bestimmte Handlungen zuschreibt und sich als durch die Zeit hindurch beständige Einheit wahrnimmt. Lockes Verständnis einer Person als ein selbstbewusstes fortdauerndes Selbst ist in utilitaristischen Bioethiken nicht nur Folie für eine sehr begrenzte Definition des Menschen, sondern wird zum Kriterium für das Lebensrecht einer Person erhoben. So begriff Locke den Menschen als bewusstes Wesen, reduzierte ihn jedoch nicht ausschließlich auf geistige Tätigkeit, sondern dachte sie im dualen Zusammenhang mit dem Körper. Dieser ist insofern konstitutiver Bestandteil des Menschen, als er zum Geist in einer untergeordneten Verbindung steht. Zweifelsohne nimmt Locke eine problematische binäre Unterscheidung zwischen Mensch und Person, Geist und Körper etc. vor. Im heutigen bioethischen Diskurs wird die Differenz zwischen Mensch und Person jedoch verschärft und so gewendet, dass beides in eins fällt. Während Lockes Personbegriff im Kontext seiner Zeit dazu diente, sich strategisch gegen andere philosophische Positionen abzugrenzen und das theologische Problem der Substanz und der Identität zu reformulieren, wird sein Personverständnis im heutigen bioethischen Diskurs aus diesem Kontext gelöst: Der Personbegriff wird „zu einem positivistischen Kriterium für die Zugehörigkeit zur Menschheit, indem eine ‚Abstufung des moralischen Status je nach Ausprägung der Fähigkeit des Selbstbewusstseins‘ vorgenommen wird“.355 So verstehen Kuhse und Singer unter Personen Wesen, die sich aufgrund von „moralisch relevanten Unterschieden“ von anderen Wesen absetzen. Unter solchen Unterschieden verstehen sie ‚höhere‘ geistige Fähigkeiten: „Selbstbewusstsein, Vernunft, moralische Sensibilität, Autonomie oder eine Kombination davon – das ‚spezifisch

354 Vgl. Lettow (2003a): 130. 355 Dies.

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Menschliche‘ eben oder – genauer gesagt – das, was eine Person ausmacht“.356 Kuhse hält es deshalb für notwendig eine „bisher“ von der Medizin „noch nicht vollzogene Trennung“ zwischen verschiedenen Formen oder Arten des Lebens „wie dem Leben eines menschlichen Organismus und dem Leben einer ‚Person‘ (im Sinne eines bewussten oder selbstbewussten Wesens)“ einzuführen.357 Auch kritisiert die Bioethikerin das „speziezistische“ Argument, demzufolge menschliches Leben heilig und folglich anders als nichtmenschliches Leben zu behandeln sei. Eine akzeptable Definition des Menschen müsste sich vielmehr auf „wesentlich menschliche Eigenschaften berufen, die über das rein körperliche menschliche Leben hinausgehen, wie etwa Bewusstsein oder die Fähigkeit, Freude zu erleben“. Daraus würde aber folgen, dass auch manches tierische Leben heilig ist und Achtung verdient.358 Kuhse und Singer sprechen sich deshalb pro Kindestötung aus und führen dazu die Unterscheidung zwischen „entscheidungsfähigen erwachsenen Patientinnen“ und „Kleinkindern“ ein. Entscheidungsfähige Erwachsene können „ihre Entscheidungen mitteilen und danach handeln“. Sie können „darüber nachdenken, ob ihr Leben lebenswert ist“.359 Ein Wesen hat deshalb nur dann ein Recht auf etwas, wenn es auch ein Interesse daran hat. Um aber ein Interesse an seiner Existenz zu haben, müsse ein Wesen ein ‚fortdauerndes Selbst‘ sein. Es müsse einmal eine Vorstellung von sich selbst als einem über eine gewisse Zeit hinweg existierendes Wesen gehabt haben: „Ein Wesen, das kein ‚fortdauerndes Selbst‘ ist, hat kein Recht auf Leben, und es ist nicht unmittelbar verwerflich, ihm das Leben zu nehmen“.360 ‚Normale‘ „Erwachsene und Kinder, nicht aber Föten und Säuglinge“ seien Personen, weil erstere selbstbewusst sind und sich an Zielen und Zwecken orientieren und ein Verständnis für Vergangenheit und Zukunft haben:

356 Kuhse/Singer (1999): 87. 357 Dies.: 43. 358 Dies.: 58f. 359 Dies.: 192. 360 Dies.: 194.

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„Personen können ihr Leben als einen fortdauernden Vorgang sehen; sie wissen, was mit ihnen früher geschehen ist, und sie haben Hoffnungen und Pläne für die Zukunft. Deshalb können wir sagen, daß sie unter normalen Umständen die Fortdauer ihrer Existenz als etwas Wertvolles schätzen und sie auch wünschen, und daß es in ihrem Interesse liegt zu leben. Dies gilt jedoch nicht für Föten und Neugeborene; diese haben nämlich nicht das geistige Rüstzeug, um über eine Zukunft nachzudenken und diese Zukunft zu wünschen und als etwas Wertvolles zu schätzen“.361

Kuhse und Singer versuchen den Personbegriff mit spezifischen Attributen zu koppeln, die traditionell als geistige Fähigkeiten verstanden werden. Sie werden so zum Personbegriff als solchem erhoben und fungieren als ein Kriterium, mit dem Menschen klassifiziert werden können. Dem entspricht ein Verständnis des Körpers als bloßes biologisches Leben, der das Gegenüber der geistigen personalen Sphäre bildet. Anhand utilitaristischer Positionen lässt sich am Klarsten nachzeichnen, wie menschliche Heterogenität mittels des Personenbegriffs zunächst in verschiedene homogene Gruppen unterteilt wird und dann als Mensch oder Nicht-Mensch, als lebenswert oder -unwert qualifiziert wird. Ganze Menschenkörper oder Körpersubstanzen von Menschen ohne utilitaristische Personenattribute wie Menschen mit geistiger Behinderung, Anenzephale oder Alzheimerkranke können so als biologisches verwertbares Leben klassifiziert werden. Die ethischen Äußerungen von Kuhse und Singer haben in Deutschland zu Recht massive Proteste und Kritik hervorgerufen: Menschen mit Behinderungen haben gegen Auftritte Singers protestiert und Ethiker haben eindeutig gegen die eugenischen Positionen Singers und Kuhses Stellung bezogen.362 Zwar finden ihre Gedanken über Bioethiker wie Hoerster und Merkel Eingang in die deutsche Bioethiklandschaft und ihre Institutionen. Für den philosophischenbioethischen Diskurs zu Stammzellforschung sind jedoch Philosophen mindestens ebenso relevant, die subtiler argumentieren. Sie streben gleich Kuhse und Singer eine Entkopplung von Person und Mensch an

361 Dies. 362 Vgl. Braun (2000); Spaemann (2001).

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und ihre Philosophien haben nicht weniger starke Effekte für rechtliche Regelungsvorschläge, für Verständnisse vom Menschen, von Geschlecht, vom Körper und von Normalität. Volker Gerhardt, Philosoph an der Humboldt Universität zu Berlin, vertritt einen Personenbegriff, der einer Freigabe des Embryos für die Forschung nicht im Wege steht. Das Mitglied des Nationalen Ethikrates begründet das offen mit bioökonomischen Interessen. Mit dem Embryonenschutzgesetz müssten ‚wir‘ auf mindestens eine dringend benötigte Wachstumsindustrie verzichten. Deutschland würde frühestens dann den Anschluss an die wissenschaftliche Entwicklung finden, wenn andere Nationen die moralische Verantwortung des Fortschritts auf sich genommen hätten und zu verwertbaren Ergebnissen gekommen wären.363,364 Philosophisch versucht Gerhardt, ethische Ansätze auszuhebeln, die sich auf das klassische Organismusmodell beziehen.365 Sie setzen den Beginn des personalen menschlichen Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle gleich. Für Gerhardt bedeutet das jedoch einen „Rückfall in den ethischen Naturalismus“. Denn der personale Lebensbeginn werde an einen „rein chemischen Vorgang“ gekoppelt: „Unter Missachtung alles dessen, was Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Ethnologie und Philosophie über die soziale Natur des Menschen ermitteln, wird die individuelle Existenz des Menschen auf die Anlagerung zweier haploider Chromosomensätze in einem mit einer Samenzelle verschmolzenen Ei reduziert. Diese biochemische Reaktion wird als Akt der Menschwerdung ausgegeben, so dass schon die befruchtete Eizelle unter dem vollen Schutz jener Grundrechte stehen soll, die unsere Verfassung dem Menschen vorbehält.“366

363 Gerhardt (2004): 114. 364 Auf Gerhardt bezieht sich der evangelische Theologe Körtner (2005): 131. Das Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wird von etlichen Forschungsbefürwortern und Institutionen wie der DFG vertreten. Zum performativen Charakter des Arguments vgl. Wagenmann (2001): 31. 365 Zum klassischen Organismusmodell u. C.3.1.2. 366 Gerhardt (2004): 111.

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Die Festlegung des Zeitpunkts der Befruchtung sei jedoch widersprüchlich und stelle lediglich „einen durch eine chemische Reaktion bestimmten Zeitpunkt nach der Befruchtung eines Eis durch eine Samenzelle“ dar. Auch das Kriterium der Totipotenz könne nicht eindeutig auf die Zellen im ersten Teilungsstadium beschränkt werden.367 Gleich rechtsphilosophischen Positionen konstruiert Gerhardt hier einen Unterschied zwischen biologischem, in seinen Worten biochemischem, und menschlichem Leben. Er will diese Setzungen mit einem biologischen und zugleich mit einem reduktionistischsozialphilosophischen Begriff des Menschen untermauern. Das Kriterium des Menschseins ist für Gerhardt die Geburt, das er mit den „phänomenalen Konditionen seiner Wahrnehmung durch seinesgleichen“ rechtfertigen will. Erst mit der Geburt löse sich der Embryo aus der Abhängigkeit zum mütterlichen Organismus und wende sich im ersten Schrei an seine Mitmenschen, die erstmals die Möglichkeit haben, ihn als ihresgleichen zu begrüßen: „Da die Wahrnehmung des Neugeborenen im Prinzip von jedermann vollzogen werden kann, ist auch in den äußeren Bedingungen seiner Anerkennung die Gleichheit angelegt, die uns die Achtung vor dem Neugeborenen als unseresgleichen gebietet. Solange der Embryo noch im Mutterleib heranwächst, kann er nur unter privilegierten Bedingungen, vornehmlich vom Arzt und von der Mutter, wahrgenommen werden.“368

Gerhardt leitet daraus auch das volle Recht auf den Schutz seines Lebens und seiner Würde ab. Bis zur Geburt „komme“ das Kind, erst danach sei es „da“, erhalte seinen Namen und sei Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Die Abnabelung und die organische Selbstständigkeit mache den Fötus* zum geborenen Menschen.369

367 Vgl. ders.: 114. Ebenso verfährt Eve-Marie Engels. Sie ist Philosophin und seit 1996 Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften an der Fakultät für Biologie der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Vgl. Engels (2000): 171ff. Zur Kopplung dieses Verständnis von Totipotenz und biorechtlichen Regelungen u. C.4.2. 368 Gerhardt (2004): 117. 369 Ders. Vgl. ders. (2002): 46.

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Folglich kritisiert Gerhardt Positionen in der biopolitischen Debatte, die die Schutzwürdigkeit des Embryos mit der eines geborenen Menschen gleichstellen, obwohl der Embryo weder über Handlungsfähigkeit noch über organische Eigenständigkeit verfüge.370 Deutlich wird, dass die Großmetapher des Organismus ein Bezugsrahmen ist, der je nach politischer Absicht mit biologischen ‚Fakten‘ inhaltlich gefüllt werden kann. Denn Gerhardts philosophische Argumentation stützt sich auf die Metaphern des „technizistischen“ und des Organismus als abgeschlossener Blutkreislauf.371 Zugleich erweitert und fundiert Gerhardt diesen biologischen Personenbegriff mit sozialphilosophischen Definitionen des Menschen als dialogisches Wesen.372 Das gelingt jedoch nur, weil ausgeblendet wird, dass auch der geborene Mensch – der Säugling, der Erwachsene, sowie der alte Mensch, – den Kriterien der vernünftigen niemals gänzlich entspricht. Denn Menschen sind immer in Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden und die Figur der selbstbewussten autonomen Person erfasst viele Lebensphasen nicht. Zudem zeigt sich paradoxerweise eine biopolitische Wendung „dekonstruktivistischer“ Argumentationen, die die Ableitung von Definitionen des Menschen aus biologisch-genetischem Erkenntnissen hinterfragen. Gerhardt macht also beides: Er unterwandert biologistische Normierungen und nimmt im selben Zuge neue Normierungen vor. C.3.1.2 Privilegiertes Subjekt: Die Leibesfrucht als Person Auch Gegner der Embryonenforschung beziehen sich auf den Personenbegriff. Sie versuchen ihn jedoch so zu besetzen, dass er für Embryonen gelten soll. Dazu führen sie Kants Personbegriff ins Feld,373

370 Dazu u. C.3.2. 371 Zum Begriff des technizistischen Organismus o. C.1.1.3. 372 Diese Analogisierung von biologischem Organismus und Person wird dann im rechtsphilosophischem Diskurs etwa von Stephan Wahle aufgenommen, der das Kind zum Eigentümer seiner Stammzellen macht. Dazu u. C.4.6. 373 Vgl. Baumanns (2004); Spaemann (2001); Zunke (2004); Seifert (2003).

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der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Personen von Sachen unterscheidet: „Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt.“

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Menschen sind für Kant Personen, weil sie als vernünftige Wesen der Freiheit fähig sind. Freiheit und folglich Personwerden bindet Kant in seiner Tugendlehre wiederum an die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung: Menschen sind Personen, weil sie moralisch handeln und sich selbst praktische Gesetze – Maximen – geben können. Weil wir fähig sind, die Gründe unseres Handelns zu überprüfen, können wir zu freien Wesen werden. Freiheit ist in Kants Ethik eine ‚innere‘ Freiheit, die sich in der reflexiven ethischen Selbstprüfung realisiert. Die Anleitung zur vernunftgeleiteten Selbstkonstitution als freie Person artikuliert er in Form des Kategorischen Imperativs (KI). Er lautet in seiner allgemeinen Form: „Handle nach der Maxime, die sich selbst zum allgemeinen Gesetze machen kann.“375 Der Mensch ist ein freies sittliches Wesen, weil er qua Maximenprüfung zur reflexiven Selbstgesetzgebung fähig ist. Durch die Selbstgesetzgebung enthebt Kant die Person einer naturdeterministischen Sichtweise und begreift den Menschen als ein wollendes Wesen, das zwar als Teil der phänomenalen Welt auf seine körperliche Sinnlichkeit festgelegt ist, jedoch immer auch einen Handlungsspielraum hat und sich aufgrund seiner Fähigkeit des ethischen Wollens für eine bestimmte Handlung entscheiden kann.376 Diese relative Freiheit von Neigungen, Bedürfnissen, Trieben oder Instinkten, nennt er den praktischen Gebrauch der Vernunft.377

374 Kant (2004): 78, Herv. i.O. Vgl. ders. 92. 375 Ders.: 90. 376 Vgl. ders.: 30f. 377 Vgl. ders.: 31.

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Kant formuliert den KI in der Grundlegung mehrfach um und arbeitet über die Anweisung zur Bestimmung ethisch richtiger Maximen, das heißt über den theoretischen Status des richtigen Handelns hinaus, eine Theorie des Ethischen und seines Zusammenhanges mit dem Empirischen aus.378 Eine dieser Umformulierungen des KI ist die Selbstzweckhaftigkeit der Person bzw. der Menschheit. Dazu führt er den Begriff des Zweckes ein und bezeichnet die genuine interne Bestimmungsform des Willens, das heißt den reinen Willen, als Zweck an sich selbst.379 Der Zweck wird argumentativ in Analogie zum reinen Gesetz als „objektiver Grunde“ der Selbstbestimmung des reinen Willens bestimmt.380 Wenn der reine Wille durch einen Zweck gelenkt wird, dann ist er durch sich selbst bestimmt und nicht durch subjektive Wünsche der Person oder durch äußere Determinanten. Der Zweck ist also das Element, das den reinen Willen der intelligiblen Welt lenkt. Kant begreift nun den Menschen als Zweck an sich selbst und formuliert so den KI als Menschheitszweck um: Die „Menschheit wird zum obersten Zweck an sich selbst“, die jeden Menschen übersteigt. In Kants Worten heißt das: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“381 Kant geht davon aus, dass sowohl Personen als auch die Menschheit ein Zwecke an sich selbst sind.382 Denn die Menschheit ist immer auch in jeder einzelnen Person repräsentiert. Die Selbstzweckhaftigkeit der Person nennt Kant in dieser Form Würde. Doch Kant hatte seine Ethik, die Tugendlehre, als Teil seiner Rechtsphilosophie, der Metaphysik der Sitten entworfen. Die Begriffe beider Denkgebäude sind untrennbar miteinander verwoben. Kants Personbegriff ist deshalb nur unter Beachtung seiner Rechtsphilosophie verständlich und kein ausschließlicher Begriff seiner Ethik:383

378 Vgl. Römpp (2005): 140. 379 Vgl. Kant (2004): 77ff. 380 Ders.: 77. 381 Ders.: 79. 382 Vgl. ders.: 78. 383 In ethisch-philosophischen Ansätzen werden diese beiden Dimensionen jedoch oft auseinander dividiert und die Person so auf den ‚Innenraum‘

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„Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“ Zurechenbarkeit setzt aber nicht mehr nur innere, sondern auch äußere Freiheit voraus. Letztere rechnet Kant in seiner Metaphysik der Sitten aber der Sphäre des Rechtes zu und bestimmt sie als Teil des Rechtssubjektes. Die äußere Freiheit eines Menschen, sein Personsein, konstituiert sich wiederum in der Interaktion mit anderen Menschen, mit Rechtssubjekten. Denn nur in der Interaktion mit anderen kann eine innere ethische Haltung zu einer äußeren, zurechenbaren, sprich rechtsphilosopischen Handlung werden. Der ethische Personbegriff bei Kant beinhaltet aufgrund seiner Verknüpfung mit seiner Rechtsphilosophie mehrere Attribute, die seiner Übertragung auf den Embryo Schwierigkeiten bereiten: • •



Der Aspekt der Natalität: Kant fasst unter Personen geborene Menschen. Der Aspekt der ethischen Freiheit qua vernunftgeleiteter Maximenprüfung: Personen erlangen Freiheit, weil sie fähig zur vernünftig-rationalen Überprüfung ihrer Handlungsmaximen sind. Der dialogische Aspekt äußerer Rechtsfreiheit: Der Begriff der ethischen und der rechtsphilosophischen Person sind so verbunden, dass Menschen nur zu ethisch-rechtlichen Personen werden, wenn sie zugleich fähig zur inneren ethischen Maximenprüfung und zur äußeren Freiheit sind, sprich in einem dialogischen Verhältnis auf Andere bezogen sind.

Viele Gegner von Embryonenforschung versuchen diese Schwierigkeiten durch eine Kantinterpretation zu vermeiden, die einen starken Bezug zur Kategorie der Menschheit herstellt und zeigen soll, dass von den Begriffen Person und Menschheit letzterer der grundlegendere ist.384 Kathrin Braun kritisiert beispielsweise utilitaristische Personenbegriffe dafür, dass sie die Einheit der Menschheit auflösen wollen. Sie würden anders als kantianische Ansätze, nicht systematisch mit der

der inneren ethischen Freiheit reduziert. Wildfeuer konstatiert, dass Kant den „Personbegriff des Rechts“ aufgreift. Vgl. Wildfeuer (1998a): 6. 384 Vgl. Braun (2000); Spaemann (2001); Baumanns (2004).

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Kategorie der Menschheit arbeiten, die dem Einzelnen vorausgesetzt ist. Eine „begründbare (ethische) Regulierung, das heißt eine, die nicht vom Prinzip her bereits auf Willkür und Macht gebaut ist“, könne jedoch nur auf „der Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft qua Zugehörigkeit zu einer Gattung, deren spezifisches Vermögen in der Vernunft- und Freiheitsbegabung besteht“ aufbauen.385 Die Kategorie der Menschheit müsse deshalb Grundlage für den Personbegriff sein. Den christlich-theologischen Kern von Kants Personbegriff, die Gottebenbildlichkeit des Menschen, begrüßt Braun grundsätzlich.386 Die Sonderstellung des Menschen will sie jedoch nicht mehr auf den Willen Gottes zurückführen, sondern auf die menschliche Geschichte. Darin habe sich, so die Überzeugung der Aufklärung, das Freiheits- und Vernunftvermögen der Menschheit bereits ansatzweise gezeigt und realisiert. Die Idee der Menschheit stehe jedoch wie das moderne Naturrecht generell in der Tradition der jüdisch-christlichen Vorstellung der menschlichen Sonderstellung und könne deshalb einen Rest Metaphysik nicht abstreifen.387 Auch Christine Zunke unterstreicht in Das Subjekt der Würde die Bedeutung der Menschheitskategorie für den kantischen Personbegriff: Bereits der Embryo ist eine Person, weil er ab der Befruchtung auf das Ideal der Menschheit bezogen ist.388 Die Menschenwürde der einzelnen Person gründet somit nicht im individuellen Menschen, sondern in der Menschheit. Sie versteht Zunke wiederum als das „Wesen“ des Menschen, etwas das alle Menschen gemeinsam haben und das jedem Menschen voraus geht.389 Zwar beruft sich die Philosophin in ihrer Wesensbestimmung auch auf Marx, der das Wesen des Menschen in den gesellschaftlichen Verhältnissen situiere, dennoch könne das Gesellschaftliche nicht alles sein. Das Wesen sei sonst selbst historisch zufällig und veränderlich. Zunke bezieht sich deshalb auf die Idee der Menschheit als Teil der intelligiblen Welt, die der empirischen Sinnenwelt gegenüber steht:

385 Braun (2000): 68. 386 Zum Begriff der Gottebenbildlichkeit o. C.2.1.2. 387 Vgl. dies. 388 Zu Zunkes biologischem Verständnis des Lebensbeginns u. C.3.2. 389 Zunke (2004): 9.

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Das Wesen eines Menschen sei metaphysisch und jenseits einer Sphäre der gesellschaftlichen und vergänglichen phänomenalen einzuordnen. Weil die Idee der Menschheit aufgrund der oben genannten Punkte nicht ohne weiteres auf den Embryo übertragbar ist, zieht die Autorin zur Untermauerung ihres Wesensbegriffes neben Kant auch Aristoteles hinzu: „‚Etwas als Wesen eines Dinges bezeichnen heißt aussagen, daß es sein eigentümliches Sein in nichts anderem habe.‘ Analog zum Substanzbegriff ist das Wesen das Beharrliche an einem Ding, das seine Bestimmtheit durch alle Veränderungen der Akzidenzien in der Zeit hindurch ausmacht.“390

Die Summe der Akzidenzien, der ‚zufälligen Anteile‘, macht allein noch nicht das Wesen eines Dinges aus. Sie müssen durch etwas Übergeordnetes zusammengehalten werden. Ansonsten bilden sie keine Entität, sondern nur ein bloßes Nebeneinander von Elementen. „Was einen Menschen ausmacht“, folgert die Philosophin, „geht aus keinem seiner Akzidenzien hervor – und auch nicht aus deren Summe.“391 Utilitaristische Personenbegriffe wie die Singers kritisiert sie deshalb dafür, dass sie partikulare Attribute mit dem Personbegriff gleichsetzen. Zunke stellt zu Positionen, die Embryonenforschung befürworten, fest:

390 Dies.: 123, zitiert Aristoteles. 391 „Bei Hegel werden Wesen und Akzidenz durch einander bestimmt, was problematisch bleiben muss. Wenn man sich jedoch infolge dieses Problems vom Wesensbegriff gänzlich verabschiedet, wie es bei den oben dargestellten Positionen in der Stammzelldebatte der Fall ist, bleibt nur ein Durcheinander der Akzidenzien: Die Akzidenzien ‚haben keine Macht übereinander‘, sie stehen aus sich selbst heraus in keiner Hierarchie, sondern bloß nebeneinander. Was einen Menschen ausmacht, geht aus keinem seiner Akzidenzien hervor – und auch nicht aus deren Summe. Ohne impliziten Wesensbegriff läßt sich nicht nur kein Begriff des Menschen bilden, auch jede Systematik der Biologie wäre unmöglich, wenn nicht ‚wesentliche Akzidenzien‘ von ‚akzidentellen Akzidenzien‘ getrennt würden, um anhand ausgewählter Merkmale Arten voneinander abzugrenzen.“ Dies.: 66.

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„Das Vorgehen, das aus partikularen Eigenschaften das Personsein erklären will, führt dahin, daß es nicht eine Person ist, die diese Eigenschaften hat, sondern daß die Eigenschaften selbst sind. ‚Person‘ ist so ein synonym für bestimmte Eigenschaften und folglich selbst bloß Akzidenz.“392

Ähnlich argumentiert Joseph Seifert.393 Der Philosoph erweitert seinen kantischen Personbegriff ebenfalls um einen aristotelischen Substanzbegriff394, um zu zeigen, dass der Embryo unter den Personenbegriff fällt und schützenswert ist. Würde bildet den Kern der Person und ist aus seiner Sicht etwas gesellschaftlich und politisches Vorgängiges, ein metaphysisches Sein. Zwar sei „die einzige uns unmittelbar in der Erfahrung gegebene Person“ der Mensch, dennoch könnten wir die „menschliche Natur (Spezies)“ klar von dem unterscheiden, was wir Person nennen. Denn der Wesenskern der Person sei im Gegensatz zur empirischen Erfahrung des Menschseins transzendental: „Denn das Wesen dessen, was Person ist, hat den Charakter einer im skotistischen Wortsinn ‚transzendentalen‘ Wesenheit im Sinne einer reinen Vollkommenheit und ist deshalb von einer die Spezies Mensch übergreifenden Eigenart.“395

392 Dies.: 51. 393 Seifert ist Professor für Philosophie und Rektor an der Internationalen Akademie für Philosophie in Lichtenstein, die dem Vatikan nahe steht. Seifert bewegt sich nicht nur in Bioethik-Foren, organisiert von Gegnern von Stammzellforschung, sondern ist auch als Referent bei Veranstaltungen von Lebensschützern in Deutschland tätig. So hielt er 1998 einen Vortrag gegen Abtreibung bei der Veranstaltung „Leben und Familie“ von Human Life International (HLI). Vgl. Filter (1998). 394 Seifert bezieht sich auf Boethius, der sowohl in der Geschichte des Personbegriffs eine wichtige Rolle spielte als auch wie oben bereits angemerkt ein wichtiger Übermittler der aristotelischen Philosophie und seiner Körper- und Geschlechtercodierungen ins Mittelalter war. 395 Seifert (2003): 51.

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„Denn sie [die Menschenrechte] gründen wesenhaft im Personsein selbst, nicht bloß in der tatsächlichen Fähigkeit, das eigene personale Sein zu verwirklichen, im Bewußtsein oder im Teil einer Rechtsgemeinschaft zu sein.“396

Person ist demzufolge für Seifert eine Substanz, die zudem eine vernünftige Natur besitze. Mit Substanz meint er „jenes Seiende […], das autonom in sich steht und letztes Subjekt und Träger aller anderen Eigenschaften desselben Seienden ist“.397 Die Person könne deshalb niemals ein „bloßer Aspekt“ oder eine Eigenschaft von etwas anderem sein. Sie sei niemals nur „ein Produkt oder eine Eigenschaft des Staates, der Gesellschaft, der Materie, des Gehirns, oder auch nur ein Bündel von Wahrnehmungen ohne zugrunde liegendes Selbst und in sich stehendes Subjekt.“398 Den Begriff Substanz auf ein Verständnis von Person anzuwenden, bedeutet für Seifert nicht, Person auf ein Ding oder auf etwas rein Materielles zu reduzieren, sondern, dass die Person ein „letztes, in sich im Sein stehendes Subjekt ist“.399 Von diesem Personbegriff ausgehend, grenzt sich Seifert gegen verschiedene philosophische Versuche über die Person ab: Er wolle weder die einzigartige, einzige und nur mit einem Namen bezeichenbare Einzelperson definieren, noch eine reduktive Wesensdefinition der Person vornehmen, noch strebe er ein Personverständnis an, „in der aus bereits bekannten und vom Personsein unabhängigen Merkmalen“ ein Verständnis der Person hergeleitet wird. Stattdessen suche er nach einer „reinen Wesensdefinition“. Diese reine Wesensdefinition der Person ist für ihn „eine Entfaltung der unterscheidenden Momente innerhalb einer Wesenheit, von der allein her diese Momente begriffen werden können.“400 Menschliche Eigenschaften wie Erkenntniskraft, Freiheit, Autonomie, Sprache oder geistige Gefühle gehen auf ein letztes Wesen zurück und sind Ausdruck seiner Natur. Dieser „inhaltliche[...] Charakter einer Wesensnatur“, die allen „erfahrbaren unterscheidenden

396 Ders.: 70. 397 Ders.: 53. 398 Ders.: 53f. 399 Vgl. ders.: 64, bezieht sich dort auf Aristoteles Begriff der potentia. 400 Ders.: 52.

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Merkmalen der Person zugrundeliegen muß“, versteht Seifert als die Grundlage seiner „Metaphysik der Person“. Gleich Zunke geht er davon aus, dass nur so einer Philosophie wie dem Utilitarismus entgegentreten werden könne, die das Menschsein der meisten Menschen wie das von Ungeborenen, Bewusstlosen, Schlafenden etc. nicht fassen kann oder will. Seine Suche nach einem „tiefsten Wesen der Person“, nach „der Urgegebenheit der Person“ resultiert aus seinem Vorhaben, den Personenstatus auch Menschen zusprechen zu können, „deren Personsein nicht unmittelbar in Erscheinung tritt“.401 Er wendet sich gegen die Reduktion Menschen auf bloßes Leben und gegen den Entzug von Rechten bestimmter Menschengruppen, wenn er einen Personenbegriff in Frage stellt, der nur bewusste Subjekte als Personen anerkennt. Überraschend ist der ungebrochene Bezug der skizzierten Ansätze auf einen metaphysischen Wesenskern des Menschen. Nicht erst seit den Kulturwissenschaften, den Gender-, Queer- und Disability Studies wird eine Essenz des Menschen in Frage gestellt. Doch an dieser Stelle soll die Frage, ob der Embryo einen Wesenskern aufweist und wie er theoretisch begründet werden könnte bzw. eine Kritik am metaphysischen Denken, nicht weiter verfolgt werden. Meines Erachtens ist es sinnvoller zu untersuchen, wie die Idee eines Wesens der Person in aktuellen philosophischen Beiträgen hinsichtlich von Körper- und Geschlechterverhältnissen funktioniert. Seiferts explizites Ziel ist eine Metaphysik der Person, die auf ein transzendentales Erstes zurückgeführt werden kann. Theologische Konnotationen des Personbegriffs wie das Heilige sind deutlich präsent. Zunke wiederum kritisiert einen Personenbegriff, der auf eine Vorstellung von etwas Heiligem rekurriert und versucht ihren Wesensbegriff durch die Kategorie der Menschheit zu fundieren. Trotz einer Interpretation der kantischen Philosophie, die ökonomische Zwänge und gesellschaftliche Verhältnisse berücksichtigt, reproduziert Zunke gleich Seifert einen Materiebegriff, der zum einen einen zweifelhaften biologisch-rationalen Körperbegriff des Embryos hochhält.402 Zum anderen werden damit die

401 Ders. 402 Zum Organismusbegriff bei Zunke u. C.3.2.

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Körper ausgeblendet, die über den Embryo hinaus in biowissenschaftliche Praktiken eingebunden werden. Denn Zunke begreift den Körper, Kant folgend, als Teil der materiell-empirischen Welt: Er ist im Gegensatz zum Wesen der Person, eine Erscheinung der sinnlichen Welt. In Zunkes Schlusswort drückt sich ihr Körperbegriff so aus: „Zugleich wird z.B. ein Mensch als Erscheinung in der Sinnenwelt als Mensch erkannt, indem er über ein Schema aufgrund bestimmter Akzidenzien und Propria als Mensch identifiziert wird. Was erscheint, kann kein Intelligibles sein, sondern nur ein Materielles, der menschliche Körper.“403

Sah Kant den Körper für das Subjekt der theoretischen Vernunft noch als grundlegend an,404 wird er für das der praktischen Vernunft zum Problem. Um zu einem intelligblen Sittensubjekt werden zu können, muss der Mensch mittels vernünftiger Selbstreflexion so gut wie möglich von seinen leiblich-sinnlichen Affekten abstrahieren und sie kontrollieren. In der Metaphysik der Sitten heißt es beispielsweise: „Je weniger der Mensch physisch, je mehr er dagegen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er.“405 Der Mensch wird für Kant zur Person, weil er seine leibliche Sinnlichkeit ‚geistig‘ im Griff hat. Kants Körper ist folglich eine vernünftig organisierte Leiblichkeit. Darüber hinaus sind die kantischen Grundbegriffe seiner Tugendlehre binär-geschlechtlich und hierarchisch codiert. Die Person, die zur Person wird, weil sie die Kontrolle über ihren Körper hat, ist in Kants Text der Weiße europäische und heterosexuelle Mann.406 Sinnlichkeit, der passive Gefühlsrohstoff, wird hingegen als weiblich ge-

403 Zunke (2004): 123. Der weitere Teil des Zitates lautet: „Der Mensch wird aufgrund biologischer Merkmale erkannt und dabei zugleich erkannt als etwas, das hiervon unterschieden ist: als intelligibler Charakter, Vernunftwesen, das moralisch auf andere endliche Vernunftwesen bezogen ist.“ 404 Den Hinweis verdanke ich Martha Zapata. 405 Kant (1977): 511. 406 Vgl. ders. 377; Böhme/Böhme (1985): 361 & 366; Benbow (2003).

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dacht und mit der Frau identifiziert. Dass die Frau in Kants Ethik als das Andere der intelligiblen Person interpretiert wird, resultiert aus seiner Identifizierung der Frau mit Reproduktion. Sie habe die natürliche Aufgabe, sich fortzupflanzen und zu verewigen,407 womit Kant sie indirekt in die empirische Welt natürlicher Determiniertheit jenseits der intelligiblen Welt verweist. In Zunkes Text setzen sich die kantischen Geschlechterkonstruktionen dadurch fort, dass die Frau neben dem Embryo nicht als Subjekt thematisiert, sondern allenfalls in der Metapher des Unterleibes erscheint. Ihr problematischer Körperbegriff drückt sich auch in ihrer Aussage aus, dass die materielle Voraussetzung von Vernunft das Gehirn sei.408 Zwar setzt sie Mensch und Gehirn nicht gleich. Doch lokalisiert sie aufgrund ihrer theoretischen Vernunftzentriertheit geistige Tätigkeiten im Gehirn. Damit baut sie auf einem jahrtausendealten geschlechtlich codierten Haupt-Leib-Modell auf, in dem das Haupt als männlich, der Unter-Leib hingegen als weiblich verstanden wurde409 und reproduziert die grundlegenden Annahmen der Biowissenschaften, die sie doch eigentlich aufs schärfste kritisiert.410 Während Zunke versucht, das christlich-jüdische Erbe ihrer philosophischen Begriffe auszublenden, greift Seifert auf theologische Argumentationsfiguren zurück. Auch sein Körperverständnis weist deutliche Ähnlichkeiten mit theologischen Leibbegriffen auf.411 Die Substanz der Person ist für ihn zwar kein bloßes Akzentrum und setzt somit auch kein Ichbewusstsein voraus. Dennoch ist diese Substanz für Seifert ein Sein, das unteilbar und „geistig-vernünftig“ ist.412 Seifert wendet sich deshalb gegen ein neurobiologisches Verständnis, das das Gehirn als essentiell für das Menschsein begreift. Er stellt fest:

407 Vgl. Kant (2000): 237 & ders. (1977): 559. 408 Vgl. Zunke (2004): 127. 409 Vgl. Braun (2002a): 2ff. 410 Zur Kritik am biomedizinischen Verständnis des Gehirns als Sitz personalen Lebens: Vgl. Kalitzkus (2003): 20. 411 Dazu o. C.2.2. 412 Seifert (2003): 54.

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„Die Person ist aber nicht nur Substanz und lebt nicht nur, wie ein Baum, sondern sie besitzt ein einfaches und absolut unteilbares und vor allem ein geistigvernünftiges Sein als Subjekt, das sich im Ichbewusstsein äußert. Als jenes wahrhaft eine und einzige Subjekt, das sich im Icherlebnis erfährt, kann die Person unmöglich die aus nicht-identischen Teilen bestehende materielle Substanz des Gehirns sein, sondern ist wesenhaft geistiges Subjekt, was in der menschlichen Person die Existenz einer Geistseele voraussetzt, die eine einfache, unteilbare, unsichtbare, geistige Substanz ist, die mit dem Leib im jeweils einzigen Menschen zu einer engen Leib-Seele-Einheit verbunden ist.“413

Bezeichnungen wie „enge Leib-Seele-Einheit“ scheinen auf den ersten Blick die Möglichkeit für die Thematisierung verschiedener und vielfältiger Körperlichkeiten zu sein. Weil Zunke und Seifert jedoch zum einen allein den Embryo schützen wollen und zum anderen keinen Begriff von Gender haben, verkehrt sich die in ihren theoretischen Ansätzen enthaltenen Geschlechter- und Körperkonzepte in ein heteronormatives Modell. Denn wenn es bei Zunke und Seifert um Körper geht, steht ausschließlich der embryonale Körper im Vordergrund. Jegliche Überlegungen zum Verhältnis von Würde und materieller körperlicher Existenz beziehen sich auf den Embryo: „Der Embryo hat von Beginn seiner Entwicklung an Würde, nicht aufgrund des biologischen menschlichen Materials, sondern aufgrund seines Wesens, das negativ gegen das biologische Material bestimmt ist und zugleich mit diesem verbunden gedacht werden muß. So stehen die biologische Art und das Ideal der Menschheit, obwohl unterschieden, die sich in jedem Menschen darstellt. Der intelligible Charakter hängt nicht vom individuellen Zustand des Gehirns ab, sondern ist über den Begriff der Menschheit mit dem Naturzweck des menschlichen Organismus verbunden.“414

Im philosophischen Diskurs der Bioethik wird Leiblichkeit somit zur intelligiblen Körperlichkeit des Embryos als zukünftiger Staatsbürger. Die Leiblichkeit der Frau ist hingegen irrelevant, weil sie als Materie oder Stoff der Reproduktion gedacht wird. Damit entspricht sie einer

413 Ders.: 56. 414 Zunke (2004): 129.

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Körpersubjektivität, die symbolisch und politisch kein Gewicht hat. „Die jahrtausendealte Unterscheidung von Materie und Intelligiblem/Vernunft“ ist somit auch in der Bioethik für die „Artikulierung einer maskulinisierten Politik“ wesentlich.415 C.3.1.3 Persönlichkeitstheoretische Kategorien als Teil neoliberaler Vergesellschaftung Der Personenbegriff philosophischer Bioethik bietet darüber hinaus keine grundlegende Kritik an neoliberaler Vergesellschaftung und ihren Körpercodierungen, sondern ist zum Bestandteil zeitgenössischer Formen des Regierens geworden. Denn Personenbegriffe von Gegnern wie Befürwortern von Embryonenforschung sind auf je eigene Weise mit Interessen bioökonomischer Verwertung kompatibel. Der Zusammenhang zwischen neoliberalen Kalkülen und Personbegriff besteht dabei in verschiedenen Hinsichten. Die neoliberale Wendung des kantischen Personbegriffes Kants Personenbegriff der Metaphysik der Sitten ist die Möglichkeit reflexiver und das heißt kritischer Subjektivität eingeschrieben. Ingeborg Maus hat herausgestellt, dass mit Kants Prinzip der Reflexivität jeglichen „gesellschaftlich etablierten Verhaltenserwartungen“ entgegen getreten werden und sein philosophisches Projekt eine kritische „Entinstitutionalisierung“ bedeuten kann.416 Die „Herrschaft gegen sich selbst“, die Kant mit der Maximenprüfung postuliere, sei die Aufforderung zur kritischen Überprüfung jeglicher von außen an das Subjekt herangetragenen Verhaltensnormen.417 Wird das Element kritischer Selbstreflexivität betont, bietet Kants Personbegriff die Möglichkeit, normierende bioethische Subjektivierung zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verweigern. Kants Begriff der Personenwürde in der Tugendlehre ist, wie Susanne Lettow gezeigt hat, jedoch auch anschlussfähig für bioethische 415 Butler (1991): 57. „Die klassische Assoziation von Weiblichkeit mit Materialität kann bis zu einigen Etymologien zurückverfolgt werden, die Materie mit mater und matrix (oder Gebärmutter) und demzufolge mit einer Reproduktionsproblematik in Zusammenhang bringt.“ Dies. 416 Maus (1992): 261f. 417 Dies.: 262.

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Interpretationen, die neoliberale Verhältnisse zementieren: In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt es, dass im Reich der Zwecke alles entweder einen Preis oder eine Würde habe. An die Stelle eines Gegenstandes, der einen Preis hat, könne auch etwas Anderes als sein Äquivalent gesetzt werden. Was aber eine Würde habe, sei über allen Preis erhaben und habe kein Äquivalent.418 Lettow hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in dieser Aussage auch der Begriff der Würde nach dem Modell des Äquivalententausches konzipiert sei. Gerade weil Würde als Ausnahme konstruiert werde, setze sie nichtsdestotrotz die Gegebenheit von Tauschverhältnissen voraus.419 Im bioethischen Diskurs verschärft sich dann die dem Würdebegriff eingeschriebene Logik des Tausches. Die Tauschlogik und die individualisierenden und heteronormativen Facetten des Würdebegriffs verstärken sich gegenseitig: Statt generell auf den ökonomisch-gesellschaftlichen Kontext und die impliziten Körperverhältnisse von Stammzellforschung zu reflektieren, wird mit der Konstatierung der Personenwürde allein der Embryo als isoliertes Individuum in den Blick genommen und die Verhinderung seiner bioindustriellen Vernutzung gefordert. Der Embryoleib bildet in der kantisch inspirierten Argumentation die Ausnahme vom Äquivalententausch und wird als Subjekt der Würde privilegiert. Die Körpersubjektivitäten anderer im biomedizinischen Kontext Involvierter werden jedoch ausgeblendet und damit in die Sphäre des Äquivalententausches verwiesen – oder belassen.420 Aufgrund des heteronormativen Erbes des Personbegriffs und dem Mangel an transgenderen und queer-feministischen Interpretationen im bioethischen Dispositiv ist es der Frauen- und Geschlechterleib, der einer Inwertsetzung im wahrsten Sinne des Wortes Preis gegeben wird. Denn die Frau oder das geschlechtliche Subjekt sind in der Pra-

418 Vgl. Kant (2004): 87. 419 „Der Verweis auf die Menschenwürde ist im bioethischen Diskurs [...] den Kosten-Nutzen-Kalkülen nur insofern entgegengesetzt, als er zwar eine Ausnahme behauptet, damit die symbolische Inwertsetzung von Individuen und Körperelementen bereits voraussetzt.“ Lettow (2004): 163. 420 Baer zeigt für die Problematik sexuelle Belästigung, dass der individualisierende Würdebegriff des Grundgesetzes zu einer sexistischen Rechtssprechung führt. Vgl. Baer (1995).

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xis der Stammzellforschung die Hauptbeteiligten, weil sie als Eizellgebende fungieren sollen.421 Auch im Kontext der In-vitroFertilisation (IVF)* hat sich mittlerweile ein regelrechter ‚Eizell-Tourismus‘ herausgebildet. Firmen verdienen daran, dass Frauen aus materiell weniger reichen Ländern wie Rumänien ihre Eizellen an Frauen aus reicheren Ländern verkaufen.422 Darüber hinaus ist wie oben herausgearbeitet der Begriff der Würde in der kantischen Philosophie ein Vernunftbegriff: Er geht vom Ideal der intelligiblen Person, nicht aber von ‚sinnlicher Leibbeschaffenheit‘ aus. Leib und Personenwürde fallen weder in Kants Tugendnoch in seiner Rechtslehre ineins, sondern der Leib ist vermittelt über den Begriff der Person mit dem Menschen verbunden. Das verbindende Element wird über die Kontrolle hinaus auch als rational-vernünftige Bearbeitung des Leibes verstanden. Diese Bearbeitung entspricht jedoch nach heute dominanten Verständnissen von Arbeit bioökonomischen und neoliberalen Kalkülen. So stellt Christine Zunke fest, dass der Unterschied zwischen intelligibler und empirischer Welt durch die Arbeit des Menschen aufgehoben werde:423 „Der Begriff der Persönlichkeit des Menschen wird bei Kant an die Möglichkeit der Freiheit als Prozeß der Befreiung vom Mechanismus der Natur gekoppelt. Dieser Prozeß kann kein Naturprozeß sein, sondern nur einer aus Freiheit, d.i. ein in der Natur stattfindender und mit Hilfe der Naturgesetze durch Arbeit als technisch-praktischem Vermögen vernünftiger Sinnenwesen gewirkter Prozeß. […] Die Freiheit vom Mechanismus der Natur wird nur im Prozeß gesellschaftlicher Arbeit wirklich.“424

Zunke bezieht sich in ihren Ausführungen zum Arbeitsbegriff auch auf Marx. Doch die Bedeutung von Arbeit im Verhältnis zu ihrem Würdebegriff ist kantisch: Arbeit ist das notwendige Bindeglied zwi-

421 Dazu o. A. 422 Vgl. Feyerabend (2005): 36. Sexton kritisiert die Verwendung der Bezeichnung Tourismus für diese Problematik, weil es nicht die Frauen sind, die daran verdienen, sondern die Firmen. Vgl. Sexton (2005). 423 Vgl. Zunke (2004): 105. 424 Dies.: 99f.

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schen den beiden Welten.425 Der Körper ist dabei insofern Teil der Person, als er der reflexiven Selbstkontrolle dient. Denn Kant macht Körperbeherrschung zur „Bedingung der Möglichkeit von Freiheit“ und zum „grundlegenden Charakteristikum der Menschenwürde“.426 Auf diese Weise bleibt Zunkes Arbeitsbegriff für neoliberale Selbstmanagement-Kalküle vereinnahmbar. Zwar meinte Kants „vernunftrechtlich begründeter Personbegriff“ nicht, dass man sich zum ökonomischen Menschen machen soll, sprich dass zum Beispiel jeder Eigentum anhäufen soll, um frei zu sein und Person werden zu können.427 Dennoch wird die Logik des Sollens auf abstrakter Ebene als vernunfttheoretischer Begriff zum normativen Prinzip, zum regulativen Ideal. Sie entspricht den Funktionsmechanismen moderner Macht, die auf formal freie Subjekte zurückgreift und ihr Verhalten durch ein Kalkulieren mit ihrem Verhalten in eine bestimmte Richtung lenkt. Personbegriffe und gesellschaftlicher Ausschluss Die Besetzungen des Personenbegriffs im bioethischen Diskurs beruhen, wie im obigen Teil zum Utilitarismus ausgeführt, auf einer Ausschlussdynamik, aus der freigesetztes Material aus dem menschlichen Körper oder ganze Menschenkörper für Forschungszwecke hervorgehen können. Denn mittels der Unterscheidung Mensch/Person können bestimmte Menschen‚gruppen‘ aus dem Personbegriff ausgeschlossen werden: Nur wem Vernunft zugeschrieben wird, gilt als Person und nur Personen gehören zur Menschheit. Menschheit bedeutet im bioethischen Diskurs wiederum Rechtsgemeinschaft, wodurch eine Person im Gegensatz zum ‚bloßen‘ Menschen diejenige ist, der grundle-

425 In der Kantrezeption wird diese Arbeit auch als Prinzip des Sollens beschrieben. Vgl. Römpp (2005): 139. 426 Wenner (2002): 94. 427 „Kants grundlegende und in die Idee der Republik eingeschriebene Prämisse, daß ohne persönliches Eigentum niemand frei sein kann, steht darum dem Ziel, daß alle frei, ökonomisch selbstständig und zur Gesetzgebung befähigt sein sollen, nicht entgegen, sondern ist selber das normative Prinzip, das nach Kant die Verwirklichung dieses Ziels steuern soll.“ Maus (1992): 25.

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gende Rechte zugesprochen werden. Die Kategorie der Person wird so mit der Kategorie des Rechtssubjekts gekoppelt.428 Der offensichtlichste Zusammenhang zwischen dem im bioethischen Diskurs vorherrschenden problematischen Personenbegriff und der Inwertsetzung des Körpers besteht darin, dass es mittels des Personbegriffs möglich wird, Embryonen zu bloßem biologischen Leben zu degradieren und sie so zu bioökonomischen Forschungsrohstoffen zu machen. Buchstabiert man den Personbegriff utilitaristischer Bioethiken aus, so ließe sich die Gruppe von Menschen jedoch erweitern. Auch Frauen mit Behinderung oder im Koma und anderen ‚Nichteinwilligungsfähigen‘ könnten Eizellen für Stammzellforschung entnommen werden. Für andere kommerzielle Zwecke finden Grenzüberschreitungen dieser Art bereits statt. Katrin Grüber, Leiterin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft, hat beispielsweise kritisiert, dass Menschen mit geistiger Behinderung Körpersubstanzen zu Forschungszwecken entnommen wurden. So seien Ende 1997 von Heimbewohnern des St. Josefs-Stifts in Eisingen ohne deren Einwilligung ‚genetische Informationen‘ „im Rahmen von zwei Doktorarbeiten des Humangenetischen Instituts Würzburg“ verwertet worden. Als Ergebnis der einen Doktorarbeit wurde ein Test auf das so genannte FraXSyndrom – eine Lernschwäche – entwickelt.429 Personbegriffe und Mechanismen der Disziplinierung und Regulierung Der philosophisch-bioethische Diskurs um den Personenbegriff wirkt sich nicht nur auf sogenannte marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderung oder im Wachkoma aus, sondern auch auf Menschen, die als normal gelten. Denn bioethische Subjektivierung funktioniert mittels der Drohung des Ausschlusses, das heißt durch den 428 Birnbacher stellt fest, dass der Begriff Person im bioethisch-philosophischen Diskurs vor allem eine normative Funktion hat, das heißt einen Menschen „als Träger moralischer oder juridischer Rechte oder Grundrechte“ zu bestimmen. Vgl. Birnbacher (1997): 60. Vgl. Braun (2000); Spaemann (2001); Lettow (2003a): 129ff. Agamben zeigt, dass Rechtsordnungen moderner Demokratien immer auch die Kategorie der Rechtlosen, das heißt von Leben ‚ohne rechtlichen Wert‘, produzieren. Vgl. Agamben (2002): 140 & 145ff. 429 Vgl. Grüber (2005): 36.

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Entzug des Personenstatus. Zugleich impliziert sie die Annahme einer idealen Person. Bioethische Subjektivierung appelliert an alle Menschen, sich als ‚gute Subjekte‘ zu vergesellschaften.430 Der Personbegriff repräsentiert aus einer machtanalytischen Perspektive deshalb einen normierenden Subjektbegriff oder besser eine normierende Subjektivierungsweise, mittels derer auch die Verhaltensweisen von Menschen der Dominanzkultur431 in eine ganz bestimmte Richtung geleitet werden.432 Um den Begriff der Person als Teil bioethischer neoliberaler Subjektivierung zu begreifen, bieten sich vor allem das foucaultsche Konzept der Gouvernementalität und seine Ausarbeitung durch die Gouvernementality Studies an. Der Begriff Gouvernementalität enthält die semantische Verbindung von gouverner (Regieren) und mentalité (Denkweise) und weist einerseits auf die komplexe Wechselseitigkeit zwischen Macht und Wissen hin. Andererseits ermöglicht es, mittels des zentralen Begriffs der Regierung die interdependente Verbindung zwischen Machtformen und Subjektivierungsprozessen zu untersuchen.433 Foucault verwendet den Begriff der Gouvernementalität zum ersten Mal in einer Vorlesungsreihe der Jahre 1978 und 1979, in der er eine „Genealogie des modernen Staates“ von der griechischen Antike bis zum modernen Neoliberalismus entwickelt.434 Seine zentrale These ist, dass der moderne okzidentale Staat aus einer komplexen Beziehung von „pastoralen“ und „politischen“ Machttechniken entstanden ist:435 In, mit und durch christlich-pastoralen Führungstechniken haben

430 Lettow zeigt, dass die Unterscheidung Mensch/Person auch „die ‚guten Subjekte‘ auf bestimmte Art und Weise“ zurichtet. Lettow (2003a): 131. 431 Zum Begriff der Dominanzkultur vgl. Rommelspacher (2002). 432 Vgl. Lettow (2003a): 131. 433 Vgl. Lemke/Bröckling/Krasmann (2000): 8. 434 Vgl. Foucault: Vorlesung vom 05.04.1978, zit. nach Lemke/Bröckling/ Krasmann (2000): 10. 435 Ders. (1997): 152. Die Bezeichnung politische Macht leitet sich von der antiken polis her und ist um Recht, Universalität, Öffentlichkeit etc. organisiert. Die Pastoralmacht bezieht sich auf die ursprünglich christlichreligiöse Konzeption der Pastoralmacht. Vgl. Foucault (1994b): 247ff.

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sich bestimmte Subjektivierungsformen entwickelt. Auf diesen Selbstverhältnissen bauen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft436 auf, indem sie Werte wie Seelenheil und Gehorsam in einer Form umartikulierten, die für ihre Ziele und Zwecke günstig erschienen.437 Diese entscheidende Veränderung – von der Regierung der Seelen im christlichen Pastorat zu der Regierung (von Menschen) einer Bevölkerung – impliziert zum einen die Voraussetzung einer Reflexion auf die Intentionen, den spezifischen Gegenstand und die Bedingungen der Regierung. Zum anderen wird ein Wissen um die ‚Eigenheiten‘ der Menschen und ihrer Beziehungen notwendig. Dieses liefern die Human- und Sozialwissenschaften innerhalb der sich ausdifferenzierenden Analyse ihres Gegenstandes.438 Der terminus technicus Regierung ermöglicht, die wechselseitige Verzahnung von individueller Lebensgestaltung und ‚objektiven‘ Machtstrukturen analytisch zu erfassen, indem er auf die spezifischen Subjektivierungsweisen verweist, die humanwissenschaftlichem Wissen eingeschrieben sind. Foucault verdeutlicht diese Verwobenheit, indem er den Begriff Regierung einer historischen Analyse unterzieht.

436 Gouvernementalität stellt ebenso wie Dispositiv eine Begriffsschöpfung dar, die auf der Ebene des Programms angesiedelt ist. Mit diesem Neologismus spielt Foucault auf eine historische Verschiebung des politischepistemologischen Feldes an. Die Gouvernementalität entstand als Problematisierung des Problems des Regierens. Da Regierung sich nicht mehr „von selbst verstand“, konnte so etwas wie eine Regierungskunst als „Reflexion auf die Bedingung des Regierens“ erst entstehen. Vgl. Lemke (1997): 158. 437 In diesem genealogischen Ansatz wird der Staat als immanentes Verhältnis von pastoralen und politischen Kräften gedacht. Das Problem des Staates wird dann nicht von außen ermittelt, sondern von innen, ausgehend von den Praktiken der Gouvernementalität selber. Der Staat wird selbst als eine Form des Regierens begriffen und zum Gegenstand der Analyse, wodurch die Unterscheidung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Staat und Gesellschaft aufgehoben wird. Vgl. Lemke (1997): 151. Ders. (1999): 425. 438 Vgl. Lemke/Bröckling/Krasmann (2000): 10f., mit Verweis auf Foucault: Vorl. v. 22.2.1978.

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Der französische Philosoph löst ihn dadurch von seiner heutigen Bestimmung – einer Leitung des Staates samt seiner Verwaltung – und lädt ihn mit einer neuen Bedeutung auf: Er bestimmt ihn als „Führung von Führungen“. Regierung bedeutet daher nicht nur das Regieren durch andere – die Fremdführung –, sondern schließt auch die Regierung des Selbst, die Selbstführung, ein. Mit dieser Wendung des Regierungsbegriffs gelingt es, „Machtbeziehungen unter dem Blickwinkel von ‚Führungsverhältnissen‘ zu untersuchen“.439 Mit dem Begriff der Führung (conduite) analysiert Foucault das Feld der Machtbeziehungen als ein Zusammenspiel von Selbsttechnologien und Herrschaftstechnologien. Er trennt sie von sachlichen Fähigkeiten einerseits und Kommunikationsbeziehungen andererseits. Der Begriff der Führung soll die Eigenart von Regierungstechnologien herausstellen, was sich in der folgenden Aussage Foucaults widerspiegelt: „Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen. Führung ist zugleich die Tätigkeit des ‚Anführens‘ (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmaßnahmen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im ‚Führen der Führungen‘ und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit.“440

Machtausübung durch und als Regierungstechnologie meint dann ebenfalls: das Anleiten von Selbstführung, die Anführung der Selbstgestaltung innerhalb eines geschaffenen Möglichkeitsfeldes. Regierung verweist somit auf „zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen.“441

439 Vgl. Foucault (1994): 255; Lemke (1999): 416. 440 Ders. 441 Lemke/Bröckling/Krasmann (2000): 10, mit Verweis auf Foucault: Vorl. v. 8.2.1978 & ders. (1994): 255.

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Regierung bezeichnet eine Macht, die einer „Handlung auf Handlungen“ entspricht. Damit aber Handlungen in eine spezifische Richtung gelenkt werden können, setzt diese Regierungsmacht bestimmte Subjektivitäten – Selbstverhältnisse – voraus, mittels derer sie operiert. Eine Regierungsanalyse geht somit der Beziehung zwischen Formen der Regierung des Selbst und Formen der Regierung der anderen nach und zeigt, wie jenseits des Repressionsmodells Subjekte dazu gebracht werden, spezifische Selbstverhältnisse auszubilden und sich als bioethische Subjekte anzuerkennen. Ein Machtverhältnis setzt sowohl die Existenz handelnder Subjekte als auch die Existenz eines Möglichkeitsfeldes voraus. Ein Möglichkeitsfeld erlaubt eine Reihe verschiedener Antworten, Reaktionen, Verhaltensweisen etc., die jedoch nicht endlos ausdehnbaren sind. Das bedeutet, dass Machtverhältnisse eher ein Kalkulieren mit dem Handeln der Subjekte darstellen.442 Drei Punkte sind für die machtanalytische Perspektive auf die Personenbegriffe im philosophischen Diskurs von Bedeutung: Dem Individuum ist Raum gegeben, sich selber zu führen. Ihm wird somit suggeriert, es entscheide frei (1). Dieser Raum ist jedoch durch bioethische Normen klar abgesteckt und im Prinzip sind auch die Schneisen vorgegeben, innerhalb derer die Selbstführung vonstatten gehen kann (2). Der Produktion von neuen Möglichkeitsfeldern oder der Veränderung von Handlungsspielräumen steht grundsätzlich nichts im Wege. Sie wird allerdings bestimmt vom spezifischen Zusammenhang zwischen Wissen und Macht (3). Die philosophischen Besetzungen des Personbegriffs zeigen, wie mittels der Produktion von bioethischen Selbstverhältnissen, bioökonomische Ziele staatlicher Biopolitik realisiert werden sollen. Das formal freie Subjekt steht dabei sowohl bei Gegnern als auch bei Befürwortern im Mittelpunkt: Freiheit wird im philosophischen Diskurs zur Person positionenübergreifend als wichtiges Kriterium der Person bestimmt, durch die sie zum ethischen Subjekt werden soll und ihre moralischen und juridischen Rechte begründet werden sollen. Seifert bestimmt Freiheit zum Beispiel als grundlegende Quelle der Menschenwürde einer Person. Die Möglichkeit, frei zu handeln, ist für Sei-

442 Vgl. Lemke (1997): 305.

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fert nicht ein Attribut oder ein Phänomen des Menschen und seines Handelns, sondern der ‚tiefe Grund‘ des Personbegriffs: „In ihr [der Freiheit] besitzt die erwachte vernünftige Person eine einzigartige Herrschaft über die eigenen Akte, die Aristoteles als ein Herrsein über das Sein oder Nichtsein der eigenen Taten bezeichnet. […] In der Freiheit besitzt die Person nicht nur jene Autonomie, die ein gleichsam gottähnliches Herrschaftsverhältnis über das Sein oder Nichtsein eigener Akte einschließt, sondern bestimmt auch sich selber als Person, da sie durch ihre Taten gut oder böse werden kann.“443

Freiheit wird hier per se als gute individuelle Eigenschaft und als historisch und gesellschaftlich entbetteter Begriff konzipiert. Auch Gerhardt stellt die Eigenverantwortung des Individuums in bioethischen Problemkonstellationen in den Vordergrund und fordert, dass staatliche Biopolitik von der „Zuständigkeit des Einzelnen“ auszugehen habe. Das ideale ethische Subjekt ist für den Bioethiker folglich das freie Subjekt, dessen Freiheit sich vor allem im selbstverantwortlichen und vernünftigen Handeln zeigt:444 „Vom Menschen auszugehen heißt: von einem erwachsenen, selbstverantwortlichen und vernünftigen Menschen, der nicht nur Gründe haben und Gründe verstehen, sondern auch Gründen folgen kann.“445

443 Seifert (2003): 73. 444 Vgl. Gerhardt (2002): 46. 445 Ders. (2004): 130. „Niemand wird behaupten, dass die politischen, ökologischen und ethischen Appelle an die Politik folgenlos waren. Sie wären freilich philosophisch überzeugender ausgefallen, wenn dabei nicht gelegentlich vergessen worden wäre, die Grundbedingung des politischen Handelns, nämlich Freiheit und Würde des einzelnen Menschen deutlich zu exponieren. Die individuelle Verantwortung eines jeden muss als unumgänglicher Ausgangspunkt der Ethik erkennbar sein, und es muss außer Zweifel stehen, dass die Politik nur dann bessere Aussichten verheißen kann, wenn sie auf die Zuständigkeit des Einzelnen setzt.” Vgl. ders: 11.

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Wie Gerhardt das freie Subjekt genauer definiert und von welchen geschlechtlichen Körpern er dabei ausgeht, wird in seiner Diskussion der Abtreibungsfrage deutlich. Er bezieht sich auf das Urteil von 1975, in dem das Bundesverfassungsgericht den Embryo als Rechtssubjekt setzte und Abtreibung verbot. Der Staat habe damit aus der staatlichen Biopolitik im Nationalsozialismus falsche Konsequenzen gezogen. Denn die individuellen Rechte der Staatsbürger, sprich der Frau, würden mit der Abtreibungsentscheidung von 1975 beschnitten. Das entspreche jedoch auch dem Grundton der nationalsozialistischen Geburtenpolitik, die die Individualrechte ebenfalls massiv eingeschränkt hätte. Die Gründe dafür seien jedoch eugenische gewesen.446 „Die angemessene Reaktion auf die vom Staat selbst geplanten, begünstigten und begangenen Verbrechen“, so der Philosoph, „kann nur in einer Erweiterung der Freiheitsspielräume des Individuums liegen.“ Gerhardt konstruiert folglich einen Gegensatz zwischen einem diktatorischen Staat, der die Freiheit des Individuums einschränkt und einem liberalen Rechtsstaat, der die Freiheit des Individuums unterstützt. Die Perspektive auf das Verhältnis von Staat und Freiheit bleibt dabei jedoch eindimensional und verkennt die subtile Machtausübung in einem liberalen Rechtsstaat. Denn mit einer gouvernementalen Interpretation stellt sich der Staat im Neoliberalismus als eine Instanz heraus, dessen Macht mittels formal freier Akteure funktioniert: Staatliche Gesundheitspolitiken haben die Funktion, die Freiheitsspielräume ihrer Bürger samt dem darin stattfindenden vermeintlich ‚freien‘ Handeln in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. Die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen und des Gesundheitsfeldes geschieht vor allem durch die Regulierung der aktiven Selbstdisziplinierung von Staatsbürgern, durch die Stärkung ihrer ‚Freiheit‘ und nicht allein durch Repression. Denn das freie Handeln der Person in einem bio-

446 „Der NS-Staat war zu seinen Untaten in der Lage, nicht weil er das ungeborene Leben zu wenig schützte, sondern weil er den geborenen Menschen gering geachtet hat. [...] Stattdessen aber wurde im Zuge des Verfassungsgerichtsurteils die hoheitliche Kompetenz des Staates gestärkt, die Individuen wurden zusätzlichen Pflichten und Kontrollen unterworfen und die wissenschaftliche Forschung wurde eingeschränkt.“ Ders. 41.

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wissenschaftlichen Kontext ist nicht wirklich frei, sondern wird durch Expertenwissen in eine bestimmte Richtung gelenkt. Gerhardt spricht sich somit gegen ein Verbot der Abtreibung aus, nicht weil es ihm um die Selbstbestimmung der Frau geht, sondern weil der Embryo als Forschungsmaterial zur Verfügung stehen soll. Diese Freisetzung soll über die formal freie Zustimmung der abtreibenden Frau gewährleistet werden. Folglich lehnt Gerhardt Zwangsberatungen von Frauen ab: „Selbst wenn wir wohlmeinend unterstellen, dass die Verfassungsrichter im Jahre 1975 in bester volkspädagogischer Absicht gehandelt haben, ist ihre Edukation von oben vollkommen gescheitert. Zwar wird die Zwangsberatung von den Frauen, die nicht gleich ins Ausland ausweichen, akzeptiert; die Beratung kann in der Sache tatsächlich etwas Gutes haben, weil die Frau dadurch die Chance erhält, zusätzliche Einsichten über ihre Lage zu gewinnen. Daher ist gegen eine kompetente Beratung, selbst wenn sie obligatorisch ist, nichts einzuwenden. Der Staat kommt damit seiner Pflicht, zum größtmöglichen Schutz der nachwachsenden Generation nach. Allerdings muss gewährleistet sein, dass die werdende Mutter sich anschließend frei entscheiden kann.“447

Die Beratung hat keine aufklärende Funktion, sondern ist in neoliberal verfassten Gesellschaften vor allem ein Instrument politischer Steuerung. 90 Prozent der Frauen entscheiden sich nach einer humangenetischen Beratung für eine Abtreibung, wenn ihre Leibesfrucht der statistischen Risikogruppe Behinderung zugerechnet wird.448 Wird also die freie Entscheidung der Frau unterstrichen, wird ausgeblendet, dass es oft eine Entscheidung ist, die sich am gesellschaftlichen Druck orientiert, normierte Kinder zu bekommen. Eine ‚Eugenik von unten‘* wird dadurch unterstützt. Beratungspraktiken sind somit eher ein Beispiel, wie der staatliche Zugriff auf den Frauenleib in aktuellen demokratischen Gesellschaften wie der BRD jenseits von Repression oder Zwangsverordnungen funktioniert. Auch Beratungssituationen rund um die Problematik Stammzellen aus Nabelschnurblut werden durch Informationsmaterial vorstrukturiert, das kommerzielle Nabelschnur-

447 Ders.: 40. 448 Vgl. Lux (2007): 8.

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blutbanken zur Verfügung stellen. Sie versorgen gynäkologische Praxen und Entbindungskliniken mit Werbematerial, das Schwangere dazu bewegen soll, ihr Nabelschnurblut zur profitträchtigen Gewinnung von Stammzellen herzugeben.449 Gerhardt geht es deshalb nicht um die Stärkung der reproduktiven Rechte der Schwangeren, sondern um eine ganz bestimmte weibliche Selbstbestimmung: Um Entscheidungen der schwangeren Frau, die der Freisetzung des ‚Körpermaterials‘ nicht im Wege stehen. Die Wendung des Selbstbestimmungsbegriffs in einen normwissenschaftlichen Begriff wird auch im folgenden Zitat deutlich: „Wenn also mit theologischen Argumenten ein Abtreibungs- oder gar Forschungsverbot gefordert wird, kann das nur für die Gläubigen, nicht aber für die Bürger in einem säkularen Staatswesen gelten. Denn der liberale Staat hat ein ganz anders begründetes Interesse am Schutz des werdenden menschlichen Lebens: Er hat das Dasein, die Freiheit und die Würde seiner Bürger zu sichern. Dazu gehört, dass er nicht nur die jetzt lebenden Menschen, sondern auch ihren Nachwuchs schützt und fördert. Also muss ihm an einer guten gesundheitlichen Versorgung, damit auch am Schutz der Schwangeren gelegen sein. Der Schutz der Schwangeren schließt die Sorge für den Embryo ein, der unter Umständen auch vor fragwürdigen oder riskanten Handlungsweisen der werdenden Mutter zu bewahren ist.“ 450

Abtreibung und Forschung werden hier in einem Satz genannt und dadurch die enge Verbindung zwischen beiden deutlich. Der (nichtbehinderte) Embryo als zukünftiges Rechtssubjekt oder als Forschungsmaterial steht im Mittelpunkt von Gerhardts Interesse, nicht aber die Frau. Besonders der letzte Satz zeigt die paternalistische Bevormundung der schwangeren Frau, die ihre Wurzeln im pietistischen Protestantismus hat und somit entgegen Gerhardts Intention ein stark theologisch gefärbtes Anliegen ‚offenbart‘.451

449 Vgl. Manzei (2005): 36. 450 Gerhardt (2004): 122. 451 Ebenso begrüßen Peter Singer und Helga Kuhse das „Nachlassen der paternalistischen Einstellung, der zufolge Ärztinnen das Recht haben, Informationen an Patientinnen weiterzugeben oder sie ihnen vorzuenthal-

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Biopolitisch gewendet bedeutet der Begriff der freien, verantwortlichen und sich selbst Gesetze gebenden Person keine Erweiterung der Freiheit des Menschen, keine Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität, der Gemeinschaft oder eines weitsichtigen Umgangs mit Biotechnologien, sondern eine Subjektivierung, die bioökonomischen Interessen dient. In einer genetisierten Bio-Macht dient der Bezug auf den Begriff der Verantwortung vor allem dazu, ein Möglichkeitsfeld zu strukturieren, in dem verantwortliche Subjekte bioethischer Entscheidungen entstehen können. Sie ‚pflegen‘ im Idealfall verantwortlich ihren Körper und geben Körpermaterialien ab, ohne Ansprüche auf Teilhabe an etwaigen Profiten zu stellen. Die Fiktion einer Gesellschaft, in der jeder seinen verantwortungsvollen Teil zu übernehmen hat, soll Menschen dazu bringen, eine biotechnologische Ökonomie als sinnvoll zu betrachten, in der der Leib produktiven Logiken unterstellt wird. Das Bild einer Gesellschaft als ein übergeordnetes Ganzes suggeriert die Pflicht des Einzelnen sich mittels Abgabe von Körpersubstanzen an diesem Umfassenderen zu beteiligen. Darüber hinaus bilden heteronormative Verständnisse wie das Paar und die Kleinfamilie die Folie für philosophische Personbegriffe in der Bioethik. So plädiert Gerhardt für eine kritische „private Haltung“, die der Einzelne bezüglich der Problematik der In-vitro-Fertilisation an den Tag legen solle: „Deshalb sollten wir die öffentliche Kritik mit einer privaten Praxis verbinden, in der wir uns selber, wenn wir es denn selber wollen, den herrschenden Trends verweigern. Ich möchte kein Kind aus der Retorte, ganz unabhängig davon, wie günstig es auf dem Markt angeboten wird. Ich wünsche mir, dass Kinder in guter Hoffnung und im Umfeld elterlicher Liebe aufwachsen. Also werde ich jederzeit für Verhältnisse werben, in denen eben dies möglich ist. Der Umgang mit dem werdenden und dem geborenen menschlichen Leben hängt wesentlich von der individuellen Zuneigung ab. Die kann ein Staat auch

ten, und überhaupt Entscheidungen zu ihrem Wohl zu treffen“ Kuhse/ Singer (1999): 26. Ihr Begriff einer freien Person ist jedoch wie oben ausgeführt ebenso reduktionistisch wie Gerhardts liberaler Freiheitsbegriff.

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durch die beste Gesetzgebung nicht verordnen. Aber die Philosophie kann Gründe dafür nennen, warum sich jeder um eine Lebensführung bemühen sollte, in der Liebe und Wohlwollen konkret erfahren werden können.“452

Die von Gerhardt postulierte kritische Haltung ist jedoch alles andere, als die Haltung nicht regiert zu werden. Denn weil Gerhardt keinen Begriff von Gender hat, werden bestehende heteronormative Arrangements gestützt. Die Bezeichnung Eltern ruft dann das Bild des heterosexuellen Paares auf. Der Personbegriff untermauert somit eine Gesellschaftsordnung, in der bestimmte Selbstverhältnisse privilegiert, andere jedoch ausgeschlossen, keinen oder einen beschränkten Zugang zu Privilegien haben. Zudem schreibt Gerhardt Familie, Sexualität und Kindererziehung der Sphäre des Privaten zu und imaginiert sie als Ort, der von Machtverhältnissen unberührt ist: „Da die Biopolitik in besonderem Maß unseren Selbstbegriff als Menschen berührt, haben wir entschieden auf ihrer Bindung an die Grund- und Menschenrechte zu bestehen. Und da sie weitreichende Konsequenzen für unser individuelles Selbstverständnis haben kann, sind wir vor allem auch in unserer eigenen Lebensführung gefordert. Wer nicht will, daß die Biotechnologie sich in jene Frage mischt, die unter dem diskreten Schutz der Liebe stehen, hat dies zunächst und vor allem für sich selbst zu entscheiden.“453

Auch Peter Baumanns beklagt „die Asexualität des reproduktiven Klonens als Entpersönlichung des Generationenüberganges und Veräußerlichung des Familienlebens“. Die Desexualisierung von Fortpflanzung ist in seinen Augen ein ethisches Problem im „Geltungsbereich des Prinzips der zu achtenden Menschenwürde“.454 Mit der Konstruktion eines Bedrohungsszenarios, in dem Fortpflanzungstechniken Zugriff auf das Private erhalten, wird der Status quo als positives und zu schützendes Faktum dargestellt. Damit wird jedoch ausgeblendet, dass Bioethik gerade auf die als privat geltenden Orte regulierend zugreift und ihre neoliberale Reorganisation anstrebt. Ausge-

452 Gerhardt (2004): 49. 453 Ders.: 47. 454 Baumanns (2004): 16.

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blendet wird, dass dieses Private keineswegs ein Bereich der Machtfreiheit ist. Schließlich kann ein solches Bild für Menschen diskriminierend sein, die Kinder ‚haben‘ wollen, jedoch die Kleinfamilie als Form des Zusammenlebens ablehnen. C.3.2 Rationales Leben und vernünftige Körper: Philosophische Wendungen biologischer Lebensbegriffe Bioethik ist eine Form der „Politik des Lebens selbst“.455 Der verwaltende Zugriff auf ‚das Leben‘ geschieht in der philosophischen Bioethik zum einen, wie dargestellt, über ‚ideengeschichtliche‘ Begriffe wie die Person. Metaphern werden jedoch auch aus den Lebenswissenschaften übertragen und als Grundlage der philosophischen Argumentationen gesetzt. Darüber hinaus versuchen Philosophen, Leben ausgehend von philosophischen Begriffen wie Zweck, Vernunft oder Rationalität zu diskutieren und dem biologischen Lebensbegriff so eine spezifisch philosophische Bedeutung zu geben: Leben soll als genuin philosophisches Phänomen begriffen und der Lebensbegriff des philosophischen Diskurses über einen simplen biologistischen Bedeutungskontext hinaus erweitert werden. So drängt Gerhardt, dass in philosophischer Ethik vom Leben gesprochen werden müsse. Den Sozialphilosophen Jürgen Habermas kritisiert er dafür, dass er zwar alles einem gesellschaftstheoretischen Paradigma unterworfen, den Begriff des Lebens jedoch bisher vernachlässigt habe.456 In diesem Sinne versteht Gerhardt unter Biopolitik die „speziellen Fragen der Erhaltung und Entfaltung des Lebens [...], um die sich die Politik zu kümmern hat“.457 Zu den „bizarren Verwerfungen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“ gehören für den Bioethiker, dass sie den Lebensprozess, auf dem sie in allem beruht, den sie zu steuern und zu steigern sucht, nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch verdrängt“.458 Die lange Zeit dominierenden philoso-

455 Rose (2007). 456 Vgl. Gerhardt (2004): 56. 457 Ders. 458 Gerhardt (2004): 56.

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phischen Schulen hätten das Leben aus der Perspektive der Physik und mit der Einstellung des Ingenieurs betrachtet. Nur seine juridische Reglementierung hätte eine ältere Tradition, wobei allein die Techniken der Lebenssteuerung als „rational“, das Leben selbst weitgehend als „irrational“ beiseite geschoben wurde.459 Gerhardt will deshalb das Leben selbst als in sich rational begreifen: „Die Vernunft ist nicht der Gegenpol des Lebens, sondern vielmehr dessen Ausdruck. Sie ist ein Analogon der organischen Einheit des Leibes. Nur solange sie sich selbst in ihrer eigenen Lebendigkeit anerkennt, kann sie das Leben aus ihrem Gesichtspunkt organisieren, kann sie es lenken, beschränken und steigern.“460

Leben ist für Gerhardt folglich etwas Ontologisches und Zugrundeliegendes, ein Fundament für gesellschaftliche und wissenschaftliche Prozesse. Der Bioethiker übernimmt somit nicht nur den positivistischen Gegenstandsbezug der Lebenswissenschaften und ihre Perspektive auf das Phänomen Leben, sondern fordert ausdrücklich seine wissenschaftlich-staatliche Verwaltung. Der Begriff der Biopolitik dient hier der Affirmierung einer nutzenbringenden Organisierung des Lebens und ist ein Beispiel für seine mittlerweile konservative Besetzung.461 Strebte Foucault mit dem Konzept der Bio-Macht und der Biopolitik noch eine kritisch-analytische und distanzierende Perspektive auf die ökonomische und staatliche ‚Inbesitznahme des Lebens‘ an, geht es Gerhardt um das Gegenteil. Dazu versucht er, dem Lebensbegriff eine spezifische biophilosophische Bedeutung zu verleihen. Denn die durch die Lebenswissenschaften „aufgedeckten“ Lebensprozesse entsprechen, so der Bioethiker, der von der Philosophie in ihren Prinzipien beschriebenen Vernunft. Gerhardt steht im philosophischen Diskurs zur Stammzellforschung nicht alleine da. Auch Gegner von Embryonenforschung wie Christine Zunke und Freddy Zülicke berufen sich auf einen Lebensbe-

459 Ders. 460 Ders.: 57. 461 Zur Entpolitisierung der Begriffe Bio-Macht und Biopolitik vgl. Lemke (2004): 257.

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griff, der das ‚biologische Phänomen‘ Leben als Ausdruck eines vernünftigen Prinzips fasst: Der biologische Organismus funktioniere entsprechend des Prinzips der Zweckimmanenz. Denn ein Organismus trage das Ziel seiner Entwicklung, die causa finalis, unabhängig von äußeren Einflüssen in sich oder anders ausgedrückt Zweckimmanenz wird als inneres Prinzip begriffen, das biochemische Prozesse auf einen Zweck hin ordnet. Ihr Ziel ist jedoch ein anderes als Gerhardts. Ihnen geht es nicht darum, den Embryo als menschliches Leben und Person zu begreifen. Zülicke versucht mit Rückgriff auf Aristoteles’ Naturteleologie, den kantischen Ansatz zu erweitern. Denn der menschliche Embryo könne im Sinne Kants nicht als Person bezeichnet werden, weil der interpersonale, der dialogische Aspekt neben dem Selbstbezug essentieller Bestandteil des kantischen Personbegriffs sei.462 Weil aber der Embryo noch keinen Dialog führen könne, sei auch der Kategorische Imperativ nicht anwendbar und der Selbstzweckcharakter des menschlichen Embryos lasse sich nicht beweisen. Deshalb müsste auf menschliche Embryonen eine naturteleologische Erweiterung des KI angewendet werden, die eine Zweckimmanenz nichtvernünftiger Wesen beweist. Diese Zweckimmanenz erschließe sich dem Menschen nur als mittelbare Erfahrung und nicht als pure Faktizität in Gestalt einer selbsterfahrenden Rückkopplung.463 Zülicke geht deshalb davon aus, dass die Zweckimmanenz nichtvernünftiger Wesen mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht nachweisbar sei, aber ebenso wenig sei ihre Nichtexistenz aufzuzeigen: „Naturteleologie soll auch nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Erklärung erheben. Aber sie kann diese leiten und ergänzen (heuristischer Aspekt) und somit einen Beitrag zum Verstehen der Natur (hermeneutischer Aspekt) und des Phänomens Leben leisten. Je mehr sich moderne Biologie allein auf Physik und Chemie stützt, desto mehr entgleitet ihr eigentlicher Gegenstand, das Leben in seiner ontologischen (qualitativen) Besonderheit.“464

462 Dazu o. C.3.1.2. 463 Vgl. Zülicke (1996): 24. 464 Ders.: 25.

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Ebenso begreift Zunke das innere Prinzip der Zweckgerichtetheit als Etwas, das biologisch nicht erklärt werden könne: Es sei eine Art metaphysisches Faktum. Sie drückt das so aus: „Selbst wenn wir annehmen, daß alle biochemischen Gesetze der Erzeugung eines Organismus im Fortgang der Molekularbiologie erkannt werden können, ersetzt dieses Wissen nicht die zum Begreifen des Organismus notwendige Annahme eines hiervon verschiedenen Erzeugungsgrundes: der Kausalität der Zwecke als die Möglichkeit eines solchen Organismus.“465

Dieses Prinzip sei deshalb keine Eigenschaft der Organismen, nichts rein Natürliches, sondern ein apriorisches Vernunftprinzip, das der Biologie erst ihre Gegenstände gebe und ihr logisch immer vorgeordnet sei.466 Die „Organisation eines Organismus sowie die der Organismen untereinander“ kann nur, so Zunke, „als in sich zweckmäßige verstanden werden“:467 „Eine lebende Materie nennt Kant auch eine Contradictio in adiecto, da das dirigierende Prinzip des Lebens stets immateriell sei. Andererseits kann das Leben an nichts anderem sein oder an nichts anderem wahrgenommen werden als an einer Materie. Es ist so als ein immaterielles Prinzip zu denken, das eine Materie belebt, indem sie es organisiert.“468

Aufgrund dieser Zweckimmanenz konstatieren beide Autoren zwischen Embryo und vernünftiger Person eine Identität. Der Mensch werde nicht zum Menschen, sondern sei es von der Befruchtung der Eizelle an in jeder Phase seiner Entwicklung. Alles, was zum personalen Ich-Sein des Menschen gehöre, sei ‚von Anfang an‘ da. Hören wir noch einmal Zülicke dazu: „Die befruchtete Eizelle enthält alles, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, nichts fehlt und müsste etwa nachträglich hinzukommen. Die Ausfaltung und Entwicklung

465 Zunke (2004): 113f. 466 Vgl. dies.: 114. 467 Dies.: 115. 468 Dies.

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des Menschen ist von Anfang an von der Embryonalentwicklung der Tiere verschieden.“469 Das biologische Phänomen Leben verstehen sowohl Gerhardt, als auch Zülicke und Zunke als ein vernünftig-rationales Prinzip.470 Gerhardt und Zülicke konzipieren das Leben selbst als positivistisches ontologisches Ding, das das Prinzip der Zweckimmanenz in sich trägt. Zunke hingegen argumentiert stärker über Kant und behält die kantische Unterscheidung zwischen Intelligiblem, der Vernunft Entsprechendem, und Sinnlich-Biologischem bei. Das rational-vernünftige Prinzip der Zweckgerichtetheit weist sie der Sphäre des Intelligiblen zu, das jedoch das biologische Material organisiert. Damit blenden alle Autoren – trotz ihrer konfligierenden politischen Absichten – die historische und gesellschaftliche Dimension ihrer argumentativen Grundlagen aus. Denn der Organismusbegriff wird erst im 19. Jahrhundert aus der Biologie in die Philosophie übertragen. Zunächst ausdrücklich als ein Modell aus den Naturwissenschaften reflektiert, verliert sich in den Geisteswissenschaften schon bald das Bewusstsein, dass es sich um eine Übertragung handelt. Der Organismus wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend selbstverständlich als philosophischer Begriff verwendet, um die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu erfassen.471 Für Kant, noch explizit von einer Analogie ausgehend,472 ist die Teleologie das Apriori des Lebendigen. Dabei bewege sich nicht nur die Entwicklung von Organismen im Naturreich auf ein festgesetztes Ziel hin, sondern jede Entwicklung strebe gleich der von Organismen während der Embryonalgenese nach einem Telos.473 Weil für Kant das Subjekt, ein in sich zweckrational verfasster Organismus, aber die

469 Zülicke (1996): 95. 470 So auch bei dem Kantianer Baumanns, der nicht vom Embryo sondern vom nasciturus ausgeht: „Die evolutio noumenon kann als vocatio noumenon oder destinatio noumenon gedeutet werden, die organische embryonale Entwicklung als Außenseite des Hineinwachsens eines Subjekts in die Gemeinschaft.“ Baumanns (2004): 23f. 471 Vgl. Türk/Lemke/Bruch (2002): 93. 472 Vgl. Kant (2000): 212. 473 Vgl. Voss (2007): 109.

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grundlegendste Einheit für ein Gemeinschaftswesen ist, ist auch der Staat als Organismus verfasst. In der Kritik der Urteilskraft von 1790 heißt es: „Man kann umgekehrt von einer gewissen Verbindung, die aber auch mehr in der Idee als in der Wirklichkeit angetroffen wird, durch eine Analogie mit den genannten unmittelbaren Naturzwecken Licht geben. So hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volkes zu einem Staat des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein.“474

Die Möglichkeit einer Analogiebildung gilt somit auch zwischen seinem Begriff des Naturzwecks und dem Verhältnis der Bürger zur sittlichen Gemeinschaft.475 Diese Verständnisse von Organismus, Leben und Vernunft finden sich bei Gerhardt, Zülicke und Zunke. Zunke übernimmt das Verständnis des Lebendigen in direkter Anlehnung an Kant. Gerhardt bezieht sich nicht ausdrücklich auf Kant. Seine Konzeption des Lebendigen als Analogon zur Vernunft entspricht jedoch dem kantischen Verständnis. Zülicke geht einen Umweg über Aristoteles, weil er sich zuvorderst auf Kants Begriff der Person bezieht und diese entspricht laut Kant dem geborenen Menschen. Alle Autoren begreifen jedoch die organische Einheit oder den biologischen Organismus nicht als eine Analogie, sondern als eine Entsprechung der Vernunft. Dass die eigenen Begriffe nichts weiter als institutionalisierte Metaphern sind, das heißt die Metaphorizität der eigenen Begrifflichkeiten, blenden sie aus. Damit werden vor allem die inhärenten Körper- und Geschlechtercodierungen unsichtbar gemacht, die seit langer Zeit Bestandteil von philosophischen Lebensbegriffen sind. Problematische Einschreibun-

474 Kant (1968): 487. 475 Vgl. Türk/Lemke/Bruch (2002): 99.

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gen von Geschlecht werden besonders bei Zülicke deutlich. Für ihn beginnt menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, weil der so entstehende Embryo ab diesem Zeitpunkt über das Potential eines ganzen Menschen verfüge. Erst mit ihrem Zusammentreffen würde die Bedingung für das Leben als zweckgerichteter Prozess entstehen. Aristoteles sieht in seiner Naturteleologie die Erreichung eines Telos, das heißt eines Ziels oder Zwecks, an bestimmte Bedingungen geknüpft. Ungünstige Bedingungen können hingegen zur Verfehlung eines Zieles führen.476 Für Aristoteles ist die Frau als das materielle Prinzip im Zeugungsvorgang die ungünstige Bedingung schlechthin, wohingegen der männliche Samen für den griechischen Philosophen das lebensfördernde Prinzip repräsentiert. Denn der männliche Samen beinhaltet das Formpotential, das heißt das göttliche Element, was den Menschen erst zum Menschen macht. Der Mann gibt folglich im Samen die Form des Fötus an das Weibchen weiter. Das Menstruationsblut, der weibliche Beitrag zur Fortpflanzung, hingegen liefert den zwar notwendigen jedoch weniger wertvollen Rohstoff für das Wachstum des Embryos. Der männliche Samen ist das Werkzeug, „das den Stoff im Schoße der Frau in Bewegung versetzt und ihm Form und Kraft verleiht, aber nicht Teil des Stoffes des Fötus wird.“477 Dem männlichen Beitrag wird somit im Zeugungsvorgang eine bedeutsamere Rolle zugesprochen als der ‚weiblichen Aktivität‘. Diese „metaphorische Doppelbenennung der verschiedenen Naturen der Natur – der (männlichen) Form und des (weiblichen) Stoffes – verleiht mit anderen Worten der aristotelischen Naturphilosophie die erforderliche stabilisierende Differenzierung.“478 Das Weibliche repräsentiert folglich in seinem Werk „den Mangel selbst“,479 weshalb auch die Frau als minderwertiger Mann und nicht als völlig menschlich gilt. In Zülickes Argumentation drücken sich die Geschlechtervorstellungen so aus:

476 Vgl. Zülicke (1996): 82. 477 Tuana (1995): 209. 478 Deuber-Mankowski (2005): 205. 479 Tuana (1995): 210.

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„Allerdings ist die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle nicht einfach nur eine Bedingung unter vielen, sondern sie ist die wichtigste Voraussetzung dafür, daß überhaupt erst ein teleologisch strukturierter (also zweckimmanenter) Prozeß zustande kommt. Vor der Befruchtung ist nichts da, was von selbst in einem teleologisch gerichteten Prozeß zu einem Prozessziel gelangt. Aristoteles verweist zwar darauf, daß das Spermium den aktiven Part spielt, formendes Prinzip ist, währenddessen von der Frau das passive Material kommt. Aber immerhin braucht das Spermium diesen passiven Part, um einen gerichteten Prozeß in Gang zu setzen. Auf sich allein gestellt nützt ihm seine ganze Potenz nichts. Und auf pathenogenetische Prozesse (sog. Jungfernzeugung, die es im Tierreich gibt) beim Menschen zu reflektieren, dürfte wenig fruchtbringend sein. Auch wenn dort die Eizelle allein den aktiven Part spielen könnte, da Zygoten [Verschmelzungsprodukt von Ei- und Samenzelle] mit der geschlechtschromosomalen Konstitution YY, welche entstehen würde, wenn das genetische Material eines Spermium verdoppelt wird, nicht überlebensfähig sind. Und dann gäbe es im Ergebnis der Parthenogenese nur Frauen. Doch darauf sollte beim Menschen nicht zu hoffen sein.“480

Zülicke versucht zwar den ‚weiblichen‘ Beitrag aufzuwerten, dennoch verbleibt er in einem heterosexistischen Verständnis von Geschlecht als binäre Differenz. Denn er geht davon aus, dass Ei und Samenzelle den beiden Geschlechtern entsprechen und dass der weibliche Beitrag der notwendige, jedoch passive Part ist. Die Frau stellt mit der Eizelle sozusagen den Rohstoff oder anders ausgedrückt die Materie zur Verfügung. Doch bereits die Festschreibung der Frau auf die Sphäre der Materie ist problematisch. In Körper von Gewicht weist Judith Butler darauf hin, dass der Begriff Materie „vollständig erfüllt ist mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht und Sexualität, die die Gebrauchsanweisungen, für die der Begriff verwendbar ist, präfigurieren und beschränken.“481 Dadurch wird die Annahme zweier verschiedener biologischer Geschlechtskörper zementiert. Darüber hinaus werden daraus hierarchische Geschlechterordnungen abgeleitet. Denn die Annahme des organischen Lebens als in sich zweckgerichteter rationaler Prozess bildete die Grundlage für eine Politik, in der Frauen

480 Zülicke (1996): 82. 481 Butler (1991): 55.

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auf die private Sphäre der Reproduktion verwiesen wurden.482 So wie das weibliche Ei die materielle Voraussetzung für die Lebensreproduktion bereithält, so sollte auch die Frau im Privaten die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens gewährleisten. Vor dem Hintergrund dieses Erbes wird deutlich, dass der Rückgriff, philosophischer Bioethik auf Begriffe wie Organismus mehr als problematisch ist. Geht es doch momentan um die grundlegende Restrukturierung von Geschlechterverhältnissen sowie um die gesellschaftlichen Fragen von Lebensanfängen, der Forschung an Stammzellen und der Verwertung von Körpersubstanzen. C.3.3 Zusammenfassung Gegenstand der Philosophie ist der Allgemeine Menschen, die conditio humana an sich oder „das Menschliche in universaler Perspektive“.483 Das gilt auch für die Wissensproduktionen philosophischer Bioethik. Als ein Wissen, das mit Institutionen politischer und ökonomischer Macht aufs engste verwoben ist, spiegelt philosophische Bioethik dabei in besonderem Maße gesellschaftliche Verhältnisse wider: Die allgemeine Verfasstheit des Menschen wird in der Bioethik in neoliberale Besetzungen des Personbegriffs gewendet, die wiederum geschlechtliche und hierarchische Codierungen beinhalten. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: •

Mittels utilitaristischer Interpretationen des Personbegriffs können ganze Menschengruppen aus der sittlichen Gemeinschaft als ‚lebensunwertes Leben‘ ausgeschlossen werden. Körper und Körpersubstanzen wie Eizellen können dann von Nicht-Personen wie Frauen mit geistiger Behinderung oder im Wachkoma dem Ver-

482 „Das Prinzip der Intelligibilität schon in der Entwicklung eines Körpers anzulegen, ist genau die Strategie einer natürlichen Teleologie, die die weibliche Entwicklung durch das Rationale der Biologie erklärt. Auf dieser Basis ist dafür plädiert worden, Frauen sollten ausschließlich bestimmte soziale Funktionen ausführen, sie sollten vollständig auf den reproduktiven Bereich beschränkt lieben.“ Dies.: 60. 483 Klinger (2005): 330.

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wertungsprozess zugeführt werden. In diese Strategien reihen sich auch neokonservative vermeintlich anti-biologistische Argumentationen ein. Sie lehnen den biologischen Befruchtungsvorgang als Zeitpunkt des Lebensbeginns ab, beziehen sich jedoch selbst zugleich auf andere biologische Metaphern wie den technizistischen Organismus (C.3.2). Im Diskurs der ‚Lebensschützer‘ zu Stammzellforschung wird der Embryo hingegen als Subjekt der Würde etabliert und soll auf diese Weise vor der bioindustriellen Verwertung geschützt werden. Dazu wird das Pendant zum technizistischen Organismus – der klassische Organismus – in einen spezifisch philosophischen Lebensbegriffs gewendet: Nicht die heilige Essenz des Menschen, sondern ein teleologisch wirkendes Prinzip bildet den Kern des embryonalen Menschen: Der Embryonenkörper ist in sich zweckrational organisiertes Leben. Als Analogon zur Vernunft wird der Embryo so als zukünftiger Staatsbürger verstanden (C.3.1.2). Aufgrund des heteronormativen Erbes des Personbegriffs und neoliberaler Restrukturierungen des biomedizinischen Raumes verbleiben jedoch andere geschlechtliche Körpersubjektivitäten innerhalb der Verwertungslogik – oder werden ihr im wahrsten Sinne des Wortes Preis gegeben. Die ausschließliche philosophische Fokussierung auf den Embryo greift zu kurz. Denn der Frauenleib wird nach uralter Manier als materieller vernunftferner Rohstoff konzipiert, der das Material für die Fortpflanzung liefert und die Frau auf die Sphäre der Reproduktion verwiesen (C.3.1.3). Der Personbegriff funktioniert auch als Produktion von ‚Personen bioethischer Entscheidungen‘. Anders als im rechtsphilosophischen Diskurs werden diese Entscheidungen jedoch nicht im Hinblick auf rechtliche Regelungen diskutiert, sondern auf eine innere (bio-)ethische Haltung rückgebunden. Denn Ethik als Bioethik zielt auf die Normierung des ‚ethischen Innenraumes‘. Durch den emphatischen Bezug auf Begriffe wie Verantwortung und Freiheit stützen besonders liberalistische Bioethiker die Ausblendung größerer gesellschaftlicher Zwänge und Machtverhältnisse. Damit spielen sie einerseits einer individualisierten Eugenik in die Hände, in der Frauen sich frei für die Abtreibung potentiell behinderter Kinder entscheiden können sollen. Andererseits wird eine Person

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als vernünftig und verantwortlich handelnd dargestellt, wenn sie im medizinisch-therapeutischen Raum nach ‚Aufklärung‘ im Hinblick auf „Lebenszeitversprechen“ oder mögliche Fortschritte der Forschung ihre Körpersubstanzen zur Verfügung stellt.484 Bezogen auf Stammzellforschung wird eine Körpersubjektivität hergestellt, die Frauen dazu anhält, ihre Körpersubstanzen zu ‚spenden‘. Sie werden als freiwillig Gebende und verantwortungsvoll Handelnde ihres ökonomisch wertvollen Körperrohstoffes Nabelschnurblut, Eizellen und Föten angerufen und Interessen von Forschung und Wirtschaft zugleich ausgeblendet. Eine Person ist im philosophischen Diskurs somit ein Mensch, der sich neoliberalen Kosten-Nutzen-Kalkülen und produktiven Logiken entsprechend vergesellschaftet (C.3.1.3)

484 Feyerabend weist darauf hin, dass die „Erschließung des Körperinneren für profitträchtige Strategien“ durch ein „Mehr an Lebenszeit“ plausibilisiert wird. Feyerabend (2002): 27.

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C.4 R ECHTSPHILOSOPHISCHE D ISKURSE – P RIVATRECHTLICHE K ÖRPEREIGENTÜMER , BLOSSES BIOLOGISCHES L EBEN UND EMBRYONALE G RUNDRECHTSSUBJEKTIVITÄT Dem Erlass oder der Änderung von Gesetzen zu den neuen Bio- und Reproduktionstechnologien wie dem Embryonenschutz- oder dem Stammzellgesetz wird in den Medien viel Beachtung geschenkt und große gesellschaftliche Bedeutung beigemessen.485 In wissenschaftskritischer Literatur wie ethnologischen, kulturwissenschaftlichen und feministischen Ansätzen wird hingegen die Wirkmächtigkeit von Recht relativiert. Stattdessen wird die Bedeutung von Alltagspraxen für die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse durch Biotechnologien unterstrichen.486 Für die Analyse des bioethischen Dispositivs sind beide Perspektiven für sich allein wenig hilfreich. Denn Biorecht sowie rechtsphilosophische Diskurse sind im Kontext Neuer Biotechnologien weder allmächtig noch bedeutungslos, sondern durch ein spezifisches Zusammenspiel gekennzeichnet. Die These des nachfolgenden Kapitels ist deshalb, dass der rechtsphilosophische Diskurs im bioethischen Dispositiv die Funktion übernimmt, lebenswissenschaftliche, philosophische und theologische Argumentationen und Figuren in rechtswissenschaftliche Begriffe zu übersetzen. Er baut somit einerseits auf nicht-juridischen Begrifflichkeiten auf, setzt sie jedoch auch in ein Verhältnis zu juristischen Regelungen: Rechtsphilosophen nehmen in ihren Beiträgen regelmäßig Bezug auf Gesetze zu den neuen Biotechnologien und plädieren je nach politischem Standpunkt für Änderungen oder für die Beibehaltung von Regelungen. Die rechtsphilosophisch bearbeiteten Begriffe fungieren wiederum als ‚Basis‘ für juris-

485 Zu den Debatten vgl. Spieß/Dabrowski (2007). 486 Beispiele einer starken ‚mikropolitischen‘ Fokussierung von gesellschaftlichen Praktiken sind der Beitrag des europäischen Ethnologen Stefan Beck Enacting Genes. Anmerkungen zu Familienplanung und genetischen Screenings in Zypern oder der Band Geschichte des Ungeborenen der Körperhistorikerin Barbara Duden. Vgl. Beck (2006); Duden et al. (2002).

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tisches Regelwerk zu den neuen Biotechnologien.487 Biorecht stellt deshalb die Materialisierung und Festschreibung der eingeschränkt interdisziplinären bioethischen Diskurse dar und ist deswegen nicht als Ausdruck ursächlicher staatlicher Macht anzusehen, sondern eher als Verstärker bioethischer Diskurse. Denn der Schaffung eines Gesetzes wie dem Stammzellgesetz ist ein langer Prozess von bioethischen und medialen Auseinandersetzungen, aber auch von Alltagspraxen in biowissenschaftlichen Settings vorausgegangen. Die Schaffung juristischer Regelwerke zu den neuen Biotechnologien fügt sich zudem in einen größeren gesellschaftlichen Transformationsprozess ein. Sie weist bestimmte Ähnlichkeiten zu anderen jüngeren Gesetzgebungen wie beispielsweise dem Hartz-4-Komplex oder dem neuen Unterhaltsrecht auf. Denn gemeinsam ist solchen Verrechtlichungen gesellschaftlicher Vorgänge, dass sie Ausdruck einer neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft sind: Sie nehmen den Einzelnen mittels des Imperativs der Eigenverantwortung stärker ins Visier und erhöhen so den Druck, sich entsprechend Kosten-NutzenKalkülen zu vergesellschaften. Im Kontext lohnabhängiger Arbeit steht hinter Programmbezeichnungen wie „Fördern und Fordern“ der staatlich-rechtliche Zwang, die eigenen ‚Ressourcen‘ so einzusetzen, dass sie der optimalen Verwertbarkeit entsprechen. Die geschiedene Frau wird nunmehr gesetzlich angehalten, nach jahrelanger Kinderbetreuung, dem Arbeitsmarkt meist in Form von unqualifizierten Jobs zur Verfügung zu stehen. Auch Biorecht stellt günstige Rahmenbedingungen für die produktive Selbstregulierung bereit und steht deshalb in engem Zusammenhang mit bioethischen Diskursen. Denn sie zielen auf die ökonomisch günstige ‚innere‘ ethische Disziplinierung von Menschen. Zwar soll Recht nach Kant die Sphäre der ‚äußeren Freiheit‘ der Menschen verbindlich regeln. Dazu bedarf es jedoch (bio-)ethischer Subjekte, die ihre ‚innere Freiheit‘ durch Maximenüberprüfung realisieren. Doch stand bei Kant noch die radikale kritische Selbstreflexion im Vordergrund, fällt dieses ‚unbedingte‘ Moment im bioethischen Dispositiv weg: Die Wendung auf ‚sich selbst‘,

487 Wolfram Höfling spricht zum Beispiel von einem „subkutanen Einfluss“, den „bioethische Argumentationsmuster über die Rechtswissenschaft auch auf die Politiker gewinnen.” Höfling (2001): 240.

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die die Möglichkeit zur Rebellion gegen jegliche institutionelle Fremdbestimmung beinhaltete, wird zu einer neoliberal geleiteten Selbstbetrachtung. Eizellen*, Organe, Lebenszeiten und anderes sollen zu ganz bestimmten Zwecken eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund sollen deshalb im Folgenden rechtsphilosophische Diskurse daraufhin befragt werden, wie sie bioethische Grundbegriffe bearbeiten, so dass sie für biorechtliche Regelungen anschlussfähig werden. Es geht somit um das spezifische Zusammenspiel des rechtsphilosophischen Diskurses mit den übrigen disziplinären Diskursen aus rechtsphilosophischer Perspektive. Dazu stelle ich zunächst die Argumentationslinien von Gegnern und Befürwortern von Stammzellforschung dar (C.4.1 und C.4.2), um sie in einem zweiten Schritt kritisch auf ihre Gemeinsamkeiten zu befragen (C.4.3). Danach sollen Metaphern von Eltern- und Mutterschaft im rechtsphilosophischen Stammzellendiskurs analysiert werden (C.4.4). Unter Punkt C.4.5 werden dann die rechtsphilosophischen Thematisierungen von Abtreibung besprochen. Abtreibung spielt im Stammzelldiskurs zum einen für die Begründungen oder Infragestellungen des grundrechtssubjektiven Status des Embryos eine Rolle, weil sich sowohl Gegner als auch Befürworter auf die Abtreibungsentscheidungen von 1975488 und 1993489 des Bundesverfassungsgerichtes beziehen. Zum anderen gehen aus Abtreibungen Föten hervor, aus denen wiederum gewebespezifische Stammzellen erschlossen werden können.490 Als letztes diskutiere ich die rechtsphilosophische Verhandlung einer weiteren Praxis der Stammzellerschließung: Die Stammzellgewinnung aus Nabelschnurblut (C.4.6). C.4.1 Die Zygote als Grundrechtssubjekt: Rechtsphilosophische Argumentationen gegen Stammzellforschung Die bioethische Debatte zum Thema Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen unter Rechtswissenschaftlern umfasst eine

488 BVerfG 25.02.1975, BVerfGE 39, 1. 489 BVerfG 28.05.1993, BVerfGE 88, 203. 490 Vgl. Schneider (1995): 172ff.

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Vielzahl von heterogenen und teils konträren Positionen. Wie die anderen disziplinären Felder des bioethischen Dispositivs lässt sich der rechtswissenschaftliche Diskurs jedoch grob in Befürworter und Gegner der Embryonenforschung* unterteilen. Erstere setzen sich für Stammzellforschung ein und argumentieren, dass dem Embryo keine Grundrechtssubjektivität zukomme und er deshalb als Forschungsobjekt vernutzt werden dürfe.491 Gegner sind der Ansicht, dass Embryonen menschliches Leben und deshalb Subjekte der Würde seien.492 Dazwischen gibt es eine Reihe von gradualistischen Positionen, die Embryonen und/oder „therapeutischen Klonen“ einen abgestuften Grundrechtschutz zuschreiben.493 Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Positionen ist jedoch, dass das gesellschaftspolitisch und juristisch zentrale Problem der verfassungsrechtliche Status des Embryos ist. So versuchen Gegner von Stammzellforschung, die Vernutzung des Embryos als Forschungsrohstoff zu verhindern: Der Embryo falle unter den rechtlichen Begriff der Person und sei als solcher bereits ein Grundrechtssubjekt. Denn wird die Leibesfrucht als Person qualifiziert, gilt sie als menschliches Leben und genießt wiederum gemäß Art. 1 Abs. 1 GG Lebensschutz und Würde. Gegner versuchen folglich, die rechtsphilosophischen Begriffe Leben, Würde, Grundrechtssubjekt und Person so eng miteinander zu verbinden, dass sie als eine untrennbare identitäre Einheit gelten. Der Personbegriff des Grundgesetzes ist durch religiös-theologische, philosophische, (römisch-)rechtliche und rechtsphilosophische Kontexte gewandert und weist deshalb verschiedene Bedeutungsschichten auf. Seine jüdisch-christliche und metaphysische Konnotation hat er jedoch behalten.494 Wenige Rechtsphilosophen setzen ‚die

491 Vgl. Merkel (2001), (2002) & (2002a); Schöne-Seifert (2002); Klopfer (2006). 492 Vgl. Böckenförde (2001); Höfling (2001); Rixen (2005). 493 Vgl. Paul (2004); Honnefelder (2002). 494 Die unterschiedlichen Bedeutungskontexte machen den Personbegriff zum einen zu einem Scharnierbegriff im bioethischen Dispositiv, weil die unterschiedlichen Disziplinen an ihm ansetzen können. Zum anderen

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Heiligkeit des Lebens‘ im rechtswissenschaftlichen Diskurs jedoch ausdrücklich als positiven Ausgangspunkt.495 Stattdessen versuchen sie die theologisch-religiöse Bedeutung des Personbegriffs ‚säkular‘, das heißt lebenswissenschaftlich, zu wenden und über biologischanthropologische Annahmen allgemeine Geltungskraft herzustellen. Dazu beziehen sie sich auf einen Lebensbegriff, der von einer vermeintlich natürlichen Gegebenheit des Lebens ausgeht: Die metaphysische Komponente des Personbegriffs wird gegen eine biologische ausgetauscht.496 Damit folgen viele Rechtsphilosophen den Definitionen des Embryonenschutzgesetzes (EschG)497 und des Stammzellgesetzes (StZG)498. Der Gesetzgeber geht in den Regelungen von einer biologisch-medizinischen Bestimmung des Lebensbeginns aus und legt ihn auf den Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, auf die Entstehung der Zygote, fest: Dieser Vorgang sei ein wissenschaftliches Faktum, nicht weiter hinterfragbar und stelle deshalb die natürliche Basis für den Würdebegriff dar.499 Die Verankerung des rechtlichen Lebensbegriffs in der Idee einer natürlichen und vorgesellschaftlichen Basis spiegelt sich beispielsweise in der Bezeichnung des menschlichen Lebens als „Träger von Würde“ wider500 oder wenn der Rechtswissenschaftler Josef Isensee, an der Universität Bonn lehrend, feststellt „Leben ist ein Phänomen der Natur.“501 Auch Wolfram Höfling, Professor für Staatsrecht an der

begründet dieses Schillern meines Erachtens den vehementen Streit um ihn. Zur Geschichte des Personbegriffs u. C.2.1.2 & C.3.1. 495 Dazu o. C.2.1.2. Picker ist einer der wenigen Rechtsphilosophen, der die Heiligkeit des Lebens im rechtswissenschaftlichen Diskurs als Ausgangspunkt wählt. Picker (2002): 131. 496 Vgl. Isensee (2002): 55. 497 Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13.12.1990, BGBl. I 2746. 498 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz) vom 28.6.2002, BGBl. I 2277. 499 Dazu o. C.1.1.1. Zu den beiden Gesetzen o. B.3.5 & B.3.9. 500 Picker (2002): 210. 501 Isensee (2002): 55.

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Universität zu Köln, versucht, der Menschenwürde mittels eines biologischen Lebensbegriffs ein nicht weiter hinterfragbares Fundament zu geben. Die Gleichsetzung von Menschenleben und Menschenwürde sei eine „elementare Grundeinsicht des Verfassungsrechts“ und ein „ebenso biologische[s] wie teleologische[s] Junktim von menschlichem Leben und menschlicher Würde“. Das Grundrecht auf Leben garantiere „die ‚vitale Basis‘ aller Menschen und Grundrechte“.502 Der Staatsrechtler fordert deshalb ein Definitionsgebot des Menschen und des Lebensbegriffs „im Begründungs- und Entscheidungszusammenhang“ der Rechtswissenschaft. Die Basis für eine Definition vom lebenden Menschen oder menschlichem Leben sieht Höfling wiederum in biologisch-medizinischen Erkenntnissen, die für ihn eine quasi vorgesellschaftliche Tatsache darstellen und den Beginn menschlichen Lebens mit der Fertilisation zusammenfallen lässt. Die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle sei der Moment, in dem ein Embryo entstehe. Die Verankerung des Schutzes des Lebensgrundrechts und der Würde des Menschen müsse deshalb mit dem Zeitpunkt der Befruchtung beginnen. Denn das entspreche den neueren molekular- und zellbiologischen Erkenntnissen. Hören wir Höfling dazu: „Die Bezugnahme auf die Fertilisation entspricht durchaus auch den neueren molekular- und zellbiologischen Erkenntnissen, nach denen von der Entstehung der Zygote an der Embryo eine funktionelle, sich selbst organisierende und differenzierende Einheit, ein dynamisches und autonomes System im biologischen Sinne ist. […] Dabei hat es [das Bundesverfassungsgericht] hervorgehoben, die Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie legten es nahe, dass menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstehe.“503

Gegner von Stammzellforschung stellen folglich einen Bezug zum klassischen Organismusbegriff der Lebenswissenschaften her, der menschliches Leben als in sich geschlossene selbstorganisierte Einheit begreift.504 Dem Grundgesetz folgend umfasst dieser Begriff von

502 Höfling (2003): 165 &167. 503 Ders.: 172. 504 Zu den verschiedenen Organismusbegriffen o. C.1.

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Rechtssubjektivität auch den Körper505 und dieses körperliche Leben mit Würde ist der Embryo.506 Höfling sagt beispielsweise: „Schutzgut der Norm ist nicht weniger und nicht mehr als das körperliche Dasein eines Mitglieds der menschlichen Gattung. Auf den Grad der Lebensfähigkeit kommt es ebenso wenig an wie auf kognitiv-psychische oder moralische Fähigkeiten. Bewußtseinsdifferenzen begründen keine Statusdifferenzen. Schutzgut ist allein das ‚Lebendigsein‘ eines menschlichen Organismus.“ 507

Auch die Aussage Dietmar von der Pfordtens stellt den Embryokörper in den Vordergrund rechtsphilosophischen Nachdenkens: „Alle gentechnischen Verfahren, wie Keimbahntherapie, Klonierung, Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik, greifen in Leib und Leben des Embryos ein.“508 Zusammenfassen lassen sich die Positionen der Gegner von Stammzellforschung so: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht ein biologisches, funktionelles und selbstorganisiertes System. Aufgrund dieser Eigenschaften handelt es sich um menschliches Leben. Damit fällt die Zygote unter den Personbegriff des Grundgesetzes und erhält den Status eines zu schützenden Rechtssubjektes. Dieses ‚biologisch-natürliche Faktum‘ des Lebens definiert den Menschen per se, weshalb auch Recht, Rechtssprechung und Rechtsphilosophie eine solche Definition des Menschen übernehmen müssen. Gegner von Stammzellforschung versuchen folglich eine Analogie zwischen dem klassischen lebenswissenschaftlichen Organismusbegriff und dem rechtsphilosophischem Personbegriff nachzuweisen.

505 Enders bestimmt als Komponenten der Menschenwürde „Leiblichkeit in den Rechten auf Leben“ und „körperliche Unversehrtheit.” Enders (1997): 8. 506 Vgl. Rixen (2005): 64. 507 Höfling (2003): 170. 508 Pfordten (2003): 179.

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C.4.2 Leben ohne Rechtsstatus: Der Embryo als bloßes biologisches Leben Auch die Befürworter von Stammzellforschung setzen in ihren Argumentationen am Lebensbegriff an. Ihre Position ist der von Befürwortern eines Grundrechtsstatus des Embryos jedoch diametral entgegengesetzt: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstehe kein menschliches, sondern nur biologisches Leben. Als solches verdiene es jedoch keinen Grundrechtsschutz. Stellvertretend sollen die rechtsphilosophischen Positionen Reinhard Merkels, Annekatrin Pauls und Karsten Klopfers diskutiert werden. Reinhard Merkel besetzt im rechtsphilosophischen Diskurs und im bioethischen Dispositiv eine zentrale Position. Seine ‚juristische Expertise‘ ist beispielsweise gefragt, wenn es um die Schaffung biorechtlicher Regelungen wie das StZG geht. So verfasste Merkel Ende 2001 ein Gutachten für Abgeordnete aus FDP und CDU, die sich für einen ‚forschungsfreundlichen‘ Entwurf zur Reform des geltenden EschGs aussprachen. Sie legten am 31. Januar 2002 im Bundestag einen Antrag vor, der auf Merkels juristischen Einschätzungen basierte. Der Antrag sprach sich für den nahezu vorbehaltlosen Import von embryonalen Stammzellen aus (Ja-Aber-Antrag).509 Innerhalb des rechtsphilosophischen und rechtswissenschaftlichen Feldes kommt dem Text wiederum eine Vorreiterrolle zu. Denn viele nachfolgende Arbeiten zur Stammzellenproblematik nehmen Bezug auf ihn.510 Nicht zuletzt publizierte Merkel Beiträge von Peter Singer und setzte sich für ihre Diskussion in Deutschland ein.511 Wie argumentiert Merkel inhaltlich? Sein Angriff gilt dem ESchG und dem StZG. Denn beide Gesetze schreiben die skizzierte Perspektive auf den Embryo fort, die ihn als Grundrechtsträger, zukünftigen Staatsbürger und staatlich zu schützendes Leben definieren.512 Im Mittelpunkt des Embryonenschutzgesetzes steht, wie der Titel besagt, der

509 Dazu auch o. B.3.9. Vgl. Merkel (2002a): 9. 510 Vgl. Klopfer (2006): 33; Zunke (2004); Körtner (2005): 109. 511 Vgl. Hegselmann/Merkel (1991). 512 Auf Merkel bezieht sich der evangelische Theologe Körtner. Vgl. Körtner (2005): 109.

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Embryo als Rechtssubjekt. Das Stammzellgesetz bekräftigt ebenfalls die Grundrechtssubjektivität des Embryos. In § 1 wird der Zweck der Regelung als „die staatliche Verpflichtung […] die Menschenwürde und das Recht auf Leben [des Embryos] zu achten und zu schützen“ beschrieben.513 Rechtsphilosophisch kann Merkel das Lebensschutzgebot des Grundgesetzes (GG) an sich nicht in Frage stellen. Denn das Recht auf Leben ist einer der elementaren Verfassungsgrundsätze und gilt als solcher als nicht antastbar. „Wo das Grundgesetz eindeutige Vorgaben bereithält, ist der gesetzgeberische Spielraum erschöpft“, stellt beispielsweise die Juristin Juliane Huwe fest.514 Deshalb versucht Merkel per Definition den Kreis der Subjekte einzuschränken, für die das GG gelten soll: Der bloße Text des GGs reiche nicht aus, um den Lebensschutz explizit für den Embryo zu begründen. Das GG, so Merkel, lasse die Bezeichnungen ‚Mensch‘ und ‚jeder‘ leer. Es schweige „zu der Frage eines subjektiv-grundrechtlichen Status des menschlichen Embryos“.515 Der Rechtsphilosoph belässt es jedoch nicht bei der Feststellung, dass Grundrechtssubjektivität ein letztendlich unbestimmter Begriff ist, sondern stellt eine nicht zwingende Verbindung zu den beiden Fristenlösungsurteilen des Bundesverfassungsgerichtes aus den Jahren 1975 und 1993 her.516 So gelingt es ihm, den Begriff der Grundrechtssubjektivität mit Vorstellungen von ‚Menschsein‘ zu verknüpfen, die forschungspolitischen Interessen dienen. In den Abtreibungsentscheidungen, so der Rechtsphilosoph, würde das Bundesverfassungsgericht eindeutige Aussagen zur Grundrechtssubjektivität von Embryonen machen und habe „zum grundrechtlichen Status des Em-

513 Zum EschG und StZG als Biorecht, das Biotechnologien nicht beschränkt oder unterdrückt, sondern produktiv und heteronormativ reguliert o. B.2.2.1 & B.3.5 & B.3.9. 514 Huwe (2006): 7. Das GG steht über dem ESchG und dem StZG, die Teil des einfachen Rechts sind. Von Juristen wird diese Beziehung mit dem Begriff der Höherrangigkeit gefasst. 515 Merkel (2002a): 34. 516 Kritisch zu diesen Kopplungen vgl. Lettow (2003a): 124f. Zum Urteil von 1993 vgl. Duden (1996).

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bryos nachdrücklich Stellung bezogen“:517 Die Auslegungen des GGs würden den Grundrechtsstatus des Embryos jedoch nicht konsistent zeigen. Denn wenn das BVerfG „Handlungen, die den Embryo in utero vor dem Abschluss seiner Nidation abtöten, nicht als Schwangerschaftsabbruch“ gemäß § 218 Abs. 1 StGB bewertet 518, müssten alle Embryonen im pränidativen Alter, also bis zum Abschluss des 13. Tages nach der in-vivo oder in-vitro erfolgten Befruchtung, vom Grundrechtsschutz des Lebens und der Menschenwürde ausgenommen werden, folgert der Rechtsphilosoph. Der Embryo habe deshalb keinen subjektiv-grundrechtlichen Status, sondern wie die Judikatur des BVerfG zeigte, nur einen objektiv-grundrechtlichen. Mit einem objektiv-grundrechtlichen Status fällt der Embryo jedoch nicht unter den grundgesetzlichen Personbegriff und hat somit auch kein unbedingtes Recht auf Leben. Die Vernutzung des Embryos als biomedizinischer Forschungsrohstoff wäre so verfassungsrechtlich freigegeben. Der Verfassungsrechtler Karsten Klopfer übernimmt in seiner Dissertation die Argumentation von Merkel.519 Auch er will das Lebensschutzgebot für „frühe“ Embryonen als verfassungswidrig entlarven. In seinen Untersuchungen beschränkt er sich auf das StZG, das seines Erachtens die ebenfalls verfassungsrechtlich gebotene Forschungsfreiheit einschränke, ohne dass der Embryo ein ‚wirkliches‘ „Verfassungsschutzgut“ sei.520 In der begrifflichen Differenzierung des staatlich zu verwaltenden Lebens unterscheidet er sich jedoch nicht von Merkel und bezieht sich vielfach auf ihn. Klopfer stellt „pränidatives“ und „nachnidatives Leben“ einander gegenüber. Sogenannte pränidative Embryonen sollen als biologisches Leben rechtlich für Forschungszwecke freigegeben werden. Bei nachnidativen Embryonen solle hingegen das staatliche Lebensschutzgebot greifen. Er begründet den fehlenden Rechtssubjektstatus von Embryonen ebenfalls damit, dass aus „dem Wortlaut des Grundgesetzes […] die Frage des Vorliegens oder Nichtvorliegens eines subjektiv grundrechtlichen Status des Embryos vor Nidation, des Embryos überhaupt, nicht direkt beantwor-

517 Merkel (2002a): 34. 518 Ders.: 42. 519 Vgl. Klopfer (2006). 520 Ders.: 79f.

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tet werden“ kann.521 Auch die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu § 218 StGB bestätige diesen Sachverhalt. Denn „[…] hätte die Gesellschaft ein Interesse am Überleben des Embryos vor Nidation“, argumentiert Klopfer, „so wäre die völlige Schutzlosstellung von Embryonen vor Nidation in § 218 Abs. 1 StGB nicht verfassungsrechtlich unbedenklich.“ Die Verhütungspraxis von Frauen sei deshalb eine „rechtlich freigestellte[n] Abtötung pränidativer Embryonen im Mutterleib“.522 Von „staatlicher Seite“, schlussfolgert Klopfer, solle „die Grundrechtssubjektivität des Embryos bis zum Zeitpunkt der Geburt tatsächlich abgelehnt werden, um die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten echter Grundrechtssubjekte nicht von weltanschaulichen Fragen abhängig zu machen.“523 Annekatrin Paul greift Merkels juristische Argumentation ebenfalls auf. Nicht „jeder Forschungseinsatz“ des Embryos stelle eine Verfassungsverletzung dar. Art 1 Abs.1 S. 1 GG lasse einen Handlungsspielraum für den Gesetzgeber. Forschung an sogenannten überzähligen Embryonen, die für eine In-vitro-Fertilisation (IVF)* erzeugt wurden und an therapeutischen Klonen sei zulässig. Wie Merkel und Klopfer klassifiziert sie ‚überzählige‘ Embryonen als „menschliches Leben im biologischen Sinn“, das nicht unter die Kategorie der Grundrechtssubjektivität fällt. Denn wer Subjekt im Sinne des Grundrechts sei, lasse sich nicht aus dem Wortlaut des Grundgesetzes folgern.524 Ein mit dieser Grundrechtssubjektivität verknüpftes Recht auf Leben komme aber nur „einem Menschen im Sinne von Art. 1 I 1 GG“525 zu. Paul fragt deshalb: „Genügt das Vorliegen eines biologischen Potenzials zu Beginn der Entwicklung oder müssen weitere Bedingungen hinzukommen, um im frühen menschlichen Leben einen Menschen im Sinne von Art. 1 I 1 GG zu sehen? Letzteres liegt nahe, denn allein die biologischen Grundvoraussetzungen, die genetische Determination machen noch keinen Menschen, keine individuelle

521 Ders.: 60. 522 Ders.: 63. 523 Ders.: 103. 524 Paul (2004): 58. 525 Dies.: 49.

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Person aus. Der Mensch ist mehr als bloßes biologisches Leben. Er ist biologisch-soziales Produkt, wobei gerade auch der letzten Komponente große Bedeutung zugemessen werden muss.“526

Weil aber ein Embryo kein Mensch im Sinne Art 1 Abs. 1 S. 1 GG ist, könne die Forschung an „frühsten Entwicklungsstadien“ menschlichen Lebens deshalb verfassungsgemäß sein.527 Befürworter von Stammzellforschung differenzieren den Lebensbegriff in menschliches und biologisches Leben. Nur menschliches Leben könne die Grundlage für einen grundrechtssubjektiven Status sein, wohingegen bloßes biologisches Leben wie der Embryo kein Rechtssubjekt darstelle. Die Begriffe biologisches Leben und Person müssten folglich entkoppelt werden. C.4.3 Biologisches Leben und Grundrechtssubjekt: Unvereinbare Gegensätze? Die skizzierten Positionen stehen sich nur auf den ersten Blick unvereinbar gegenüber. Denn aus einer machtanalytischen Perspektive teilen sie bestimmte Prämissen. Eine Gemeinsamkeit ist, dass beide Positionen auf abstrakten und gesellschaftlich entbetteten Einheiten aufbauen und dadurch ihr eigenes Verwobensein in Machtverhältnisse ausblenden. Die zentralste Einheit ist der Embryo. Die Grundlage für die Metapher des Embryos ist wiederum die in feministischer, kulturwissenschaftlicher und medizinhistorischer Literatur vielfach kritisierte diskursive Trennung von Leibesfrucht und Frau(enleib).528 Sie entsteht mit Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft und Technologien und fungiert als epistemische Bedingung für den Stammzelldiskurs.529 Die Körperhistorikerin Barbara Duden fasst diesen Entstehungsprozess so zusammen:

526 Dies. 527 Dies.: 69. 528 Vgl. Duden (1991): 61ff.; Lettow (2003a): 125; Rebentisch (1994): 26f. 529 Zur Geschichte des Embryos o. C.2.1.2.

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„Denn durch die Konstruktion embryologischer Entwicklungsreihen im 19. Jahrhundert, mehr noch durch Schwangerenvorsorge und den massenhaften Einsatz neuer Visualisierungstechniken, durch Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik im 20. Jahrhundert ist der ‚Embryo‘ in seinen Entwicklungsphasen zu einem biologisch-objektiven Faktum geworden.“530

Zu Zeiten Aristoteles’ und Platos galt die Leibesfrucht etwa als integraler Bestandteil der ‚mütterlichen Eingeweide‘. Sie erhielt erst ab der Geburt einen individuellen Status – wobei jedoch der Frauenleib, die Leibesfrucht und das geborene Kind dem Institut der patria potestas, dem Vater, als Familienoberhaupt unterstellt waren. Ein Abtreibungsverbot wäre beispielsweise nicht nach heutigem rechtlichem Verständnis als Inbesitznahme des Frauenkörpers, sondern als Eingriff in die Rechtssphäre des pater familias gedeutet worden.531 Aktuellen bioethischen Argumentationen von Befürwortern und Gegnern von Stammzellforschung liegt die neuzeitliche Figur des Embryos gleichermaßen zugrunde. In der Art und Weise, wie der abgetrennte Frauenleib und die Frau thematisiert werden, unterscheiden sich die beiden Linien jedoch. Eine Variante in den Diskursen gegen Stammzellforschung ist die schlichte Ausblendung der Perspektive der Frau:532 Zwar wird die körperliche Integrität des zukünftigen Rechtssubjektes betont, der Leib der unmittelbar beteiligten Frau bleibt jedoch unsichtbar – obgleich das leibliche Dasein der Frau überhaupt erst die ‚Leiblichkeit‘ des Kindes ermöglicht.533 Mit der rechtsphilosophischen Fokussierung des embryonalen Lebens wird der ökonomischen Vernutzung des Embryos entgegen getreten. Weil das erklärte Ziel aber der Lebensschutz des Embryos und keine Kritik an ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnissen ist, stützen sich die Gegner auf einen biologischen Lebensbegriff, der die Einbindung des Frauenlei-

530 Duden/Schlumbohm/Veit (2002): 7. 531 Vgl. Behren (2004): 23. Zur Entstehung heutiger juridischer Verständnisse des Körpers als Eigentum vgl. Lüdemann (1996). 532 Weitere Varianten wie die Konstruktion der Frau als Mutter werden unten besprochen. 533 Auch bei Picker, der die Frau ausblendet und stattdessen allein vom Leben spricht. Vgl. Picker (2002).

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bes und einer weiblichen Bio-Graphie entlang ökonomischer Kalküle nicht in Frage stellt. Denn das damit einhergehende größere Ziel, die Produktion von (gesunden) zukünftigen Staatsbürgen, wird auf Kosten der Frau durchgesetzt. Befürworter von Stammzellforschung betonen hingegen, dass sie Ableitungen juristischer Regelungen aus biowissenschaftlichen ‚Tatsachen‘ ablehnen und ein biologisches Verständnis des Menschen in Frage stellen. Doch auch ihre Argumentationen sind keine Vorstellungen von menschlichem Leben, die hegemoniale Macht- und Geschlechterverhältnisse in Frage stellen. Ihre juristischen Beweisführungen fußen zwar auf Annahmen, die auf den ersten Blick einem sozialkonstruktivistischen Kontext entnommen sind, die sie im Grunde jedoch so wenden, dass die Figur des Rechtssubjektes für forschungsökonomische Ziele anschlussfähig ist: Gilt der Embryo nicht länger als grundgesetzliches Rechtssubjekt, fällt er aus Definitionen vom Menschen heraus und kann als ‚reine Biomasse‘ begriffen werden. Die Konstruktion des Embryos als biologisches Leben bedeutet jedoch keinen fortschrittlicheren Ansatz, sondern markiert vielmehr einen Einschnitt im Lebensdispositiv. Der Staat verwaltet ‚das Leben‘ nicht länger allein durch den Schutz zukünftiger Staatsbürger, sondern versucht ebenfalls seine Biopolitik entlang von bioökonomischen Interessen zu organisieren und Embryonen als Forschungsrohstoff bereitzustellen. Dem entspricht, dass Befürworter von Stammzellforschung Frauen nicht ‚entmündigen‘, indem sie die Austragung einer Schwangerschaft als moralische Pflicht gegenüber der Rechtsgemeinschaft ansehen. Auch wird die Perspektive der Frau nicht einfach ausgeblendet. Stattdessen wird sie als verantwortliches Subjekt ihres Körpers angerufen, das zur Rohstofflieferantin werden soll: Im Namen des biomedizinischen Fortschritts soll sie ihre Eizellen altruistisch ‚spenden‘. So tritt die Frau in einigen Passagen der Argumentation Merkels als ‚Subjekt ihres Körpers‘ in Erscheinung. Doch nicht, um ihren Körper als zentralen Austragungsort biomedizinischer Intervention und technologischen Zugriffs zu thematisieren, sondern insofern sie Gebende ihres Körperrohstoffs Eizelle ist. Im Namen „weiblicher Selbstbestimmung“ fordert Merkel, dass jede Frau nach eingehender Beratung und

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Aufklärung Eizell‚spenderin‘ werden kann und ihr die „autonome Entscheidung“ dazu nicht genommen werden solle: „Die Entwicklung neuer Heilverfahren in der Medizin ist und war seit eh und je auch auf die altruistische Bereitschaft Freiwilliger angewiesen, im Rahmen eines nach Menschenmaß transparent gemachten und vernünftig beurteilten Risikos den medizinischen Fortschritt zu unterstützen.“534

Außer Acht gelassen bleibt dabei, dass die Schneisen der Subjektkonstitution bereits vorgegeben sind. Forschungsinteressen, subtile Zwänge und Machtunterschiede zwischen ‚Experten‘ und potentiell Gebender in Beratungssituationen, ungleiche Gewinnverteilung aus den inwertgesetzten Körperrohstoffen oder fragliche Erfolgsaussichten der Stammzellforschung werden in Merkels Szenario ausgeblendet. Im Diskurs der Befürworter geht es folglich nicht um ein beliebiges Verhältnis zwischen der Frau und ihrem Leib, sondern darum, sie als Kontrollinstanz über ihre Körpersubstanzen zu konstituieren. Der weibliche Körper und der selbstbestimmte Umgang mit dem eigenen Körper werden thematisiert, um das Verhalten der Frau entlang bioökonomischer Kalküle zu lenken. Die untersuchten Lebensbegriffe und die sich daran anknüpfenden politischen Positionen bilden also nur scheinbare Widersprüche. In einem ökonomisch-juridischen Dispositiv, das den Frauenleib und das Leben bioökonomischen Zielen unterstellt, verhalten sie sich komplementär: Leben als bloßes biologisches Leben zu konzipieren ist das genaue Gegenüber zu einer Position, die den Embryo als Grundrechtssubjekt und folglich als zukünftigen leistungsfähigen Menschen begreift. Eine angemessene rechtsphilosophische Antwort auf virulente Fragen, die im Kontext Biotechnologien entstehen, stellen sie jedoch nicht dar. C.4.4 Unsichtbare Väter und monströse Mütter Diese Strategien werden auch in den Konzepten von Eltern- und Mutterschaft deutlich, die rechtsphilosophischen Diskursen eingeschrieben

534 Merkel (2002a): 193.

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sind. Vorstellungen von Elternschaft liegen sowohl dem befürwortenden als auch dem gegnerischen Diskurs von Stammzellforschung zugrunde und verlaufen quer zu den beiden Konfliktlinien. Leitendes Ideal ist dabei die heterosexuelle Kleinfamilie samt ihrer binärhierarchisierenden Vorstellungen von den beiden Geschlechtern. Diese sollen im folgenden Abschnitt rekonstruiert werden.535 Der Mann wird nicht zum Gegenstand expliziter Diskussion etwa durch seine Konstruktion als Vater, sondern verschwindet im vermeintlich neutralen Bild der Eltern.536 Damit setzt der rechtsphilosophische Diskurs staatliche Männlichkeitskonstruktionen von Biopolitik fort. Denn sie nahm traditionell das Verhalten der Frau und ihren Körper ins Visier, womit Männlichkeit im Verhältnis zu Fortpflanzung nicht problematisiert wurde. Der Mann wird auf diese Weise nicht als verantwortliches reproduktives Subjekt angerufen und der gesellschaftliche Druck fällt weg, sich zu Elternschaft zu verhalten.537 Zugleich werden Männer auf die traditionellen Sphären von Öffentlichkeit verwiesen, in denen ihnen Möglichkeiten der Subjektwerdung zur Verfügung stehen. Die Mutter stellt hingegen im rechtsphilosophischen Diskurs eine zentrale Metapher dar, um weibliche Subjektivität im Kontext neuer Bio- und Reproduktionstechnologien (heteronormativ) zu verhandeln. Wie wird Mutterschaft in den verschiedenen Ansätzen genauer dargestellt? Josef Isensee diskutiert in seinem Beitrag den grundrechtssubjektiven Status des Embryos in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten und fragt, ob der Embryo während einer ‚natürlichen‘ Schwangerschaft, in-vitro oder hinsichtlich einer Abtreibung als rechtliche Person gelten kann. Bezüglich sogenannter überzähliger Embryonen kommt der Rechtsphilosoph zu dem Schluss, dass „der Mutter“ nach einer IVF die rechtliche Entscheidungsmacht darüber nicht zugespro-

535 Zu einer weitergehenden Kritik an heteronormativen bioethischen Elternschaftskonzepten und einem alternativen Ansatz u. D.2.2. 536 Vgl. Pfordten (2003): 181, der von der „reproduktiven Freiheit der Eltern“ spricht. 537 Vgl. Daniels (2006): 166. Auch andere aktuelle biopolitische Diskurse wie der Krisendiskurs zur Kinderlosigkeit lokalisieren ‚die Ursachen‘ meist in der Frau. Vgl. Diehl (2007): 16.

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chen werden sollte.538 Er beschreibt ein Horrorszenario, in dem Frauen beliebig über ihre Embryonen verfügen und sie zu Ersatzteillagern degradieren würden. Denn würde die Mutter darüber entscheiden dürfen, ob die ‚überzähligen‘ Embryonen menschliches Leben wären, „wäre damit eine juristische Science-fiction-Vision legitimiert, daß – unterstellt, die technischen Bedingungen einer brave new world zur extrakorporalen Menschenzucht wären gegeben – grundrechtlose Parias zur Welt kämen, die außerhalb der Rechtsgemeinschaft verblieben, und jedermann einen geklonten Doppelgänger erhielte: als Sklaven und als Ersatzteillager für Organe. Geltung und Reichweite des Lebensschutzes hingen von der Willkür der Mutter ab.“539

Die Frau, die frei über den Verbleib ihrer Leibesfrüchte entscheidet, wird nicht nur als Gefahr für die embryonale Existenz, sondern für die gesamte sittliche Rechtsgemeinschaft beschrieben. Die Kritik an den mit den Biotechnologien verbundenen Allmachtsphantasien der Menschenzüchtung540 werden schlicht in das misogyne Bild der bedrohlichen Mutter gewendet und die Nutzung der Biotechnologien durch die Frau mit Unzivilisiertheit, Irrationalität und einem anarchischen Zustand assoziiert.541 Der Staat ist für Isensee deshalb die einzige Instanz, die objektiv und angemessen über den Zeitpunkt des Lebensanfanges entscheiden kann. Ob ein Embryo unter den Lebensschutz falle oder nicht, müsse die neutrale Verfassungsordnung und nicht eine private und willkürlich handelnde Person wie die Mutter festlegen. Isensee beschreibt das so: „Die Verfassung aber gibt keinem Privaten die Macht, die Grundrechtsfähigkeit zu verleihen oder vorzuenthalten und verbindlich für andere die Grundrechte zu definieren. Deren Geltung ist allgemein, gleich und objektiv. Sie hängt nicht ab von subjektiver Willkür. Das Lebensrecht wird daher nicht

538 Vgl. Isensee (2002): 55. 539 Ders. 540 Zu diesen Phantasien vgl. Braun/Stephan (2005): 25. 541 Zu einer Diskussion der Nutzungsproblematik u. D.

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durch Annahme seitens der Mutter begründet, sondern durch die Verfassungsordnung.“ 542

Auch der Rechtsphilosoph Dietmar von der Pfordten ist der Meinung, dass die Frau als Mutter kein volles Verfügungsrecht über ihre Embryonen haben sollte.543 Er entwirft ein juridisches Handlungsmodell, mit dem er klären will, „welche politische Ebene für die Normierung des Embryoschutzes zuständig ist“, oder anders ausgedrückt: wem die Definitionsmacht über den rechtsphilosophischen Status des Embryo zugesprochen werden kann.544 Pfordten unterscheidet dazu zwischen „drei Zonen politischer Gerechtigkeit“: •



die Individualzone: Sie umfasst individuelle Interessen, „die praktisch nicht durch eine politische Gemeinschaft bedingt sind, etwa das bloße Leben und die körperliche Unversehrtheit des einzelnen, aber auch die psychische Integrität“. Pfordten konstatiert als „symbolische Grenze dieser Zone [...] die Körpergrenze des Betroffenen“.545 Diese Zone ist für ihn ein Raum fern politischer Interessen und deshalb durch das Kennzeichen der Abwägungsfreiheit definiert. Dem Einzelnen kommt darin das alleinige Entscheidungsrecht zu.546 die Relativzone: In sie fallen Interessen, die „partiell individualund partiell sozialbedingt sind“.547 In dieser Zone hat der Einzelne kein alleiniges Entscheidungsrecht, aber ein Übergewicht. Interessen überschreiten in dieser Zone regelmäßig symbolische Körpergrenzen.548

542 Isensee (2002): 55. 543 Vgl. Picker (2002): 9. Pfordten diskutiert Gerhardt. Dazu o. C.3.2. 544 Pfordten (2003): 176. 545 Ders.: 179. 546 Vgl. ders. 547 Ders. 548 Vgl. ders.

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eine politische Zone: Sie umfasst die Kollektivinteressen aller und ist der Bereich des Politischen schlechthin. Staatliche Entscheidungen machen deshalb den Kern dieser Zone aus.549

Die jeweiligen Interessen eines bestimmten gesellschaftlichen Problems sollen, laut Von der Pfordten, entsprechend ihres jeweiligen „Gehaltes“ in diese Zonen eingeordnet werden. Doch der Rechtsphilosoph gibt dabei zu bedenken: „Je stärker das Interesse eines Menschen von der politischen Gemeinschaft abhängt, desto eher darf diese entscheiden.“ Für die Diskussion der Stammzellenproblematik setzt Von der Pfordten Embryo und Frau einander als zwei Grundrechtssubjekte gegenüber. Dadurch erhält er zwei gleichberechtigte Subjekte mit Interessen, die seines Erachtens in die Relativzone eingeordnet werden müssen. Die schwangere Frau gerät somit durch ihre begriffliche Fassung als Mutter von der Individual- in die Relativzone und verliert im Kontext von neuen Reproduktions- und Biotechnologien ihr alleiniges Entscheidungsrecht. Das Kennzeichen der Relativzone, die Überschreitung symbolischer Körpergrenzen, erfolgt dann durch den Staat: Die „Mutter“ könne nicht jede Schwangerschaft willkürlich beenden, denn in diesem Szenario sei sie nicht „Teil der politisch Handelnden“.550 Von der Pforten gesteht der Frau nur einen relativen Status als politisch-mündiges Körper-Subjekt zu, insofern sie Mutter ist. Das wird auch an seiner Einstufung von Stammzellforschung und therapeutischem Klonen deutlich: Beide Technologien hätten nichts mit der Frau zu tun, weil ihre reproduktive Fähigkeit, ihr Uterus, nicht benötigt würde. Denn es ginge allein um den Status des Embryos: „Bei zwei gentechnischen Verfahren ist dagegen keine Austragung des des Embryos durch die Mutter geplant: bei der Stammzellforschung und und beim therapeutischen Klonen. Bei diesen Verfahren ist folglich die Redie Relativierung des ethischen Status des Embryos durch die körperliche Verschränkung mit der Mutter nicht anzunehmen. Damit muss es bei der

549 Vgl. ders. 550 Ders.: 181.

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Einordnung der Belange des Embryos in die Individualzone bleiben. Es erfolgt keine Verschiebung in die Relativzone.“

551,552

Die Abwertung der Frau zeigt sich nicht minder eindringlich bei Befürwortern von Stammzellforschung. So beschreibt der Verfassungsrechtler Karsten Klopfer die verhütende Frau als embryofeindliches Prinzip. Der Autor will zeigen, dass sowohl „in-vivo“ als auch „invitro“ Leibesfrüchte biologisches Leben und keine Subjekte sind, denen Menschenwürde zukommt. Da es sich bei beiden um Embryonen handele, müsste Recht auch beiden den gleichen verfassungsrechtlichen Status zuordnen. Weil Frauen, die qua Spirale verhüten, Embryonen ebenso töten wie Stammzellforscher, dürfe es bei letzteren rechtlich nicht verboten werden. Klopfer drückt das so aus: „Die ‚schützende Sphäre der Frau‘ stellt nämlich keinen Schutz für den Embryo dar, wenn sich die Frau die Spirale eingesetzt hat. Die Wahrscheinlichkeit der Nidation ist damit wie beim Embryo in vitro auf Null reduziert. […] Die Frau nimmt billigend in Kauf, dass sie Embryonen ‚erzeugt‘, die nachher getötet werden könnten. […] Die Embryonen im Mutterleib werden durch die Spirale getötet; die Embryonen in vitro werden durch den Wissenschaftler zur Stammzellgewinnung getötet.“553

Auch in seinen Ausführungen zur Abtreibungsproblematik wird Abtreibung als verfassungsfeindliche Handlung der Frau dargestellt. Dort heißt es:

551 Ders. 552 Zwar werden Stammzellforschung und „therapeutisches Klonen“* nicht unmittelbar im Unterleib der Frau durchgeführt, der Frauenkörper ist dennoch stark eingebunden. Denn für die beiden gentechnologischen Verfahren wird eine immense Anzahl von Eizellen benötigt. Diese können nur aus dem Körper der Frau gewonnen werden, was wiederum eine Hormonbehandlung für die Frau bedeutet, die starke gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann. Dazu o. A. 553 Klopfer (2006): 75f.

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„Eine Schwangerschaft beeinträchtigt die körperliche Integrität der Schwangeren erheblich und die ganze Person in ihrem allgemeinen Freiheitsrecht, dem Eigentumsrecht und der Berufsausübungsfreiheit. Diese Rechtsgüter stehen nicht außer Verhältnis zum Leben. Voraussetzung ist aber für den Defensivnotstand, dass der Embryo die Gefahrentstehung vorrangig zu vertreten hat. Es ist mit Ausnahme von Vergewaltigungen aber gerade die Schwangere, die für die Gefahr verantwortlich ist. Es handelt sich eben nicht nur um eine ‚bloße Mitwirkung an erlaubter Triebbetätigung‘, sondern um die bewusste Entscheidung der Schwangeren, das ‚Problem‘, sofern es denn eintritt, durch Abtötung des Embryos zu lösen und nicht durch andere Arten der Schwangerschaftsverhütung erst gar nicht dazu kommen zu lassen.“554

Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass die Frau nicht nur zum fötalen Umfeld degradiert, sondern sogar als monströse Gefahr für den zukünftigen und durch den Staat zu schützenden Staatsbürger begriffen wird. Die Abwertung resultiert aus einem ambivalenten kulturellen Verständnis von Mutterschaft in westlichen Gesellschaften: Feministische Theoretikerinnen haben vielfach gezeigt, dass die Mutter entweder idealisiert und als sorgende, omnipräsente und sich selbst aufgebende Figur dargestellt wird oder als dessen Gegenteil: als selbstsüchtige, vernachlässigende oder bedrohliche Mutter, als Rabenmutter oder als abtreibende Karrierefrau.555 Die Mutter als eine komplexe Person in einem neoliberalen Setting, deren Beziehung zum Kind durch positive, aber auch konfligierende, widersprüchliche eigene Bedürfnisse, sowie durch soziale und materielle Zwänge gekennzeichnet ist, findet hingegen in dominanten gesellschaftlichen Diskursen keine Beachtung. Die Ausblendung der Perspektive der Frau wird in den Ansätzen zudem dadurch begünstigt, dass die schwangere Frau in der Figur der

554 Ders.: 64. Will man auf einer biologischen Ebene verbleiben, könnte Klopfer entgegen gehalten werden, dass sich ohnehin 80 % aller befruchteten Eizellen nicht in den Mutterleib ‚einnisten‘ und ‚absterben‘. Dieses Argument ist jedoch auch von Befürwortern von Stammzellforschung aufgegriffen worden. Vgl. Keller (2008). 555 Vgl. Kaplan (1990): 127.

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Mutter als privates Individuum begriffen wird, das fern von staatlicher Politik agiert. Übernommen werden die klassische bürgerliche Trennung zwischen öffentlich und privat und ihre geschlechtliche Codierung. Denn mit Schaffung der beiden Orte wurden Frauen auf das Private verwiesen und ihr ‚privates‘ Verhalten zugleich staatlich diszipliniert und reguliert.556 Die oben zitierten Autoren reproduzieren diese biopolitische Trennung, indem sie die ideale Mutter als eine Person begreifen, die ihre Grundrechte zugunsten des Lebensrechts des Embryos und des Wohlergehens des zukünftigen Staatsbürgers einschränkt. Mutterschaft wird als natürlicher Bestandteil weiblicher Subjektivität bestimmt und das ‚Wesen‘ der Frau so als Mutter definiert. Auf diese Weise wird auch ihr Körper den Zielen staatlicher Bevölkerungspolitik unterstellt. Das Gegenstück zu diesem idealisierten Mutterbild bildet die Mutter, die eine Bedrohung für den zukünftigen Staatsbürger dargestellt. Denn selbstbestimmtes reproduktives Verhalten wie Verhütung, Abtreibung oder die freie Verfügung über die neuen Reproduktionstechnologien unterwandern staatlich erwünschtes Verhalten und gelten als gleichsam kriminelle Tat.557 Die Idealisierung der Mutterfigur und die gleichzeitig stattfindende Sanktionierung und Stigmatisierung abweichenden Verhaltens ist auf verschiedene Weise erklärt worden. Will man psychoanalytischen Ansätzen folgen, so kann in heterosexistischen Frauenbildern der Ausdruck einer frühkindlichen Kränkung gesehen werden, die durch die Abwesenheit der idealisierten Mutter in einer extremen Abhängigkeitsbeziehung entstehen.558 Für die kulturell-symbolische Ebene hat Christina von Braun herausgearbeitet, dass der mütterliche Körper oft als Metapher für die Einheit der Gesellschaft fungiere und dabei ambivalent besetzt sei. Er werde nicht nur als sicher und umschließend

556 Vgl. Rebentisch (1994): 25ff. 557 Damit ist nicht gesagt, dass die Aneignung neuer Reproduktionstechnologien durch Frauen per se emanzipativ ist. In rechtsphilosophischen Argumentationen führen die alten geschlechtlichen Bilder jedoch dazu, dass die komplexen Abhängigkeits- und Machtbeziehungen im Kontext von Eltern-, Vater-, Mutterschaft, sprich von Verantwortungsgemeinschaften, nicht adäquat verhandelt werden. 558 Vgl. Kaplan (1990): 127.

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gedacht, sondern auch als unsicheres Element. Denn der mütterliche Frauenkörper repräsentiere nicht nur überindividuelle Einheitlichkeit, sondern ebenso die Verletzlichkeit der Gesellschaft. Diese Verletzlichkeit drücke sich darin aus, dass der weibliche Körper und Weiblichkeit zugleich das Andere der normalisierten Gemeinschaft seien und als solches eben auch Gefahr bedeuten.559 Der weibliche Körper, so Christina von Braun, repräsentiere „ein Element, das mit Unreinheit oder Unzurechnungsfähigkeit, mit Unzulänglichkeit gleichgesetzt wird; eine Form von Andersheit, dem ein mangelnder Sinn für die Gemeinschaft unterstellt wird. […] D.h. der weibliche Körper symbolisiert die Ganzheitlichkeit und zugleich das unsichere Element der Gemeinschaft“.560

Die alte Vorstellung von einem weiblichen Gemeinschaftskörper, in dem ‚das Weibliche‘ zugleich als eine inhärente Bedrohung imaginiert wird, findet sich auch in den skizzierten bioethischen Positionen wieder.561 Denn zum einen sollen die Leibesfrüchte der Frau dem überindividuellen Wohl der Bevölkerung dienen, sei es in Form von Stammzellforschung, sei es in Form der Austragung eines ‚gesunden‘ Staatsbürgers. Der individuelle mütterliche Frauenleib repräsentiert hier den Bevölkerungskörper und steht für das zukünftige Wohl und die Gesundheit dieses Körpers. Zugleich stellt der Frauenleib aber auch die

559 Vgl. Braun (1998): 64. 560 Dies, Herv. i.O. 561 Auch in bioethischen Institutionen sind diese Bilder zu finden. So heißt es in den ethischen Richtlinien der Zentralen Ethikkommission zum Thema Stammzelltherapie: „Um eine ausreichende therapeutische Wirkung durch die Übertragung von Zellen erzielen zu können, ist für einen Patienten Gewebe von bis zu zehn Feten notwendig. Dies bedeutet auch, daß der Zeitpunkt, der Ort und die Art der Schwangerschaftsabbrüche mit der vorgesehenen Implantationsoperation sorgfältig abgestimmt werden müssen. Hierdurch sind Auswirkungen auf den Schwangerschaftsabbruch selbst nicht auszuschließen. […] Zudem sind Gefahren durch eine Kontamination der Zellen, etwa bei bestehenden Infektionen der Schwangeren, nicht zu vernachlässigen.“ ZEKO (1998).

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Bedrohung für den Bevölkerungskörper dar, weshalb der Staat eingreifen soll, damit die Frau Embryonen nicht umbringt, abtreibt oder beliebig darüber disponiert.562 C.4.5 Abtreibung als selbstbestimmte Praxis von Frauen? Stammzellen können nicht nur aus Eizellen gewonnen werden. Auch abgetriebene Föten sind mittlerweile für die Bioindustrie ein wertvoller Rohstoff.563 Abtreibung ist daher ein weiteres zentrales Thema im rechtsphilosophischen Diskurs. Im Folgenden sollen deshalb die Positionen des Rechts- und Sozialphilosophen Norbert Hoerster diskutiert werden, dessen Beiträge ein Beispiel für die neoliberale und biopolitische Wendung ehemals feministischer Ziele sind.564 So scheint Hoerster auf den ersten Blick die im vorherigen Abschnitt geäußerte feministische Kritik aufgenommen zu haben und auf Seiten der Frauen zu sein: Abtreibungsgegner kritisiert der Rechtsphilosoph dafür, dass sie Schwangerschaft als „natürliche Rolle der Schwangeren“ definieren. Schwangerschaft entspreche aus dieser konservativen Perspektive dem ‚ursprünglichen Wesen‘ der Frau, die folglich das Kind auszutragen habe. Hoerster hält dagegen, dass die Natur keine Rollen zuteile. Ob wir „die Natur gewähren lassen oder ihr entgegenwirken sollen“, sei unsere Entscheidung. Dass Hoersters Verständnis vom Natur/KulturVerhältnis jedoch keine grundlegende Kritik an impliziten Geschlechtercodierungen anstrebt, wird im weiteren Verlauf seiner Argumentation deutlich:

562 So wäre für Isensee eine Zurverfügungstellung von Embryonen für die Forschung, also die Verwertung weiblicher Leibesfrüchte und des Frauenleibes, zulässig, wenn „die Forschungsvorhaben wesentliche Erkenntnisse für die Diagnose und die Therapie von Krankheiten versprächen.“ Isensee (2002): 74. 563 Dazu o. A. Vgl. Merkel (2002a): 195. 564 Die von Hoerster besprochenen Texte sind vor der Stammzelldebatte entstanden. Hoerster ist auch kein Bioethiker im engeren Sinn. Weil Bioethiker wie Merkel jedoch vielfach Bezug auf Hoersters Argumentation nehmen, wird er im Folgenden behandelt.

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„‚Natürlich‘ ist im Leben einer durchschnittlichen Frau eine Anzahl von etwa zwanzig bis dreißig Schwangerschaften. Die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft im Durchschnitt üblichen zwei bis drei Schwangerschaften (bzw. ein bis zwei Geburten) verfehlen den ‚Maßstab der Natur‘ kaum weniger als der vollständige Verzicht auf Kinder. Nun wäre zwar ein vollständiger Kinderverzicht seitens jeder Frau nicht nur ‚unnatürlich‘, sondern – wegen des damit verbundenen Aussterbens der Menschheit – offenbar auch tatsächlich unerwünscht.“565

Dennoch ließe sich mit Bezug auf Natur keine Verpflichtung zur Schwangerschaft ableiten. Zwar lehnt Hoerster die ‚absolute‘ Festschreibung von Frauen auf Reproduktion ab, im gleichen Zug geht er jedoch von einer anderen gängigen Norm aus: Von ein bis zwei Geburten pro Frau und Leben. Sie bilden den Maßstab für angemessenes reproduktives Verhalten in westlichen Gesellschaften und sind damit als Ideal nicht weniger problematisch. Denn sowohl im Blick auf nicht-westliche Gesellschaften als auch in der Bewertung des bevölkerungspolitischen Verhaltens der ‚eigenen‘ Mitglieder funktioniert diese ‚Ein-bis-Zwei-Kind-Norm‘ oft diskriminierend.566 So sehen sich kinderlose Frauen ‚ab einem gewissen Alter‘ oft mit der Anfrage ihres Umfeldes konfrontiert, ob sie denn noch ein Kind bekommen würden. Medial wird die Kinderlosigkeit von Weißen deutschen Akademikerinnen als nationale Tragödie beklagt. Frauen mit vier, fünf oder mehr Kindern gelten wiederum als triebhaft, a-sozial, verantwortungslos oder zumindest als außergewöhnlich und werden nicht selten automatisch mit einer ‚Unterschichtsherkunft‘ oder einem migrantischen Hintergrund in Verbindung gebracht.567 Zudem lehnt Hoerster Natur als Begründungsbasis für bestimmte juristische Argumentationen ab. Als Differenzfigur zur Bestimmung des geschlechtlichen Menschen hinterfragt er biologische Begründungen jedoch nicht grundsätzlich und akzeptiert die Basis der BioMacht: Fortpflanzung muss sein. Entspricht sie staatlichen Zielen von Bevölkerungspolitik, ist das umso besser. In diesem Sinne begrüßt er

565 Hoerster (1995): 31. 566 Vgl. Schultz (1994). 567 Vgl. Diehl (2007): 13.

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ebenfalls eine heteronormative Ausrichtung staatlicher Bevölkerungspolitik. So wäre eine Praxis der selektiven Abtreibung, die darauf zielte, keine Mädchen zu bekommen, nicht günstig, weil sie zu einem „gesellschaftspolitisch unerwünschten zahlenmäßigen Ungleichgewicht der Geschlechter führen“ würde.568 Dennoch sollten einer Frau die Technologien und das wissenschaftliche Wissen für diese Praxis nicht verwehrt werden, weil sie so zur Regulation des statistisch ermittelten Bevölkerungsgleichgewichtes beitragen könnte: „Vielleicht wird mancher Leser meinen, man solle der Schwangeren jene wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten, die zu einer selektiven Abtreibung führen können, ohnehin vorenthalten. Für ein derart restriktives Vorgehen des Staates aber besteht normalerweise kein guter Grund. Warum sollen Frauen etwa das Geschlecht ihres Kindes nicht frei wählen können – solang statistisch gesehen das erwünschte Gleichgewicht in der Gesellschaft erhalten bleibt? Wer es verwerflich findet, daß beispielsweise eine Frau, die bereits drei Jungen hat, einen männlichen Fötus abtreibt, weil sie sich als viertes Kind ein Mädchen wünscht, sollte einmal die Gründe nennen, warum dies verwerflicher ist, als wenn eine Frau, die erst ein Kind hat, ihren Fötus abtreibt, weil jedes weitere Kind für sie mit Abstrichen an ihrem gewohnte Lebensstandard verbunden wäre.“569

Auch für Menschen mit Behinderung bestehe durch eine selektive Abtreibungspraxis keine Gefahr der Diskriminierung, weil ein Abtreibungsrecht keine Abtreibungspflicht sei: „Ein selektives Abtreibungsrecht ist etwas ganz anderes als eine selektive Abtreibungspflicht, die auf irgendeine Form von staatlichem Zwang zurückgeht. Eine Abtreibungspflicht aber darf es mit Rücksicht auf die Entscheidungsfreiheit der Schwangeren in keinem Fall geben.“570

Ein gewisser informeller Druck zur Abtreibung wäre deshalb auch nicht zu bedauern, besonders wenn damit Schwangerschaften vermie-

568 Hoerster (1995): 154f. 569 Ders.: 155f. 570 Ders.: 157.

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den würden, aus denen Menschen mit Behinderung hervorgehen könnten: Eine Frau, die einen behinderten Fötus abtreibt und stattdessen einen gesunden zur Welt bringt, verdiene eher Lob als Tadel. „Und zwar nicht so sehr deshalb, weil sie hierdurch der Gesellschaft eine Belastung erspart; sondern primär deshalb, weil sie hierdurch einem Menschen mit einem wesentlich besseren Leben zur Existenz verhilft.“ Denn selbst für einen Menschen mit Behinderung hätte sein eigenes Leben einen größeren Wert, wenn sein Leben nicht behindert wäre.571 Hoersters Argumentationen sind aus verschiedenen Gründen problematisch: •

Der Rechtsphilosoph betrachtet Abtreibung als die Geschichte zweier isolierter Rechtspersonen mit widerstreitenden Interessen. Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildet dabei allein das atomistische Individuum, das seine Entscheidungen aus sich selbst heraus trifft. Größere gesellschaftliche Zwänge blendet er aus und ignoriert so, dass neoliberal gewendete Herrschaftsverhältnisse wie eine Eugenik von unten mittels eines formal freien Subjektes operieren. Denn „selbstbestimmt abtreiben“ bedeutet im Moment, dass 90 Prozent der Frauen sich gegen ein Kind entscheiden, wenn Ergebnis der pränatalen Wahrscheinlichkeitstests, die Prognose eines Kindes mit Behinderung ist.572 So waren es Frauen mit einem Kind mit Behinderung, die Ärzte zuerst auf Schadensersatz verklagten, weil diese sie nicht auf die Möglichkeit der PND* hingewiesen hatten und die so maßgeblich zur breiten gesellschaftlichen Verankerung der Technologien beitrugen.573 Die Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung hat, so Andrea Trumann, dazu geführt, dass die Frau eine spezifische Subjektivität entwickelt hat, „mit der sie bevölkerungspolitische Praktiken in die eigenen Hände nehmen kann“.574 Hoerster stabilisiert damit in sei-

571 Ders.: 158. 572 Vgl. Spiewak (2001). Zur Kritik des Wahrscheinlichkeitsbegriffs von Gentests vgl. Grüber (2000). 573 Vgl. Riedel (2003): 61. 574 Trumann (2006): 17.

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nen Texten eine weibliche Subjektnorm, die Frauen dazu anhält, sich eugenisch zu verhalten. Der Rechtsphilosoph verkennt den Charakter der PND als Regierungstechnologie, die eugenische Normierung von Frauen mittels wissenschaftlichen Wissens und Technologien durchsetzt. Humangenetisches Wissen eröffnet dabei ein Möglichkeitsfeld, in dem Frauen als ‚freie‘ Subjekte agieren. Die Schneisen für bestimmte reproduktive Entscheidungen sind deshalb bereits vorgegeben.575 Die Perspektive von Menschen mit Behinderung wird ausgeblendet. Wissenschaftliche Arbeiten zum ‚gelebten Selbst‘ von Menschen mit Behinderung haben gezeigt, dass sie ihr eigenes Leben nicht als Leid betrachten. Projektionen von einem guten Leben wie die Hoersters nicht aber ihre ‚tatsächlichen‘ Lebensumstände oder Körpererfahrungen schildern Menschen mit Behinderung als diskriminierend.576

Doch auch die Gegner von Stammzellforschung, die den grundrechtssubjektiven Status des Embryos betonen, vernachlässigen oftmals die gesellschaftliche Dimension eugenischer Subjektkonstitution. Für sie stellt eine Verschärfung des Abreibungsverbotes ein angemessenes Vorgehen dar, um einer behindertenfeindlichen Abtreibungspraxis entgegen zu treten. Eugenische Handlungen werden nicht in einem gesellschaftlichen Kontext gestellt, sondern ausschließlich auf Ebene der Frau verhandelt, die im gleichen Zug einem staatlichen Gebärzwang unterworfen wird. Eine Eugenik von unten funktioniert jedoch über angstbesetzte Formationsprozesse von weiblicher Subjektivität. Würde das beachtet, so könnte eine eugenische Praxis von Frauen in den Blick genommen werden, ohne sie weder zur individuellen Täterin noch zum Opfer von entfremdenden Reproduktionstechnologien zu machen.

575 Zum Begriff der Regierungstechnologie o. B.2.2.2. 576 Vgl. Riegler (2006). Dazu u. D.2.3.

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Hoersters Argumentation zeigt, dass sich Bioethiker die Forderung der zweiten Frauenbewegung Mein Bauch gehört mir!577 auf problematische Weise angeeignet und für ihre eigenen Zwecke eingespannt haben. Denn seine Position hat den Kern der feministischen Parole, der den eigenen Körper als individuelles Eigentumsobjekt betrachtet, aufgenommen und neoliberal gewendet. In dieser spezifisch neuzeitlichen, eurozentrischen und juristisch-ökonomischen Körperkonzeption gilt der Körper als abgespaltenes und vermarktbares Objekt, über das das neuzeitliche privatrechtliche Subjekt innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie frei disponieren kann.578 Hoersters emphatische Verteidigung eines Rechtes auf Abtreibung spielt den fötalen Rohstoff vor allem Forschung und Biomedizin zu und leistet so einer bioethischen Verwaltung des Körpers entlang neoliberaler Kalküle Vorschub. C.4.6 Stammzellen aus Nabelschnurblut: Das Kind als privatrechtlicher Eigentümer seiner Stammzellen Eine weitere Quelle für die Erschließung von Stammzellen ist Nabelschnurblut, auch Plazentarestblut genannt: Die Nabelschnur wird nach der Geburt des Kindes und vor der Geburt der Plazenta durchtrennt und punktiert. Anschließend wird das Blut aufgefangen und so aufbereitet, dass daraus Stammzellen gewonnen werden können.579 Diese Stammzellen sollen bei kindlichen Leukämiepatienten nach einer Chemotherapie das blutbildende System wieder aufbauen. Seit mehr als zwanzig Jahren wird diese Art der Stammzelltherapie mit Stammzellen aus dem Knochenmark praktiziert und ist als Knochenmarkstransplantation bekannt. Aufgrund neuerer Entwicklungen in der Biomedizin kann seit den 1990er Jahren auch das Plazentarestblut dazu genutzt werden.

577 Zur Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung vgl. Krones (2005): 27. 578 Vgl. Lüdemann (1996): 172; Trumann (2006): 18. Zur Kritik am Eurozentrismus der feministischen Forderung nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper vgl. Schultz (1994): 14f. 579 Vgl. dies.: 10.

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Stammzellen aus Nabelschnurblut sind jedoch anders als Knochenmarkstammzellen auch für andere Bereiche der medizinischen Forschung von Interesse. Denn die Abwehrzellen des Nabelschnurblutes sind relativ ‚unreif‘, weshalb sich nach einer Transplantation des daraus gezüchteten Gewebes weniger häufig schwere Abstoßungsreaktionen ergeben sollen.580 Forschung und Industrie haben deshalb ein wirtschaftliches Interesse an diesen Körperstoffen entwickelt. Firmen bieten werdenden Eltern für etwa 1000 Euro an, das Blut in sogenannten Blutbanken zu lagern und bei zukünftigen Krankheiten daraus einen möglichen therapeutischen Nutzen für das Kind zu ziehen.581 Gegner von Embryonenforschung sehen in Nabelschnurblutstammzellen neben so genannten adulten Stammzellen582 eine weitere Alternative zur embryonalen Stammzellforschung. Im dominanten rechtsphilosophischen Diskurs wird folglich als zentrales Problem nicht der grundrechtssubjektive Status des Embryos verhandelt, sondern die Frage, wem die Stammzellen gehören, die aus dem Nabelschnurblut gewonnen werden: dem Kind, der Frau, dem Staat und seinen Bürgern oder der Forschung, das heißt privaten Firmen?583 Für die rechtliche Qualifizierung des Nabelschnurblutes stehen im rechtsphilosophischen Feld die Begriffe des Körpers und der Sache zur Verfügung. Würde das Blut als Körper qualifiziert, fiele es unter den Personbegriff und wäre so weiteren Zugriffen entzogen. Denn Personen können, so das formale Rechtsverständnis, nicht als eigentumsrechtliche Sachen behandelt werden. Würde das Nabelschnurblut als Sache bewertet, würde das im Universum bürgerlicher Rechtsphilosophie sogleich die Frage aufwerfen, ob eigentumsrechtliche Beziehungen entstehen und gegebenenfalls zu wem.584 Die Stammzellen wären damit prinzipiell für die Inwertsetzung freigegeben. Ein Beispiel für die rechtsphilosophische Diskussion ist die Arbeit Zivilrechtliche Probleme bei der Gewinnung, Konservierung und An-

580 Manzei (2005): 9. 581 Dies.: 11. 582 Zum Begriff der ‚adulten Stammzelle‘ o. A. 583 Vgl. Manzei (2005): 10. 584 Vgl. Wahle (2005).

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wendung von Stammzellen aus Nabelschnurblut von Stefan Wahle. Der Rechtswissenschaftler lehnt die rechtlich unregulierte Vernutzung von Stammzellen ab. Dazu stuft er Stammzellen aus Nabelschnurblut juristisch als eigentumsfähige Sache ein, die dem Kind zugesprochen werden sollen. Im Folgenden soll untersucht werden, mittels welcher juristischer und nicht juristischer Strategien Wahle versucht, diese Kategorisierungen zu plausibilisieren und ob diese rechtsphilosophischen Fassungen eine angemessene Antwort auf die Freisetzung von Körpersubstanzen darstellen. Fremdes Blut und fremdes Selbst: Das Kind als immunsystemischer Staatsbürger Biologische Verständnisse des Körpers bilden eine Säule in Wahles juristischer Argumentation: Das Blut sei aufgrund „biologischer Tatsachen“ rechtlich nicht als Körperteil zu qualifizieren, sondern als Sache. Als solches sei es wiederum Eigentum des Kindes und nicht der Frau. Zwar zirkuliere das Blut während der Schwangerschaft zwischen mütterlicher Plazenta und dem neu entstehenden Kind, auch diene die Plazenta der Nähr- und Sauerstoffzufuhr des Kindes, doch habe die Plazenta im Grunde die Aufgabe einer Membran: Das Frauenorgan fungiere sozusagen als ein Schutzschild gegen das fremde Blut des Säuglings. Die Plazenta verhindere also gerade, dass das Kindsblut in den Mutterkörper gelange und sei dazu da, die Mutter gegen das Blut zu schützen. In Wahles Worten hört sich das so an: „Eine wesentliche Aufgabe der Plazenta besteht also gerade im Getrennthalten von Nabelschnurblut und Mutterkörper. Verbleibt nun das Säuglingsblut nach der Abnabelung in der Plazenta, kann kaum eine ausreichend qualifizierte Verbindung zwischen dem Organ mit einem derartigen Zweck und dem Blut gesehen werden, die auf einen Übergang des Blutes in einen mütterlichen Körperteil schließen ließe.“585

Zwischen Stammzellenblut und Plazenta bestünde nicht die erforderliche Verbindungsintensität. Die Natur habe der Plazenta vielmehr die Funktion zugedacht, das Nabelschnurblut und die Stammzellen nach der Geburt nicht in den Köper der Frau gelangen zu lassen. Deshalb 585 Ders.: 54.

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gehören der Frau weder das Blut und noch die profitträchtigen Stammzellen. Wahle folgert deshalb: „Obwohl dieses Gewebe [das in der Plazenta verbleibende Blut] der Mutter zugeordnet ist, muss ein gesetzlicher Eigentumserwerb zu ihren Gunsten ausgeschlossen werden. Es fehlt hierfür an der nach § § 947, 948 BGB bzw. § 953 BGB erforderlichen Verbindungsintensität von Blut und Plazenta bzw. Nabelschnurblut.“586 „Das in Nabelschnur und Plazenta befindliche Blut erfüllt seine ihm von der Natur zugedachte Aufgabe, indem es auch den Kindskörper als Teil eines Kreislaufes durchströmt und so dessen Versorgung sicherstellt. Mit der Abnabelung wird das Kind physisch autark; es ist nicht länger auf eine Sauer- und Nährstoffzufuhr über die Nabelschnur angewiesen. Die natürliche Aufgabe des Nabelschnurblutes als Teil des Transportmediums Blut ist mit Trennung der Nabelschnur vom Kindesleib erfüllt. Ab diesem Zeitpunkt gibt es also für das nach der Geburt in Nabelschnur und Plazenta verbleibende Blut keine physische Verwendung mehr. Insofern kann auch konserviertes Nabelschnurblut keine typische Körperfunktion substituieren, denn für das Leben des Kindes nach der Abnabelung gibt es keine natürlich Funktion mehr für dieses Blut. Folglich wäre eine funktionale Einheit von Plazentarestblut und Kindeskörper abzulehnen.“587

Das in Plazenta und „plazentaseitigem Nabelschnurende“ verbliebene Blut, die Stammzellenquelle, stelle deshalb nach der Geburt keinen Körperteil des Kindes, sondern eine eigentumsfähige Sache im Rechtssinne dar. Aufgrund der biologischen Nähe des Blutes zum kindlichen Selbst, erwerbe das Kind das Eigentum am Stammzellenblut.588 Obgleich die Frau laut Wahle Eigentümerin der Plazenta ist, muss dem Säugling das Eigentumsrecht an dem hauptsächlich in der Plazenta verbleibendem Blut zugesprochen werden.

586 Ders.: 55. 587 Ders.: 29f. Zur rechtsphilosophischen Konstruktion des Körpers als funktionale Einheit u. 588 Vgl. Ders.: 42.

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Wahles Argumentation baut folglich auf dem Blut auf, das in westlichen Gesellschaften lange Zeit eine der dominantesten Metaphern für heteronormative Verständnisse von Zeugung, Verwandtschaft und Familie darstellte. Denn westliche Zeugungstheorien schreiben dem Blut für die Gemeinschaftsbildung eine besondere Bedeutung zu: Der Vater und die Mutter vererben zu gleichen Teilen das Blut an ihr Kind, wodurch das Kind in eine Blutsverwandtschaft zu seinen Eltern gestellt wird und sein Leben lang untrennbar mit ihnen verbunden bleibt.589 Blut bildet aus dieser Perspektive die natürliche Basis für den Zusammenhalt der Familie, der Verwandtschaft, sowie für die größere Einheit der ‚Volksgemeinschaft‘.590 Wahle betont nun einerseits mittels der Blutmetapher die Einheit der heterosexuellen Kleinfamilie. Denn die Eigentumsfrage stellt sich für ihn nur für die Mitglieder der traditionellen Kleinfamilie sowie für die Forschung.591 Andererseits unterstreicht er mit dem Bild des Blutkreislaufes die Individualität des Kindes. Der Blutkreislauf wird von Wahle somit nicht eingeführt, um die biologische Nähe des Kindes zur Mutter zu betonen, sondern um seine Eigenständigkeit hervorzuheben. Der kindliche Blutkreislauf wird von Wahle als eine in sich autonome Entität beschrieben, weil er mit dem Attribut des Selbstidentischseins eine begriffliche Analogie zum Rechtssubjekt herstellen kann: Sowohl der rechtsphilosophische Begriff des Rechtssubjektes als auch der biologische des Blutkreislaufes werden als eine abgegrenzte Einheit verstanden. Wahle stellt noch eine weitere Analogie her: Der kindliche Blutkreislauf entspreche auch einem eigenen Immunsystem. Er stellt das so dar: „Weniger eindeutig lässt sich eine Aussage treffen, wenn der Zuordnung die Frage zugrund gelegt wird, welchem der möglichen Körperteilsinhaber die Plazenta in ihrer Funktion mehr nützt. […] Wächst in ihr [in der Frau] ein Kind heran, das über ein von ihrem verschiedenes Immun- und Blutsystem verfügt, so stellt dieser ‚Fremdkörper‘ für ihren eigenen Körper eine Gefahr

589 Vgl. Mense (2004): 152f. 590 Vgl. Braun (2002b): 302. 591 Vgl. Wahle (2005): 145.

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dar. Die Plazenta sorgt dafür, dass zwar die vom Kind benötigten Stoffe vom Mutterkörper an den Kindskörper weitergegeben werden, ein Vermengen von kindlichen immunreaktiven Stoffen mit dem Körper der Mutter aber verhindert wird.“592

Wahle führt die Unterschiede zwischen Blutkreislauf und Immunsystem nicht aus. Meines Erachtens unterstreicht die Metapher des Immunsystems innerhalb seiner Argumentation den Aspekt der Fremdheit: Kind und Mutter sind nicht nur zwei entgegengesetzte unabhängige Personen mit einem eigenen Blutkreislauf, sondern auch durch biologische Fremdheit gekennzeichnete Rechtssubjekte. Das Immunsystem ist nicht nur wie das Blutsystem selbstreguliert und autonom, sondern legt die Grenzen dafür fest, was als das Eigene und was als das Andere des Selbst zu gelten hat. Bei Wahle hat das Immunsystem die Funktion zwischen dem Selbst der Frau und des Kindes zu differenzieren: Die Figur des Immunsystems soll die Grenzen zwischen zwei Organismen und ihren Körpern festlegen und das Kind als autonomes Rechtssubjekt definieren. Doch auch die Vorstellung des Selbst als Immunsystem ist eine historisch-spezifische Metapher spätkapitalistischer Gesellschaften. So hat Donna Haraway gezeigt, dass die Figur des Immunsystems weit über unsere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit hinausgeht und eine wichtige Folie ist, mittels derer moderne westliche Gesellschaften Individualität beschreiben. Das Immunsystem sei eine „Kartierung des Selbst“, das besonders mittels Differenz funktioniert. Es liefert einen Unterscheidungsmaßstab, mit dem festgesetzt wird, was das Selbst und was das Andere, das nicht zum Selbst Gehörende, ist. Haraway drückt das so aus: „Meine These ist, dass das Immunsystem als eine ausgearbeitete Ikone für Systeme symbolischer und materieller ‚Differenz‘ im Spätkapitalismus angesehen werden kann. Das Immunsystem ist in erster Linie ein Objekt des 20. Jahrhunderts. Es stellt eine Kartierung dar, die Erkennung und Fehlerkennung von Selbst und Anderen in den Dialektiken der westlichen Biopolitik anleitet. Das heißt, dass das Immunsystem ein Plan für bedeutungsvolle Handlungen

592 Ders: 49.

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ist, mit denen in den entscheidenden Bereichen des Normalen und Pathologischen die Grenzen dafür festgelegt und aufrechterhalten werden, was als Selbst und was als Anderes gelten kann.“593

Der Bezug auf das Bild des Blutkreislaufes bietet sich für Wahle an, weil es sich um Stammzellen aus Nabelschnurblut handelt. Doch die Metapher des Immunsystems ist aktueller und verspricht mehr Plausibiltät. Denn sie baut auf der des Blutkreislaufes auf und übernimmt in zeitgenössischen Gesellschaften symbolische Funktionen des Blutkreislaufes. Dabei entspricht die Metapher des Immunsystems auch neuen sozial-ökonomischen Verhältnissen. Denn nicht um das Blut ist ein Kampf ausgebrochen, sondern um die darin enthaltenen Stammzellen. Sie kennzeichnen wiederum eine Ökonomie, in der nicht länger ein integraler Körper, sondern ein verschaltbarer notwendig ist: Die Stammzellen werden extrahiert, verarbeitet, inwertgesetzt und können dann in den zukünftigen Kindskörper oder in den Körper eines anderen Staatsbürgers in Form eines neuen Organs eingeführt werden. Das Bild des Immunsystems verweist auf diese Veränderungen. Es dethematisiert diese ökonomisch-sozialen Relationen jedoch auch zugleich. Ebenso sind mit der Metapher des Immunsystems bestimmte Geschlechterasymmetrien verbunden. Denn auf biologischer Ebene könnte man ebenso gut argumentieren, dass Plazenta und Kind aus dem Leib der Frau hervorgegangen sind: Das ‚Blut des Kindes‘, das Wahle der Frau gegenüber als Fremdkörper beschreibt, konnte nur aufgrund der Frau entstehen. Der gesamte Prozess der aktiven Kindeserzeugung im und durch den Frauenleib wird ausgeblendet und das Kind als autonomes Rechtssubjekt gesetzt. Wahles biologischer Zugang reduziert die Frau in diesem Szenario folglich auf die Plazenta und die Begriffe „Sauer- und Nährstoffzufuhr“. Die Abwertung der Frau als embryonales Umfeld, wie sie für die bisher skizzierten Zugänge festgestellt worden ist, findet sich ebenfalls in Wahles Verständnis der Frau als temporäres Versorgungsgewebe wieder. Auch hier ermöglicht ein Verständnis von Frau und Säugling als zwei unabhängig von einander existierende Rechtssubjekte die Ausblendung der Frau und die Fokussierung auf den zukünftigen Rechtsbürger Kind.

593 Haraway (1995): 162.

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Denn im Vordergrund stehen einzig das Leben und die Interessen des Kindes nach der Abnabelung. Fast enttäuscht gesteht Wahle ein, dass die Plazenta im Körper der Frau sei und deshalb nicht als isoliertes Objekt betrachtet werden könne. Mögliche Ängste oder ein verändertes Geburtserleben der Schwangeren durch die Blutentnahme aber auch Motive und Hoffnungen, die hinter der Freigabe zur Konservierung stehen, geraten dadurch aus dem Blick.594 Die Spermaentscheidung Den rechtsphilosophischen Status von Nabelschnurblut will Wahle ferner durch einen Vergleich mit der sogenannten „Spermaentscheidung“ des Bundesgerichtshofs für Zivilsachen595 klären.596 Das Gerichtsurteil aus dem Jahr 1993 bewertet einen Fall, in dem sich ein 31jähriger Kläger der Operation eines Harnblasenkarzinoms unterzog, die absehbar zu seiner ‚Zeugungsunfähigkeit‘ führen sollte. Um auch nach dem Eingriff ein Kind ‚zeugen‘ zu können, ließ er vor der Operation sein eigenes Sperma kryokonservieren. Die Spermakonserve wurde jedoch in der Samenbank zerstört. Weil sein Wunsch auf ein Kind nicht mehr zu realisieren war, versuchte der Mann, die Samenbank auf Schmerzensgeld zu verklagen. Der Bundesgerichtshof (BGH) gab der Klage im November 1993 statt. Begründet wird die Rechtsprechung damit, dass mit dem fahrlässigen Umgang mit der Spermakonserve eine Körperverletzung gegen den Mann vorlag. Denn gespendetes Sperma und der Körper des Mannes bilden, so BGH, eine funktionale Einheit. Das verlorene Sperma muss als Teil des Körpers angesehen werden, weil die Körperfunktion des Spermas – die Kindeszeugung – auch weiterhin intendiert war. Dem Sperma wird somit aufgrund seines ‚inhärenten Potentials‘, ‚Leben zu zeugen‘, und der Intention seines Besitzers der rechtliche Status des Körpers zugeschrieben. Wahle hält diese Argumentation für den Körperstoff Sperma plausibel, auf Nabelschnurblut lasse sich die Begründung jedoch nicht übertragen. Denn Nabelschnurblut bilde weder mit dem Kinds- noch mit dem Frauenkörper eine funktionale Einheit und könne deshalb 594 Vgl. Manzei (2005): 15. 595 BGH 09.11.1993, BGHZ 124, 52. 596 Wahle (2005): 24ff.

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nur als eigentumsfähige Sache nicht aber als Körperteil bewertet werden.597 Sperma erhält jedoch meines Erachtens in diesen Argumentationen den rechtsphilosophischen Status des Körpers nicht aufgrund seiner biologischen Qualität, sondern weil es dem männlichen Körper zugerechnet und deshalb als wertvoll erachtet wird. Es wird als selbstverständlicher Teil der männlichen heterosexuellen Körperidentität interpretiert, mittels derer der Mann aktiv einen wesentlichen Beitrag zum Zeugungsvorgang und zur Entstehung eines neuen Menschen leistet.598 Nabelschnurblut wird hingegen nicht mit Potentialität gleichgesetzt oder als grundlegender weiblicher Beitrag im Entstehungsprozess eines Kindes interpretiert. Stattdessen laviert sein Körperstatus in den Interpretationen zunächst zwischen den beiden einander entgegen gesetzten Rechtssubjekten hin und her und wird letztendlich dem Kind zugesprochen. Auch hier zieht der Autor nicht in Erwägung, dass das Nabelschnurblut überhaupt erst aufgrund des Frauenleibes entstehen kann und dass die Frau durch die Nabelschnur das Wachsen eines Kindes ermöglicht.599 Stattdessen diskutiert Wahle das Potential, das Nabelschnurblut für die Herstellung eines Organs für den zukünftigen Rechtsbürger und für einen gesunden Volkskörper haben könnte. Dass die Spermaentscheidung und Wahles Deutungen auf den ersten Blick plausibel erscheinen, resultiert aus geschlechtsspezifischen Interpretationen des Körpers und seiner Teile: Thematisierungen von männlicher Körperlichkeit dienen dazu, den Mann als Rechtssubjekt zu konstituieren und die Fiktion seines personalen Seins zu stabilisie-

597 Vgl. Manzei (2005): 29. 598 Daniels zeigt, dass staatlicher britischer Biopolitik im Kontext von Spermabanken ein Verständnis von Männlichkeit eingeschrieben ist, das Sperma mit männlicher Virilität und beispielsweise nicht mit Verletzlichkeit identifiziert. Vgl. Daniels (2006): 166f. 599 Diese Beispiele sollen zeigen, wie Nabelschnurblut hinsichtlich weiblicher Körpersubjektivität interpretiert werden könnte. Eine Essentialisierung weiblicher Körperfunktionen soll jedoch nicht das Ziel meiner Argumentation sein, sondern lediglich in der Ausbuchstabierung verdeutlichen, welche hierarchisierenden und geschlechtsspezifischen Codierungen Wahles Ausführungen zugrunde liegen.

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ren.600 Konstruktionen weiblicher Körperlichkeit ermöglichen Frauen hingegen oft nicht, sich als mündige Rechtssubjekte zu ‚realisieren‘, sondern begünstigen eher ihren Ausschluss aus der oder ihre Instrumentalisierung für die Rechtsgemeinschaft männlicher Bürger. So hat Christina von Braun nachgewiesen, dass sich in der griechischen Klassik (mit der vollen Alphabetschrift) eine symbolische Ordnung durchgesetzt hat, in der Männlichkeit mit Geistigkeit und Weiblichkeit mit Körperlichkeit gleichsetzt worden ist und die sich auch auf die damalige Biologie übertragen hat. Bereits bei Aristoteles finden sich Interpretationen, die den Samen eines Mannes mit vernünftiger Geistigkeit und folglich mit seiner Männlichkeit identifizieren. Weiblichkeit ist hingegen vernunftlose irdische Materie, die der Erzeugung von Leben entgegensteht.601 Von Braun beschreibt die geschlechtliche Codierung des Zeugungsvorganges und des Samens so: „So verkündet Aristoteles in seiner Lehre von der Zeugung der Geschlechter, daß der männliche Same ‚von oben her‘ komme. Er sei zwar nicht die Seele, aber er sei ‚beseelt‘ durch eine von außen eingedrungene Vernunft, die einen immateriellen ‚Urstoff des Himmelskörpers‘ darstelle und göttlich sei. Die Tatsache, daß Frauen überhaupt geboren werden, führte Aristoteles darauf zurück, daß sich der ‚beseelte Same‘ in vielen Fällen nicht ausreichend gegen die ‚Materie‘, also das Irdische durchsetzen könne, und, so sagt er, der Lebensquell sich geschlagen geben muß, bevor er die Entwicklung bis zur eigenen Art fördern kann. Anders ausgedrückt: Die Vorstellung, daß Geist und Materie als Gegensätze zu betrachten sind und der Geist den Körper zu beherrschen habe, fand in der Geschlechterdifferenz ihren Ausdruck und ‚Beweis‘ als sichtbare Wirklichkeit.“602

Diese aristotelische Auffassung des Köpers wird in der abendländischen ‚Geistes‘geschichte fortan immer wieder aufgegriffen. In modifizierter Form findet sie sich auch bei Kant. In seiner Anthropologie

600 Vgl. Benbow (2003): 66. 601 Vgl. Treusch-Dieter (1990): 59ff. 602 Braun (1998): 62. Auch Kress weist darauf hin, dass Aristoteles davon ausgeht, dass der männliche Fötus vom 40., der weibliche hingegen erst vom 80. Tag an belebt ist. Vgl. Kress (2000): 25.

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weist sein Nachdenken über Körperströme Ähnlichkeiten zu seiner Vorstellung bürgerlicher und männlicher Staatsbürgerschaft auf. Das Rechtssubjekt demonstriert seine Intelligiblität unter anderem dadurch, dass es sein Temperament mäßigend beherrscht. Das Temperament denkt er wiederum als etwas Flüssiges, als das „durch die Lebenskraft gesetzmäßig Bewegliche im Körper“.603 Ein tugendhafter Mann kann Kant zufolge seine Körperströme vernünftig steuern.604 Die Frau und der weibliche Körper hingegen sind das ungeschriebene Andere in seinen Texten, die der Mäßigung und Selbstformierung zum Rechtssubjekt nicht fähig sind und darüber hinaus als das Irrationale eine Bedrohung für die sittliche Rechtsgemeinschaft darstellen.605 Während Wahle folglich das Sperma als Teil der vernünftigen männlichen Rechtsperson ansieht, spricht er das Stammzellenblut dem Kind, nicht aber der Frau zu. Damit verleiht er dem Kind im Gegensatz zur Frau den Status einer Rechtsperson.606 Der Körper als funktionale Einheit – der optimierte Mensch Wahle begreift den Körper wie Hoerster als Eigentum. Das zeigt sich besonders in seiner Diskussion der Eigenblutspende, die er ebenfalls zur Untermauerung seiner Argumentation heranzieht. Eigenblut werde in der juristischen Fachliteratur überwiegend als Teil des Körpers bewertet. Denn es handele sich um eine Körpersubstanz, die dazu bestimmt ist, „zur Bewahrung oder Verwirklichung der Körperfunktionen wieder in den Körper zurückgeführt zu werden“.607 Das gängige juristische Kriterium zur rechtlichen Bewertung von Körpersubstanzen ist, wie bereits im Kontext der Spermaentscheidung erwähnt, das der „funktionalen Einheit“ von Körper und Körpersubstanz. Die funktionale Einheit wird Wahle zufolge wiederum durch den intentionalen Willen des Rechtssubjektes hergestellt: Entnommene Körpersubstanzen wie das Eigenblut bilden aufgrund eines Rückführungswillens eine funktionale Einheit mit dem Spenderkörper. Körpersubstanzen sind für Wahle somit Körperteile, weil sie aufgrund des Willens des 603 Kant (2000): 212. 604 Vgl. Benbow (2003): 57 & 62 & 66. 605 Vgl. Kant (1977): 356f. & 389 & 392 & 617. 606 Vgl. Braun (1998): 62. 607 Wahle (2005): 21.

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Spenders wieder in den Körper integriert werden sollen. Die Entscheidungsfreiheit ist das entscheidende Kriterium, das das Verhältnis zwischen Person und der Körpersubstanz Eigenblut entscheidend bestimme und das sich wiederum im Schutzbedürfnis des Rechtsträgers niederschlage: „Wird ein nicht zur naturgemäßen Abtrennung determinierter Körperteil vom Körper getrennt, ist das Schutzbedürfnis des Rechtsträgers hinsichtlich dieses Körperteils weitaus größer, als bei der Abtrennung eines hierzu natürlich bestimmten Körperteils.“608 Entscheidet sich ein Mensch zur bewussten Abtrennung eines Körperteils und will der Eigentümer seines Körperteils überdies auch noch die Produktivität seines Körpers verbessern, ihn also durch die willentliche Körperteiltrennung optimieren, so ist die Substanz als Teil des Körpers zu qualifizieren. Übertragen auf die Problematik Nabelschnurblut folgert Wahle daraus, dass das Plazentablut für das Kind gewonnen und eingelagert werden muss, damit dem Blut der Körperstatus zugesprochen werden kann. Denn das Plazenta- und Nabelschnurblut werde eigentlich in einem natürlichen Vorgang vom Kindskörper getrennt, weshalb das Schutzbedürfnis des Rechtsträgers Kind nicht selbstverständlich das gleiche wie bei der Eigenblutspende ist: „Eine fortwährende KörperQualität von Nabelschnurblut lässt sich daher – wenn überhaupt – nur annehmen, soweit es für das Neugeborene selbst konserviert wird. Für Dritte eingelagertes Blut kann keinen Körperteil mehr darstellen.“609 Als Körper des Kindes gilt also nur, was der Optimierung seiner zukünftigen Körperfunktionen dient. Ansonsten müsse es als Sache bewertet werden. Liegt zudem eine lange Zeitpanne zwischen Entnahme und Wiedereingliederung würde das Blut eher einen Sach- und keinen Körperstatus haben.610 Weil ungewiss ist, wann und ob Nabelschnurblut dem Kind zugute kommt, besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen Nabelschnurblut und Blutspende. Die juristische Bewertung der Eigenblutspende als Körperteil liefert deshalb, so Wahle, „keinen tauglichen Ausgangspunkt, um für eigene Zwecke gewonne-

608 Ders.: 31. 609 Ders.: 21. 610 Vgl. ders.: 23.

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nes Nabelschnurblut als Körperteil im rechtlichen Sinne zu qualifizieren“.611 In Wahles Argumentation manifestiert sich ein für die Neuzeit, für die Rechtsordnung und Rechtsphilosophie exemplarisches Körperverständnis, das den Leib und Körpersubstanzen rechtlich nur dann als Körper qualifiziert, wenn es mit der rechtsphilosophischen abstrakten Kategorie der vernünftigen Person über den Willen verbunden ist. Dieses Körperverständnis ist bereits bei Kant angelegt, der für das rechtliche und grundrechtliche Verständnis des Subjektes bis heute maßgeblich ist. Denn für das GG ist das kantische Verständnis des Rechtssubjektes von Günter Dürig bekräftigt worden: Jeder ist ein Mensch „kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich die Umwelt zu gestalten“.612 Kants Rechtssubjekt der Metaphysik der Sitten selbst ist kein gänzlich entkörperlichtes. Vernunftwesen im Sinne Descartes sind für Kant „vernünftelte Wesen“, die ihren Körper negieren. Zur zentralen Kategorie seiner Rechtsphilosophie – der Person – zählt Kant auch den Körper. Zugleich versteht er den Menschen jedoch als Teil eines „Reichs der Zwecke“, weil er sich über seine Leiblichkeit qua Selbstdifferenzierung hinwegsetzen und sie kontrollieren kann. Diese vernünftige Selbstkontrolle leiblicher Sinnlichkeit ist nicht nur ein Aspekt des idealen intelligiblen Rechtssubjektes, sondern Bedingung, um ein Subjekt der Sitten zu werden. Doch auch wenn Kant den menschlichen Körper in seinem Entwurf eines Reichs der Zwecke nicht vollständig ausblendet, ist deutlich die Hierarchisierung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu sehen. Körperlichkeit wird im Begriff des intelligiblen Sittensubjektes zugelassen und teilweise sogar als sein notwendiger Bestandteil bewertet – jedoch nur insofern sie vernünftig organisiert ist. Körperlichkeit in der kantischen Rechtsphilosophie ist deshalb keine ‚sperrige Leiblichkeit‘ des gelebten Körpers oder Ort von Erkenntnisproduktion, sondern vernünftige Körperlichkeit.

611 Ders.: 24. 612 Enders (1997).

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Korrespondierend mit einem neuzeitlichen Begriff vom Subjekt als selbstbestimmt und autonom, muss etwas, um im Universum des Rechts Bedeutung zu erlangen, in Kants Rechtsphilosophie entweder Objekt oder Subjekt des Rechts sein. Ansonsten fällt es aus der Ordnung des Rechts heraus. Den menschlichen Körper schließt Kant zwar ausdrücklich aus der Kategorie der Sache aus und versucht ihn über den Personenbegriff in die Metaphysik des Rechts einzubeziehen. Weil dieser begriffliche Einbezug jedoch vermittelt über die Person geschieht und im Zentrum des Personbegriffs die Vernunftkomponente steht, fällt der Körper der Person nicht mit dem Personbegriff zusammen. Der Körper erhält so keinen eindeutigen rechtssubjektiven Status: Der menschliche Leib fungiert nicht als Zurechnungspunkt von Rechten. Vielmehr ist der Körper das abgespaltene Objekt der kantischen Rechtssubjektivität, das ‚äußere Mein‘ oder eben das Eigentum der Person. Das Rechtssubjekt besitzt seinen Körper als Objekt. Denn der Körper wird in juridischen Eigentumsbegriffen gefasst und als das Fundament von Privateigentum überhaupt beschrieben: „Der Leib ist mein denn er ist ein Theil meines Ichs und wird durch meine Willkühr bewegt.“ Die Selbstbezüglichkeit des Vernunftsubjektes drückt sich folglich essentiell in einem „Rechtsverhältnis zum eigenen Leib aus“: „Insofern dieser [der Leib] in Abhängigkeit zur menschlichen Willkür steht, d.h. den Befehlen eines bewußten Willens gehorchen muß, hat der Mensch damit vermittelt über diese Gehorsamsebene neben dem natürlichen zugleich auch einen rechtlichen Besitzanspruch auf seine Physis. Er konstituiert sich infolge der Befehlsgewalt des bewußten Willens, der der Körper unausweichlich unterliegt.“613

Darüber hinaus ist die körperliche Sinnlichkeit als Körpereigentum binär-geschlechtlich und hierarchisch codiert. Die Rechtsperson, die zur Rechtsperson wird, weil sie zugleich Privateigentümer ist, ist analog zum Begriff der Vernunft, der Weiße europäische und heterosexuelle Mann.614 Kant sagt:

613 Zotta (2000): 21f. 614 Vgl. Kant (1977): 377; Böhme/Böhme (1985): 361 & 366.

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„Ebendasselbe [das intelligible Besitzverhältnis] gilt auch von dem Begriffe des rechtlichen Besitzes einer Person, als zu der Habe des Subjektes gehörend (sein Weib, sein Kind, sein Knecht): […]“615 Und: „Die Erwerbung nach diesem Gesetz ist dem Gegenstande nach dreierlei: Der Mann erwirbt ein Weib, das Paar erwirbt Kinder und die Familie Gesinde.“616

Dass die Frau in Kants Rechtsphilosophie als Sache interpretiert wird, resultiert aus seiner Identifizierung der Frau mit Reproduktion. Sie habe die natürliche Aufgabe, sich fortzupflanzen und zu verewigen,617 womit Kant sie indirekt in die empirische Welt natürlicher Determiniertheit jenseits der intelligiblen Welt verweist. Die Gleichsetzung von Frau und Körpereigentum korrespondiert ebenfalls mit Kants Geschlechtermetaphorik im Begriff der Sinnlichkeit als passiver Gefühlsrohstoff. Der Körper der Frau wird so zum äußeren Mein des Mannes, zu seinem Eigentum, das dem freien männlichen Rechtssubjekt dazu dient, seine äußere Freiheit in der Aneignung ihres Körpers zu demonstrieren. Diese neuzeitliche juridische Codierung des Leibes als Eigentum kommt bei Wahle in aller Deutlichkeit zum Tragen. Das der Plazenta und dem plazentaseitigen Nabelschnurende entnommene Blut klassifiziert Wahle als eigentumsfähige Sache im Sinne des § 90 BGB. Eine rein persönlichkeitsrechtliche Einordnung abgetrennter Körperteile und Substanzen und damit einen rechtssubjektiven Status von Nabelschnurblut lehnt Wahle mit Begründung ab, dass es in der Praxis ein Bedürfnis nach einer Erwerbsmöglichkeit dieser Stoffe gebe. Der Körperstoff Stammzellen aus Nabelschnurblut müsse als eigentumsfähige Sache des Kindes eingeordnet werden. Die Beziehung zum Kind schätzt er ferner als eine beständige persönlichkeitsrechtliche Beziehung ein. Wahle will dem Kind den rechtlichen Zugriff auf seine eigenen Körpersubstanzen sichern: Weder Eltern, noch Firmen, noch der Staat sollen etwaige Gewinne aus den Nabelschnurblutstammzellen abschöpfen können, bevor das Kind sich dessen überhaupt bewusst ist. Fraglich ist jedoch, ob der neoliberalen Inwertsetzung von Körper-

615 Kant (1977): 364. 616 Ders. (1997): 389. Ders. 356f. & 392. 617 Vgl. ders. (2000): 237 & ders. (1977): 559.

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substanzen so Einhalt geboten wird oder ob sich die bioökonomische Eigentumsordnung nicht nur tiefer in den Körper einschreibt. Denn schon bevor dem Kind überhaupt bewusst ist, dass mit seinen Körperstoffen eine Menge Geld zu machen ist, wird es in ein eigentumsrechtliches Verhältnis zu seinen Körpersubstanzen gesetzt. Zugleich wird auch die Frau von ihren Körpersubstanzen und möglichen Profiten getrennt. Ausgeblendet werden jedoch ebenfalls weitere Akteure im Kontext Stammzellen aus Nabelschnurblut. Denn betroffen sind nicht nur die Frau und das Kind, sondern „auch all jene, die mit Entnahme, Verarbeitung, Lagerung und Anwendung des Nabelschnurblutes befasst sind“.618 Alexandra Manzei hat in ihrer Untersuchung auf die Vielzahl von Beteiligten hingewiesen, deren Motive, Verantwortlichkeiten und Interessen im Kontext der Stammzellerschließung aus Nabelschnurblut eine Rolle spielen. Dazu gehören Hebammen und Gynäkologen der Entbindungskliniken sowie die niedergelassenen Geburtshelfer, Hämatologen, Transfusionsmediziner und anderes medizinisches und administratives Personal, das in den Blutbanken die Stammzellpräparate verarbeitet und für Werbung und Aufklärung zuständig ist, Onkologen, Transplantationsmediziner und Kinderärzte, die Stammzellen transplantieren sowie Psychologen, Sozialarbeiter und das Pflegepersonal, das die Empfänger betreut.619 C.4.7 Zusammenfassung Ausgangspunkt für rechtsphilosophische Argumentationen zur Stammzellforschung bildet die Metapher der Rechtsperson, die dem Grundgesetz eingeschrieben ist. Der rechtliche Begriff der Person ist maßgeblich von Kant geprägt und für das GG von Günter Dürig bekräftigt worden. Gegner von Stammzellforschung versuchen eine Analogie zwischen einem biologischem Begriff des embryonalen Lebens und dem rechtsphilosophischen Begriff der Person nachzuweisen. Dazu machen sie den klassischen Organismusbegriff stark, der einen Organismus als in sich identische und selbstorganisierte Einheit begreift. Der Embryonenkörper entspreche einer solchen Einheit und

618 Manzei (2005): 18. 619 Vgl. dies.: 18f.

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müsse folglich als Rechtssubjekt gelten. Befürworter von Embryonenforschung kritisieren diese Analogiebildungen. Das Grundgesetz liefere keine genaue Definition des Menschen. Weil der Mensch aber mehr sei als bloße Biologie, falle der Embryo nicht unter den rechtlichen Personbegriff und sei bloßes biologisches Leben – außerhalb der menschengemachten Rechtsordnung. Sowohl Embryonenschutz- als auch das Stammzellgesetz müssten deshalb überdacht werden. Beide Positionen stehen sich auf den ersten Blick unvereinbar gegenüber. Betrachtet man die Kontrahenten jedoch aus einer machtanalytischen Perspektive, so ergeben sich besonders hinsichtlich impliziter Geschlechterbilder Gemeinsamkeiten. Denn die beiden Argumentationsstränge sind Teil eines juridisch-ökonomischen Dispositivs, das den Frauenleib produktiv erschließt: Befürworter von Embryonenforschung definieren den Begriff der Rechtsperson so, dass der Embryo nicht länger als menschliches Leben, sondern als Biomasse gilt. Damit würden Forscher und Bioindustrie den rechtlich legitimen Zugriff auf die ‚Körpersubstanz‘ Embryo erhalten. Die Frau wird zur Realisierung seiner Vernutzung zugleich als ein Subjekt angerufen, das sich der Gemeinschaft von Rechtsbürgern gegenüber verantwortlich verhält: Sie soll dem ‚Gemeinwohl zuliebe‘ ihre Eizellen, Föten oder Embryonen altruistisch ‚spenden‘. Gegner treten indessen der ökonomischen Vernutzung des Embryos entgegen. Der Frauenleib wird indirekt jedoch einem staatlichen Ziel unterstellt, das ebenfalls produktiven Logiken entspricht: Die Geburt (nicht-behinderter und leistungsfähiger) Staatsbürger. Diese Formen geschlechtsspezifischer Subjektivierung harmonieren mit nicht weniger problematischen Metaphern von Mutter- und Elternschaft. Als Mutter wird die Frau als Bedrohung für den künftigen Staatsbürger und die gesamte Rechtsgemeinschaft imaginiert, wenn sie radikal selbstbestimmt über ihre IVF-Embryonen verfügt. Die Kritik an menschlichen Allmachtsphantasien, die mit Technologien der Menschenproduktion verbunden sind, wird in den Diskursen der Kritiker in das misogyne Bild eines Muttermonsters verkehrt, das beliebig über ihre ‚grundrechtslosen Parias‘ verfügt. Frauen werden damit symbolisch aus der vermeintlich rational- und sittlich gestalteten Rechtsordnung ausgeschlossen und ihnen die freie Verfügung über neue Reproduktionstechnologien verwehrt.

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Im rechtsphilosophischen Nachdenken über Abtreibung wird von liberalistischen Bioethikern wiederum eine weibliche Subjektivität entworfen, die zeitgenössischen neoliberalen Bevölkerungspolitiken entspricht. Denn eine rechtlich ungeregelte Abtreibungspraxis kann zum einen Material für die Stammzellforschung liefern. Zum anderen werden angstbesetzte Formationsprozesse von Subjektivität ausgeblendet, die dazu geführt haben, dass die Frau die bevölkerungspolitischen Ziele in die eigenen Hände nimmt.620 Gemeinsam ist den verschiedenen Diskussionen ferner, dass die Vielfältigkeit von Akteuren und ihren Verantwortungen auf den Embryo und die Frau als zwei quasi unabhängig existierende Rechtssubjekte verengt wird: Verantwortlichkeiten von Ärzten bei In-vitroFertilisationen stehen ebenso wenig zur Diskussion wie die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Menschen mit Behinderung, die durch eine selektive Abtreibungspraxis verhindert werden sollen und in der Diskussion der Nabelschnurproblematik werden die Motive von Geburtshelfern und Kinderärzten nicht in den Blick genommen, die sich für die Spende der Forschungsressource einsetzen. Nicht zuletzt kennzeichnen die Ansätze, dass sie der Inwertsetzung des Körpers nicht angemessen entgegen treten oder sie unterstützen. Wahles Diskussion der Gewinnung von Stammzellen aus Nabelschnurblut zeigt eindringlich, dass die Unantastbarkeit des Körpers in neuen biomedizinischen Prozessen mit einer neuen Intensität in Frage gestellt und der rechtliche Status des Körpers zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden worden ist. Wie in anderen reproduktiven Kontexten werden auch hier Mutter und Kind als autonome Rechtssubjekte konzipiert, die Eigentümer ihrer Körpersubstanzen sind. Mittels biologischer Metaphern wie dem Immunsystem und dem Blutkreislauf wird das Kind als Eigentümer der profitträchtigen Stammzellen begünstigt. Auch wenn Wahle mit seiner Diskussion verhindern will, dass Industrie und Forschung direkten Zugriff auf die Stammzellen erhalten, manifestieren sich doch die bereits bei Kant angelegten Probleme: Trotz ihrer unmittelbaren körperlich-seelischen Involviertheit wird die Frau als politisches Subjekt disqualifiziert und das Kind zum alleinigen Akteur in der Stammzellproblematik erho-

620 Vgl. Trumann (2006): 17.

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ben. Bereits unmittelbar nach der Geburt wird das Neugeborene auf diese Weise in eine juridisch-ökonomische Verantwortungsbeziehung zu seinem eigenen Körper gesetzt und die Eigentumsordnung noch tiefer in seinen (und zugleich in den) Körper (der zukünftigen Rechtsgemeinschaft) eingeschrieben.

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C.5 D AS Z USAMMENWIRKEN

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As a disciplinary practice in its own right, however, bioethics does much more than regulate the parameters of biomedical technologies: it is fully implicated in the inscription of the very body it seeks to describe, and ostensibly to protect. MARGRIT SHILDRICK621 Politics and life – these two words convey something that is neither self-evident nor unchanging. That is to say, while the words may remain the same, their meaning and function, in lay and professional discourses, has varied greatly over time, as have the practices associated with each. The histories of these two terms are intertwined, as are the practices associated with each. NIKOLAS ROSE622

Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage, wie die Bioethik mit der Tatsache umgeht, dass der geschlechtliche Körper in biotechnologischen Praktiken zur Zielscheibe von Inwertsetzungsprozessen geworden ist: Wie ‚reagiert‘ das bioethische Nachdenken auf die zunehmende Inwertsetzung des Körpers? Welche Lösungsvorschläge bieten bioethische Konzepte? Wie werden Körper und Geschlecht thematisiert? In den vorhergehenden Kapiteln habe ich deshalb die interdisziplinären bioethischen Diskurse zur Stammzellforschung untersucht – zum Thema Stammzellforschung, weil diese Forschung nicht nur als wichtige Zukunftsökonomie gilt, sondern auch in besonderem Maße auf den Frauenleib angewiesen ist. Denn für die Stammzellforschung werden in großem Umfang Eizellen aus dem weiblichen Leib benötigt. Er steht somit im Zentrum der Forschungspraxis von Stammzellforschung. Anders ausgedrückt: Die Forschung an menschlichen em-

621 Shildrick (1997): 214. 622 Rose (2007): 41.

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bryonalen Stammzellen impliziert die Inwertsetzung des Frauenleibes.623 Die bioethischen Diskurse boten sich wiederum als Untersuchungsgegenstand an, weil sich an ihnen die Art und Weisen ablesen lassen, wie die Politik die Stammzellforschung zu regulieren versucht: Bioethische Diskurse können als spezifisches politisches Wissen beschrieben werden, das für die Regulierung neuer Bio- und Reproduktionstechnologien samt der sie konstituierenden gesellschaftlichen Kontexte von immenser Bedeutung ist.624 Denn bioethische Auseinandersetzungen finden in einem halbstaatlichen subpolitischen Bereich statt. Sie werden von Experten ausgetragen und sind für politische Meinungsbildungsprozesse und juristische Regelungen entscheidend.625 Gegenstand der Untersuchung waren deshalb nicht die medialen Debatten, die technologischen Praxen oder die gesetzlichen Regelungen, sondern die verwissenschaftlichten bioethischen Diskurse zur Stammzellforschung: Mit den Forschungsergebnissen von Thomson setzt 1998 eine Kontroverse um Stammzellforschung ein, die zunächst in den deutschen Feuilletons geführt wird. Diese Debatte wird dann ins akademische Feld und in die bioethischen Institutionen verlagert. Dort wird sie von Experten aus Wissenschaft und Forschung weitergeführt.626 Der untersuchte Textkorpus entspricht dieser ‚Expertisierung‘ der Stammzelldebatte.627 Im folgenden Kapitel sollen somit die Untersuchungsergebnisse der Diskurse von Bioethikern aus den Lebenswissenschaften, der Theologie, des Rechts und der Philosophie zusammengefasst werden, die zugleich in bioethischen Institutionen wie Ethikkommissionen oder Gremien tätig sind. Es ging folglich nicht darum, die Diskurse innerhalb der Theologie oder der Philosophie zum Thema Stammzellen umfassend darzustellen, sondern die Beiträge der Experten in den Blick zu nehmen, die nicht nur in ihrem jewei-

623 Dazu o. A. 624 Zum Begriff des politischen Wissens o. B.2.2.2. 625 Zur Bioethik als eine Form der Subpolitik o. B.3. 626 Zur Feuilletondebatte vgl. Spieß (2007). 627 Zur Verlagerung und Expertisierung vgl. Schultz (2008): 23; Hermann (2008).

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ligen Fachdiskurs, sondern zugleich auch im Politikfeld der Bioethik agieren.628 Denn sie haben entscheidenden Einfluss auf die Regulierung der neuen Bio- und Reproduktionstechnologien. Diese bioethischen Expertendiskurse der einzelnen Disziplinen habe ich je für sich auf ihren Umgang mit der Stammzellproblematik befragt und versucht, die zentralen Begriffe und Argumentationstrategien zu rekonstruieren, mit denen die Bioethiker die Stammzellproblematik ‚handhabbar machen‘. Darüber hinaus habe ich die jeweiligen epistemischen und teils historischen Bedingungen herausgearbeitet, die von den Bioethikern in ihrem Bezug auf einen bestimmten Begriff eingebracht werden. Denn diese Bedingungen bilden die oft unausgesprochenen Kontexte der Begriffe (C.1 bis C.4). Die Funktion dieses Kapitels ist, die Ergebnisse zusammenzuführen und zu fragen, in welchem Zusammenhang die Wissensproduktionen der einzelnen bioethischen Disziplinen stehen. Doch bevor in den Abschnitten C.5.1 bis C.5.5 die Art des Zusammenhanges inhaltlich vertieft dargestellt wird, kurz einige Vorbemerkungen zur Interdisziplinarität der Bioethik, zum Modus ihrer Wissensproduktion. Zu dem angesprochenen Zusammenhang zwischen den bioethischen Disziplinen kann allgemein gesagt werden, dass er einer ‚Zusammenarbeit‘ entspricht. Diese Zusammenarbeit wird jedoch weder allein und ursächlich von einzelnen Akteuren, von individuellen Bioethikern geleistet, noch lässt sie sich vollkommen auf einen anonymen Diskurs zurückführen, sondern besteht eher in einem spezifischen Zusammenwirken. Dieses Zusammenwirken wird durch die diskursiven Bedingungen in den jeweiligen Disziplinen ermöglicht, die den Rahmen und die Regeln für die Wissensproduktion der Bioethiker vorgeben und die im folgenden Kapitel dargestellt werden sollen. Welche Rolle spielt die Person des Bioethikers für dieses Zusammenwirken? Wie bereits in der Einleitung A erwähnt und im Teil B vertieft kennzeichnet die Bioethik, dass es zwischen ihren akademischen Institutionen, politischen Gremien und außeruniversitären Bioethikinstituten sowie der Industrie enge personelle Verflechtung gibt. Das Feld der Bioethik besteht aus einer überschaubaren Anzahl von Akteuren, von Bioethikern, denen Schlüsselpositionen zugewiesen

628 Zur Eingrenzung des Textkorpus’ o. A.

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werden. Diese Bioethiker erhalten damit die Macht einen ‚bedeutsamen‘ Diskurs zu bioethischen Themen zu generieren. Sie sind deshalb auch für den Zusammenhang der unterschiedlichen Diskurse relevant. Denn sie arbeiten in interdisziplinären Symposien, Gremien oder Räten mit Bioethikern aus anderen Disziplinen zusammen, beziehen sich aufeinander, übernehmen Begriffe und verfolgen damit bestimmte Interessen. Wenn ich also im Folgenden von Diskurs und von Bioethikern spreche, gehe ich davon aus, dass beide aufeinander angewiesen sind, sich gegenseitig bedingen und realisieren, dass also bioethische Wissensprodukte weder völlig unintentional aus einem anonymen Diskurs heraus entstehen noch durch den einen genialen Wissenschaftler, den Bioethiker, geschaffen werden. Grundlegend für dieses Zusammenwirken ist ferner eine Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen. Diese Arbeitsteilung drückt sich am Offensichtlichsten darin aus, dass Bioethik ein interdisziplinäres Unterfangen ist. Gleich ob es um das Forschungsprofil eines Bioethikinstitutes geht, um die Besetzung des Nationalen Ethikrates oder um eine Tagung zum Status des Embryos – der Dialog findet zwischen Repräsentanten der Lebenswissenschaften, der Theologie, der Rechtswissenschaften und der Philosophie statt. Von diesen professionellen Bioethikern selbst wird die bioethische Interdisziplinarität als bestmögliche und angemessene Bearbeitung von Problematiken rund um die neuen Biotechnologien beschrieben. Nach diesem Verständnis vereint die Bioethik die besten Ethikexperten, die über die Kompetenz verfügen, für die übrigen Mitglieder der Gesellschaft allgemeingültige Handlungsanweisungen zu liefern: Theologen sind von Anfang an Teil der Interdisziplinarität, weil sie sich seit langem mit konkreten moralisch-normativen Problemen beschäftigen und deshalb zu den geübtesten Experten gehören. Juristen werden hinzugezogen, weil die neuen biomedizinischen Probleme rechtliche Regelungen fordern. Lebenswissenschaftler sollen wiederum gesichertes biologischempirisches Tatsachenwissen und die neuesten Erkenntnisse über elementare Lebensvorgänge liefern. Philosophie soll schließlich über die Theologie hinaus eine ethische Expertise bereitstellen, die unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Standpunkte überbrückt.629

629 Vgl. Düwell/Steigleder (2003): 18ff.

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Doch bei näherer Betrachtung stellt sich die bioethische Interdisziplinarität als keine vieldimensionale Behandlung gesellschaftlicher Problematiken heraus, in der auch möglicherweise konfligierende, widersprüchliche Positionen Platz haben. Es handelt sich im Gegenteil um eine spezifische – partikulare – Form der Interdisziplinarität. Denn Disziplinen wie die Europäische Ethnologie, die Gender und die Disability Studies gehören zum Beispiel nicht zur institutionalisierten Bioethik. Ein Grund für diese Beschränkung der Bioethik auf die Lebenswissenschaften, die Theologie, die Rechtswissenschaften und die Philosophie liegt darin, dass es sich um Disziplinen handelt, deren bioethischer Zusammenschluss im Ergebnis vor allem eine harmonistische Interdisziplinarität ermöglicht: Ihre Repräsentanten produzieren eine Bioethik, mit deren Hilfe Technologien wie die Stammzellforschung nutzbringend reguliert werden können. Diese produktive Lenkung ist aber nur möglich, weil grundlegende Fragen nach den ökonomischen, geschlechtlichen und behindernden Implikationen vermieden werden. Auch die Notwendigkeit neuer Bio- und Reproduktionstechnologien wird an sich nicht in Frage gestellt. Die eingeschränkte Interdisziplinarität der Bioethik entspricht somit einer Arbeitsteilung, in der die verschiedenen Disziplinen die folgenden Funktionen übernehmen: •



Die Lebenswissenschaften schaffen ‚das Leben‘ als biologisches und vorgesellschaftliches Objekt, das die Basis für weitere ethische Maßnahmen bilden soll und das somit an sich nicht in Frage gestellt, sondern nur noch reguliert werden kann (C.1). Der rechtsphilosophische Diskurs transformiert Zentralbegriffe des lebenswissenschaftlichen, des philosophischen oder des theologischen Diskurses in rechtsphilosophische Begriffe. Diese sollen wiederum das Gerüst für juristische Regelungen und staatliche Politiken zur Stammzellforschung bilden. Im rechtsphilosopischen Diskurs werden folglich lebenswissenschaftliche, theologische und philosophische Diskurse verdichtet und für die verbindliche juridische Festschreibung und ihre Verfestigung in Biorecht, das letztendlich auch mittels Zwang durchgesetzt werden kann, bearbeitet (C.4).

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Der philosophische Diskurs versucht, die individuellen Lebensführungen zu organisieren (C.3). Philosophische Bioethik zielt dabei auf jene Räume, die rechtlich bisher nicht erfasst sind bzw. nicht erfasst werden können und hat aufgrund der neoliberalen Restrukturierung gesellschaftlicher Arrangements im letzten Jahrzehnt eine erhebliche Aufwertung erfahren (B.3.1 & C.3.1.3). Das Selbstverständnis philosophischer Bioethiker entsteht besonders durch Abgrenzung zu theologischen Positionen: Philosophische Bioethik sei im Gegensatz zu theologischer eine säkulare Ethik und deshalb zeitgenössischer (C.3.1). Auch der theologische Diskurs versucht die ‚ethischen Zwischenräume‘ zwischen lebenswissenschaftlichem und rechtlichem Diskurs zu besetzen und zielt auf die Regulierung ‚innerer Subjektivierung‘, das heißt auf die (Selbst-)Lenkung von Personen entlang bioethischer Kalküle (C.2.2.5 & C.2.2.6). Im Hinblick auf die Diskussion zur Stammzellforschung stellen Theologen stärker als Philosophen den Lebensschutz des Embryos in den Vordergrund und wenden sich, wenn auch aus theologischreligiösen Motivationen, gegen die Konstruktion des Embryos als Forschungsrohstoff (C.2.2.2).

Ein Zusammenhang oder besser Ähnlichkeiten bestehen jedoch in der bioethischen Wissensproduktion nicht nur zwischen den verschiedenen Disziplinen, sondern auch zwischen zwei Kontrahenten, die durch eine deutlich umkämpfte Grenze im bioethischen Dispositiv getrennt sind: die Befürworter und die Gegner von Embryonenforschung. Auf den ersten Blick stehen sich die beiden Lager unversöhnlich gegenüber. Die einen fordern quer durch die Disziplinen Recht, Theologie und Philosophie ein Lebensrecht des Embryos. Die anderen sehen im Embryo nichts weiter als einen Zellhaufen und setzen sich für die Zulassung von Stammzellforschung ein. Im Folgenden soll deshalb zunächst das interdisziplinäre Zusammenwirken der Bioethiker in den beiden Diskurssträngen dargestellt werden (C.5.1 und C.5.2). Anschließend sollen die durchaus existierenden Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gegnern herausgearbeitet werden (C.5.3). Diese Gemeinsamkeiten werden vor allem ersichtlich, wenn bioethische Diskurse daraufhin befragt werden, wie sie Inwertsetzungsprozesse

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des geschlechtlichen Körpers thematisieren. In C.5.3.1 soll deshalb beschrieben werden, wie die bioethischen Diskurse eine Kapitalisierung des Körpers begünstigen. Schließlich sollen Vorstellungen von Verwandtschaft und Elternschaft dargestellt werden, die in bioethischen Diskursen ebenfalls regelmäßig angesprochen werden (C.5.4). Denn in den bioethischen Bildern von Elternschaft geht es nicht nur grundsätzlich um die Frage, wie das Zusammenleben zwischen Menschen gestaltet werden soll, sondern auch im engeren Sinne darum, wer die Verfügungsmacht über den potentiellen Forschungsrohstoff, den Embryo, erhalten soll. C.5.1 Das Zusammenwirken der Lebensschützer Im Folgenden stelle ich das Zusammenwirken der Lebensschutzpositionen in den interdisziplinären Diskursen zur Stammzellforschung dar. Dazu beginne ich mit einer Skizze der lebenswissenschaftlichen Modelle und beschreibe dann, wie die anderen Disziplinen auf den lebenswissenschaftlichen Begriffen aufbauen oder sie wenden. Anschließend versuche ich die immanenten Geschlechter- und Körperverständnisse herauszuarbeiten. Lebenswissenschaftler gehören in der Regel zu den Befürwortern der Stammzellforschung. Positionen, die sich gegen eine Vernutzung des Embryos wenden, sind in lebenswissenschaftlichen Diskursen deshalb selten zu finden. Dennoch beziehen sich Lebensschützer aus Theologie, Recht und Philosophie auf entwicklungsbiologische Modelle, um ihre ethischen Argumentationen zu fundieren. Die prominenteste entwicklungsbiologische Metapher ist der klassische Organismusbegriff der Biologie des 19. Jahrhunderts.630 Ihm zufolge handelt es sich beim Organismus um eine Einheit, deren elementares Kennzeichen ein inneres Entwicklungsgesetz ist: Aufgrund eines vitalen Prinzips, eines selbstreferentiellen Antriebs, entwickelt sich jedes kleinste organische Ganze zu immer ausdifferenzierteren und komplexeren Organismusformen. Zentrales Kennzeichen des biologischen Organismusbegriff ist somit, dass er auf einer „Epistemologie der Tie-

630 Dazu o. C.1.1.1.

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fe aufbaut“631: Der Organismus wird als eine abgeschlossene Einheit gedacht, der ein tiefes, inneres Wesen immanent ist und impliziert eine Vorstellung von Ganzheitlichkeit, Selbstidentischsein und Eigengesetzlichkeit. So wird auch im heutigen Lexikon der Bioethik der biologische Lebensbegriff noch mit „Innerlichkeit“, „Selbstdarstellung“, „Selbsterhaltung“ oder „Selbstaufbau“ gleichgesetzt. Die wesentliche Lebensleistung sei „das innere Erleben und Verhalten der Organismen, das in der Selbstdarstellung nach außen in Erscheinung tritt“.632 Diese innere Kraft schreibt die Entwicklungsbiologie auch dem totipotenten Embryo zu: Als kleinste Einheit allen zeitlich nachfolgenden menschlichen Lebens verkörpere er dieses Lebensprinzip in Reinform. Totipotenz wird folglich als die Fähigkeit einer Zelle verstanden, sich zu einem ‚vollständigen Individuum‘ zu entwickeln.633 Die Konzeption des Embryos als selbstreferentieller und -identischer Organismus ist in besonderem Maße für die anderen Disziplinen anschlussfähig. Denn sowohl theologische und philosophische Ethik als auch rechtsphilosophische Ansätze verfügen über Metaphern, die Ähnlichkeiten zum klassischen Organismus aufweisen. Diese Disziplinen können die embryologische Definition menschlichen Lebens aufnehmen und sie in ‚ihrer Sprache‘ – das heißt gemäß den eigenen erkenntnistheoretischen Anforderungen – interpretieren. Wie das vollzogen wird, soll nun genauer dargestellt werden. Am vehementesten werden Lebensschutzpositionen im theologischen Diskurs vertreten. Theologische Bioethiker sehen im Prinzip der inneren Entwicklungsdynamik einen Ausdruck des göttlichen Wirkens, das den Embryo zu einer gottebenbildlichen Person macht. Einer der deutlichsten Ausdrücke dafür findet sich bei Jürgen Becker: „Schon für die befruchtete Eizelle ist allgemein zugestanden, daß sie in sich die Potentialität eines Menschen trägt. Eben dieses Phänomen besitzt eine theologische Innensicht, nämlich die gleichzeitige Teleologie göttlichen Schaf-

631 Rose (2007): 42. 632 Kummer (1998): 525. 633 Dazu o. C.1.1.1.

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fens. Die Kunst, diesen Aspekt christlichen Gottesverständnisses zu suspendieren, müßte m.E. erst noch erfunden werden.“634

Theologische Bioethiker versuchen so, zwischen theologischem und embryologischem Lebensbegriff eine Analogie nachzuweisen: Die lebenswissenschaftliche Konzeption des Embryos als ein sich selbst reproduzierender Organismus werde in der Logik der selbstreferentiellen Vernunft – der Würde – auf den Punkt gebracht. Der biologische Lebensbegriff wird somit als adäquate Beschreibung des Wirkens der Vernunft im Menschsein begriffen. Würde wird jedoch als etwas Absolutes, als ein transzendentales Prinzip gedacht, das nicht durch sich selbst bedingt, sondern von Gott gegeben ist. So kann die theologische Bioethik die epistemische Anforderung der eigenen Disziplin erfüllen. Denn Theologie beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott,635 weshalb auch Würde letztlich im theologischen Diskurs nicht als diesseitiges oder gesellschaftliches Element interpretiert werden kann, sondern als von Gott gegeben gilt. Der biologische Begriff vom Menschen wird deshalb nicht einfach als Fundament ethischtheologischen Philosophierens genommen, sondern theologisch gewendet: Die Biologie drückt nur aus, dass der menschlichen ‚Natur‘ selbst vernünftige – eben göttliche – Prinzipien immanent sind.636 Auch die Kritiker von Embryonenforschung im philosophischen Diskurs beziehen sich auf den klassischen Organismusbegriff. Gleich theologischen Lebensschützern setzen sie menschliches Leben mit personaler Selbstgesetzlichkeit gleich. Die christlich-theologische Facette des Personbegriffs blenden jedoch viele Philosophen aus und versuchen den Personbegriff vernunfttheoretisch so zu fundieren, dass die Vernunft nicht als ein göttliches, sondern als ein originär menschliches Prinzip angesehen wird. Nicht die Gottebenbildlichkeit, sondern die Selbstbezüglichkeit der Vernunft bildet den Rahmen für die philosophische Interpretation des Organismus: Nicht Gott ist der vitale Antrieb, sondern die Würde eines jeden menschlichen Wesens. Würde wird, so philosophische Bioethiker, nicht von Gott verliehen, sondern

634 Becker (2005): 69. 635 Dazu differenzierter o. C.2.1.1. 636 Dazu o. C.2.2.1.

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ist jedem Menschen aufgrund seines Menschseins inhärent. Im philosophischen Diskurs wird der Personbegriff somit mittels des kantischen Würdebegriffs fundiert.637 Im rechtsphilosophischen Diskurs verknüpfen Gegner von Embryonenforschung den klassischen biologischen Organismus- mit dem rechtsphilosophischen Personbegriff, der gleich dem philosophischen maßgeblich von Kant bestimmt ist und durch seine Verankerung im Grundgesetz praktische Relevanz für Rechtssprechung und Gesetzgebung erhalten hat. Kant definierte in der Metaphysik der Sitten eine Person durch ihre äußere Freiheit. Zentrales Kennzeichen der rechtlichen Persondefinition sind folglich das Verhalten und die Taten der Person: Die Person der Rechtsphilosophie ist ein Handlungssubjekt. Denn anders als in der Ethik ist für den rechtsphilosophischen Personbegriff das ‚nach außen‘ in Erscheinung tretende Wirken der Person, die Interaktion mit dem Anderen von Bedeutung.638 Weil der Embryo sein Personsein aber noch nicht realisieren könne, versuchen Rechtsphilosophen mittels des biologischen Organismusbegriffs das Potential zur Grundrechtssubjektivität zu unterstreichen. Damit folgen viele Rechtsphilosophen in ihren Argumentationen der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Abtreibung, die im EschG und im StZG bestätigt wird. Der Gesetzgeber geht dort von einer biologisch-medizinischen Definition des Lebensbeginns aus und legt ihn auf den Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle fest: Dieser Vorgang sei ein wissenschaftliches Faktum, nicht weiter hinterfragbar und stelle deshalb die natürliche Basis für den grundgesetzlichen Würdebegriff dar. Der Embryo entspreche dem grundgesetzlich verankerten Personbegriff und müsse als Rechtsperson geschützt werden. Im rechtsphilosophischen Diskurs werden somit Organismus- und Würdebegriff mit biorechtlichen Regelungen gekoppelt bzw. ihre Verbindung gestärkt.639 Die Personbegriffe in Rechtsphilosophie, Philosophie und Theologie sowie der klassische lebenswissenschaftliche Organismusbegriff

637 Dazu o. C.3.1.2. 638 Vgl. Wildfeuer (1998a): 6. 639 Dazu o. C.4.1.

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weisen folgende Merkmale auf, die ein Zusammenwirken der Diskurse ermöglichen: 1. Sie implizieren einen inneren Wesenskern. 2. Sie gehen von einer abgeschlossenen Einheit aus. 3. Sie nehmen ein teleologisches Moment an, das heißt eine immanente Kraft, die Ursache einer linearen Entwicklung ist. Diese Charakteristika stehen in einem engen Zusammenhang mit einem weiteren Strukturmerkmal, das für die Personbegriffe und den Organismusbegriff wesentlich ist, das jedoch in den bioethischen Disziplinen zugleich kontinuierlich ausgeblendet wird: Die Geschlechterdifferenz. Zunächst zur geschlechtlichen Codierung des lebenswissenschaftlichen Organismusmodells. Die Entwicklung des embryonalen Organismus wurde seit den 1920er Jahren in der Entwicklungsbiologie als „die Entfaltung vorgängig existierender Fähigkeiten, ein Ausführen genetisch verschlüsselter Befehle“ gedacht. Sie wurde ausschließlich im Zellkern lokalisiert.640 Das Zytoplasma wurde dabei mit dem mütterlichen Ei gleichgesetzt. Der Zellkern wurde hingegen mit dem männlichen Sperma identifiziert. Das Erste wurde wiederum als das passive und das Zweite als das aktive Prinzip in der Organismusentwicklung verstanden: Die kausale Bedeutung in der Organismuserzeugung wurde ausschließlich dem Zellkern des Spermas zugeschrieben. Die angenommenen Entsprechungen von Ei und Zytoplasma und Spermium und Zellkern gingen damit von unterschiedlichen Gewichtungen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Beitrag zur Reproduktion aus. Darüber hinaus wurde das Ei nicht nur allgemein mit Weiblichkeit assoziiert, sondern vor allem mit dem weiblichen Körper, der Materie. Der Zellkern wurde hingegen mit dem entkörperlichten und deshalb höherwertigen Prinzip der Genaktivität gleichgesetzt.641 Die Bioethiker aus Theologie, Philosophie und Rechtsphilosophie reproduzieren in ihren Bezügen auf den klassischen Organismusbegriff diese impliziten Geschlechtercodierungen. Sie harmonieren wie-

640 Fox Keller (1996): 315. 641 Dazu o. C.1.1.2.

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derum mit den Vorstellungen von Geschlecht, die im eigenen Fach vorherrschen. Die unreflektierte Übernahme lebenswissenschaftlicher Modelle ist somit nicht die alleinige Ursache für problematische Annahmen von Geschlecht, vielmehr sind den theologischen, philosophischen und rechtsphilosophischen Wissensproduktionen teils sehr ähnliche Vorstellungen eingeschrieben. Die Geschlechtercodierungen verstärken sich somit gegenseitig oder mehr noch: Die Geschlechterdifferenz bildet eine elementare Grundlage ihres Zusammenwirkens. Welche Metaphern von Geschlecht sind den bioethischen Diskursen der Theologie, der Philosophie und des Rechtes eingeschrieben? Für den theologisch-bioethischen Diskurs ist die ersttestamentliche Gottebenbildlichkeit maßgebend, mit der menschliches Leben nicht nur in eine Beziehung zu Gott gesetzt, sondern die Entstehung jeglichen Lebens ausschließlich auf Gott zurück geführt wird: Das Aktive, die initiierende Kraft in allen Lebensprozessen wird nicht im menschlichen Tun gesehen oder aus sich selbst heraus erklärt, sondern als göttliche Essenz interpretiert. Dieser biblische Lebensbegriff setzt sich im Neuen Testament fort und bildet bis heute die Grundlage für die christlich-theologische Anthropologie und ihren Personbegriff. Ihre innere Stabilität bezieht die Metapher der Gottebenbildlichkeit dabei aus der binär-hierarchischen Geschlechterdifferenz der ersttestamentlichen Schöpfungsgeschichte. Denn die Frau wird in der Genesis nicht als Ebenbild Gottes begriffen, sondern erhält einen Anteil an Gott nur über den Mann.642 Auch entsprechen der geschlechtlich gefärbten Gottebenbildlichkeit zwei Körperverständnisse: Der beseelte göttliche Leib und das irdisch-materielle und sündige Fleisch. Der privilegierte Leib wird im biblischen Text und in seinen theologiegeschichtlichen Interpretationen als männlich gedacht und mit Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft auch für den Embryo geltend gemacht. Die Frau wird hingegen als sündiges Fleisch begriffen. Damit wird ihr nicht nur das Prinzip der Lebensgabe abgesprochen, sondern sie wird zudem als lebensfeindliches Prinzip abgewertet.643

642 Dazu o. C.2.1.2. 643 Dazu o. C.2.1.2.

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Zwar kritisiert die feministische Theologie diese sexistischen Implikationen der christlichen Anthropologie seit langem, im aktuellen bioethisch-theologischen Diskurs werden solche kritischen innertheologischen Positionen jedoch nicht rezipiert. So umfasst die Konstruktion des Embryos als gottebenbildliches Subjekt der Würde im theologischen Diskurs ausdrücklich den Körper des Embryos. Er wird als beseelter Leib gedacht und so als Basis gottebenbildlichen Menschseins gesetzt, wodurch der Embryo vor der Vernutzung geschützt werden soll. Der theologische Diskurs setzt sich auf diese Weise, obgleich nicht gesellschaftskritisch motiviert, für den Schutz des Embryos und gegen den Einbezug von Körpersubstanzen in ökonomische Kalküle ein. Den weiblichen Leib fassen theologische Ethiker hingegen in Bildern des Unter-Leibes, der Umweltvoraussetzung oder des Organismus ohne eigene göttliche Zwecke und unterstellen ihn so kirchlich-theologischen Interessen des Lebensschutzes. Daran können wiederum staatliche Interessen der Produktion zukünftiger gesunder Bürger anschließen.644 Zudem stellen Vertreter theologischer Bioethik in der Diskussion der Stammzellenproblematik Bezüge zur Abtreibungsdiskussion her, um ihre Lebensschutzpositionen zu stärken. Damit übernehmen sie jedoch auch die misogynen Annahmen gegenüber Frauen, die abtreiben wollen. So hatte Mitte der 1990er Jahre der damalige Präfekt Joseph Ratzinger in der Donum vitae Frauen implizit als verabscheuungswürdige Verbrecherinnen bezeichnet. Frauen wird jedoch auch in protestantischen Positionen die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung abgesprochen und abtreibende Frauen werden als moralisch verwerflich Handelnde begriffen.645 Welche Rolle spielt die Kategorie Geschlecht für philosophische und rechtsphilosophische Bioethik? Ihren Personbegriffen sind ähnliche Geschlechtercodierungen eingeschrieben, was wiederum aus der gemeinsamen Entstehungsgeschichte des Personbegriffs resultiert.

644 Dazu o. C.2.2.4. 645 Dazu o. C.2.2.5. Schwangerschaften von weiteren Geschlechtern wie beispielsweise als Transmänner klassifizierte Menschen werden im theologischen sowie in den anderen bioethischen Diskursen nicht thematisiert. Sie erscheinen als nicht denkbar.

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Beide Personbegriffe sind maßgeblich durch Kant geprägt.646 Im philosophischen Diskurs wird der Personbegriff teilweise durch Elemente der aristotelischen Philosophie erweitert, weil Aristoteles anders als Kant einen ‚eindeutigen‘ Substanzbegriff bereithält. Aristoteles bietet sich ferner für bioethische Personenbegriffe an, weil er als der Begründer der Embryologie gilt und zugleich eine Naturphilosophie entwarf.647 Aristoteles geht in seiner Kosmologie von einer ‚Partnerschaft‘ zwischen männlichem Geist und weiblicher Materie aus,648 der sich für ihn im kleinen Maßstab bei der Empfängnis und Entwicklung lebender Organismen wiederholt. In Über die Zeugung der Geschöpfe heißt es: „Es spielt sich so ab, wie es vernünftig ist: da das Männchen Gestalt und Bewegungsquelle, das Weibchen Körper und Stoff hergibt, so ist die Arbeit geteilt für Männchen und Weibchen.“649 Die Frau ist somit im Zeugungsvorgang das materielle Prinzip, das Aristoteles auch als ungünstige Bedingung einstuft. Sie liefert das Menstruationsblut, das zwar notwendig für das Wachstum des Embryos ist, dem jedoch das göttliche Element fehlt: Die Frau und das Weibliche im Allgemeinen repräsentieren in seinem Werk „den Mangel

646 Für den rechtsphilosophischen und philosophischen Personbegriff im Allgemeinen spielte historisch nicht allein Kants Personbegriff die entscheidende Rolle. Eine Verrechtlichung des Personbegriffs fand beispielsweise erst durch Hegel statt und in der angloamerikanischen Bioethik ist der locksche Personbegriff bedeutsamer. Vgl. Konersmann (1993): 202. Für die deutsche Bioethik und ihre philosophischen und rechtsphilosophischen Bezüge auf die Person ist jedoch der kantische Personbegriff grundlegend. Zum kantischen Personbegriff o. C.5.3.1. 647 Darüber hinaus sind narrative Elemente aristotelischen und antiken mythischen Denkens in die ersttestamentliche Schöpfungsgeschichte eingegangen. Für die Etablierung der Theologie als Wissenschaft im Mittelalter war die Renaissance aristotelischer Philosophie zudem entscheidend. Dazu o. C.2.1.2. 648 In der Schöpfungsgeschichte schwebt der Geist Gottes über dem Wasser und die Erde ist das Ungeformte. Vgl. Gen 1, 2. 649 Aristoteles (1959a): 62.

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selbst“.650 Dieser Mangel kann im Fortpflanzungsprozess nur durch den männlichen Samen, das göttliche Prinzip, ausgeglichen werden. Der männliche Samen ist folglich für Aristoteles das lebensfördernde Prinzip, weil er das Formpotential beinhaltet. Der Mann gibt im Samen die Form des Fötus an das Weibchen weiter und bewirkt, dass aus der Materie ein Mensch entsteht. Kurzum: Dem männlichen Beitrag wird im Zeugungsvorgang eine bedeutsamere Rolle zugesprochen als der ‚weiblichen Aktivität‘. Es ist somit wiederum die Geschlechterdifferenz, die Aristoteles’ Zeugungstheorie eine innere Struktur gibt und auch seine naturphilosophischen Überlegungen plausibel erscheinen lässt. Diese Körper- und Geschlechtercodierungen werden in bioethischphilosophischen Lebensbegriffen reproduziert. Leben wird als ein teleologischer Prozess verstanden: Mit Zusammentreffen von Ei- und Samenzelle wird eine Entwicklung angestoßen, die sich als eine zweckimmanente darstellt und aus sich selbst heraus entfaltet. Das Ziel ist ein ganzes menschliches Individuum. Auch hier gelten die Frau und der weibliche Körper als zwecklose Materie, die aus sich heraus keinen teleologischen Prozess initiieren können.651 Im rechtsphilosophischen Diskurs werden die misogynen Metaphern mit juridischen Regelungen in Verbindung gebracht. Die Frau wird als Bedrohung für die sittliche Rechtsgemeinschaft imaginiert, weshalb ihr die Verfügungsmacht über ihre Embryonen rechtlich nicht zugestanden wird. Nur eine öffentlich-objektive Instanz wie der Staat könne die Entscheidung über den Lebensbeginn ausüben.652 Gleich theologischen Bioethikern sprechen auch Rechtsphilosophen das Prinzip der Lebensgabe einer übergeordneten Instanz zu und enthalten der Frau wie bereits im Abtreibungsrecht ihre reproduktiven Rechte vor. Denn das bundesdeutsche Recht zu Abtreibung, sowie das EschG und das StZG beinhalten eine staatliche Perspektive, in der der Frauenleib staatlichen Lebensschutzinteressen unterstellt wird. Damit wird der Frau gerade das verwehrt, was in einem bürgerlichen Rechtsstaat not-

650 Tuana (1995): 210. 651 Dazu o. C.3.2. Auch dem kantischen Personbegriff sind problematische Körper- und Geschlechterverhältnisse eingeschrieben. Dazu u. C.5.3. 652 Dazu o. C.4.4.

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wendig ist, um als Rechtsperson gelten zu können: Die rationale Verfügung über den eigenen Körper.653 Das Zusammenwirken der eingeschränkt interdisziplinären Diskurse der Bioethik basiert somit auf hierarchisierende Geschlechtercodierungen. Im Mittelpunkt der interdisziplinär ausgerichteten Diskurse steht nicht das Leben der momentan lebenden Menschen, sondern jenes des sich entwickelnden Organismus’, des zukünftigen Vernunftsubjektes oder Staatsbürgers oder das von Gott gegebenen Lebens. Die Frau verschwindet in diesen Begriffen oder wird abgewertet. Im lebenswissenschaftlichen Diskurs wird sie auf das richtungslose passive Zytoplasma reduziert, das aktive Verzeitlichung – eine Belebung – erst durch den Zellkern erfährt. Im theologischen Diskurs wird das lebensfeindliche weibliche Prinzip in das maternal-uterine Umfeld oder sogar in eine Bedrohung für den Embryo gewendet und im philosophischen Diskurs ist das teleologische Prinzip der Zweckgerichtetheit männlich. C.5.2 Das Zusammenwirken der Befürworter von Stammzellforschung Die bioethischen Diskurse der Befürworter von Stammzellforschung bilden ebenfalls einen Verweisungszusammenhang, der im Folgenden beschrieben werden soll. Wie im vorherigen Abschnitt stelle ich auch hier zunächst die lebenswissenschaftlichen Modelle vor, um dann die Bezüge in philosophischer und rechtswissenschaftlicher Bioethik zu beschreiben.654 Abschließend sollen die impliziten Geschlechterverständnisse dechiffriert werden. Auch für die Befürworter von Stammzellforschung ist ein lebenswissenschaftliches Verständnis des Organismus’ grundlegend. Es handelt sich jedoch nicht länger um das klassische Organismusmodell, sondern um eine veränderte – vielleicht könnte man sagen zeitgenössischere – lebenswissenschaftliche Konzeption des Lebens: um den technizistischen Organismus. Der Begriff der Totipotenz, der bisher

653 Dazu o. C.4.1. 654 Theologische Bioethiker sprechen sich im untersuchten Zeitraum gegen Stammzellforschung aus.

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symbolisch mit dem Beginn des menschlichen Lebens gleichgesetzt wurde, steht nun für das Ergebnis einer Teamwork mehrerer Zellen. Damit versuchen Lebenswissenschaftler wie Henning M. Beier, den Begriff der Totipotenz anders zu besetzen bzw. zur Erosion zu bringen. Denn nur für eine kurze Zeit sei die Gesamtheit der Zellen, aus denen die befruchtete Eizelle besteht, totipotent und könne als zu schützendes Leben gelten. Bereits nach wenigen Zellteilungen sei die Mehrzahl der Zellen nicht mehr totipotent, sondern würde nur noch an der gemeinsamen Totipotenz mitarbeiten, sie jedoch nicht mehr kausal bewirken.655 Lebenswissenschaftlern gelingt es so, den Begriff der Totipotenz zu differenzieren und totipotente Zellen in verschiedene Arten zu unterteilen, von denen nur noch einige unter den Personbegriff fallen.656 Denn so lässt sich per Definition ein Typ von Stammzellen schaffen, auf den Stammzellenforschende als Forschungsrohstoff zugreifen können, ohne den Gegenstand des EschG und des StZG – den embryonalen Menschen – zu vernutzen und rechtswidrig zu handeln. In diese neue Organismuskonzeption ist auch die feministische Kritik am klassischen Organismusmodell eingeflossen. Feministische Embryologinnen wie Christiane Nüsslein-Volhard, heute Ethikrätin und Inhaberin der Biotechnologiefirma Artemis Pharmaceuticals, hatten in den 1970er Jahren vermehrt herausgearbeitet, dass das weibliche Zytoplasma in der embryonalen Organismusentwicklung eine durchaus aktive Rolle spielt. Sie artikulierten damit eine Kritik an der androzentrischen Sicht auf den Befruchtungsvorgang in der Entwicklungsbiologie. Denn bis dahin wurde die Genaktivität des männlichen Zellkerns als entscheidend angesehen.657 Das Netzwerkkonzept stellt die Aktivität der Gene im Zellkern und die des Zytoplasmas* gleichberechtigt nebeneinander.658 Lebenswissenschaftler wie Beier übernehmen diese Kritik insofern, als sie auf die entscheidende Rolle des Zytoplasmas* im Entwicklungsprozess eines ganzen Individuums verweisen. Die ungleichen Zytoplasmaverhältnisse* während der Zell-

655 Dazu o. C.1.1.3. 656 Dazu o. C.1.1.3. 657 Vgl. Fox Keller (1996): 317ff. 658 Vgl. dies.

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teilungen seien dafür verantwortlich, ob sich überhaupt ein ganzes Individuum entwickeln könne.659 Auf diese Argumentation greifen Befürworter der anderen Disziplinen zurück und integrieren die Dissoziation von Totipotenz und potenter Zelle in entwicklungsbiologischen Termini in ihre Beweisführungen. Die Rechtswissenschaftlerin Elisabeth Giwer etwa bezieht sich auf Beiers Verständnis von Totipotenz.660 Ihre rechtswissenschaftlichen Folgerungen bestehen darin, dass keine „eigenständige Schutzpflicht zugunsten der totipotenten Zelle des Embryos“ bestehen könne: Die totipotente Zelle könne nicht als eigenständiger Grundrechtsträger angesehen werden. Denn zwar habe sie das Potential, sich zu einem eigenständigen Menschen zu entwickeln, dazu bedürfe es jedoch weiterer Manipulation.661 Der lebenswissenschaftliche Begriff von Totipotenz könne somit nicht länger zur Begründung von embry-

659 Dazu o. C.1.1.3. 660 Vgl. Giwer (2001): 20. Auch Reinhard Merkel, Rechtsphilosoph, konstatiert, dass § 8 Abs. 1 des EschG den Begriff der Totipotenz voraussetze, ihn aber nicht de lege kläre. Vgl. Merkel (2002a): 24f. Ebenso argumentiert Eve-Marie Engels, Philosophin und Mitglied im Nationalen Ethikrat: „Zur Bestimmung des Potentialitätsstatus’ dieser Zellen sind Forscher auf Analogieschlüsse von ihren Erfahrungen mit embryonalen Stammzellen nichtmenschlicher Säugetiere und auf in England und in den USA durchgeführte Studien zur Toti- und Pluripotenz an menschlichen Blastomeren* angewiesen (Beier 1998, 1999), Herv. i.O. Das Ergebnis dieser Studien ist der Nachweis der Pluripotenz embryonaler Stammzellen der Maus und im Falle menschlicher Blastomeren* der Befund, daß diese vom dritten Tag nach In-vitro-Fertilisation ihre Totipotenz verloren und sich aus ihnen nicht mehr Embryoblast- und Throphoblastzellen entwickelten, sondern nur noch Throphoblastzellen.“ Engels (1999): 172, Herv. i.O. Engels plädiert deshalb dafür, den Begriff der Pluripotenz und nicht der Totipotenz für embryonale Zellen zu verwenden. Vgl. dies. Auch die DFG vertritt diese Position. Vgl. DFG (2003): 10. 661 Giwer (2001): 161. Mit weiterer Manipulation sind zum Beispiel Nährlösungen oder der elektronische Reiz gemeint, der die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle im Reagenzglas erst initiiert.

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onaler Grundrechtssubjektivität herangezogen werden. Giwer leitet ihre juridische Argumentation direkt aus lebenswissenschaftlichen Metaphern ab. Denn aufgrund der ‚biologischen Tatsache‘, dass zur Entwicklung eines ganzen Menschen mehr als eine einzelne Zelle notwendig sei, falle diese Zelle nicht unter den grundgesetzlichen Personbegriff. Befürworter in den verschiedenen Disziplinen argumentieren jedoch auch in Analogie zum technizistischen Organismusmodell. Denn etlichen bioethischen Argumentationen liegt eine Fragmentierung der jeweiligen Lebensbegriffe zugrunde. Dazu wenden sie Argumentationsfiguren konservativ, die auf den ersten Blick dekonstruktivistisch erscheinen. Im philosophischen Diskurs findet die eindeutigste Fragmentierung menschlichen Lebens im Utilitarismus statt. Dort werden ganze Menschengruppen aus dem Personbegriff ausgeschlossen und so zu ‚rein biologischem Leben‘ degradiert. Der locksche Personbegriff definiert eine Person durch das Bewusstsein seiner Selbst durch die Zeit. Die Kontinuität und Identität des Selbst sind nach dieser Definition maßgeblich. Alle Menschen, die diesem Personbegriff nicht entsprechen, gelten folglich nicht als Personen. Darunter fallen beispielsweise Menschen mit geistiger Behinderung, im Wachkoma oder mit einer Demenz.662 In Deutschland hat der Utilitarismus in der akademischen Bioethik nur begrenzten Einfluss.663 Eine Fragmentierung des Lebens vollziehen jedoch auch Bioethiker anderer philosophischer Strömungen. Volker Gerhardt, Mitglied im Nationalen Ethikrat und Befürworter von Stammzellforschung, betont etwa in seinen liberalphilosophischen Ansätzen, dass der Mensch mehr als seine DNA sei und nicht allein durch seine biologischen Anlagen bestimmt werde. Erst mit der Geburt werde der Mensch zum Menschen, denn erst dann trete er in die menschliche Kommunikation und in eine Beziehung zu einem Gegenüber ein. Aufgrund dieser sozialen Beziehungen ist für Gerhardt die

662 Dazu o. C.3.1.1. 663 Vgl. Oduncu (2003): 214; Schöne-Seifert (2002): 96; Lettow (2003a): 129. Das zeigt sich zum Beispiel im Überblicksband von Düwell und Steigleder und im darin enthaltenden kritischen Artikel Düwells zum Utilitarismus. Vgl. Düwell/Steigleder (2003a); Düwell (2003).

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Geburt der entscheidende Einschnitt, ab dem die Menschwerdung beginnt.664 Die gleiche Strategie verfolgt Reinhard Merkel in rechtsphilosophischen Diskursen. Der Rechtswissenschaftler, der für die CDU und die FDP ein Gutachten im Vorfeld des StZG verfasste,665 differenziert ebenfalls zwischen bloßem biologischem und menschlichem Leben. Genetische Dispositionen wie die DNA entsprechen demnach dem bloßen biologischen Leben, von diesem könnten aber keine rechtlichen Definitionen des menschlichen Lebens abgeleitet werden. Bloßes biologisches Leben existiere per se, rechtsphilosophische und rechtliche Definitionen beschäftigten sich aber mit dem menschlichen Leben. Deshalb lieferten auch das Grundgesetz, sowie die einschlägigen biorechtlichen Regelungen und das Abtreibungsrecht nur Leerformeln, die den Menschen nicht erschöpfend bestimmten.666 Im rechtsphilosophischen Diskurs werden auf diese Weise Embryonen aus der Rechtsordnung ausgeschlossen und für den Verwertungsprozess freigegeben. In rechtsphilosophische und philosophische Diskurse ist somit paradoxerweise eine Kritik eingegangen, die auf den ersten Blick dekonstruktivistisch oder beziehungsethisch erscheint, die jedoch im Grunde biopolitisch gewendet wurde: Statt Hierarchisierungen und Normierungen durch eine Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene grundlegend zu hinterfragen, sind neue Grenzziehungen vorgenommen worden. Die DNA, die Geburt oder der autonome Blutkreislauf werden als Kriterium in die bioethische Debatte eingeführt, um Embryonen als nicht-menschlich zu definieren. Doch damit ist lediglich die Grenze zwischen Mensch und Grundrechtssubjekt verschoben worden, um das Leben nach wie vor politisch und nutzbringend zu organisieren. Denn wenn Embryonen nicht länger unter den Begriff des sittlichen oder des grundrechtlichen Subjektes fallen, können sie als Forschungsstoff genutzt werden. Die diskursiven Strategien verlaufen in den bioethischen Disziplinen somit gleichförmig: So wie im philosophischen und rechtsphilosophischen Diskurs der Begriff des Lebens fragmentiert werden soll,

664 Dazu o. C.3.1.1. 665 Dazu o. C.4.2. 666 Dazu o. C.4.2.

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um zwischen Leben mit rechtssubjektivem Status und bloßer Biomasse zu unterscheiden, so wird im lebenswissenschaftlichen Diskurs der Begriff des Lebens in zwei Formen von Totipotenz differenziert: Eine Totipotenz, die einem Potential entspricht, das zur Entwicklung eines ganzen Individuums führt und eine Totipotenz, die nicht mehr per se, sondern nur aufgrund der Mitarbeit anderer Zellen ein Individuum erwirkt. Neu sind die Konstruktionen der Frau. Weil der Embryo nicht als menschliches gottebenbildliches, als zweckimmanentes oder als grundrechtssubjektives Leben begriffen wird, verkörpert auch die Frau nicht länger den Antagonismus gegenüber diesem Leben. Sie muss daher nicht länger in den Bildern des lebensfeindlichen Prinzips, der vernunftlosen Masse oder der Bedrohung für den zukünftigen Staatsbürger abgewertet werden. Dennoch erhält die Frau auch in den Diskursen der Befürworter von Embryonenforschung keinen Status als bürgerliches Subjekt: Subjektpositionen, die mit institutioneller, politischer, symbolischer oder materieller Macht ausgestattet sind, stehen nicht zur Verfügung. Denn der Embryo gilt jetzt als potentieller „Biowert“.667 Diese wertvolle Ressource soll wiederum für die Forschung freigesetzt werden. Laut John D. Gearhart sind deshalb auch „die Beschaffung des Materials [des Nutzembryos] – das heißt die Zustimmungsproblematik“ und die Klärung, „wessen Eigentum dieses Material ist“, wichtige Fragen.668 Bioethiker ‚lösen‘ dieses Problem, indem sie versuchen, das Verhalten der Frau in ganz bestimmte Bahnen zu lenken. Besonders liberalistische Positionen greifen deshalb auf das bioethische Modell des informed consent zurück, in denen die Frau als aufgeklärt Handelnde – als „Subjekt bioethischer Entscheidungen“669 – konzipiert wird. Der zentrale geschlechtsspezifische Appell lautet, dass die Frau im Namen des Fortschritts und des gesellschaftlichen Allgemeinwohls ihre Eizellen spenden soll. Die Frau wird in Diskursen der Befürworter somit als altruistische Spenderin ihrer Körperstoffe konzipiert. Reinhard Merkel fordert etwa um der „weiblichen Selbstbestimmung“ willen, dass es jeder Frau frei stehe,

667 Rubin (2007): 191. 668 Gearhardt (2001): 17. 669 Lettow (2003a).

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nach eingehender Beratung und Aufklärung Eizellspenderin werden zu können. Die „autonome Entscheidung“ dazu solle ihr nicht genommen werden: „Die Entwicklung neuer Heilverfahren in der Medizin ist und war seit eh und je auch auf die altruistische Bereitschaft Freiwilliger angewiesen, im Rahmen eines nach Menschenmaß transparent gemachten und vernünftig beurteilten Risikos den medizinischen Fortschritt zu unterstützen.“670

Auch Norbert Hoerster, liberalistischer Rechtsphilosoph, fordert ein selektives Abtreibungsrecht für Frauen, das er mit der weiblichen Entscheidungsfreiheit begründet. Denn aus Abtreibungen gehen Föten hervor, aus denen wiederum Stammzellen gewonnen werden können. Die Kriminalisierung von abtreibenden Frauen, die dem Diskurs der Gegner eingeschrieben ist, wäre somit ein Hindernis für die Forschung. Dem Modell des technizistischen Organismus ist gleich dem fragmentierten Lebensbegriff in Philosophie und Rechtswissenschaften somit auch ein anderes Körperverständnis eingeschrieben: Der fragmentierte Körper, der als und in einem Netzwerk potentiell mit jedem anderen verschaltbar ist. Im Diskurs der Befürworter wird jeder Körper zu einem Körper ohne Grenzen, zu einer Biomasse, dessen Substanzen ausgetauscht werden können. Denn Stammzellforschung bedarf frei zirkulierender Körperstoffe. So soll aus Stammzellen Körpergewebe gezüchtet werden und auf jeden Körper übertragen werden können: „Mögliche Anwendungsgebiete [von Stammzelltherapien] sind vor allem Krankheiten, bei denen bestimmte Zelltypen degenerieren und nicht vom Körper ersetzt werden können, zum Beispiel Kinderdiabetes (Typ 1) und Morbus Parkinson, auch Multiple Sklerose.“671

670 Merkel (2002a): 193. 671 Nüsslein-Volhard (2004): 187. Vgl. dies. 23. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft beschreibt die möglichen Erfolge einer Transplantation von Stammzellen oder den daraus gewonnenen Geweben so: „Menschen mit chronischen, aber auch akuten Organausfällen infolge vererbter oder erworbener Krankheiten würden von solchen Therapieansätzen bezüg-

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In den lebenswissenschaftlichen Modellen der Befürworter werden somit weder der Körper der Frau, noch der Körper des Embryos als integraler begriffen. Vielmehr ist das Ideal ein flexibler Körper, dessen Teile und Substanzen in biomedizinischen Praktiken nicht länger auf einen Körper beschränkt sind.672 Dem entspricht auch, dass im lebenswissenschaftlichen Diskurs der Frauenleib nicht mehr in der Metapher des passiven diffusen Zytoplasmas* als maternales Umfeld abgewertet, sondern dem männlichen Zellkern gleichgestellt wird. Doch es handelt sich dabei nur auf den ersten Blick um eine ‚Gleichstellung‘. Denn der Frauenleib wird in lebenswissenschaftlichen Praktiken rund um Stammzellforschung letztendlich nicht so freigesetzt, dass Frauen beliebig Erfahrungen jenseits von medizinisch-therapeutischem Wissen machen könnten. Ein Körper ohne Grenzen bedeutet vielmehr einen grenzenlosen Zugriff von Ärzten und Forschern auf Körperstoffe. C.5.3 Zu den Gemeinsamkeiten von Gegnern und Befürwortern Die Vertreter der beiden Stränge werden meist als Gegner beschrieben, als unversöhnliche Kontrahenten und als Anhänger von nicht vereinbaren Überzeugungen. Ihre Diskurse würden deshalb zu Aporien führen, die sich auch durch den Erlass von Gesetzen nicht befrieden, sondern nur als Kompromiss regeln lassen. Doch vollkommen gegensätzlich sind die Argumentationen nur auf den ersten Blick. Denn ein Merkmal, das auf die Diskurse der Gegner wie der Befürworter von Stammzellforschung gleichermaßen zutrifft, sind Substantivierungen. Die Bezeichnung Substantivierung geht auf Mieke Bal zurück.673 Die niederländische Kulturwissenschaftlerin fasst damit zunächst ganz allgemein einen Prozess, in dem ein Verb in ein Substantiv verwandelt wird. Während ein Verb vor allem die Bewegung, das Prozessuale an-

lich Lebenserwartung und Lebensqualität sehr profitieren.“ DFG (1999): 1. 672 Vgl. Fox Keller (1996): 329. 673 Vgl. Bal (2002): 56.

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zeigt, verweist ein Substantiv nur noch auf das Produkt des Prozesses, auf das Verfertigte. Ein Substantiv lenkt die Aufmerksamkeit folglich unmittelbar auf die Einheit. Die übrigen Beteiligten, die das Substantiv hervorgebracht haben, sind hingegen nur noch implizit Teil des Substantivs, werden aber nicht ausdrücklich benannt und spielen deshalb keine Hauptrollen in dem Szenario. Substantivierungen werden regelmäßig in der Sprache und in literarischen Texten vollzogen. Substantivierungen sind auch grundlegende Bestandteile von Theorien. Durch die Vereinheitlichung eines heterogenen Prozesses oder eines gesellschaftlichen Arrangements samt seiner Widersprüche wird ein Begriff zum Teil einer Theorie. Der Begriff wird auf diese Weise analysier- und diskutierbar. Damit wird jedoch auch, so Mieke Bal, „das Aktive des Bezugsgegenstandes, das Narrative der Handlung“ ausgeschlossen: „Mit dem Subjekt der Handlung verschwindet auch die Verantwortung für die Handlung – wobei Verantwortung eine kulturspezifische Bedeutung hat, je nach dem Status des Individuums innerhalb der betreffenden Kultur. Stattdessen bleibt die ganze Erzählung implizit und wird gleichsam durch das abkürzende Substantiv übersprungen.“674

Bal spricht damit die Dethematisierung an, die ein zentrales Kennzeichen der Substantivierung ist. Ausgeblendet werden im Substantivierungsprozess folglich die Kontexte der Begriffe, die vielfältige Bedeutungen, Akteure, Verhältnisse und Verantwortlichkeiten implizieren. Diese Form der Begriffsbildung ist auch für die Bioethik wesentlich: Die Diskurse von Befürwortern und Gegnern verbindet, dass ihre Argumentationen auf der Isolierung einzelner ‚Einheiten‘ beruhen. Dieser Vorgang der Isolierung wird – und das ist das Problematische an den Begriffsbildungen der Bioethik – nicht angezeigt. Wie äußern sich die Substantivierungen in den bioethischen Diskursen konkret? Neben den weiter oben besprochenen Begriffen Organismus, Totipotenz und Person sind die Begriffe Stammzelle und Embryo Produkte von Substantivierungen. Dabei ist der Terminus Stammzelle für die Befürworter von Stammzellforschung wesentlich.

674 Dies.

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Die Bezeichnung Embryo wird dagegen für die Verständigung zwischen den Gegnern genutzt. Das lateinische Wort embryo entsteht um etwa 1700 aus dem griechischen émbryo, das sich wiederum aus der Vorsilbe en für in oder darin und dem Verb bryein für sprossen, strotzen oder keimen zusammensetzt. Embryo steht folglich für das ‚darin Keimende‘. Worin der embryo keimt oder wer oder was ihn keimen lässt, ist jedoch nicht Bestandteil des Begriffs, sondern wird ausgeblendet. Anders beim noch im vorherigen Jahrhundert geläufigem Wort Schwangergehen, das mit der Verbreitung der Bezeichnung embryo zunehmend weniger verwendet und schließlich ganz ersetzt wurde. Schwangergehen zeigte eine Aktivität der Frau an, deren Empfindungen und Körperwahrnehmung im Vordergrund standen: Schwangergehen formulierte Schwangerschaft ausgehend vom Körpererleben der Frau. Bei Barbara Duden heißt es dazu: „Das Verblassen des Verbums Schwangergehen und sein Ersatz durch die technisch visualisierte und medizinisch-terminologisch ausgestreckte entitative Schwangerschaft ist ein Indiz für den Untergang des Kontrastes zwischen somatischer Wahrnehmung und kategorialer Zuschreibung.“675

Zwar bleibt fraglich, ob es vor der Technisierung der Schwangerschaft ein originäres weibliches Schwangerschaftserleben gab und ob der schwangere Körper nicht durch andere Kräfte ebenso ‚fremdbestimmt‘ war; dennoch markiert der Begriff des Embryos eine qualitative Verschiebung in der Konstruktion der Schwangerschaft. So wurde der Embryo nicht nur zunehmend diskursiv vom Frauenleib getrennt, sondern als embryologische Konstruktion auch zum alleinigen Subjekt der Schwangerschaft gemacht. Im aktuellen bioethischen Diskurs versuchen Gegner von Embryonenforschung daran anzuschließen: Das Substantiv Embryo soll vor allem Assoziationen des Menschlichen, des Humanum aufrufen, was beispielsweise in Äußerungen, dass der Embryo sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickele, deutlich wird (C.1.2.1 & C.2.2.2 & C.3.2.1 & C.4.1). Befürworter von Stammzellforschung stellen den Begriff der Stammzelle dagegen. Sie fokussieren ihn nicht nur stärker, sondern

675 Duden (2002a): 16.

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versuchen den Begriff des Embryos für Diskussionen um Stammzellforschung als ‚wissenschaftlich nicht angemessen‘ zu disqualifizieren. Die Bezeichnung Stammzelle soll stattdessen positiv besetzt – und das heißt besonders ‚entmenschlicht‘ – werden. Stammzellforschung habe nichts mit Forschung an Embryonen zu tun, äußert etwa Oliver Brüstle.676 Jürgen Hescheler, ebenfalls Stammzellforscher, sagt dazu: „Moralische Bedenken habe ich nicht, wenn ich embryonale Stammzellen verwende. Für mich stammen sie nicht aus Embryonen.“677 Der Embryo wird somit in Diskursen der Befürworter zur Stammzelle (C.1.2.3 & C.3.1.1 & C.4.2). Der ‚Stamm aller Zellen‘ ist folglich zum Inbegriff der Lebensverbesserung geworden oder anders ausgedrückt: Die Stammzelle steht für ein Heilsversprechen. Die Stammzelle kann deshalb als eines der derzeitig zentralsten Symbole für das ewige oder erlöste Leben – der Nation und des Einzelnen – bezeichnet werden. Anders als der Embryo konnotiert die Stammzelle jedoch nicht mehr das Wohl der Gesellschaft über den ‚Umweg‘ möglichst vieler gesunder zukünftiger Staatsbürger, sondern die Lebensverbesserung des Einzelnen: das Versprechen auf ein Mehr an Lebenszeit, Gesundheit, Leidensfreiheit und Schönheit.678 Dem Bild der Stammzelle haftet etwas Universelleres als dem Embryo an. Bedeutete somit der Embryo eine technisierende Substantivierung, in dessen Prozess vor allem die Frau ausgeblendet wurde, so wird im Begriff der Stammzelle auch der Embryo unsichtbar und die Metapher der Stammzelle von allem Menschlichen und Leiblichen gereinigt. Sowohl der Begriff des Embryos als auch der Stammzelle abstrahiert jedoch vom konkreten Menschen und re-

676 Dazu o. C.1.2.3. 677 Hescheler (2008): 18. Auch Beier, Forschungsbefürworter, lehnt die Verwendung des Begriffs „embryoid body“ ab. Vgl. Beier (2001): 64 Dazu o. C.1.1.3. 678 Wolfgang Huber begründet die Aufgabe seiner strikten Ablehnung von Stammzellforschung mit der Lebensqualität des Einzelnen. In der Stichtagsdebatte 2008 sagt der EKD-Ratsvorsitzender und Berliner Bischof: „Die evangelische Kirche hat immer gefragt, was konkret dem Menschen, dem Leben dienen kann. In dieser Tradition sehe ich mich.“ Huber (2008): 2.

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duzieren komplexe gesellschaftliche Leib- und Lebensverhältnisse auf eine einzelne isolierte Einheit – womit das nächste Thema angesprochen ist. C.5.3.1 Der Leib als Eigentum Stammzellforschung bedeutet in der Praxis, dass vor allem der reproduktive Geschlechterleib – und dabei wiederum besonders der Frauenleib – zum Ort der Inwertsetzung wird. Für die Herstellung von Zelllinien werden Eizellen im großen Umfang benötigt, die wiederum eine belastende und risikoreiche Hormonbehandlung mit sich bringt.679 Der reproduktive Geschlechter- und der Frauenleib sind die rohstoffliche Grundlage für die Stammzellforschung samt ihrer Gewinne. Eine der zentralen Fragen der diskursanalytischen Betrachtung in C war deshalb, wie die Inwertsetzung des geschlechtlichen Leibes in bioethischen Diskursen reflektiert wird. Die Diskurse begünstigen in ihrem Zusammenwirken, dass der Leib ‚von innen‘ von Inwertsetzungsprozessen erfasst werden kann. Diese Begünstigung erfolgt im Diskurs der Gegner indirekt. Denn sie kritisieren Stammzellforschung – sprich die diskursive Konstruktion des Embryos als „Biowert“680. Doch weil Leib und Geschlecht keine systematischen Kategorien in der Bioethik sind, der Leib folglich nicht explizit als Objekt der Forschung reflektiert wird, stellen die Argumentationen und Begriffe keine effektive Strategie dar, um den Leib vor der Inwertsetzung ‚zu schützen‘. Diese indirekte Inwertsetzung des Leibes soll im Folgenden anhand des kantischen Personbegriffs verdeutlicht werden. Anders als im angloamerikanischen stellen im deutschsprachigen Raum nicht utilitaristische, sondern kantische Begriffe, teils erweitert durch aristotelische Elemente, einen zentralen Bezugspunkt für die Debatte um Stammzellforschung dar. Sowohl theologische als auch philosophische Bioethik und nicht zuletzt rechtsphilosophische Ansätze beziehen sich auf Kants Tugend- und Rechtslehre. Kants Begriff der Personenwürde in der Tugendlehre ermöglicht eine Reflexion von gesellschaftlichen Bedingungen und schließt des-

679 Dazu o. A. 680 Rubin (2007): 191.

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halb auch eine Kritik an zeitgenössischen Verhältnissen samt ihrem Zwang zu neoliberaler (Selbst)Vergesellschaftung nicht aus. Ingeborg Maus hat darauf hingewiesen, dass der Imperativ der Maximenprüfung, der Auftrag einer kritischen Infragestellung aller von außen an das Subjekt herangetragenen Verhaltensnormen sei. Denn der Kategorische Imperativ besagt, dass der Einzelne seine Handlungsabsichten auf seine Verallgemeinerbarkeit hin überprüfen und für richtig befinden soll. Der Kategorische Imperativ kann auch als die Forderung bezeichnet werden, so zu handeln, dass sich die Maxime des Wollens zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung eignet. In seiner allgemeinen Form heißt der KI in der Grundlegung so: „Handle nach der Maxime, die sich selbst zum allgemeinen Gesetze machen kann.“ Damit sollen aber im Grunde jegliche Verhaltensanweisungen, folglich auch biomedizinische, überprüft werden. Kants philosophisches Projekt entspricht Maus zufolge deshalb einer kritischen „Entinstitutionalisierung“.681 In bioethischen Ansätzen werden diese Möglichkeiten jedoch nicht genutzt, sondern die kantischen Begriffe neoliberal gewendet. Susanne Lettow hat gezeigt, dass besonders der Würdebegriff bioethische Interpretationen begünstigt, die neoliberale Verhältnisse unterstützen. Denn im Reich der Zwecke hat Kant zufolge alles entweder einen Preis oder eine Würde. An die Stelle eines Gegenstandes, der einen Preis hat, kann auch etwas Anderes als sein Äquivalent gesetzt werden. Was aber eine Würde hat, ist über allen Preis erhaben und hat kein Äquivalent.682 Auch der Würdebegriff ist deshalb entsprechend des Modells des Äquivalententausches gedacht. Denn gerade weil Würde eine Ausnahme darstellt, setzt sie dennoch eine Ordnung voraus, die grundlegend durch Tauschverhältnisse bestimmt ist.683

681 Laut Maus bedeutet die kantische Forderung, dass ein Mensch nur als Privateigentümer zur Rechtsperson werde, dass alle Menschen gleichermaßen Eigentum besitzen sollten. Vgl. Maus (1992): 262. Dazu o. C.3.1.3. 682 Vgl. Kant (2004): 87. 683 „Der Verweis auf die Menschenwürde ist im bioethischen Diskurs [...] den Kosten-Nutzen-Kalkülen nur insofern entgegengesetzt, als er zwar

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Im bioethischen Diskurs erhält dann nicht die kritische Dimension des Würdebegriffs, sondern die Ebene des Tausches Gewicht: Der Embryo samt seines Körpers wird als Subjekt der Würde privilegiert und so als Ausnahme vor der Inwertsetzung des menschlichen Lebens geschützt. Sei es der embryonale Leib als Würdepretendent (Theologie), der in sich teleologisch verfasste zweckrationale Organismus (Philosophie) oder der grundrechtssubjektive Embryo (Rechtsphilosophie) – die bioethische Besorgnis vor dem biotechnologischen Zugriff gilt dem Embryo. Damit wird jedoch der Leib im Allgemeinen im biomedizinischen Kontext dethematisiert und damit in die Sphäre des Äquivalententausches verwiesen – oder belassen. Im Hinblick auf Stammzellforschung handelt es sich dabei um den reproduktiven Geschlechter- und den Frauenleib, der als ‚fötales Gewebe‘, als Nabelschnurblut oder als Eizelle als Forschungsrohstoff produktiv verwendet wird: Der reproduktive Geschlechter- sowie der Frauenleib wird im wahrsten Sinne des Wortes Inwertsetzungsprozessen Preis gegeben.684 Das wird ebenfalls dadurch begünstigt, dass der Frauenleib in Kants Rechtslehre als Eigentum gedacht wird. Den Begriff der Würde bezieht der Philosoph auf die intelligible, den Leib auf die empirische Welt. Ein Mensch kann aber zur intelligiblen Person werden, indem er seine sinnliche Leiblichkeit vernünftig-rational kontrolliert. Anders als in der Kritik der reinen Vernunft wird der Leib somit in der Tugendund Rechtslehre nur zugelassen, sofern er einer organisierten Körperlichkeit entspricht. Der Mensch kann durch den Besitz seines Körpers, durch die rationale Beherrschung seines Körpers, seinen Status als sittliche Rechtsperson demonstrieren. Weil die Person in Kants Rechts- und Tugendlehre jedoch der Inbegriff des weißen, europäischen und bürgerlichen Mannes ist, fällt unter den Begriff des Körpereigentums alles Andere: „sein Weib, sein Kind, sein Knecht“685 und man könnte fortfahren ‚Primitive‘, ‚Schwarze‘ und ‚Irre‘. Die Frau wird zudem mit Reproduktion, mit empirischer Sinnlichkeit und mit

eine Ausnahme behauptet, damit die symbolische Inwertsetzung von Individuen und Körperelementen bereits voraussetzt.“ Lettow (2004): 163: 684 Dazu ausführlich o. A. 685 Kant (1977): 364.

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Irrationalität identifiziert, weshalb auch der Frauenleib nicht Personkörper sein kann, sondern zum äußeren Mein des Mannes wird: Der Frauenleib wird somit zum Eigentum und dient dem Mann, nicht aber der Frau, seine äußere Freiheit in der Aneignung ihres Leibes zu demonstrieren.686 In der bioethischen Debatte werden diese Konstruktionen unterstützt, weil geschlechtsspezifische Fragen überwiegend ausgeblendet werden und eine biomedizinische Praxis nicht thematisiert wird, in der reproduktive Geschlechter- und Frauenleiber zum Rohstoff von Bioindustrien gemacht werden. Doch auch in der Diskussion um Stammzellen aus Nabelschnurblut, in der die Frage des Körpereigentums eindeutig auch hinsichtlich der Frau gestellt wird, erhält die Frau nicht die volle Verfügungsmacht über ihre Körpersubstanzen. Denn dort wird der zukünftige Staatsbürger, das Kind, als Eigentümer der Stammzellen etabliert. Die Frau erhält stattdessen keinen personalen Eigentümerstatus, sondern bleibt Rohstoff.687 Für die Kritik an Stammzellforschung lässt sich folglich festhalten, dass sie die Inwertsetzungsproblematik des geschlechtlichen Leibes nicht erfasst und deshalb seine schleichende Kapitalisierung begünstigt. Denn weder der Körper noch Geschlecht sind Kategorien. Statt die Inwertsetzung von reproduktiven Geschlechter- und Frauenleibern als gesellschaftliches Problem zu diskutieren, wird der Embryo mittels des kantischen Würdebegriffs vor der Inwertsetzung geschützt. Er gilt als alleiniges Subjekt der Würde, als Person und damit als unantastbar. Im Diskurs der Befürworter erfolgt die bioökonomische Erschließung des Leibes hingegen direkt: Weder der embryonale noch der Geschlechter- oder Frauleib werden als Teil der Person angesehen. Stattdessen wird die Verwertung von Leibsubstanzen als notwendiger Einsatz verstanden, um neue Erkenntnisse in der Forschung zu erzielen. Dass es dabei immer auch um beträchtliche Gewinne geht, wird nicht benannt. Im Utilitarismus vollzieht sich die Inwertsetzung von Leibern am Offensichtlichsten. Denn dort wird der Personbegriff so besetzt, dass ganze Menschengruppen aus der Persongemeinschaft ausgeschlossen

686 Vgl. ders. (2000): 237. Vgl. ders. (1977): 559. 687 Dazu o. C.4.6.

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und für die Verwertung freigeben werden. Attribute wie Selbstbewusstsein, Vernunft oder Selbstgewissheit werden als zentrale Kriterien bestimmt, um als Person gelten zu können und Embryonen folglich zu nicht-personalem Leben degradiert. Konsequent zu Ende gedacht könnten auf diese Weise auch die Leiber von Frauen mit geistiger Behinderung oder im Koma für die Eizellgewinnung genutzt werden.688 Doch auch in den anderen Ansätzen werden Begriffe so gewendet, dass die Erschließung des Körpers als potentieller Produktionsstoff möglich ist. Bereits der lebenswissenschaftliche Begriff des technizistischen Organismus’689 begünstigt diesen Prozess. Denn Totipotenz als Teamleistung zu konzeptionieren, entspricht zum einen einer zeitgenössischen Gesellschaftsformation, in der Herrschaft netzwerkartig organisiert ist.690 Zum anderen wird der Embryo als Zellhaufen definiert und so die Herkunft totipotenter Zellen aus dem menschlichen Körper ausgeblendet. Damit wird die Aufmerksamkeit von der Quelle der Zellen, dem menschlichen Leib, auf das universale Heilungspotenzial der Zellen umgeleitet. Bilder wie der universelle Spender verschieben die Aufmerksamkeit von den bereits stattfindenden Prozessen der Wertschöpfung und der Produktionsbedingungen auf noch nicht realisierte Therapieformen. Die Inwertsetzungsprozesse im Labor, die Gewinne, die Dritte daraus ziehen, das heißt die gesamten sozial-ökonomischen Bedingungen, in denen sich biomedizinische Prozesse abspielen, werden ausgeblendet.691 Kultur- und machtanalytisch betrachtet, weisen die Kontrahenten somit Gemeinsamkeiten auf: Beide Diskursstränge sind Teil einer Macht, die versucht, das Leben nutzbringend zu fördern. Die Argumentationen der Gegner entsprechen der „alten Bio-Macht“, wie in A dargestellt, die den Embryo als menschliches Leben setzte und ihn als potentiellen Staatsbürger schützen wollte. In den Diskursen der Be-

688 Körpersubstanzen wie genetische Daten von Menschen mit geistiger Behinderung werden bereits profitabel erschlossen: Dazu o. C.3.1.1. 689 Zum lebenswissenschaftlichen Begriff des technizistischen Organismus’ o. C.1.1.3. 690 Vgl. Kaufmann (2004). 691 Dazu beispielsweise o. C.1.1.4.

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fürworter von Stammzellforschung wird der Embryo hingegen als biologisches Leben gefasst. Diese Macht ist ebenfalls an der Nutzung des Lebens interessiert, jedoch nicht mehr allein durch die Ausrichtung des integralen Körpers im Raum, durch die Produktion möglichst vieler zukünftiger Individuen, sondern durch die Erschließung des Leibinnenraumes. Stammzellforschung ist eine Form der Inwertsetzung von Leibsubstanzen. Der ersten Machtform geht es also um die Produktion ‚gesunder‘ leistungsfähiger und geborener Menschen, der zweiten um die Produktivität des Körperstoffes selbst.

D. Zurück zum integralen Frauenkörper? Eine interdependente Perspektive auf die Inwertsetzung des reproduktiven Leibes

Im Zeitalter neuer Bio- und Reproduktionstechnologien sind Leibgrenzen in Bewegung geraten und der Leib ist zur Zielscheibe von Inwertsetzungsprozessen geworden. Diese Tatsache wird mittlerweile von verschiedenen Ansätzen diskutiert. Eine theoretische Erfassung findet sich momentan vor allem in feministischen Genderbeiträgen. Dort wird die Problematik implizit als eine Infragestellung des Frauenkörpers behandelt. Transgendere und queere Ansätze zu neuen Biound Reproduktionstechnologien, die bislang eher im anglo-amerikanischen Raum zu finden sind, heben wiederum vermeintlich entgeschlechtlichende Potentiale dieser Technologien hervor. Ansätze im Feld der Disability Studies greifen schließlich das Problem Inwertsetzung von Körpern nur sehr vereinzelt auf. Dafür thematisieren sie, dass der biowissenschaftlichen Körperfragmentierung oftmals eine eugenische Komponente eingeschrieben ist.1 1

Bei der Unterscheidung in die drei Forschungsrichtungen Gender, Transgender/Queer und Disability Studies handelt es sich um analytische Unterscheidungen, denen zweifelsohne bestimmte vereinfachende und homogenisierende Entscheidungen vorausgegangen sind. Ich bestreite mit diesen Setzungen nicht, dass Genderpositionen teils auch queere oder enthindernde Perspektiven beinhalten, trans/queere Ansätze auch feministisch und/oder genderwissenschaftlich argumentieren und es im Feld der Disa-

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Ein thematischer Schnittpunkt dieser Ansätze liegt in der Frage nach Körperfragmentierung durch neue Reproduktionstechnologien. Aus einer kritischen interdependenten Perspektive betrachtet weisen die jeweiligen Reflexionen jedoch Leerstellen, teils problematische Vorannahmen auf. These des nachfolgenden Kapitels ist deshalb, dass alle Ansätze für sich allein genommen keine ausreichende theoretische Fassung der Fragmentierung des reproduktiven Leibes sowie seiner damit in einem engen Zusammenhang stehenden Inwertsetzung darstellen. Mehr noch: Diese Thematik ist nur mittels einer interdependenten Perspektive durchdenkbar. Ziel ist somit, die Kategorie Geschlecht so zu rekonfigurieren, dass die Inwertsetzung des geschlechtlichen Leibes möglichst komplex behandelt wird. Anders formuliert: Die Kategorie Geschlecht soll im Hinblick auf die biotechnologische Inwertsetzungsproblematik des geschlechtlichen Leibes so argumentiert werden, dass auch Behinderung und Heteronormativität als konstitutive Bestandteile berücksichtigt werden.2 Dazu sollen wiederum Perspektiven der Gender, der Transgender/ Queer sowie der Disability Studies als kritische Korrektive aufeinander bezogen werden. Ich stelle deshalb zunächst Ansätze zur Körperfragmentierung (und soweit vorhanden zur damit einhergehenden Inwertsetzung) in den Gender Studies, dann in den Transgender/Queer Studies und schließlich in den Disability Studies dar. Ich versuche die

bility Studies Beiträge gibt, die als queer-feministische oder feministische Disability Studies bezeichnet werden können. Die Unterscheidungen dienen der Vereinfachung der Diskussion. Mit diesem angestrebten kritischvergleichenden Aufeinanderbeziehen der verschiedenen Theoriestränge sind also Gefahren der (Re-)Disziplinierung, Identifizierung und Stilllegung heterogener und sich verändernder Felder verbunden, weil ich den einzelnen Strängen Argumentationsfiguren zuordne und damit bestimmte Themen als zentral und stellvertretend setze. Ich beanstande keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch: Die Setzungen sind nicht vollends aus der Luft gegriffen, sondern gehen davon aus, dass es Tendenzen in Form von wiederkehrenden Ideen und Argumentationsfiguren innerhalb der Wissensstränge gibt. Sie versuche ich im Folgenden zu benennen. 2

Zur Begründung, warum ich die Kategorie Geschlecht und nicht Heteronormativität oder Behinderung als Ausgangspunkt setze, o. A.

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jeweiligen Stärken herauszuarbeiten, um sie dann kritisch gegenzulesen – mittels Perspektiven, die ich den beiden anderen Feldern entnehme. Abschließend soll eine ‚Synthese‘ aus allen drei Perspektiven vorgelegt und noch einmal zusammengefasst werden, welche Konsequenzen das für verschiedene theoretische Grundannahmen in den jeweiligen Strängen hat. Der nun folgende Schlussteil soll die Ergebnisse der vorangegangen Kapitel an die Theorieproduktion zu Geschlecht rückbinden: Die im Mittelpunkt stehende Frage, wie die Kategorie Geschlecht konfiguriert werden kann, versteht sich somit auch als theoriepolitischer ‚Gegen‘entwurf zu den diskutierten Bioethiken. Anders als in den Bioethiken geht es an dieser Stelle nicht darum, zu bestimmen was Geschlecht im Kontext neuer Reproduktionstechnologien ist, um anschließend allgemeingültige ethische Maximen ableiten zu können. Stattdessen versuche ich, der bioethischen Perspektive eine gesellschaftstheoretische entgegen zu stellen:3 um die Bedingungen für Subjektivierungen auszuloten und über jene Möglichkeitsräume hinauszugehen, die bislang in den Bioethiken entfaltet werden. In diesem Zusammenhang sei ebenfalls vorab noch einmal daran erinnert, dass das Subjekt der Stammzellforschung ein reproduktives Subjekt ist.4 Stammzelltechniken und Reproduktionstechniken sind aufs Engste verwoben. Bioethik versucht deshalb, die Konstitutionsbedingungen reproduktiver Geschlechtlichkeit auf eine spezifische – nämlich ökonomisch günstige – Weise zu gestalten und zu regulieren. Diese Gestaltungspostulate reproduktiver Subjektivierungsbedingungen verlaufen nicht einheitlich, sondern korrelieren mehr oder weniger stark mit den Zielen der jeweiligen Lager. Sehr vereinfachend ausgedrückt: Stammzellbefürwortern geht es um die Freigabe dieser Substanzen. Lebensschützer wollen wiederum den Status quo wahren und an den bislang gültigen diskursiven Formationen festhalten.5 Ich werde somit im Folgenden vor allem am reproduktiven Subjekt ansetzen, also keine Theorie des Körpers entwerfen, die sich erschöpfend mit

3

Zur Notwendigkeit eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes vgl. Lettow

4

Vgl. Gehring (2006): 79.

5

Zu einer wenigen groben Nachzeichnung o. C.1 bis C.5.

(2003a): 137.

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Eigentumsverhältnissen am Körper auseinandersetzt. Ich werde auch keinen Beitrag zu einer Werttheorie des Körpers leisten. Es geht mir vielmehr darum, einen eher weit gefassten theoretischen Ansatz des fragmentierten Geschlechtersubjektes im Kontext neuer Reproduktions- und Biotechnologien zu durchdenken – mit dem ausdrücklichen Ziel Inwertsetzungsprozessen sperrig entgegen zu stehen. Ich gehe somit davon aus, dass eine theoretische Perspektive auf Inwertsetzungsprozesse nicht an ‚der‘ Inwertsetzungsthematik ansetzen und diese allein und isoliert für sich betrachtet werden kann. Denn das würde auf gendertheoretischer Ebene die Abstrahierung von gesellschaftlichen Leibpraxen wiederholen. Vielmehr ist Stammzellforschung immer schon in reproduktionstechnologische Gendersettings (sowie behindernde und (hetero-)sexualisierende Arrangements) eingelassen und muss auch als solche diskutiert werden.

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D.1 D IE I NWERTSETZUNG DES L EIBES ALS EINE I NWERTSETZUNG DES F RAUENKÖRPERS ? D IE K ATEGORIE G ESCHLECHT IN FEMINISTISCHEN G ENDERANSÄTZEN Der Verdienst feministischer Genderansätze6 ist, auf die Geschlechtlichkeit von Prozessen der Körperfragmentierung und Inwertsetzung mit Nachdruck hingewiesen zu haben. Dabei bildet die von Barbara Duden rekonstruierte Geschlechtergeschichte des Lebens und des Embryos – oder genauer: die Schaffung ‚des‘ Embryos als ontologische und begriffliche Entität und seine damit vollzogene Abspaltung vom Frauenleib – für viele Ansätze zur Inwertsetzung des geschlechtlichen Körpers in den letzten Jahren den impliziten oder expliziten Ausgangspunkt. Die Körperhistorikerin hat bereits vor zwanzig Jahren eindringlich beschrieben, wie der Frauenleib durch Visualisierungstechniken ‚von innen‘ erschlossen und damit für die medizinische, rechtliche und technologische Intervention zugänglich gemacht wurde. So hatten Duden zufolge vor dem 18. Jahrhundert die Begriffe ‚Fötus‘, ‚Embryo‘ und ‚Kind‘ keine festgelegte Bedeutung. Sie wurden, je nachdem, wer sich dazu äußerte, anders imaginiert. In Dudens Worten generierten die „philosophischen oder theologischen Lehren der Männer vom Werden des Menschen und die naturkundlichen Beobachtungen an Hühnereiern oder an

6

Ich beziehe mich mit den Bezeichnungen Gender oder feministische Ansätze an dieser Stelle auf ein Feld im deutschsprachigen Raum, das zweifelsohne weit und heterogen ist. So gehören zu den diskutierten Beiträgen medizinethische und -kritische Ansätze wie beispielsweise Sigrid Graumann oder Hille Haker. Ich diskutiere aber auch ausdrücklich nicht ethisch argumentierende, denormalisierende Positionen wie die von Susanne Lettow oder Andrea Trumann. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Ansätze kann nichtsdestotrotz im ‚Gegenstand‘ Reproduktions- und Biotechnologien und in der Frage nach ihren vergeschlechtlichenden Effekten festgemacht werden und – wie ebenfalls gezeigt werden soll – in einer Vernachlässigung von enthindernden und queer/transgenderen Perspektiven.

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Blutklumpen, an Gewächsen, die aus Frauen abgegangen waren, [...] das moderne biologische ‚Ding‘ nicht.“7

Daraus schlussfolgert sie: „Somatische Wahrnehmungen der Frauen und männliche Lehrmeinungen konnten, wenn auch spannungsreich, nebeneinander gültig bleiben. Erst im 18. Jahrhundert können wir die Schritte zu einer faktengestützten Delegitimierung der somatischen Wahrnehmung und zur Falsifikation der persönlichen Deutungen der Frauen verfolgen.“8

Duden hat damit historisch die epistemologischen Voraussetzungen rekonstruiert, auf der heutige geschlechtsspezifische Inwertsetzungspraxen aufbauen. Denn erst mit den Visualisierungstechnologien wird der Körper als ein durchlässiger, zerstückel- und fragmentierbarer denkbar: Sie haben damit den Weg für seine innere Landnahme und Inwertsetzung bereitet. Für die heutigen feministischen Ansätze zur Inwertsetzung des Körpers hat Duden elementare Vorarbeiten geleistet. Heutige Genderbeiträge, die die Inwertsetzung des Frauenleibes kritisieren, bauen auf Dudens Infragestellung der Denkfigur des Embryos und des Lebens mehr oder weniger explizit auf.9 Die Inwertsetzungsproblematik war für Duden jedoch noch kein Thema. Auf sie machen erst nachfolgende Arbeiten ab etwa Mitte der 1990er Jahre aufmerksam. So thematisiert Ingrid Schneider umfassend und genauestens recherchiert in ihrem Buch von 1995 Föten – der neue Rohstoff, dass Föten zu einem neuen medizinischen und damit auch zu einem ökonomisch-wertvollen Rohstoff werden.10 Drei Jahre vor den Stammzellforschungsergebnissen von Thomson und vier Jahre nach Erlass des ESchG zeigt die Politikwissenschaftlerin, dass die Inwertsetzung des Frauenleibes durch die Nutzung von Föten im

7

Duden (2002a): 17.

8

Dies.: 17f.

9

Einen direkten Bezug gibt es beispielsweise bei Lettow (2003a); Wiesemann (2003); Wersig (2007).

10 Vgl. Schneider (1995).

D. ZURÜCK ZUM INTEGRALEN F RAUENKÖRPER ? | 361

Rahmen von Embryonenforschung in vollem Gange ist. Schneider bezieht sich dazu auf Dudens Ergebnisse. Damit bleibt Schneider nicht allein. Aktuelle Arbeiten wie jene der Philosophin Petra Gehring bauen ebenfalls auf Dudens körperhistorischen Einsichten und ihrer Kritik auf und bringen darüber hinaus das Thema Inwertsetzung des Körpers ein. So konstatiert Gehring gleich Duden, dass der Leib bereits im 18. Jahrhundert durch Visualisierungstechniken zugänglich gemacht wurde. Zusätzlich unterstreicht Gehring aber, dass heute auch ein immenses ökonomisches Interesse an den Körperstoffen besteht: „Das stoffliche Innere der Individuen, das über Jahrtausende unvernutzbares Niemandsland war, terra nullius, wurde im 18. Jahrhundert dem ärztlichen Blick zugänglich gemacht. Heute erscheint nun unser Inneres zur Nutzbarmachung erobert. Ein Menschenkörper enthält von Blutbestandteile über die Knochen bis zum Samen wertvolle Rohstoffe für diversifizierte Märkte. Er ist ein ökonomisches Expansionsfeld – auch außerhalb der Medizin.“11

Die Inwertsetzungsproblematik hat, konstatiert Gehring an vielen Stellen, zudem immer eine geschlechtliche Dimension. Die inwertgesetzten Stoffe stammen nicht nur aus Körpern, sondern vor allem aus geschlechtlichen – aus reproduktiven – Körpern. Das Problematische an Genderansätzen wie dem Gehrings ist jedoch, dass sie diesen reproduktiven Körper ausschließlich als Frauenkörper verstehen: Er sei unentbehrliche Grundlage für verschiedene Technologien. Hören wir Gehring selbst dazu: „Man vernimmt heute leider nur noch wenige feministische Stimmen in der Diskussion um Reproduktionsmedizin. Die IVF bedeutet erstens eine Abtrennung und Beiseitestellung der Frau von dem, was den eigentlichen biotechnischen Rohstoff darstellt, von der autonom wachstumsfähigen Fortpflanzungssubstanz.“12

11 Gehring (2006): 17, Herv. i.O. Vgl. dies.: 19. 12 Dies.: 22f. Auch Sharp schreibt die Inwertsetzungsthematik für den Frauenkörper fest. Die besondere Gefährdung von Frauen für Inwertsetzungsprozesse liege in ihrer Fähigkeit zur biologisch-körperlichen Reproduktion

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Auch die Stammzelltechnik baue auf dieser Abtrennung auf. Anders als noch in den Abtreibungsdebatten sei es nun aber nicht mehr ‚das Leben‘, dem der Frauenkörper unterstellt wird, stattdessen sei der Embryo in der Stammzelldebatte um 2002 in ein technogenes Faszinosum verwandelt worden, „in dessen Namen man Frauenkörper vernutzen darf und kann“.13 An anderer Stelle stellt sie fest: „Und sie [die Stammzelltechnik] ist eine Technik an der Frau. In der Herstellung wird körperlich wie auch sonst einschneidend vorgegangen. Im einfachsten Fall handelt es sich ‚nur‘ um einen Schwangerschaftsabbruch, der die Basistechnologie der Stammzellgewinnung bildet. Im aufwendigeren Fall der Reproduktion von Eiern zwecks Befruchtung im Labor müssen sich Frauen einer sehr viel längeren Behandlung unterziehen. Es sind massive Hormongaben und ebenfalls einer oder mehrere chirurgische Eingriffe nötig. Beides hat keinerlei heilmedizinischen Grund, sondern dient allein einer Rohstoffproduktion.“14

Zwei Punkte sind an den skizzierten Zugängen hervorzuheben. Erstens rekonstruieren sie (aus einer historisch-spezifischen Perspektive) die epistemologische Basis, den Möglichkeitsraum für die Inwertsetzung des Körpers. Besonders Barbara Duden arbeitet körperhistorisch genau heraus, wie es zu der Spaltung von Leib und Embryo kam, die für heutige Verständnisse des reproduktiven Geschlechtersubjektes grundlegend ist. Dieses Körperverständnis ist die Vorbedingung sowohl für ein governementales Geschlechtersubjekt, das rational über seine

begründet: „As outlined above, female reproduction renders women’s bodies particularly vulnerable to regulation and commodification.“ Sharp (2000): 299. 13 Gehring (2006): 25. Ebenso argumentiert Feyerabend: „Die begehrten Stammzelllinien sind patentiert und werden von den entsprechenden Monopolisten gegen Geld vertrieben. Frauen sind es, die diese lukrativen Substanzen liefern sollen. Sie werden damit nicht mehr allein der optimierten Reproduktion unterstellt, sondern biomedizinischen Produktionen und Märkten, die die ‚Lebenszeit‘-Versprechen in bare Münze verwandeln.“ Feyerabend (2002): 28. 14 Gehring (2006): 77f.

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Körpersubstanzen verfügt als auch für eines, dem die Selbstbestimmung abgesprochen wird, indem der Embryo nicht als Zellhaufen, als Substrat, sondern als Leben gesetzt wird und die Frau – konsequent zu Ende gedacht – einem Gebärzwang unterstellt wird. Die Ansätze machen deutlich, dass die Zerstückelung des Körpers in den Lebenswissenschaften kein neutraler, sondern ein binär-geschlechtlicher und zugleich hierarchisierender Prozess ist. Zweitens wird die biotechnologische Fragmentierung des Geschlechterkörpers vor allem in den neueren Ansätzen als in ein ökonomisches Setting eingebunden verstanden. Neben staatliche, theologische oder medizinische Interessen am Embryo treten mit Technologien wie der Stammzelltechnik heute vor allem auch ökonomische. Genderbeiträge werfen somit zu Recht die bedeutsame Frage auf, inwiefern die Durchdringung des therapeutischen Raumes von ökonomischen Kalkülen zur Intensivierung und zur Dynamisierung der Körperfragmentierung führt. Zugleich beschreiben Genderansätze diese Inwertsetzung des Geschlechterleibes jedoch zuvorderst als einen Vorgang, von dem ‚die Frau‘ betroffen ist. Diese ausschließliche Fokussierung auf die Frau und den Frauenkörper ist jedoch problematisch. Sie bedeutet eine implizite Re-Essentialisierung des Frauenkörpers. Dieser Aspekt wird deutlich, wenn die skizzierten feministischen Ansätze zur Körperfragmentierung und -kommerzialisierung aus einer queer/transgenderen Perspektive gegengelesen werden. Für eine solche kritische Perspektive auf die Biowissenschaften ist vor allem die von Judith Butler vollzogene radikale Infragestellung von sex – vom biologischem Geschlechtskörper – sowie eine kritische Erweiterung ihres Verständnisses des Regimes Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren im Hinblick auf die Problematik Körperfragmentierung und neue Technologien hilfreich. In dem mittlerweile für die Geschlechterstudien zum Klassiker gewordenen Das Unbehagen der Geschlechter stellt Butler Anfang der 1990er Jahre die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und kulturellem Geschlecht (gender) in Frage. Auch das biologische Geschlecht, der biologisch-anatomische Geschlechtskörper, so Butlers zentrale These, sei eine kulturelle Konstruktion und könne nicht länger als unterhintergehbarer Bezugspunkt feministischer Theoriebildung dienen. Vielmehr sei er ein kulturelles Ideal, das unser

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Verhalten und die geschlechtliche Performanz immer schon leite. Die Materialität von Geschlechtskörpern entstehe erst durch eine permanente, naturalisierte und ‚unbewusste‘ Wiederholung, durch eine stete Zitation von Geschlechtsnormen.15 Butler stellt mit nicht zuvor gekannter Intensität den integralen Geschlechtskörper und die Annahme natürlicher, ontologischer und biologischer Materialität und Körperlichkeit in Frage. Sie zeigt, dass es sich um Produkte von Machtverhältnissen handelt. Butler versteht Materialität nicht nur als kontingent und hergestellt, sondern weist auch darauf hin, dass diese erst durch Grenzziehungsprozesse entsteht. Anders ausgedrückt: Die Idee eines körperlichen Innen und Außen wird als Unterscheidungsweise entlarvt. Eine Unterscheidungsweise für die geschlechtliche Codierungen konstitutiv sind. So sagt Butler beispielsweise: „Wenn der Körper kein ‚Seiendes‘ ist, sondern eine variable Begrenzung, eine Oberfläche, deren Durchlässigkeit politisch reguliert ist, eine Bezeichnungspraxis in einem kulturellen Feld der Geschlechter-Hierarchie und der Zwangsheterosexualität – welche Sprache bleibt dann noch, um diese leibliche Inszenierung – die Geschlechtsidentität, die ihre ‚innere‘ Bedeutung auf ihrer Oberfläche darstellt – zu verstehen?“16

Wird versucht mittels Butlers Konzept des fragmentierten Geschlechtskörpers auch die inwertsetzende Erschließung des geschlechtlichen Leibinnenraumes in den Biowissenschaften theoretisch zu fassen, ergeben sich jedoch Probleme. Denn Butlers Hinterfragung von Körpergrenzen lässt sich nicht ohne weiteres auf diese Thematik übertragen: Als Butler die Unterscheidungsweise Innen und Außen in den Blick nahm, hatte sie keine Körpermodelle in den Biowissenschaften, nicht die biotechnologische ‚substanzhafte Zerstückelung‘ des Körpers vor Augen. Vielmehr interessierten sie Fragen der Körperperformanz. Dieser Körper, dessen geschlechtliche Materialität Butler zufolge durch permanente Wiederholungen eine relative Stabilität erhält, wird nichtsdestotrotz auf eine spezifische Weise als abge-

15 Vgl. Butler (1991). 16 Dies: 204.

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schlossen gedacht. Zwar hinterfragt Butler einen inneren Wesenskern, der eine Fiktion ist und als ein Ideal fungiert, um Körperperformanz zu leiten. Dennoch geht sie in ihrem Durchdenken der Frage, wie die Materialität durch kontinuierliche performative Akte hergestellt wird, implizit von einem integralen Körper aus, der diese Akte aufführt. Dieser Körper ist jener disziplinierte Körper, den Foucault in Überwachen und Strafen als zentrale Vergesellschaftungsinstanz für moderne Gesellschaften ausgemacht hat.17 Thomas Lemke hat zu Recht angemerkt, dass dieses foucaultsche Körperverständnis nicht hilfreich ist, um aktuellere Entwicklungen im Kontext neuer Biotechnologien zu fassen. Genauer: Um zu durchdenken, auf welche Weisen Leiber und ihr ‚Inneres‘ in Form von Substanzen momentan in Machtmechanismen und Herrschaftsverhältnisse einbezogen werden. Lemke drückt das so aus: „Foucaults Analyse bleibt an die Idee eines integralen Körpers gebunden; seine Untersuchung der Machttechniken, die sich auf den Körper richten, um diesen zu formieren und zu parzellieren, setzen selbst noch die Vorstellung eines in sich geschlossenen und abgrenzbaren Körpers voraus. Es ist allerdings fraglich, ob diese Annahme einer relativ stabilen Einheit des Körpers nicht angesichts neuer politischer Technologien zu modifizieren ist.“18

Diese Überlegungen lassen sich auch auf Butlers Körperbegriffe übertragen: Eine Körperzerstückelung, die im wahrsten Sinne unter die Haut geht und in deren Verlauf dem Körper Substanzen entnommen werden, um sie dann marktförmig zirkulieren zu lassen, hatte Butler ebenso wenig wie die neuen Reproduktionstechnologien vor Augen, als sie sich mit der machtgeleiteten Unterscheidungsweise von Innen und Außen auseinander setzte. Dennoch kann Butlers Konzept der Grenzziehung herangezogen werden, um die momentan stattfindende Re-Essentialisierung des Frauenkörpers in den zuvor skizzierten Positionen sichtbar zu machen.

17 Butler setzt sich in Unbehagen der Geschlechter kritisch mit Foucault auseinander. Für das Thema Körpersubstanzen ist jedoch von Bedeutung, dass sie Annahmen des foucaultschen Körpers übernimmt. 18 Lemke (2004a): 268

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So ist Dudens emphatischer Bezug auf den Frauenleib problematisch, weil sie ihn trotz seiner Historisierung als vorgesellschaftlichen Referenzpunkt idealisiert. Der Frauenkörper wird in den Texten der Körperhistorikerin oftmals als etwas Vorgesellschaftliches und die Stimme der Frau als authentisch gedacht, während der männliche Arzt der Frau als zuvorderst entfremdende Kraft gegenüber steht: „Selbst durch die Augen des Mannes und im Deutsch des Arztes begann ich die Aussagen von Hunderten verschiedener Frauen einzeln wahrzunehmen. [...] Auch wenn sie vom Arzt wohl verzerrt und gestutzt waren, begannen diese Protokolle von authentischen Frauenklagen die mir selbstverständlichen Erwartungen über die Permanenz des Frauenkörpers und seiner Erfahrung durch die Frau zu untergraben.“19

Auch in aktuellen feministischen Ansätzen zu Körperfragmentierung und neuen Bio- und Reproduktionstechnologien ist der Ausgangspunkt ‚die Frau‘ und ‚der Frauenkörper‘: Das reproduktive Subjekt wird als ein geschlechtlich eindeutiges – nämlich weibliches – gedacht. Im Zentrum des feministischen Nachdenkens steht ‚die Frau‘ mit ihren Körpererfahrungen, Interessen und Ängsten. Claudia Wiesemann versucht beispielsweise die Perspektive der Frau in zeitgenössischen bioethischen Diskursen folgendermaßen zu stärken:20 „Eine mit den empirischen Gegebenheiten im Einklang stehende Position hingegen kann den Embryo nur durch die Beziehung zur Frau und primär im Ein-

19 Duden (1987): 8. Dudens Voraussetzung eines eindeutigen weiblichen Körpers, der der modernen Medizin und ihren Technologisierungen vorgängig ist, drückt sich auch in ihrem Aufsatz Die Frau ohne Unterleib aus, der eine polemische Antwort auf Butlers Das Unbehagen der Geschlechter war. Vgl. Duden (1993). Dudens beißende Replik auf Butler ist Teil einer breiten Debatte um die binäre Geschlechterdifferenz im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Maihofer stellt diese Debatte zum Beispiel in ihrer Einleitung dar. Vgl. Maihofer (1995). 20 Wiesemann ist Mitglied in einer Reihe von Ethikkommissionen wie der Ethikkommission der Universität Göttingen oder der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung.

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klang mit den Interessen der Frau schützen. Lebensschutz muss also heißen Schutz der reproduktiven Einheit der Frau mit ihrem Embryo, wobei berücksichtigt werden muss, dass ein Schutz des Embryos nicht gegen die existenziellen Interessen der Frau realisiert werden kann. [...] Von einem Embryo sollte nur dann gesprochen werden, wenn eine Frau beabsichtigt, mit einer befruchteten Eizelle eine Schwangerschaft zu erreichen.“21

Und Sigrid Graumann konstatiert: „Aber auch Fragen bezüglich der Gewährleistung des Schutzes der körperlichen und psychischen Integrität von Frauen in der biomedizinischen Praxis sollten hier thematisiert werden. Dabei denke ich beispielsweise an die systematische Verletzung des Rechts von Frauen auf Selbstbestimmung durch die ungefragte ‚Rasterfahndung‘ nach Föten mit Fehlbildungen per Ultraschall in der ganz normalen Schwangerschaftsvorsorge.“22

Dieser Bezug auf ‚die Frau‘ als Hauptprotagonistin und auf einen integralen Frauenkörper hat verschiedene Gründe, die an dieser Stelle nur kurz angerissen werden können. Ein Grund ist wahrscheinlich der institutionelle Kontext, in dem sich einige der feministischen Medizinkritikerinnen bewegen. Auf meine Email-Anfrage nach den Beweggründen, die auch die Frage enthielt, ob die Idee der Frau als alleiniges reproduktives Subjekt aus strategischen Gründen in biomedizinkritischen Argumentationen stark gemacht würde, antwortete eine feministische Bioethikerin so: „Was die jetzige Situation betrifft, so spielt strategisches Argumentieren sicher eine Rolle ([...] ein Argumentieren mit den Rechten von Lesben, Transgendern etc. würde zu kompliziert sein bspw. [...] auf wenig Gehöhr stoßen, dabei geht es um ‚Minderheiten‘ oder ‚Spezialprobleme‘, teilweise werden andere geschlechtliche Existenzweisen ‚einfach vergessen‘). Teilweise würde man mühsam gewonnene Mehrheiten auch gefährden, wenn zu stark auf die GenderThematik abgehoben wird. Manchmal ist es auch schon so mühsam, nicht über

21 Wiesemann (2003): 146. 22 Graumann (2005): 13.

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‚man‘ sondern über Mann und Frau zu sprechen, dass weder Zeit noch Nerven reichen, weitere Differenzierungen einzubringen.“

Eine andere Bioethikerin argumentiert in einer Antwort ähnlich: „Ich denke, es sind eher die Diskursbedingungen – was wird aufgenommen und was nicht –, die direkt und indirekt (was versuche ich überhaupt zu thematisieren/wie antizipiere ich die Reaktionen darauf) eine Wirkung haben.“

Auch feministische Wissenschaftskritikerinnen wie Andrea Trumann, Susanne Lettow und Erika Feyerabend, die bioethischen Institutionen wie dem Deutschen Ethikrat sehr kritisch gegenüber stehen und nicht darin agieren, gehen ebenfalls implizit von einem geschlechtlich eindeutigen reproduktiven Subjekt – von ‚der Frau‘ – aus.23 Bei Nachfrage würde sicher keine der Autorinnen die gesellschaftliche Konstitution des Körpers abstreiten, sondern das Gegenteil behaupten. Dennoch werden die Schwerpunkte so gesetzt und die Kategorien so gewählt, dass die Fragmentierung und Heterogenität des geschlechtlichen reproduktiven Körpersubjektes aus dem Blick geraten. Kurzum: Die Folie der Theoriebildungen sind ‚die Frau‘ und ‚der Frauenkörper‘. Treffender kann deshalb von einer ‚zwar nicht‘ naturalisierenden ‚aber dennoch‘ begrifflichen Reifizierung dieser beiden zentralen Begriffe in feministischen Beiträgen gesprochen werden.24 Problematisch an diesem emphatischen Bezug auf den Frauenkörper und die Frau als zentrales Subjekt sind verschiedene Punkte, von denen ich hier zwei hervorheben möchte. Erstens erfasst ein Verständnis des Frauenleibes als ein durch Technologien entfremdeter einen Großteil der komplexen Erfahrungen, Motivationen und Interessen von Frauen nicht, die NRTs nutzen. Dudens Verständnis der Frau

23 Vgl. Trumann (2006) & (2007); Lettow (2003a); Feyerabend (2004). 24 Laut Dietze, Yekani und Michaelis geht die Vernachlässigung queerer Perspektiven in feministischen oder gendertheoretischen Arbeiten im deutschsprachigen Raum auf eine Arbeitsteilung zurück: Die deutschsprachigen Gender Studies würden sich nicht mit Fragen nach Sexualität und Heteronormativitätskritik beschäftigen, sondern hätten diese an die Queer Theorie delegiert. Vgl. Dietze/Yekani/Michaelis (2007): 107.

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(sowie das der in ihrer Nachfolge argumentierenden Medizinkritikerinnen) konstruiert Technologienutzerinnen als aufklärungsbedürftig. Sabine Hess hat in ihrer praxisethnologischen Untersuchung zur IVFNutzung jedoch überzeugend dargelegt, dass Frauen die Prozeduren assistierter Befruchtung nicht allein als belastend und entfremdend beschreiben. Selbst- und Fremdbestimmungserfahrungen von Frauen in reproduktionstechnologischen Settings wären vielmehr eng verwoben und könnten vom Einen ins Andere umschlagen. Diese Vielschichtigkeit könnte nicht angemessen mit Begriffen wie Entfremdung oder Verdinglichung erfasst werden. Stattdessen würden etliche Frauen einen nüchtern-rationalen Umgang mit der In-vitro-Fertilisation an den Tag legen. Hess beschreibt das anhand eines Interviews so: „Ähnlich wie andere Interviewpartnerinnen schilderte sie die Behandlungsprozedur zwar als körperlich durchaus beschwerlich, doch ziemlich unemotional als sinnige und ‚notwendige‘ Maßnahme. Der Einsatz biomedizinischen Expertenwissens, von High-Tech-Geräten, die klinische Atmosphäre, das ganze biomedizinische Ambiente und Prozedere der Erzeugung ihrer Kinder in der Petrischale waren ihr keine drei Worte wert. Sie stand dazu und will es auch ihren Kindern erzählen.“25

Hess bezeichnet diese „rationale indirekte Narrativierung des Akts der medizinisch assistierten Zeugung“ als „Techno-Talk“, der „eine Art des Erzählens und Sprechens über technologisch unterstützte Zeugungsmethoden [darstellt,] die zur Künstlichkeit steht“.26 Ärzte würden sich durchaus nicht immer für den Einsatz technologischer Verfahren aussprechen und ihren Kundinnen dazu raten, zunächst Arbeitsbelastungen und -pensum zu reduzieren. Frauen würden dann teils lautstark die Nutzung dieser Technologien einfordern. Zwar ergeben sich aus Hess‘ Ansatz andere Probleme, die im späteren Abschnitt zu den Disability Studies diskutiert werden sollen. Dennoch macht sie überzeugend deutlich, dass die Voraussetzung eines mehr oder weniger integralen, technologisch-entfremdeten und von Inwertsetzung bedrohten Frauenkörpers verhindert, sowohl die komplexen

25 Hess (2008): 5. 26 Dies.

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Subjektivierungsweisen des reproduktiven Subjektes theoretisch zu fassen als auch theorie- oder praxispolitisch damit umzugehen. Zweitens gehen feministische Ansätze darüber hinweg, dass Körperinwertsetzung heute nicht nur ausschließlich Frauenleiber betrifft, sondern umfassender und komplexer operiert: Inwertsetzungsprozesse von Körpersubstanzen beziehen nicht nur geschlechtliche Leiber auch jenseits des Frauenkörpers ein, sie wirken auch innerhalb dieses Einbeziehens binär-hierarchisch und geschlechtsdifferenzierend. Cynthia Daniels zeigt in ihrer Studie zur Samenspende zum Beispiel, dass im Zuge der Technologisierung reproduktiver Abläufe auch Männerleiber zunehmend in Kommodifizierungsprozesse einbezogen werden. Diese Vorgänge würden jedoch nicht alle Männerleiber gleichermaßen betreffen, die Politik der Spermabanken würde vielmehr spezifische hegemoniale Männlichkeitsideale stärken, während sie andere Männlichkeiten als reproduktiv wertlos codieren würde. Bei Daniels heißt es: „Only men meeting standards of ideal masculinity are ‚hired‘ by the bank to ‚donate.‘ [...] Reaching back three generations, they may be rejected if anyone in their family has ever had one of a hundred different diseases or physical disorders. Only men with no hint of history of human frailty or disease, no question about their sexuality, and a physical stature not too different from the ideal fit man are accepted as sperm donors. Sperm banks sell their germinal product through catalogs that feature glossy photos of strapping, handsome male models (in a range of ‚colors‘), presumably selling not just potent sperm, but the masculine ideals represented by such images.“27

Kommodifizierungsprozesse vollziehen sich somit nicht nur binärvergeschlechtlichend, innerhalb dieser Vorgänge werden auch zwischen unterschiedlichen Männlichkeitspostulaten Hierarchien hergestellt. Die ideale, die gesellschaftlich als erwünscht gesetzte, reproduktive Männlichkeit wird nicht nur als befähigt, sondern auch als heterosexuell definiert. Diese Konstruktion des idealen Spenders als hypermännlich und potent, als befähigt und zugleich als heterosexuell, überdeckt, dass die

27 Daniels (2006): 74. Vgl. dies: 98

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Praxis des Spermaverkaufs auf verschiedenen Ebenen eine Infragestellung eben dieses Ideals ist und eher die Verletzlichkeit des männlichen reproduktiven Körpers auf den Punkt bringt. So ‚zeugt‘ die Kommodifizierung von einer Unterminierung von potenter Männlichkeit: Die Anrufung des Mannes als Spender seiner reproduktiven Körpersubstanzen bedeutet eine gewisse Objektifizierung im Kommodifizierungsprozess.28 Zudem heißt die Tatsache der Spermagabe, dass Kunden den biologischen Vater im ‚privaten Umfeld‘ ersetzen und umgehen. Spermagabe kann auch bedeuten, dass ein Paar Gebersamen kauft, weil der männliche Teil nicht zeugungs-fähig ist. Der Mann fällt damit in die Kategorisierung krank oder behindert. Die Praxis der Spermagabe und die Existenz von Spermabanken stellen somit eine Evidenz männlicher Infertilität dar. Sie wird jedoch durch die maskulinistischen Politiken der Spermabanken wie Broschüren, Auswahlkriterien und Ausschlüsse unsichtbar gemacht. Dass das reproduktive Subjekt ein fragmentierte und heterogenes ist, soll im Folgenden noch weiter verdeutlicht werden. Dazu sollen nun transgendere und queere Ansätze zu neuen Reproduktionstechnologien diskutiert und noch einmal auf Butlers Beiträge zurückgekommen werden.

28 Die Frage der Objektivierung von Leibern und Selbstverhältnissen durch Technologien ist ein komplexes und vieldiskutiertes Thema. Vgl. Cussins (1996); Thompson (2005). Wie oben mit Bezug auf Hess und den Frauenleib argumentiert ist damit nicht gesagt, dass diese Objektifizierung allumfassend ist. Der SamengebEr muss sich nicht zwangsläufig als objektifiziert, entfremdet oder verdinglicht wahrnehmen. Mit dem Hinweis auf die objektifizierende Kommodifizierung von Männerkörpern geht es mir an dieser Stelle darum, der feministischen Ansätzen impliziten Konstruktion des Frauenkörpers als besonders verletzlich und kommodifizierbar eine komplexere Sichtweise hinzuzufügen. „Although female bodies dominate scholarly discussions, male bodies may also fall prey to exploitative practices.“ Sharp (2000): 294.

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D.2 P OTENTIALE DER E NTGESCHLECHTLICHUNG ? Q UEERE / TRANSGENDERE P ERSPEKTIVEN 29 AUF N EUE T ECHNOLOGIEN UND K ÖRPERFRAGMENTIERUNG Butler setzt sich, wie bereits angemerkt, nicht mit dem Thema der biotechnologischen Körperfragmentierung oder Heteronormativität im Kontext neuer Reproduktionstechnologien auseinander.30 Nichtsdestotrotz werden einige ihrer Prämissen in queeren/transgenderen Ansätzen zu NRTs rezipiert. Sie schließen vor allem an Butlers Kritik des Zwangsregimes Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren an und spezifizieren es für den Kontext Bio- und Reproduktionstechnologien: Neue Reproduktionstechnologien wie In-Vitro-Fertilisation oder das Klonen würden durch die Verlegung des Zeugungsaktes in ein Labor die gesellschaftliche Bedingtheit der Verbindung von reproduktivem Geschlechtskörper, reproduktiver Geschlechtsidentität, heterosexuellem Koitus, Zeugung und Elternschaft explizieren. Die ‚leibliche Vereinigung‘ von ‚Mann‘ und ‚Frau‘, der heterosexuelle Koitus, würden für die Entstehung neuen menschlichen Lebens bedeutungslos. Kurzum: NRTs würden neue Möglichkeiten eröffnen, um heteronormative Geschlechterregime zu unterwandern. So befinden wir uns für Elaine Graham in einem postbiologischem Zeitalter, in dem die „fixity of the body“ ebenso wie „conventions of heterosexism, bodily determinism and naturalism“ transzendiert werden könnten. Neue

29 Auch nach ausgiebiger Recherche konnte ich keine theoretischen Ansätze zum Thema Reproduktion oder NRTs, geschweige denn zur Inwertsetzung des Leibes, finden, die sich explizit im entstehenden ‚Feld‘ Transgender Studies verorten. Vgl. Stryker (2006); Haggerty/McGarry (2007). Aus diesem Grund beziehe ich mich auf queere Beiträge und versuche sie durch Perspektiven von Transgenderwissenschaftlern und Aktivisten zu ‚erweitern‘. Zur Verwendung der Begriffe transgender/queer oder trans/queer auch o. A. 30 Butler entwickelt in Unbehagen der Geschlechter eine queere Perspektive auf die inhärente Heteronormativität des Gendeterminismus, der Theorie des testisdeterminierenden Gens. Dieses Gen war 1987 als das Gen bestimmt worden, das für die Geschlechtsentwicklung und -determination wesentlich ‚verantwortlich‘ sein sollte. Vgl. Butler (1991): 159f.

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„possibilities for ‚postbiological parenting‘“ würden sich mittels NRTs ergeben.31 Auch Cathy Griggers schreibt in einem oft zitierten Artikel in „the Lesbian Postmodern“: „[…] the technology of cross-uterine egg transplants finally allows a lesbian to give birth to another lesbian’s child, a fact that to date has gone entirely unmentioned by either the medical community or the media.“32

Schließlich finden sich auch in der deutschsprachigen Debatte diese Positionen, wenn Jutta Weber so argumentiert: „Einschlägiges Beispiel dieser [Körper-]Fragmentierung durch die Reprogenetik ist die kollaborative Reproduktion. Bei dieser werden die einzelnen, vom Körper getrennten Bestandteile außerhalb des Körpers im Labor zusammengefügt und in eine Frau verpflanzt, die nicht unbedingt die biologische Mutter sein muss. Hierbei wird eine interessante Trennung von Geschlecht, Sexualität, Reproduktion und Verwandtschaft vollzogen, die an Positionen feministischer und Queer Theory erinnert. An der (technischen) Reproduktion sind diverse SpenderInnen biologischen Materials (z.B. Eispenderin, Samenspender, Leihmutter etc.) sowie weitere AkteurInnen wie ÄrztInnen, SalesmanagerInnen, LaborantInnen, Versicherungen etc. beteiligt und der ehemals (zumindest räumlich) private Akt der Reproduktion wird ins Labor verlagert.“33

Die Positionen bringen auf den Punkt, dass neue Reproduktionstechnologien in der Tat das Potential haben, die soziale Dimension zu explizieren, die Reprodukionsgeschehen immer eingeschrieben ist. Dennoch: Werden solche queeren Perspektiven auf neue Reproduktionstechnologien nun umgekehrt durch die Linse der eingangs dargestellten Genderpositionen betrachtet, erscheinen wiederum gewisse Punkte an ihnen problematisch. Die Betonung, dass Leibgrenzen durch neue Reproduktionstechnologien in Bewegung geraten und dass hetero-

31 Graham (2002): 112. Shildrick argumentiert, wenn auch weniger mit explizitem Bezug auf Heteronormativität, ähnlich. Vgl. Shildrick (1997): 180f. 32 Griggers (1994): 122f. Vgl. Shildrick (1997): 180f.; Stacey (2008): 224f. 33 Weber (2004): 116.

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normative Fortpflanzungsarrangements unterwandert werden können, reicht nicht aus. Gefragt werden müsste vielmehr, wie genau die destabilisierten Leibgrenzen neu gezogen werden. Die meisten queeren Positionen gehen nicht so weit, sondern verbleiben bei der Infragestellung der heteronormativen Stilllegungen von Technologien.34 Ein Beispiel für eine solche Verkürzung ist der bereits weiter oben beschriebene Ansatz von Sabine Hess. Die Praxisethnologin positioniert sich kritisch gegen den ‚Maternalismus‘ feministischer Medizinkritiken: Sie könnten nicht erfassen, dass Frauen unlängst einen ganz eigenen, quasi selbstbewussten Bezug auf neue Technologien entwickelt hätten, der sich auch jenseits kleinfamiliärer und heteronormativer Settings abspielen würde. Hess nennt diesen Bezug auf neue Reproduktionstechnologien Aneignung und führt damit einen Begriff in die akademische Debatte zu neuen Reproduktionstechnologien ein, der sich in den letzten Jahren vor allem in linken Zusammenhängen (wieder) einer großen Beliebtheit erfreut hat.35 Der Begriff erkennt in dieser Debatte an, dass es kein Jenseits von Machtverhältnissen gibt. Aneignung wird als das Aufgreifen und das Wenden eines Elementes der Dominanzkultur – sei es eine Geste, Praktik oder auch einer Technologie – interpretiert. Diese Form der Aneignung hat das Ziel, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern.36

34 Vgl. Stacey (2008); Griggers (1994); Butler (2001a). Zudem reflektieren sie nicht, inwiefern sich queere Körperbegriffe von neuen biowissenschaftlichen Netzwerkkonzepten des Körpers unterscheiden. Denn beide ähneln sich nicht nur oft, die starke Konzentration auf die Destabilisierung von Körpergrenzen und die Aufgabe eines natürlichen und vor dem Zugriff von Technologien zu schützenden Frauenkörpers scheint in queeren Ansätzen auch zu einem relativ unkritischen Bezug auf NRTs geführt zu haben. 35 Vgl. Hess (2008): 7. 36 Die Nummer 28 der Zeitschrift Arranca! hieß zum Beispiel schlicht Aneignung. Vgl. Arranca! (2003). Der Beitrag Politik der Aneignung von der rätekommunistischen Gruppe La Banda Vaga ist ein weiteres Beispiel. Vgl. La Banda Vaga (2004). Über diesen ‚bewegungspolitischen Kontext‘ hinaus verwendet auch Marx den Begriff der Aneignung. Candeias bemerkt, dass das linke Interesse am Aneignungsbegriff erstaune, weil Marx

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Doch gerade das geschieht in den Vorgängen, die Hess beschreibt, nicht. Eher handelt es sich um das offensive Einfordern eines freien Zugangs zu NRTs. Diese Technologienutzung kann dann zwar durchaus heteronormative Verwandtschaftsarrangements unterwandern. Dennoch steht im Mittelpunkt die Erfüllung des biogenetischen Kinderwunsches, der durch die Ausbreitung von neuen Reproduktionstechnologien als gesellschaftliches Ideal weitere Untermauerungen erfährt. Auch Kommodifizierungsprozessen steht ein solcher Ansatz alles andere als sperrig entgegen. Durch Hess’ Überbetonung der individuellen Perspektive, durch ihre starke Fokussierung auf das Subjekt, gelangen Herrschaftsverhältnisse aus dem Blick.37

Aneignung in erster Linie als kapitalistische Aneignung von Mehrwert begreift. Mit Marx könnte eher von einer Aneignung von ‚unten‘ gesprochen werden, eine Perspektive, die er „in den Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung und der Entwicklung der Produktivkräfte“ formuliert. Vgl. Candeias (2004). Zur Geschichte und zu den problematischen Implikationen des Aneignungsbegriffs vgl. Jaeggi (2002). Theoretiker der Cultural Studies gehen schließlich davon aus, dass kulturelle Produkte kreativ angeeignet werden können und beschreiben damit beispielsweise einen Vorgang, in dem ein Zuschauer einem Film Bedeutung zuweist. Diese Bedeutung, so eine der zentralen Aussagen, kann durchaus von derjenigen abweichen, die der Produzent des kulturellen Produktes vorgesehenen hatte. Vgl. Hall (1980). 37 Diese Probleme ergeben sich meines Erachtens daraus, dass Hess mit einem gouvernementalen Ansatz arbeitet, innerhalb dessen sie wiederum stark Selbstverhältnisse und Möglichkeiten ihrer kreativen Umarbeitung fokussiert (wie bereits in ihrer Doktorarbeit zu Au-Pairs). Zwar spricht Hess von einem gouvernementalen Bummerang-Effekt, dennoch verbleibt sie zu stark auf der Ebene der Selbstverhältnisse. Wie Antke Engel oder Brigitte Bargetz zusammen mit Gundula Ludwig herausgearbeitet haben, kann eine governementale Perspektive auf das Selbst, oder besser: auf Selbsttechnologien einen Einstiegspunkt bieten, um sich gesellschaftlichen Verhältnissen theoretisch anzunähern. Die Betonung liegt aber auf Einstieg: Selbstverhältnisse können einen Ausgangspunkt für eine Gesellschaftsanalyse bilden, die dennoch über die Ebene des Selbst hinausgehen sollte. Hess verbleibt jedoch auf Ebene des Subjektes und bei der be-

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Auf einer praxis-politischen Ebene im engeren Sinn korrelieren die Schwächen queerer Ansätze in theoretischen Beiträgen dann mit bloßen Liberalisierungsforderungen. Butler beschreibt in einem Interview ihre Sicht auf neue Reproduktionstechnologien beispielsweise so: „I am against what we call social engineering of all kinds. We shouldn’t be selecting what kinds of human beings should be made. And I think we shouldn’t fight for biotechnology in order to overcome heterosexuality. The heterosexuals make use of reproductive technology all the time. When a heterosexual couple wants to have children they get usually access to reproductive technology in one way or another. The only question I have is whether gay couples or single women are not given the same access to that kind of technology. For me it is a question of politics of access. [...] I am interested in equal access to reproductive technologies. And I am interested in new forms of kinship.“38

Butler reflektiert an dieser Stelle eugenische Dimensionen, die sie als social engineering bezeichnet. Auch verwehrt sie sich gegen die Begrenztheit einer queeren Position, die die Technologienutzung als einen subversiven entgeschlechtlichenden Akt idealisiert. Nichtsdestotrotz legt sie den Schwerpunkt auf die Frage des Zuganges zu den neuen Technologien. Die kritische Dimension, die bei Butler durchaus vorhanden ist, spielt dann aber in vielen queeren Ansätzen keine Rolle mehr. Ein Beispiel für einen queeren Ansatz, in dem eine technikkriti-

schreibenden Benennung der Praktiken. Vgl. Engel (2002): 58; Bargetz/Ludwig (2007). Dies wird auch, wenn es um Fragen von Eugenik geht, problematisch, wie weiter unten herausgearbeitet wird. 38 Butler (2001a). Auch Graham bewertet die gesetzlichen Zugangsbeschränkungen als heterosexistischen Akt: „At the heart of new reproductive patterns lies a contradiction, even a paradox. While technologically assisted reproductive methods clearly work to render the idea of ‚natural‘ conception problematic, working to widen access to parenthood beyond those able to conceive via heterosexual intercourse, in reality legislative and medical institutions have retained the link between reproduction, heterosexuality and the nuclear family by virtue of policies of selective access.“ Graham (2002): 113.

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sche Dimension fehlt, ist beispielsweise Alek Ommert. Ihr Ziel ist, eine nicht-heteronormative Perspektive auf Abtreibung zu entwickeln. Bei ihr heißt es: „Dazu [zum Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung] gehört auch der freie und gleiche Zugang zu Reproduktionstechnologien, das heißt die Möglichkeit der Nutzung des medizinischen und technischen Fortschritts, ”

sofern er sicher ist.

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Schließlich verengen auch transgendere Positionen wie die von Transmann e.V. die Diskussion um NRTs auf Zugansbeschränkungen. In einem Positionspapier diskutieren sie die Probleme, die sich für Transgender aus einer NRT-Nutzung ergeben würden, so: „Es besteht theoretisch die Möglichkeit, zuvor gespendetes eingefrorenes Sperma oder Eizellen zu verwenden, um nach dem Umstieg ein Kind zu machen. Jedoch nimmt die Qualität des Spermas mit dem Lauf der Zeit ab. Das Problem dabei ist allerdings, daß man sich gegebenenfalls in einer rechtlichen Grauzone befindet, da noch Uneinigkeit darüber besteht, ob man tatsächlich, wie für die Personenstandsänderung gefordert, dauernd fortpflanzungsunfähig ist, wenn es noch potentiell funktionsfähige Keimzellen gibt. Auch darf man nach erfolgter Namensänderung kein Kind mehr zeugen oder gebären – ansonsten wird die Namensänderung automatisch rückgängig gemacht!“40

39 Ommert (2007): 24. 40 Transmann e.V. (2005): 23. An dieser Stelle ist allerdings von Bedeutung, dass ich aufgrund meiner eigenen Klassifikation als ‚eindeutige Frau‘ sicher nur einen sehr begrenzten Zugang zu den Diskussionen ‚innerhalb der Transcommunity‘ habe. Nach der Präsentation einiger der hier diskutierten Thesen auf einer Transgender Conference in Linköping im November 2009 kam eine Transfrau auf mich zu und machte deutlich, dass innerhalb der Transcommunity diese Themen durchaus kritisch und kontrovers diskutiert werden. Zu benennen sei auch eine E-Mail Korrespondenz mit einem Transgender Aktivisten, der auf meine Frage zum Thema Schwangerschaft von Transmännern Folgendes antwortete: „[...] leider verstehe ich Ihre Frage nicht eindeutig – falls ich es missverstanden habe, bitte noch einmal kurz erklären. Einem Transmann ist es, vorausgesetzt er hat

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In trans/queeren Ansätzen zu neuen Reproduktionstechnologien zeigen sich somit Schwächen der Queer Theory, die in der deutschen Debatte um ihre Rezeption bereits in den 1990er Jahren festgestellt wurden. Butlers Ansatz wurde dafür kritisiert, dass er bei der Forderung der Destabilisierung der Geschlechterbinarität und der Pluralisierung von Geschlechtsidentitäten stehen bleibe, was nicht automatisch zu ihrer Abschaffung, Dehierarchisierung und Entprivilegierung führe.41 In den diskutierten trans/queeren Ansätzen zu NRTs finden sich diese Verkürzungen in transformierter Form wieder: Über die Betonung der entgeschlechtlichenden Potentiale und identitätsbasierte Liberalisierungsforderungen – die Forderung eines freien Zugangs von ‚Lesben‘, ‚Schwulen‘ und ‚Transpersonen‘ zu neuen Reproduktionstechnologien – wird selten hinausgegangen. Die Hervorhebung vermeintlich ‚entgeschlechtlichender Potentiale‘ und die damit verknüpften Forderungen nach freiem Zugang stehen neoliberalen Prozessen der Ökonomisierung nicht sperrig gegenüber,

die Personenstandsänderung hinter sich, genauso wie einem ‚normalen unfruchtbaren Mann‘ möglich, Vater zu werden – über Adoption oder künstliche Befruchtung (in Verbindung mit einer Partnerin, versteht sich). Oder beziehen Sie sich auf die Tatsache, dass das TSG die Entfernung der Keimdrüsen voraussetzt für die Personenstandsänderung? Das ist in der Tat etwas, mit dem auch wir nicht konform gehen. Allerdings werden die Eierstöcke durch die langfristige Hormoneinnahme in der Regel ja sowieso ‚deaktiviert‘, und den meisten, wenn auch natürlich nicht allen Transmännern ist die Vorstellung selbst ein Kind auszutragen ein Gräuel und ein Ding der Unmöglichkeit. Falls es zu diesem Fall kommt, kommen die Akzeptanzprobleme sicherlich nicht nur von Seiten des Gesetzgebers, da es selbst innerhalb der sog. ‚Trans*Community‘ sehr differente Meinungen und Einstellungen zum Thema ‚Mann und Kinderkriegen‘ gibt. Der Idealfall, dass es uns als Männern möglich ist, ein Kind zu zeugen, ist ja leider momentan – und wie ich befürchte, auch in Zukunft – nicht durchführbar. Habe ich Ihre Frage richtig verstanden?“ Deutlich wird nicht nur die Heterogenität von Positionen zum Thema Schwangerschaft von Transmännern mittels NRTs, sondern auch die berechtigte Verwehrung gegen Projektionen und Vereinnahmungen von Gender-Theoretikerinnen. 41 Vgl. Pühl/Wagenknecht (2001) & (2003); Engel (2002): 20.

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mehr noch: sie kommen diesen zupass. So zeigt Bettina Bock von Wülfingen in ihrer diskursanalytischen Untersuchung von zeitgenössischen Debatten über Unfruchtbarkeit, dass Genetiker auch gleichgeschlechtliche Paare vermehrt als ‚Subjekte‘ der Biomedizin – als Kunden von reproduktionsmedizinischen Dienstleistungen – verstehen. ‚Experten‘ würden zunehmend mit den ‚reproduktiven Rechten von Lesben und Schwulen‘ argumentieren, um neue Reproduktionstechnologien gesellschaftlich durchzusetzen. Die sexuellen Praktiken von gleichgeschlechtlichen Paaren treten dabei in den Diskursen in den Hintergrund. Gleichgeschlechtliche Paare werden in den Debatten um Infertilität nicht länger pathologisierend über ihre Sexualität definiert, sondern würden in den Kreis der erwünschten reproduktiven Subjekte aufgenommen. Bock von Wülfingen sieht diese Entwicklung jedoch nicht als Fortschritt, sondern lokalisiert sie in größeren gesellschaftlichen Transformation der Biomacht: „Dies [die Aufweichung geschlechtlicher Identitäten] geschieht nur scheinbar, da die Molekularisierung des diskutierten Zeugungsdiskurses den Hintergrund für diese Art der Geschlechterkrise bildet: Die Körper der potentiellen Eltern und ihre jeweiligen Eigenschaften (inklusive ihre Geschlechts) treten in den Hintergrund, während das Genmaterial ihres wie auch immer entstandenen Embryos der genetischen Analyse und ‚Therapie‘ übergeben wird.“42

Diese Veränderungen des strategischen Ziels innerhalb der Biomacht – nämlich hin zu einem freien Zugang zum Genmaterial – fasst sie mit dem Terminus „Genetisierung der Zeugung“. Anders als die meisten queeren Zugänge rekontextualisiert Bock von Wülfingen somit Diskursverschiebungen und befragt auch queere Wissensproduktionen auf ihren Ort in zeitgenössischen gesellschaftlichen Prozessen und ihre Vereinnahmbarkeit.43

42 Bock von Wülfingen (2007): 308f. 43 Bock von Wülfingen verortet sich selbst im Feld der Queer Theory, was zeigt, dass queere Ansätze selbst wichtige Impulse liefern könnten, um den skizzierten Schwächen entgegenzuwirken. So könnte mit queer auch die Genetisierung von Elternschaft kritisiert werden, die der symbolischen Aufwertung der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle unterliegt und zu

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D.3 D IE U NMÖGLICHKEIT DER M ÖGLICHKEIT REPRODUKTIVER S UBJEKTIVIERUNG : R EPRODUKTION , NRT S UND K ÖRPERFRAGMENTIERUNG AUS S ICHT DER D ISABILITY S TUDIES Weder in den internationalen noch in den deutschsprachigen Disability Studies44 ist das Thema Inwertsetzung von Leibern bislang Gegenstand von systematischer Theoriebildung. Die Inwertsetzung von als behindert klassifizierten Körpern wird im Kontext anderer Problematiken wie Gendiagnostik, Daten oder Forschung an sogenannten Nicht-Einwilligungsfähigen indirekt und nicht als theoretisches, sondern ethisches Problem behandelt.45 Diese Lücke ist ein weiterer Grund, die Kategorie Behinderung in diesem Kapitel als korrektive Perspektive einzubeziehen. Das Hinzunehmen der Kategorie Behinderung soll Zweierlei leisten: Erstens sollen weitere Spaltungen des reproduktiven Geschlechtersubjektes der Stammzellforschung deutlich und Verständ-

einer weiteren Abwertung sozialer Elternschaft geführt hat. Auch Engel stellt die Frage nach ökonomischen Verhältnissen. Vgl. Engel (2003). 44 Ich spreche im Folgenden von Disability Studies, obgleich es sich im deutschsprachigen Raum eher um vereinzelte Ansätze und nicht um eine institutionell verankerte, wissenschaftliche Disziplin – was immer damit auch gemeint ist – handelt. Momentan gibt es an der Universität Hamburg Bestrebungen einen Studiengang Disability Studies aufzubauen. Vgl. Zentrum für Disability Studies (2010). Ferner wird die Inwertsetzung von als behindert klassifizierten Körpern im deutschsprachigen Kontext spärlich und im Rahmen anderer Themen behandelt. Graumanns ethische Perspektive auf den Fall Eisingen oder Grübers Beitrag zum Gendiagnostikgesetz sind Beispiele vgl. Graumann (2001); Grüber (2005). Für den angloamerikanischen Raum ist mir nur Leach Scully bekannt, die sich jedoch nicht mit Inwertsetzung, sondern mit Körperfragmentierung durch Biotechnologien aus Perspektive der Disability Studies beschäftigt. Vgl. Leach Scully (2002). 45 Vgl. Grüber (2005); Graumann (2001). Auch qualitative Ansätze wie zum Beispiel praxisethnologische existieren zu diesem Thema bislang nicht. Vgl. Franklin (2006): 71.

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nisse von Körper und Subjektivierung in feministischer und queerfeministischer Wissenschaftskritik komplexer und heterogener gefasst werden. Zweitens soll die eugenische Komponente im Kontext von Stammzelltechniken als Reproduktionstechniken herausgearbeitet werden, die queer-feministische Ansätze nicht thematisieren und die in feministischen Ansätzen nicht komplex genug gefasst wird. D.3.1 Komplexe Subjektivierungsbedingungen Die Frage nach Behinderung macht gleich einer queeren Perspektive darauf aufmerksam, dass ‚das‘ governmentale Rohstoffsubjekt als ein reproduktives in sich gespalten ist: Subjektivierungssituationen sind komplexer, als von feministischen und trans/queeren Konzepten zu Reproduktivität angenommen wird. Weder Genderkonzepte noch trans/queere Heteronormativitätskritik tragen der Tatsache Rechnung, dass reproduktive Settings Menschen mit Behinderung vor allem mit Mechanismen sexueller und geschlechtlicher Neutralisierung konfrontieren: Eine reproduktive Identität wird Menschen mit Behinderung meist nicht selbstverständlich zugestanden. Das Vorenthalten einer reproduktiven Identität hat in Deutschland eine lange Tradition. So existierten bereits während der Weimarer Republik sogenannte Eheberatungsstellen, die auf die ‚Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ zielten. Diese Beratungsstellen stellten Gesundheitszertifikate aus, mittels derer die ‚reproduktive Eignung‘ von Frauen festgestellt werden sollte.46 Obgleich auch Zwangssterilisierung bereits zu dieser Zeit diskutiert wurde, war sie als eugenische Maßnahme rechtlich noch nicht verankert.47 Zu einer gesetzlichen Vorschrift für verschiedene deutsche Bevölkerungsgruppen wurde sie erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Während das Gesetz als gesund klassifizierten Frauen Sterilisation als Verhütungsmittel verbot, schrieb es die Sterilisation von Menschen mit Be-

46 Vgl. Manz (2007): 51. 47 Vgl. dies.: 73; Benzenhöfer (2006): 93. Zu Debatten von Sterilisation in der Weimarer Republik vgl. Bock (1986); Usborne (1994); Weingart et. al. (1988).

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hinderung vor – die ohne Einwilligung und mittels Zwang durchgeführt werden konnte und auch wurde.48 Seit dem Erlass des Betreuungsgesetzes (BtG) von 1994 ist die Zwangssterilisierung von Menschen mit Behinderung jedoch verboten und nur noch nach Zustimmung der Betroffenen zulässig.49 Zwangsterilisierungen von Frauen mit Behinderung (oder auch die Aufforderungen ihre Kinder zur Adoption frei zu geben) sind heute eher die Ausnahme denn die Regel. Nichtsdestotrotz beschreiben Frauen mit Behinderung einen subtilen gesellschaftlichen Druck, von der Reproduktion Abstand zu nehmen.50 Gisela Hermes beschreibt in einer Studie zur Mutterschaft von Frauen mit Behinderung vier irrationale Annahmen, die Frauen mit Behinderung entmutigen können Mutter zu werden: Erstens seien Mütter mit Behinderung nicht fähig, Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen. Zweitens würden Kinder unter der Behinderung ihrer Eltern leiden. Drittens verursachten Mütter mit Behinderung zusätzliche öffentliche Ausgaben. Viertens würde eine behinderte Mutter in der Regel auch ein behindertes Kind gebären.51 Menschen mit Behinderung gelten im Hinblick auf die Themen Sexualität und Elternschaft somit als Neutren und werden qua vielfachen Exklusionsprozessen von der gesellschaftlichen Ordnung des Fortpflanzungsgeschehens ausgeschlossen. Hinsichtlich des Themas Körpermerkantilisierung scheint52 sich daraus zunächst die Situation zu ergeben, dass Menschen mit Behinderung nicht als ‚normale‘, ‚ge-

48 Vgl. Benzenhöfer (2006): 92; Onken (2008): 51. 49 Vgl. Wagner-Stolp (2004); Pixa-Kettner (2008). 50 Zur Situation in Deutschland vgl. Hermes (2004): 32ff; Onken (2008): 70; für die USA Prilleltensky (2004): 68. 51 Vgl. Hermes (2004): 33f. 52 Die folgenden Gedanken sind Einschätzungen. Auch nach intensiver Recherche waren bereits Studien zu Elternschaft von Menschen mit Behinderung und neuen Reproduktionstechnologien schwer aufzufinden. Untersuchungen zu Kommodifizierungserfahrungen von Menschen mit Behinderung konnte ich hingegen nicht ausmachen. In ethnographischen Studien zu Kommodifizierungserfahrungen im reproduktiven Raum wie die von Manzei wird Behinderung als Kategorie ausgeblendet. Vgl. Manzei (2005).

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sunde‘ reproduktive Geschlechtersubjekte angerufen werden, um dann kommodifiziert zu werden. Auf den ersten Blick sind sie somit als reproduktive Neutren von der Gefahr ausgespart, zum reproduktiven Rohstofflieferanten degradiert zu werden. Wenn Frauen mit Behinderung Mutterschaft verweigert wird, so scheint das auch zu bedeuten, dass sie im medizinisch-reproduktivem Raum zunächst keiner Situation ausgesetzt sind, in der sie als Eizell‚spenderin‘, als Produzentin fötalen oder embryonalen Gewebes oder als Kundin von Nabelschnurblutbanken angerufen werden. Auch die Ergebnisse von Daniels scheinen diese Vermutung zu stützen. Für Männer mit Behinderung hat sie, wie bereits angemerkt, gezeigt, dass sie nicht als Samen‚spender‘ kommodifiziert werden. Denn Männern mit Behinderung wird keine geschlechtliche Identität und somit auch keine kommodifizierbare Männlichkeit zugestanden. Ihr Samen gilt als wertlos, weshalb Samenbanken behinderte Männer als ‚Spender‘ ausdrücklich ausschließen.53 Aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung erscheint diese Anrufung als ein kommodifizierbares Subjekt somit paradoxerweise noch als das Privileg, eine geschlechtliche Identität annehmen zu können – als reproduktives Subjekt gewertschätzt zu werden.54 Doch sind Menschen mit Behinderung tatsächlich vollkommen von Kommodifizierungsprozessen ausgenommen oder werden sie nicht eher mittels ‚anderer‘ Subjektivierungsprozesse einbezogen? Verschiedene Theoretikerinnen haben festgestellt, dass heute jeder Körper von Wert ist: Biomachtpolitische Strategien zielten nicht wie noch zu Zeiten der Disziplinarmacht integrierend auf vermeintlich gesunde produktive Körper, während ‚andere‘ (wie beispielsweise als behindert klassifizierte) Körper als nutzlos ausgelagert würden. Heute würde ununterschieden jeder Körper in eine genetisierte Ökonomie einbezogen.55 Leslie A. Sharp konstatiert deshalb, dass „socially expendable categories of persons are ironically transformed into valued

53 Vgl. Daniels (2006): 74. 54 Thompson zeigt Ähnliches für die Frage von Race und Ethnicity. Vgl. Thompson (2005): 257. 55 Vgl. Bock von Wülfingen (2007).

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objects through their involvement in medical research.“56 Und Erika Feyerabend argumentiert, dass der Bevölkerungskörper, dessen Substanz wertbringend erschlossen werden soll, den individuellen Körper überblendet.57 Ist die heutige genetisierende Biomacht also gleichmachend oder differenzierend? Bezieht sie jeden Menschen ungeachtet von Kategorien wie Heterosexualität, Geschlecht, Behinderung oder Alter ein oder verstärkt sie diese? Ich denke, dass zeitgenössische Biomachtmechanismen, was die Frage des Individuums angeht, weder gleich der ‚alten‘ Disziplinarmacht funktionieren noch ausschließlich auf die Körpersubstanzen jenseits jeglicher Bedeutung bekannter Identitäten zielen. Stattdessen ist es an dieser Stelle wichtig, genau hinzusehen und die unterschiedlichen Weisen der Subjektivierung innerhalb von Kommodifizierungsprozessen herauszuarbeiten: Wie genau und vor allem: mit welchem Ziel vollziehen sich Subjektivierungen im therapeutischen Raum? Wird der Kontext der Pränataldiagnostik (PND) zum Beispiel näher betrachtet, so werden Frauen mit und Frauen ohne Behinderung heute immer mit diesen Technologien konfrontiert. Alle Frauen kommen mit Technisierungsprozessen des Fortpflanzungsgeschehen in Berührung, in denen Schwangerschaft zunehmend als Risiko codiert und ein ‚Qualitätscheck‘ des Embryos durchgeführt wird. Doch die biopolitischen Strategien, die diese Prozesse leiten, wirken sich unterschiedlich klassifizierend aus: Während bei Frauen ohne Behinderung hinter der Durchführung einer PND das grundsätzliche Ziel des Gebärensollens steht, ist dies für Frauen mit Behinderung nicht der Fall. Ihnen wird wie bereits diskutiert die Option der Mutterschaft eher abgesprochen. PND hat dann die Funktion die Ausnahmen festzustellen, in denen Frauen mit Behinderung gebären dürfen.58 Wichtig ist somit an dieser Stelle nicht nur, kritisch in den Blick zu nehmen, dass Schwangerschaft zunehmend als Risiko codiert wird und die damit korrelierenden Subjektivierungen zu konstatieren, sondern auch die Bewegungen, die Ziele oder größeren gesellschaftlichen Strategien zu untersuchen, in die Subjektivierungen eingebettet sind.

56 Sharp (2000): 296. 57 Vgl. Feyerabend (2002): 29. 58 Vgl. Hermes (2004): 35; Waldschmidt (1993): 10.

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Von Vertreterinnen der feministischen und queeren Disability Studies sowie der Behindertenbewegung ist das Nicht-Zur-VerfügungStehen von reproduktiven Optionen unterschiedlich bewertet worden. Einige sehen darin den Vorteil, dass heteronormative Zwänge wegfallen. Gesa Teichert und Irene Batzinger argumentieren beispielsweise: „Und dadurch, dass ‚behinderte‘ Frauen häufig sowieso nicht als Personen mit Sexualität wahrgenommen werden, sind sie auch weniger gesellschaftlichen Rollenerwartungen wie zum Beispiel der Heterosexualität unterworfen.“59

Aus dieser Perspektive wäre es für Frauen mit Behinderung eher eine Erleichterung, dass gängige Anrufungen des reproduktiven Subjektes wenig Gültigkeit für sie haben. Denn biologische Mutterschaft stellt nach wie vor ein Kernelement heteronormativer weiblicher Identität dar. Diese Position käme der Kritik von Feministinnen ohne Behinderung an der Festschreibung von Frauen auf eine Gebärfunktion nah.60 Andere Feministinnen mit Behinderung bewerten das Herausfallen aus reproduktiven Kategorisierungen als Verweigerung gesellschaftlicher Privilegien: Reproduktivität gilt momentan als essentieller Bestandteil geschlechtlicher Identität. Mit der Glorifizierung von Mutterschaft ist daher immer auch das Versprechen gesellschaftlicher Anerkennung verbunden. Aus Sicht von Frauen mit Behinderung erscheint die Anrufung als ein reproduktives Subjekt paradoxerweise als das Privileg, eine geschlechtliche Identität annehmen – und damit den Status eines (bürgerlichen) Subjektes einnehmen zu können.61 Beide Argumente sind isoliert betrachtet wenig hilfreich. So stellt das erste gesellschaftliche Bedingungen nicht in Frage, in denen Behinderung und geschlechtliche, erotische, reproduktive und sexuelle Neutralisierung eng miteinander gekoppelt sind. Das zweite impliziert hingegen konsequent zu Ende gedacht die Forderung, biologische Mutterschaft als zentrales Identitätsmerkmal von Frauen mit Behinderung zu verankern. Auf diese Weise würde das ‚Mutterschaftsdispositiv‘ lediglich erweitert werden: Statt identitäre Zwänge grundsätzli-

59 Teichert/Batzinger (2007). 60 Vgl. Prilleltensky (2004): 54. 61 Vgl. dies.: 54f.

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cher zu hinterfragen, würde nur eine weitere Identität – ‚Mutter mit Behinderung‘ – geschaffen werden. Ich plädiere deshalb stattdessen in Anlehnung an Heike Raab für eine strategische Aneignung von Mutter-, Vater- oder Elternschaft.62 Im Hinblick auf Inwertsetzungsprozesse des Körpers würde das jedoch nicht die Forderung bedeuten, als ein reproduktives Subjekt anerkannt und kommerzialisiert werden zu dürfen. Das strategische Konfiszieren einer reproduktiven Subjektivität würde explizit nicht bei der Forderung nach biologischer oder biogenetischer Elternschaft stehen bleiben, sondern eine reproduktive Subjektivierung jenseits von Kommodifizierung und Genetisierung anstreben. Diese kritisch-reflektierte Aneignung einer reproduktiven Subjektivität würde somit nicht darauf zielen, Mutter- oder Vaterschaft als einen wesentlichen Bestandteil der Identität von Frauen mit Behinderung oder von Transmännern zu etablieren, sondern versuchen sie ins Politisch zu wenden – eine offenere reproduktive Subjektivierung zu fordern. D.3.2 Stammzellforschung und neue Eugenik Die Einbeziehung der Kategorie Behinderung bedeutet ebenfalls ein konsequentes Fragen nach neuer Eugenik im Kontext neuer Bio- und Reproduktionstechnologien. Denn die Grenzziehungen zwischen reproduktivem Leib und Embryo/Stammzelle verlaufen nicht nur ökonomisch günstig, sondern auch neo-eugenisch.63 Während trans/queere Ansätze sich nicht mit Eugenik auseinander setzen,64 werden in feministischer Medizinkritik Fragen nach den eugenischen Effekten von Bio- und Reproduktionstechnologien bearbeitet. Dies geschieht teils sehr differenziert und verschiedenen feministischen Ansätze sind intersektionale Perspektiven implizit.65

62 Vgl. Raab (2007): 141. 63 Vgl. Gehring (2006): 79. Dazu auch o. A. 64 Dazu o. 65 Haker und Graumann argumentieren implizit intersektional, das heißt sie thematisieren Eugenik ohne ausdrücklichen Bezug auf die Intersektionalitätsdebatte. Vgl. Haker (2001); Graumann (2005). Vgl. Braun (2000); Kollek (2003).

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Für die Frage nach Eugenik ist von Bedeutung, dass die Inwertsetzung des Leibes durch Stammzellforschung nicht jenseits eines reproduktiven Geschlechtersubjektes erfasst werden kann. Stammzelltechniken sind Reproduktionstechniken.66 Anders ausgedrückt: Das (Körper-)Subjekt der Stammzellforschung ist ein reproduktives Geschlechtersubjekt und dieses Subjekt ist als solches immer auch in Settings einer ‚Eugenik von unten‘ eingebettet.67 Stammzellforschung kann deshalb nicht jenseits von einer Eugenik von unten diskutiert werden. Feministische Positionen haben den Zusammenhang von reproduktiver Subjektivierung und neuer Eugenik vor allem durch eine Kritik des medizinethischen Begriffs der ‚reproduktiven Selbstbestimmung‘ deutlich gemacht. Die Betonung der ‚reproduktiven Selbstbestimmung‘ der Frau wird kritisch als ein Instrument hinterfragt, mittels dessen eine Eugenik von unten operiert und mittlerweile gesellschaftlich breit verankert worden ist: Im Namen weiblicher Autonomie ‚sollen‘ Menschen mit möglichen Behinderungen zuvorderst vermieden werden.68 Implizit intersektional sind diese Ansätze, weil sie die geschlechtlichen Subjektivierungsmechanismen in den Blick nehmen und zugleich eine kritische Perspektive auf ihre eugenischen Effekte entwickeln. So zeigt Hille Haker auf Basis qualitativer Interviews mit Frauen, die ein Kind mit Behinderung abgetrieben haben, die Motivationen auf, die zu einer eugenischen Entscheidung führen: „Beschreibt Caroline Stoller eine ‚Selektionshandlung‘? Mir erscheint dies kein angemessener Begriff für die Entscheidung gegen ein Kind, das mit einer schweren unheilbaren Krankheit im ‚Bauch‘ der Frau lebt. Mir scheint es treffender, dass der selektive Effekt zwar eintritt, aber als solcher nicht intendiert ist. Mit dem Abbruch der Schwangerschaft soll keine Aussage über den Wert dieses Menschenlebens gemacht werden – und dennoch kommt die Frau – und hinter ihr der Vater, die Ärzte, das Pflegepersonal, die Hebammen und die Ge-

66 Vgl. Gehring (2006): 79. 67 Dazu o. A. 68 Vgl. Herrmann (2009); Graumann/Schneider (2003).

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sellschaft allgemein – nicht umhin, eine zumindest implizite Wertaussage zu machen.“69

Medizinkritische Genderansätze wie die Hakers intendieren somit, die komplexen und konfliktreichen Vorgänge zu erfassen, die Frauen im therapeutischen Raum auf eine Art und Weise vergesellschaften, die in ihren Effekten eugenisch ist.70 Zugleich geht es immer auch darum, die reproduktiven Entscheidungsmöglichkeiten sozusagen zu resozialisieren, das heißt als gesellschaftlich konstituierte zu diskutieren und neu zu entwerfen. Denn reproduktive Selbstbestimmung könnte auch bedeuten, sich für ein möglicherweise behindertes Kind zu entscheiden – jedoch „ohne mit gesellschaftlichen und finanziellen Sanktionen rechnen zu müssen“.71 Feministische Ansätze intendieren somit, die sozialen Bedingungen für weibliche Selbstbestimmung im Kontext von Schwangerschaft auf eine Weise auszuloten, die einer Alltagseugenik nicht länger Vorschub leistet. Nichtsdestotrotz ist auch diese intersektionale Perspektive nicht komplex genug. Denn Behinderung wird hier ausschließlich auf Ebene des Embryos reflektiert: Behinderung wird hier als kritische Hinterfragung des Ideals eines zukünftigen nicht-behinderten Menschen reflektiert, wie Menschen mit Behinderung als Subjekte innerhalb reproduktiver Settings momentan vergesellschaftet werden, wird jedoch nicht thematisiert. Feministische Positionen implizieren damit noch immer ein reproduktives Subjekt, das weiblich und nicht-behindert ist.72 Auch ist bislang nicht untersucht worden, wie genau der Zusammenhang von reproduktiver Subjektivierung, Eugenik und Stammzellforschung im therapeutischen Raum beschaffen ist. Es existieren noch keine genauen praxisethnologischen, sozial-anthropologischen oder qualitativ-soziologischen Studien, die untersuchen, ob Embryonen für Forschungen besonders interessant werden, wenn diese als ‚genetisch

69 Haker (2002): 128. 70 Vgl. Schultz (2008); Lettow (2003a); Braun (2000); Trumann (2007). 71 Puschke (2001): 2. 72 Vgl. Krones (2006): 205; Kalender (2010).

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deformiert‘ klassifiziert werden. Sarah Franklin stellt deshalb zu Recht fest, dass eine Schlüsselfrage sei, „what kinds of flow, exchange, connection, and separation will exist between the clinical realm of IVF and the scientific context of hES derivation?“73 Ihre sozialanthropologischen Arbeiten gehören bislang zu den wenigen Ansätzen, die den im Entstehen begriffenen Raum zwischen dem klinischen Kontext assistierter Reproduktion und jenem der Embryonenforschung untersuchen und für den sie den Begriff „IVF-Stem cell interface“ geprägt hat. Mette Svendsen und Lene Koch haben auch darauf hingewiesen, dass der ‚spare embryo‘ (zu deutsch ‚überzähliger Embryo‘) in diesem Raum nichts ausschließlich Biologisches ist, sondern in Aushandlungsprozessen als biologische abgeschlossene Entität erst hergestellt wird. Nicht ‚biologische Fakten‘ sondern komplexe Entscheidungsprozesse würden den Embryo als ‚überzählig‘ konstituieren. So könne es sich von Tag zu Tag ändern, ob ein Embryo als „qualitativ gut“ oder „weniger gut“ eingestuft und der In-vitro-Fertilisation oder der Stammzellforschung zugeführt wird:74 “

[...] we argue that ‚spare‘ embryos are not straightforward biological facts.

Rather, complex decision-making processes constitute embryos as ‚spare‘ and thus as possible objects of exchange between couples in fertility treatment, stem cell researchers and future citizens in need of regenerative medicine. The ongoing fact-making of the ‚spare‘ embryo in the fertility clinic reveals the network of relationships and conflicting responsibilities in which clinicians are positioned.“75

Behinderung und Fragen nach Eugenik spielt in diesen Ansätzen jedoch keine Rolle und dass auch die „biological reproductive qualities“ humaner embryologischer Stammzellen auf gesellschaftlichen Entscheidungen beruht, wird nicht hinterfragt. Zu fragen wäre deshalb auch, ob und wie eugenische Aspekte und Behinderung eine Rolle spielen. Vereinfacht formuliert: Sind zum Beispiel selektierte Embry-

73 Franklin (2006): 85. 74 Vgl. Svendsen/Koch (2008): 93ff. 75 Dies.: 93.

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onen gerade aufgrund ihrer Klassifikation als ‚genetisch defekt‘ von Interesse für Stammzellforschende? Gelten Keimzellen* von Menschen, die als behindert eingestuft werden, im Rahmen von Embryonenforschung möglicherweise als besonders wertvoll? Diese Vermutungen liegen nahe, wenn etwa Sigrid Graumann darauf aufmerksam macht, dass Körpermaterial von Menschen mit Behinderung für die genetische Forschung besonders nützlich sei: „Es kann davon ausgegangen werden, dass die genetische Forschung ein besonderes Interesse an den genetischen Ursachen geistiger Behinderung hat. Besonders nach dem anstehenden Abschluss des ‚Human Genome Project‘ ist eine Fülle von genetischen Basisdaten für solche Forschungen vorhanden. In Zukunft wird es der genetischen Forschung verstärkt um die Korrelation von Genen und Merkmalen gehen. Wenn entsprechende Forschungsvorhaben in diesem Zusammenhang seltene genetisch bedingte Behinderungen zum Ziel haben, werden Behinderteneinrichtungen möglicherweise von großem Interesse sein. Sie können für die genetische Forschung eine interessante Ressource darstellen, weil hier viele, einzeln selten vorkommende ‚genetische Defekte‘ an einem Ort zu finden sind.“76

Auch Erika Feyerabend weist auf das besondere Interesse biomedizinischer Forschung am als behindert klassifizierten Körper hin: „Die ‚wertvollsten‘ Substanzen sind vor allem bei jenen zu finden, die bislang Objekt des Ausschlusses waren: Kranke, Irre und ethnische ‚Minderheiten‘. [...] im Kreislauf der genomischen Produktivität treten wieder die ‚alten‘ Ausschlussmechanismen hervor: Biologisierung von sozialem Verhalten; molekulargenetische Zuschreibung von Krankheiten und Risiken auf ganze Gruppen; eugenische Angebote, um zukünftig die Existenz jener zu verhindern, die heute die Wissensproduktion ankurbeln sollen.“77

76 Graumann (2001): 86. Kröger zeigt Ähnliches. Kröger (2010). 77 Feyerabend (2002): 29. Gehring spricht den ‚eugenischen Impetus‘ der Stammzellforschung – in ihren Worten: die regulatorisch-verbessernde Manipulation des „‚Lebens‘ der Gattung“ ebenfalls an: Gehring (2006): 88f.

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Feyerabends Bemerkungen sind sicher zutreffend, sie bewegen sich jedoch eher auf theoretischer Ebene ohne konkrete Verweise auf empirische Studien. Genaue Untersuchungen zur Bedeutung von Behinderung im IVF-Stem Cell Interface stehen somit bislang aus und sind besonders in Deutschland vermutlich nicht einfach durchzuführen. Aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit ist anzunehmen, dass die Thematik mit einem Tabu belegt ist und dass es daher beispielsweise aus praxisethnologischer Sicht schwer zu ermitteln ist, wie sich Behinderung auf die Strukturierung von Praktiken im IVF-Stem Cell Interface auswirkt. Dass eugenische Kalküle dennoch in der Forschungspraxis von Bedeutung sind, zeigt der Fall Eising, auf den sich die Einschätzungen Sigrid Graumanns beziehen. Praxisethnologische oder sozial-anthropologische Perspektiven ähnlich jenen Sarah Franklins würden sich hier für weitere Forschungsarbeiten anbieten. Wünschenswert wäre jedoch die ausdrückliche Berücksichtigung der Kategorie Behinderung, sprich die Frage: ob und welche Rolle eugenische Kalküle bei der Entfaltung des Raumes zwischen assistierter Reproduktion und Embryonenforschung – innerhalb des IVF Stem Cell Interface – spielen.

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D.4 Z USAMMENFASSENDE S CHLUSSBETRACHTUNGEN : E INE INTERDEPENDENTE P ERSPEKTIVE AUF DIE I NWERTSETZUNG DES K ÖRPERS In diesem letzten Kapitel sollten Perspektiven der Gender, der Trans/ Queer und der Disability Studies produktiv und kritisch zusammengebracht werden. Auf diese Weise sollten sowohl Stärken als auch problematische Aspekte und Leerstellen der einzelnen Theorie- und Forschungsrichtungen diskutiert und die Thematik ‚Inwertsetzung des Leibes‘ möglichst komplex gefasst werden. Abschließend sollen deshalb noch einmal die wichtigsten Punkte einer interdependenten Perspektive auf die Inwertsetzungsproblematik als reproduktiver Subjektivierung zusammengefasst werden. Ein kritisches und korrektives Zusammenlesen von zentralen Ideen der Gender, Trans/Queer sowie Disability Studies würde für die verschiedenen Strömungen folgende Konsequenzen haben: Eine der Stärken von Genderansätzen ist, auf die Geschlechtlichkeit der bio- und reproduktionstechnologischen Erschließung des Leibinnenraumes aufmerksam gemacht zu haben. Mittels feministischer Wissenschaftskritik, wie sie beispielsweise von Barbara Duden formuliert wurde, kann die historisch-spezifische Trennung des Embryos bzw. des Fötus vom reproduktiven Leib kritisch erfasst werden. Dass der Embryo oder der Fötus als etwas Abgespaltenes vom geschlechtlichen Leib behandelt werden kann, ist die Voraussetzung für heutige Embryonenforschungen. Eine weitere Qualität ist die Sensibilisierung für ökonomische Verhältnisse: Genderansätze beispielsweise von Ingrid Schneider, Claudia Gehring oder Erika Feyerabend haben gezeigt, dass in Zeiten von Technologien wie dem Klonen oder der Stammzellforschung diese Abtrennung meist nicht quer zu Inwertsetzungsprozessen verläuft, sondern im Gegenteil damit harmoniert und ihre Basis bildet. Im Zentrum von Genderansätzen steht jedoch der Frauenkörper: Der geschlechtliche Leib wird ausschließlich als Frauenkörper thematisiert und die Frau wird als zentrale Betroffene von Inwertsetzungsprozessen gedacht. Darüber hinaus wird das Verhältnis von reproduktivem Frauenkörper und Inwertsetzungsprozessen als ein objektifizierendes, entfremdendes gefasst.

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Trans/queere Ansätze würden deshalb hinzufügen, dass die von Genderbeiträgen aufgezeigte Erschließung des geschlechtlichen Körperinnenraumes nicht in Begriffen der Verdinglichung des Frauenleibes gefasst werden kann, sondern dass es sich um Grenzziehungen handelt. Diese operieren zweifelsohne nicht jenseits von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, sondern binär-geschlechtlich sowie hierarchisierend. Die genderwissenschaftlichen Herangehensweisen oft implizite begriffliche Reifizierung des Frauenleibes als dem alleinigen reproduktiven Körper im Kontext neuer Bio- und Reproduktionstechnologien würde aus einer transgenderen/queeren Perspektive sichtbar. Auch könnten Fragen nach der Inwertsetzung weiterer Leiber wie Männerleiber, transgenderen oder queeren Leibern auf diese Weise gestellt werden. Umgekehrt würden trans/queere Ansätze von einer ‚Erweiterung‘ um eine Genderperspektive profitieren: Der starke Fokus auf die Destabilisierung von Körpergrenzen und das gleichzeitige Fehlen des Fragens nach ökonomischen Prozessen resultiert in eine NichtThematisierung von Inwertsetzungsprozessen. Die trans/queere Verlagerung vom Postulat eines eindeutigen weiblich-reproduktiven Körpers hin zur Konstitution des Körpers durch machtgeleitete Grenzziehungen, muss sich deshalb ebenso die Frage gefallen lassen, wie genau diese Grenzziehungen verlaufen. Die Möglichkeitsräume, in denen sich diese Grenzziehungen vollziehen, werden nicht selten durch ökonomische Kalküle strukturiert. Wird schließlich die dritte Perspektive – Ideen der Disability Studies – hinzugenommen, so wird nicht nur die Einheit des reproduktiven Geschlechtersubjektes in Genderansätzen hinterfragt. Auch Auslassungen in trans/queeren Konzeptionen des reproduktiven Geschlechtersubjektes werden deutlich. Denn sowohl Gender- als auch trans/queere Konzepte werden den Möglichkeitsbedingungen reproduktiver Subjektivierung von Menschen mit Behinderung nicht gerecht: Sie sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass ihnen das Scheitern an den Normen, die ein reproduktives Geschlechtersubjekt konstituieren, schon eingeschrieben ist: „Ihre Situation ist gewissermaßen von der Unmöglichkeit der Möglichkeit gekennzeichnet“, die heteronormativen Normen zu zitieren, die das Ideal reproduktiver

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Männlichkeit und Weiblichkeit formieren.78 Menschen mit Behinderung wird der Status eines reproduktiven Subjektes oft verweigert: Soziale aber auch biogenetische Mutter- und Vaterschaft erscheinen nach wie vor nicht als gesellschaftliche Optionen für Menschen mit Behinderung. Eine reproduktive Identität wird ihnen meist nicht selbstverständlich von ihrem Umfeld zugestanden. Im Hinblick auf die Inwertsetzungsthematik stellt sich damit die Frage, ob Menschen mit Behinderung als ‚reproduktive Neutren‘ von Kommodifizierungsprozessen schlichtweg ausgespart bleiben oder ob ihre reproduktiven Substanzen besonders begehrt sind. Eine interdependente Perspektive würde auch an dieser Stelle die Inwertsetzungsthematik möglichst komplex fassen und versuchen, die Effekte der Intervention und Kommodifizierung des Leibinnenraumes genau zu untersuchen. Zudem würde mit der systematischen Aufnahme der Kategorie Behinderung auch der neo-eugenische Aspekt geschlechtlicher Subjektformierung in den Blick genommen: Während Genderansätze die neo-eugenische Dimension neuer Reproduktions- und Biotechnologien zumindest für die (privilegierte, sprich: als nicht-behindert, eindeutig weibliche und zumeist auch heterosexuell klassifizierte) Frau thematisieren, blenden trans/queere Ansätze die Thematik aus. Genderansätze arbeiten teils sehr differenziert mit einem governementalen Zugang und unterstreichen den subtilen gesellschaftlichen Druck, der Frauen dazu anhält, vermeintlich behinderte Föten abzutreiben. Trans/queere Ansätze und Diskussionen – soweit für mich zugänglich – begünstigen hingegen aktuelle Prozesse von Neo-Eugenik, weil sie nicht über die Betonung der Destabilisierungspotentiale neuer Technologien hinausgehen und auf praktisch-politischer Ebene bei bloßen Liberalisierungsforderungen verbleiben. Darüber hinaus würden Impulse der Disability Studies ebenfalls die Frage aufwerfen, inwiefern auch die Grenzziehungen zwischen reproduktivem Leib und Embryo/Stammzelle im IVF-Stem Cell Interface von eugenischen Kalkülen geleitet werden. So wäre zu untersuchen, in welchem Verhältnis eugenische Klassifikationspraktiken des Embryos und biotechnologische Forschungen stehen.

78 Dazu o. C.3.1.3.

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Schließlich würden auch Ansätze der Disability Studies von einer Intersektionalisierung profitieren. Denn intersektionale Perspektiven auf das Thema reproduktive Subjektivierung und Inwertsetzung fehlen bislang gänzlich in den Disability Studies. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Das Thema Neo-Eugenik wird seit längerem umfassend bearbeitet. Viele Ansätze vernachlässigen jedoch, dass es sich dabei um einen vergeschlechtlichenden Vorgang handelt oder fassen ihn nicht komplex genug.79 So sind Ansätze von Gisela Hermes oder Anne Waldschmidt, die aus einer feministischen Disability Studies Perspektive argumentieren, zwar komplexer, queere oder transgendere Perspektiven berücksichtigen sie jedoch ebenfalls nicht. Perspektiven auf Neo-Eugenik in den Disability Studies würden aus einer intersektionalen Perspektive somit um die Frage nach Geschlecht bzw. Heteronormativität erweitert. Die Kritik an neo-eugenischer Subjektivierung würde in ihrer Geschlechtsdifferenzierung erfasst, die geschlechtsdifferenzierenden Subjektivierungen sichtbar gemacht. Damit würde nicht nur das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung nicht länger gegen die reproduktiven Rechte der Frau gesetzt, auch weitere reproduktive Leiber wie jene von Transgendern oder als queer klassifizierten Menschen würden sichtbar und nicht länger vergessene Körper in den Ansätzen bilden.

79 Vgl. Sierck (1989).

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F. Glossar

Biotechnologie, humane: Gentechnologische Verfahren, die auf die Veränderung der sogenannten Erbeigenschaften des menschlichen Organismus zielen. Biomedizin/moderne Medizin: Umfasst alle medizinischen Verfahren, die sich auf die Gentechnologie oder neuere medizinische Möglichkeiten wie die Intensivmedizin stützen. Biowissenschaften: Wissenschaften, die sich an Modellen der Biologie und der Genetik orientieren. Blastomeren: Zellen eines vierzelligen Embryos, die zu diesem Zeitpunkt noch als totipotent gelten. Blastozyste: Bezeichnet die embryonale Entwicklung ab dem 16-ZellStadium bis zum ungefähr 32-Zell-Stadium. Sie besteht aus rund 200 Zellen und hat eine innere und eine äußere Zellmasse. Während die äußere Schicht zur späteren Ernährung des Embryos beiträgt (Mutterkuchen, Plazenta), entsteht aus der inneren der Embryo. Aus dieser Schicht des fünf bis sieben Tage alten Embryos werden für die embryonale Stammzellforschung die Zellen entnommen. Eizellen: Weibliche Keim- oder Geschlechtszelle, Ovum. Die Eizellen werden in großem Umfang beim Forschungsklonen und in der Stammzellforschung verbraucht. Embryo/Fötus: Medizinische und rechtliche Begriffe, die die Leibesfrucht als Rechtssubjekt und Grundrechtsträger setzen, sie und die Frau beziehungsweise den reproduktiven Menschen diskursiv trennen und die Möglichkeit eröffnen, die Perspektive der Schwangeren auszublenden. Embryo umfasst nach dieser Definition das Entwicklungsstadium zwischen etwa dem siebten Tag

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nach der Befruchtung bis zum dritten Monat. Fötus bezeichnet das Entwicklungsstadium nach dem Embryonalstadium vom dritten Monat bis zur Geburt. Embryoblast: Innere Zellmasse der Blastozyste, die zusammen mit dem Trophoblasten einen etwa 200 zelligen Embryo bildet. Sie umfasst die embryonale Entwicklung ab dem 16- bis zum ungefähr 32-Zell-Stadium. Bislang galt jede dieser Zellen in der Entwicklungsbiologie als totipotent und maßgeblich für die Entstehung des Embryos. Embryologie: Wissenschaft, die sich mit der Frage beschäftigt, durch welche Vorgänge aus einer befruchteten Eizelle ein fertig ausgebildeter Organismus entstehen kann. Ihr Gegenstand ist der Gesamtorganismus (Tier und Mensch) mitsamt den Fragen nach seiner Entwicklung, Organisations- und Funktionsweise, seinem Verhalten und seiner Umwelt. Entwicklungsbiologie: Neue Bezeichnung für die Embryologie ab Ende der 1960er Jahre. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden lebenswissenschaftlichen Forschungsbereichen ist, dass die Embryologie bis dahin eher ein Randdasein geführt hatte, weil sie durch die ‚Gentheorie‘ verdrängt worden war und erst durch die Veränderung ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die molekulargenetische Ebene biologischer Entwicklungsvorgänge wieder Auftrieb in Form eines enormen Wissenszuwachses erhält. Die Entwicklungsbiologie operiert somit anders als die Embryologie im Bereich der Molekulargenetik und setzt sich zum expliziten Ziel, die Gene mit dem Organismus in Zusammenhang zu bringen bzw. zu erforschen, welche Gene auf welche Weise zur Herausbildung bestimmter Eigenschaften des Organismus beitragen. Eugenik: Direkte meist staatliche Eingriffe und Zwangsmaßnahmen, die auf die ‚Verbesserung‘ des Menschen und des menschlichen Genpools abzielen. Besonders die nationalsozialistische Variante zielte auf die ‚erbliche Verbesserung‘ eines Volkes und war vorwiegend dirigistisch und kollektivistisch. Im extremsten Fall, der Shoa, mündete sie in ein staatlich verordnetes Vernichtungsprogramm. Eugenik, individualisierte/‚Eugenik von unten‘: Gegenwärtige Eugenik, die ungeborenes menschliches Leben wegen genetischer und

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chromosomaler Abweichungen tötet und aufgrund individueller und zumindest formal freiwilliger Entscheidungen der Eltern erfolgt. Sie wird als individualisiert oder ‚von unten‘ bezeichnet, weil sie als weniger staatlich verordnet gilt. Gen: Setzt sich als Bezeichnung mit der mendelschen Vererbungslehre ab Anfang des 20. Jahrhunderts durch und meint zunächst die physischen Faktoren eines Organismus, die bei der Vererbung von den Eltern auf die Nachkommen weitergegeben werden. Jeder dieser Faktoren steuert ein getrennt vererbbares Merkmal und wird in der klassischen Genetik als Faktor oder Einheit der Vererbung angesehen. In der späteren Interpretation der Molekularbiologie wird davon ausgegangen, dass die Gene ihre Wirkungen erzielen, indem sie die Anweisungen zur Proteinsynthese liefern. Als Gen gilt ein bestimmter Abschnitt auf der gesamten DNA-Buchstabenkette des Menschen, der ein spezifisches Protein codiert. Das Gen gilt fortan als universelle Einheit biologischer Information: ab Watson und Crick chemisch gesehen als Abschnitt eines DNA-Moleküls. Das Doppelhelix-Modell soll relativ genaue Angaben zu seiner physischen Struktur liefern. Genetik: Biologische Disziplin, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Klassische Genetik mit der mendelschen Vererbungslehre beginnt, ab den 1920er Jahren auf Erfolgskurs geht und ab den 1950er Jahren in die Molekularbiologie mündet. Genaktivität: Begriff, der einen hypothetischen Vorgang bezeichnet, der den Genen die Fähigkeit (und einen autonomen Status) attestiert, die Entwicklung des Organismus mit all seinen phänotypischen Merkmalen hervorzubringen. Gene werden als aktive (anthropomorphe) sich an einem Zweck orientierende Handlungsträger des Organismus betrachtet, wobei jedes einzelne Gen in dieser Vorstellung eine bestimmte Anzahl von Anweisungen erteilt. Gendiagnostik: DNA-Diagnostik, ist die direkte und indirekte Identifizierung von Genen auf DNA-Ebene. Dabei wird zwischen ‚normalen‘ und ‚defekten‘ Genen unterschieden. Genetische Beratung: Eine Beratungspraxis, die bereits durch biologisches Expertenwissen vorstrukturiert ist. Findet vor allem in der Pränataldiagnostik (PND) ihren Einsatz, die heute selbstverständlicher Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge in der gynäkolo-

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gischen Praxis ist. Durch Untersuchungen und Tests an der Leibesfrucht sollen die Möglichkeit einer ‚genetischen Krankheit‘ festgestellt werden. Genetische Information/Daten: Ein von Watson und Crick zusammen mit ‚Anweisung‘ und ‚Programm‘ geprägter Begriff, der in seiner molekulargenetischen Gebrauchsweise impliziert, dass bereits im Genom einer befruchteten Eizelle die gesamte genetische Information zur Herausbildung eines Organismus enthalten ist. Genetische Informationen gelten zudem als Rohstoff der biotechnischen Industrie. Gentechnologie: Eine technologische Praxis, die auf die Veränderung des sogenannten Erbguts von lebenden Organismen zielt. In-vitro-Fertilisation (IVF): Im Reagenzglas herbeigeführte Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Dieser Embryo wird anschließend in eine Gebärmutter übertragen. Neben Hormonstimulation, Insemination oder intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) gilt die IVF als eine Methode, um (heterosexuellen) Paaren, die durch Geschlechtsverkehr keine Kinder zeugen können, mittels medizinischer Assistenz zu helfen. Die IVF wird in der BRD über die gesetzlichen Krankenkassen finanziert und kann nur von heterosexuellen verheirateten Paaren genutzt werden. Erst seit der Entwicklung der IVF ist es möglich, Embryonen außerhalb des Körpers einer Frau oder eines geschlechtlichen Menschen zu erhalten und an ihnen zu forschen: Während einer IVF werden zwar mehrere Eizellen befruchtet, aber nicht alle in eine Gebärmutter übertragen, sondern stattdessen eingefroren. Die IVF wird häufig in den Komplex der moralisch-ethischen Probleme der Gentechnik integriert, obgleich sie wie die Reproduktionsmedizin allgemein nicht zur Gentechnik zu rechnen ist. Denn dieser Methodenkomplex stellt den Forschenden genügend menschliche Keimzellen und Embryonen zur Verfügung, an denen Genmanipulation vorgenommen werden kann. Die Reproduktionsmedizin ermöglichte erst die Keimbahntherapie an menschlichen Keimbahnzellen. Insemination: Die Übertragung des ‚männlichen‘ Samens in den Genitalakt der Frau oder eines geschlechtlichen Menschen.

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Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (IZSI): Neuere Methode der Reproduktionsmedizin, die entwickelt wurde, damit auch Männer mit Fruchtbarkeitsstörungen ein leibliches Kind haben können. Im Rahmen einer IVF wird ein einzelnes Spermium direkt in eine Eizelle gespritzt und dann in die Gebärmutter übertragen. Keimzellen: Werden in weiblich und männlich unterschieden und verschmelzen bei der Befruchtung miteinander. Keimbahn(zell)therapie: Therapeutischer Eingriff in die Keimbahnzellen, der alle Nachkommen betrifft, eine Form der Gentherapie. Denn Keimbahnzellen gelten als Geschlechtszellen, die die Erbinformation an die nächste Generation weitergeben. Klonen, reproduktives: Ein Verfahren, das die heterogeschlechtliche Zeugung umgeht und aus einem einzigen Organismus eine identische Kopie herstellt: In eine entkernte Eizelle setzen Forscher den Kern aus einer menschlichen oder tierischen Körperzelle. Aus der so manipulierten Eizelle entwickelt sich ein Embryo, der in die Gebärmutter einer Frau, eines geschlechtlichen Menschen oder eines Tieres zu einer genetisch identischen Kopie des Kerngebers – einem Klon (griechisch für Zweig) – heranwachsen kann. Die Technik ist bislang in Deutschland verboten. Klonen, therapeutisches: Verknüpfung der Technik des Zellkerntransfers, des reproduktiven Klonens, mit der Stammzellforschung: Der Zellkern einer Körperzelle wird in eine entkernte Eizelle eingefügt, aus dem geklonten Embryo sollen nach wenigen Tagen Stammzellen entnommen und in den gewünschten Zelltypus ausdifferenziert werden. Es handelt sich also um die Reprogrammierung von differenzierten Zellen in einen quasiembryonalen Zustand. Dem Verfahren liegt die überraschende Erkenntnis zugrunde, dass das genetische Programm einer spezialisierten Körperzelle durch derzeit noch unbekannte Faktoren im Zytoplasma einer Eizelle, der man zuvor den eigenen Kern entnommen hat, auf den Stand einer frühen Embryonalzelle zurückgestellt werden kann. Ist in Deutschland verboten. Der Begriff „therapeutisch“ wird als irreführend kritisiert, weil bisher niemand damit geheilt wurde. Das therapeutische Klonen ist zudem auf die massenhafte Bereitstellung von Eizellen durch Frauen oder durch geschlechtliche Menschen angewiesen.

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Medizin, moderne: Siehe Biomedizin. Molekularbiologie: Geht aus der mendelschen Genetik hervor, etabliert sich bis gegen Ende der 1950er Jahre als eigenständige Disziplin und erachtet ihre anfängliche Fragestellung nach der „Natur der Gene“, nach ihrer Struktur und chemischen Beschaffenheit als weitgehend gelöst. Nidation: Die Einnistung des Eis in die Schleimhaut des Uterus: die feste Verankerung des Keims in den ‚mütterlichen Organismus‘. Präimplantationsdiagnostik (PID)/„verbrauchende“ Embryonenforschung: Molekulargenetisches Diagnoseverfahren, das zwischen einer In-vitro-Fertilisation und dem Einsatz des Embryos in die Gebärmutter angewendet wird. Einem vier Tage alten Embryo werden in Kultur ein bis zwei Zellen zur genetischen Analyse entnommen, im Hinblick auf ‚genetische Abweichungen‘ untersucht und bei einem positiven Ergebnis zerstört (Embryonenselektion). Die PID wird deshalb als eugenische Praktik kritisiert, ist aber auch als Hilfe für kinderlose heterosexuelle Paare umstritten: Für die PID muss sich die Frau einer Hormonbehandlung unterziehen, die für sie mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Ihr werden im Durchschnitt zehn Eizellen entnommen, neun werden befruchtet, fünf Embryonen stehen dann für die PID zur Verfügung. Nach der Selektion ‚genetisch nicht-einwandfreier‘ Embryonen bleibt schließlich oft nur ein Embryo übrig. In nur 14 Prozent der Fälle kommt es zur Geburt eines den Normen entsprechenden Kindes. Zudem werden durch die PID weder Schwangerschaftsabbrüche noch die PND in entscheidendem Ausmaß verhindert. Denn für eine ‚PID-Schwangerschaft‘ sind nicht nur Mehrlinge erheblich wahrscheinlicher als bei ‚spontanen‘ Schwangerschaften, sondern sogenannte Mehrlingsreduktionen werden regelmäßig durchgeführt. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit von vorgeburtlichen Komplikationen und Totgeburten ebenfalls höher. Pränataldiagnostik (PND): Heute selbstverständlicher Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge in der Gynäkologie. Die PND umfasst ein breites Spektrum von Untersuchungsmethoden und Tests an der Leibesfrucht wie Blutuntersuchungen, Ultraschalldiagnostik oder invasive Methoden wie die Fruchtwasseruntersuchung (Am-

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niozentese) oder die Punktion des Mutterkuchens (Chorionzottenbiopsie). Diese sollen feststellen, ob beim Ungeborenen die Möglichkeit einer ‚genetischen Krankheit‘ vorliegt. Im Mittelpunkt der Diagnose steht die Trisomie 21, auch als ‚Down-Syndrom‘ bekannt. Diesen Verfahren liegt ein Denken zugrunde, das Beeinträchtigungen auf genetische Dispositionen zurückführt. Liegt ein ‚auffälliger Befund‘ vor, der auf die Möglichkeit einer genetisch bedingten Krankheit verweist, muss in den meisten Fällen zwischen einer Abtreibung oder Austragung eines möglicherweise ‚behinderten‘ Kindes entschieden werden. Da bisher nur bei wenigen Diagnosen intrauterine Therapiemöglichkeiten bestehen, führt ein positives Ergebnis unweigerlich zu einer selektierenden Entscheidung für oder gegen das Kind. Reproduktionsmedizin: Umfasst im Grunde alle medizinischen Bereiche, die sich mit der menschlichen Fortpflanzung befassen, also die Physiologie, die Embryologie oder die Krebsforschung, die Uterustumoren beforscht. In der vorliegenden Arbeit werden zur Reproduktionsmedizin jedoch nur die Verfahren gerechnet, die technisch in den Zeugungsakt und die Schwangerschaft eingreifen wie die In-vitro-Fertilisation, die künstliche Besamung oder die pränatale Diagnostik. Samenzelle: Männliche Geschlechtszelle. Stammzellen, embryonale: Zellen, die aus der inneren Zellmasse eines etwa vier Tage alten Embryos entnommen werden. Der im Reagenzglas gezeugte Embryo wird dabei zerstört. Die Stammzellen sind gleich Krebszellen sehr teilungsfreudig und sollen das Ausgangsmaterial für die Züchtung von Geweben und Organen liefern. Stammzellen, adulte: ‚Erwachsene‘ Stammzellen, die sich in vielen Geweben des Körpers finden wie im Verdauungstrakt, in der Haut oder im Zentralnervensystem. Sie erfüllen wesentliche Funktionen bei der ständigen Regeneration von Geweben und Organen und werden von Kritikern der embryonalen Stammzellforschung als Alternative angeführt. Tatsächlich umfassen adulte Stammzellen nicht nur Stammzellen von Erwachsenen, sondern funktionieren als Gegensatzbegriff zu

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embryonalen Stammzellen. Denn adulte Stammzellen können auch aus Föten, Kindern oder Nabelschnüren erschlossen werden. Stammzellforschung: Als Fernziel geben Stammzellforscher an, Medikamente zu entwickeln, die eine gezielte Bereitstellung von Ersatzgewebe in genügender Menge gewährleisten sollen. Die Stammzellforschung steht aber genau wie das therapeutische Klonen noch am Anfang, das heißt bisher sind außer bei Tierversuchen keine Erfolge bekannt. Zudem ist fraglich, ob sich der Ansatz jemals auf menschliche Stammzellen übertragen lässt: Es gibt bis heute zum Beispiel keine Möglichkeit, die Gefahr auszuschließen, dass durch die Verpflanzung embryonaler Stammzellen eine Tumorbildung ausgelöst wird. Denn embryonale Stammzellen sind ebenso wie Krebszellen vor allem sehr teilungsfreudig. Totipotenz: Bezeichnete in der Entwicklungsbiologie eine Zelle, aus der sich ein ganzer Organismus entwickeln konnte. Der Begriff wurde 1990 in das Embryonenschutz aufgenommen, um die Scheidelinie zwischen erlaubter und verbotener Forschung festzulegen. Heute ist die Bedeutung von Totipotenz deshalb umstritten. Besonders Entwicklungsbiologen, die sich für Stammzellforschung aussprechen, versuchen zu zeigen, dass nur sehr wenige embryonale Zellen Totipotenz im klassischen Sinne aufweisen. Trophoblast: Siehe Embryoblast. Zelllinie: Zellen, die sich unendlich reproduzieren und vermehren; ist bei gewöhnlichen nicht veränderten (krebslosen) nicht der Fall. Zygote: ‚Befruchtete‘ Eizelle. Zytoplasma: Zellstrukturen, die sich außerhalb des Zellkerns befinden, galten lange als ‚weiblicher‘ Teil der Zelle.

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