Kritische Gesamtausgabe: Band 4 Schriften aus der Stolper Zeit (1802-1804) 9783110864762, 9783110174649

Critical edition of three printed writings and a posthumous manuscript (poems and charades) during Schleiermacher's

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German Pages 611 [612] Year 2002

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Table of contents :
Einleitung der Bandherausgeber
I. Historische Einführung
Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1802–1804
Schleiermachers Schriften und Entwürfe aus der Stolper Zeit (1802–1804)
II. Editorischer Bericht
Schriften aus der Stolper Zeit (1802–1804)
Gedichte und Charaden (ab 1803)
Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803)
Vorrede
Einleitung
Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Beschluß
Zwei unvorgreifIiche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat (1804)
Erstes Gutachten
Zweites Gutachten
Rezension von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1804)
Anhang
Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778 (ausgewählte Lieder)
Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königl. Preuß. Landen, Magdeburg 1781 (ausgewählte Lieder)
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Namensregister
Register der Bibelstellen
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Kritische Gesamtausgabe: Band 4 Schriften aus der Stolper Zeit (1802-1804)
 9783110864762, 9783110174649

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 4

W G DE

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge

Erste Abteilung Schriften und Entwürfe Band 4

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Schriften aus der Stolper Zeit (1802-1804)

Herausgegeben von Ellert Herms, Günter Meckenstock und Michael Pietsch

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3 - 1 1 - 0 1 7 4 6 4 - 2 Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d d b . d e > abrufbar.

©

Copyright 2 0 0 2 by Walter de Gruyter G m b H & Co. K G , D - 1 0 7 8 5 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Readymade, Berlin Druck: Gerike G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Bandherausgeber

VII

I. Historische Einführung VII Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1802-1804 VII Schleiermachers Schriften und Entwürfe aus der Stolper Zeit (1802-1804) XV/ 1. Gedichte und Charaden XVI 2. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre . . . . XX 3. Zwei unv orgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat LXXI 4. Rezension von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums . . LXXXIV II. Editorischer Bericht LXXXVIII

Schriften aus der Stolper Zeit

(1802-1804)

Gedichte und Charaden (ab 1803)

1

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) Vorrede Einleitung Erstes Buch Zweites Buch Drittes Buch Beschluß

27 29 33 45 147 265 351

Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat (1804) 359 Erstes Gutachten 367 Zweites Gutachten 409 Rezension von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen die Methode des akademischen Studiums (1804)

über 461

VI

Inhaltsverzeichnis

Anhang Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778 (ausgewählte Lieder) 487 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königl. Preuß. Landen, Magdeburg 1781 (ausgewählte Lieder) 493 Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Namensregister Register der Bibelstellen

497 501 513 520

Einleitung der

Bandherausgeber

Der vorliegende Band „Schriften aus der Stolper Zeit (1802-1804) " enthält von Friedrich Schleiermacherx ein nachgelassenes Manuskript und drei Druckschriften. Zur Textkonstitution einer dieser Druckschriften konnte die handschriftliche Druckvorlage herangezogen werden. Das Manuskript aus dem Nachlaß wird hier erstmals zusammenhängend publiziert.1

I. Historische

Einführung

Die in den vorliegenden Band aufgenommenen Schriften und Entwürfe machen nicht das Ganze von Schleiermachers literarischen Aktivitäten während seiner zwei Predigerjahre in Stolp (zu Schleiermachers Zeiten überwiegend Stolpe genannt) aus. Um die vorliegenden Dokumente in den Umriß seiner literarischen Biographie einzuzeichnen, sollen zunächst die literarischen Arbeiten dieser Zeit knapp geschildert werden. Schleiermachers

literarische

Pläne und Unternehmungen

1802-1804

Nach einer fast sechsjährigen Predigertätigkeit an der Berliner Charite übernahm Schleiermacher zum 1. Juni 1802 die reformierte Hofpredigerstelle in Stolp (Hinterpommern)3, die er bis zum Antritt seiner Hallenser Professur im Herbst 1804 inne hatte. Der für Außenstehende unverständliche, weil auf eine Selbstschädigung hinauslaufende Entschluß, Berlin zu verlassen und die im Februar 1802 von seinem Förderer Friedrich Samuel 1

2

3

Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. In der nachfolgenden Historischen Einführung haben Ellert Herms den Abschnitt zu den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" und Günter Meckenstock die anderen Abschnitte einschließlich des Überblicks verfaßt. Im Editorischen Bericht haben Michael Pietsch die Mitteilungen für die „Grundlinien" und Günter Meckenstock die für die anderen Texte geschrieben. Vgl. die amtlichen Dokumente zum Wechsel nach Stolp in Kritische Gesamtausgabe, Bd. V/5. Briefwechsel 1801-1802, edd. A. Arndt/W. Virmond, Berlin/ New York 1999, S. XXXII-XL

VIII

Einleitung der Bandherausgeber

Gottlieb Sack (1738-1817) angebotene Stelle in Stolp anzunehmen, erfolgte allein aus persönlichen Gründen.4 Schleiermacher hoffte, seine schwierige Liebesbeziehung zu Eleonore Grunow (1769/70-1837), der er mit dem Ortswechsel die Trennung von ihrem Ehemann, dem Berliner lutherischen Prediger August Christian Wilhelm Grunow (1764-1831), erleichtern wollte, günstig zu entscheiden.5 Schleiermachers Hoffnungen des Herzens gingen nicht in Erfüllung. Eleonore Grunow hielt den gefaßten Entschluß zur Trennung nicht durch und zog im März 1803 wieder zu ihrem Ehemann.6 Schleiermachers nunmehr erschütterte Liebesbeziehung zu Eleonore Grunow endete nach einer Phase wiedergewonnener Nähe im Oktober 1805, als sie nach einem erneuten Trennungsversuch wiederum 7 zu ihrem Ehemann zurückkehrte. Die Stolper Zeit war für Schleiermacher immer ein Leben im Obergang, auch wenn er zwischenzeitlich sogar seinen baldigen Tod fürchtete.8 Die mannigfaltigen beruflichen und geselligen Verbindungen, die Schleiermacher in Berlin gepflegt hatte, wichen einem Leben in Einsamkeit.9 Seine 10 pastorale Existenz sah er dort vernichtet. 4 5

6

7

8

9

10

Vgl. KG Α V/5, Nr. 1172, 5-22 Vgl. besonders Schleiermachers Brief vom 15. Juni 1802 an Ehrenfried von Willich, KG Α V/6. Die Publikation der Briefwechsel Schleiermachers während seiner Stolper Zeit im Band KG Α V/6, für den die Briefnumerierung jetzt noch nicht vorliegt, ist für 2003 vorgesehen. Zitate aus diesen Briefmaterialien werden als Lesetext geboten. Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. April 1803: „Es ist wahr, ich hatte mir vorgenommen Berlin zu verlassen bei der ersten Gelegenheit, ehe Eleonore zu dem festen Entschluß kam sich zu trennen; aber als sie mir diesen erklärte, hätte ich den meinigen ändern und bleiben sollen, um ihr ausführen zu helfen das Schwere, das unendlich Schwere, was sie sich aufgelegt hatte." (KGΑ V/6) Zur weiteren Entwicklung des Verhältnisses zu Eleonore Grunow vgl. auch den Brief Schleiermachers an Henriette Herz vom 10. Juni 1803 (KGΑ V/6). Vgl. Briefe Friedrich Schleiermachers an Ehrenfried und Henriette von Willich geb. von Mühlenfels 1801-1806, ed. H. Meisner, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, Neue Folge 9, Berlin 1914, S. 136 Vgl. Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 10. Juni 1803: „Ewig werde ich freilich nicht in Stolpe leben, liebe Jette, aber wahrscheinlich doch so lange ich lebe." (KGΑ V/6). Für Schleiermacher, den „ Virtuosen in der Freundschaft" (An Eleonore Grunow am 10. September 1802, KG Α V/6), war Stolp die „Wüste" (An August Wilhelm Schlegel am 16. Juli 1803 und im Okt. 1803, KG Α V/6); die dortige Existenz barg „die Gefahr ein hyperboreischer Strohkopf zu werden" (An August Wilhelm Schlegel am 16. Juli 1803, KG Α V/6). Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. April 1803: „Mein Amt wäre das Einzige, was mich noch fesseln könnte, - aber hier nicht, und ich fühle auch hier den Unsegen, der darauf ruht, daß ich hergegangen bin. Hier ist auch nicht ein

Historische Schon wieder

bald

nach

zu verlassen.

gen hatte

Pläne

Schleiermacher mit,

Dienstantritt

zunächst

keinen

in Königsberg für

seine

in Stolp

suchte

Schleiermacher,

bei seinen beruflichen

Schleiermacher

eine Predigerstelle Die

seinem

Doch

IX

Einführung

Erfolg.

Seine

Bewerbung

um

mißlang.n

wichtigsten tatkräftig

Stolp

Veränderungsbemühun-

literarischen

ausführte,

die für seine kritische

Analyse

Schleiermacher

sein Projekt

Unternehmungen,

brachte

der Ethik

er bereits

und seine

aus

die Berlin

Platon-Überset-

zung. betrieb

gen aus der Symphilosophie nächst

rhapsodisch

1799 intensiv

bereits

linien einer Kritik elismesse

11

mit Friedrich

für das „Athenaeum"

mit umfangreichen

lyse der Ethik, 1803

dem Titel

der Moral,

Schlegel

(1772-1829)

geplant,

spätestens

historischen

zur Michaelismesse

aller bisherigen

unter

einer Kritik

Studien.n

1801 unter

Moral"n „Grundlinien

angezeigt, einer

entsprunund seit

Die kritische dem Titel erschien

Kritik

der

zu-

Herbst Ana„Grund-

zur

Micha-

bisherigen

Mensch der den geringsten Sinn hat für das rechte, was ich ihnen sage; ja auch das gewöhnlichere verstehen nur ein paar weibliche Ohren und es wäre thörigt zu hoffen, daß ich mir hier eine Gemeine sollte bilden können. Ja lieber Freund, das ist das rechte Gefühl der Vernichtung, wenn alles Leben und Thun nur noch erscheint, wie die seelenlosen Zuckungen eines Enthaupteten." (KGΑ V/6) Nach dem Tod des Konsistorialrats Ernst Daniel Andersch (1731-1802) bewarb sich Schleiermacher mit Brief vom 1. August 1802 um die vakant gewordene Stelle eines Hofpredigers an der reformierten Königsberger Burgkirche (vgl. KG Α V/6). Schleiermacher predigte in Königsberg am 24. Oktober 1802 über Psalm 1, 2-3 (vgl. SN 54, S. 53f) und am 31. Oktober über Rom 12, 21 (vgl. SN 54, S. 55f). Bei der Gemeindewahl am 28. November 1802 erhielten Johann Wilhelm Abegg (1768-1806) aus Erlangen 138, Schleiermacher 39 und Lüls aus Göritten 3 Stimmen (vgl. Altpreußisches evangelisches Pfarrerbuch von der Reformation bis zur Vertreibung im Jahre 1945, Biographischer Teil, Erste [Einzige] Lieferung, Abegg - Brenner, edd. F. Moeller/W. Müller-Dultz, Hamburg 1977, S. 5). Als Abegg 1806 starb, forderte das Burg-Kirchen-Kollegium Schleiermacher auf, sich um dessen Nachfolge zu bewerben; dieser lehnte ab (vgl. KGA V/6).

12

Vgl. KGA V/3. Briefwechsel 1799-1800, edd. A. Arndt/W. Virmond, Berlin/ New York 1992, Nr. 697, 76-79 und viele folgende Briefbelege. In den Gedankenheften finden sich zahlreiche vorbereitende Notate bereits seit Ende 1800, vgl. KGA 1/3. Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1988, Gedanken V, Nr. 21. 25f. 35. 56. 68. 82-92. 94-98. 101-104. 107. 112. 115-117. 121f. 126. 132. 136. 138. 144f. 150. 152f. 159161. 175.

13

Vgl. Wichmann von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, Schleiermacher-Archiv 9, Berlin/New York 1992, S. 30, Nr. 1803/1. Die Veröffentlichung war zu diesem Zeitpunkt für das kommende Jahr 1802 vorgesehen, wie ein Brief Schleiermachers an Friedrich Heinrich Christian Schwarz vom 10.

χ

Einleitung der

Bandherausgeber

Sittenlehre"14. In den weiteren Umkreis der ethischen Interessen Schleiermachers gehören auch seine Planungen für philosophische Dialoge, die aber nicht verwirklicht wurden}5 Die zweite große literarische Unternehmung in seiner Stolper Zeit ist die mit Friedrich Schlegel wohl 1800 gemeinsam begonnene und dann schließlich ab Sommer 1803 allein durchgeführte Übersetzung der Werke Piatons.16 Seit April 1803 bemühte sich Schleiermacher darum, diese Übersetzung aus der vertraglichen Bindung Friedrich Schlegels an den Jenenser Verleger Karl Friedrich Ernst Frommann (1765-1830) zu lösenu und stattdessen den befreundeten Georg Andreas Reimer (1776-1842) für die verlegerische Betreuung zu gewinnen. Schleiermacher hatte Erfolg18 und

14 15

16 17

18

Oktober 1801 belegt: „Nächstdem werden Sie vielleicht in dem MichaelisMeßverzeichnis unter den künftigen Büchern die Grundlinien einer Kritik der Moral haben, die aber erst übers Jahr um diese Zeit erscheinen sollen. Den dazu nötigen nochmaligen Wiederholungen aller Studien, nämlich der wichtigsten Schätze der praktischen Philosophie von Piaton bis auf Fichte, ist dieser Winter bestimmt und der Sommer der leichteren Arbeit des Schreibens." (KGΑ V/5, Nr. 1114, 86-92) Vgl. unten 27-357 Vgl. Schleiermachers Brief an August Wilhelm Schlegel vom 16. Juli 1803: „Habe ich es erst glüklich hinter mir so will ich auch im Ernst an etwas erfreulicheres denken, nemlich an eine Reihe philosophischer Dialogen, die ich schon lange mit mir herumtrage." (KGΑ V/6) Vgl. KG A 1/3, XCVIII-CVI Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. April 1803: „Ich wünschte, Du könntest mir in Leipzig den Gefallen thun, mit Frommann ein vernünftiges Wort über den Plato zu reden. Hat er noch keine Uebersezung von Friedrich, so ersuche ihn in meinem Namen auf das förmlichste und officiellste mein Manuscript und das corrigirte Exemplar des Phädrus an Dich zu überschicken, wogegen ich ihm verspreche, sobald von dieser Uebersezung irgend etwas erscheint, ihm die 100 Thaler, die ich von ihm erhalten habe, zu erstatten, und wenn er es billig findet, ihn auch für die Druckkosten des Phädrus zu entschädigen. Wenn Friedrich nichts gearbeitet hat, halte ich mich meines Wortes erledigt, und möchte gern freie Hand haben, das Werk, so groß es auch ist, allein zu unternehmen. Es ist fast das Einzige, was mir Freude machen kann, und wozu ich besser zu sein glaube als ein Andrer." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 20. Juni 1803: „Indeß habe ich sicherlich darauf gehofft Dir eben werde Frommanns Verfahren, insofern nemlich er sich des Plato entsagt, und Du frei von ihm wirst, angenehm seyn um meinetwillen, so wie es mich herzlich erfreut hat um Deinetwillen. Oder meinst Du etwa nicht es thue mir leid Dich mit andern Leuten in Verhältnißen zu sehen, deren Bedingungen ich eben so gut und mit gewiß nicht weniger redlichem Herzen zu erfüllen im Stande bin? Und warum sollte ich nicht eingehen in die Verbindung mit Dir, und Dir leisten was Frommann dem Friedrich zu thun versprochen hatte, da doch Frommann ein kalter Geschäftsmann ist, dem es aufs höchste dabei auf rechtlichen Gewinn ankam, und ich doch gerne nicht

Historische

Einführung

XI

machte sein neues Projekt19 in der auf den 29. Juli 1803 datierten „Anzeige die Όehersetzung des Piaton betreffend"20 öffentlich bekannt. Schleiermacher war über die teilweise ablehnende Aufnahme seiner „Anzeige" als „undeutsch und unverständlich" sehr verwundert.21 nur diesem entsagen, sondern auch selbst kleinen Aufopferungen mich unterziehen würde, Dir zu Liebe, falls es nöthig wäre? Was aber gewiß nicht ist, da das ganze Unternehmen sicherlich auch lucrativ werden wird." (KGΑ V/6) Schleiermacher verhandelte gleichzeitig mit Frommann über die Vertragsauflösung und mit Reimer über die Bedingungen des neu zu schließenden Vertrags. Frommann, dem Schleiermacher am 15. Juni 1803 die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte, erklärte ihm am 21. Juli 1803 seinen Rücktritt vom Verlagsvertrag mit Friedrich Schlegel (vgl. KGA V/6). Reimer teilte Schleiermacher am 6. Juli 1803 seine Vorschläge für die Honorarregelung (Grundhonorar mit Erfolgsprämie) und für die äußere Gestaltung der Platon-Übersetzung sowie seine Wünsche für den Publikationsbeginn mit (vgl. KGA V/6). 19

20

21

Vgl. Schleiermachers Briefe an Reimer vom 23. Juni 1803 (KGA V/6) und vom 12. August 1803 (KGA V/6) sowie Reimers Briefe vom 10. Oktober 1803 (KGA V/6) und vom 3. Dezember 1803 (KGA V/6) Die „Anzeige" erschien am 12. November 1803 im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung" (Nr. 212, Sp. 1732f), am selben Tag in dem zur „Leipziger Literaturzeitung" gehörigen Nachrichtenorgan „Neues allgemeines Intelligenzblatt für Literatur und Kunst" (St. 23, 12. November 1803, Sp. 366f; an Schleiermachers Anzeige ist hier Sp. 368 die Verlagsmitteilung angeschlossen: „Der erste Band dieser Uebersetzung des Plato erscheint unfehlbar zur Ostermesse 1804 in angemessenem Druck und Format in der Realschulbuchhandlung zu Berlin."), am 22. Januar 1804 im Nachrichtenorgan „Kaiserlich und Kurpfalzbairisch privilegirte Allgemeine Zeitung" (Nr. 22, Beilage Nr. 1, S. 3; auf S. 4 ist die Verlagsmitteilung angeschlossen: „Von der oben angekündigten Uebersetzung des Plato erscheint der erste Band zur Ostermesse 1804 unfehlbar und in einem angemessenen Aeussern im Verlage der RealSchulbuchhandlung zu Berlin.") und im Januar 1804 im „Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung" (Jg. 1, Nr. 2, Sp. 13f). Die „Anzeige" wird in KGA IV (Übersetzungen) kritisch ediert. Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 17. Dezember 1803: „Kannst Du Dir aber wol denken, daß wie mir die Herz schreibt die Leute sagen, auch die Ankündigung des Plato sei undeutsch und unverständlich? Das ist mir absolut unverständlich, ich kann gar keinen Gedanken damit verbinden. Mich soll wundern, ob sie nicht auch die Gutachten wieder werden atheistisch finden denn deutsch sind sie wol nach ihrem Sinne. Wirklich die Leute sind merkwürdig; was soll man mit ihnen machen?" (KGA V/6) Als Schleiermacher dann Anfang Januar 1804 die gedruckte Ankündigung in Händen hielt, war er mit seinem Werk doch zufrieden. Er schrieb an Reimer am 7. Januar 1804: „Durch die Uebersendung der Ankündigung hast Du mein Gewissen beruhigt; ich finde sie doch auch gedruckt ziemlich deutsch. In Hinsicht des Titels denke ich ist möglichste Kürze das Beste, und deßhalb habe ich auch nach dem Beispiel Voß des Aelteren sogar das Verdeutscht weggelassen." (KGA V/6) Auch Reimer äußerte sich am 11. Januar 1804 zustimmend zur Ankündigung: „Daß die

XII

Einleitung der

Bandherausgeber

Nach dem Abschluß der „Grundlinien" am 20. August 1803 wandte sich Schleiermacher unmittelbar der Platon-Übersetzung zu.22 In Vorbereitung und Begleitung unternahm er intensive Studien zu vielen chronologischen, lexikalischen, textkritischen und literarkritischen Fragen der Platonischen Schriften 23 Dabei stand er in intensivem brieflichem Gedankenaustausch mit Ludwig Friedrich Heindorf (1774-1816) und Georg Ludwig Spalding (1762-1811) 24 Der erste Band des ersten Teils dieser Übersetzung unter dem Titel „Piatons Werke von F. Schleiermacher" erschien in der Berliner Realschulbuchhandlung zur Ostermesse 1804 25 Neben seiner pfarramtlichen und wissenschaftlichen Tätigkeit beschäftigte sich Schleiermacher im Jahr 1803 auch mit künstlerisch-literarischen Themen. Er verfaßte eigene poetische Texte und übersetzte einzelne poetische Stücke antiker Autoren. In diesen Zusammenhang gehört das handgeschriebene Heft mit Gedichten und Charaden, das an die poetischen Versuche der Berliner Zeit anschließt und den vorliegenden Band eröffnet26 Gedrängt durch seine Pastoralerfahrungen in Berlin und Stolp wollte Schleiermacher auch ohne amtlichen Auftrag die kirchenpolitischen Reformbemühungen, die König Friedrich Wilhelm III. schon bald nach seiner Thronbesteigung persönlich stark gefördert hatte21, unterstützen und gestalten. In seiner 1804 anonym publizierten kirchenpolitischen Schrift „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat"29 erörterte er

22

2i 24

25

26 27

28

Leute die Ankündigung des Piaton nicht so ganz verständlich gefunden haben ist mir so unbegreiflich eben nicht, wenn man bedenkt wie man jetzt mit der Sprache umgeht und sie einzwängt: denn so haben es die Leute nur gemeint, den Sinn hat wohl jeder begriffen, allein die Construction. Ich für mein Theil habe sie sehr schön und wohlgeordnet gefunden, so ruhig und bedacht wie nur überhaupt eine Ankündigung, und besonders die eines solchen Werkes seyn muß; ja ich gehe so weit zu behaupten daß ich lange nichts so zweckmäßig und anständig geschriebenes gelesen habe. Einige verständige Leute, welche ich darüber gesprochen habe, waren auch sehr damit zufrieden." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. August 1803: „Nun will ich gleich vergessend was dahinter ist mich nach dem strecken was vorne ist, nämlich dem Plato." (KGΑ V/6) Vgl. beispielsweise Zum Piaton, KGA 1/3, 341-375 Vgl. beispielsweise den Briefwechsel Schleiermachers mit Heindorf und Spalding in KGA V/6 Vgl. von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers, Nr. 1804/2. Die kritische Edition der Platon-Übersetzung ist in KGA IV vorgesehen. Vgl. unten 3-26 Vgl. Erich Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten nach den Quellen erzählt, Bd. 1-2, Tübingen 1905-1907, hier 1, 95-124 Vgl. unten 359^60

Historische

Einführung

XIII

sowohl die in Brandenburg-Preußen schon lange erwogene bzw. erstrebte Vereinigung der beiden protestantischen Konfessionskirchen als auch praktikable Maßnahmen zur Verbesserung der kirchlichen Frömmigkeit. In Stolp setzte Schleiermacher seine im Berliner Frühromantikerkreis begonnene Rezensententätigkeit fort. Doch ergab sich zunächst eine stärkere Hemmung. Nach dem Ende der Schlegelschen Zeitschrift „Athenaeum " und dem Scheitern des von Schleier mach er unterstützten Projekts einer eigenen, gegen die Jenaer „Allgemeine Literaturzeitung" gerichteten kritischen 29 Zeitschrift der jungen Generation blockierte die Schließung der Erlanger „Litteratur-Zeitung" zur Jahresmitte 1802 Schleiermachers Rezensionspläne.30 29

30

Vgl. KG Α V/4. Briefwechsel 1800, edd. A. Arndt/W. Virmond, Berlin/New York, 1994, S. XL-LV Der Redakteur der Erlanger „Litteratur-Zeitung" Gottlieb Ernst August Mehmel (1761-1840) schrieb im Brief vom 3. Juli 1802: „Es thut mir unendlich leid, daß Ihr Amtswechsel Sie außer Stand setzte die Kritik über den Alarkos und Ofterdingen frühzeitig genug zum Drukke zu vollenden, um sie noch durch unsre Zeitung ins Publikum zu bringen. Herr Walther, um die Stimme in diesem nicht ganz zu verlieren gibt unter der Direktion des Professors Ortlof (eines Mannes von wahrer Gelehrsamkeit, von Geist und Kraft) ein Magazin der Kunst und Wissenschaft heraus. Verleger und Herausgeber bitten Sie, beide Recensionen für das erste Stük des Magazins welches zu Michaelis erscheint, auszuarbeiten. ... Schreiben Sie es dem plözlichen Aufhören unsrer Zeitung zu daß ich Ihre vortrefflichen Reden über die Religion nur ganz kurz im Vorbeygehen in der Anzeige Ihrer Predigten erwehnte. Auch diese Anzeige mußte in der größten Eil niedergeschrieben werden, weil der Entschluß des Verlegers die Zeitung mit dem Junius zu schließen erst den Uten Junius erfolgte und meine Geschäfte mich bis dahin abgehalten hatten an diese Anzeige zu gehen. Doch ist es mir angenehm, daß ich wenigstens Gelegenheit genug hatte, meine Liebe und Achtung gegen Sie auszudrükken." (KGA V/β) Schleiermacher kommentierte diesen Brief Mehmels gegenüber Eleonore Grunow am 19. Juli 1802: „Es ist nothwendig, daß solche Anstalten, in denen bei allem guten Willen (wenn man es mit dem Worte so genau nicht nimmt) doch keine rechte Kraft ist, untergehen, dagegen die anderen, die eine schlechte Tendenz haben, aber dafür mit einer gewissen Geschicklichkeit und Virtuosität geführt werden, wohl verdienen zu bestehen. Mein Leidwesen über das nicht zu Stande gekommensein unsrer Annalen erneuert sich bei dieser Gelegenheit mit großer Lebhaftigkeit. Ich bin sehr überzeugt, daß die Kritik in keinen bessern Händen hätte sein können, als in Wilhelm's und meinen, und früher oder später wird doch so etwas geschehen müssen. Daß ich nun eine ganz fertige und eine beinahe fertige und eine angefangene Recension übrig behalte, ist mir das unangenehmste." (KGA V/6). Fertig war vermutlich die Rezension von Friedrich Schlegels Trauerspiel „Alarcos" (vgl. KGA V/5, Nr. 1233, 49-70 sowie Schleiermachers Brief an August Wilhelm Schlegel vom 16. Juli 1803, KGA V/6), fast fertig der Aufsatz über Wilhelm Abraham Tellers „Die Zeichen der Zeit" (vgl. KGA V/5, Nr. 1162, 5-7) und angefangen die Besprechung von Friedrich von Hardenbergs

XIV

Einleitung

Dies änderte sich im Herbst

der Bandherausgeber

1803.31 Auf Grund

Schlegel angeregten Initiative Johann Wolfgang teur Heinrich tember

Carl Abraham

Zeitschrift ermacher

„Jenaische Allgemeine

ne Rezension demischen

Im Jahr

1803

Stück des zweiten Zeitschrift

32

33

34

35 36

37

1803 an und angenommen

von

fortgesetzten

Journal

1804

Schleiermacher

Bemühens

für

konnte

Prediger

gründenden

wurden.34

ein Aufsatz

ein Exemplar

bisher leider nicht aufgefunden

Sei-

des aca-

publiziert,35

Müller

und

Schlei-

unterbreitete

über die Methode

Bandes der von Justus Balthasar

heftes bibliothekarisch

31

Oktober

wurde am 21. und 23. April

„Praktisches

mit Brief vom 23. Sepmitzuarbeiten,33

Buch „ Vorlesungen

erschien

Wilhelm

Gesamtredak-

an der neu zu

Literatur-Zeitung" Anfang

die aber nur teilweise

von Schellings

Studium"

(1772-1848)

ein, als Rezensent

nahm die Einladung

seine Themenvorschläge,

Trotz

Eichstädt

1803 Schleiermacher

einer durch August

Goethes32 lud der

im

zweiten

herausgegebenen Predigergeschäfte".36

dieses

Zeitschriften-

werden.37

Roman „Heinrich von Ofterdingen" (vgl. KGA V/5, Nr. 1219, 4 sowie Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 15. Juni 1802, KGA V/6). Publikationspläne äußerte Schleiermacher auch in seinem Brief an Eleonore Grunow vom 12. August 1802 (vgl. KGA V/6). Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer von Mitte September 1803: „ Wenn wirklich Goethe und Schiller die neue Litteraturzeitung dirigiren und Eichstädt wie es heißt unter ihnen redigirt so wird sich gewiß alles Gute in dem neuen Institut versammeln und alle Philisterei welche doch in der lezten Zeit stark zunahm in der Halleschen zurückbleiben. Jenes wäre dann eine Anstalt, in der ich wol eine Stimme zu haben wünschte. Eine heimliche Neigung zur Kritik habe ich immer; es ist ein mir selbst, mit Maßen getrieben, sehr nüzliches Geschäft, und ich glaube auch daß ich manches Gute darin leisten und hier und da den Vermittler zwischen den streitenden Partheien abgeben könnte - so wie auch vieles im Plato eine Vermittlung zwischen der alten und neuen Ansicht der Philosophie sein wird." (KGA V/6) Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Werke, Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 16, Weimar 1894, S. 477 Vgl. Schleiermachers Briefwechsel mit Eichstädt, ed. H. Patsch, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 2, 1995, S. 255-302, hier 267f In seinem Antwortbrief vom 7. November 1803 teilte Eichstädt mit, welche der von Schleiermacher vorgeschlagenen Rezensionsthemen (Schellings „ Vorlesungen", Falks „Kleine Abhandlungen die Poesie und Kunst betreffend", Pestalozzis Lehrbücher, Kants Pädagogik und Friedrich Schlegels Trauerspiel „Alarcos") angenommen und welche Rezensionsprojekte ihm zusätzlich angetragen seien (vgl. Briefwechsel mit Eichstädt, ZNThG 268-270). Vgl. unten 463-484 Eine Briefmitteilung Reimers an Schleiermacher vom 5. Dezember 1803 stellt die Publikation außer Zweifel: „... auch habe ich noch 3 Rth. 16 gr. von Wilmsen erhalten[;] es soll Honorar für einen Aufsatz von Dir in Müllers praktischem Journal für Prediger seyn." (KGA V/6) Vgl. auch KGA 1/3, XHIf

Historische

Einführung

XV

Durch Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) erhielt Schleiermacher zum Jahresanfang 1804 „ganz unerwartet einen Ruf nach Würzburg als Professor der praktischen Theologie"™. Nachdem seine Wünsche an die Ausgestaltung dieser Stelle weitgehend erfüllt waren, nahm er am 29. Februar 1804 das förmliche Berufungsangebot vom 11. Februar 1804 auf eine „Professur der theologischen Sittenlehre und der damit verbundenen praktischen Studien nebst einem Theil der Vormittagspredigten in der protestantischen Kirche zu Würzburg"39 an. Doch war wegen seiner Herzenslage mit Eleonore Grunow und der nicht ganz befriedigenden Regelung der Predigerstelle sein Entschluß nicht frei von gewissen Vorbehalten. Sein Gesuch um Verabschiedung aus dem preußischen Staatsdienst wurde mit der Mitteilung beantwortet, der König wünsche seine weitere Anwesenheit in Preußen und sichere ihm eine gute Predigerstelle in Berlin zu.40 Da Schleiermacher sich an seine bereits erfolgte Zusage nach Würzburg gebunden fühlte, wurde auf seinen Hinweis schließlich sein Abschiedsgesuch förmlich abgelehnt.41 Statt der Würzburger ordentlichen Professur in Verbindung mit einem außerordentlichen Predigeramt erhielt Schleiermacher in Halle an der Saale eine ordentliche Universitätspredigerstelle in Verbindung mit einer außerordentlichen Professur für Theologie und Philosophie; zugleich wurde ihm die Aussicht auf eine Stelle in Berlin gegeben.41 Am Abend des 31. August 1804 verließ Schleiermacher Stolp43, um mit jeweils mehrtägigen Aufenthalten in Stettin und Landsberg zunächst nach 38 39

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Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 29. Januar 1804, KG Α V/6 Schleiermachers Brief an Johann Baptist Aloys Samhaber vom 29. Februar 1804, KG Α V/6 Vgl. Friedrich Wilhelm von Thulemeiers Brief an Schleiermacher vom 6. April 1804, KG Α V/6 Vgl. Schleiermachers Brief an Thulemeier vom 11. April 1804, KG Α V/6 und Thulemeiers Brief vom 24. April 1804, KG Α V/6 Vgl. die Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle bei Dankfried Reetz: Schleiermacher im Horizont preussischer Politik, Waltrop 2002, S. 43-67. Reimer, dem Schleiermacher am 12. Mai 1804 den Ruf nach Halle bestätigt hatte, schilderte in seinem Brief vom 17. Mai 1804 den Einfluß Sacks als nicht gering. „ Uebrigens ist es ganz herrlich und über alles erfreulich für mich daß sich alles so zu Deinem Besten und mit solcher Auszeichnung für Dich entschieden hat, auf eine Art, deren man wohl nicht viel andere Beispiele in unserm Staate aufzuzeigen haben möchte, und wie schön ist es nicht daß Du uns nun so nahe dadurch kommen wirst, und immer näher, weil es mit der gegebenen Aussicht auf Berlin keinesweges auf ein leeres Versprechen abgesehen ist; wie ich dies aus Sacks Aeußerungen schließen muß. Sack hat den Bericht über Dich erstattet, und ist gewiß nicht ohne Verdienst um Deine Versetzung." (KGΑ V/6) Vgl. den Brief an Reimer vom 30. August 1804: „Vom Minister Thulemeier habe ich zwar noch keine Erlaubniß abzugehn, habe aber doch meine Abreise

XVI

Einleitung

der Bandherausgeber

Berlin zu reisen. Dort hielt er sieb mehrere Wochen auf und erreichte schließlich am 12. Oktober früh um ein Uhr seinen neuen Berufsort Halle an der Saale.44

Schleiermachers

Schriften und Entwürfe aus der Stolper Zeit

(1802-1804)

1. Gedichte und Charaden Das eigenhändige Manuskript mit Gedichten, poetischen Übersetzungen und Charaden wird im Schleiermach er-Nachlaß des Archivs der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Nummer 232 aufbewahrt und besteht aus vier lose ineinander gelegten Doppelblättern. Die Blattränder sind außen und unten stark gezahnt bzw. eingerissen, oben aber glatt geschnitten. Die Blätter sind etwas unterschiedlich groß, nämlich ungefähr 17 bis 18cm breit sowie 21 bis 22cm hoch. Durch Knicken ist jeweils ein etwa 6 bis 7cm breiter Rand abgeteilt. Das stockfleckige Papier mit Wasserzeichen ist auf den Blättern 1-5 beidseitig mit Sepiatinte beschrieben, die Rückseite von Blatt 5 allerdings nur im oberen Fünftel; die Blätter 6-8 sind unbeschrieben. Der rote Eigentumsstempel „Litteraturarchiv Berlin" befindet sich am Anfang und am Ende der Niederschrift. Das Manuskript ist ohne Titelseite und ohne Gesamtüberschrift. Neben Gedichten in Reinschrift stehen auch poetische Texte, die den Formulierungsprozeß durch mehrere Fassungen dokumentieren.45 Die Charaden sind zumeist sauber geschrieben. Bei ihnen deutet das Schriftbild auf eine Sammlung bereits anderwärts notierter Textfassungen hin.

44

45

wenn ich nicht Morgen ein ausdrückliches Verbot bekomme auf Morgen Abend festgesezt." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 13. Oktober 1804: „Glüklich bin ich angekommen aber spät; erst Gestern um Ein Uhr. Alles komt mir freundlich genug entgegen. Aber Montag über acht Tage muß ich mit Allen andern anfangen zu lesen und bis dahin noch welche Noth bei meiner großen Unbeholfenheit zumal!" (SN 761/1, Bl. lr) Dabei ist hier wie bei vielen Manuskripten Schleiermachers die Berechtigung der von Friedrich Samuel Gottlieb Sack am 19. Januar 1803 gegen Schleiermacher geäußerten Klage augenfällig: „ Wenn Sie durch Ihren Buchhändler eine Klage über die unerhörte Kleinheit Ihrer Handschrift vernehmen sollten: so will ich es nur gestehen, daß ich sie veranlaßt habe. Meine Augen haben mir in Wahrheit 2 Tage von der, oft vergeblichen Anstrengung, diese mehr als Perlen Schrift zu lesen, wehe gethan, und wenn die Charite von blindgewordenen Setzern, und Censoren voll wird, soll michs nicht wundern. Aus Barmherzigkeit also schreiben Sie etwas größer und schonen des Papiers nicht, oder es ist nicht möglich, daß Ihr Moralsystem mit Gerechtigkeit und Liebe in Verbindung gebracht werden könne." (KGΑ V/6)

Historische

Einführung

XVII

Der Entstehungsprozeß dieses Manuskripts läßt sich durch Verbindungen zu Schleiermachers Briefwechsel, durch inhaltliche Merkmale und durch literarische Bezüge gut ermitteln. Der Briefwechsel des Jahres 1803 ist ergiebig, weil sich Schleiermacher mehrfach die Beurteilung poetischer Texte erbat und auch metrische Regeln erörterte. Das vorliegende Heft vereinigt Texte sehr unterschiedlicher Arten und Entwicklungsstufen. Der Niederschriftbeginn des vorliegenden Gedichtheftes ist vor dem 10. August 1803 anzusetzen. Das Manuskript beginnt nämlich mit einem Gedicht, dessen Letztfassung Schleiermacher der Übersendung seiner „Monologen" an Charlotte von Kathen am 10. August 1803 beigegeben hat.46 Andere Briefzeugnisse belegen, daß die epigrammatischen Übersetzungen bereits in den Frühsommer zurückreichen. Georg Ludwig Spalding schickte am 17. Juli 1803 eine briefliche Beurteilung mehrerer poetischer Texte.47 In das uns vorliegende Manuskript sind einige Anregungen Spaldings als neue Textfassungen aufgenommen,48 Einige andere Formulierungen Spaldings sind als Alternativen notiert.49 Die vorliegende Textfassung hat Schleiermacher also wohl noch nicht als endgültig angesehen. Unklar bleibt, wie viele und welche poetische Texte Schleiermacher an Spalding zur Begutachtung geschickt hat.50 Die älteren Ausarbeitungen, die Schleiermacher Spalding mitgeteilt hatte, sind nicht mehr erhalten. Unklar ist auch, ob die Formulierungsalternativen, die sich Schleiermacher auf dem Rand von Blatt 2v und 3r vermerkt hat51, mit den Anregungen Spaldings im Zusammenhang stehen. Auch August Wilhelm Schlegel (1767-184S) begutachtete einige poetische Versuche Schleiermachers; besonders bei den Übersetzungen antiker

46

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51

Vgl. Schleiermachers Briefe an Charlotte von Kathen, an Ehrenfried von Willich vom 10. August 1803 und an Eleonore Grunow vom 20. August 1803 (vgl. KGA V/6) Vgl. Spalding: „Ihre Hexameter sind schön, und wenn Sie wissen und NB mir nachweisen können, daß Sie poesielos sind, so ist das ein neuer Beweis, daß ich von der Poesie nichts verstehe. ... Geben Sie nur immer mehr hervor von diesen Fragmenten, die des teut-hellenischen Verses so werth sind." (KGA V/6) Auch der Brief an Henriette Herz vom 30. Juli 1803 spricht diesen Sachverhalt an: „... ich habe zuerst die Ankündigung des Plato gemacht, die ich Spalding schikken will, der auch die Distichen bekommen hat." (KGA V/6) Vgl. unten 9,11-15 und 10,1-3 Vgl. unten 9-11 Spalding geht in seiner Beurteilung vom 21. Oktober 1803 besonders auf die Versmessung und Schleiermachers Buchstabengebrauch ein: „Mit solchen kleinen Änderungen sind die Epigramme vortreflich übersezt." (KGA V/6) Vgl. unten 12,15 und 14,14

XVIII

Einleitung der

Bandherausgeber

Epigramme ermunterte er Schleiermacher zur Weiterarbeit.52 Für die Fragen der Metrik erhoffte sich Schleiermacher Belehrung durch die Darlegungen „Zeitmessung der deutschen Sprache" von Johann Heinrich Voß (17511826) und durch den Band „Gedichte" von Karl Gustav von Brinckmann (1764-1847).53 Zwei Gedichte erlauben aus inhaltlichen Gründen eine genaue Datierung. Das Gedicht „An der See"54 dürfte im Sommer 1803 in Stolpmünde55 geschrieben sein. Das Gedicht „Am 21. November"56 thematisiert die Krise in der Beziehung zu Eleonore Grunow und muß ebenfalls ins Jahr 1803 gewiesen werden. Für die Datierung lassen sich auch zwei literarische Bezugnahmen auswerten. Die von Friedrich Jacobs herausgegebene Sammlung „Tempe", auf die Schleiermacher bei seiner Übersetzung des Epigramms „11,15"

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53

54 ss 56

Das Worträtselgedicht „Logogryph" kommentierte A. W. Schlegel in seinem Brief vom 26. September 1803, vgl. unten Anm. zu 16,1. Im selben Brief ermunterte er auch zu poetischen Übersetzungen: „ Wenn ich aber die Kürze der Zeit, und die Menge der Arbeiten bedenke, so bin ich doch froh einen Bundesgenossen an Ihnen zu finden. Denn Sie sind bis jetzt für die alten Dichter der einzige. Machen Sie nur recht viel in dieser Art und theilen Sie mir recht viel mit. Zum Rigorismus darf ich Sie nicht erst ermahnen." (KGA V/6) Am 12. Oktober 1803 schrieb Schleiermacher an August Wilhelm Schlegel zu Fragen der Metrik: „ Auf Vossens Zeitmessung hoffe ich mit jedem Posttag und werde sie dann recht gründlich studiren. Vorläufig hatte ich indeß nicht geglaubt daß Sie ihm beistimmen würden in dem Verbot die zweisilbigen Partikeln wenn sie keinen ächten Diphtong haben, wenigstens in der Zusammensezung als Doppelkürzen zu gebrauchen." (KGA V/6) Das sehnlich erwartete Buch schickte Spalding mit Brief vom 21. November 1803: „Übrigens schikke ich Ihnen auch Vossens Zeitmessung hiebei, und, ich will's nur übers Herz bringen, auch den ersten Theil seiner lyrischen Gedichte, worin alle die Stükke stehn mit antikem Versmaße. Es sind doch wahre Gedichte drin, was auch der von mir unbändig (mit langem un) gehaßte August Wilhelm sagen mag. Freilich auch trash. Ist der Geschmack, das gemeine Erziehungsgefühl - ist's denn zuweilen einerlei mit der Schönheit? Voß ist zuweilen ekelhaft gemein." (KGA V/6) Schleiermacher erwartete metrische Belehrung am 26. November 1803 auch durch Karl Gustav von Brinckmann: „Ich mache dabei eine Nebenspeculation auf Deine Gedichte. Außerdem daß ich stark hoffe zu den Manchen zu gehören, die das Talentchen interessirt, habe ich große Lust die metrische Kunst darin als eine Beispielsammlung zu gebrauchen." (KGA V/6) Brinckmanns einbändige Sammlung „Gedichte" erschien 1804 in Berlin. Unten 12,11-13,21 Vgl. Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 15. Juni 1803, KGA V/6 Unten 22,3-23,6

Historische

Einführung

XIX

verweist57, erschien 1803. Die von Voß vorgenommene Übersetzung, die Schleiermacher beim folgenden Epigramm angibt58, wurde 1802 publiziert. Die Gedichte, Epigramme und poetischen Obersetzungen dieses Manuskripts dürften alle im Jahr 1803 entstanden sein. Die darauf folgenden Charaden dagegen sind vermutlich später geschrieben und gehören wohl in die Hallenser Zeit. In einem Rätselgedicht wird der „Markt zu Halle"59 genannt; diese Bezugnahme setzt vermutlich die lebendige Anschauung dieses Ortes auch bei den Rätselnehmern voraus und nicht nur die Erinnerung an die Studienzeit des Rätselstellers. Die Charaden sind Zeugnisse von Geselligkeit, und davon hatte Schleiermacher in Stolp beklagenswert wenig. Auch wenn einige Rätselgedichte während seines Aufenthalts im Juni/Juli 1804 auf Rügen60 verfaßt sein können, weisen die Indizien doch wohl auf seine gesellige Zeit in Halle 1805/06. Das vorliegende Manuskript hat 1986 Hermann Patsch erstmals beschrieben.^ Die in diesem Gedichtheft gesammelten Texte hat Patsch nicht zusammenhängend in einem Block ediert, sondern nach ihren poetischen Gattungen aufgeteilt und jeweils unter den Rubriken „Die empfindsamen Gedichte", „Die Epigramme", „Die Übersetzungen aus dem Griechischen" und „Charaden" gemeinsam mit Texten anderer Handschriften sowohl editorisch kommentiert62 als auch abgedruckt63. Die verschiedenen Fassungen der Gedichte sind teilweise im Apparat nachgewiesen und dabei auch nicht immer alle Stufen unterschieden. Einige der vorliegenden Charaden sind 1829 zusammen mit anderen Rätselgedichten gedruckt worden unter der Überschrift „Charaden von Friedrich Schleiermacher" in dem von Amadeus Wendt herausgegebenen „Musenalmanach für das Jahr 1830".64 Die gedruckten Charaden werden in

57 58 59 60 61

62 63 64

Vgl. unten 20,13 Vgl. unten 21,8 Unten 25,6 Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 12. Mai 1804, KG Α V/6 Vgl. Hermann Patsch: Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Schleiermacher-Archiv 2, Berlin/New York 1986, S. 87-90, Das Gedichtheft (H[and]s[chrift] A) Vgl. Patsch: Alle Menschen 103-157 Vgl. Patsch: Alle Menschen 177-221 Musenalmanach für das Jahr 1830, ed. A. Wendt, Leipzig [1829], S. 262-273. Schleiermachers Beitrag im „Musenalmanach" ist unter Verwendung der alten Ausgabe wiedergegeben in: Andreas Arndt/Wolf gang Virmond: Friedrich Schleiermacher zum 150. Todestag. Handschriften und Drucke, Berlin/New York 1984, S. 102-111; vgl. die bibliographischen Angaben bei Arndt/Virmond Nr. 127 und bei Meding Nr. 1829/1.

XX

Einleitung der

Bandherausgeber

KG A 1/14 kritisch ediert. Dort wird auch die komplizierte Überlieferungsund Druckgeschichte dokumentiert, die bereits Patsch geschildert65 hat. 2. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre Zur Michaelismesse 1803 veröffentlichte Schleiermacher im Verlag der Realschulbuchhandlung, der sich seit 1801 im Besitz seines Berliner Freundes Georg Andreas Reimer befand, seine Schrift „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre". Die Druckschrift im Oktavformat mit einem Satzspiegel von 8,2 cm Breite und 14,2 cm Höhe umfaßt 33 Druckbögen mit 489 Seiten Text, an die sich eine unpaginierte Seite mit einem Druckfehlerverzeichnis anschließt. Die 16 Seiten starken Druckbögen sind durch Großbuchstaben (A-Z) bzw. eine Kombination von Groß- und Kleinbuchstaben (Aa-Hh) gezählt; der letzte Druckbogen (Hh) besteht lediglich aus 10 Seiten. Vorangestellt ist ein römisch paginierter Druckbogen, der nach einem leeren, unpaginierten Blatt das Titelblatt und die „Vorrede" (S. IIIX) beinhaltet. Die normale Textseite hat einen Umfang von 30 Zeilen, die der „Vorrede" 22 Zeilen. Ein Inhaltsverzeichnis fehlt. Das erste Buch66 bietet eine „Kritik der höchsten Grundsätze der Sittenlehre" aus dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit zur Begründung eines wissenschaftlichen Systems der Ethik. Das zweite Buch67 wendet sich dann der „Kritik der ethischen Begriffe" zu, durch welche die Handlungsweise, in Beziehung auf die leitende Idee sowohl, als auch auf ihren besonderen Gegenstand, jedesmal bezeichnet wird. Hier werden zunächst die formalen ethischen Begriffe (Pflichtbegriff, Tugendbegriff, Begriff der Güter und Übel)69 und anschließend die einzelnen realen ethischen Begriffe69 darauf hin geprüft, ob sie unter einander und mit der leitenden Idee jeweils in richtigem Zusammenhang stehen und das durch sie aufgegebene Handeln ethisch hinreichend bestimmt ist. Das dritte Buch70 schließlich widmet sich der „Kritik der ethischen Systeme" in Absicht ihrer Vollständigkeit und Geschlossenheit, d. h. der Frage, ob die Gesamtheit der ethischen Begriffe in den einzelnen Systemen auch die Gesamtheit des möglichen menschlichen Handelns ausfüllt und nichts, was darin ethisch gebildet werden könnte, ausschließt oder unbestimmt läßt.

65 66 67 68 69 70

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Patsch: unten unten unten unten unten

Alle Menschen 142-1 SO 45-146 147-264 155-200 201-253 265-350

Historische

Einführung

XXI

Dieser Aufbau der „Grundlinien" ergibt sich aus der Absicht, die Schleiermacher mit dem Werk verfolgt, die ihrerseits in der Vor- und Motivgeschichte des Werkes begründet ist. Letztere reicht zurück bis in Schleiermachers Studienzeit und die Konstellation intellektueller Interessen, die das Ergebnis der Studienjahre war und den Schwerpunkt der ersten eigenen Arbeitsprojekte in der Drossener, Schlobittener, ersten Berliner und Landsberger Zeit bestimmte, also in den siebeneinhalb Jahren zwischen Mai 1789 und September 1796. Nachdem in den Studienjahren bereits eine erste kritische Beschäftigung mit den moralphilosophischen (ethos-theoretischen) Positionen Piatos, Aristoteles, der Leibniz- Wolff sehen Schule und Kants erfolgt war71, stand nun in den Jahren erster Selbständigkeit der Versuch im Mittelpunkt, eine eigene Moralphilosophie zu entwickeln. Die bedeutendsten Zeugnisse dieser Bemühungen liegen in den Entwürfen „Über die Freiheit" (17901792)72 und „Über den Wert des Lebens" (1792/93)73 vor, sowie in deren Modifikation durch die in den Spinozismustexten von 1793/9474 bezeugte, durch Jacobi vermittelte Bekanntschaft mit Spinoza75. Bereits für diesen ersten und schlechthin grundlegenden moralphilosophischen Arbeitsgang Schleiermachers ist ein methodischer Zweischritt charakteristisch: Die Ausbildung seiner eigenen moralphilosophischen Einsichten ergab sich aus dem „kritischen" Studium bisheriger moralphilosophischer Lehren. Dieser Zweischritt wurde nicht nur faktisch vollzogen, sondern er war Schleiermacher auch durchaus bewußt. Erste-von Zweifel und Unsicherheit getönte - Erwägungen zur Veröffentlichung eigener Arbeitsergebnisse, die am 22. Juli 1789 von Drossen aus Karl Gustav von Brinckmann brieflich vorgetragen wurden, beschränkten nämlich diese Möglichkeit zunächst auf die Ergebnisse einer Kritik vorliegender Theorien unter expliziter Hintanstellung der zusammenhängenden Darstellung einer eigenen Position: „Billig sollt' ich nun aufhören ..., wenn es nicht noch 71

Diese Beschäftigung beruhte zunächst auf einer von den jeweiligen Umständen abhängigen selektiven Textauswahl und auch ζ. T. auf Hinweisen aus zweiter Hand, wie besonders im Falle Spinozas, der Schleiermacher zunächst nur durch Jacobis Darstellung bekannt war. Vgl. dazu Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, S. 21-163.

72

Vgl. KG A Hl. Jugendschriften 1787-1796, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1983, S. 219-356 Vgl. KG Α Hl, 393-471 Vgl. Spinozismus, KG Α Hl, 513-558 und Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems, KGA III, 561-582 Vgl. dazu Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza, Schleiermacher-Archiv 5, Berlin/New York 1988

73 74

75

XXII

Einleitung der

Bandherausgeber

einen Punct gäbe, der mir sehr am Herzen liegt, und das sind die kritischen Briefe. Je mehr ich fühle, wie ungeschickt ich bis jezt noch bin, etwas zusammenhängend oder nur einiger Maßen systematisch vorzutragen, desto mehr Zutrauen faß' ich zu der Schreibart, deren wir uns in diesen Briefen bedienen könnten, da ich mir es doch einmal nicht ganz ableugnen kann, daß in meinem Köpfchen so manche Ideen sich kreuzen, die vielleicht den Umständen nach in keinem andern Kopf so gefaßt werden konnten, und die dennoch der Beherzigung verdienen. Ich konnte mich nur Anfangs in meine jezige Lage gegen die Literatur nicht recht finden, und das benahm mir den Muth. Allein der jezige Zustand der Philosophie und einige gangbare Artikel können mir Stoff genug geben, bis sich diese Lage, die allerdings etwas unangenehm ist, ändert. Ich wäre demnach stark dafür, daß man die Idee nicht fahren ließe, sondern vielmehr auf die besten Mittel zur Ausführung bedacht wäre. An Materie kann es nicht fehlen und wenn man erst über die ganze Einrichtung über ein gekommen wäre, so würde die Hauptsache die seyn, daß man ein Weilchen vorarbeitete damit es hernach durch keinen Zufall ins Stocken geräth. Auf diese Weise könnte wenn es Bogenweise erscheinen soll spätestens mit Anfang des Neuen Jahrs das erste erscheinen; soll es lieber Stückweise herauskommen, so möchte es sich doch wol bis Ostern verziehn. "76 „Kritisches" Studium der von anderen schon erreichten wissenschaftlichen Einsicht als der einzig mögliche Weg zur Gewinnung eigener, möglicherweise über das Erreichte hinausgehender, verbesserter Einsicht - das blieb das faktisch befolgte Erkenntnisverfahren Schleiermachers, zu dem er sich schließlich auch programmatisch bekannte. Ihm folgt auch der spätere Entschluß, der Öffentlichkeit zunächst eine Darstellung der Kritik der bisherigen Moralphilosophie zu geben und erst dann die Darstellung der- erst durch diese Kritik gewonnenen - eigenen Moralphilosophie.77 Schließlich wird die Reifung des Systems der Einsichten Schleiermachers auch das programmatische Bekenntnis zur Exklusivität eben dieses Verfahrens - über die Kritik der vorliegenden Lehren zur eigenen Einsicht und ihrer Darstellung zu gelangen - hervorbringen,78 Es war die auf den August 1797 datierende und sich schnell zur Freundschaft entwickelnde Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel, die Schleier76

77 78

KG Α V/1. Briefwechsel 1774-1796, edd. A. Arndt/W. Virmond, Berlin/New York 1985, Nr. 119, 313-333 Vgl. unten 29,2-30,13 und 35,2-43,20 Vgl. Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I.), in: Werke. Auswahl in vier Bänden, edd. Otto Braun/Johannes Bauer, Bd. 2. Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, Leipzig 1927 (Nachdruck Aalen 1967), S. 523f; Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, ed. HansJoachim Birkner, Philosophische Bibliothek Bd. 335, Hamburg 1981, S. 191 f

Historische

Einführung

XXIII

macher anregte und ermutigte, dem schon seit 1789 erwogenen Gedanken an eine öffentliche Darstellung seiner moralphilosophischen Studienergebnisse näherzutreten. Wie sich die Gespräche darüber zwischen Schlegel und Schleiermacher im einzelnen entwickelten, läßt sich nicht mehr nachzeichnen. Schleiermacher selbst scheint jedoch weiterhin vorgeschwebt zu haben, den Anfang eben mit einer Darstellung seiner Kritik bisheriger Sittenlehren zu machen und dieser erst in einem zweiten Schritt die positive Darstellung seiner eigenen Moralphilosophie folgen zu lassen. Belegt ist nämlich, daß Schleiermacher im Oktober 1797 in der Berliner „Mittwochsgesellschaft" einen Vortrag über die „Immoralität aller Moral" hielt, der zwar selbst verloren ist, über den aber Berichte Friedrich Schlegels erhalten sind. An Karl Gustav von Brinckmann schreibt dieser im Oktober 1797: „Schleyermacher hat den Mittwoch durch eine göttliche, ja was mehr ist philosophische, und was noch mehr ist, cynische Vorlesung über die Immoralität der Moral geadelt."79 Und an seinen Bruder August Wilhelm Schlegel heißt es unter dem 31. desselben Monats: „Mein Freund Schleyermacher, der mich neulich durch eine wirklich große Skizze über die Immoralität aller Moral überrascht, hat einige kritische Sachen vor, die glaube ich meisterhaft ausfallen dürften ..."80. Diese Berichte Friedrich Schlegels sowie die äußeren Umstände legen nahe, was im Blick auf den Gedanken an die „kritischen Briefe" vom Juli 1789 noch nicht möglich ist, nämlich die erwähnte „große Skizze" vom Oktober 1797 tatsächlich als die erste, zunächst im geschlossenen Kreis mündlich vorgetragene Artikulation eben desjenigen Projekts einer „Kritik der Moral" anzusehen, welches dann durch die Veröffentlichung der 81 „Grundlinien" im Herbst 1803 abgeschlossen wurde . Dafür spricht erstens der Unterschied, daß 1789 die Kritik geplant wird, weil noch keine zusammenhängende Sicht der Sache erreicht sei, während der Aufweis der Amoralität aller Moral im Oktober 1797 nun allerdings schon den Grundriß einer zusammenhängenden Sicht der Dinge im Rücken hat-ganz so wie dann auch die „Grundlinien". Und dafür spricht zweitens, daß Friedrich Schlegel Schleiermacher schon im kommenden Jahr 1798 wiederholt auf die „Kritik der Moral" ansprechen kann82, an der dieser offensichtlich ar79

80 81

82

Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, ed. E. Behler, Bd. 24. Die Periode des Athenäums, ed. R. Immerwahr, Paderborn 198S, Nr. 24 F. Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 24, Nr. 26 Vgl. Andreas Arndt: Schleiermacher und die englische Aufklärung, in: 200 Jahre „Reden über die Religion". Akten des I. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14-17. März 1999, edd. U. Barth/C.-D. Osthövener, Schleiermacher-Archiv 19, Berlin/New York 2000, S. 181-194, hier 183 Vgl. KG Α V/2. Briefwechsel 1796-1798, edd. A. Arndt/W. Virmond, Berlin/ New York 1988, Nr. 483, 22-40, Nr. 502, 17 und Nr. 503, 47-50

XXIV

Einleitung der

Bandherausgeber

beitet. Das 1803 vollendete Projekt geht also sicher bis spätestens auf den Herbst 1797 zurück. Das aber heißt dann auch umgekehrt: Die „ Grundlinien" schließen ein wissenschaftliches Arbeitsvorhaben ab, welches schon am Beginn der zweiten Berliner Zeit - vor der Bekanntschaft mit Schlegel und ihren Einflüssen auf Schleiermacher - entworfen und im skizzenhaften Umriß festgestellt war. Das Projekt wurde kontinuierlich im Blick behalten und im günstigen Moment - nach Eintritt in das Stolper Amt - sofort realisiert. Es ist somit der einheitliche und kontinuierlich festgehaltene wissenschaftliche Interessenhorizont, innerhalb dessen die Arbeitsphase seit 1796 im ganzen steht, also auch schon die sechs Berliner Jahre bis 1802s3 samt ihrer reichen Produktivität und allen ihren Erträgen. Dann darf aber auch der direkte sachliche Anschluß dieses 1803 abgeschlossenen Vorhabens an die aus dem Studium resultierende Interessenlage nicht übersehen werden. Angesichts dessen ist dann sogar zu sagen: mit der Veröffentlichung der „ Grundlinien " im Jahre 1803 wurde nur der erste Teil eines Gesamtprojekts abgeschlossen, das als ganzes über die Kritik der bisherigen Sittenlehre hinaus auch auf die positive Darlegung der aus dieser Kritik gewonnenen eigenen moralphilosophischen Einsichten zielte und als dieses Gesamtprojekt frühestens mit dem erstmaligen zusammenhängenden positiven Vortrag von Schleiermachers philosophischer Ethik in den Hallenser Vorlesungen der Jahre 1805/0684 eine erste Realisierung seines Ziels err eichte.85 Angesichts dieses Befundes gehören auch die Schriften und Entwürfe der Berliner Zeit von 1796 bis 1802 in die Vorgeschichte der „Grundlini83

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85

Dies belegen nicht nur die vielfachen Bezüge auf die „Kritik der Moral" in Schleiermachers fünftem Gedanken-Heft (vgl. oben Anm. 12), sondern auch ein Brief Schleiermachers an Alexander Graf zu Dohna vom 10. April 1803, wo es im Blick auf die „Kritik der Moral" heißt: „Die Materialien waren alle in Berlin schon gesammelt ..." (KGA V/6). Vgl. auch oben Anm. 13. Vgl. Brouillon zur Ethik (1805/06), in: Werke, edd. O. Braun/J. Bauer, Bd. 2, S. 79-239; ed. Hans-Joachim Birkner, Philosophische Bibliothek Bd. 334, Hamburg 1981 Schleiermachers Weiterarbeit an dieser positiven Darstellung seiner eigenen Ethik wird durch die späteren Entwürfe - für Vorlesungen und im Anschluß an sie - belegt. Eine von Schleiermacher selbst veröffentlichte Version seiner Ethik liegt vor in seinen sechs einschlägigen Akademieabhandlungen: „Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs ", „ Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs ", „ Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz", „Über den Begriff des Erlaubten", „Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung" und „ Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung." Die kritische Edition der Akademievorträge Schleiermachers erscheint in KGA Uli.

Historische

Einführung

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en", vor allem die Erstgestalt der Reden „Über die Religion" (1799)u und der „Monologen " (1800)s?. Sie unterbrechen nicht das moralphilosophische Projekt und sind keine Exkurse in andere Sachgebiete. Vielmehr läßt sich erkennen, welchen Ort sie innerhalb der einheitlich fokussierten Vorgeschichte der „Grundlinien" einnehmen. Den Schlüssel liefert folgende Kommentierung von Schleiermachers Projekt einer „Kritik der Moral" durch Friedrich Schlegel aus der ersten Julihälfte des Jahres 1798: „Göttlich ists aber daß Du am Kant bist. Nur nimm ja den Fichte mit; vielleicht wäre es am besten ihm zu zeigen, daß sein System von Moral und Naturrecht mit dem Kantischen identisch sey, wie ich es dafür halte im Ganzen nämlich. Seiner Mystik der Rechtlichkeit, seinem bis zum Liebenswürdigen rechtlich seyn, kann man dabey leicht Gerechtigkeit und Schonung wiederfahren lassen, da das grade nur individuell und doch nicht eben das höchste ist. Ich glaube Deine Kritik der Moral, die wenn sie im Ton zu polemisch wird, als eigner Aufsatz, wenn sie aber historisch bleibt, als zweyte Rhapsodie der historischen Ansichten der Philosophie das Athenäum zieren soll, bedarf gewiß, einer Construction und Constitution der ganzen vollen Menschheit und Moralität im Gegensatz der isolirten Philosophie. Sollte diese am Anfang oder am Schluß am besten thun, oder vertheilt werden müssen? Ich kann Dir nicht sagen, wie ich mich darauf und damit freue. Es ist mein höchster litterarisch er Wunsch, eine Moral zu stiften, und im Athenäum durch die Essays und auch sonst für diesen großen Zweck zu präludiren. Aber ich glaube nicht daß ich kann, ohne Dich; es ist weniger Deine Arbeit deren ich bedarf als Deiner Befruchtung und auch Deiner Berichtigung. Denn ich kann dieser sehr bedürfen, da ich der Poesie in alle Sackgäßchen des Universums nachlaufen muß, und Fichte nicht so verachten darf, wie Du auf Deinem Standpunkte mußt. Du mußt es, und zwar kann diese sehr begeisterte Verachtung nur absolut seyn; auch muß sie grader sprechen, da die Verachtung des ganzen Menschen nur im Hintergrund lächeln darf; doch wünschte ich sie so leise, so ruhig und so ironisch als eine absolute Verachtung seyn kann. Dies betrifft nur die Form. "88 Hieran ist nicht nur der Hinweis wichtig, Fichte in die Kritik miteinzubeziehen - besonders durch Nachweis der prinzipiellen Identität seines Verständnisses von Sittlichkeit mit dem Kantischen -, jedoch die Kritik an ihm in formaler Hinsicht zu mäßigen, sondern wichtig ist vor allem der Hinweis, daß Schleiermachers Kritik der bisherigen Moraltheorien „ge86

87 88

Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799; KG A 1/2. Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, S. 185-326 Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800; KG A 1/3, 1-61 KG Α V/2, Nr. 483, 16-40

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Einleitung der Bandherausgeber

wiß" einer „Construction und Constitution der ganzen vollen Menschheit und Moralität im Gegensatz der isolirten Philosophie" bedürfe. An diesem Vorschlag Schlegels ist zweierlei zu beachten: sein Verhältnis zu Schleiermachers Projekt der „Kritik der Moral" und sein eigener Inhalt. Was das erste betrifft, so schlägt Schlegel offenkundig nicht ein Projekt vor, das der Kritik fremd ist, im Gegensatz zu ihr steht oder auch nur von ihr ablenkt, sondern eines, das von ihr verlangt wird, zu ihr selbst hinzugehört, dessen sie „bedarf", ohne welches die Kritik selbst also gar nicht gelingen kann. Und was das zweite betrifft, so hat Schlegel sich offenbar signifikant zweideutig ausgedrückt: der präpositionale Ausdruck „im Gegensatz der isolirten Philosophie" kann nämlich entweder bezogen werden auf „Construction und Constitution" und würde dann besagen, daß eben die Weise, in der „die ganze volle Menschheit und Moralität" aufzustellen ist, nicht isoliert philosophisch, sondern poetisch zu sein hätte; oder die präpositionale Wendung „im Gegensatz der isolierten Philosophie" wird auf die Wendung „ganze volle Menschheit und Moralität" bezogen und besagt dann, daß das, was aufzustellen ist, inhaltlich die ganze volle Menschheit und Moralität ist, die dieses- „ganz" und „voll" - nur unter der Bedingung ist, daß das Wesen der Menschheit nicht auf das Philosophieren, verstehe das Vernünftigsein im Sinne des reflektierenden Selbstbewußtseins, enggeführt wird. Beide Mängel charakterisieren in den Augen der Freunde Fichte. Welche der beiden Bedeutungen Schlegel meinte, ob er vielleicht gar beide zugleich meinte, läßt sich nicht entscheiden. Wohl aber, wie Schleiermacher sie verstanden hat. Denn das ergibt sich aus Schlegels Reaktion auf die nicht überlieferte Antwort Schleiermachers. Sie ist in zwei Briefen Schlegels - einem von Ende Juli 1798 und einem späteren aus der Zeit nach dem 6. August desselben Jahres - enthalten. Die erste Reaktion lautet: „Den Erfolg Deines Hineinspringens erwarte ich mit Sehnsucht. Wie sehn die Selbstanschauungen aus? - Denke nur ja nicht an das, was ich Dir über Fichte pp schrieb. Ich möchte Deiner heiligen Polemik nicht gern ein Haar krümmen, und am Ende kann die moralische und menschliche Ansicht nach meinem Plan in den Ansichten der Philosophie recht gut fehlen, und Du in Dich selbst wie ein Igel bestehn."89 Im zweiten Brief heißt es: „Ich überzeuge mich immer mehr daß Deine Kritik der philosophischen Moral für sich bestehn muß, und daß die Apologie der Humanität gegen die Philosophie nicht eigentlich in meine Ansichten gehört. "90 Diese Bemerkungen setzen folgende Antwort Schleiermachers auf die ursprüngliche Anregung Schlegels aus der ersten Julihälfte voraus: 1. Schleiermacher reagiert auf Schlegels Hinweis, daß die Kritik der bisherigen

89 90

KG Α V/2, Nr. 498, 338-343 KGA V/2, Nr. 503, 47-50

Historische

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Moralphilosophie nur unter Bezugnahme auf eine Ansicht der ganzen vollen Menschheit und Moralität gelingen könne, mit der Ankündigung von „Selbstanschauungen". Er hat sich also Schlegels Anregung in bestimmter Hinsicht zu eigen gemacht. 2. Hingegen lehnt er Schlegels Gedanken bestimmt ab, diese Ansicht der ganzen vollen Menschheit und Moralität irgendwie direkt mit dem Text der Kritik zu verbinden, sei es, daß sie am Anfang geboten, am Schluß nachgeliefert oder unter das Ganze verteilt würde. Vielmehr müssen beide Darstellungen - unbeschadet der sachlichen Bedeutung, die ihre Gegenstände für einander haben -, dennoch getrennt gegeben werden. Die Kritik muß für sich stehen und ebenso die positive Darstellung der ganzen vollen Menschheit und Moralität. 3. Auch der Grund für das Insistieren auf dieser Unterscheidung kann erschlossen werden. Schleiermacher hat nämlich offenbar die Schlegelsche Anregung in ihren beiden möglichen Bedeutungen aufgefaßt und sich zu eigen gemacht: Die Selbstanschauung faßt die „ganze volle Menschheit und Moralität", die mehr ist als Philosophieren, Denken und Wissen, sondern diesem immer schon zugrundeliegt, in den Blick, und sie erfaßt daher diese auch in einer Weise, die zwar wissenschaftsfähig, aber selber noch nicht die Weise des Wissens, der Theorie, ist; folglich kann sie in diesem vorwissenschaftlichen Vollzug auch noch nicht selbst philosophisch zur Darstellung gebracht werden, sondern nur poetisch. Insgesamt scheint Schleiermacher also die Schlegelsche Anregung so verarbeitet zu haben, daß er zwar die Angewiesenheit wie jeder wissenschaftlichen Arbeit so auch der wissenschaftlichen Kritik der bisherigen wissenschaftlichen Sittenlehre auf eine Anschauung der der Wissenschaft schon zugrundeliegenden, von dieser nicht einholbaren, sondern über sie hinausgehenden „ganzen und vollen Menschheit und Moralität" anerkannt, aber eben deshalb auch dem vorwissenschaftlichen Charakter dieser Anschauung entsprechend auf einer poetischen Darstellung dieser Selbstanschauung insistiert hat und damit auch auf ihrer Separierung vom Text der selbst „wissenschaftlichen" Kritik. Diese durch Schlegels Reaktion begründeten Vermutungen über Schleiermachers Verständnis der Schlegelschen Anregung von Anfang Juli 1798 werden dann auch durch die Realisierung der von Schleiermacher angekündigten Selbstanschauungen bestätigt, wie sie vor allem in den noch im Sommer 1798, also gleich nach Schlegels Anregung, projektierten Reden „Über die Religion"91 und dann in den im schnellen Anschluß daran konzipierten und geschriebenen „Monologen " n vorliegen. Daß diese beiden Schriften zu dem auf Schlegels Anregung einer Fundierung der Kritik der Moral in einer „Construction und Constitution der ganzen vollen 91 92

Vgl. KGA 1/2, Vgl. KGA 1/3,

LIII-LX XVI-XXI

XXVIII

Einleitung der

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Menschheit und Moralität im Gegensatz zur isolirten Philosophie" reagierenden Projekt von „Selbstanschauungen" gehören, das leidet schon deshalb keinen Zweifel, weil sich beide ausdrücklich als Resultat von Selbstbetrachtungen geben93 Darüber hinaus zeigt ihre vorliegende Gestalt, daß Schleiermacher diesen Resultaten eine Darstellung gegeben hat, die dezidiert poetisch-kunstvoll ist und insofern ν ο r wissenschaftlich-wenn auch wissenchaftso f f e η. Denn daran kann ebenfalls kein Zweifel bestehen, daß Schleiermacher mit den in den „Reden" und „Monologen" vorgelegten Selbstanschauungen der „ganzen vollen Menschheit und Moralität" nicht nur den faktischen Boden und Gegenstand aller Wissenschaft beschreiben wollte, sondern damit zugleich auch den Kontakt zur Philosophie seiner Zeit suchte.9* Auch schon als Autor der „Reden" und der „Monologen" und obschon er - gemessen an den Forderungen einer wissenschaftlichen Darstellung - die Vorläufigkeit der in „Reden" und „Monologen" gegebenen Darstellungen einsah, also einsah, daß ihre inhaltlichen Lücken für die Teilnahme am wissenschaftlichen Gespräch der Zeit ausgefüllt und der poetische durch den schulmäßigen Stil ersetzt werden mußte.95 Der Lösung dieser Aufgabe, ins Gespräch mit der Wissenschaft der Zeit zu treten, sollte jedoch nicht etwa eine Neufassung der Reden „ Über die Religion" oder der „Monologen" dienen, sondern die Vollendung des spätestens seit 1797 vorschwebenden wissenschaftlichen Projekts. In diesem wolle er, „in ein Paar Jahren ... auf andere Weise und schulgerecht"96 seine Einsichten vortragen und sich „unter den Philosophen einigen Ruf"97 erwerben: eben zunächst mit der „Kritik der Moral", wie er gleich nach Vollendung der „Monologen " Brinckmann mitteilte,98 und dann mit einer „Moral selbst". Umgekehrt hat Schleiermacher dann jedoch auch dieses erste große dezidiert wissenschaftliche Werk nicht etwa ohne Rücksicht auf die Beziehung der Wissenschaft zum Leben hingestellt, sondern in dessen Einleitung genau den vorhin schon aus dem Gespräch zwischen Schlegel und Schleier-

93

94 95 96 97 98

Die „Reden" laden die Angeredeten zu derselben Selbstbetrachtung ein, in der der Redner das Wesen der Menschheit und der Religion beschreibt: ζ. B. KGA 1/2, 218,21; 222,13-20. Dem entspricht, daß dabei als die konkreteste Form die Anschauung des Gemüts selber sichtbar wird: ζ. B. KGA 1/2, 213,16; 227,25-33. Die „Monologen" bekennen sich zur Selbstbetrachtung als ihrer Quelle: ζ. B. KGA 1/3, 9,22-29; 12,25-40; 16,18-20. Vgl. KGA V/3, Nr. 710, 1-30.72-77 Vgl. KGA V/3, Nr. 817, 15-22 KGA V/3, Nr. 817, 21 f KGA V/3, Nr. 758, 119 Vgl. oben Anm. 96

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macher im Sommer 1798 erschlossenen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Leben bzw. der der Wissenschaft vorgegebenen menschlichen Natur noch einmal ausgesprochen, nämlich in jenen berühmten Passagen, in denen er das Verhältnis zwischen der Ethik als Wissenschaft und der Freiheitsfrage bestimmt: „Höher ... als die besondere Wissenschaft der Ethik, liegt die Frage selbst von der Freiheit, in sofern sie die menschliche Natur in ihren wesentlichen Beziehungen erst zusammensezend darstellen, und die Verhältnisse der Persönlichkeit zu der Eigenschaft des Menschen, vermöge deren er ein Theil eines Ganzen ist, bestimmen soll. Denn dies ist offenbar ein Theil desjenigen Geschäfts, welches der natürlichen Ordnung nach, jeder einzelnen Wissenschaft vorangehen muß, nie aber mit in dieselbe hinabgezogen werden darf."" Die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" sind also die Realisierung des ersten Teils des ältesten wissenschaftlichen Arbeitsprojekts Schleiermachers. Dieses kann bis in den Ausgang des Studiums und die Landsberger Zeit zurückverfolgt werden, gewann klare Kontur im Spätsommer 1797 und wurde realisiert, nachdem unter Einfluß und Verarbeitung von Anregungen Friedrich Schlegels die aller Wissenschaft - also auch der Ethik - vorgegebene „ganze und volle Menschheit und Moralität" als der der Wissenschaft vorgegebene Möglichkeitsraum von Wissen entdeckt worden war. Er war einerseits entsprechend diesem seinem der Wissenschaft Vorgegebensein zunächst nichtwissenschaftlich-poetisch dargestellt worden. Dementsprechend konnte er dann andererseits auch in der Wissenschaft selbst als das dieser gegenüber Höhere und für sie Vorgegebene explizit ausgesprochen und anerkannt werden. Aus dieser Vor- und Motivgeschichte des Werkes ergibt sich die Absicht, die Schleiermacher mit ihm verfolgt. Sie wird in der Einleitung pointiert ausgesprochen.10° Es geht in den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" nicht um die positive Darstellung der eigenen moralphilosophischen Einsichten des Autors, sondern allein um die Kritik bisheriger Moralphilosophien. Und es geht - noch wichtiger - auch nicht um deren inhaltliche Kritik, welche die eigenen moralphilosophischen Einsichten des Kritikers voraussetzt und als faktischen Maßstab handhabt. Absicht des Werkes ist vielmehr ausschließlich die Kritik vorliegender Sittenlehren unter dem Gesichtspunkt ihrer F or m als Wissenschaft.101 Auch den Grund für dieses Vorgehen nennt Schleiermacher: Das Gebiet der Ethik als Wissenschaft ist als ganzes strittig; folglich kann hier das Richtige und Falsche nicht von einem Punkt innerhalb des strittigen Gebiets aus erkannt werden, sondern das strittige Gebiet muß als ganzes von einem 99 100 101

Unten 40,21-28 Vgl. unten 29,2 Vgl. unten 36,5-8

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Einleitung der

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Punkt außerhalb vermessen werden.102 Aber mag dieser Punkt auch außerhalb des ganzen Gebietes der Ethik als Wissenschaft liegen, so liegt er dennoch nicht auf völlig unbestimmtem Boden, sondern fußt seinerseits auf einer Grundvoraussetzung, die Schleiermacher auch ausdrücklich benennt: er beruht auf der Annahme, daß die Ethik als Wissenschaft eine reale Möglichkeit ist.103 Und diese Grundvoraussetzung impliziert ihrerseits zweierlei: einerseits bestimmte Annahmen über die Natur des Wissens und andererseits über die Form jeder möglichen wissenschaftlichen Moralphilosophie. Zu den erkennbaren Voraussetzungen über die Natur des Wissens gehört die Annahme, daß sich das Wissen auf Dauer auf einheitliche Ergebnisse für alle Beteiligten hin entwickeln wird. Die Erfüllung der Anforderungen der Wissenschaftlichkeit wäre kein brauchbares Kriterium für die inhaltliche Richtigkeit einer wissenschaftlichen Ethik, wenn sich zeigen ließe, daß entgegengesetzte inhaltliche Ergebnisse mit vollkommener Erfüllung dieser Anforderungen an die wissenschaftliche Form zusammenbestehen können. „ Wer aber möchte dieses wohl glauben, und so gering von der Wissenschaft denken, daß es ihm möglich schiene, dieselbige Aufgabe könne nach ihren Gesezen zu mehreren und verschiedenen Lösungen ohne Fehler gelangen? Vielmehr würden wir als denn mit Sicherheit folgern, nicht nur daß die Ethik sich nicht eigne eine Wissenschaft zu sein, sondern auch, daß schon der Gedanke derselben [sc. der Wissenschaft] nur auf einem vielfachen leeren Schema beruhen müsse. "104 Auch der Grund für dieses Vertrauen in die Wissenschaft ist erkennbar. Er liegt in der Bestimmtheit allen wissenschaftlichen Wissens durch die vorgegebene Eigenart der Sache selbst, die jeweils der für alle identische Gegenstand dieses Wissens ist. Dieser Gehalt bestimmt die Gestalt des Wissens, und diese entspricht jenem.105 Das schließt ein Vertrauen in identische Formmerkmale aller wissenchaftlichen Erkenntnis ein. Schon hier kündet sich an, was Schleiermacher später die Identität des Symbolisier ens nennen wird, und zwar in der für alles wissenschaftliche Wissen unterstellten Spannung zwischen Idee und empirischem Einzelfall, auf den die Idee angewendet und der in ihrem Lichte als individueller, besonderer erkannt und beurteilt wird:106 Die „erste Erforderniß einer jeden Ethik" ist „die leitende Idee, oder der oberste Grundsaz, welcher diejenige Beschaffenheit des Handelns aussagt, durch welche jedes einzelne als gut gesezt wird, und welche sich überall wiederfindet, indem das ganze System nur eine durchgeführte Aufzeichnung alles desjenigen ist, worin sie erscheinen kann. "W7 102 103 104 105 106 107

Vgl. unten 30,5-9 Vgl. unten 29,4-11 Unten 36,17-23 Vgl. unten 36,27-37,2 Unten 40,13-27 Vgl. unten 42,20-25

Historische

Einführung

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Das gilt natürlich auch für andere Wissenschaften, nicht nur die Ethik, und folglich hat die Kritik der wissenschaftlichen Form der Ethik Relevanz für die wissenschaftliche Form aller anderen Wissenschaften,108 Umgekehrt gilt dann aber auch, daß die Ethik als Wissenschaft eine formale Parallele zur Physik als Wissenschaft bildet: Wie die letztere, die die vernunftlose Natur behandelt, unterwerfe nämlich auch die erstere, die einen bestimmten Aspekt der menschlichen Natur behandelt - nämlich die zufälligen menschlichen Handlungen -, diese dem Ideal; und wie jene die Phänomene der vernunftlosen Natur nach ihrer Übereinstimmung mit dem Ideal als vollkommen oder unvollkommen beurteile, so diese besagte Phänomene der menschlichen Natur entsprechend ihrer Übereinstimmung mit dem Ideal als gut oder böse.109 Damit ist dann - und zwar als Implikat der vorausgesetzten Annahmen über die Natur des wissenschaftlichen Wissens sowie über die Möglichkeit, die Ethik als einen Inbegriff von wissenschaftlichem Wissen durchzuführen-, auch bereits vorausgesetzt, daß Ethik ein bestimmtes Moment der erkennbaren Wirklichkeit zum Gegenstand hat und welches: nämlich die zufälligen menschlichen Handlungen unter der für diese wesentlichen Alternative der Entsprechung oder Nichtentsprechung gegenenüber dem Ideal menschlichen Handelns.110 Was also für die Kritik vorausgesetzt wird, ist nicht die eigene als Wissenschaft durchgeführte Moralphilosophie Schleiermachers, sondern der Begriff der Ethik als eines bestimmten Möglichkeitsraums innerhalb des Möglichkeitsraums des wissenschaftlichen Wissens überhaupt und damit implizit auch der Begriff des wissenschaftlichen Wissens selbst. Wenn und soweit dieser Begriff der Ethik als Wissenschaft gesetzt ist, kann die bisherige Sittenlehre allein an ihm gemessen werden, ohne daß damit die eigene durchgeführte wissenschaftliche Ethik des Kritikers bereits vorausgesetzt sein müßte.nx Freilich ist das nur deshalb so, weil im Begriff der Ethik als einer Wissenschaft die wesentlichen Anforderungen, die an jede mögliche Erfüllung dieses Begriffs zu richten sind, schon mitgegeben sind. Bei diesen Anforderungen handelt es sich um drei: erstens muß die Idee des dem Ideal entsprechenden - also insofern guten - zufälligen menschlichen Handelns gegeben werdenin; zweitens müssen alle formalen Aspekte dieses Sachverhalts - die Handlungsweise in ihrer Bezogenheit auf die sie innerlich orientierende Idee und auf ihren zu bewirkenden Gegenstand - in ihrem Unterschied und in 109 109 110 111 112

Vgl. Vgl Vgl. Vgl. Vgl.

unten unten unten unten unten

30,5-9 39,25-40,8 37,9-17 37,2-6 42,20-25

XXXII

Einleitung der Bandherausgeber

ihrer Bezogenheit aufeinander richtig erfaßt und dargestellt werdenin; und drittens müssen alle im Bereich der Idee und ihrer Aspekte liegenden möglichen Phänomene erfaßt und als ethische Phänomene berücksichtigt werden.Ui> Daraus ergibt sich der Aufbau der „Kritik": das erste Buch wendet das erste, das zweite das zweite und das dritte das dritte dieser Kriterien an. Ebenso ergeben sich aus diesem einzigen vorausgesetzten Kriterium der Kritik auch deren Grenzen. Sie fallen zusammen mit der Anwendbarkeit des Kriteriums: nach diesem Kriterium kritisierbar ist nur, was überhaupt für uns unter den Begriff einer wissenschaftlichen Ethik fällt, sei es programmatisch oder nur faktisch115. Nicht der Kritik unterliegen also erstens die uns unbekannten ethischen Positionen ferner Völker und Kulturkrei116 se. Zweitens unterfallen ihr nicht die Morallehren, die außerhalb des Begriffs des wissenschaftlichen Wissens zu stehen kommen, wie die Alltagsmoral, die keinen Anspruch auf Wissen um das dem Ideal entsprechende oder nicht entsprechende zufällige menschliche Handeln erhebt,117 oder die religiöse Moral, sofern sie nicht Wissen über gutes/böses Handeln zur Sprache bringt, sondern den Inhalt einer „ Offenbarung",118 Drittens aber hat es die Kritik auch gar nicht mit dem zu tun, was „niedriger" oder „höher" als die wissenschaftliche Ethik liegt119, ihr von unten oder von oben angehängt werden kann120. Niedriger ist die Anwendung auf den Einzelfall.nx Höher liegen jedoch alle Fragen, welche den Möglichkeitsraum für Wissen betreffen: die menschliche Natur, oder - in der Terminologie der 1790er Jahre „die ganze volle Menschheit", zu der ζ. B. die Freiheitsfrage gehörtm. Das aber heißt: Höher als die besondere Wissenschaft „Ethik" steht dasjenige, was Gegenstand der vorwissenschaftlichen Selbstanschauungen war, deren Inhalt die Reden „ Über die Religion " und die „Monologen " auf poetische Weise dargestellt hatten- das Ganze der vollen Menschheit. Dazu aber gehört nun zufolge der „Reden" die ursprüngliche Einheit der drei Gemütsfunktionen Religion, Handeln und Wissen. Und nichts anderes als der Begriff des letzten Elements dieser Triade-der Begriff des Wissens, und 113 114 115 116 117 118

119 120 121 122

Vgl. unten 42,28-43,2 Vgl. unten 43,8-13 Vgl. unten 37,22-26 Vgl. unten 38,10-13 Vgl. unten 3 8,13f Vgl. unten 38,14-39,6. - Zu der differenzierten späteren Verwendung des Begriffs „Offenbarung" bei Schleiermacher vgl. Hans-Joachim Birkner: „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre, in: Schleiermacher-Studien, ed. H. Fischer, Schleiermacher-Archiv 16, Berlin/New York 1996, S. 81-98. Vgl. unten 40,12f Vgl. unten 39,8-10 Vgl. unten 40,13-21 Vgl. unten 40,21-28

Historische

Einführung

XXXIII

zwar des besonderen Wissens der Ethik: des Wissens vom Handeln - ist jetzt die offen anerkannte positive Voraussetzung, der offen anerkannte positive Horizont der „Kritik der bisherigen Sittenlehre". Das wiederum bedeutet: Die positive Voraussetzung der „Kritik" bildet selbst eine der wesentlichen Dimensionen des Menschseins, wie es in den Selbstanschauungen dargestellt wurde. Die „Kritik" verläßt nicht den dort-in „Reden" und „Monologen" - gezeichneten Horizont der „ganzen vollen Menschheit", im Gegenteil: sie bewegt sich in ihm, wird durch ihn beleuchtet und ergänzt seinen Inhalt.123 Soviel zum offen ausgesprochenen Programm der „Kritik ", ihren explizit anerkannten positiven Voraussetzungen und dem ebenso offen anerkannten Horizont, in dem diese Voraussetzungen ihrerseits verankert sind. Dieser Horizont und diese Voraussetzungen verbinden die „Grundlinien" mit den beiden anderen frühen Hauptwerken, den Reden „ Über die Religion " und den „Monologen", die besondere Absicht unterscheidet sie von ihnen. Die „Grundlinien" sind bewußtals ein Werk für die Fachwelt, diejenigen, welche mit seinen Gegenständen hinlänglich bekannt sind, geschrieben.124 Es wird vorausgesetzt, daß diese aus eigener Lektüre mit dem behandelten Stoff, den überlieferten wissenschaftlichen Sittenlehren, vertraut sind, so daß sich die Darstellung dieses Stoffes ebenso erübrigt wie die Angabe der Textpassagen, auf die sich die jeweilige kritische Diskussion beziehtns. Auch seine Auseinandersetzung mit abweichenden Auslegungen der Überlieferung meint Schleiermacher diesen Adressaten ersparen zu können.126 Auf diese Leserschaft ist auch der Stil berechnet: er strebt lediglich semantische und syntaktische Genauigkeit an.127 Aber gerade hier weiß nun der Verfasser, daß er das ihm vorschwebende Ideal nicht erreicht hat.128 Es gebe jedoch Gründe, diese Nachlässigkeiten zugunsten eines schnellen Erscheinens des Werkes stehen zu lassen; der verbliebenen Mängel wegen 123

124 125 126 127 128

Vgl. unten 29,11-30,2. - Diese Passagen des Vorworts vom August 1803 wiederholen der Sache nach ältere briefliche Äußerungen, die ebenfalls schon die sachliche Zusammengehörigkeit von „Reden", „Monologen" und „Kritik der Sittenlehre" betonen und in diesen Werken das Ganze von eigenen Einsichten ausgedrückt finden, welches in Zukunft nur noch in Variationen wiederholt werden könne, so daß - Ausdruck der gedrückten Stimmung im Sommer 1803 - von der weiteren wissenschaftlichen Arbeit grundsätzlich nichts Neues zu erwarten sei; sie besitze daher auch keine übermäßige Bedeutung und Anziehungskraft mehr (vgl. Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom IS. Juni 1803, KG Α V/6). Vgl. unten 30,15-31,4 Vgl. unten 31,4-18 Vgl. unten 31,20-29 Vgl. unten 30,30-32,13 Vgl. unten 32,13-18

XXXIV

Einleitung der

Bandberausgeber

habe der Verfasser freilich „sich selbst dem Tadel Preis zu geben, der ihn betrift."129 Die Entstehung des Textes der „ Grundlinien " zwischen dem Beginn von Schleiermachers Stolper Zeit und dem August 1803 kann anhand der nachgelassenen Briefwechsel genau mitverfolgt werden: Schleiermacher hatte zunächst gehofft, das Projekt schnell abschließen zu können. Darauf deutet eine Erwähnung seines Freundes und Verlegers Georg Reimer in einem Brief an Schleiermacher vom 10. Juli 1802 hin: „Der Termin den ich zur Erscheinung der Critik der Moral, falls sie nicht bis August fertig werden könnte, am dienlichsten hielt, war bald nach Neujahr, und ich bekomme das Manuscript daher zeitig genug wenn es nur Ende Novembers oder Anfang Decembers bei mir eintrifft. Uebrigens brauchst Du auch diesen Termin eben nicht streng zu halten, wenn Du sonst keine Gründe für eine frühere Erscheinung hast, indem es dem Absätze wenig mehr förderlich seyn wird, wenn das Buch zu Neujahr, als wenn es zu Ostern erscheint. Nur diesen letzten Termin müßtest Du ja halten. Ich sage das alles nur damit Du nicht etwa um den abermals gesetzten Termin zu Neujahr nun zu halten, Dich unnöthiger Weise im Arbeiten übertreibest. "13° Tatsächlich zog sich die Fertigstellung noch weit über den hier von Reimer eingeräumten Zeitpunkt hinaus. Die Erklärung liegt nicht nur in der sachlichen Größe der Aufgabe, sondern auch in einer Reihe von erschwerenden äußeren und inneren Umständen. Zwar kümmerte sich Schleiermacher schon gleich nach seinem Dienstantritt um die notwendigen Arbeitshilfen, besonders Bibliothekskontakte, und dachte dabei gezielt an Danzig. Aber auf eine entsprechende Anfrage lieferte ihm sein Danziger Kollege und Freund Friedrich Karl Gottlieb Duisburg (ca. 1765-1822) unter dem 28. Juni 1802 folgende ernüchternde Schilderung über die Bibliothekssituation in der Hansestadt: „ Und nun zur Beantwortung Deines Briefes; da ist die erste Frage: Was wir hier für Biblioth ecken, besonders in philosophischer Hinsicht haben? Auf diese Frage dient zur Antwort: Wir haben hier 3 öffentliche Bibliotheken die aber nur so den Nahmen führen, denn niemand bekömmt sie zu sehen. Die Herren Bibliotheckar wißen wohl selbst nicht was sie haben, und bestimmte Zeiten zum Besuch für Jedermann sind nicht festgestellt, man muß sich also bey den Herrn Aufsehern melden, die sich aber nicht gern bestauben. Doch gilt dies gesagte nicht gäntzlich von der Rathsbibliothek, welche im Gymnasio aufgestellt ist. Bey dieser ist der Professor Philosophiae Verbeck, der Dir noch von Halle her erinnerlich seyn wird, als Bibliothekar angestellt und sie muß und wird regelmäßig Mittwochs und Sonnabends Nachmittags von 2129 130

Vgl. unten 32,18-24 Reimers Brief an Schleiermacher vom 10. Juli 1802 (KGΑ V/6), vgl. auch oben IX mit Anm. 13

Historische Einführung

XXXV

4 Uhr geöfnet. Es kömmt aber gewöhnlich niemand hin und der Herr Professor sieht es auch überall nicht gern, wenn er besucht wird. Diese Bibliothek ist nun unter allen die wichtigste. Allein in philosophischer Hinsicht ist sie gewiß sehr unwichtig. Du weißt wie es mit solchen Büchersammlungen beschaffen ist. Da findet man eine Menge alte zur Geschichte und ihren Hülfswißenschaften gehörige Sachen, und das ist allerdings noch das beßte und brauchbarste. Ferner einen Wust alter und neuer Theologie; Jurisprudenz, und dergleichen doch sind in hiesiger Bibliothek auch schöne und seltene Ausgaben der Claßiker. Von neuen Sachen wird größtentheils für die Geschichte gesammlet, doch hat man auch die Prachtausgabe von Wieland angeschaft. Bey dem allem aber ist das schlimmste daß man nur mit Mühe etwas zu lesen bekömmt, jedoch wenn Du nach Danzig kömmst, dencke ich soll es wohl möglich gemacht werden, daß Du das, was Du zu haben wünschest daraus erhälst. Hier ferner sind noch Büch erSammlungen bey der hiesigen Johanniskirche, und bey unsrer Petrikirche. Die Herren Recktoren haben die Verwaltung, folglich bey der PetriKirchen Bibliothek der Recktor Beller. Sie werden aber nur zu bestimmten Zeiten geöfnet und enthalten auch nichts von neueren Sachen. Unsere Privatbibliotheken sind sehr zahlreich und von mannigfaltigen Werth. Die ansehnlichsten sind: die Büchersammlung der Naturforschenden Gesellschaft: die Uphagensche, und die Weickhmannsche. Die erstere sammlet blos für Naturgeschichte und soll gut besetzt seyn, von Angesicht zu Angesicht kenne ich sie nicht, da es für jemanden der nicht Mitglied der Gesellschaft ist, schwer hält die Naturaliensammlung nebst den Büchern zu sehen zu bekommen. Die Uphagensche ist die ansehnlichste und zählt gegen 25000 Bände, aber sie enthält blos Geschichte und deren gesammten Hülfswißenschaften; die Weikhmannsche sammlet blos für polnische und preußische Geschichte. Alles übrige ist wohl nicht das Hernennens werth. Überhaupt bekümmert man sich in Danzig nicht sonderlich um Philosophie. Es giebt wohl einige gute philosophische Köpfe, aber sie sind mit Berufsarbeiten zu sehr überhäuft als daß sie sich eigentlich dem Studio widmen könnten. Da will ich Dich unter andern mit einem guten Freund, dem JustizRath Rindfleisch, bekannt machen, dessen Vater Du in Schlobitten gekannt haben mußt, (er war Amtmann zu Carwinden) dieser ist in die Geheimniße der neuen Philosophie vollkommen eingeweiht, aber seine Dienstgeschäfte, da er auch zugleich Ober Accise und Zollrath ist, erlauben ihm nicht viel Zeit zur Leckture anzuwenden. Und so wäre denn Deine Frage in Rücksicht der Bibliotheken beantwortet,"131 Die Situation legte es nahe, daß Freunde - schließlich Duisburg selbst - auf ihren eigenen Namen etwa Gewünschtes ausliehen und es Schleier131

Friedrich Karl Gottlieb (KGA V/6)

Duisburgs Brief an Schleiermacher vom 28. Juni 1802

XXXVI

Einleitung der

Bandherausgeber

macher auf Vertrauensbasis zur Arbeit zur Verfügung stellten. So Duisburgs Angebot vom 13. August 1802: „Was die Bibliotheken anlangt, so wirst Du Dich an Morgenstern nicht viel halten können, denn der Vogel fliegt wieder davon, er geht als Professor nach Dorpat und wird die Reise dahin innerhalb 2 Monaten antreten. Du wirst Dich dann wohl auf Discretion an mich wenden müßen, und ich versichere daß ich schon thun will was ich kann, um Dich mit dem zu versorgen was Du brauchst, wenn Du mir jedesmal einen mit Deinem Nahmen unterzeichneten Zettel Deiner Bedürfniße zuschickst. "m Spätestens Ende August finden wir Schleiermacher dann tatsächlich an der Arbeit. In einem Brief an Eleonore Grunow vom 28. August 1802 heißt es im direkten Anschluß an Zweifel, ob Friedrich Schlegel durch seinen Frankreichaufenthalt außer zu tiefen Gedanken auch zu Werken gebracht werde: „An meine Werke glaube ich jezt je länger je mehr, und auch ich werde den Winter sehr still und sehr fleißig zubringen. Die Kritik der Moral soll geschrieben werden ... "133. Die „Neugierde" der Briefempfängerin auf dieses Werk beantwortet Schleiermacher fünf Tage später, am 3. September, folgendermaßen: „... fast eben so viel sollte Ihre Neugierde auf die Kritik helfen, wenn ich Ihnen diese nur lassen könnte. Allein ich glaube fast, Sie werden sich diese auf die Moral selbst versparen müssen, und in der Kritik von dem, was Sie suchen, nur einzelne Winke finden. Denn da ich meine moralischen Grundsäze nicht voranschicke, so kann ich auch die bisherigen Moralen nicht von der Seite angreifen, daß ich sie für unmoralisch halte, sondern nur von Seiten der wissenschaftlichen Unvollständigkeit und Schlechtigkeit, wobei also jenes nur sehr seitwärts durchschimmern kann. Träge bin ich übrigens eigentlich nicht und komme jezt täglich mehr in's Arbeiten hinein. Aber Sie glauben nicht, wie mir das Lesen, sobald es irgend in kritischer Hinsicht geschehen muß, langsam von Statten geht. ... Nun nehmen Sie an, was ich Alles zum Behuf der Kritik lesen muß, wie Alles davon um so schwerer zu verstehen ist, je verwirrter und gebrechlicher es ist, wie ekelhaft mir fast Alles wird, seiner Erbärmlichkeit wegen, und doppelt ekelhaft wegen des Aufhebens, das in der Welt davon gemacht wird; nehmen Sie noch dazu, daß Alles, was ich aus dem Alterthum dazu lesen muß, zugleich ein philologisches Studium ist, wobei ich mich unmöglich bezähmen kann manche halbe Stunde, oft vergeblich, oft auch nicht, einer verdorbenen Stelle zu widmen. Jezt leide ich besonders am Kant, der mir je länger je beschwerlicher wird; habe ich den glücklich überstanden, dann komme ich zum Fichte und Spinoza, an denen ich mich erholen will; beim lezten finde ich doch inneres Leben, und beim ersten wenigstens eine gewisse äußere Vollkommenheit, die den Leser nie so 132 133

Duisburgs Brief an Schleiermacher vom 13. August 1802 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom 28. August 1802 (KGΑ

V/6)

Historische

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ganz von Kräften kommen läßt. Zeither haben mich die Stoiker gequält, bis ich nun endlich genau weiß, was für arme Schächer es gewesen sind. Viel Mühe wird es mich kosten, in diesem Buche überall die Milde vorwalten zu lassen, welche für die gründliche Strenge eine so schöne Begleiterin ist. Ich will aber recht viel an Sie denken, das wird das beste Hülfsmittel sein ,.."134. Die Lektüre der zu kritisierenden Darstellungen wissenschaftlicher Ethik wird schon begleitet - Schleiermacher teilt es Henriette Herz am 6. September mit-vom Entwurf des Aufbaus des kritischen Werkes und von Vorbereitungen für seine Niederschrift: „Heute habe ich einen bedeutenden Fortschritt in der Kritik der Moral gemacht; ich habe den ganzen Plan vollständig entworfen, und mir für jeden Abschnitt ein eignes Heft gemacht, in welche ich nun die bereits gesammelten Materialien nach und nach eintragens, wobei sie auch schon etwas an Ausbildung gewinnen, und nun kann ich bei dem weiteren Lesen und Sammeln gleich genauer auf die Stelle Rüksicht nehmen, die ein Jedes bekommen soll, wodurch denn alles gar sehr erleichtert wird. Aber freilich ich habe doch noch Kants Tugendlehre, Fichtes Sittenlehre, manches vom Plato und die letzte Hälfte des Spinoza zu lesen; das will etwas sagen. Ueberdieß wäre es eigentlich meine Schuldigkeit, noch die beiden Werke des Helvetius zu lesen, wenn ich sie nur zu bekommen wüßte. Ich habe deshalb nach Danzig geschrieben, zweifle aber an dem Erfolg; weißt Du sie mir etwa auf ein paar Wochen zu schaffen? Die Kritik soll übrigens wohl ein ganz gutes Buch werden, und so künstlich, daß niemand, selbst nicht ein kritisches Genie wie Friedrich meine eigne Moral daraus soll errathen können, so daß diese den Leuten noch vollkommen neu sein wird. Gott gebe seinen Segen zur Vollendung. "136 Anderthalb Wochen später, am IS. September, schreibt Schleiermacher an Ehrenfried von Willich: „Meine Kritik der Moral wächst zusehends, und ich hoffe sie soll dies Jahr fertig werden. "137 Die mühselige Lektüre zieht sich jedoch hin. Wir erfahren es aus einem nur einen Tag jüngeren Brief an Henriette Herz (16. September): Ich bin „heute früh mit einem dicken Stockschnupfen aufgewacht, habe Schlafsucht gehabt und in diesem Zustande Fichtes Sittenlehre angefangen, die wie ein Igel nach allen Seiten Stacheln herausstreckt und die schwachen Stellen sehr gut zu decken weiß.... Bei mir ist die Winterzeit schon abgegan134 135

136 137

Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom 3. September 1802 (KG Α V/6) Anhand dieser Hefte hätte sich vielleicht kontrolliert nachvollziehen lassen, auf welche Passagen in den kritisierten Autoren sich Schleiermachers Text jeweils bezieht. Aber die Hefte sind nicht erhalten. Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 6. September 1802 (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 15. September 1802 (KGA V/6)

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Einleitung der Bandherausgeber

gen; ich schreibe dieß gegen ein Uhr Nachts, und komme vor halb Sieben Uhr schon nicht mehr aus dem Bett. Das sind gute Aspekten für die Kritik, mit der es mir noch immer leidlich geht; ich bin jetzt am Fichte und kriege ihn recht gut klein. Wenn es nur nicht ein so fatigantes Maneuvre wäre einen in einem Athem zu bewundern und zu verachten. "138 Das Übelbefinden hält an, und so heißt es einen Tag später, am 17. September, an Eleonore Grunow: „ Und in diesem Zustande hatte ich den kindischen Eigensinn, das Studium von Fichte's Sittenlehre anzufangen, da ich leichtere und ebenso nöthige Dinge hätte betreiben können.... Ich wollte, ich könnte eine von Ihren mir bis hierhin ganz unbekannten Kobolden brauchen, um die erste Hälfte von Fichte's Sittenlehre und einige schlechte Schriften von Cicero für mich zu lesen. ... Ich wollte, Sie könnten mich eine Zeitlang arbeiten sehen und auch Alles, was dabei in mir vorgeht. Es kommt da in jeder Woche gewiß der wunderlicheste Wechsel vor an Lust und Unlust, Stolz und Verzweiflung, Gedeihen und Erbärmlichkeit, und so würden Sie gewiß bald sich freuen, bald mich necken, bald auch auslachen, bald mich liebreich trösten, denn das alles würde mir heilsam sein zu seiner Zeit. "139 Unterbrechungen der Arbeit durch dienstliche Reisen erforderten anstrengende Neuansätze. Davon erfahren wir aus einem Brief vom 29. September 1802 an Eleonore Grunow: „Seit gestern Nachmittag bin ich zu Hause und den heutigen Tag habe ich noch gebraucht, um mich von der Reise zu erholen, nemlich mich wieder in meinem Fichte und in der Kritik der Moral zu orientiren, welches ich, wie sich von selbst versteht, vermittelst des Reisens Alles rein vergessen hatte. Ueber diese Unfähigkeit Herr zu werden, daran verzweifle ich, ...140 Mittlerweile rechnete Reimer zwar noch mit der Einhaltung der Termine vom Sommer und schrieb in diesem Sinne am 8. Oktober an Schleiermacher: „Es wird mir sehr lieb seyn, wenn Du mir bald einen Abschnitt der Critik der Moral schicken kannst, damit der Druck noch vor Neujahr beginnen könne, weil gewöhnlich nachher die Pressen alle sehr besetzt sind, und der Druck nur langsam fortschreitet. Schicke mir also immer was und soviel Du kannst bald. "141 Doch eine Reise nach Königsberg142 von Mitte Oktober bis Mitte November sorgte für eine erneute Unterbrechung der Arbeit. Nach seiner Rückkehr schrieb Schleiermacher am IS. November an Henriette Herz:

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141 142

Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 16. Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom V/6) Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom V/6) Reimers Brief an Schleiermacher vom 8. Oktober Vgl. oben IX mit Anm. 11

September 1802 (KGΑ V/6) 17. September 1802 (KGA 29. September 1802 1802 (KGΑ V/6)

(KGA

Historische

Einführung

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„Für heute genug mit der herkulischen Arbeit mich wieder in die verlassene Kritik der Moral und den unterbrochenen Fichte hinein zu studiren. Bin ich nicht ein recht erbärmlicher Mensch, daß mir dergleichen jedesmal so entsetzlich schwer wird! und sollte ich nicht angeschmiedet sitzen sobald etwas angefangen ist, und nicht eher davon gehen bis es fertig ist? Aber das kann ich leider auch nicht. "143 Mitte November war also die Arbeit an den „Grundlinien" wieder aufgenommen worden, worauf auch ein Gedanke an den damals in Paris weilenden Freund Friedrich Schlegel in einem Brief an Henriette Herz vom 14. November hinweist, nämlich der Gedanke an die Schleiermacher während der Arbeit an der „Kritik " deutlich werdende Differenz seines eigenen Urteils über die Echtheit bestimmter Platotexte gegenüber demjenigen Schlegels: „Öffentlich wird die Differenz auch nicht ganz verschwiegen bleiben, denn ich muß mich in der Kritik der Moral auf manches beziehen was er für unächt hält. "144 Es wirkt wie eine Gedankenverbindung, daß wiederum einen Tag zuvor, nämlich am 13. November, Schlegel aus Paris um Nachricht über die „Kritik" gebeten hatte: „Auch bitte ich ausdrücklich um eine raisonirte nicht gar zu kurze Inhaltsanzeige der Kritik der Moral. "145 Am 7. Dezember 1802 kündigte Schleiermacher Reimer schließlich eine erste Manuskriptsendung an: „Du hättest sie schon wenn die Reise nach Preußen nicht dazwischen gekommen wäre; ich denke aber jezt nichts andres und thue auch fast nichts andres. Fertig bis auf kleine Aendrungen ist nur Vorrede, Einleitung zum Ganzen und ein Theil der Einleitung zum ersten Buch. Sobald diese leztere auch ganz fertig ist erhältst Du diesen Anfang."146 Wie schwer die Arbeit dennoch fiel, belegt eine Bemerkung vom 10. Dezember an Eleonore Grunow: „... lassen Sie mir meinen rechtmäßigen kleinen Krieg mit den todten Buchstaben. Leide ich doch jezt gern so viel durch ihn als der Apostel durch Alexander den Schmidt, denn bedenken Sie nur, ich muß ja nun wirklich die Kritik der Moral schreiben. Wieviel todte Buchstaben über den heiligsten lebendigsten Gegenstand!"i47 Und am 18. Dezember heißt es an Ehrenfried von Willich: „Die Zeit und noch mehr die worin ich Lust und Liebe habe zu reden ist mir sehr sparsam jezt zugemessen indem ich Alles übrige ungerechnet jezt ganz vergraben bin in der Kritik

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Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 15. November 1802 (KGΑ Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 14. November 1802 (KGΑ Friedrich Schlegels Brief an Schleiermacher vom 13. November 1802 (KGA Schleiermachers Brief an Reimer vom 7. Dezember 1802 (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom 10. Dezember 1802 V/6)

V/6) V/6) V/6) (KGA

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Einleitung der

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der Moral, mit der ich, was das ärgste ist in mancher Hinsicht sogar noch zu kämpfen habe. "148 Am 29. Dezember geht dann tatsächlich eine erste Textsendung an den Verleger, verbunden mit der immer noch nicht aufgegebenen Hoffnung auf die jetzt zügige Niederschrift des ganzen Werkes bis zum geplanten Termin Ostern 1803, aber auch mit dem Wissen, daß vorerst eben nur ein Anfang der Textproduktion vorliegt: „Lächle nicht, lieber Freund, und zürne auch nicht über die kleine Sendung die Du hierbei erhältst. Gegen das lezte gebe ich Dir zu bedenken wie wenig ich seitdem ich mit dem eigentlichen Schreiben anfangen konnte und wollte mein eigner Herr gewesen bin, bis Mitte November verreist und dann noch eine Zeitlang mit einem schrecklichen Katarrh geplagt bis denn auch meine Augen nicht wenig litten. Gegen das erste aber welches Dir vielleicht näher ist stelle ich Dir meine Natur vor, für welche in allen Dingen der Anfang immer bei weitem das allerschwerste ist. Wenn ich gesund bleibe denke ich Dir noch im Januar das erste Buch zu schicken, Anfangs März das zweite wahrscheinlich größte und zu Ostern das dritte. ... Wegen der Kritik der Moral möchte ich Dich noch bitten wenn Du es irgend vermeiden kannst Niemanden einzelne Bogen davon zu lesen zu geben. Mir ist nichts fataler als das Herumreden über Sachen die noch Niemand übersehen kann."149 Auch anderen gegenüber scheint Schleiermacher sich ähnlich zuversichtlich geäußert zu haben.150 Der Brief vom 5. Januar 1803 an Eleonore Grunow verrät jedoch, daß auch disziplinierte Arbeit unter Hintansetzung lieber Gewohnheiten nichts an der Mühseligkeit der Textproduktion ändert: „Ich möchte immer noch behaupten, daß ich eigentlich nicht zum Schriftsteller gemacht bin, weil mich eine solche Arbeit jedesmal so ganz verzehrt, daß ich es kaum wage, mir während derselben eine andere Leetüre oder eine große freie Ergießung des Herzens andrer Art mit der Feder zu erlauben; nur das Gespräch wird mir um desto mehr Bedürfniß. Und weit entfernt, daß die dringende Arbeit, wie man wohl denken könnte, der Einsamkeit vergessen macht, erregt sie 148

149 150

Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 18. Dezember 1802 (KG A V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom 29. Dezember 1802 (KGΑ V/6) Das geht aus einer Bemerkung Friedrich Severin Metgers (1775-1834) in einem Brief an Schleiermacher vom 30. Januar 1803 hervor: „Mit Freuden höre ich, daß Ihre Kritik der Moral nun bald erscheinen wird. Ich hoffe diese Ihre Schrift leichter zu faßen, als Ihre anderen, an denen das oratorische Gewand doch immer eine Hülle ist, die bis jetzt den innern Geist mir verborgen hat. Die Kritik der Moral scheint wohl mehr die ruhige Sprache einer strengen Abhandlung, die sich nicht damit so sehr beschäftigt, in ein neues noch unbekanntes Gebiet einzudringen, als vielmehr die Grenzen eines schon bekannten scharf zu ziehen, zu fordern, ein Geschäft, in dem Ihnen zu folgen, ein logischer Kopf hinreichen wird." (KGΑ V/6)

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nur stärkere Sehnsucht, den todten Buchstaben mit dem lebendigen zu vertauschen. Auch ist die Kritik der Moral Schuld, daß ich den schönsten Theil meiner Jahresfeier noch nicht begangen habe. Nemlich das schöne Geschäft, meine Papiere in Ordnung zu bringen und die eingekommenen Briefe aus dem gemeinschaftlichen Umschlag, in den sie während des laufenden Jahres gelegt werden, jeden in den seinigen zu legen. ... Das giebt einen Feiertag im ganzen Sinne des Wortes, nur daß es gewöhnlicher eine Nacht wird, und ich habe mir das ganze noch verspart, bis ich noch ein Stück Kritik der Moral hinter mir habe. Werden Sie etwa schelten, daß mich diese nun so zu drängen scheint? Thun Sie es nicht; ich will zwar nicht ... schnell ... mit der Behauptung sein, daß diese fehlerhafte Manier ganz eigentlich zu meiner Natur gehört; aber noch sehe ich die Möglichkeit nicht, sie zu ändern, weil die Ueberzeugung, daß ich mit der Sache ganz im Klaren bin, mir nicht eher kommt, als bis es die höchste Zeit ist mit der Ausführung. Wollte ich mir aber gar keinen Termin sezen, so würde schwerlich jemals etwas zu Stande kommen. "151 In einem Brief vom 12. Januar 1803 an Reimer heißt es dann: „Unsre Sendungen, lieber Freund, haben sich begegnet; aber ich kann nun nicht warten Dir zu schreiben, bis ich wieder eine Sendung schicke. Mit dem Arbeiten geht es mir gut, und wenn ich nicht krank werde, halte ich diesen Monat gewiß mein Wort. In nächster Zeit aber steht mir Schweres bevor, weil Eleonore dann Schweres durchzumachen hat, und wie mir dabei in dieser grausamen Entfernung zu Muthe sein wird, kannst Du Dir denken. Die arme Kritik der Moral geht auch durch viele Schwierigkeiten zur Wirklichkeitein! Gott gebe, daß man es ihr nicht allzusehr ansieht. "152 Hier deutet sich erstmals an, was dann die ganze weitere Arbeit am Text der „Grundlinien" begleiten und seine Fertigstellung bis in den Herbst hinausschieben wird: Belastungen, die mit der Entwicklung des Verhältnisses zu Eleonore Grunow verbunden sind und im Sommer mit Eleonores Entscheidung, sich nicht von ihrem Mann zu trennen, ihren Gipfel erreichen werden. Schleiermacher wurde dadurch der Verzicht auf die geliebte Frau aufgenötigt.153 Diese Krise wird maßgeblich zur Nichteinhaltung des ursprünglich geplanten Fertigstellungstermins beitragen, den Reimer in seiner am selben Tage (12. Januar 1802) geschriebenen Empfangsbestätigung für die erste Manuskriptsendung zwar noch für wünschenswert hält, jedoch schon mit Eröffnung einer langfristigeren Perspektive verbindet, die Verständnis für den Autor zeigt und diesem wohlgetan haben dürfte: „Deine Sendung Manuscript habe 151 152 153

Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom 5. Januar 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom 12. Januar 1803 (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Briefe an Eleonore Grunow vom März 1803 (KGA V/6), an Reimer vom 20. April 1803 (KGA V/6) und an Henriette Herz vom 10. Juni 1803 (KGA V/6)

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Einleitung der

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ich erhalten, lieber Schleiermacher, und ich danke Dir dafür. Zugleich muß ich Dir aber die Versicherung geben, daß ich beim Empfange desselben weder gelächelt noch gezürnt habe; und wäre der Buchhändler wirklich des Letztern fähig gewesen, so würde ihn der darob erzürnte Freund sehr bald zur Ruhe verwiesen haben. Aber auch als Buchhändler mußt Du mir so viel Rechtlichkeit zutrauen, daß ich durch Ungeduld nichts zu übereilen suchen werde; indem der geringe Nachtheil, den die Verzögerung der Erscheinung für mich zur Folge haben könnte, wohl nicht in Betracht kommen dürfte gegen den, welchen das Ganze durch eine solche übelangebrachte Beschleunigung erleiden würde. Traue mir das immer zu! Verhelen mag ich es aber eben so wenig, daß es mir lieb seyn würde, um meiner Verhältniße willen das Buch zu Ostern ganz fertig gedruckt zu sehen: hast Du also bloß Aeußerlichkeiten zu überwinden, so erzeigst Du mir eine Gefälligkeit, wenn Du Dich treibst, wo aber nicht so weist Du, wie ich es meine. "154 Daß Reimer noch ernsthaft mit dem Ostertermin rechnete, erhellt daraus, daß er im selben Brief sogleich technische Fragen des Drucks, der Ausstattung und des Honorars155 anschneidet. Er ließ die empfangenen Manuskriptseiten umgehend setzen und schickte noch im Januar die ersten Korrekturbögen an Schleiermacher, so daß für diesen nun seit der zweiten Januarhälfte Korrekturlesen des fertiggestellten und Schreiben des neuen Textes nebeneinanderher liefen. Auch Schleiermacher selbst hielt den Ostertermin zunächst noch für möglich. Tatsächlich traten jedoch schon im Frühjahr entscheidende Verzögerungen ein. Zwar erwies sich eine momentane Sorge, die Schleiermachersche Kritik der bisherigen Moralphilosophie könne von einem Konkurrenzunternehmen überholt sein, Mitte Januar als unbegründet: „... daß aber die Geßnersche Kritik in die ich nur erst hineingesehen auch gar nichts der Mühe werthes enthält, ist mir doch recht lieb; denn ich gestehe gern es wäre mir eine schlechte Freude gewesen, wenn sie die meinige etwa zu drei Viertheilen überflüssig gemacht hätte. "1S6 154 155

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Reimers Brief an Schleiermacher vom 12. Januar 1803 (KGA V/6) Schleiermacher erhielt für die „Kritik" ein Honorar von 5 Reichstalern pro Bogen. Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 6. Juli 1803: „Mit dem Piaton, lieber Schleiermacher, geht es gewiß, und daher laß uns nur gleich über die Bedingungen etwas festsetzen. Du wirst es mir als Wahrheit zutrauen wenn ich Dir sage, daß ich glaube Frommanns Erbieten sei zu hoch gewesen, und daher schlage ich vor daß wir als Grundhonorar das festsetzen, was bisher das eigentliche, geringe Honorar Deiner schriftstellerischen Arbeiten gewesen ist, nemlich 5 Rth für den Bogen, und so nehme ich es auch bei der Kritik an, wo Du es eigentlich in Vorschlag brachtest." (KGA V/6) Reimer nimmt hier auf einen entsprechenden brieflichen Vorschlag Schleiermachers vom 23. Juni 1803 Bezug (vgl. KGA V/6). Schleiermachers Brief an Reimer vom 12. Januar 1803 (KGA V/6)

Historische

Einführung

XLIII

Und am 22. Januar geht Schleiermacher in einem Brief an Reimer auf Fragen bezüglich der Ausstattung des Buches ein: „Nur mit ein paar Worten, lieber Freund, will ich Dir für Deinen Brief und Deine Sendung danken. Ausführlich schreibe ich Dir erst mit der nächsten an der ich aus allen Kräften arbeite. Wegen der äußeren Einrichtung weiß ich nichts besonderes zu erinnern. Nur das eine wenn es gar keine Umstände macht. Ich hätte gern eine symbolische Vignette auf dem Titel die meine moralischen Prinzipien sehr gut ausdrückt. Es ist nur eine mathematische Figur, nämlich zwei in einander geschlungene Ellipsen von gleicher Achse aber ungleichen Brennpunkten mit den charakteristischen Linien für beide. Aus freier Faust sehr schlecht gezeichnet sieht sie so aus, macht freilich keine sonderliche Figur aber bedeutet doch sehr viel. Sie darf ja nur von Holz geschnitten sein und so dächte ich könnte sie nicht viel kosten."157 Wohl noch Ende Februar158 kündigte Schleiermacher Reimer das Ende des ersten und den Anfang des zweiten Buches für die erste Hälfte des nächsten Monats an: „ Wenn nicht Herz gestorben wäre und ich in Sorgen lebte um Eleonoren so würde ich weiter sein. Mein Gemüth ist auf mannigfache Art sehr bewegt und es giebt viele Stunden wo ich nicht arbeiten kann. Hoffentlich wird alles dieses glücklich vorübergehen; es ist eine schwere Zeit für mich, lieber Freund. - In der Mitte des künftigen Monats muß ich auf einige Tage verreisen; ich hoffe Dir noch vorher das Ende des ersten und den Anfang des zweiten Buches zu schicken. Ohnehin ist nun das Trockenste Gott sei Dank überstanden. Laß Dir noch einmal Leonoren empfohlen sein. Sie ist nun noch mehr verlassen da die Herz in eignen Verwirrungen lebt und ihr weniger wird hülfreich sein können. Lebe wohl, theurer Freund, und habe einiges Mitleid mit mir; ich bedarf dessen. Deiner Geduld nicht zu bedürfen will ich mein Bestes thun. "159 Aber der angekündigte Anfang des zweiten Buches und dieses insgesamt wurden auf später verschoben unter Verweis auf die Sorgen um das Verhältnis zu Leonore, das sich von nun an zur entscheidenden Hemmung des zügigen Fortgangs entwickelte: „Es wird Dich wohl nicht wundern,

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Schleiermachers Brief an Reimer vom 22. Januar 1803 (KGΑ V/6) Der folgende Brief ist ohne Datum. Er setzt zum einen den Tod von Markus Herz (1747-1803), dem Ehemann von Henriette Herz, am 20. Januar 1803 voraus und spricht zum anderen davon, daß Schleiermacher „in Sorgen" lebt „um Eleonoren". Was der genaue Anlaß dieser Sorgen ist, bleibt unklar. Wahrscheinlich stehen sie im Zusammenhang mit der Absicht Eleonore Grunows, sich von ihrem Mann, dem lutherischen Prediger August Christian Wilhelm Grunow, zu trennen. Im März 1803 entschied sich Eleonore Grunow, zu ihrem Mann zurückzukehren (vgl. oben VIII). Brief Schleiermachers an Reimer ohne Datum (wohl Februar/März 1803, KG A V/6)

XLIV

Einleitung der

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lieber Freund, wenn ich Dir sage daß bis jezt vom zweiten Buche der Kritik noch keine Zeile eigentlich fertig ist, denn ich seze voraus daß Du durch die Herz einigermaßen weißt wie mir zu Muthe ist. Indessen hoffe ich, wenn die Nachrichten von Leonoren erst beruhigend werden, recht gut nachzuholen. Ehe aber das zweite Buch nicht ganz fertig ist bekommst Du nichts davon. Es hat mich schon beim Anhang des ersten einigermaßen genirt daß ich nicht alles vor mir hatte. "16° Zwar heißt es am 9. März an Reimer: „Du wirst wol nicht zürnen daß Du das zweite Buch noch nicht hast. Ich bin jezt sehr emsig dabei, und wenn ich nicht aufs Neue zurückgeworfen werde soll es nicht lange mehr währen. "161 Aber die folgenden Zeilen vom 15. März an Friedrich Schlegel klingen schon wieder weniger zuversichtlich: „Die Kritik der Moral wird freilich erscheinen, wann aber weiß ich noch nicht. Ich thue alles mögliche; aber das Gefühl von dem was Leonore leidet und sich selbst leiden macht, und die Ahndung eines verhunzten Lebens für sie und mich, das sind schlechte Hülfen bei der Arbeit, und so kannst Du denken daß meine Ueberzeugung von dem Wie eben auch nicht sehr erfreulich ist. "162 Schlegel reagierte darauf am 5. Mai mit Mitgefühl - und der Ankündigung, Reimer um Übersendung der schon ausgedruckten Bogen zu bitten: „Ich freue mich, daß Du noch dabei hast thätig sein können. Ich werde Reimer bitten, daß er mir wenn Du nichts dagegen hast, wenigstens die fertigen Bogen der Kritik der Moral zukommen läßt. Ich bin unendlich begierig darauf. Es ist bewundernswerth daß Du noch so viel hast arbeiten können. "163 In der Zwischenzeit befand sich Schleier mach er bei weitem nicht so gut, wie der Freund hoffte. Vielmehr hatte sich Ende März gezeigt, daß Eleonore Grunow sich nicht entscheiden konnte, das Haus ihres Mannes zu verlassen. Sie bat Schleiermacher sogar, ihr nicht mehr unter dieser Adresse zu schreiben. Schleiermachers briefliche Reaktion auf diese Bitte164 war Reimer zu Gesicht gekommen, und dieser reagierte darauf mit einem freundschaftlichen Trostbrief, der jede Erwähnung des durch diese Vorgänge belasteten Buchprojekts vermied165. In seiner Antwort vom 20. April gesteht Schleiermacher Reimer offen ein, daß ihn die wissenschaftliche Tätigkeit über die Trauer um das entschwindende Glück mit Leonore nicht hinweghelfe, sondern daß jene Arbeit umgekehrt von diesem Unglück überBrief Schleiermachers an Reimer ohne Datum (wohl Februar/März 1803, KG A V/6) 161 Schleiermachers Brief an Reimer vom 9. März 1803 (KGΑ V/6) 162 Schleiermachers Brief an Friedrich Schlegel vom 15. März 1803 (KGΑ V/6) 163 priedrich Schlegels Brief an Schleiermacher vom 5. Mai 1803 (KGΑ V/6) 164 Vgl. Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom März 1803 (KGΑ V/6) 165 Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 2. April 1803 (KGΑ V/6) 160

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Einführung

XLV

schattet und bedeutungslos gemacht werde: „Noch, lieber Freund, steht es bei weitem nicht so gut um mich als Du glaubst; noch kann ich mich nicht eingewöhnen an meinem öden Plaz unter den Trümmern aller meiner Hoffnungen, und eine herzliche Sehnsucht darunter begraben zu sein ist bei weitem mein stärkstes und liebstes Gefühl. ... Das wissenschaftliche Thun und Treiben, ach Du glaubst nicht, lieber Freund, wie erbärmlich mir das vorkommt, theils im Allgemeinen - denn was wird doch gewonnen mit dem Schreiben und Lesen - besonders aber das meinige. Denn von allem, was ich noch sagen könnte liegt, wenn die liebe Kritik fertig sein wird, und auch wohl ohne sie schon, der Keim in dem, was ich schon gesagt habe; und so immer die alte Melodie wiederholen, weil die Leute noch nicht Ohren haben zu hören, das wäre ein schlechter Beruf, und ich glaube, Niemand wird mir sagen wollen, das es einer ist. "166 Dennoch wurde die „liebe Kritik" nicht im Stich gelassen, sondern sollte einmal vollendet sein, wenn auch mit der durch die Arbeitsstörung verursachten großen Verspätung. Noch im selben Brief erwog Schleiermacher bereits neue Fertigstellungstermine für das in Arbeit befindliche zweite und das noch nicht begonnene dritte Buch: „Ich ärgere mich oft selbst wegen der Kritik, für welche die Messe nun leider wieder verloren ist; ich wünsche, Du mögest dies auch schon eher gewußt haben als ich. Wiewohl das Arbeiten meine einzige Arznei ist, gedeiht es doch nur sehr langsam, und ich rechne nur am Ende der künftigen Woche mit dem zweiten Buche ganz fertig zu werden. Das dritte, denke ich, sollst Du finden, wenn Du von der Messe zurück kommst. "16J Der Termin für den Abschluß des zweiten Buches wurde schließlich eingehalten. Ende April 1803 schrieb Schleiermacher an Reimer: „Endlich lieber Freund bekommst Du hier das zweite Buch, wiewol ohne den Anhang, der jedoch nur ein paar Blätter beträgt um derentwillen ich die Absendung nicht noch einen Posttag verzögern wollte. Das dritte Buch wird nun noch durch eine Amtsreise nach Preußen unterbrochen, auf jeden Fall aber (Du siehst ich bin schon so kleinmüthig daß ich einen längeren Termin seze) soll es vor meiner Reise nach Rügen fertig werden. "168 Aber die Fertigstellung des dritten Buches verzögerte sich abermals erheblich. Zum einen durch die genannte Dienstreise nach Preußen, während die geplante Reise nach Rügen nicht zustande kam.169 Zum anderen aber führte vor allem der unvermeidliche Gedanke an einen völligen Ver166 167 168 169

Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. April 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. April 1803 (KGΑ V/6) Vgl. Brief Schleiermachers an Reimer ohne Datum (wohl April 1803, KGA V/6) Darüber heißt es an Reimer: „Ich bin jezt nachdem meine Reisen überstanden sind stark im dritten Buche der Kritik und hoffe sie um so eher in einem Strich zu beendigen da aus meiner Reise nach Rügen wol nichts werden wird." (Reimers Brief an Schleiermacher vom April 1803; KGA V/6)

XLVI

Einleitung der Bandherausgeber

zieht auf Eleonore zu seelischen Belastungen, die allenfalls ein „leidliches" Arbeiten zuließen. „Gestern war mir schrecklich elend zu Muth und ich sann schon nach wie ich mir das Krankenzimmer einrichten sollte. Heute bin ich vollkommen wohl und begreife dieses alles nicht. Mit dem Arbeiten geht es mir leidlich aber immer noch nicht geschwind genug. Ich habe Reimer versprochen Ende dieses Monats das erste Buch zu schicken[;] von dem wird morgen erst das erste Drittel ins Reine geschrieben und fast das zweite im Concept (welches wie Du weißt immer noch unfertig ist) fertig sein; das letzte Drittel ist noch ganz zu machen. Für das alles habe ich nun nur noch eine Woche vor mir und will sehn was ich in dieser leisten kann. Die herrlichen Sachen im zweiten Theil des Novalis (den ich jetzt erst erhalten) getraue ich mich gar nicht anzurühren, obschon es mir sehr nöthig thäte mich manchmal eine Note höher zu stimmen als die trockne Kritik der Moral. Ach das Schreiben ist ein großes Elend, aber gar ein Buch von dieser Art - in meinem Leben nicht wieder. Ich glaube ich habe diese ganze Zeit über nicht 6 gescheute Gedanken gehabt, lauter kritische Späne. Der einzige Spaß ist, wenn ich mir vorstelle wie Fichte sich ärgern und mich noch tiefer verachten wird, August Wilhelm Schlegel die Nase rümpfen daß es nichts weiter ist, als das und daß auch gar kein Schellingianismus drin vorkommt, und die alten Herren sich wundern wie ich ein so nüchterner und gründlicher Critiker geworden und abwarten ob ich eine solche Verwandlung überleben werde. "170 In der ersten Junihälfte erreichte Schleiermacher die Nachricht von Eleonorens Entscheidung, in ihrer Ehe zu verbleiben. Ihre Wirkung auf Schleiermacher findet Ausdruck in einem wohl unmittelbar nach Empfang dieser Nachricht geschriebenen Brief an Henriette Herz.m In einem Brief an Ehrenfried von Willich vom 15. Juni heißt es im Anschluß an die Schilderung des Unglücks über den Verlust Eleonorens: „Diesen Monat denke ich endlich die Kritik fertig zu machen; ich arbeite am lezten Buche, so gut ich kann. Manchmal wünsche ich mir Zeit um hernach noch Einiges arbeiten zu können. Aber auch das ist eitel. Für die, welche mich verstehen, habe ich wohl schon Alles gesagt; für die Andern wird, was daran wahr und bleibend ist in fünfzig Jahren von Andern besser gesagt werden. Indeß so lange ich da bin werde ich auch gewiß arbeiten und mittheilen; was kann ich besseres thun[.] Die Kritik ist übrigens noch viel fatiganter zu lesen als alle meine andern Arbeiten, und das will viel sagen. Der Unsegen dieser Zeit ruht auch auf ihr. Ich lege aber in dieser Gattung nicht so viel Werth auf Leichtigkeit und Vollendung des Stils daß ich mir Vorwürfe darüber machen sollte."172 170 171 172

Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 10. Juni 1803 (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 10. Juni 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Ehren fried von Willich vom 15. Juni 1803 (KGA V/6)

Historische

Einführung

XLVII

Schleiermacher hat also, getreu der Devise „Arbeit ist die einzige Arznei", trotz aller inneren Schwierigkeiten die Arbeit am dritten Buch in der ersten Junihälfte begonnen. Das geht auch aus einem Schreiben an Henriette Herz vom 21. Juni hervor: „Ich kann Dich versichern ich habe eine hundeschlechte Gesundheit. Brustschmerzen, Kolik, Kopfschmerzen Kreuzschmerzen sind meine beständigen Gäste und machen mir das Bischen Leben noch ganz zu nichte, so daß ich oft aus Verzweiflung weil ich nichts arbeiten und nichts denken kann in die Ressource gehe und sehr viel Geld verspiele. Ich lasse es weder an China noch an starken Getränken fehlen, noch an allen Verbannungs- und Hülfsmitteln gegen den rheumatischen Ursprung dieser Übel, der bei den häßlichen Seewinden wohl zu vermuthen ist; aber alles umsonst. Die Kritik der Moral empfindet das auch; ich arbeite nun schon seit 14 Tagen elendiglich an dem ersten Abschnitt des dritten Buches, und kann noch nicht damit fertig werden. Reimers Geduld oder Zurückhaltung habe ich schon oft bewundert."173 Auch an Reimer wird von der Krankheit berichtet, aber ebenso vom Fortgang der Arbeit, verbunden mit dem Wunsch, die im Januar erbetene Vignette nicht der Kritik voranzustellen, sondern für die positive Darstellung der eigenen Moralphilosophie aufzusparen: „Jezt bin ich herzlich krank aber doch so daß es mich nicht ganz am Arbeiten hindert. Die Vignette möchte ich lieber für die Moral selbst (wenn diese jemals zu Stande kommt) versparen wo sie noch passender und verständlicher ist. "174 Die Mitte Juni gegen Reimer geäußerte Hoffnung, das dritte Buch in einem Strich zu beenden, erfüllte sich jedoch wegen des herrschenden Stimmungstiefs wieder nicht, über das Schleiermacher unter dem 9. Juli gegenüber Henriette Herz klagt: „Sieh nur wie ewig ich an der Kritik kaue aus reiner innerer Unfähigkeit, und es kommt mir doch vor als ob sie mit jedem Bogen schlechter würde. Ist es nicht ganz unerträglich? Wenn ich nun gar etwas weniger wissenschaftlich ausführen sollte, wozu mehr inneres Leben gehört das würde schön werden!"175 Dennoch wurde im Hochsommer schließlich der Abschluß der Arbeit erreicht. Reimer hatte Schleiermacher bereits unter dem 23. Juni von einer Anzeige der „Kritik" in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek"176 berich173 174 175 176

Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 21. Juni 1803 (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom Juni 1803 (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 9. Juli 1803 (KGA V/6) Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 77 (Berlin/Stettin 1803), St. 1,H. 3, S. 206. Dort heißt es unter der Überschrift „Vermischte Nachrichten und Bemerkungen" nach der Ankündigung, daß A. W. Schlegels Calderon-Übersetzungen in der „Realschulbuchhandlung zu Berlin herauskommen werden": „In demselben Verlage erscheint eine philosophische Moral, nach den Grundsätzen der allerneuesten Philosophie geformt, vom Herrn H. Prediger Schleiermacher zu Stolpe in Hinterpommern."

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Einleitung der

Bandherausgeber

tet: „Auch von der Kritik war neulich schon in der allgemeinen Bibliothek ... folgende löbliche Bekanntmachung: es erscheint nächstens eine philosophische Moral nach den Grundsätzen der allerneusten Philosophie geformt vom Herrn Prediger Schi. (Du kennst doch die Unterscheidung dieser Leute in neue, neueste und allerneueste Philosophie?). "177 Anfang August wird das Werk dann tatsächlich abgeschlossen. Am 30. Juli schreibt Schleiermacher an Henriette Herz: „Nun hoffe ich in künftiger Woche auch die Kritik meist zu beendigen. "178 In einem weiteren Brief an dieselbe vom 2. August wird jedoch ein neues Hindernis erwähnt: „Heute will ich den Beschluß der Kritik zu Ende schreiben. Aber, es ist mir ein großes Unglück damit begegnet was ich gar nicht begreifen kann. Ich habe den Schluß den ich machen wollte rein aus den Gedanken verloren und quäle mich seit drei Tagen ihn zu finden aber vergeblich, und so werde ich den Lesern etwas schuldig bleiben und das Ende wird des Ganzen nicht werth sein. Wie ist es aber möglich daß man einen Gedanken verlieren kann der gar nicht mehr einzeln für sich dasteht, sondern im nothwendigen Zusammenhange mit einem Ganzen? Ist das nicht eine Art von Verrücktheit. "179 Und zehn Tage später, am 12. August, heißt es entschuldigend über die Verzögerung des Abschlusses des Manuskripts an Reimer: „ Gern, lieber Freund, hätte ich Dir über die wenn gleich sehr ungewisse Hoffnung die Du mir machst meine Freude gleich mit umgehender Post bezeigt wenn ich mich nicht gescheut hätte leer zu kommen. Nun kann ich Dir doch gewiß den zweiten Abschnitt und wahrscheinlich wenn ich morgen Vormittag noch Ruhe habe auch den Anhang schicken. Es hat mich sehr gekränkt, daß ich Deinen Wunsch die Kritik fertig zu finden nicht habe erfüllen können, ich war aber zu sehr mit meiner Gesundheit brouillirt." Dennoch kann jetzt die Hoffnung geäußert werden: „ Von der Kritik wird nun endlich der lezte Rest bald in Deinen Händen sein. "18° Tatsächlich ist acht Tage später das Ziel definitiv erreicht. Der unmittelbar bevorstehende Abschluß des dritten Teils wird am 20. August 1803 Eleonore Grunow mitgeteilt: „Morgen denke ich die lezten 2 oder 3 Seiten an der Kritik der Moral zu schreiben; dann wäre diese Schuld auch abgetragen. Das Buch ist mein Leichenstein, aber Niemand weiß es, eine Trümmer aus einer alten schöneren Zeit, der Niemand ansieht, wohin sie gehört hat."m Doch der Rest des fertiggestellten Textes geht dann bereits am selben Tag, am 20. Augustan Reimer: „Hier, lieber Freund, empfange end177 178 179 180 181

Reimers Brief an Schleiermacher vom 23. Juni 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 31. Juli 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 2. August 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom 12. August 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom 20. August 1803 (KGΑ V/6)

Historische

Einführung

XLIX

lieh das lezte der Kritik mit meinem wärmsten Dank für Deine wirklich unendliche Geduld und Langmuth."182 Aufgrund von Terminschwierigkeiten in der Druckerei verzögerte sich jedoch die Drucklegung des Werkes, wie aus einem Brief Reimers an Schleiermacher vom 27. August hervorgeht, in dem dieser den Eingang der letzten Teile des Manuskripts bestätigt: „Deine beiden Sendungen sind richtig bei mir eingegangen, mein theurer Freund, und ich danke Dir dafür. ... Hiebei empfängst Du nun die Aushängebogen Bb. Cc. weiter reichte das vorhergehende Manuscript nicht, und jetzt kann erst, anderer Einrichtungen wegen, binnen 14 Tagen in der Druckerey wieder angefangen werden; deshalb sende ich Dir diese Aushängebogen. Sobald wieder einige andere zu haben sind sende ich sie Dir unfehlbar gleich, damit Du allenfalls die bedeutendem Druckfehler noch anzeigen kannst".183 In seinem Antwortschreiben entschuldigt sich Schleiermacher noch einmal für die verspätete Übersendung des Manuskripts: „Daß die Kritik der Moral noch zulezt stecken geblieben ist darüber mache ich mir nicht geringe Vorwürfe; es ist unfehlbar die Schuld meiner verzögerten Absendung und ist Dir gewiß bei der Nähe der Messe unangenehmer gewesen als Du geäußert hast. "184 Mitte September erwartete Schleiermacher, daß er bald nach seiner Rückkehr von einer Dienstreise - also Ende September - das fertige Buch aus Berlin erhalten würde: „Morgen verreise ich auf acht Tage und hoffe bald nach meiner Rückkunft Deine Sendung inclusive der Kritik zu erhalten."185 Sein persönliches Exemplar der „Grundlinien" erhielt Schleiermacher jedoch erst mit einer Sendung Reimers vom 10. Oktober: „ Ueber den Inhalt dieser Sendung: zuerst Dein Velinexemplar (sc. der „ Grundlinien "), das hoffentlich nach Deinem Wunsch und Willen gebunden ist; dann habe ich Dir, theils um Dein Begehren zu erfüllen, theils auch um Dir zu zeigen, daß Deine Freunde gar so übel nicht damit berathen sind, die zwei Exemplare (der mittleren Art) für Wedicke und Brahl übersandt...186 Soweit die Entstehungsgeschichte der Grundlinien. Für die Fertigstellung war ein halbes Jahr geplant gewesen, wurde aber mehr als ein ganzes gebraucht, die Zeit von Anfang Juni 1802 bis Ende August 1803. 182 183 184

185

186

Schleiermachers Brief art Reimer vom 20. August 1803 (KGΑ V/6) Reimers Brief an Schleiermacher vom 27. August 1803 (KGΑ V/6) Brief Schleiermachers an Reimer ohne Datum (wohl Anfang September 1803, KGA V/6) Brief Schleiermachers an Reimer ohne Datum (wohl Mitte September 1803, KGA V/6) Reimers Brief an Schleiermacher vom 10. Oktober 1803 (KGA V/6). Unter dem selben Datum teilte Schleiermacher Alexander Graf zu Dohna brieflich mit: „Endlich ist auch die Kritik der Moral wirklich erschienen, und ich erwarte was deshalb über mich ergehen wird. Viel Gutes schwerlich denn es kann keiner Parthei recht sein." (KGA V/6)

L

Einleitung der

Bandherausgeber

Eine erste Resonanz auf das Werk findet sich aus dem engeren Freundeskreis bereits vor der Publikation. Am 3. Juni 1803 berichtet Georg Ludwig Spalding Schleiermacher über das kritische Urteil Friedrich Samuel Gottlieb Sacks, der die „Grundlinien" für die Zensur durchsah187: „Ihre Kritik der Moral werde ich gewis nicht verstehen; denn, wenn Sie behaupten, nicht tiefer zu sinnen, als ich auch, so ist das eine Gutmüthigkeit von Ihnen, wodurch ich keinen Genus habe, da sie mich nicht täuschet. Ein Mann, von dem ich dis nicht gerne möchte, spricht von der unendlichen Abstrusität derselben, und sagt, sie sei (in den schon abgedrukten Bogen) auch noch durch eine Flut von Drukfehlern verdunkelt. "188 Schleiermachers Reaktion darauf ist in seinem Brief vom 23. Juni 1803 an Reimer erhalten: „Sack hat gegen Spalding über die entsezliche Abstrusität der Moral geklagt. Nun ja abstrus ist sie, aber das war nicht zu ändern. Dem Uebel ist wenigstens vorgebeugt, was so oft auch philosophischen Büchern begegnet, daß viele Menschen sich fälschlich einbilden sie verstanden zu haben. Außerdem hat er auch geklagt über eine Fluth von Druckfehlern; das finde ich aber nicht. Die meisten Fehler sind in der Interpunktion, und diese möchten den größten Theil auf meine Rechnung kommen. Aber warum ist auch die deutsche Interpunktion so entsezlich unbestimmt und für die eigentliche Schriftsprache gar nicht passend? "n9 Reimer reagiert darauf am 6. Juli mit einer Bemerkung nicht nur zum Sprachstil, sondern auch zu einem heiklen inhaltlichen Punkt des Werkes, nämlich der deutlichen Kritik an Kant und Fichte: „In Absicht der Sprache in der Kritik bin ich ganz Deiner Meinung; so streng sie aber auch gehalten so stellt sie doch ein herrlich klares und zusammenhängendes Ganze dar; mich erfreut alles sehr an ihr, auch das daß sie sich aller eigentlichen Terminologie enthält; nur eins erlaube mir: so schön sich auch im Ganzen Dein Talent zur Polemik darin bethätigt, so wäre doch, meines Bedünkens, einigen polemischen Stellen gegen Kant und Fichte mehr Ernst zu wünschen; doch dies ist für nichts zu rechnen, und mag auch mir wohl nur so erscheinen. "19° August Wilhelm Schlegel, der auf Bitten Reimers die Korrektur der „Grundlinien" übernommen hatte191, schrieb am 25. Juli 1803 an Schleier-

187

188 189 190 191

Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 23. Februar 1803: „Wegen der Censur (sc. der „ Grundlinien ") hat sich Sack so billig finden laßen sich mit dem gedruckten Bogen zu behelfen, der nun zugleich mit dem ersten Correkturbogen für ihn abgezogen wird; so ist der Sache am besten geholfen." (KGΑ V/6) Georg Ludwig Spaldings Brief an Schleiermacher vom 3. Juni 1803 (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom 23. Juni 1803 (KGA V/6) Reimers Brief an Schleiermacher vom 6. Juli 1803 (KGA V/6) Vgl. Reimers Briefe an Schleiermacher vom 4. Juni 1803 und vom 6. Juli 1803 (KGA V/6)

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Einführung

LI

macher: „Die Correctur Ihrer Schrift habe ich gewiß mit allem Fleiße gemacht, und ich hoffe Sie werden mit dem Erfolge in den Bogen, die ich besorgt, zufrieden seyn. Thun Sie sich nur in Ansehung der Hand keinen Zwang an, ich bin sie doch schon gewohnt. Im Zusammenhange gelesen habe ich nur die ersten Bogen und auch diese zu flüchtig um über ein so gründliches Werk gründlich zu sprechen. Ich bewundere besonders die unerschütterliche Ruhe, den methodischen Gang, die beständige Vor- Umund Übersicht. Dann die ganz abgekommene dialektische Kunst. Dann ist mir auch die Schreibart sehr bemerkenswerth und lehrreich. Nur über die Stellung der Worte hätte ich manchmal eine Einwendung zu machen. Mir scheint daß Sie zu durchgängig die Wörter soll, kann und dergleichen voranstellen, wodurch Sie gar zu viel trochäische Schlüsse mit Infinitiven bekommen. Doch habe ich Ihre Schrift noch nicht ganz gelesen, um klar und bestimmt die Fälle anzugeben, wo ich die Wortstellung billige, sogar bewundre, und wo ich sie anders wünschte."192 Schlegels Kommentar geht dann aber sogleich über zu einem inhaltlichen Punkt, nämlich zu Schleiermachers Kritik an den führenden zeitgenössischen Autoren der wissenschaftlichen Sittenlehre, Kant und Fichte: „Ihren Gruß an Fichte will ich bestellen, wenn er ihn nur nach Lesung Ihrer Schrift nicht als einen Judaskuß betrachtet! In der That, dieß betreffend, hätte ich einiges anders gewünscht; denn gerade in der Polemik gegen solche Männer wie zB. Fichte und Goethe sind, glaube ich an einen Unterschied des Exoterischen und Esoterischen. Die Lebhaftigkeit des Dialektikers der seines Gegenstandes genug Meister ist, um damit zu spielen, wird von den gewöhnlichen Lesern gar zu leicht als Freude an aufgefundener Schwäche misgedeutet. Auch mit Kant sind Sie nicht allzuglimpflich verfahren, haben ihm seine Eßlust vorgerükt und so weiter - Es kann seyn, daß mir bloß wegen des ruhigen Ernstes, der in den übrigen Werken herrscht, dieß so auffallend geworden ist. "193 Diesen Kommentar kommentiert Schleiermacher gegenüber Henriette Herz unter dem 30. Juli 1803 folgendermaßen: „August Wilhelm Schlegel von dem ich einen freundlichen Brief habe, findet daß in der Kritik die Polemik gegen Fichte und Kant etwas zu frivol ist und daß ich sie hätte esoterischer halten sollen. Frivol finde ich sie nicht und was das andre betrifft so sind diese Leute mir nicht heilig genug um in dieser Hinsicht etwas für sie zu thun. Nur den Tadel gegen Spinoza und Plato habe ich recht esoterisch gehalten, und wer nicht gute Augen hat wird ihn nicht sehen. Sonst sagt mir Wilhelm viel schönes darüber."194 192

193 194

August Wilhelm Schlegels Brief an Schleiermacher vom 25. Juli 1803 V/6) Ebd. Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 30. Juli 1803 (KGΑ V/6)

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Auch gegenüber Reimer geht Schleiermacher noch einmal- unter dem 12. August 1803 - auf die von Spalding und A. W. Schlegel an ihn gelangten Kommentare zu den „Grundlinen" ein: „Was ich auch befürchte ist daß die Schreier welche auch von der Kunst zu schreiben nichts verstehn den Styl der Kritik gebrauchen werden um im voraus zu behaupten, wer so schreibe sei ganz unfähig den Plato zu übersezen. ... Auch A. W. Schlegel hat mir über einige polemische Stellen seinen Tadel ausgedrückt, fast als ob eine Art von Personalität darin wäre; allein das ist doch nicht und ich glaube daß das lächerlich scheinende mehr in den Gegenständen liegt als daß ich es ausdrücklich herausgehoben hätte. Übrigens muß ich nun schon das Symbolum des Pilatus adoptiren, und wenn die Leute diese Stellen herausgreifen weil ihnen das Wesentliche zu unbequem fällt zu kritisiren so ist nichts dagegen zu sagen. Sie brauchen dergleichen ohnehin; finden sie es nicht so erdichten sie es. "195 Diese Zurückweisung von Tadel verbindet sich jedoch bei Schleiermacher selbst mit dem Bewußtsein von tatsächlichen Unvollkommenheiten. Schon gegenüber Ehrenfried von Willich waren im Brief vom 15. Juni 1803 solche eingestanden worden196, und die Übersendung des letzten Manuskriptteils an Reimer wird von dem Eingeständnis begleitet: „... Dank für deine wirklich unendliche Geduld und Langmuth. Ich wünschte sie wäre dadurch vergolten daß nun alles so gut wäre als es sein könnte, allein Unvollkommenheiten giebt es allerdings zumal in dem ersten Buch welches größtentheils in dem Zustande der Angst vor der Entscheidung meines Schicksals eigentlich geschrieben ist. "197 Eben diese eigene Empfindung verbliebener Unvollkommenheit der Darstellung war so lebhaft, daß Schleiermacher sie Ende August sogar ausdrücklich am Schluß des Vorwortes zum Ausdruck brachte198. Darauf reagierte A. W. Schlegel am 26. September 1803 mit folgender Sorge: „ Von Herzen statte ich meinen Glükwunsch ab über die Vollendung der Grundlinien. Es sind doch mehr Drukfehler darin geblieben als ich geglaubt, freylich am meisten in den ersten 10 Bogen, ehe ich die Correctur übernommen hatte. Indessen habe ich das mögliche mit Aufmerksamkeit und zweymaligem Durchlesen gethan, aber Ihre Hand ist zuweilen unbillig klein und undeutlich. Die Correcturen haben mir nicht wenig Zeit gekostet; allein ich übernehme sie gern wieder, wenn wieder etwas von Ihnen hier gedrukt wird. Denn da Sie mit philologischer Genauigkeit schreiben; so ist es billig, daß Sie auch mit philologischer Genauigkeit gedrukt werden. Also muß es ein Philolog besorgen und ich überzeuge mich immer mehr, daß 195 196 197 198

Schleiermachers Brief an Reimer vom 12. August 1803 (KGΑ Vgl. oben XLIIf Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. August 1803 (KGΑ Vgl. unten 32,13-24

V/6) V/6)

Historische

Einführung

LIII

diese Klasse gar nicht zahlreich ist. Mit Schreken habe ich erst aus Ihrer Kritik erfahren, daß ich nicht zu den gewünschten Lesern gehöre. Denn ich habe die meisten von den Moralen (oder Moor-Aaalen, wie Tieck sie nennt) welche Sie beurtheilen, nur vor langer Zeit oder gar nicht gelesen und dürfte auch so bald gar nicht dazu kommen. Ich kann es nicht billigen, daß Sie die Möglichkeit stellen, man könne die Schreibart abscheulich finden. Das heißt die Unkundigen zum Übermuth verleiten. "199 Die seit 1804 erscheinenden Rezensionen werden Schlegels Befürchtungen zum Teil bestätigen. Aber auch das bis dahin allein zu verzeichnende informelle Echo bleibt ambivalent. So schreibt Georg Ludwig Spalding am 21. Oktober 1803 an Schleiermacher: „Vor allen Dingen von Ihren Grundlinien. Ich komme davon, wie von einer Algebra, mit dem wehmütigen Seufzer Geliert's gegen Kästner ,Und das verstehen Sie nun so alles?' Durchgelesen habe ich sie, in ununterbrochener Lesung. Aber wie? wie ein schaufelnder Maulwurf. Nichts, durchaus nichts habe ich verstanden im Zusammenhang. Sein Sie mir nicht böse, wie ich Ihnen nicht böse bin. Wahrhaftig nicht bin ich's, obgleich ich alle Augenblikke fühle, wie Leute es werden können, die eben so unwissend sind als ich, und nicht so bescheiden. Mit so völlig blinden Augen als ich hineinblikke, darf ich auch über den Schein nicht sprechen, denn auch der scheint mir nicht einerlei auf mehrere Minuten. Nun, daß Sie dem Kant wegwerfend begegnen - ja das merke ich. Ob er's verdient, das werde ich nicht sagen können. Daß Sie auch den Fichte nicht schonen, ist mir vernehmbar worden. Freilich sage ich mir, zu meinem Tröste (nicht zu Ihrem): das Erfodernis, die beurtheilten Systeme zu kennen, dieses habe ich nicht. Aber verfangen will dieser Trost wenig, denn würde ich jene Systeme verstanden haben? Wenn ich mich irgend kenne: Nein. Es macht mir diese gänzliche filosofische Impotenz in der That ernsthaften Kummer. Einer der Art wekket andere. Denn, wo überhaupt ist die Potenz? Aber geschwinde still hievon, damit es nicht gar herauskomme, als eine Bettelei um ein Zeugnis von Ihnen, daß ich die Materien gar wol habe - oder werde - verstehen können. Ich schäme mich nun weiter von Ihrem Buche zu sprechen. Aber mitten unter der Schaam, fahre ich fort. Das ist ein großer Beweis meiner Freundschaft. Bei den Worten p. 67. ,Vielmer - Denkungsart sein würde.' habe ich mir angeschrieben: ,Nicht Schelling'? p. 183. weis ich gar nicht was es heist: ,die ehemaligen Tugenden der Heiden.' Wie kann zu solcher Ansicht Garve durch Lesung des Zizero gekommen sein? p. 399 gegenstände des kritischen Enthusiasmus'. Wird hier Kant verspottet, mit seiner Stelle über die Pflicht in mir, und dem Sternen-Himmel über mir? p. 418

199

August Wilhelm Schlegels Brief an Schleiermacher (KGA V/6)

vom 26. September

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,ohne auch nur daran zu denken - unsittlich sein.' Hat man denn aber nicht weitläuftig Monogamie vertheidigt? p. 422. ,erstweichen' Mag wol ein gutes Wort sein. p. 461 ,des ethischen Drukes Combinationsvermögen existirt'. Ganz unverständlich für mich. Doch was nenne ich einzelne solche Säze? p. 474 ,nie etwas anders - der guten Gesellschaft.' Dem ehrlichen Garve geschieht gewis Unrecht mit dem gewolt. Nachdem ich so über das gesprochen, was für mich nicht ist - mus ich wol recht bittend hinzufügen: ,take me with all my imperfection on my head'. Sie erwarten ein recht ehrliches Ortheil von mir. An der Ehrlichkeit hat's nicht gefehlt, aber am Urtheil. So schlecht, nicht wahr, dachten Sies's doch nicht mit mir bestellt? Und glauben Sie nur nicht, daß dis eine verbissene Wuth sei des gekränkten Eitelen. Ο mit Tadel wolte ich Ihnen aufwarten, wenn ich nur wüste, daß ich in meinem Kopfe hätte worüber ich spräche. So aber kann ich auch den Tadel nicht artikuliren, weil ich immer nicht weis, ob er nicht täppisch zuschlägt gerade wohin er nicht gehört. Meiner, sehr exoterischen, Meinung nach solten Sie säuberlicher umgegangen sein mit den Getadelten. Aber ich weis, wie mich oft ein gleiches Gutachten verdrossen hat, in Sachen Vossens gegen Heyne, wo es so oft von den Leuten kam, die doch auch gar nichts verstehen von den meritis causae, und so schlage ich mir selbt auf den Mund. So viel Moralität noch habe ich, daß ich es ausschlug, als man wolte, ich solle lieber in die spekulative Klasse der hiesigen Akademie treten, als die filologische, weil in lezterer zu viele wären. Nur ob es moralisch war, auch da einen Plaz anzunehmen, darüber murt noch das Gewissen. Denn wäre ich, was man mit Recht nennt einen Virtuosen, in irgend einem Fache, so lachte ich behaglich über alle meine sonstige Ignoranz. Der Stil des Buchs - kann man über diesen urtheilen, ohne etwas von den Sachen zu verstehen? Schwerlich; aber Stellenweise hat es mir sehr gefallen."200 Am 4. November berichtet Friedrich Severin Metger über seine Lektüre: „Ihre Kritik der Sittenlehre lese ich jetzt, und habe sie beinahe zu Ende gebracht. Aber mit dem Durchlesen ist es bei einer Schrift von dem Gehalte nicht genug. Ich fühle es, sie will studirt, mit dem größten Fleiße studirt seyn. Daß es dadurch einem Geiste mit großem Scharfsinn begabt und großer Gelehrsamkeit ausgerüstet gelingen würde, sie zu verstehen, das glaube ich. Daß es aber mir gelingen würde, natürlich verzweifele ich daran vollends. Ich habe meine glücklichen Stunden, in denen mein Geist ganz entbunden, und alles ihm lebendig und hell wird. Aber wie selten, wie selten sind diese! Doch wage ich es, noch einmal den Versuch mit Ihrer Schrift zu machen. In den ersten Tagen, da ich sie las, kriegte ich Muth. Es

200

Georg Ludwig Spaldings Brief an Schleiermacher V/6)

vom 21. Oktober

1803 (KG A

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ward mir der Anfang ziemlich klar, aber weiter hin zog sich alles in eine mir undurchdringliche Tiefe zurück. Aber mit Fichte besorge ich, kommen Sie nicht gut weg. So ist er noch wohl von Niemanden angetastet. Sie machen sogar seine Sittenlehre lächerlich. Doch alles, was dahin gehört, ist mit Würde gesagt. Und so hat mich überhaupt sehr behagt die gänzliche Anmaßungslosigkeit, die aus Ihrer ganzen Schrift hervorleuchtet. "201 Am 11. November 1803 schreibt Schleiermacher an Reimer: „ Von den Grundlinien habe ich noch wenig gehört, wenigstens nicht viel erfreuliches. Alle Menschen schreien ich hätte den Kant und Fichte gar zu schlecht behandelt. Ich begreife nicht recht wie dies zugeht, da ich mir gar keiner andern Absicht bewußt bin als der ihre Fehler aufzudecken. In dem ursprünglichen Entwurf der Kritik, der mehr auf den Wiz angelegt war, wäre es ganz anders gekommen. Ich meinestheils bin weit mehr gespannt darauf was aus dem stillen Kriege werden wird in dem ich mit Schelling begriffen bin. Denn wie ich auf ihn ziemlich bedenklich hindeute in der Kritik, so er auf mich in der Methodologie.... Was Du hörst von den Grundlinien theile mir doch mit, sei es auch wie es sei. "202 Daß Schleiermacher zunächst nur von einem spärlichen und ambivalenten Echo erreicht wurde, besagt auch noch sein Brief vom 26. November an Ehrenfried von Willich: „Ueber die Kritik der Moral habe ich noch wenig gehört nur daß man allgemein sagt ich hätte Kant und Fichte sehr schlecht behandelt, und daß einige fürchten es möchte ein großes Skandalum geben. Sage mir doch auch über diesen Punkt Deine Meinung. Ich bildete mir ein Fichten alle Ehre angethan zu haben die nur möglich ist, nur freilich mußte ich da ich mein eignes System nicht darlegen wollte doch stark genug auf das hinweisen, was ihm meiner Meinung nach fehlt. Wenn aber Einige finden ich hätte ihn lächerlich gemacht, so begreife ich nicht wie ich eine solche Wirkung so ohne alle Absicht habe hervorbringen können. "203 Spalding wiederum scheint seine Verstehensschwierigkeiten auch Reimer gegenüber eingestanden zu haben, der wiederum Schleiermacher davon berichtet haben muß, denn dieser reagiert darauf in einem Brief an Reimer vom Dezember 1803 wie folgt: „Spalding hat mir selbst geschrieben, er habe von der Kritik wenig und im Zusammenhange fast nichts verstanden. Dagegen ist nun nichts einzuwenden; das aber kann ihm nicht gestattet werden, daß er sich einbilde, das über die Systeme der Alten für sich und besonders verstanden zu haben. Denn dies ist unmöglich, wenn er nicht Hauptmomente der Kritik selbst richtig aufgefaßt hat. Hat er das 201

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Friedrich Severin Metgers Brief an Schleiermacher vom 4. November (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1803 (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 26. November (KGA V/6)

1803

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aber, so bat er auch eigentlich das Buch verstanden, wenn er auch von vielem Einzelnen aus Unkunde der neuen Philosophie nicht weiß, worauf es sich bezieht und ob richtig oder nicht. In Ansehung des Styls, lieber Freund, hast Du ganz recht; dennoch habe ich so etwas gesagt, wie Spalding berichtet. Der Styl läßt sich freilich der Art nach vom Inhalt nicht trennen, und ich wüßte auch nicht das Geringste, was ich geschrieben, in einem andern Styl zu schreiben; ein Anderes aber ist es mit dem Grade seiner Vollkommenheit in seiner Art, welcher wieder von seinen eigenen Bedingungen abhängt, und hier habe ich Spalding gesagt, daß ich mit vielem Einzelnen unzufrieden wäre, wie ich es auch in der Vorrede angedeutet; am meisten betrifft diese Klage das erste Buch. Die höchst traurige Lage, in der ich es schrieb, konnte auf die Ideen und die Darstellung, so fern sie mit jenen verwachsen ist, keinen Einfluß haben, wohl aber auf den Fleiß und die beständige gleichförmige Besonnenheit der Ausarbeitung im Einzelnen. "204 Diese ersten Äußerungen zeigen, daß die „Grundlinien" zunächst vor allem im Freundeskreis Schleiermachers verbreitet wurden. Anfang September 1803 reagiert Ludwig Friedrich Heindorf auf die Ankündigung des Werkes mit folgenden Zeilen: „Deine Kritik der Moral werde ich andächtig durchlesen, so viel natürlichen Horror ich auch sonst als Laie vor tiefen filosophischen Büchern habe, und Dir ehrlich schreiben, ob ich wirklich den zehnten Theil davon verstanden habe. Vor dem Verlieren bist Du bei mir wohl sicher überhaupt hast Du hellblickender doch hie und da eine falsche Ansicht von mir, die ich Dir aber nicht nehmen kann und will. - Ich hoffe bald auf bessere Nachrichten von Dir, da Dir das Schreiben leicht wird."105 Am 19. Oktober schreibt Schleiermacher an Ehrenfried von Willich: „Ich hoffe ich habe Dich nicht vergessen aus Versehn auf Reimers Liste der zu vertheilenden Exemplare der Kritik der Moral, die nun endlich fertig ist. Die Noth und das Elend unter dem sie zur Welt gekommmen steht ihr deutlich an der Stirn geschrieben. "206 Auch Schleiermachers Oheim Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch (1738-1807) in Landsberg an der Warthe bestätigt Mitte Dezember, den Empfang des Werkes: „Für die Kritik der Sittenlehre, die ich 6 Tage nach Empfang ihres Briefes von dem Verleger erhielt, dank' ich Ihnen rechtsehr; ich verspreche mir viel belehrendes davon, da Sie selbige gewiß mit vielem Fleiße ausgearbeitet haben; bedaure aber recht sehr, daß Sie sich während

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Schleiermachers Brief an Reimer vom Dezember 1803 (KGA V/6) Ludwig Friedrich Heindorfs Brief an Schleiermacher vom 3. September (KGA V/6) Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 19. Oktober 1803 V/6)

1803 (KGA

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so mancher schwerer körperlicher Leiden damit beschäftiget haben. Noch habe ich nicht viel darin lesen können, weil ich das Buch erst vor 8 Tagen vom Buchbinder erhalten habe, da derselbe an 4 bis 6 Wochen abwechselnd immer auf den Jahrmärkten in hiesiger Gegend zugebracht."207 Am 19. Oktober 1803 hatte Schleiermacher Karl Gustav von Brinckmann auf das Werk aufmerksam gemacht und es ihm geschickt: „ Von meinem Thun und Treiben hier war wenig zu erzählen. Das wissenschaftliche, auf ein paar einzelne Punkte beschränkt hat in den fast anderthalb Jahres nichts Wirkliches zu Stande gebracht als die Grundlinien die jezt in Deinen Händen sind, und ein anderes giebt es gar nicht. "208 Im selben Brief wird, wie zuvor schon Ehrenfried von Willich, auch Brinckmann um sein Urteil gebeten - unter vorsorglichem Hinweis auf die Mühen, die die Lektüre des Buches offenbar macht: „ Was wirst Du nur zu den Grundlinien sagen? Das weiß ich nur gar zu gut, daß es ein sehr fatigantes Manoeuvre ist sie zu lesen. Die erste Noth macht die Interpunction. Der Sezer hat mir ein paartausend Komma angedichtet, an die meine Seele nicht dachte. Dagegen habe ich, aus heimlichem Grauen davor, daß der Sinn so oft aus sein soll, viel zu wenig Punkte gemacht, und dieses zusammen bildet ein abscheuliches Ganzes. Doch Du kennst meine alte Klage über unsre Interpunction, die mich gleichgültiger macht gegen mich und den Sezer. Entweder sollten wir ein viel größeres, componirteres System von Zeichen haben, oder ganz zu der alten Simplicität zurückkehren. Druckfehler giebt es auch eine große Menge, so daß ich mich geschämt habe, auch nur die Hälfte anzuzeigen. Doch das sind Alles nur Außendinge, und ich fürchte das ärgste Uebel liegt am Styl selbst. Die Idee desselben halte ich für der Sache ganz angemessen: ich hatte eine Synthesis von Aristoteles und Dionys von Halicarnaß dabei in Gedanken, und die wäre gewiß für die Kritik das Rechte. Was aber die Ausführung betrifft, so kannst Du denken, da ich in der Vorrede schon so viel zugegeben, wieviel ich Dir einräumen werde. Leider, lieber Freund, muß ich daran verzweifeln irgend etwas das ich drucken lasse so zu vollenden wie ich könnte. Steht mir kein bestimmter Termin vor Augen, und zwar vor so schlechten Augen sehr nahe, so komme ich gar nicht erst zum Schreiben; warten aber Verleger und Sezer auf Handschrift, so wird gewiß nichts recht durchgefeilt, weil mir nichts so verhaßt ist als ein Stück Arbeit kurz nachdem ich es gemacht noch einmal durchzusehen. Ich müßte mich also gewöhnen gleich aus der ersten Feder so zu schreiben wie es sein soll; dazu bin ich aber zu zerstreut. Aus

207

208

Samuel Ernst Timotheus Stubenrauchs Brief an Schleiermacher vom 19. Dezember 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Karl Gustav von Brinckmann vom 19. Oktober 1803 (KGA V/6)

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dem Allen folgt nun freilich daß nie etwas Ordentliches aus mir werden wird. Soll ich aber deshalb gar nicht schreiben? Das ist die Frage. "209 Dieser Brief hatte Erfolg. Am 17. Dezember 1803 konnte der Autor dem Verleger erstmals von positiven Reaktionen auf die „Grundlinien" berichten: „ Ueber die Grundlinien habe ich kürzlich zwei recht verständige Briefe bekommen, einen von Brinkmann und einen von Wedeke. "210 Unter dem 5. November 1803 hatte nämlich Brinckmann an Schleiermacher geschrieben: „Deine Kritik der Moral studir' ich eben, habe aber noch nicht mehr als das erste Buch vollendet. Ich behalte mir mein Urtheil noch vor. Eine grosse Freude macht es mir, daß ich Dich verstehe - das Meiste wenigstens - denn die Vorrede machte mich bang, als ich die Foderung einer gründlichen Kentnis aller beurtheilten Systeme fand. Dieser war ich mir nicht bewußt - allein beim Lesen fand ich mich doch klüger als ich glaubte, und seze nun diese Lektüre mit grossem Vergnügen fort."211 Darauf antwortet Schleiermacher in seinem Brief vom 26. November 1803: „Sehr tröstlich war es mir daß Du von meinen Grundlinien das erste Buch vollendet hast. Dies ist unstreitig die schlechteste Parthie davon; und ich glaube, ich würde es jezt in vierzehn Tagen besser machen als es damals in zwei Monaten geworden ist. Es ist gewiß ganz unkünstlerisch daß ich bei diesem Bewußtsein ziemlich gleichgültig bin, und ich schließe daraus daß ich niemals werde ein leidlicher Schriftsteller werden. Dafür lege ich mir wie die Unbesonnenen pflegen den Ruhm des guten Herzens bei, und glaube, ich denke gar nicht an meinen eignen Ruhm sondern nur an die Ehre Gottes, und rede eben wenn mir's der heilige Geist befiehlt, sollte es auch manchmal nicht besser sein als Bruder Pfuhl in Niesky. Die Sachen werden doch gesagt, und es kann irgendwo einen erwecken.... Von den Grundlinien sagt man nebenbei allgemein ich sei gar zu schlecht mit Kant und Fichte umgegangen; ich erwarte ob Du das auch finden wirst, und werde Dir es überhaupt nicht erlassen, daß Du Dir Dein Urtheil vorbehalten hast, hoffentlich nemlich nicht nur es zu fällen, sondern auch es abzugeben. "2U Daran hat es der Freund dann auch nicht fehlen lassen. Nur drei Tage später, am 29. November, schrieb Brinckmann an Schleiermacher, nachdem er zuvor über eigene literarische Projekte gehandelt hatte, über die „Grundlinien": „Was nun aber meine Schreibereien betrift, so ist es mehr als sokratische, ich fürchte ganz moderne Ironie von Dir, wenn Du mir einen Gedankentausch vorschlägst. Ich habe offenbar nur Gedankenspäne, und welchen Wald hast Du aufwachsen lassen in Deiner Kritik! Ich habe sie seit einiger Z,eit vollendet, und werde noch oft zu ihr zurückkehren. Das 209 210 211 212

Schleiermachers Brief an Brinckmann Schleiermachers Brief an Reimer vom Brinckmanns Brief an Schleiermacher Schleiermachers Brief an Brinckmann

vom 19. Oktober 1803 (KGΑ V/6) 17. Dezember 1803 (KGΑ V/6) vom S. November 1803 (KGA V/6) vom 26. November 1803 (KGA V/6)

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erste Lesen ist jedoch so aufmerksam gewesen, daß keine Seite ohne mehrere Bleifstiftstriche geblieben. Von jeher hat mich kein Studium so innig interessirt als die Moral; aber vielleicht hab' ich aus keinem filosofischen Buch so viel gelernt wie aus diesem; und doch möchte ich mich noch nicht rühmen, es überall gehörig verstanden zu haben. Dies trift aber blos mich, und weder Deine Entwickelung der Ideen, noch Deinen Vortrag. Aber Leider! fehlte mir von jeher eine gewise Schärfe des Abstrakzionstalents. Ich denke immer in Bildern - mehr nemlich als recht ist, und das macht mich zum eigentlichen Filosofiren, im strengeren Sinn, untüchtig. Allein wo mich ein richtiger Takt von jeher das Hinken und Kränkeln unserer ethischen Sisteme fühlen ließ, da glaub' ich nun zur szientifischen Einsicht gelangt zu sein, daß ich Recht hatte. Einer der wichtigsten Einwürfe gegen die neueste Filosofie hat mir immer derjenige geschienen, daß sie durchaus keine Rücksicht nahm auf die Individualität weder des Einzelnen noch der Gattung; daß all ihre Tugend nichts war, als Legalität. Sie spottete über die verfeinerte Glückseligkeitslehre, die weder filosofischer noch besser würde, ob man den Galgen in diesem oder jenem Leben aufschlüge, und sie machte es mit ihren höhern Polizeigesezen der Vernunft um kein Haar besser. Diesen Punkt nun scheinst Du mir auf das treflichste berichtigt zu haben, und er ist so wichtig, daß ich erwarte, ihn überall in den Rezensionen misverstanden, oder gar in seiner Wichtigkeit übersehen zu finden. Auf diesem wenigstens dunkel geahndeten Einwurf beruhten alle meine frühern Ideen vom Genie zur Tugend; von ihr selbst als blosser schöner Kunst, die zur Wissenschaft weder werden solte noch könnte; und endlich meine trozige Behauptung in einer unter Kants Alleinherschaft noch im Jahre 90. geschriebene Abhandlung, „daß wenn sein Sistem unwiderlegbar sei, die Tugend nicht das Höchste im Menschen sein könnte." Alle diese Ideen, ich gesteh' es gern, waren roh und unwissenschaftlich; aber verzeihlich wenn ich bedenke, daß ihnen doch vielleicht mehr Wahrheit zum Grunde lag, als der Formal filosofie, welche sie bekämpften. Ich möchte jezt die Unmöglichkeit auch eines ächt ethischen Sistems als Wissenschaft nicht leugnen; wohl aber frage ich Dich, ob ein solches nach Deinen Prinzipien, sich anders zur Sittlichkeit verhalten kann, wie eine noch erst zu erwartende Filosofie der Kunst zu dieser? Wie das Genie in jedem individuellen Künstler seine Autonomie bestimmt ausspricht, so die Sittlichkeit in dem Tugendhaften. Vortre flieh hast Du aufmerksam darauf gemacht, daß beinah jedes Sistem aus dem Empirischen herausfilosofire, so rein es sich auch dünkte, und Kants Juristerei ist ja wohl mit Händen zu greifen. Aus diesen vorherbestimten Zwecken wurde dann so vieles als Tugend aufgenommen, worauf das Sistem sonst nie gefallen wäre - und mich deucht alles, was Du in dieser Hinsicht rügst, unwiderleglich. Sonderbar ist es, daß auch diejenigen Sisteme, die am absichtlichsten von aller Individualität des Menschen überhaupt abstrahirten, wie das Fichtische, demungeachtet ein so treuer

LX

Einleitung

der Bandherausgeber

Abdruck der persönlichen Individualität ihres Verfassers sind, daß vieles in ihnen nur durch diese begreiflich wird. "213 Genauer hat niemand die inhaltlichen Pointen von Schleiermachers positivem Verständnis von Sittlichkeit erfaßt, wie er es zwar in der „Kritik der Moral" noch hinter den Fragen der wissenschaftlichen Form zurücktreten ließ, später aber in seinen Vorlesungen über philosophische Ethik in immer neuen Anläufen vorgetragen hat. Im Konzert der ambivalenten Reaktionen blieb diese die einzige, die völlige Zustimmung aus gründlichem Verständnis aussprach - eine stärkende Genugtuung für Schleiermacher, die er Brinckmann unter dem 14. Dezember 1803 mit Dank eingestand: „Was Du über diese (sc. die „Grundlinien") sagst hat mir zur großen Beruhigung gereicht, denn in der That hatte ich vorher gar wenig Tröstliches darüber gehört. Ja es hatte mich ohnerachtet alles Komischen was darin liegt gar sehr niedergeschlagen daß ein Mann, den ich für einen sehr guten Kopf halte, das erste Buch fast zu Ende gelesen hatte als er immer noch in der Meinung stand, ich werde erst ein eignes System aufführen und von diesem aus die andern beurtheilen. Lächerlich ist es, da ganz deutlich die ersten Zeilen das Gegentheil enthalten: aber kann mich nicht eine solche Begebenheit ganz verhärten gegen alle auch gerechte Klagen über Unverständlichkeitf Gegen diese Gefahr ist mir nun auch Dein Brief ein Gegengift. Denn da Dir meine Ideen im Ganzen so deutlich geworden sind, so kann ich allerdings, wenn Du nicht bei allem Einzelnen ein eben so bestimmtes Gefühl des Verstehens hast, die Schuld nur in meinem Vortrage suchen. Da ich das Citiren einzelner Stellen vermeiden wollte, ich glaube mit Recht, so hätte ich doch bestimmter andeuten sollen, wo ich eine einzelne Stelle im Auge hatte; hier habe ich der Kürze zuviel aufgeopfert zum Nachtheil der Verständlichkeit, und mich zu streng an die Art gehalten, wie die Alten dergleichen behandeln, da doch die litterarischen Verhältnisse so ganz verschieden sind. Wenn es nicht auch Ironie wäre, daß Du einer zweiten Auflage erwähnst, die eine Arbeit von mir niemals erleben wird, so würde diese gewiß ein Paar Bogen stärker werden, um hier nachzuhelfen. Mit den Absäzen habe ich gedacht, daß wer sie nicht selbst findet, dem würden auch die Andeutungen auf dem Papier nicht helfen, und diese schienen mir um so weniger schicklich, da in der Sprache eigentlich gar kein Absaz ist, sondern jede Periode grammatisch betrachtet auf gleiche Art mit der andern verbunden. Daher glaube ich auch daß das Ermüdende tiefer liegt, nemlich in dieser Behandlung der Sprache, die zu sehr von der abgebrochnen französirenden das Gegentheil ist. Ich meinestheils finde auch die Reden ermüdend, ohnerachtet in diesen die Perioden nicht so sehr in einander geschmiedet sind. Hoffentlich wirst Du mir noch entdecken hel-

213

Brinckmanns

Brief an Schleiermacher

vom 29. November

1803 (KGΑ

V/6)

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fen, wo der Fehler eigentlich liegt. Das dritte Buch finde ich auch am besten geschrieben: aber doch bin ich mir nicht bewußt, daß die Idee des Styls sich erst während der Arbeit vollendet hätte, nur die rechte Fertigkeit fand sich erst während derselben, und ich hätte vorher kleine Studien darin machen sollen, dann wäre nicht das erste Buch selbst ein ziemlich schlechtes Studium geworden. Dieses möchte ich überhaupt gern großentheils umarbeiten. Den Perioden thust Du auch meines Erachtens zu viel Ehre an, wenn Du überhaupt von Rundung sprichst: ich möchte sie eher durchaus viereckig nennen, nur nicht in dem antiken Sinn eines άνήρ τετράγωνος - sondern eben wegen jener Schmiedearbeit und wegen des Ermüdenden, das eine unübersehliehe Menge dicht an einander stehender Quadrate auch haben würde. Indeß ist dieser Charakter dem Ideal wesentlich, welches mir vorschwebte, nur glaube ich etwas mehr Fassung könnte nicht schaden und würde das Ganze besser heben ohne jenen Character zu verdunkeln. Mit dem Gedankenwalde aber, lieber Freund, sieht es sehr mißlich aus. Zeugs genug freilich, aber es kommt mir vor wie ein Westindischer underwood von Cactus und dergleichen, durch den man sich schwer durcharbeitet, der aber am Ende Alles aus einer einzigen Wurzel gewachsen ist; die Späne dagegen sind von der Sevietania-Mahagony, die doch ein ganz anderes Ding ist. Ein förmliches Buch, wie die Grundlinien, ist vielleicht immer ein solcher ,underwood' und eine Sammlung von Gedankenspänen ist etwas weit Größeres und sezt mehr voraus. "214 Das Echo aus dem Freundeskreis rundet sich mit einem Brief Friedrich Schlegels vom 20. März 1804 aus Paris ab, der zwar auch nur Zustimmung ausdrückt, aber bei weitem nicht das gründliche Verständnis, das aus Brinckmanns Zeilen spricht: „Deine Kritik der Moral ist das erfreulichste und wichtigste was ich noch seit meiner Entfernung aus Deutschland erhalten habe. Der Styl ist vortrefflich, gebildeter als in irgend einem wissenschaftlichen Werke der neueren Zeit. Inwiefern ich im Inhalt unbedingt oder bedingt mit Dir übereinstimme, weißt Du selbst zu gut, als daß ich darüber noch schreiben sollte."215 Schleiermacher antwortete darauf in einem Brief vom 26. Mai 1804: „ Ausruhen habe ich mir nach der Kritik der Moral nicht viel erlaubt, glaube auch wenig Recht dazu zu haben: denn ich habe leider am Buch selbst genug dormitirt. Du magst wol recht haben den Styl zu loben, wenn Du nur auf die Absicht siehst, auf die Idee welche darin angedeutet ist; diese halte ich selbst für recht gut: aber die Ausführung ist sehr stümperhaft, und ein neuer sprechender Beweis meines Unfähigkeit irgend etwas ordentlich zu vollenden."216 214

215 216

Schleiermachers Brief an Karl Gustav von Brinckmann vom 14. Dezember 1803 (KGΑ V/6) Friedrich Schlegels Brief an Schleiermacher vom 20. März 1804 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Friedrich Schlegel vom 26. Mai 1804 (KGA V/6)

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der

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Inzwischen waren die „Grundlinien" auch außerhalb des engeren Freundeskreises zur Kenntnis genommen worden. Erste Reaktionen erreichten Schleiermacher zunächst wiederum als private Nachrichten. Davon gibt ein Brief an Reimer von Mitte Dezember 1803 Kunde: „Brinkmann hat mir über die Kritik recht verständig geschrieben, das lohnt noch. Auch hat ihm Fichte gesagt, er habe noch nicht Zeit gehabt das Buch zu lesen; das ist wieder lustig. Nicht daß ich an der Wahrheit zweifelte, denn ich bin gewiß, Fichte lügt nicht geradezu. Aber er wird sich gewiß nie Mühe geben, einen halben Tag dazu zu finden, erstlich damit er jenes immer sagen kann, zweitens weil er glaubt schon im Voraus zu wissen, wie sie ist, und sich ächt stoisch das Mitleid mit meinem verkehrten Wandel ersparen will. Auch was Jakobi sagen wird, will mir Brinkmann schreiben. Im Voraus glaube ich, er wird mich auf's Neue hassen wegen der ihn ganz empörenden und öfters wiederholten Zusammenstellung des Piaton und Spinoza. Du siehst, ich will noch immer mehr hören. Warum auch nicht? Das Lustige ergözt, das Gute erfreut, das Scharfe belehrt. "217 Von dem zunehmenden Bekanntheitsgrad des Werkes zeugt auch der Brief Schleiermachers an Ehrenfried von Willich vom 28. Januar 1804: „ Ueber meine Kritik habe ich neulich ein sehr verständiges Ortheil durch die dritte Hand gehört von Scheffner in Koenigsberg, dem vertrauten Freunde des seligen Hippel und einem sehr gescheuten Manne. Bis jezt ist er nur der zweite von dem ich weiß daß er es recht gründlich gelesen hat, und über beide Ortheile konnte ich mich freuen. Scheffner ist auch ein alter Freund von Kant indeß meint er doch, noch keiner wäre so schlimm, aber auch so anständig mit Kant umgegangen als ich. Fichte hat bestimmt erklärt er werde das Buch nie lesen. Dies ist auch ganz in seinem System denn er glaubt immer schon im Voraus zu wissen, was ein anderer sagen kann und daß eben nichts dran ist. "218 Die erste förmliche Rezension erschien im März 1804 anonym in der „Allgemeinen Literaturzeitung" (ALZ).219 Die Absicht, die bisherigen als Wissenschaft auftretenden Sittenlehren allein anhand des als gegeben unterstellten Begriffs der Ethik als Wissenschaft zu kritisieren, wird gesehen, aber als Grundfehler verworfen. Dadurch werde das Wesen der wissenschaftlichen Ethik verkannt, nur sekundäre Besinnung auf die zuvor schon im menschlichen Leben gefallene Unterscheidung zwischen gutem und bösem Handeln zu sein. An die Stelle des darüber urteilenden Gewissens setze Schleiermacher das systematisch entfaltete Wissen um gutes und bö217 218

219

Schleiermachers Brief an Reimer vom Dezember 1803 (KGΑ V/6) Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 28. Januar 1803 (KGA V/6) Vgl. Allgemeine Literaturzeitung, Bd. 1, Halle/Leipzig 1804, Nr. 93 vom 26. März 1804, Sp. 737-741

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ses Handeln, die systematisch entfaltete Idee solchen Handelns. Wozu bemerkt wird: „Wir möchten rathen, ein solches vollendetes System in Kalenderformat herauszugeben, damit der Mensch sein System in Kalenderformat in der Tasche habe, wenn es aus seiner Brust entfloh. "210 Kommentarlos - gewissermaßen als ein sich selbst richtendes Faktum - wird berichtet, daß Schleiermacher Kants Versuch, den Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott, nachdem dieser ihnen in einem ersten Schritt attestiert hatte nur aus Mißverständnissen in der Welterklärung zu resultieren, dann in einem zweiten Schritt gleichwohl Bedeutung für die praktische Vernunft zuzusprechen, für einen Fehler halte, den er selbst zu vermeiden 221

wisse. Nach diesen inhaltlichen Mängeln werden dann die formalen aufgezählt: Das sachliche Resultat der Schrift sei „wegen des in ihr herrschenden unbestimmten Gedankenganges nicht leicht anzugeben."111 „Die Leetüre des Buches wird durch den Mangel der Präcision des Stils ... äusserst unangenehm."223 „Auch mangelt es sehr an Absätzen im Drucke".224 Abschließend wird das im Vorwort enthaltene Stilprogramm Schleiermachers samt dessen Eingeständnis, es beim ersten Versuch sicher noch nicht voll erreicht zu haben, zitiert, woran sich die Schlußbemerkung knüpft: „Ob der Leser bey diesem zweyten Versuch gewinnen oder verlieren möchte, wagt Ree. nicht zu entscheiden. "22s Genaueres Eingehen auf die Sache, freilich mit betont negativem Ergebnis, jedoch einem grundsätzlichen Lob des Stils, bietet die ebenfalls 1804 erschienene, gut 18 Seiten lange Rezension in den in Marburg erscheinenden „Neuen Theologischen Annalen" (NThA).226 Sie beginnt mit einer scharfsinnigen Auflistung all der Probleme der Ethik, deren Lösung de facto und implizit von Schleiermachers Begriff der Ethik als Wissenschaft beansprucht wird 227 Der Rezensent würde sich all dem gerne anschließen, wenn er nicht einen Grundeinwand vorzubringen hätte. Dieser Einwand lautet: Schleiermacher habe den in Anspruch genommenen Gegenstandsbezug der Ethik als Wissenschaft nicht als gegeben ausgewiesen. Einerseits sei die leitende Vorstellung von dem Realen allen Wissens als System mehrdeutig. Andererseits sei aber auch nicht das Reale selbst, sondern nur das 220 221 222 223 224 225 226

227

ALZ 1,738 Vgl. ALZ 1,738 ALZ 1, 740 ALZ 1, 740 ALZ 1, 740 ALZ 1, 741 Vgl. Neue Theologische Annalen, Jg. 7, Marburg 1804, St. 21-22, 449^54 Vgl. NThA 1, 433-438

S.

433-446.

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erkannte Reale Gegenstand der Ethik als Wissenschaft, also das Reale als System nur das unter einer subjektiven Form erkannte Reale, oder: die Vorstellung des Realen als System nur eine subjektive. Wofern dies nicht eingesehen werde, liege Rückfall in vorkantischen Dogmatismus vor.22S Wenn aber, was für den Renzensenten feststeht, das Ideale bloß subjektiv sei, dann bedeute auch das von Schleiermacher angegebene Kriterium der Sittlichkeit - „Anstreben des Idealischen"229 im Handeln - nichts anderes als die durchgehende Subjektivierung des Sittlichen.230 Das als Kriterium in Anspruch genommene Reale in seiner Struktur sei also nur ein leeres Schema. Auf nichts anderem fuße auch Schleiermachers eigenes Ethikprogramm. Dieses aber sei selbst nicht ausgeführt. Folglich laufe auch der Versuch einer Kritik der bisherigen Ethik auf den Versuch hinaus, ohne Maßstab zu messen 231 „Die unerhörte Arroganz, welche, gemäs den Aeusserungen des Vfs, wenn er sich anders kein Dementi geben will, in diesem seinen Unterfangen liegt, will Ree. nicht weiter rügen. "232 Es folgen viele Beobachtungen, die in Frage ziehen, ob Schleiermachers Interpretation der untersuchten Autoren und sein Tadel an ihnen haltbar sei.233 Die Rezension endet: Wir „bemerken nur noch, weil doch der Vf. auf seine Sprache, wovon wir oben eine Probe gegeben haben, aufmerksam macht, daß wir diese zwar gräcisirend und, wie bey andern seiner Schule, etwas steif und einförmig, übrigens aber sehr deutlich und den Vortrag philosophischer Gegenstände erleichternd gefunden haben. "234 Genau umgekehrt akzentuiert die 15 Seiten lange Rezension in der „Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek" (NADB).235 Ihr Verfasser ist Johann Christoph Schwab (1743-1821), Geheimer Hofrath in Stuttgart.236 Die Rezension beginnt mit einem heftigen Tadel der Darstellung: „Ree. hat ganze Seiten und Blätter gelesen, ohne den Sinn des Verf. errathen zu können, da ihm doch die abgehandelten Materien gar nicht fremd sind. ... Der Verf. scheint jedoch diesen und andere Mängel seines Werkes gefühlt zu haben; denn er sagt am Ende seiner Vorrede, daß sein Versuch, zum zweyten

228 229 230 231 232 233 234 235

236

Vgl. NTbA 1, 438-441 NThA 1, 442 Vgl. NThA 1, 443 Vgl. NThA 1, 445 NThA 1, 445 Vgl. NThA 1, 445-446. 448-453 NThA 1, 453f Vgl. Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 90, Berlin/Stettin 1804, St. 1, H. 4, S. 209-224 Vgl. Gustav Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet, Berlin 1842 (Nachdruck Hildesheim 1973), S. 26f. 41

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Mal angestellt, ihm besser gelingen würde; welches Geständniß zwar seiner Selbsterkenntnis und Bescheidenheit Ehre macht; aber ihn wohl auf den Gedanken hätte bringen sollen, sein Manuskript nochmals umzuarbeiten, ehe er es dem Drucke übergeben hätte. "2il Getadelt wird die Unnatürlichkeit und Gekünsteltheit der Schreibart, der Wortstellung sowie der Verzicht aufs Zitieren,238 Anschließend werden freilich die inhaltlichen Vorzüge des Werkes genannt. Sie können sich nicht auf die Konstruktionsprinzipien des Ganzen beziehen, die der Rezensent ja eingestandenermaßen nicht verstanden hat. Sie betreffen daher nur zweierlei: den „unparteiischen Prüfungsgeist" des Verfassers239 sowie Scharfsinn und Richtigkeit gerade seiner Ausstellungen an Kants Philosophie. Die im größten Teil der Rezension dafür zusammengestellten Beispiele von zu recht getadelten Kantischen Theoremen betreffen die Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von theoretischer und praktischer Vernunft, Kants Unterscheidung von Legalität und Moralität, seinen Begriff des Erlaubten, seine Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten und anderes mehr.240 Rezensent bedauert, daß der Verfasser der „Grundlinien" die Baumgartensche Ethik nicht zu kennen scheine.241 Nach einem Tadel des neuern Wortgebrauchs, der auf die Wendungen „moralisch-gut"/„moralisch-böse" verzichtet und für „moralisch-gut" einfach „moralisch" bzw. „sittlich" sagt, endet die Rezension indem sie Lob und Tadel in dem Schlußurteil zusammenfaßt: „ Wenn der Verf. mit der Unbefangenheit und dem Scharfsinn, die er in diesem Werke gezeigt hat, noch eine lichtvolle Darstellung seiner Gedanken verbinden, und über sich erhalten könnte, weniger gesucht zu schreiben: so könnte er wahrscheinlich künftig noch ein viel besseres Werk über die Ethik liefern. "242 Ganz auf den Ton eines verständnisvollen Berichts ist die letzte der 1804 erschienen Rezensionen gestimmt, die am 16. Juni als 24. Stück der Greifswalder „Neuesten Critischen Nachrichten" erschien.243. Schon der erste Satz zeigt, daß der Rezensent das Werk verstanden hat und zu würdigen weiß: „Der Verf. dieses gehaltreichen in der Geschichte der critischen Philosophie Epoche machenden Werkes, will... die wissenschaftliche Form 237 238 239 240 241 242 243

Schwab: NADB 90, 209f Vgl. Schwab: NADB 90, 210-212 Vgl. Schwab: NADB 90,213 Vgl. Schwab: NADB 90, 214-220 Vgl. Schwab: NADB 90, 222 Schwab: NADB 90, 224 Vgl. Neueste Critische Nachrichten, Bd. 30, Greifswald 1804, St. 24, S. 185190. Die Rezension ist mit Pw. gezeichnet, ohne daß der Verfasser bisher ermittelt werden konnte.

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der bisher bekannt gewordenen Originalsysteme der Sittenlehre mit der Fackel einer streng- und unpartheiisch-richtenden Vernunft beleuchten. "244 Daher kann der Ertrag nicht in erster Linie der Moral selbst zugute kommen, sondern nur ihrer wissenschaftlichen Darstellung. Folglich besitzen die einleitenden Überlegungen zur Einteilung des Wissensreiches für das Projekt grundlegende Bedeutung.245 Dem Tadel Kants wegen seines erkenntnistheoretischen und ontologischen Dualismus entspreche das Lob, das dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Monismus Piatos und Spinozas gezollt werde. Rezensent fragt sich jedoch, warum Schleier mach er in dieses Lob nicht auch die „christlichen Moraltheologen vor Spinoza" einbezogen habe und kein Wort über die Versuche sage, die Logik zu einer Wissenschaft der sowohl in der Physik als auch in der Ethik geltenden Grundsätze auszubilden.246 Sodann wird die intentio auctoris genau wiedergegeben, daß es die aus der Natur des Wissens folgende Anforderung an jede wissenschaftliche Ethik sei, überhaupt in einer Idee ihres Realen, des zufälligen, seiner Idee entsprechenden oder widersprechenden menschlichen Handelns, zu fußen, und zwar in einer Idee, welche die Ideen der Pflicht, des Weisen bzw. der Tugend und des höchsten Gutes einschließt und das Ganze aller Aspekte und Erscheinungen des moralisch guten, dem Ideal gemäßen Handelns umfaßt, so daß die Entfaltung der Idee ein vollständiges Ganzes ergibt247 Die Besprechung schließt mit dem Hinweis auf den bleibenden Unterschied zwischen der Darstellung der Idee des guten Handelns und ihrer Anwendung, nur die erste kann zum System gebildet werden, die zweite nicht 248 Das Jahr 1805 brachte dann noch zwei förmliche Rezensionen, beide nicht blind für die formalen Schwächen des Werks aber auf eine positive Würdigung des Sachanliegens zielend. Die Rezension vom 12./14. Januar 1805 in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" (JALZ) ist mit dem Kürzel A+B+C gezeichnet und wurde von dem Marburger Professor für Praktische Philosophie Christoph Andreas Leonhard Creuzer (17681844) verfaßt.249 Creuzer nimmt zunächst Bezug auf die früheren negativen Besprechungen, die er für ungerechtfertigt hält: Es hat „uns befremdet, dieß Werk in verschiedenen literarischen Blättern so kalt aufgenommen,

244 245 246 247 248 249

Neueste Critische Nachrichten 30, 185 Vgl. Neueste Critische Nachrichten 30, 185f Vgl. Neueste Critische Nachrichten 30, 186 Vgl. Neueste Critische Nachrichten 30, 187-189 Vgl. Neueste Critische Nachrichten 30, 189f Vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 2, Jena/Leipzig 1805, Bd. 2, Nr. 11-12, Sp. 81-92. Zur Identifizierung des Autors vgl. Karl Bulling: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1804-1813, Claves Jenenses 11, Weimar 1962, S. 73.

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und obenhin beurtheilt zu sehen. ... Unstreitig ist diese seit Kants Kritik der praktischen Vernunft und Ficht es Sittenlehre das wichtigste Werk auf dem Gebiete dieser Wissenschaft. "250 Insgesamt verfährt der Rezensent so, daß er die Schwächen des Werkes kritisiert in der erklärten Anerkennung der Wichtigkeit der Bemühungen des Verfassers und in der Hoffnung auf die baldige positive Darstellung der eigenen wissenschaftlichen Sittenlehre des Verfassers, frei von den benannten Fehlern,251 Erkannt und gebilligt wird die Absicht einer Kritik der wissenschaftlichen Sittenlehre am Leitfaden bloß des Begriffs ihrer wissenschaftlichen Form. Daraus ergibt sich die Kompliziertheit, die „Zerstückelung" der Darstellung.251 Freilich ist eine Kritik am Maßstab der wissenschaftlichen Form dann nicht mehr Kritik am Maßstab bloß der Form des Wissens, wenn die Form selbst schon durch den Gegenstand des Wissens bestimmt ist, sie also nicht inhaltslose Form ist.2s3 Daß Schleiermacher dem nicht Rechnung getragen habe, sei die Ursache der Unübersichtlichkeit der Darstellung, ziehe aber auch den Vorwurf „auf Willkühr angenommener Voraussetzungen"2S4 auf sich. „Ohne eine den Inhalt und die Form wenigstens bezeichnende Idee scheint uns ... keine Kritik der bisherigen Bearbeitungen der Ethik möglich zu seyn. - Wirklich geht auch der Vf. von einer solchen Idee aus ..., oder deutet auf ein System hin, das er noch zurück behält « 255

Auf das Referat der drei dem Ansatz entsprechenden Teile des Werkes256 folgen Bemerkungen konstruktiver Kritik, zunächst zu den das erste Buch eröffnenden Überlegungen zum System des Wissens. Es wird darauf hingewiesen, daß das Ideal des Wissenssystems und auch der wissenschaftlichen Ethik ein durch uns nie realisierbares sei, weil das Fundament und der Schlußstein des Wissenssystems und auch des ethischen Wissens „in der Tiefe des menschlichen Gemüths liegt, in der Vereinigung des Subjectiven und Objectiven, in dem, was nie begriffen wird, eben da, wo auch das Allgemeine und das Individuelle sich vollkommen vereinigt. "257 Von da aus erscheinen dem Rezensenten bestimmte Urteile zu rigoros: die Ausschließung des Erlaubten25*, vor allem aber die Entgegensetzung von Handeln und Leiden259. Auch mit historischen Fehlinterpretationen müsse daher 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259

Creuzer: JALZ 1,81 Vgl. Creuzer: JALZ 1, Vgl. Creuzer: JALZ 1, Vgl. Creuzer: JALZ 1, Creuzer: JALZ 1, 82 Creuzer: JALZ 1, 83 Vgl. Creuzer: JALZ 1, Creuzer: JALZ 1, 85 Vgl. Creuzer: JALZ 1, Vgl. Creuzer: JALZ 1,

91f 81f 82

84f 85f 86ff

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gerechnet werden.260 Abschließend stellt er fest: „ Unsere Bemerkungen, die wir den Ortheilen des Vf's. entgegensetzen, sollten einen Beweis für die Wichtigkeit seiner Bemühung ablegen. Hr. Schi, hat in der Vorrede das Versprechen bedingt gegeben, eine wissenschaftliche Darstellung der Sittenlehre zu liefern. Daß er dieses bald erfülle, muß der Wunsch eines jeden seyn, welchem diese noch lange nicht vollendete Wissenschaft am Herzen liegt."261 Eine sehr ähnliche Linie verfolgt die ebenfalls 1805 erschienene zweiteilige Besprechung in der „Allgemeinen Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur", die von dem Schleiermacher seit November 1800 persönlich bekannten und verbundenen Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766-1837), Pfarrer zu Münster im Hessendarmstädtischen, mitherausgegeben wurde 262 Er ist auch der Verfasser dieser Rezension. Der erste Teil ist ein detailliertes, dem Aufbau der „Grundlinien" genau folgendes Referat des Werkes. Der zweite wirft eine Reihe von Einzelfragen auf, ob Schleiermacher Kant wirklich Gerechtigkeit widerfahren lasse, erwähnenswerte zeitgenössische Autoren übersehen habe, dem historischen Referat mehr Raum hätte geben sollen, wie sich Gewissen und Wissen zueinander verhielten, welche Unvollkommenheiten der Ethik angesichts der Unerreichbarkeit des Ideals zu ertragen seien, über das Recht der Kasuistik, die Grenzen des Wahrheitsredens, den Überschuß aller Kollisionsfälle gegenüber der wissenschaftlichen Sittenlehre, das Faktum und die Unzulänglichkeit von Kants Konzeption der Sittlichkeit als Rechtlichkeit, die vollständige Durchführung der Ethik in den drei Reihen des Pflicht-, Tugend- und Güterbegriffs, die Entstehung des Guten und Bösen, das Problem des Gegensatzes von Tätigkeit und Genießen und die Bedeutung der Freiheitsfrage für die Ethik.263 Alle diese Überlegungen faßt der Rezensent schließlich in einem eigenen Verständnis von Ethik als „Lehre von dem Edlen im Menschen " zusammen, die Kantische Einsichten, Schleiermachersche Anregungen und Elemente der theologischen Tradition vereinigt264 260 261

262

263 264

Vgl. Creuzer: JALZ 1, 91 Creuzer: JALZ 1, 92. Scbleiermacher schreibt in einem Brief an Joachim Christian Gaß vom 3. Februar 1805 über seinen Eindruck der Creuzer'schen Rezension: „Mein Recensent in der Jenaer L. Z. hat mir auch nicht viel Freude gemacht. Vor lauter Einzelheiten hat er das Ganze nicht gesehen und deshalb auch das Einzelne nicht recht verstanden. Das beste, was er sagt, scheint mir nur ein Begießen mit meinem eigenen, aber verdünnten Fett." (Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 15) Vgl. Allgemeine Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur, Bd. 8, Gießen 1805, S. 168-191. 329-368 Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 8, 332-364 Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 8, 365-368

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Offenbar konvergieren diese beiden letzten Rezensionen darin, daß sie zwar nicht das Ideal einer Wissenschaft vom moralisch guten Handeln verwerfen, aber, aus der innergeschichtlichen Nichterfüllbarkeit des Ideals, die Schlußfolgerung ziehen, daß es innergeschichtlich die Ethik als wissenschaftliches System überhaupt nicht geben könne. Damit treten sie in einen direkten Gegensatz zu Schleiermachers eigenem ausdrücklichen Bekenntnis, daß die Ethik als Wissenschaft sehr wohl real sein könne.265 Dieser Gegensatz verrät ein grundsätzliches Mißverständnis der Schleiermacherschen Position, denn die Unmöglichkeit der Erreichung von wirklichem Wissen kann nur aus der Auffassung der Idee des Wissens als eines regulativen Vernunftideals rein subjektiver Art gefolgert werden. So aber versteht Schleiermacher die Idee des Wissens nicht. Für ihn ist sie vielmehr das mit dem Menschsein und seinem Wesen zugleich gegebene und erschlossene reale Wesen der zum Wesen des Menschseins gehörigen Wissensaktivität und als solche der dauernde Impuls zum Wissen - dasjenige, was alle Wissensaktivität des Menschen dauernd orientiert und motiviert. Soweit die Rezensionen einen agressiven Tadel der Form ausdrückten, brachten sie gegenüber dem schon aus den Reaktionen im Freundeskreis Bekannten nichts Neues. Durch ihre Sachkritik aber konnte sich Schleiermacher nicht getroffen fühlen, auch wenn ihm durch die Mißverständnisse die Notwendigkeit deutlicher geworden sein mag, das eigentliche Fundament des Systems seiner Einsichten - die passive Konstitution der Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins als Grund des menschlichen Genötigtseins zu Akten der freien Selbstbestimmung - klarer herauszuarbeiten. Gegenüber Joachim Christian Gaß erwog Schleiermacher brieflich angesichts der vorliegenden Rezensionen, sein Werk im Zusammenhang einer Sammlung seiner kritischen Aufsätze später selbst anzuzeigen.266 Der zuerst von Karl Gustav von Brinckmann geäußerte Gedanke an eine zweite Auflage267, blieb nicht einfach gegenstandslos. Bereits in einem Brief vom 19. März 1804 zeigte sich Reimer Schleiermacher gegenüber sehr erfreut über den Absatz der „ Grundlinien": „... mit dem Absätze der Critik bin ich über meine Erwartung zufrieden: ich glaube daß ich bis jetzt schon über 400 Exemplare abgesetzt haben werde, wobei ich schon alles aufs höchste anrechne, was mir etwa nächste Ostermesse von Buchhändlern zurückgegeben werden könnte. "26S Die zweite Ausgabe der „Grundlinien" 265 266

267 268

Vgl. oben XLVI Vgl. Schleiermachers Brief an Joachim Christian Gaß vom 3. Februar 1805: „Ich habe mir daher vorgenommen, mein Product einmal recht gründlich selbst zu recensiren, wenn ich meine sonstigen kritischen Aufsätze zusammendrukken lasse, wozu ich doch in ein Paar Jahren wol Lust hätte." (Briefwechsel mit Gaß 15f) Vgl. oben LXI Reimers Brief an Schleiermacher vom 19. März 1804 (KGΑ V/6), vgl. auch unten Anm. 305

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wurde erstmals zur Ostermesse 1827 angekündigt, ist jedoch erst nach Schleiermachers Tode, vermutlich zur Michaelismesse 1834269, unter dem Titel „ Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Zweite Ausgabe " im Verlag Georg Reimer erschienen.170 Den 25 Druckbögen Text mit 352 arabisch bezifferten Seiten, geht ein römisch paginierter Druckbogen voraus, der ein leeres, unpaginiertes Blatt, das Titelblatt und die „ Vorrede" (S. III-VIII) umfaßt. Der Satzspiegel mißt 8,9 cm Breite und 15,7 cm Höhe; die Seite hat einen durchschnittlichen Umfang von 35 Zeilen, in der „Vorrede" 30 Zeilen, im „Beschluß" 44 Zeilen. Die 16 Seiten starken Druckbögen sind durch Großbuchstaben (A bis Z) gezählt; der letzte Druckbogen (Z) umfaßt lediglich 8 Seiten. Neben vielfachen Abweichungen in Orthographie und Interpunktion weist der Text der zweiten Ausgabe gelegentliche Wortersetzungen sowie stilistische Verbesserungen und vereinzelte inhaltliche Varianten auf, die nicht durch das Druckfehlerverzeichnis der Erstausgabe veranlaßt sind. Da das Vorhaben einer Neuauflage der „ Grundlinien" offensichtlich bereits zu Schleiermachers Lebzeiten bestand, ist zu vermuten, daß die Textkorrekturen wenigstens teilweise von Schleiermacher selbst vorgenommen bzw. autorisiert worden sind. Eine tiefergehende Neubearbeitung des Textes, wie sie Schleiermacher im Dezember 1803 gegenüber Karl Gustav von Brinckmann angedeutet hatte271, unterblieb. Über die genaueren Umstände der Entstehungsgeschichte der zweiten Ausgabe ist bisher leider nichts bekannt. Für die weitere Rezeption der „Grundlinien" wurde der Text der zweiten Ausgabe maßgeblich. Er ist im ersten Band der dritten Abteilung der „Sämmtlichen Werke" Schleiermachers wieder abgedruckt worden272 und bildete auch die Textgrundlage in der von Otto Braun und Johannes Bauer herausgegebenen Auswahl der Werke Schleiermachers.27i Der Text dieser Ausgabe, mit einer ausführlichen „Inhaltsanalyse" des Herausge269

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Die Angaben über den genauen Erscheinungstermin sind widersprüchlich: laut dem „Allgemeinen Verzeichniß der Bücher, welche in der Frankfurter und Leipziger Ostermesse des Jahres entweder ganz neu gedruckt, oder sonst verbessert, wieder aufgelegt worden sind, auch ins künftige noch herauskommen sollen" ist sie zur Ostermesse 1834 als erschienen angekündigt worden, im „ Verzeichniß der Bücher und Landkarten" wird dagegen die zweite Jahreshälfte 1834 als Erscheinungstermin genannt (vgl. Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers 84, Nr. 1834/1). Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre entworfen von F. Schleiermacher. Zweite Ausgabe. Berlin. Gedrukkt und verlegt bei G. Reimer. 1834 Vgl. oben LXIf Vgl SW III/l, Berlin 1846, S. 1-344 Vgl. Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 1, Leipzig 1910, 2. Aufl., Leipzig 1928 (Nachdruck Aalen 1967. 1981) S. 1-346. Diese Ausgabe erschien 1911 auch als Bd. 136 der „Philosophischen Bibliothek" im Verlag Felix Meiner.

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bers, erschien 1911 noch einmal gesondert,274 Kürzlich hat Andreas Arndt in der von ihm herausgegebenen Sammlung der Schriften Schleiermachers einige Auszüge der „Grundlinien" nach dem Text der Erstausgabe, mit einer Einleitung und Sacherläuterungen versehen, in der „Bibliothek deutscher Klassiker" veröffentlicht.275 Der vollständige Text der Erstausgabe der „Grundlinien" wird hier erstmals seit fast 200 Jahren wieder der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt.

3. Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen wesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat

Kirchen-

Im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung veröffentlichte Schleiermacher 1804 anonym die in Oktavformat gedruckte Schrift „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat". Den 12 Druckbogen Text mit 191 arabisch bezifferten Seiten geht ein römisch bezifferter Druckbogen Vorspann voran. Dieser Druckbogen umfaßt das nicht in der Seitenzählung berücksichtigte Titelblatt, den „Meinem Freunde J. C. W. in H." überschriebenen vierseitigen Widmungstext (S. I-IV), eine vierseitige „Vorerinnerung (S. V-VIII), ein leeres Blatt, eine Übersicht über den „Inhalt" (S. XI) und das Zwischentitelblatt „I. Über die Trennung beider protestantischen Kirchen." (S. XIII). Die Druckseiten umfassen in der Regel 27 Zeilen von 6,6 cm Länge bei einer Satzspiegelhöhe von 11,2 cm. Kirchenpolitische Themen hat Schleiermacher bereits 1799 in seinen Reden „ Über die Religion"276 angesprochen, wo er die strikte Unabhängigkeit der Kirche vom Staat forderte. Außerdem schlug er am 2. September 1799 gemeinsam mit seinem lutherischen Kollegen Johann Georg Wilhelm Prahmer (1770-1812) dem Berliner Armendirektorium, veranlaßt durch die baulichen und organisatorischen Veränderungen der Charite, eine Neubestimmung der Predigeraufgaben vor. Dabei sollten die konfessionellen Grenzen durchlässig und Privatkommunionen nach einer „gemeinschaftlichen Liturgie"277 eingerichtet werden. Im Antwortschreiben des Armen274

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Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. 1803. 1834. 1846, neu herausgegeben von Otto Braun, Leipzig 1911, 2. Aufl., Leipzig 1928 (Philosophische Bibliothek Bd. 136a) Vgl. Schriften, ed. A. Arndt, Bibliothek deutscher Klassiker Bd. 134, Frankfurt a.M. 1996, S. 213-274 Vgl. KG A 1/2, 185-326 sowie Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1998 (Nachdruck 2001), S. 53-194 KGA V/3, Nr. 686, 64

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direktoriums vom 27. November 1799 wurden die von den beiden Predigern vorgeschlagenen Veränderungen teilweise angenommen, für die Abendmahlsfeiern das Bedürfnis „einergemeinschaftlichen Liturgie"27* aber verneint. Schleiermacher suchte sich mit seinen „Gutachten" auch ohne amtlichen Auftrag an den behördlichen Reformbemühungen um eine Verbesserung der kirchlichen Zustände zu beteiligen, die von König Friedrich Wilhelm III. bereits im Sommer 1798 durch die Einberufung einer Agendenkommission in Gang gesetzt worden waren. Diese paritätisch mit lutherischen und reformierten Mitgliedern besetzte Kommission sollte eine für beide Kirchen gemeinschaftliche Kirchenagende ausarbeiten, die nach königlicher Genehmigung den Gemeinden zur freiwilligen Annahme vorgelegt werden sollte. Schleiermachers Titelkennzeichnung seiner beiden Gutachten als „unvorgreiflieh" dürfte sich sowohl auf ihren nichtamtlichen Charakter als auch auf die noch nicht abgeschlossene Kommissionsarbeit beziehen. Die königliche Agendenkommission legte ihren Entwurf am 13. März 1804 vor; Friedrich Wilhelm III. stimmte dem Entwurf samt „Vorerinnerung" im Sommer 1804 insgesamt zu, forderte aber einige Änderungen; die amtliche Publikation kam nicht zustande.279 In seiner anonym veröffentlichten Programmschrift „Zwei unvorgreifliche Gutachten " unterbreitete Schleiermacher Kirchenverbesserungsvorschläge, in die sowohl seine Erfahrungen der weitgehend entkirchlich ten Berliner Großstadtsituation2m als auch seine Stolper Situation eines reformierten Predigers in einem ganz überwiegend lutherischen Umfeld281 ein278 279

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KGA V/3, Nr. 735, 71 Vgl. KGA 1/9. Kirchenpolitische Schriften, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 2000, S. X-XII Schleiermacher hat seit 1801 Vorüberlegungen zu seinen kirchenpolitischen „Gutachten" notiert; vgl. Gedanken V, Nr. 50. 133f. 151. 182. 185-190. 193, KGA 1/3, 294f. 316f. 321. 328. 329f. 331; außerdem KGA V/5, Nr. 1090, 6-17. Schleiermacher äußerte sich schon bald nach seiner Ankunft in Stolp kritisch über seine lutherischen Kollegen; vgl. seinen Brief an Eleonore Grunow vom 8. Juli 1802: „Mittwoch war die Synodalversammlung der hiesigen Diöcese, und der Probst hatte die Artigkeit, mich dazu einzuladen. Damit ging fast der ganze Tag hin. Das hat mir einmal wehmüthige Empfindungen gemacht! Ach, liebe Freundin, wenn man so unter 35 Geistlichen ist! - ich habe mich nicht geschämt einer zu sein; aber von ganzem Herzen habe ich mich hineingesehnt und hineingedacht in die hoffentlich nicht mehr ferne Zeit, wo das nicht mehr so wird sein können. Erleben werde ich sie nicht; aber könnte ich irgend etwas beitragen sie herbeizuführen! Von den offenbar infamen will ich gar nicht reden, auch wollte ich mir gern gefallen lassen, daß einige dergleichen unter einer solchen Anzahl wären, besonders so lange die Pfarren noch 1000 Rthl. eintragen - aber die allgemeine

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gingen. Seine Bildungserfahrungen im Herrnhutertum282 und seine freundschaftliche Verbundenheit mit dem ostpreußischen Prediger Johann Chri283 stoph Wedeke (1755-1815), dem die „ Gutachten " gewidmet sind , gaben inhaltliche Anstöße für das Reformprogramm. Entschieden verzichtete Schleiermacher auf eine Kenntnisnahme der zahlreichen für das Thema einsch lägigen Liter a turtitel.284 In Schleiermachers Briefwechseln mit Georg Reimer und mit Georg Ludwig Spalding finden sich zahlreiche Hinweise zur Entstehung und Drucklegung der „GutachtenNach dem Abschluß der „Grundlinien" erwähnte Schleiermacher erstmalig seinen Wunsch, kirchenpolitische Aufsätze veröffentlichen zu wollen, Anfang September 1803 gegenüber seinem

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Herabwürdigung, die gänzliche Verschlossenheit für alles Höhere, die ganz niedere sinnliche Denkungsart - sehen Sie, ich war gewiß der Einzige der in seinem Herzen geseufzt hat; gewiß, denn ich habe so viel angeklopft und versucht, daß ich sicher den zweiten gefunden hätte!" (KGΑ V/6) Die „ Gutachten" galten als Zeichen seiner fortwährenden Verbundenheit mit dem Herrnhutertum. Joachim Christian Gaß schickte 1810 auch die „Gutachten" und Schleiermachers Predigten nach Gnadenfrei (vgl. Briefwechsel mit Gaß 89). Vgl. unten Anm. zu 361,1 f. Schleiermacher bat am 7. Januar 1804 Reimer brieflich: „ Wenn der Druck der Gutachten vollendet ist so sei doch so gut gleich zwei oder drei Exemplare an Wedeke abzuschicken. Ich habe ihm nichts davon geschrieben und wollte mir den Spaß machen daß er sie ohne Weiteres und ohne meinen Namen durch Dich erhielt. Du wirst wol auch Spalding ein paar Exemplare geben." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1803: „Sehr zufrieden bin ich, daß ich es wenigstens in Hinsicht der Gutachten bei Seite gestellt habe. Was für ungewaschenes Zeug hätte ich da erst lesen müssen!" (KGΑ V/6) Schleiermacher dachte hier vermutlich beispielsweise an Daniel Jenisch: Ueber Gottesverehrung und kirchliche Reformen, mit besonderer Hinsicht auf die von Friedrich Wilhelm III. dem preußischen Ober-Consistorium abgeforderten Vorschläge zur Belebung eines ächt-religieusen Volkssinns, Berlin 1803. Im Brief an Schleiermacher vom 5. Dezember 1803 wiederholte Reimer einen Literaturhinweis, den bereits Spalding gegeben hatte: „In Absicht auf die Gutachten meinte Spalding noch es könnte Dich vielleicht eine Schrift von Plank „über die Vereinigung der christlichen Religionsparteyen" interessiren, ich glaube dies zwar nicht, indeß will ich Dir doch seine Meinung mitgetheilt haben, da er mich wiederholentlich daran erinnert hat." (KGΑ V/6) Schleiermacher bekräftigte unmittelbar vor Abschluß der Drucklegung noch einmal seine Einstellung. Er schrieb in seinem Brief vom 7. Januar 1804 an Reimer: „Fast mit jedem Posttag sehe ich neue Broschüren über diese Gegenstände angezeigt, die gewiß großenteils sehr ungewaschen sind; um so weniger thut es mir leid mein Wort auch dazu gegeben zu haben. Was mir am gewissesten ahndet über den Erfolg, ist daß meine Confessionsverwandten die Reformirten das ärgste Geschrei gegen den Verfasser erheben werden." (KGΑ V/6)

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Verleger Georg Reimer.285 Er schickte das erste „Gutachten" über die Kirchenunion Mitte September an Spalding2*6, der dieses Manuskript an Reimer weiterleitete. Dieser ließ, um die Anonymität zu wahren, von einem Schreiber eine Abschrift besorgen, die dann der Zensur eingereicht wurde.1*7 Da Schleiermacher die zweite Abhandlung verzögert lieferte, fragte Reimer nach seinen Wünschen wegen der Drucklegung,288 289 In der zweiten Oktoberhälfte und der ersten Novemberhälfte schrieb Schleiermacher das zweite „ Gutachten " über die Religionsverbesserung nieder. Wiederum erhielt zunächst Spalding die Ausarbeitung zur kritischen Lektüre, wenig später Reimer die Zubehörstücke.290 Spalding gab bald eine 285

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Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer von Anfang September 1803: „Ich habe mich schon lange im Kopf mit ein Paar ganz populären theologisch-politischen Aufsäzen getragen, die unseren kirchlichen Zustand betreffen. Den einen hatte ich schon einmal zu Papier gebracht, habe ihn aber jezt ich glaube klarer umgearbeitet, und werde mich gleich an den andern machen da meine Vorarbeiten zum Plato eine solche Abwechselung recht gut ertragen. Ich wünsche sie recht bald ins Publikum zu bringen um meine Meinung die mir so lange auf der Zunge schwebt doch endlich gesagt zu haben. Es fragt sich ob Du mir dazu helfen willst? Nur liegt mir sehr daran nicht so gleich oder gar im Voraus als Verfasser bekannt zu werden weil ich fürchte es könnte dem ersten Eindruck der Sache schaden. Da man nun im Consistorium meine Hand nur zu gut kennt so wäre nöthig daß das Manuscript vorher abgeschrieben würde. Beide Aufsäze werden zusammen wol etwa acht gedruckte Bogen eines mäßigen Formats betragen. Den ersten schicke ich heute oder den nächsten Posttag an Spalding mit dem ich verschiedentlich über diese Gegenstände gesprochen und dessen Meinung ich wol vernehmen möchte. Dort wirst Du ihn nach einiger Zeit haben können wenn er nicht etwa für nöthig findet ihn mir noch einmal zurückzuschicken." (KGΑ V/6) Spalding bestätigte Schleiermacher am 18. September 1803, er habe den Brief erhalten „mit dem ManuScript über die Kirchengemeinschaft." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 10. Oktober 1803: „Die Abhandlung habe ich gleichfalls von Spalding erhalten, und es geht schon rüstig über das Abschreiben derselben her. Empfange ich nur bald die zweite so sollst Du alles bald gedruckt sehen, wie Du es wünschest. Zeige mir dann auch an was Du wohl vielleicht in Absicht des Aeussern für Einrichtungen getroffen wünschest. Durch mich soll übrigens Dein Name keinem genannt werden." (KGA V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 9. November 1803: „Soll ich den Druck der ersten Abhandlung immer anfangen lassen, ohne die zweite abzuwarten? Wenn Du dies wünschest so sende mir doch den Haupttitel, um der Censur willen." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 26. Oktober 1803: „Jezt bin ich über der zweiten Abhandlung" (KGA V/6). Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1803: „ Vorigen Posttag, lieber Freund, habe ich den zweiten Aufsaz an Spalding geschickt; die

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insgesamt zustimmende Beurteilung,291 Den Titelzuschnitt legte Schleiermacher in Reimers Entscheidung.292 Die beabsichtigte Anonymität hielt Spalding allerdings für nicht bewahrbar, weil Schleiermachers Autorschaft aus stilistischen Gründen 293 leicht erkennbar sei Trotz dieser Einschätzung wollte Schleiermacher an seiner Anonymität festhalten.294 Reimer bestärkte Schleiermacher in diesem

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Pertinenzstücke mit denen ich damals nicht fertig werden konnte schicke ich Dir jezt geradezu." (KGA V/6) Vgl. Spaldings Brief an Schleiermacher vom 21. November 1803: „Sie verschmähen zu sehr die Rotüre der Kirchenbesucher. Doch steht Ihnen das wohl an, und Ihr No. II hat uns beiden treßich gefallen. Es soll mich auch nicht kümmern, wenn Sie nun mit No. I und II bald erkant und vielleicht auch ungünstig aufgenommen werden. Dennoch werden Sie Gutes stiften. Auch ich zwar vermisse manche (aber vielleicht zu politische) Ansicht des Gottesdienstes bei Ihnen. Mir ist der Gottesdienst immer auch etwas patriotisch-demokratisches; ein sanftes Band, das die Theilnehmer Eines Volks umschließt. Die Kirchen-desertöre sind mir immer auch als Aristokraten verhaßt. Den Plank über die Kirchenvereinigung wird Ihnen ja wol Reimer schicken. Ich sprach mit ihm davon. Aus den Göttinger Zeitungen (das Buch selbst habe ich nicht gelesen) seh ich, das er doch sehr auf Sicherheit spielt, und von dem Gesänge: ,Es sei nicht nöthig' nicht ganz abläßt." (KGA V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1803: „Ob Du bei den Gutachten den Zusaz auf dem Titel und das sich darauf beziehende in der Vorerinnerung stehen lassen willst oder nicht überlasse ich Dir. Du mußt besser wissen inwiefern das Publicum dadurch verkleinert werden könnte oder nicht." (KGA V/6) Vgl. Spaldings Brief an Schleiermacher vom 21. Oktober 1803: „Ihre Schrift über die Trennung erkennt jeder auf den ersten Anblik für die Ihrigen. Ende, was schadet's? Jezt hat Plank in Göttingen auch hierüber, und rathend zur Vereinigung, geschrieben. Sak, auch andere, sind böse, daß, in des Menken Schriften, des Predigers Nikolai in Bremen Schriften exzerpirt worden, worin Greuel der Reformirten gegen die Lutheraner (geschehen im 17. Jahrhundert) aufgewärmt werden. Der spricht von Vereinigung als kleinlich. Sehen Sie wol die Berlinische MonatsSchrift. Es ist des Oktober 1803. Auch in der Allgemeinen Literatur Zeitung hat über das Wesen etwas gestanden. Begierig bin ich auf Ihr No. II über den Schaden Josefs." (KGA V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 26. Oktober 1803: „Spalding versichert jeder würde mich augenblicklich darin erkennen und das wäre mir freilich eben nicht recht. Habe ich aber so gar nicht das Talent mich zu verbergen so mag es drum sein. Indeß bleibt es doch dabei daß wir es wenigstens auf die Verborgenheit anlegen." (KGA V/6) Und am 11. November 1803 wiederholte er gegenüber Reimer dieses Thema: „Hat Dir Spalding gar nichts über den Aufsaz geäußert als er ihn Dir gab? Er giebt mir den schlechten Trost daß man mich doch keinen Augenblick darin verkennen würde. Sonach sollte ich nur für alle Ewigkeit auf alle Anonymität Verzicht thun. Doch sehe ich noch ein paar Fälle kommen, wo ich sie gern versuchen möchte." (KGA V/6) Schleiermacher

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Entschluß.295 Daß er mit dieser Publikation eine größere öffentliche Wirksamkeit erreichen könne, erwartete Schleiermacher kaum.296 Reimer äußerte eine ähnliche Einschätzung.297

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urteilte im Dezember 1803 gegenüber Reimer, durch den Stil der „Gutachten" sei seine Autorschaft nicht leicht erkennbar: „An der Ausarbeitung des Styls im Einzelnen wüßte ich in allen meinen Produkten viel zu ändern; in den Reden und Briefen über die Lucinde würden vielleicht wenige Blätter ganz ohne Strictur bleiben, nicht so sehr würden die Monologen geändert werden und am wenigsten die Predigten (die in dieser Hinsicht das Beste sind, was ich Größeres gemacht habe) und in kleinen kritischen Aufsäzen. - In dem Gutachten könnte mich, glaube ich, an der Schreibart nicht leicht Jemand erkennen, als durch die Judenbriefe, auf die aber leider Niemand gemerkt hat, und die auch in der Stille verwes't sind - aber an den Gedanken, davor möchte ich nun so sicher nicht sein." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 5. Dezember 1803: „Uebrigens rechne ganz auf die strengste Verschwiegenheit von meiner Seite; denn ich mag nicht mit Spalding glauben, daß Du sogleich als Verfasser erkannt werden werdest; an dem Styl, so viel ich flüchtigen Blicks habe erkennen können, wirst Du leichtlich keinen Verräther haben; ein anderer Grund Spaldings ist auch der, daß die Abhandlungen in meinem Verlage erscheinen, wie er mir dies wiederholt gesagt hat, woraus Du nun leicht erkennen magst wie unbedeutend eigentlich die Gründe zur Unterstützung seiner Meynung sind." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1803: „ Was sagst Du doch zu den beiden Abhandlungen? Es ist eine Rakete, die wieder nichts hilft als daß man die Finsterniß desto besser sieht. Aber ich habe mich schon so lange damit herumgetragen daß mir am Ende bange wurde sie möchte mir im Kopfe plazen." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 24. Dezember 1803: „Jetzt habe ich nun auch vorläufig beide Abhandlungen einmal gelesen und ich kann freilich im allgemeinen in Betreff des Inhalts und der Absicht nur Deiner Meinung seyn; aber leider ist dergleichen nur der Stimme eines Predigers in der Wüste gleich, die ungehört verhallt. Auch ließe sich sonst doch wohl noch das dagegen sagen: es müsse durch den innern Gottesdienst der äussere bestimmt werden, und nicht umgekehrt; mag es aber auch noch so sehr anders erscheinen, so ist es doch nichts andres als der gemeinsame Wille aller der duch innern Trieb die äussern Formen hervorbringt. Du wirst es jedoch auch nur so nehmen, daß Du Dich von dem befreit hast was Dein Gewissen beschwerte durch die öffentliche Abgabe Deiner Meinung und durch die Aeusserung Deines Mißbehagens an der zeitigen Stimmung der Welt in diesen Angelegenheiten." (KGΑ V/6) Schleiermacher kommentierte in seinem Brief an Reimer vom 7. Januar 1804 dessen Einwand: „Dein Grundsaz übrigens daß eigentlich der gemeinsame Wille Aller überall die äußern Formen hervorbringe ist freilich richtig, nur daß die Majorität hier nicht aus solchen besteht die selbst irgend etwas Bestimmtes wollen, sondern aus solchen die nichts wollen und nur durch ihre Negativität auf die Erhaltung des Alten wirken. Ich denke dies muß auch aus meinen Aeußerungen Jedem einleuchten, unerachtet ich es nicht ausdrücklich sagen wollte?" (KGA V/6) Im Brief vom 13. Februar 1804 bekräftigte Reimer seine kritischen Bedenken gegen Schleierma-

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Im Dezember begann die Drucklegung.29* Die äußere Gestaltung der „Gutachten" festzulegen, hatte Schleiermacher gänzlich Reimer überlas2 sen. " Spalding übernahm die Korrektur der Druckfahnen. Die Drucklegung ging über Erwarten schnell voran.300 Bereits Anfang Januar 1804 war der Druck abgeschlossen. Am 11. Januar 1804 schickte Reimer einige Belegexemplare an Schleiermacher.301 Dessen Freude über das fertige Werk war begleitet von mahnender Sorge um das öffentliche Bekanntmachen.302 Die „ Gutachten " sind in einer Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt und für 18 Groschen das Stück verkauft worden. Schleiermacher erhielt

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chers These: „ Ueber das, was Du gegen meine Meinung wegen der gemeinsamen Wirkung aller überhaupt, und so auch besonders zur Hervorbringung äusserer Formen, erinnerst, nemlich daß der große Haufe durch seine Negativität schade, hege ich dennoch einiges Bedenken: ja ich glaube sogar daß in Dingen, welche sich insgemein auf das menschliche Geschlecht beziehen gar nicht von positiven Zwekken und Absichten die Rede seyn kann." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 5. Dezember 1803: „Die erste Abhandlung habe ich in die Druckerei gegeben damit sie gedruckt werden kann, während die andere abgeschrieben und censirt wird. Ende Januars hoffe ich soll das Ganze gedruckt seyn." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 26. Oktober 1803: „Was die beiden Abhandlungen betrifft so habe ich über das Aeußere nichts zu sagen sondern überlasse es Dir gänzlich." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 24. Dezember 1803: „Von den Gutachten erhältst Du hier sogleich sieben Aushängebogen; obgleich der Druck erst etwa seit 10 Tagen angefangen hat, so ist er doch schon so weit vorgeschritten, daß ich eben den 9ten Bogen zur Correctur erhalten habe; nun wird das Fest aber wohl eine kleine Pause verursachen." (KGΑ V/6) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 11. Januar 1804: „Das beikommende Päckgen überbringt Dir nun mit dem Rest der Aushängebogen zugleich 3 feine Exemplare und ein ordinaires der Gutachten. Ich würde eine größere Anzahl gesandt haben, wenn ich nicht gerne zuvor hätte abwarten wollen, wie viel Du hier und in hiesiger Gegend zu vertheilen gedenkst. Wäre ich nicht abgehalten worden, so hätte ich schon am vorigen Posttage die Sendung machen können." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 1. Februar 1804: „Deine letzte Sendung ist gut eingegangen und an den zierlichen Gutachten, denen ich gar nicht geglaubt hatte, daß du VelinPapier Spendiren würdest, habe ich meine Freude gehabt. Dagegen wundert es mich sie gar nicht in den Zeitungen bekannt gemacht zu sehen. Ich wünschte sie eben doch vornemlich auch in Berlin gern gelesen und fürchte sie werden so Wenigen zur Notiz kommen. Selbst Exemplare in Berlin zu vertheilen habe ich der Anonymität wegen nicht gewollt; man könnte mich sonst schon hieraus leicht errathen." (KGΑ V/6) Reimer antwortete am 13. Februar 1804: „Es ist mir recht lieb gewesen, daß Du mit der Druckeinrichtung des Buches zufrieden gewesen bist; ich wünsche auch nur daß keine bedeutende Druckfehler durchgeschlüpft seyn mögen." (KGΑ V/6)

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kein festes Bogenhonorar, sondern wie beim ersten Band „Predigten" einen verkaufsabhängigen Honorarsatz.303 Über die Aufnahme der „Gutachten" lassen sich den Briefwechseln Schleiermachers viele Hinweise entnehmen. Die Anonymität war bald durchbrochen und Schleiermachers Autorschaft erraten,304 Die Verkaufserwartungen des Autors und des Verlegers erfüllten sich nicht.305 Als Rei303

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Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 13. Februar 1804: „Bei den Gutachten muß nun wohl dieselbe Art der Berechnung statt finden wie bei den Predigten, da der Erfolg etwas ungewiß ist. Indeß habe ich davon eine größere Auflage veranstaltet, nemlich tausend. Geht es daher gut mit dem Absätze und diese Auflage verkauft sich, so muß beinahe der doppelte Gewinn, wie bei den Predigten sich ergeben, ungeachtet diese an Bogenzahl stärker und auch theurer sind; aber dennoch sind sie immer zu wohlfeil verkauft worden[,] der Preis hätte 1 Rth 4 gr. (statt 1 Rth) seyn müssen. Die Gutachten habe ich auf 18 ggr. angesetzt. Am Donnerstag wirst Du auch, denke ich, eine Anzeige davon in den Zeitungen finden." (KGΑ V/6) Eine solche Anzeige wurde aber wohl nicht publiziert. Vgl. Heindorfs undatierten Brief an Schleiermacher wohl vom April 1804: „Becker bringt mir neulich Deine Gutachten als ein Werk von Dir, wo man Dich auf der ersten Seite kenne. Ich fange an die Vorrede zu lesen, und muß ihm Recht geben. Die herrliche Leetüre hat mich darin so sehr bestätigt, daß ich ewig verdammt sein will, wenn Du das Buch nicht geschrieben hast. Zum Spaß könnte ich Dir gleich mit einem Duzzend Schleiermacherianismis aufwarten. Und nun hat mirs auch Spalding sub rosa gesagt, wie wohl es im Publicum schon bekannt ist. Ich finde besonders in dem zweiten erstaunlich viel Platonisches. Das heißt sich eine Manier aneignen, wie Demosthenes die des Thucydides. Aber das möchte wohl außer mir schwerlich einer fühlen." (KGΑ V/6) Reimer berichtete Schleiermacher am 19. März 1804 über die Aufnahme der „ Gutachten " in Berlin: „ Woher es rührt daß Du von mehreren als der Verfasser der Gutachten genannt wirst weiß ich nicht: durch mich hat es wenigstens niemand erfahren, und wer mir davon gesprochen hat gegen den habe ich geleugnet; so sagte mir neulich Bernhardt gerade zu er wünschte die Gutachten zu lesen um doch alles von Dir zu kennen[;•,] ferner fragte Hecker ob die Schrift nicht von Dir wäre, er hatte die Censur besorgt, und wollte es an der Hand erkannt haben; nothwendig mußte ihm also jemand anders davon gesagt haben, und er wollte sich nun das Ansehen geben, als sei er von selbst darauf gekommen; um es aber aus innern Gründen zu deduciren fühlte er sich wohl zu schwach. Trotz dieses mannichfachen Geredes und ungeachtet der Anzeige des Buches in den Zeitungen habe ich bis jetzt doch nur davon ein einziges Exemplar verkauft. Es scheint Deinen anonymen Schriften nicht glücken zu wollen beym Publikum (die Monologen sind wohl auszunehmen und die Reden, von beiden aber ist es auch zu bekannt, daß Du der Verfasser bist)." (KGΑ V/6) Reimer trat den Besorgnissen Schleiermachers hinsichtlich des Absatzes seiner Bücher und der damit verbundenen Besorgnis, die von Reimer geleisteten Honorarzahlungen seien zu hoch, am 23. November 1805 beruhigend entgegen. „Der Plato geht nicht reißend ab, aber sicher, und so auch die Critic, die

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mer im März 1804 vorschlug, Schleiermacher solle die Anonymität aufgeben™, entband ihn dieser von der Schweigeverpflichtung, weil sich mit der beschlossenen Übersiedlung nach Würzburg eine neue Lage ergeben habe.307 Im Mai 1804 bedauerte Schleiermacher das Fehlen einer Verkaufswerbung für die „Gutachten" auf den Einbandseiten der ebenfalls in der Realschulbuchhandlung verlegten Schrift von Adam Heinrich Müller „Die Lehre vom Gegensatz" und stimmte seiner Namensnennung aus Werbegründen und zur Unterstützung seiner Halle-Pläne widerstrebend zw.308 Trotz

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keinesweges, wie Du meinst, ganz ruht. Das einzige was in Absicht des Absatzes wirklich sehr schwächlich ist sind die Gutachten. Der Absatz davon ist über Erwarten gering gewesen, und hat bestimmt nicht die Druckkosten vergütet; indeß ist der Schade so gering daß er gar nicht gegen alles übrige in Betracht kommen kann." (SN 358, Bl. 79r-v) Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 19. März 1804: „In Absicht der Gutachten fährt es mir in diesem Augenblick noch durch den Kopf: ob es Dir jetzt unter veränderten Verhältnissen und da die Anonymität doch schon halb und halb, und besonders da gebrochen ist, wo sie Dir wahrscheinlich am meisten zu statten hätte kommen sollen, ob es Dir jetzt nicht recht wäre den Schleier gänzlich zu heben; dem Absätze des Buches würde dies offenbar sehr vortheilhaft seyn, und demselben gleich von vorn herein Bahn machen?" (KGA V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 20. März 1804: „Heindorf schreibt mir daß schon Mehrere (er auch) in den Gutachten mich erkannt hätten und so möchte die Anonymität schwer zu behaupten sein. Mir liegt auch jezt weniger daran und Du brauchst, wenn Du gefragt wirst, meinetwegen Dir keinen Zwang anzuthun. Ich wollte nur den Schein von Prätension vermeiden, mit dem es sich nun bei meiner Entfernung von selbst giebt. Kürzlich habe ich auch mein Dimissionsgesuch nach Berlin geschickt und nun also ist Alles für meine Verpflanzung geschehen. Daß sie für mein Leben eine wahre Verbesserung sein wird, wage ich kaum zu hoffen, indeß war es doch wol Recht so." (KGΑ V/6) Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 12. Mai 1804: „ Und warum hast Du die armen Gutachten von dem Deckel des Gegensazes ausgeschlossen? Ich wünsche daß mein Name ihnen helfen möge, und ich möchte sie jezt gern, auch wegen der Hallischen Idee, dem Massow, Beyme und Niemeyer in die Hände spielen; aber dies freilich lieber ohne als mit meinem Namen. Doch ist es im Grunde einerlei." (KGΑ V/6) Nach Spaldings Bericht vom 18. Mai 1804 haben die „Gutachten" vermutlich durch Kabinettsrat Karl Friedrich von Beyme die Entscheidung des Königs beeinflußt, Schleiermacher den beantragten Abschied zu verweigern und ihn unter Aufhebung des Konfessionszwangs für die Studenten nach Halle zu berufen: „Nun wagte ich's mich zu emanzipiren, und Ihre zwei Gutachten, mit Nennung Ihres Namens, [bei] doch aufgetragener Geheimhaltung, ihm [Beyme] anzukündigen und am andern Morgen zuzuschikken. Er erklärte über Vereinigung der beiden Kirchen habe er nun ein für allemal bei sich fest gesezt, sie lasse sich durch den Staat nicht bewirken. Seit dem habe ich nie wieder ein Wort mit Beyme gesprochen. Also können Sie nun eben so viel konjekturiren, als ich, wie viel hiedurch geschehen sein möge. Haben ihn die

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seiner als gering bekundeten Erfolgserwartung war Schleiermacher enttäuscht über die mangelnde öffentliche Aufnahme.309 In seinem persönlichen Verwandten- und Bekanntenkreis wurden die „Gutachten" mit Freundlichkeit und Aufmerksamkeit aufgenommen. Dies belegen die brieflichen Beurteilungen durch seinen Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauchno und seinen Förderer Friedrich Samuel Gutachten so gewonnen? Denn es scheint ja fast, als wenn etwas davon in Erfüllung gehen soll, durch Ihre Berufung nach Halle. Natürlich ist dis alles, was ich geschrieben, mehr als je etwas, unter uns." (KGΑ V/6) Schleiermacher teilte diese Einschätzung, wie seinem Brief vom 24. Mai 1804 an Ehrenfried von Willich zu entnehmen ist: „Es wird durch diese Berufung etwas von meinen Ideen im ersten Stük der Gutachten ausgeführt; vielleicht haben auch diese gewissermaßen Veranlassung dazu gegeben, da wenigstens der Cabinetsrath Beyme von dem die Sache vorzüglich herrührt sie gelesen hat. Dies macht sie mir angenehm[;] sonst habe ich in Halle wohl auch mancherlei Unannehmlichkeiten zu erwarten, wenn auch viel anderer Art als in Würzburg; so daß mir doch immer die Aussicht in der Ferne auf Berlin das allerliebste bleibt." (KG A V/6) 309

310

Vgl. Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 25. April 1804: „Von meiner kleinen Schrift kann Dich in Deiner Lage die erste Hälfte nicht interessieren aber über die zweite hoffe ich mehr von Dir zu hören. Aber was hilft doch das Schreiben? Es ist nichts damit ausgerichtet und ich komme mir recht erbärmlich vor daß ich es nicht lassen kann. Und nun auch nur noch den Plato; dann kein Schreiben mehr, und wenn mir kein Handeln aufgeht zu dem ich ganzes Vertrauen fassen kann und kein volles eignes Dasein, dann auch kein Leben mehr. Ich wollte Dir das eigentlich nicht sagen aber ich sage es Dir doch, damit Du mich recht verstehst." (KGΑ V/6) Am 28. März 1804 hatte Schleiermacher gegenüber Willich angekündigt: „Ich habe am Ende des vorigen Jahres eine kleine Piece die mir lange im Sinne gelegen ausgefertiget von der ich noch nichts gegen Dich erwähnt. Ich wollte Anfangs die strengste Anonymität dabei beobachten allein das geht nicht mehr man hat mich in Berlin schon verschiedentlich errathen. Sie heißt „Zwei unvorgreifliehe Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens." Ich werde Reimer erinnern Dir gelegentlich ein Exemplar davon zu übermachen, damit Dir doch nichts von meinen Arbeiten fehlt." (KGA V/6) Stubenrauch dankte am 19. Februar 1804 für die Übersendung der Schrift: „Mit recht vielem Vergnügen lese ich jetzt recht fleißig in Ihrer Schrift vom protestantischen Kirchenwesen - auch mir sind jene Streitigkeiten oft sehr ärgerlich - und was Sie schreiben, daß von unseren reformirten Theologen so wenige nüzliche philologische und philosophische Kenntniße zu erwerben sich angelegen seyn laßen, ist sehr gegründet - Auch ward mir letzt geschrieben daß in Halle die Professur, die ich ehemals, und nachher der zu früh verstorbene Thym gehabt, nun eingehen werde[.] Da hat mich aber ihre Dedikat etwas neugierig gemacht, und ich möchte wohl gern wissen, wer der Freund J. C. W. in H. seyf ich habe schon auf manchen gerathen - aber vielleicht laßen Sie es mir mit Gewißheit erfahren und ich verspreche auch zuverläßig daß es durch mich

Historische

Einführung

LXXXI

Gottlieb Sack3u. Schleiermachers Jugendfreund Karl Gustav von Brinckmann zeigte lebhaftes Interesse an der Lektüre.312 Schleiermacher selbst

311

312

Niemand weiter erfahren soll[.] Gern sehr gern unterhielt ich mich noch länger über diese mich gar sehr interessirende Schrift; aber ich bin noch gar nicht weit darin gekomen, so anziehend sie auch ist; denn erst gestern erhielt ich sie vom Buchbinder - aber ich verspreche in meinem nächsten weitläuftiger, und wo ich auch nicht ganz Ihrer Meinung seyn sollte, mich ganz freymüthig darüber zu erklären." (KGΑ V/6) Vgl. Sacks Brief an Schleiermacher vom April/Mai 1804: „Ihre beiden Gutachten habe ich mit größestem Interesse gelesen; und ist vieles darin mir ganz aus der Seele geschrieben. Nur kann ich der Meinung nicht seyn, daß eine Erklärung des Hofes die Opinionen auf einmal wenden, und eine Vereinigung, eine wirkliche, hervorbringen werde. Eher möchte dergleichen Decret vom Trohne herab einen ganz gegenseitigen Erfolg haben. Steht es übrigens wirklich so, daß unsre reformirte Kirche über kurz oder lang eines natürlichen Todes sterben muß: so ists wohl am besten, ihr Ende abzuwarten. - Daß unser Candidaten Institut seit 50 Jahren keine gelehrten Männer geliefert würde ihm nicht nachtheilig seyn, da es vornemlich darauf abgesehen ist, daß gebildete brauchbare Prediger aus demselben hervorgehen sollen, und dieser Zweck ist hoffentlich nicht unerreicht geblieben. Aber unter denselben sind auch manche, die sich als Gelehrte nicht unrühmlich ausgezeichnet haben, wenn man den Begrif eines Gelehrten nicht zu enge einschränkt. Übrigens kann gewiß niemand mehr als ich, das seichte Wißen und die erbärmliche Mittelmäßigkeit so vieler unsrer jungen Leute erkennen und bedauern." (KGΑ V/6) Vgl. Brinckmanns Brief an Schleiermacher vom 24. Juli 1804 mit der Klage, über die Publikation erst von Seiten Dritter informiert worden zu sein: „Solte die Sache heimlich gehalten werden, so würde ich Dich ja wohl keinem Konsistorium verrathen haben. Ich bin jezt äußerst begierig auf diese Lektüre, und werde sie vollenden, so bald ich das Büchlein vom Buchbinder zurückbekomme. Die Theologie hat noch immer einen Reiz der Jugend für mich, woraus denn Reinhold und Konsorten immer schließen mögen, daß ich vor meinem seligen Ende noch wieder mit Ovid sagen werde: ,Illuc unde abii redeo!'" (KGΑ V/6). Schleiermacher antwortete Brinckmann am 1. August 1804: „ Ueber die Gutachten mußt Du gar nicht schmollen. Ich konnte gar nicht glauben, daß sie Dich interessiren könnten, und Du wirst es auch selbst so finden. Darum fiel es mir nicht ein, den anfänglichen Vorsaz der strengsten Geheimhaltung unterbrechen zu wollen, wiewol ich Deiner Discretion sehr sicher bin. Nur die entschiedne Gewißheit daß ich nach Würzburg gehen würde machte daß ich einige Lösung von den strengen Banden der Anomymität verstattete, an denen freilich das Büchlein im Lager festgehalten worden wäre ohne je die Welt zu sehen. Nun es anders gekommen ist wünschte ich sehr es wäre noch beim Alten und Niemand wüßte daß ich es geschrieben. Denn es ist ein bedenklicher Stich in mehrere Wespennester." (KGΑ V/6) Auch am 14. August 1804 hatte Brinckmann die Gutachten noch nicht gelesen; „der elende Buchbinder läßt mich darnach noch immer schmachten" (KGΑ V/6). Eine Beurteilung von Brinckmanns Hand fehlt.

LXXXII

Einleitung der Bandherausgeber

bezog sich auf die „Gutachten", um kirchenpolitische Veränderungen zu beurteilen.313 Die „Gutachten" wurden in der öffentlichen Diskussion um Kirchenunion und Gottesdienstreform nur wenig beachtet.314 In den Rezensionsorganen finden sich zwei Besprechungen. In der von Friedrich Nicolai herausgegebenen und verlegten Zeitschrift „Neue allgemeine deutsche Bibliothek" erschien 1804 eine Rezension, die mit „H." gezeichnet ist und von dem Rostocker Theologieprofessor Werner Karl Ludwig Ziegler (1763-1809) stammt,315 Der Rezensent, der sich als Nicht-Preuße zu erkennen gibt, stellt gleich in seinem ersten Satz fest, daß in den beiden Abhandlungen „sehr viel Wahres und Richtiges gesagt ist, wenn auch manche Paradoxie oder Uebertreibung mitunterläuft"316. In diesem Sinne einer grundsätzlichen Zustimmung, die durch korrigierende Bemerkungen zu bestimmten Einzelaussagen kritisch profiliert wird, schildert der Rezensent die Hauptpunkte beider Abhandlungen. Seine Darstellung der ersten Abhandlung konzentriert der Rezensent, der die Ablehnung dogmatischer Vereinigungsbemühungen ausdrücklich unterstützt, auf das vorgeschlagene staatliche Erlaubnisgesetz des freien Abendmahlsgebrauchs ohne Konfessionsfestlegung. Bei allem Einverständnis mit dem scharfsinnigen Verfasser traut er sich eine angemessene und vollständige Beurteilung dieses Vereinigungsmittels nicht zu. Besonders in der zweiten Abhandlung sieht der Rezensent Wahres und Übertriebenes nebeneinander. In der Bewertung älterer und neuerer Kirchengesänge fordert er ein abgewogeneres Urteil.317 Die Verbesserungsvorschläge zur Gottesdienstgestaltung hält er überwiegend für gelungen, macht allerdings auf die grundsätzliche Schwierigkeit aufmerksam, wie der Reiz der Abwechselung erhalten werden könne. Gegen die

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Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1804: „Man sagt jezt hier Hanstein würde an den Dom gesezt werden; das wäre nun etwas aus den Gutachten und würde mich der Idee wegen sehr freuen." (SN 761/1, Bl. 7r-8v, hier 7v) Schleiermacher wollte über die literarische Aufnahme informiert sein. So fragte er am 14. Januar 1805 bei Reimer an: „Weißt Du nicht in welchem Band und Stük der Allgemeinen Deutschen Bibliothek die Recension der Gutachten steht? ich wäre doch neugierig darauf und möchte es mir gern hier geben lassen." (SN 761/1, Bl. llr-12r, hier 12r) Reimer antwortete am 29. Januar 1805: „Die Anzeige der Gutachten in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek muß in einem der letzten zwei oder drei Bände sich finden (ich glaube im 92.)." (SN 358, Bl. 68r-69v, hier 69v). Vgl. Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner Deutscher Bibliothek 32f. 41 Ziegler: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 92, Berlin/Stettin 1804, St. 2, H. 5, S. 294-298, hier 295 Vgl. Ziegler: NAD Β 92, 296

Historische Einführung

LXXXIII

Vorschläge zur Hebung des Predigerstandes betont der Rezensent die Erfordernis theologischer Gelehrsamkeit und die Unumgänglichkeit finanzieller Gleichstellung mit anderen akademischen Berufen. Ebenfalls 1804 erschien eine Rezension in der von Jonathan Schuderoff herausgegebenen Zeitschrift „Journal für Veredelung des Prediger- und Schullehrerstandes, des öffentlichen Religionskultus und des Schulwesens " unter der falschen Titelangabe „Zwei unvergleichliche Gutachten in Sachen ...". Diese anonyme Rezension, die vom Herausgeber der Zeitschrift stammen könnte, ist überwiegend referierend und nur selten beurteilend, bewertend oder korrigierend. Bei der ersten Abhandlung teilt der Rezensent zunächst auswählend die Nachteile der Kirchentrennung mit, um sodann das staatliche Erlaubnisgesetz als vorgeschlagenes Vereinigungsmittel zu zitieren. Die genaueren Ausführungen dazu hat der Rezensent „klar, lichtvoll und gedrängt gefunden. "318 Die Darstellung der zweiten Abhandlung ist in der teilweise stichwortartigen Reihung der Themen wenig aussagekräftig. Die zumeist das Einzelne isolierende Wiedergabe, in die dreimal kritische Bemerkungen eingeflochten sind, läßt die leitenden Motive und den Gedankengang nicht verständlich werden. Die abschließende Beurteilung ist zustimmend: „Sind gleich alle von dem Vf. gethanen Vorschläge bereits von Mehreren geschehen, so gewährt es doch einen eigenen Genuß, sie in dieser originellen Darstellung und Form, in dieser gediegenen Sprache und in dieser mustervollen Zusammenstellung und zweckmäßigen Kürze, begleitet von trefflichen, den sachkundigen Mann und philosophischen Kopf verrathenden Reflexionen zu lesen und sich einzuprägen,"319 Die „Gutachten" sind in die Ausgabe „Sämmtliche Werke" aufgenommen worden320; dabei wurden das Inhaltsverzeichnis321 und die beiden Zwischentitelblätter'11 nicht abgedruckt. Die „Gutachten " wurden außerdem in der 1893 bei Friedrich Andreas Perthes verlegten Teilsammlung „Kleinere theologische Schriften"313 sowie in der Teilsammlung „Kleine Schriften und Predigten "324 ediert.

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Journal für Veredelung des Prediger- und Schullehrerstandes, des öffentlichen Religionskultus und des Schulwesens, Jg. 3, Altenburg 1804, Bd. 2, St. 2, S. 275-281, hier 277 Journal für Veredelung 280f Vgl. SW 1/5, Berlin 1846, S. 41-156 Vgl. Gutachten XI; unten 365 Vgl. Gutachten XIII und 83; unten 367 und 409 Kleinere theologische Schriften, Bd. 2, Bibliothek theologischer Klassiker 48, Gotha 1893, S. 1-129 Kleine Schriften und Predigten, Bd. 2. Schriften zur Kirchen- und Bekenntnisfrage, edd. H. Gerdes/E. Hirsch, Berlin 1969, S. 15-112

LXXXIV

Einleitung der

Bandherausgeber

4. Rezension von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums Die „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung" enthält in den auf den 21. und 23. April 1804 datierten Sücken Nr. 96 und 97 Schleiermachers Rezension der 1803 von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling publizierten Schrift „ Vorlesungen über die Methode des academischen Studium"?15 Die Rezension ist mit „P-p-s" (Peplopoios, Schleiermacher) gezeichnet. Die Druckspalten umfassen in der Regel 60 Zeilen von 8,6 cm Länge bei einer Satzspiegelhöhe von 21,6 cm. Schleiermachers eigenhändiges Manuskript dieser Rezension, das als Druckvorlage diente, wird in der Bibliotheca Bodmeriana in Cologny bei Genf (Schweiz) unter der Signatur Dtsch. Lit. Τ IV MS aufbewahrt. Das Manuskript umfaßt elf in deutscher Schrift mit Sepiatinte beidseitig beschriebene Blätter Büttenpapier (mit Wasserzeichen). Das unpaginierte Manuskript ohne Titelseite besteht aus einer Abfolge von zwei Doppelblättern, vier Einzelblättern, einem Doppelblatt und einem Einzelblatt, wobei Kustoden am Ende von Blatt 4v, 9v und 1 Ov stehen. Die Blätter haben geschnittene Ränder und sind ungefähr 17,8 cm breit und 21,1 bzw. 20,8 cm hoch. Durch vertikales Knicken ist jeweils ein etwa 6,5 cm breiter Außenrand abgeteilt. Das untere Viertel der letzten Seite (Bl. llv) ist unbeschrieben. Die Überschrift „ Philosophie " und die Foliierung sowie die Vermerke zu Eingang (22. März [1]804) und Verwaltung stammen von fremden Händen. Georg Reimer hat Schleiermacher brieflich am 4. Juni 1803 auf das Erscheinen von Schellings Schrift hingewiesen.326 Für Schleiermacher wurde der Erwerb von Schellings „ Vorlesungen " am 3. August 1803 im Hauptbuch Reimer eingetragen.317 Auch Brinckmann machte Schleiermacher auf diese Publikation aufmerksam.328 325

326 327

328

Vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1804, Jg. 1, Bd. 2, Nr. 96-97, Sp. 137-151 Vgl. Reimers Brief an Schleiermacher vom 4. Juni 1803 (KGΑ V/6) Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer. Im Anhang eine Liste der nichtliterarischen Rechnungsnotizen der Hauptbücher Reimer, Schleiermacher-Archiv 10, Berlin/New York 1993, Nr. 1692 Vgl. Brinckmanns Brief an Schleiermacher vom 29. November 1803: „Hast Du denn Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium schon gesehen? Ich habe sie mit dem größten Interesse gelesen; um so mehr, da ich Schellings Sistem eigentlich gar nicht kenne, und hieraus wenigstens mit seiner Ansicht aller Wissenschaft bekannt werde. Das Kapitel über die historische Konstruktion des Christenthums; seine Ideen über Theologie u. s. w. haben mich sehr angezogen. Schelling ist doch unleugbar eine reichere Natur als Fichte, und ich muß nach und nach seine übrigen Schriften studiren. Fichte verachtet ihn schon als einen seichten oder konfusen Kopf!" (KGΑ V/6)

Historische

Einführung

LXXXV

In seinen „ Vorlesungen" entwickelte Schelling einen Begriff von Wissenschaft und insbesondere von Theologie, den Schleiermacher als dem seinen verwandt auffassen konnte. Zudem kam Schelling zu einer neuen Bewertung von Schleiermachers Reden „ Über die Religion ". Hatte Schelling diese zunächst abgelehnt329, so brachte er hier verdeckt ohne Namensnennung einen Lobpreis auf sie aus: „Preis denen, die das Wesen der Religion neu verkündet, mit Leben und Energie dargestellt und ihre Unabhängigkeit von Moral und Philosophie behauptet haben! "33° Doch sah Schleiermacher deutlich die Konkurrenz331 und den Abstand332 gegenüber Schelling. Nachdem Schleiermacher Anfang Oktober 1803 eine Rezension dieser Schrift für das neu zu gründende Rezensionsorgan „Jenaische Allgemeine 333 Literatur-Zeitung" angeboten hatte und dieses Angebot in der ersten 329

Vgl. KGA 1/2, LXI und KGA 1/12. Über die Religion (2.-)4. Auflage. Monologen (2.-)4. Auflage, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1995, S. XXVII Anm. 122 sowie Über die Religion (1799) 35f 330 Schelling: Vorlesungen 150; SW 1/5, 278 331 Vgl. Schleiermachers Brief an Reimer vom 11. November 1803: „Ich meinestheils bin weit mehr gespannt darauf was aus dem stillen Kriege werden wird in dem ich mit Schelling begriffen bin. Denn wie ich auf ihn ziemlich bedenklich hindeute in der Kritik, so er auf mich in der Methodologie. Nun habe ich mich gar erboten diese Methodologie zu recensiren: ich hoffe aber es wird sich schon ein andrer in Besiz gesezt haben, wenn anders noch etwas wird aus der Neuen Jenaer Zeitung." (KGA V/6) 332 Vgl. den rückblickenden Hinweis in Schleiermachers Brief an Gaß vom 6. September 1805: „Meine Abweichungen von Schelling konnte Bartholdy auch schon aus der Recension seiner Methodenlehre gewiß sein. In meiner Ansicht von dem Ganzen der Wissenschaft und dessen, was sie ausdrükken soll, glaube ich nicht, daß ich je etwas ändern werde. Denn bis jezt geschieht es mir noch, das jedes Einzelne, worin ich arbeite, sich innig daran anschließt und mir correspondirende Blikke in anderes Einzelne gewährt, wie es mir noch diesen Sommer mit der Hermeneutik ergangen ist. Eben so wenig wird sich wol Schellimg mir nähern, denn der Grund, warum er so und nicht anders sieht, liegt tief in seiner Gesinnung. Dagegen erfreue ich mich immer mehr einer herrlichen Zusammenstimmung mit Steffens; er von der Natur, ich von der Geschichte ausgehend, treffen wir immer überall zusammen, aber eben unsere Gesinnung ist auch so sehr dieselbe, wie ich vor seiner Bekanntschaft nie gehofft hätte es mit einem lebenden Philosophen zu finden." (Briefwechsel mit Gaß 32f) 333 ygi Schleiermachers Brief an August Wilhelm Schlegel vom 12. Oktober 1803: „Die Einladung von Eichstädt habe ich bald nach Ihrem Briefe bekommen. Sehr schmeichelhaft und zugleich als Notiz über die Lage der Sachen ließ er einfließen, sie spräche zugleich einen Wunsch von Goethe aus. Versprochen habe ich zwar mein Bestes, wegen des Vorschlagens aber war ich nicht wenig in Verlegenheit, weil ich gar nicht weiß wie weit man zurükgehen darf. Die neuste Ausbeute auf dem Felde der Philosophie ist ja sehr mager und Schellings Studium war das Einzige was ich nennen könnte. Würde aber Ihr Vorschlag angenommen so wäre

LXXXVI

Einleitung

der

Bandherausgeber

Novemberhälfte angenommen worden war334, las er Schellings Schrift wohl erstmalig im November/Dezember 1803, nahm das genaue Studium aber wohl erst im Februar/März 1804 vor335 Zwar kündigte Schleiermacher Mitte Dezember 1803 an, er wolle bald mit dem Anfertigen der Rezension beginnen336, doch erst die drängende Aufforderung August Wilhelm Schlegels vom 6. Februar 1804, möglichst bald eine Rezension für die JALZ zu liefern337, dürfte der äußere Anlaß zur umgehenden Ausarbeitung der Rezension gewesen sein. Schleiermacher schickte seine Schelling-Rezension im März 1804 nach Jena.338 Eichstädt bestätigte am 3. April 1804 den Erhalt dieser Rezension und drückte vollkommene Zustimmung aus. „Sie haben dadurch unserm edeln Goethe und mir selbst eine große Freude gewährt, und wir statten Ihnen beide den verbindlichsten Dank dafür ab. Mögen Ihre künftigen Beyträge nicht allzu selten und nicht allzu spärlich erscheinenl Denn gerade solche, so kraftvolle und umschauende Recensionen sind es, welche unsere Zeitung immer mehr über ihre ältere Nebenbuhlerin erheben müssen. "339 Schleiermachers Schelling-Rezension ist in die Ausgabe „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen worden. Ein Wiederabdruck liegt im vierten Band der Brief Sammlung „Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen " vor, den noch manches zu thun denn so viel ich weiß sind Fichtes neueste Schriften gar nicht in der Allgemeinen Literatur Zeitung recensirt. Uebrigens ist mir das Fächerwesen etwas sehr lästiges, und wenn ich nicht manchmal beurtheilen kann, was gar nicht in mein Fach gehört: so werde ich wenig Lust behalten. Wie sehr ich dem Institut guten Fortgang wünsche können Sie denken." (KGA V/6) 334 335

Vgl. oben Anm. 34 Vorüberlegungen zur Rezension sind überliefert in Gedanken V, Nr. 208-213; KGA 1/3, 336f. Es läßt sich nicht entscheiden, welchem Lektüregang diese Notizen zuzuordnen sind.

336

Vgl. Schleiermachers Brief an Brinckmann vom 14. Dezember 1803: „In dieser Hinsicht, aber auch noch in vielen andern, scheint mir Schelling viel zu hart über die Philologie abgesprochen zu haben, wie überhaupt zur Würdigung dessen was eigentlich Gelehrsamkeit ist, ich den rechten historischen Standpunkt vermisse. Du siehst, ich habe Schellings Vorlesungen gelesen, wiewol erst flüchtig, es steht mir aber noch besser bevor, denn ich habe übernommen, sie in der Literatur-Zeitung zu recensiren. Ich that es zum Theil in der Hoffnung, daß sie schon würden vergeben sein, und nur um anzudeuten auf was für Arten von Büchern ich ohngefähr Anspruch machte, sie sind mir aber geblieben, und ich werde wirklich nächster Tage dieses schwere Stück Arbeit unternehmen, da das Buch doch seiner Natur nach zu dem πρόσωπον τηλαυγές gehört welches Eichstädt der Zeitung wünscht. Gewiß lieber Freund wird ein armer Neutraler auch in der Philosophie seine Noth haben." (KGA V/6)

337

Vgl. A.W. Schlegels Brief an Schleiermacher vom 6. Februar 1804 (KGA V/6) Das Eintreffen ist im Redaktionsbuch der JALZ für den 22. März 1804 vermerkt, vgl. Bulling: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 55. Briefwechsel mit Eichstätt, ZNThG 271

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339

Historische Einführung

LXXXVII

Wilhelm Dilthey 1863 nach Vorbereitung durch Ludwig Jonas herausgab.340 Darüber hinaus ist der Text in der Sammlung von Schriften Schleiermachers in der Reihe „Bibliothek deutscher Klassiker", die von A. Arndt herausgegeben worden ist, ediert und mit einer Einleitung und Sachanmerkungen versehen worden.341

340

341

Vgl. Aus Schleiermach er's Leben. In Briefen, Bd. 4, ed. W. Dilthey, Berlin 1863, S. 579-593 Vgl. Schriften, ed. A. Arndt 275-294

II. Editorischer Bericht Für die Gestaltung des vorliegenden Bandes gelten die Regelwerke „Allgemeine editorische Grundsätze für die I. Abteilung"342 und „Besondere Grundsätze für die Edition von Handschriften"343. Die Sachlage der hier veröffentlichten Texte macht einige Ergänzungen und Änderungen dieser Editionsregeln erforderlich. Diese zusätzlichen Regeln des vorliegenden Bandes werden im folgenden durch gesperrt gedruckte Stichworte auf die Grundsätze bezogen. Schreibweise. Die Schreibung von Wörtern hat bei Schleiermacher teilweise absichtsvolle Eigenheiten.344 Auch bei uneinheitlichem Gebrauch wird keine Normierung vorgenommen. Von den „Grundlinien " erschien 1834 posthum eine zweite Ausgabe, die in Orthographie und Interpunktion vielfach vom Text der Erstausgabe abweicht. Darüber hinaus finden sich im gesamten Text gelegentlich Wortersetzungen sowie stilistische Verbesserungen und vereinzelte inhaltliche

342 343 344

Vgl. KG Α Hl, IX-XIII Vgl. KGA Hl, Xlll-XVl Schleiermacher legte anläßlich der Drucklegung seiner Platon-Übersetzung August Wilhelm Schlegel, der als Korrektor kritische Bemerkungen zu Schleiermachers Orthographie gemacht hatte (vgl. A. W. Schlegels Brief an Schleiermacher vom April 1804; KGA V/6), seine Grundsätze am 19. Mai 1804 dar: „Meine deutsche Rechtschreibung hoffe ich als consequent rechtfertigen zu können. Das ζ verdopple ich nie, weil es schon doppelt ist, und auch nicht die mindeste Täuschung Statt finden kann als würde es zwiefach ausgesprochen. Das i, welches wo es gedehnt werden soll allemal das e hinter sich hat, sehe ich als seiner Natur nach kurz an und verdopple also den Consonant nicht dahinter, sofern nemlich dies bloß Accentuation ist. Hieraus werden Sie Sich das übrige erklären können. Nur mit dem k begegnet es mir aus alter Unart oft, daß ich vergesse es zu verdoppeln wo ich es meiner Regel zufolge thun sollte. So bin ich auch, freilich erst während der Ausarbeitung der Grundlinien, mit meiner lnterpunction ganz aufs Reine gekommen, sündige aber im Schreiben sehr oft dagegen, und werde mir deshalb die Mühe nehmen müssen meine Handschrift bloß in dieser Hinsicht noch einmal durchzugehen. Sobald ich irgend dazu kommen kann, will ich meine Ansicht dieses Gegenstandes so kurz als möglich zu Papier bringen, und sie Ihrer Prüfung vorlegen. In deutschen Sprachlehren habe ich nirgends etwas befriedigendes darüber gefunden und in der Praxis unserer besten Schriftsteller ist mir immer vieles dunkel geblieben." (KGA V/6)

Editorischer Beriebt

LXXXIX

Varianten. Daher ist dem Text der „Grundlinien" zusätzlich ein Variantenapparat beigefügt worden, der sämtliche Abweichungen im Text der zweiten Ausgabe verzeichnet. Nicht nachgewiesen wurden Abweichungen in der Schreibweise von Umlauten (ae, a, ä) und Varianten in der Verwendung von ss und ß. Daraus ergibt sich für den Satzspiegel der „Grundlinien" folgende Anordnung: Text des Originaldrucks, Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Der Variantenapparat ist durch eine durchgehende waagerechte Linie vom Haupttext abgetrennt und in den Fällen, in denen im textkritischen Apparat ein Verweis auf den Variantenapparat erfolgt, in die Zeilenzählung einbezogen worden. Der Variantenapparat ist vom textkritische Apparat wiederum durch eine durchgezogene Linie abgesetzt. An mehreren Stellen der „Gutachten" ist am Zeilenende der Trennstrich bei der Silbentrennung eines Wortes ausgefallen. Dieser Sachverhalt wird im textkritischen Apparat nicht eigens dokumentiert. Im Originaldruck der Rezension von Schellings Schrift „ Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" sind die Autorennamen Schelling, Fichte, Kant durch Kursivierung hervorgehoben. Entsprechend den allgemeinen Editionsregeln sind diese Namen hier gesperrt wiedergegeben. Im Manuskript hat Schleiermacher, wohl um eine Hervorhebung anzudeuten, den Namen „Schelling" in lateinischer Schrift geschrieben, nicht aber die Autorennamen Fichte und Kant. Die Nicht-Hervorhebung ist im textkritischen Apparat nicht besonders vermerkt. Bei der Schelling-Rezension haben die Unterstreichung im Manuskript und die Kursivierung im Originaldruck zwei verschiedene Bedeutungen. Sie dienen erstens der Hervorhebung und zweitens der Kennzeichnung von Zitaten. Auch wenn in bestimmten Fällen diese beiden Bedeutungen auch miteinander verknüpft sein können, werden in der vorliegenden Ausgabe die Hervorhebung durch Sperrdruck und die Zitatkennzeichnung durch Zitationszeichen ohne Sperrdruck kenntlich gemacht. Ein Einzelnachweis im textkritischen Apparat wird nicht gegeben. Druckfehler. Im textkritischen Apparat der „Grundlinien" werden sowohl die Druck- oder Schreibfehler der Erstausgabe als auch der zweiten Ausgabe aufgeführt. In den Fällen, in denen sich die Korrektur auf die Erstausgabe bezieht ist dies durch den Großbuchstaben „A" gekennzeichnet, in solchen, die sich auf die zweite Ausgabe beziehen, durch den Großbuchstaben „B". Korrekturen, die sich aus dem Druckfehlerverzeichnis der Erstausgabe ergeben, werden durch die Angabe „so DV" angezeigt; wo die zweite Ausgabe diese Korrektur übernommen hat, wird dies durch „so DV (und B) " kenntlich gemacht. Wo die zweite Ausgabe eine Variante zum Text der Erstausgabe aufweist, in der ein offenkundiger Druckfehler vorliegt, wird dieser im Variantenapparat korrigiert und die Schreibweise des Originals im textkritischen Apparat mitgeteilt.

xc

Einleitung der

Bandherausgeber

Die Druckexemplare der „ Gutachten " stimmen im Textbestand nicht vollkommen überein. Durch Vergleich überlieferter Druckexemplare konnten Abweichungen festgestellt werden, die im textkritischen Apparat durch die Mitteilungsformel „im OD teilweise" nachgewiesen werden. Im zweiten Aufsatz der „ Gutachten " sind Absätze im Zusammenhang mit der Einweisung von Fußnoten entweder verrutscht345 oder nicht gesetzt worden346. Diese Fehler wurden korrigiert. Zitate und Verweise. Die Entscheidung Schleiermachers, in den „Grundlinien " auf Zitat- und Literaturnachweise gänzlich zu verzichten, stellte die Herausgeber bei der Abfassung des Sachapparats vor besondere Schwierigkeiten. Häufig konnten lediglich Verweise auf solche Quellen gegeben werden, in denen der verhandelte Sachverhalt belegt ist, ohne in jedem Fall sicher behaupten zu können, daß es eben diese Stelle gewesen sei, die Schleiermacher bei der Abfassung seines Textes vor Augen hatte. Anspielungen. Angesichts der oft zusammenfassenden und paraphrasierenden Darstellung älterer Anschauungen durch Schleiermacher in den „ Grundlinien " ist dort bisweilen von den engen, allgemeinen editorischen Grundsätzen für den Nachweis von Anspielungen abgewichen worden, um die Lesefreundlichkeit des Textes zu erhöhen. Abbreviaturen. Im Manuskript mit Gedichten und Charaden hat Schleiermacher häufig Kürzel oder Abkürzungen gebraucht, deren Zeichenwert konstant ist. Bei seltenem Gebrauch wird die im Drucktext vorgenommene Auflösung der Abbreviaturen im textkritischen Apparat, bei häufigerem Gebrauch in folgender Liste nachgewiesen: dh ht l m δ od s. u. v-

durch hat lieh man nicht oder sein und ver

Druckgestaltung. Die Gedichte und Epigramme sind von Schleiermacher teilweise durch einen waagerechten kurzen Strich voneinander abgetrennt. Die Charaden sind durchweg jeweils mittels eines kleinen lateinischen χ voneinander abgesetzt. Einheitlich werden hier die Notatgrenzen durch einen waagerechten Trennungsstrich markiert. 345

346

Vgl. unten 418,36 mit 419,7; 432,6 mit 432,27; 434,1 mit 434,16; 437,28 438,1 Vgl. unten 424,1

mit

Editorischer Bericht

XCI

Im Originaldruck der „Gutachten" sind Absätze teilweise durch eine Leerzeile voneinander abgetrennt. Diese Leerzeile wird nicht wiedergegeben. Seitenzahlen des Original drucks. Inden „Grundlinien" sind neben den Seitenzahlen der Erstausgabe (recte) und der „Sämmtlichen Werke" (kursiv) auch die Seitenzahlen der zweiten Ausgabe am rechten Seitenrand angegeben; letztere sind kursiv gesetzt und durch den Großbuchstaben „B" gekennzeichnet. Der Seitenumbruch der zweiten Ausgabe wird, wie bei der Erstausgabe, im Text durch einen senkrechten Strich zwischen zwei Wörtern bzw. Silben bezeichnet. Stehen die Seitenumbrüche der Erstausgabe und der zweiten Ausgabe in derselben Zeile, folgt die Angabe der Seitenzahlen auf dem rechten Seitenrand der Reihenfolge der Seitenumbrüche nach dem fortlaufenden Text. Davon ausgenommen ist die Seitenzäh lung der „Sämmtlichen Werke", die stets nachgeordnet wird und deren Seitenumbruch im Text nicht eigens angegeben wird. Fallen der Seitenumbruch der ersten und der zweiten Ausgabe zusammen, wird dies im Text nur durch einen senkrechten Strich angezeigt; die Angabe der Seitenzahlen am rechten Rand nennt in diesem Fall zuerst die Erstausgabe. *

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Der vorliegende Band ist das Ergebnis lange andauernder editorischer Bemühung. Nach ersten Planungsvereinbarungen, die in den Jahren 1983 und 1986 erfolgten und die das selbständige Nebeneinander der Bandbearbeitung durch Eilert Herms („Grundlinien") und Günter Meckenstock (andere Texte) vorsahen, begannen ab 1988 die ersten Editionsarbeiten. Seit April 1999 wurde Eilert Herms durch Michael Pietsch in der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle unterstützt, der den Variantenapparat der 2. Auflage der „ Grundlinien " herstellte, die endgültige Textfassung der „ Grundlinien " und den diese Textfassung dokumentierenden textkritischen Apparat festlegte sowie den Sachapparat gemeinsam mit Eilert Herms verfaßte. Eilert Herms und Günter Meckenstock schrieben die Historische Einführung für die von ihnen edierten Texte. Günter Meckenstock und Michael Pietsch verfaßten den Editorischen Bericht und das Literaturverzeichnis. Bei den „Grundlinien" wurden die Fahnenkorrektur und die Umbruchkorrektur selbständig in Tübingen und Kiel durchgeführt und in Kiel zusammengearbeitet. Die Apparateeinweisung und die Umbruchrevision der „Grundlinien" sowie alle Korrekturarbeiten bei der Drucklegung der übrigen Texte wurden in Kiel durchgeführt. Danken möchten wir besonders allen in der Kieler Schleiermach erForschungsstelle und der Kieler Fachbibliothek Theologie Tätigen, namentlich Dr. Lars Emersleben, der die Register der Namen und Bibelstellen

XCII

Einleitung der Bandherausgeber

erstellte, Rolf Langfeldt, Stefan Mann, Bettina Peterssen-Borstel und Silke Thiesen, die uns beim Korrekturlesen aufmerksam und kundig zur Seite standen, sowie den Mitarbeitenden in Tübingen, namentlich den Studierenden Stefanie Krause und Matthias Vogt, außerdem Pfarrer Thomas Föll, Dr. Kirsten Huxel und Dr. Ralf Stroth. Danken möchten wir den Institutionen, besonders den im Literaturverzeichnis aufgeführten Archiven, die unsere Forschungen freundlich unterstützten. Die Berliner Kollegen Prof. Dr. Andreas Arndt und Dr. Wolfgang Virmond stellten in vertrauensvoller Zusammenarbeit die Briefmaterialien der Stolper Zeit zur Verfügung und leisteten erneut wertvolle Hilfe; Pfarrer Christoph Waas von der Evangelischen Brüdergemeine Rhein-Main gab einen wichtigen Literaturhinweis zum herrnhutischen Liedergut; ihnen allen gehört unser herzlicher Dank. Tübingen/Kiel, im Mai 2002

Ellert Herms Günter Meckenstock Michael Pietsch

Gedichte und Charaden (ab 1803)

An Charlotte Kathen Mit den Monologen. [Erstfassung:] Ein Ideal schwebt jedem Guten vor In das er strebt sich fester zu gestalten; So trachten sich die Kräfte zu entfalten So steigt er zur Vollkommenheit empor. Das meine legt ich gern den Freunden vor Hier lies was imer in mir sollte walten Wie hoch den Blik ich suchte zu erhalten In diesen Tönen der Gefühle Chor. Dem Bilde hofft ich näher noch zu kommen Ich gab der Liebe voll Vertraun die Hand In seltne Höhen hofft ich mich zu schwingen. Jezt dem Verlassnen ist der Muth genommen Geraubt des Himmels heiiges Unterpfand Nichts Großes wird dem Einsamen gelingen. [Interlinearfassung:] [Ein Ideal schwebt jedem Guten vor In das er strebt sich fester zu gestalten; So trachten sich die Kräfte zu entfalten So steigt] der Mensch [zur] Tugend nur [empor.]

7 steigt] korr. aus So

11 diesen] über (welchen)

17 wird] vielleicht korr. aus mir

lf Schleiermacher gab der Übersendung seiner „Monologen" am 10. August 1803 an Charlotte von Kathen, geb. von Mühlenfels (1778-1850), der Schwester von Henriette von Mühlenfels und zukünftigen Schwägerin von Ehrenfried von Willich, mit dem Schleiermacher seit 1801 befreundet war, dieses empfindsame Gedicht hinzu. Die briefliche „Zugabe" (SN 753/3) weicht in drei Wörtern von der hier mitgeteilten Endfassung ab. Die Brieffassung liegt gedruckt vor in Briefe 1, 378; dann in Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 1 [einziger], Berlin 1870, S. 467f; 2. Aufl., ed. H. Mulert, Berlin/Leipzig 1922, S. 51 l f ; 3. Aufl., ed. M. Redeker, Bd. 1,1, Berlin 1970, S. 479; ferner in Patsch: Alle Menschen sind Künstler 178; schließlich in KG Α V/6; vgl. auch Schleiermachers Brief an Eleonore Grunow vom 20. August 1803 (KGΑ V/6).

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Gedichte und Charaden [Das meine legt ich gern den Freunden vor] Und richtend sollt ihr Auge drüber walten Den Geist in diesen Bahnen zu erhalten [In diesen Tönen der Gefühle Chor.] [Dem Bilde hofft ich näher noch zu kommen] Ergriff in stolzem Muth der Liebe [Hand] Mit ihr in seltne Höhen mich [zu schwingen.] [Jezt] hat die herbe Pein das Herz beklommen In liebeleere Wüste streng verbannt Wird unter Thränen wenig mir gelingen.

[Randfassung:] [Ein Ideal schwebt jedem Guten vor] In dessen Züg' er strebt sich zu gestalten Nach solchem Maaß die Kräfte zu entfalten [So steigt der Mensch zur Tugend nur empor.] [Das meine legt ich gern den Freunden vor Und richtend sollt ihr Auge drüber walten] Da ich den Blik mir [suchte zu erhalten In diesen Tönen der Gefühle Chor.] Dem schönen Ziele hofft ich nah zu kommen [Ergriff in stolzem Muth der Liebe Hand In seltne Höhen] träumt ich mich zu schwingen. Die Hand hat wild das Schiksal mir genommen Zur Wüste den bedürftigen verbannt Und außer Thränen will ihm nichts gelingen.

[Randinterlinearfassung:] [Ein Ideal schwebt jedem Guten vor In dessen Züg' er strebt sich zu gestalten] Durch dieses Bild [die Kräfte zu entfalten So steigt der Mensch zur Tugend nur empor.

9 In] korr. aus unleserlichem Wort

Gedichte und Charaden

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Das meine legt ich gern den Freunden vor Und richtend sollt ihr Auge drüber walten Da ich den Blik mir suchte zu erhalten In diesen Tönen der Gefühle Chor. Dem schönen Ziele hofft ich nah zu kommen Ergriff in stolzem Muth der Liebe Hand In seltne Höhen träumt ich mich zu schwingen. Die Hand hat wild das Schiksal mir genommen Zur Wüste den bedürftigen verbannt] Wo [außer Thränen] nichts [ihm] will [gelingen.] [Endfassung:] Ein heiiges Bild schwebt Jedem Bessern vor In dessen Züg' er strebt sich zu gestalten. Wem sich die Kräfte so bestimmt entfalten Nur der hebt sich zur Sittlichkeit empor. Das meine legt ich hier den Freunden vor Daß richtend könnt ihr Auge drüber walten Wie diese Bahn der Geist sich würd erhalten Und solche Töne der Gefühle Chor. So hofft ich nach dem schönen Ziel zu kommen Ergriff in kühnem Muth der Liebe Hand In seltne Höhen mich mit ihr zu schwingen. Jezt ist durch herbe Pein das Herz beklommen In liebeleere Wüste streng verbannt Wird unter Thränen wenig mir gelingen.

18 Wie] vielleicht korr. aus Ob 1 7 In der Brieffassung heißt es „rnöcht" statt „könnt". 18 In der Brieffassung „solche" statt „diese". 2 2 In der Brieffassung heißt es „reine" statt „seltne".

heißt es

6

Gedichte und Cbaraden Sappho P. 55.

Dieses der Timas Staub, die vor der Vermählung gestorben Aufnahm Persephones dunkeles Ehegemach Der nachtrauernd meist mit frischgeschärfetem Eisen Alle Gespielen des Haupts liebliche Loken geweiht.

P. 71. Wolken entstürzet herab des Schnees Gewühl und des Hagels So wie des Donners Gewalt zeuget der leuchtende Bliz Stürmend machet das Mer aufwühlend erbrausen doch wenn es Keine beweget erscheints eben vor allen und sanft. Also durch kräftige Männer der Staat geht unter, in Herrschers Knechtschaft sinket das Volk bessrer Kentniß beraubt. [Randfassung:] [Wolken entstürzet herab des Schnees Gewühl und des Hagels So wie des Donners Gewalt zeuget der leuchtende Bliz] Sturmes Gewalt in die Tiefe hineingewühlt schüttelt das Mer durch Rührt es keine erscheints eben vor allen und sanft. So durch gewaltige Männer zerrütten sich Staaten, [in Herrschers Knechtschaft sinket das Volk] richtiger Kunde [beraubt.]

4 frischgeschärfetem] über noch unberührtem

17 erscheints ... sanft] erscheints p.

1 Übersetzung von Sappho Nr. IV, in: Analecta veterum poetarum Graecorum, ed. R. F. P. Brunck, Bd. 1-3, Straßburg 1772-1776, hier Bd. 1, S. 55. Schleiermachers Seitenangabe bezieht sich eindeutig auf diese Ausgabe und nicht auf Anthologia Graeca sive poetarum Graecorum lusus, ex recensione Brunckii, indices et commentarium adiecit F. Jacobs, Bd. 1-5, Leipzig 1794-1795, hier Bd. 1, 50 (neue Zählung Sappho Nr. III), vgl. auch unten Anm. zu 12,1 6 Übersetzung von Solon Nr. XVII, in: Analecta 1, 71; dieser Text fehlt in Anthologia.

Gedichte und Charaden

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Meleager 91. Eros rufe den Wilden ich aus. So eben nur eben Ist er am Morgen früh fliegend dem Lager entschlüpft Weinerlich süß ist der Knabe, behend, unerschroken, geschwäzig Spöttisch lachend, beschwingt hinten, und Köcherumschnallt Welches Vaters zu sagen vermag ich nicht; weder hat Aether, Erde noch See jemals sich zu dem frechen bekannt. So überall ist er Allen berüchtiget. Also verwahrt Euch O b er den Seelen nicht schon andere Neze gestellt. Aber ο siehe! Du dorten im Winkelchen! Nicht mir entgehst Du Zielend in Zenophilas Augen so listig verstekt.

Werd er verkauft! obschon er noch schläft im Schooße der Mutter Werd er verkauft! wozu soll ich den frechen erziehn? Spöttisch die Nase nur rümpft der beflügelte, scherzt mit den Augen Kneift er und weinend auch lacht er unmäßig Dir nun Ueber das ist er Pverwegen?, und imergeschwäzig und listig Blikend und wild, ja selbst Mütterchen schmeichelt er nicht. Wunderlich Alles. Darum auch verhandl ich ihn! Will wo ein Schiffer Welchem die Fahrt schon eilt kaufen den Knaben, der komm. Aber er fleht! ο seht den Verweineten! Nichts von verkaufen Ruhig! Der Zenophila bleibst zum Gespielen Du hier.

2 So] über (Denn) 3 Ist] über (Hat) 3 dem] über ((das)) 3 entschlüpft] über ((geräumt)) 5 Spöttisch] korr. aus unleserlichem Wort 6 weder] über (nicht) 6 hat] folgt (sich)

7 sich] über (so)

8 Also] korr. aus Aber

... Neze] über vier gestrichenen unleserlichen Wörtern

über (dieser) Wörtern verstekt

10 mir] über (mehr)

11 so ... verstekt] über gestrichenen

9 schon

10 dorten]

unleserlichen

1 1 verstekt.] darunter die Variante PSchuz? in Zenophilas Augen Pallzubehaglich? 1 5 Spöttisch ... der] über (Ihn mit der spöttischen Nase,) 1 5 beflügelte] korr.

aus beflügelten

gestrichenem

9 Ob] über (Daß)

10 Du] korr. aus Da

16 Dir] über gestrichenem unleserlichem Wort

unleserlichem

Wort

17 und] über (so)

2 0 Welchem ... eilt] über (Hurtig zu sagen bereit)

korr. aus Gespiele

2 2 Du] über (mir)

17 ist es ver] über

1 9 Schiffer] über (Kaufman)

2 2 zum] über (Du)

2 2 Gespielen]

2 2 Der ... hier.] darunter die Variante Du bleibst

als Gespiel Pwie? Zenophila hier.

1 Übersetzung von Meleager Nr. XCI, in: Analecta 1,26 XCV, in: Analecta 1, 27

12 Übersetzung von Meleager Nr.

8

Gedichte und Charaden 65. O! Du der Demo Loke! Sandale der Heliodora Ο der Timarion Du balsambeträufelte Flur Ueppiges Lächeln Du der blauäugigen Antikleia Ihr frischduftenden stets Kränze der Dorothea! Nicht mehr birgt Dir fliegende Pfeile der goldene Köcher Eros, leider in mir fühl ich Dein ganzes Geschüz! [Randfassung:] [O! Du der Demo Loke! Sandale der Heliodora Ο der Timation Du balsambeträufelte Flur Ueppiges Lächeln Du der blauäugigen Antikleia] Ihr Dorotheens so schön duftende Kränze so frisch [Nicht mehr birgt Dir fliegende Pfeile der goldene Köcher Eros, leider in mir fühl ich Dein ganzes Geschüz!] [Randinterlinearfassung:] [O! Du der Demo Loke! Sandale der Heliodora Ο der Timarion Du balsambeträufelte Flur Ueppiges Lächeln Du der blauäugigen Antikleia] Du [Dorotheens so schön] duftendes Blumengrund [Nicht mehr birgt Dir fliegende Pfeile der goldene Köcher Eros, leider in mir fühl ich Dein ganzes Geschüz!]

74. Eos Bote gegrüßt, ο Phosphorus! brächtest Du bald nur Heimlich als Hesperus die, welche Du raubest zurük!

106. Eros hör es! wie was in die Ohren mir Heliodora Flüstert, lieblicher klingt nimmer die Leier Apolls.

6 birgt] korr. aus birget 6 fliegende ... Köcher] über {(der goldene Köcher geflügelte Pfeile» 7 leider] über (Denn ach) 7 fühl] über ((hab)) 7 Dein] über ((das)) 7 ganzes] korr. aus ganze 7 Geschüz] schüz über (schooß) 2 3 gegrüßt] über verlauf 2 7 lieblicher] korr. aus lieblich ; davor (so) 1 Übersetzung von Meleager Nr. LXV, in: Analecta 1, 20 2 2 Übersetzung von Meleager Nr. LXXIV, in: Analecta 1,22 25 Übersetzung von Meleager Nr. CVI, in: Analecta 1, 30

Gedichte

und

Charaden

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[Randfassung:] E r o s h ö r es! f ü r w a h r so lieblich als H e l i o d o r a ' s O h r e n g e f l ü s t e r erklingt [ n i m m e r die Leier Apolls.]

69. [Erstfassung:] L e i c h t m i t den blauben A u g e n b e r e d e t Asklepias alle W i e a u f die ruhige See einladend zur Schiffahrt der L i e b e . [Endfassung:] Alle g e w i n n t Asklepias leicht! D e n n a u f stilles G e w ä s s e r L a d e n zur Liebesfahrt bläuliche A u g e n uns ein.

Lebensüberdruß O h n e der W e m u t h S c h m e r z u n d die liebenden T h r ä n e n v e r s c h m ä h t N ü c h t e r n e s L e b e n s G e n u ß willig ein kräftiger Geist. D o c h zu häufig gemischt, und es steht v o m verbitterten M a h l U n a u s l ö s c h l i c h e n D u r s t s a u f der b e t r o g e n e G a s t .

3 erklingt] folgt ρ 6 Leicht... Liebe.] gestrichen 6 mit... alle] darüber beredet zur Fahrt Asklepias Alle der Liebe 12 und die liebenden] am Rand Sp[alding:] und der Zärtlichkeit 15 Unauslöschlichen Dursts] am Rand Sp[alding:] Nimmer des Durstes erquikt 4 Obersetzung von Meleager Nr. LXIX, in: Analecta 1, 21 11 Vgl. Georg Ludwig Spaldings Beurteilung vom 17. Juli 1803: „Folgender Vers / ν _v / ν _v / ν _v ,ohne der Wehmuth Schmerz / und Tränen / der Liebe / verschmäte' hat die Krankheit (die sogenannte englische) der Amfibrachen; videatur der Mock-verse von Voß: Wenig behagen dem Ohre die Verse mit schwachem Gehüpfe. Ich schlage vor (zwar mit einem häßlichen Worte) Zärtlichkeit ,Ohne der Wehmut Schmerz, und der Zärtlichkeit Thränen, verschmähte. 'Dursts ist eine schrekliche Silbe, und wird durch Aufstellung von dergleichen ungefehr das Verbrechen der Söhne Lots begangen, welches gegen die Mutter fast noch größer ist. Kur weiß ich eigentlich keine. Nimmer des Durstes erquikt, mag wol durch den argen Vossismus nicht einmal viel gewinnen. Unauslöschlichen ist das Wort, das durch Ton und Sinn unabänderlich dahin gehört; und also tröste man sich über rsts durch den folgenden Vokal, welcher in solchen Fällen ein großer Trost ist." (KGΑ V/6)

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Gedichte und Charaden

Erfahrung Schau dem entflohenen Glüke nicht nach, in den Naken gezaubert Wohnt aus der Gorgo Haupt ihr die versteinende Kraft.

Verständnis Wenn von dem Glauben Du hörst in der Weisheit neueren Schulen Unverständlich Gespräch, lerne nur dieses daraus Daß auch leere Vernunftdoch hin zu der göttlichen Dichtung Lebenerfüllender Kraft aber vergebens sich sehnt.

Bescheidene Bitte Schweiget und hört, rufts dort, nichts taugt wer mich nicht verstehet Auch was ich nicht versteh Leute bedeutet nicht viel. Ο vortreflicher Mann! wir flehn verstehe Dich selber Daß doch einiger Werth bleibe der kläglichen Welt.

Bedingung Wer sich selbst nicht erschaut, nie wird er das ganze begreifen Wer nicht das Ganze gesucht findet wol nimmer sich selbst.

10 Schweiget ... verstehet] am Rand Sp[alding:] Glaubt mir daß nichts, wer mich nicht versteht taugt 1 Vgl. Spaldings Beurteilung vom 17. Juli 1803: „Die Lesart aus der Gorgo adoptire ich; ich wolte wol rathen: versteinende, nicht versteinernde. Der Übergang aus dem fatalen Neutrum in das Femininum ist, glaube ich, von der Art, die nur der Gelehrte merkt und beseufzt oder schilt." (KGΑ V/6)

Gedichte und Charaden

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Kunst und Liebe Dir ist das höchste die Kunst, dem heißt der Gipfel die Liebe. Liebst Du bildend denn nicht? bildet nicht liebend auch er. Sträflicher Uebermuth ist Kunst entbehrend der Liebe Liebe nur leeres Geschwäz wo nicht die Kunst sie beseelt. [Randfassung:] [Dir ist das höchste die Kunst,] dem heißet die Liebe das Höchste. [Liebst Du bildend denn nicht? bildet nicht liebend auch er.] Sträflicher Frevel ist Kunst entbehrt sie der heiligen Liebe [Liebe nur leeres Geschwäz wo nicht die Kunst sie beseelt.]

Trauer und Wemuth Trauert ein zärtliches Herz um ein untergegangenes Schöne Reichet, den liebenden Wahn ehrend, ihm freundlichen Trost. Seht ihr ein hohes Gemüth nicht haftend am flüchtigen Dasein Weihen das ernste Gefühl klagend dem inneren Sein Dem, ach! Reinheit fehlt wie der Tugend im eigenen Busen So überall wo Geist waltet und liebende Kraft Dann zu der Wemuthseufzenden Brust, anbetend das Höchste Neigt mitfühlenden Sinn harrend und Schmerzenerfüllt.

3 er.] am Rand Sp[alding:] Liebst denn bildend nicht Du? 7 dem] davor oder: 9 Sträflicher] sträflicher ; davor oder 19 mitfühlenden] korr. aus mitfühlend 19 Sinn] über (die Brust) 1 Vgl. Spaldings Beurteilung vom 17. Juli 1803: „Das Hemistichion verlangt mein Gefühl so: Liebst denn bildend nicht du. Der Hexameter würde so mir genügen: Dis ist das Höchste die Kunst, dem heißt der Gipfel die Liebe, i s t erscheint, ohne Grund, in doppelter Skansion, und ist dabei Tautologie - Die erste Zeile der Fichtischen Wissenschaftslehre würde ich so skandiren: Schweiget und hört! Glaubt mir, daß nichts, wer mich nicht versteht, taugt. Aber was wollen Sie damit sagen, daß Liebe nur leeres Geschwäz sei, wenn nicht die Kunst sie beseele? Das Geliebte soll gebildet werden; es soll hineingewirkt werden in den geliebten Gegenstand; nicht soll der Liebende bloß geben, er soll wekken und zum Schöpfer erheben, den und was er webt. Wenn ich es so recht fasse, so unterschreibe ich es. Sonst muß leeres Geschwäz mir nichts genannt werden, was wirklich aus dem Gefühle kommt." (KG Α V/6)

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Gedichte und Charaden

Krates Anth. I, P. 1 8 6 . Eros bezwinget Hunger, wo nicht der die Zeit. Doch wenn auch diese nicht die Flamm auslöschen will Ein Mittel bleibet Dir dann noch übrig der leidige Strik.

Skol. X X . P. 1 5 9 . Diese Eichel besizt jezo das Schwein jene begehrt es schon So dies liebliche Kind hab ich anizt jenes begehr ich schon. [Interlinearfassung:] Jezt die [Eichel] verzehrt gierig [das Schwein jene begehrt es schon So dies liebliche Kind hab ich anizt jenes begehr ich schon.]

An der See Hier wohl Wellen sich heben Kräuselt blinkender Schaum Drunten ist alles eben Zittert ein Tropfen kaum Flimmre nicht Lust Der Brust Bleibet nur Leid bewußt.

1 Anth.] Abk. für Anthologia 4 bleibet] korr. aus bleibt übrig noch 6 schon] über (doch) 7 schon] über (doch) oder[:] Alles ein öder Raum

4 noch übrig] umgestellt aus 15 Zittert... kaum] am Rand

1 Übersetzung von Krates Nr. I, in: Analecta 1, 186. Der Quellennachweis „Anth." ist die Abkürzung für die Gattungsbezeichnung Anthologie und nicht für den Literaturtitel Anthologia Graeca sive poetarum Graecorum lusus, ex recensione Brunckii, indices et commentarium adiecit F. Jacobs, Bd. 1-5, Leipzig 1794-1795, hier Bd. 1, 118. Schleiermachers Seitenangaben bei allen epigrammatischen Übersetzungen beziehen sich eindeutig auf die von Brunck edierten „Analecta" und nicht auf deren von Jacobs modifizierte neuere Ausgabe „Anthologia Graeca", vgl. auch oben Anm. zu 6,1. 5 Übersetzung von Skolion Nr. XX, in: Analecta 1, 159; Anthologia 1, 91

Gedichte und Charadert

Räumt nun Sonne den Himmel Taucht die Gluth in die See Leuchtet das Sterngewimmel Wieder dem alten Weh Blende nur Licht Bald sticht Länger Dein Strahl mich nicht. Vöglein flattern und singen Liebesfreude sie lehrt Drunten darf nichts erklingen Trauer ist ungestört Tiefe nur Du Zur Ruh Schließest die Sinne zu. Lüftchen wogend und fächelnd Spielt ums leidende Herz Weht durch die Welt hin lächelnd Spottet dem bittern Schmerz Fluthendes Grab Hinab Löst die Pein mich ab.

Klage Wie schauerlich leer Ists weit um mich her Mein Wort wol erschallt Doch keinem vernommen umsonst es verhallt. Wol sucht sich ein Herz Mein liebender Schmerz Doch Keiner sich regt Vom Schmachten der Seele zum Mitleid bewegt. Laß Vater mich ruhn Vom nichtigen Thun Es kühle das Grab Die brennenden Schmerzen des Lebens mir ab.

Gedichte und Cbaraden

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I, 159. Wie der Bader so hat ähnliche Weis überall auch die Hur In demselben Trog wäscht sie den Held wie den Erbärmlichen.

Der Verlassene „Wo ist doch meine Mutter? wo kann die Treue sein?" Ach sie mußt ihr Kindlein lassen Wandert weinend andre Strassen Laß die Mutter nur sein Führe Dich allein. „Wo ist doch meine Tochter? wo weilt sie nur so lang?" Ach sie dient in fremden Landen Seufzet fern in harten Banden Wird die Zeit ihr gar lang Und im Herzen bang. „Wo mag die Braut doch bleiben? ich sehne mich so sehr!" Ach sie kann mit Dir nicht leben Mußt sich Deinem Feinde geben Jammre weine nur sehr Siehst sie nimmermehr. „Wo ist nun meine Freude? wo ist nun all mein Glük?" Ach die Freud in Nacht versunken Ach das Glük in Gram ertrunken Keine Freude kein Glük Kehret Dir zurük. „Wo ist der Tod zu finden? wer gräbt mir wol mein Grab?" Ach wer suchet wird ja finden Kannst es wo Du willst Dir gründen Balde gräbt man ein Grab Willst Du nur hinab.

10 lang?" - ] lang? das Herz ist bang.

14 Wird ... bang.] am Rand oder. Währt die Zeit ihr gar lang / Und 15 sehr!" - ] sehr! 2 0 Glük?" - ] Glük 2 5 „Wo] Wo

1 Übersetzung von Skolion Nr. XXI, in: Analecta 1,159 4 Schleiermacher Herz brieflich im Juni 1804 eine leicht veränderte Fassung dieses Gedichts V/6).

teilte Henriette mit (vgl. KG A

Gedichte und Charaden

15

Nach dem Italiänischen Zephyr ο flüstre ihr flehend Du trügst ihr, treu sie umwehend Zärtliche Seufzer der Liebe Doch sag ihr nicht, ja nicht von mir. Klag ihr ο Bach wie trübe Die Ströme von bittern Zähren Schwellend die Fluth Dir mehren Doch forscht sie mehr von Dir Ο so verschweige sie sein von mir.

Anth. I, 262. Fremdling siehst Du die Knidische Kypris, Du rufst unfehlbar: Herrsche den Sterblichen Du und den Unsterblichen auch Doch die Kakropische speervertrauende Pallas erblikend Sagst Du: Warlich es hat Paris nur Ochsen geführt. [Interlinearfassung: ] [Fremdling siehst Du die Knidische Kypris, Du] rufest begeistert: [Herrsche den Sterblichen Du und den Unsterblichen auch Doch die Kakropische speervertrauende Pallas erblikend Sagst Du:] Paris hat doch warlich [nur Ochsen geführt.]

165. Ist es doch quälend zu haßen und Quaal auch lieben so will ich lieber vom guten Geschwür Schmerzen erleiden und Tod. [Interlinearfassung:] Ists gleich [quälend zu haßen] wie [Quaal] bringt [lieben so will ich] eher [vom guten Geschwür Schmerzen erleiden und Tod.]

7 Die] über der Zeile mit Einfügungszeichen 11 Übersetzung von Hermodoros, in: Analecta 1, 165

11 Anth.] Abk. für Anthologia

in: Analecta 1, 262

21 Übersetzung von Euenos Nr. VI,

16

Gedichte und Charaden

Logogryph Der ruft Du sollst Dein Wissen auf mich gründen Und jener warnt ich loke Dich vom Ziel! Der mahnt Dich Ruhe nur bei mir zu finden Und jenem bin ich ein verfänglich Spiel Den kann nur ich zur großen That entzünden Und jener klagt, ich mach der Trägen viel. Mir ist an Wissen nichts und Thun gelegen Auch nicht an Ruh ich will das Herz bewegen. So komm! ich zeige Dir im schönsten Lichte Die Welt, durch mich nur lebet sie Dir auf. Und ewge Wahrheit ist es wenn ich dichte Der Welt der Menschheit sieggekrönten Lauf. So richtet sich verklärend die Geschichte Der trunkne Blik zum Ideal hinauf Mit Lebensglanz und hoher Lust belohnen Den Schauenden die himmlischen Visionen. Nimm weg den sanften Hauch der mich begonnen So findst Du Dich am kühlen Schattenort Wo mancher schon die Liebe mir gewonnen Mit magischsüßem Sehnsucht vollem Wort. Es säuseln Bäume hier, es flüstern Wonnen Vertrauen ruht im wohlgeschüzten Port Es lauscht die Einsamkeit durch dichte Schatten Hinaus wo schön Natur und Kunst sich gatten.

3 Und ... Ziel!] eingeklammmert und Klammer gestrichen 3 loke] Loke 6 Den] Dem 12 Und ewge ... Blik] über (Du schaffest selbst zur Wahrheit was ich dichte / Und heller wird Dir stets der Gottheit Lauf. / Dich heiligen die heiligen Gesichte / Ziehn Dir die Welt) 2 0 mancher] manchen 21 magischsüßem] süßem über (em der) 1 Vgl. August Wilhelm Schlegels Beurteilung vom 26. September 1803: „Das Logogryph ist allerdings in sehr guten Stanzen geschrieben: wie können Sie daran nur zweifeln? Übrigens ziehe ich jetzt die mit lauter weiblichen Reimen vor, wenigstens wenn ich diese nicht anschließend gebrauche, lasse ich die Reimstellung frey. Ich finde in Ihrem Räthsel nur zu wenig logogryphisches und dieses zu unbestimmt, doch hat es einer von unsern Freunden gerathen." (KG Α V/6). Die Auflösung dieses Buchstabenrätsels, bei dem durch Wegnehmen eines Buchstaben ein neues Wort entsteht, ist: Glaube - Laube.

Gedichte und

Cbaraden

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[Randfassung:] [Der ruft Du sollst Dein Wissen auf mich gründen Und jener warnt ich loke Dich vom Ziel! Der mahnt Dich Ruhe nur bei mir zu finden Und jenem bin ich ein verfänglich Spiel Den kann nur ich zur großen That entzünden Und jener klagt,] des Edlen wend ich viel. [Mir ist an Wissen nichts und Thun gelegen Auch nicht an Ruh ich will das Herz bewegen.] Komm dann [ich zeige Dir im schönsten Lichte] Die Welt, der Zukunft Vorhang roll ich auf Die schönste Wahrheit ist es was ich dichte Ich mahle Dir den sieggekrönten Lauf Belebend ziehn die heiligen Gesichte Den trunknen Blik zum Ideal hinauf [Mit Lebensglanz und hoher Lust belohnen Den Schauenden die himmlischen Visionen. Nimm weg den sanften Hauch der mich begonnen so findst Du Dich am kühlen Schattenort Wo mancher schon die Liebe mir gewonnen Mit magischsüßem Sehnsucht vollem Wort Es säuseln Bäume hier, es flüstern Wonnen] Mein Jünger ruht [im wohlgeschüzten Port] Und lauschet sinkend hier [durch dichte Schatten] Hinaus wo frei [Natur und Kunst sich gatten.]

Meleager 121. Erd Allmutter gegrüßt sei, und welcher zuvor auf Dir nie Schwer gedrükt, sei auch jezt leichter dem Aisigenes.

13 Ich ... Lauf] über (Und siehst [korr. aus siehest] gelingen Deiner Brüder Lauf) 15 Den Trunknen] mit Einweisungszeichen unter (Ziehn Dir den) 2 4 sinkend hier] darüber (1) (tief) bewegt sanft (2) mit Umstellungszeichen bewegt sanft 2 8 auch] über der Zeile mit Einfügungszeichen 2 6 Übersetzung

von Meleager Nr. CXXI,

in: Analecta

1, 35

18

Gedichte und Charaden

[Interlinearfassung:] [Erd Allmutter gegrüßt sei, und] weil er auf keinerlei Art Dich [Schwer gedrükt, sei auch jezt leichter dem Aisigenes.] [Randfassung:] Sei mir ο Erd Allmutter gegrüßt und welcher vorher Dich Nie schwer drükte sei izt leicht auch dem Aisigenes.

3. Kypris als Frau wirft Frauenbethörete Flammen hernieder Eros wieder regiret Liebe der Männer allein. Wohin wend ich? Zum Sohn, zur Mutter? Doch Kypris glaub ich Selber gestehet: es siegt doch das verwegene Kind. [Randfassung:] [Kypris als Frau wirft Frauenbethörete Flammen hernieder Eros wieder regiret Liebe der Männer allein.] Izo wohin? Zur Mutter zum Sohn? Doch [Kypris glaub ich Selber gestehet: es siegt doch das verwegene Kind.]

Piaton I, 11. Suchend ein Heiligthum zum Besiz das nimmer verginge Fanden die Chariten Dich Geist des Aristophanes.

5 vorher Dich] über ((Dich nie schwer)) 6 Nie schwer] über der Zeile mit Einfügungszeichen 6 drükte] korr. aus Drükte 6 izt] über der Zeile 6 auch] folgt (Du izo) 10 Kypris] folgt (ich) 171.] korr. aus 9. 7 Übersetzung von Meleager Nr. III, in: Analecta 1, 3f. Georg Ludwig Spalding kommentierte am 21. Oktober 1803: „Das Epigramm Brunk I. p. 3. „Kypris die Frau" etc. darf, ex capite Moralium nicht Nicomacheorum, sondern Spaldingiorum, nicht übersezt werden." (KG A V/6) 17 Übersetzung von Piaton Nr. XI, in: Analecta 1, 171

Gedichte und Charaden

19

Zu 9. Praxiteles sah nimmer verbotenes: aber das Eisen Bildete wie Ares wollte die Paphie sehn.

2. Als ich küßt Agathon schwebt auf den Lippen die Seele Arme, sie drängte sich vor wünschend hinüberzugehn. [Randfassung:] Unter des Agathon Kuß schwebt mir [auf den Lippen die Seele] Aermste, sie drängt sich hervor [wünschend hinüberzugehn.]

II, 2 1 . Hätte Myron nicht an dem Stein mir die Füße befestigt Sicher mit anderem Rind strich ich die Wiesen umher.

ibid. Lege mir einer das Joch um den Hals und befeste den Pflug dran Dem daß ich pflüge Dein Theil hast Du Myron wol gethan. [Randfassung:] Mir um den Naken das Joch und den Pflug anleget: zum mindest Hat, daß die Arbeit geht Myron das seine gethan.

8 mir] folgt ρ 1 4 befeste] b korr. aus f mindest] über (auch festiget, mindstens)

15 Dein] korr. aus mein

1 7 anleget

1 Übersetzung von Piaton Nr. IX, Z. 5f, in: Analecta 1, 171 4 Übersetzung von Piaton Nr. II, in: Analecta 1, 169 10 Übersetzung von Antipater Sidonios Nr. LVII, in: Analecta, Bd. 2, 1773, S. 21 13 Übersetzung von Antipater Sidonios Nr. LVI, in: Analecta 2, 21

20

Gedichte und Cbaraden

ibid. Bald wird die Kuh nun brüllen gedulde Dich! nicht nur Prometheus Bildet beleibtes auch Du hast es verstanden Myron.

ibid. Bald wird die Kuh nun brüllen, gedulde Dich! sollte sie zögern Hat doch nicht Myron Schuld sondern das Erz hat nicht Lust. [Interlinearfassung:] [Bald wird die Kuh nun brüllen, gedulde Dich! sollte sie zögern Hat doch nicht Myron Schuld] nur das unlustige Erz.

ibid. Kalb warum so mir die Weichen umschnüffelst Du? Welches Gebrüll. Nicht hat der Künstler auch Milch mir in das Euter gefüllt.

II, 15. (conf. Jakobs Tempe) Die sich empor aus dem Schooß frisch hebende Tochter des Meeres Kypria hier ein Gebild schau von dem Pinsel Apells Wie mit der Hand sie zusammengerafft die durchfeuchteten Haare Nun widerstrebenden Schaum träufelnden Loken entdrükt Selber bekennen wol izt Athene oder auch Here: Nicht der Gestalt Wettstreit bieten wir länger Dir an.

6 nicht Myron] umgestellt aus Myron nicht 11 die Weichen] über (das Euter) 11 Welches Gebrüll] am Rand neben (Brüllend daneben) ; über dem Gestrichenen 12 auch] über (mit) 12 Milch] folgt (auch) 12 in] über der Zeile mit Einfügungszeichen 16 durchfeuchteten] feuchte über neze 17 widerstrebenden] über (den unwilligen) 17 Loken] über (Haaren) 19 bieten] über (tragen) 19 Dir an] über (mit Dir) 1 Übersetzung von Antipater Sidonios Nr. LV, in: Analecta 2, 21 4 Übersetzung von Antipater Sidonios Nr. LIV, in: Analecta 2,21 10 Übersetzung von Antipater Sidonios Nr. LVIII, in: Analecta 2,21 13 Übersetzung von Antipater Sidonios Nr. XXXII, in: Analecta 2, IS. August Wilhelm Schlegel kommentierte diese Übersetzung in seinem Brief vom 26. September 1803: „Doch habe ich Zweifel gegen widerstrebenden. ,Nicht der Gestalt Wettstreit bieten wir länger Dir an.' Ich glaube, man muß Voßens Gründen in seiner

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Charaden

[Randfassung:] Die aus d e m S c h o o ß e des M e e r e s e m p o r n u n steigende T o c h t e r K y p r i a hier v o n Apells Pinsel b e s c h a u e d a s W e r k [ W i e mit der H a n d sie z u s a m m e n g e r a f f t die d u r c h f e u c h t e t e n H a a r e N u n widerstrebenden Schaum träufelnden Loken entdrükt Selber b e k e n n e n w o l izt] T r i t o n i a o d e r a u c h H e r e [ : N i c h t der Gestalt W e t t s t r e i t bieten w i r länger D i r a n . ]

II, 3 2 4 . ( n a c h V o s s V I , 2 9 8 ) G e s t e r n den steinern Z e u s b e r ü h r t e der A r z t M e n e d e m o s O b g l e i c h steinern ?nur? Z e u s t r ä g t m a n ihn heute hinaus. [Interlinearfassung:] [Gestern den steinern Z e u s b e r ü h ] r e t e M a r k o s der A r z t n u r [Obgleich steinern ?nur? Z e u s t r ä g t m a n ihn heute h i n a u s . ]

W e n n D u d e m Urbild weißt, d e m D u n a c h s t r e b s t T r e u e zu h a l t e n Liebst D u die F r e u n d e g e w i ß a u c h mit b e h a r r l i c h e r T r e u .

3 Kypria ... Werk] über (Kypris, von Apelles Pinsel beschaue das Werk) korr. aus 111,36 8 VI,298] IV,298 10 nur] η

8 11,324] 111,324

Zeitmessung hierüber nachgehen. So scheint mir: A thene oder auch Here, den Vers allzu leer zu machen. Mir deucht wenn man die Trochäen nicht ganz vermeiden kann, so muß man sie durch Position und Diphtongen verkleiden." (KGA V/6) Friedrich Jacobs verdeutschte in seiner zweibändigen Sammlung „Tempe" (Leipzig 1803) auswahlweise in neuer thematischer Anordnung griechische Epigramme, die in den Analecta und der Anthologia Graeca (vgl. oben Anm. zu 6,1) ediert worden waren. Seine Übertragung des Epigramms von Antipater aus Sidon (3. Buch, Nr. XVIII) lautet: „Sieh, vom Pinsel Apellens erzeugt, ein treffliches Kunstwerk; / Kyprien, wie sie dem Schooß purpurner Wellen entsteigt! / Wie sie ergreift mit der Hand die triefenden Haare des Scheitels, / Und das schäumende Naß drücket aus feuchtem Gelock! / Pallas spricht nun selber und Jupiter's hehre Gemahlin: / Sieh, wir bestreiten dir itzt nicht mehr den Preis der Gestalt." (Tempe 1, S. 136) 8 Übersetzung von Lukillios Nr. XXXVI, in: Analecta 2, 324. Johann Heinrich Voss veröffentlichte als Epigramm LXXII mit der Überschrift „Der unglückliche Arzt." folgende Übersetzung: „Unseren marmornen Zeus berührte der Arzt Menedemos, / Marmorn war er, und Zeus; aber man trägt ihn hinaus." (Sämtliche Gedichte, Bd. 6, Königsberg 1802, S. 298)

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Leicht wol erlernt sich die Kunst, in die Schlange den Stab zu verwandeln Aber die Schlang' in den Stab! Moses, ο wärest Du hier.

Am 21. November Dir sind die muntern Farben nun verschwunden Hier waltet treuer Trauer düstres Grauen Kein Morgenroth ist irgend hier zu schauen Im Dunkel keine Blume wird gefunden.

5

Das Laub hat sich zum Kranze nicht gewunden Und eilet nicht Dir hochbetrübter Frauen Hülfreich ein Gott den Hochzeitschmuk zu bauen Wird bald das abgerissne Reis entblättert funden.

10

Auf banger Sehnsucht falben Grund gemahlet In trüber dunkler Hofnung Farbe schwebet Dein heiiger Name hier Eleonore Ο daß statt Grau nur Himelsbläue strahlet' Erglühend selges Roth die Wangen hebet Und ewges Grün Dich schmüket Leonore

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[Randfassung:] In Schwarz verhüllt sind unsers Lebens Stunden Es herrscht nur treuer [Trauer düstres Grauen] Kein Glanz kein muntres Farbenspiel zu schauen Erinnerungsblumen werden nicht gefunden.

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Dies Laub [hat sich zum Kranze nicht gewunden und eilet nicht Dir hochbetrübter Frauen Hülfreich ein Gott den Hochzeitschmuk zu bauen Wird bald das] Myrtenreis [entblättert funden.

3 November] Novemb.

19 sind] sd

2 0 treuer] tr.

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2 1 kein] k.

3 Entstanden ist dieses Gedicht wohl im Jahr 1803 nach Eleonore Grunows Trennung Schleiermacher im Juni desselben Jahres (vgl. Schleiermachers Brief an Henriette Herz 10. Juni 1803, KG Α V/6).

von vom

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Auf banger Sehnsucht falben Grund gemahlet In trüber dunkler Hofnung Farbe schwebet Dein heiiger Name hier Eleonore Ο daß statt Grau nur Himelsbläue strahlet' Erglühend selges Roth die Wangen hebet Und ewges Grün Dich schmüket Leonore]

Mimn. VII. Nur Dein eigen Gemüth befriedigef.] Laß denn die Nachbarn. Krittelt der eine zu scharf, lobt Dich der andre dafür.

Im ersten wohnt das Herz, das zweite zeigt die Seele Doch kommt dem Ganzen zu daß Leib und Fuß ihm fehle.

Mein erstes ist der Charitinnen Spiel Das zweite läuft in Wäldern wild umher Das Ganze quält sich ab in Straßen kreuz und quer Und ist der Kinder Lust und ihres Spottes Ziel.

Wol dem Jüngling dessen e r s t e s so sein z w e i t e s ist Daß er auch des reichsten G a n z e n gern dabei vergißt Wol dem Mädchen die als erstes zu dem zweiten Vielbewundert auch das Ganze kann begleiten.

7 Übersetzung von Mimnermos Nr. VII, in: Analecta 1, 62 lOf Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 7. Die Auflösung ist: Brustbild. 1 2 - 1 5 Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 2. Die Auflösung ist: Tanzbär. 1 6 - 1 9 Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 24. Die Auflösung ist: Brautschatz·

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Gedichte und

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Stehn wie das e r s t e sagt wird sehr gesucht Des Z w e i t e n Ruhm begehren wol fast Alle Das Ganze wird von Vielen gar verflucht Und hat es wer: so hofft man daß er falle.

Was in dem e r s t e n P a a r e man hat, das erhaschet das Ganze Merkt man es zeitig genug: so schreit man haltet das lezte.

Aus eines Gottes Mißgeschik Und eines Mädchens liebescheuer Bitte Entsprangen einst die e r s t e n z w e i ; das dritte Gewinnet und verliert der Liebe erstes Glük Das Ganze wird durch Liebe nicht erworben Am schönsten durch die Macht der Kunst Am häufigsten doch durch des Glükes Gunst Und dann, ach, hat es oft der Liebe Glük verdorben.

Die Gluth der Sonne macht das e r s t e zart Die Glut des Feuers macht das z w e i t e hart Das G a n z e faßt was neue Glut Ergießt in braver Männer Blut.

Durch dichte Nacht drängt sich mein erstes Silbenpaar Auf zartem Weiß stellt sich das zweit' am schönsten dar Mög oft das Ganze Dein erwachend Aug erfreuen Und ungetrübt die Lust des Lebens Dir erneuen.

1—4 Vgl. die Druckfassung in KGA 1/14, Charaden, Nr. 21. Die Auflösung ist: Hochmut. 5f Vgl. die Druckfassung in KGA 1/14, Charaden, Nr. 20. Die Auflösung ist: Taschendieb. 7 - 1 4 Vgl. die Druckfassung in KGA 1/14, Charaden, Nr. 27. Die Auflösung ist: Lorbeerkranz. 1 5 - 1 8 Vgl. die Druckfassung in KGA 1/14, Charaden, Nr. 8. Die Auflösung ist: Weinglas. 1 9 - 2 2 Vgl. die Druckfassung in KGA 1/14, Charaden, Nr. 26. Die Auflösung ist: Morgenröte.

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Aus zarten Blumen wird das erste zubereitet Von fernen Sternen her das zweit' uns zugeleitet Das Ganze seht ihr oft in schöngeschmükten Zimmern Weit über Sternen hoch und über Blumen schimmern.

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Dem ersten fügt schau wem ein altes Sprichwort zu Das zweite steht am Markt zu Halle jedem offen Vom Ganzen ruf ich auch schau wem Du's giebst Dir zu Willst Du nach meinem Wunsch ein frohes Leben hoffen.

Um das G a n z e wird oft noch mühsam kämpfend gestritten Wenn der Feind es schon längst gänzlich im innern zerstört Doch hat das e r s t e der Feind so sind oft herrliche Städte Mehr als das zweite nicht werth wenn Du als taub es verwirfst.

Das erst ist nur ein Hund, das zweit und dritt ein Junge Das Ganz' ist ärger noch als selbst ein Hundejunge.

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Durchs e r s t e glaubte man die Zukunft sonst zu deuten Durchs z w e i t e wähnen wir die Zukunft zu bereiten Doch ist das Ganze nur der Gegenwart geweiht Und selten hat es sich der Zukunft noch erfreut.

3 oft] korr. aus auf ((Mein)) (erstes ist)

10 am ... Halle] über (bei uns am Markte) 17 Das ... nur] über 18 Das Ganz'] korr. aus Mein Ganzes 18 ist] über der Zeile

1—4 Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 1. Die Auflösung ist: Wachslicht. 5 - 8 Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 25. Die Auflösung ist: Trauring. 9 - 1 2 Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 22. Die Auflösung ist: Wal[l]nuß. 13f Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 18. Die Auflösung ist: Spitzbube. 15-18 Vgl. die Druckfassung in KGA 1/14, Charaden, Nr. 4. Die Auflösung ist: Flugschrift.

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Gutes Gehör braucht seltner als Andre das e r s t e zu fragen Gutes Gesicht kann weiter umher das z w e i t e erspähen Guter Geschmak hat gewiß das Ganze liebend verehret Doch kaum alles genossen, was nur zu reichlich es darbeut.

Das Drittel nehmt von einem Kompliment Und sezt die Hälfte der Mama ans End Das Ganze wird euch so des Punktes Vorteil zeigen Ihr nehmt ein wenig Luft und könnt dann weitersteigen.

Die Messen jezt das erste sind drum gehts damit zu Ende Die Redner nur das zweite sind doch klatscht man in die Hände Die Aerzte zu vortreflich sind als daß mans Ganze fände.

Das erste borgt nur Licht, das zweit ist nicht die Wahrheit Doch bringt das Ganz uns oft in Finsternissen Klarheit.

3 verehret] über (genossen) 7 so] über (dann) aus unleserlichem Buchstaben; darüber I. II

9 Die] darüber 1.2.

12 Das] D korr.

1 - 4 Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 23. Die Auflösung ist: Wieland. 5 - 8 Die Auflösung ist: Komma. 9 - 1 1 Die Auflösung ist: Marktschreier. 12f Vgl. die Druckfassung in KG A 1/14, Charaden, Nr. 3. Die Auflösung ist: Mondschein.

Grundlinien einer

Kritik der bisherigen Sittenlehre entworfen von

F. Schleiermacher

Berlin, 1803 Im Verlage der Realschulbuchhandlung

1 - 8 Grundlinien ... Realschulbuchhandlung] Grundlinien / einer / Kritik der bisherigen Sittenlehre / entworfen / von / F. Schleiermacher. / Zweite Ausgabe. / Berlin. / Gedrukkt und verlegt bei G. Reimer. / 1834.

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