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German Pages 729 [732] Year 1988
Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 3
w C DE
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge
Erste Abteilung Schriften und Entwürfe Band 3
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802
Herausgegeben von Günter Meckenstock
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei = pH 7, neutral) CIP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Schleiermacher, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe / Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner . . . - Berlin ; New York : de Gruyter. Abt. 1, Schriften und Entwürfe. NE: Birkner, Hans-Joachim [Hrsg.]; Schleiermacher, Friedrich: [Sammlung] Bd. 3. Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802 / hrsg. von Günter Meckenstock. - 1988 ISBN 3-11-011120-9 NE: Meckenstock, Günter [Hrsg.]
© 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Hubert & Co., Göttingen · Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin Gefördert mit Mitteln des Akademienprogramms der Bund-Länder-Kommission unter Aufsicht der Akademie der Wissenschaften in Göttingen
Inhaltsverzeichnis Einleitung des Bandherausgebers I. Historische Einführung Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1800-1802 Schleiermachers Manuskripte und Schriften der Jahre 1800-1802 1. Monologen. Eine Neujahrsgabe 2. Garve's letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften (Sammelrezension) 3. Über das Anständige 4. und 5. Auszug aus den Verhandlungen der chemischen Versammlungen bei Klaproth sowie Chemie 6. Gedanken IV 7. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde . . . . 8. Rezension von Friedrich Schlegel: Lucinde 9. Rezension von Johann Jakob Engel: Der Philosoph für die Welt, Band 3 10. Rezension von Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen 11. und 12. Materialien zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (Australiens) sowie Zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (Australiens) 13. Gedanken V 14. Zum Piaton 15. Rezension von Schillers Ubersetzung des Shakespeareschen ,Macbeth" 16. Rezension von August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken 17. Rezension von Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften, Bände 1-2 18. Rezension von Joachim Heinrich Campe: Historisches Bilderbüchlein 19. Rezension von Johann Jakob Engel: Herr Lorenz Stark . 20. Rezension von Friedrich Ast: De Piatonis Phaedro . . . II. Editorischer Bericht
VII VII VII XV XV XL XLIV XL VI XLVII XL VIII LXIX LXXII LXXIV
LXXXII XCIII XCVI CVI CX CXIII CXV CXVII CXVIII CXXII
Inhaltsverzeichnis
VI
Schriften aus der Berliner Zeit
1800-1802
Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800) Garve's letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften (Sammelrezension) (1800) Über das Anständige (1800) Auszug aus den Verhandlungen der chemischen Versammlungen bei Klaproth (1800) Chemie (1800) Gedanken IV(1800) Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) Rezension von Friedrich Schlegel: Lucinde (1800) Rezension von Johann Jakob Engel: Der Philosoph fiir die Welt, Band 3 (1800) Rezension von Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800) Materialien zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (Australiens) (17991800) Zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (Australiens) (1800) Gedanken V(1800-1803) Zum Piaton (1801-1803) Rezension von William Shakespeare: Macbeth. Ein Trauerspiel, zur Vorstellung auf dem Hoftheater zu Weimar eingerichtet von Friedrich Schiller (1801) Rezension von August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken (1801) Rezension von Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften, Bände 1-2(1801) Rezension von Joachim Heinrich Campe: Historisches Bilderbüchlein oder die allgemeine Weltgeschichte in Bildern und Versen (1801) . . . Rezension von Johann Jakob Engel: Herr Lorenz Stark (1801) Rezension von Friedrich Ast: De Piatonis Phaedro (1802)
1 63 73 101 125 129 139 217 225 235 249 265 281 341
377 399 413 431 449 467
Anhang Teller: Die Zeichen der Zeit, angewandt auf öffentliche christliche Religionslehrer bey dem Wechsel des Jahrhunderts (1799) [Wedeke:] Briefe über die Abhandlung des Herrn Oberkonsistorialrath Teller die Zeichen der Zeit von einem Landprediger in Ostpreussen (1800)
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Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Namensregister Register der Bibelstellen
581 583 597 604
485
Einleitung
des
Bandherausgebers
Der vorliegende Band „Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802" enthält zwölf Druckschriften Schleiermachers1 sowie acht Manuskripte aus seinem Nachlaß. Von diesen Nachlaßstücken hatte Wilhelm Dilthey eins vollständig und zwei auszugsweise publiziert.1 Fünf Manuskripte waren bisher gänzlich unbekannt.
I. Historische
Einführung
Der Einführung in die einzelnen Schriften wird eine Übersicht über Schleiermachers mannigfaltige literarische Arbeiten in seinen Berliner Jahren 1800-1802 vorausgeschickt. Dadurch sollen die vorliegenden Schriften in den Umriß seiner literarischen Biographie eingezeichnet werden.
Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen
1800-1802
Friedrich Daniel Emst Schleiermacher (1768-1834) war vom September 1796 bis zum Mai 1802 reformierter Prediger an der Berliner Charite, bevor er zum I.Juni 1802 die reformierte Hofpredigerstelle in Stolpe (Hinterpommern) übernahm. Eine literarische Frucht seiner Predigertätigkeit war seine erste Sammlung „Predigten", die er im Herbst 1800 ausarbeitete und die zur Ostermesse 1801 erschien.3 Dieser Predigtband war gleichsam eine Verteidigungsschrift, mit der Schleiermacher Verdächtigungen und Beschuldigungen entgegentrat, die durch seine Publikationen der Jahre 1799 und 1800 ausgelöst worden waren* Schleiermacher hatte nämlich im Juni 1
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3 4
Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Vgl. Briefe 4, 50J-533 sowie Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers 113115.123-145 (Anhang mit eigener Paginierung zu Dilthey: Leben Schleiermachers, Erster [einziger] Band, Berlin 1870) Vgl. Briefe 3,246.268. 273; 1,270 Schleiermacher berichtete seiner Schwester Charlotte am 20. Dezember 1800: „Ich faßte erst nach Michaelis den Entschluß, ein Bändchen Predigten drucken zu lassen, wozu mancherlei Umstände und verschiedene sich von mir verbreitende Meinungen mich veranlaßt. Der Buchhändler, dem ich die Besorgung übertrug, äußerte mir, nachdem Dohna's weg waren, den Wunsch, sie noch vor Anfang des jezigen Monats in die Druckerei geben zu können und da habe ich denn, weil ich überall keine Predigten aufschreibe, sondern nur ausführliche
VIII
Einleitung des Bandherausgebers
1800 in den Streit um den Roman „Lucinde" von Friedrich Schlegel (1772-1829) zugunsten seines Freundes5 eingegriffen. In seiner anonymen Druckschrift „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" verteidigte er die persönlich und individuell orientierte Liebesauffassung der Frühromantiker'', wie sie damals auch für seine eigene Liebesbeziehung zu Eleonore Grunow (1769/70-183 7) bestimmend war. Er ergänzte diese ethische Darstellung im Juli 1800 durch eine anonyme Rezension, in der er stärker einer literaturästhetischen Betrachtungsweise folgte.7 Bereits die erste Publikation des Jahres 1800 war ebenfalls einem ethischen Thema gewidmet gewesen. Die „Monologen. Eine Neujahrsgabe" erörtern unter der Leitidee der Individualität die grundlegende Verknüpfung von Reflexion und Lebensvollzug, von Selbstanschauung und Handeln,8 Im März 1800 wurde die von Schleiermacher und F. Schlegel schon früher verabredete gemeinschaftliche Piaton- Ubersetzung von F. Schlegel öffentlich angekündigt.9 Doch erst mit Jahresanfang 1801 trat das Übersetzungsunternehmen für Schleiermacher in den Vordergrund seiner literarischen Bemühungen und begleitete ihn von da ab mit Unterbrechungen bis an sein Lebensende. In seinem Manuskript „Zum Piaton" sammelte er nach Art seiner Gedanken-Hefte 1801-1803 Beobachtungen und Überlegungen zur Ordnung und Echtheit der Platonischen Schriften sowie Gesichtspunkte für seine Übersetzung.10 Noch eine weitere Übersetzung beschäftigte ihn gegen Ende seiner Charite-Zeit. Er führte das von Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738-1817) begonnene Unternehmen, die Predigten Hugo Blairs zu Entwürfe davon zu Papier bringe, tüchtig arbeiten müssen, und so oft ich mir vornahm an Dich zu schreiben, dachte ich: erst kannst Du doch noch diese Predigt fertig machen. Darüber ging der Posttag hin, dann glaubte ich, es sei noch Zeit genug und fing eine neue an und so hat sich dasselbige Aufschieben mehrmals wiederholt. Demunerachtet bin ich erst in der Mitte des Monats mit der Arbeit zu Stande gekommen, wozu der Zustand meiner Gesundheit auch nicht wenig beigetragen hat." (Briefe l,248f) 5 Wohl Anfang Juni 1801 schrieb Schleiermacher an Ehrenfried von Willich über Friedrich Schlegel: „ Vor der Welt kann und muß ich ihn wohl meinen Freund nennen; denn wir sind einander reichlich, was man unter diesem Namen zu begreifen pflegt. Große Gleichheit in den Resultaten unsers Denkens, in wissenschaftlichen und historischen Ansichten, beide nach dem Höchsten strebend, dabei eine brüderliche Vereinigung, lebendige Theilnahme eines jeden an des andern Thun, kein Geheimniß im Leben, in den Handlungen und Verhältnissen; aber die gänzliche Verschiedenheit unsrer Empfindungsweise, sein rasches, heftiges Wesen, seine unendliche Reizbarkeit und seine tiefe nie zu vertilgende Anlage zum Argwohn, dies macht, daß ich ihn nicht mit der vollen Wahrheit behandeln kann, nach der ich mich sehne, daß ich Alles anders gegen ihn aussprechen muß, als ich es fur mich selbst ausspreche, damit er es nur nicht anders versteht, und daß es immer noch Geheimnisse fur ihn in meinem Innern giebt oder er sich welche macht. Zwar behauptet er, daß die Monologen ihm zu allen scheinbaren Disharmonien in meinem Wesen den Schlüssel gegeben haben, aber probehaltig ist mir das auch noch nicht." (Briefe 1,277) ' Vgl. unten XLVIII-LXVIU 7 Vgl. unten LXIX-LXXII ' Vgl. unten XV-XL ' Vgl. unten XCVIIIf >° Vgl. unten XCVI-CVI
Historische Einführung
IX
verdeutschen, mit dem fünften Band 1802 allein zu Ende, nachdem er schon am vierten Band 1795 mitgearbeitet hatte.11 Bereits am Jahresanfang 1800 hatte er durch stilistische Überarbeitung oder eigenständige Teilübersetzung Henriette Herz (1764-1847) darin unterstütztden Reisebericht „Travels through the states of North America, and the provinces of Upper and Lower Canada, during the years 1795, 1796, and 1797" (London 1799) von Isaac Weld für den Verlag Haude und Spener anonym zu verdeutschen13. Die aus dem Zeitraum 1800-1802 überlieferten Manuskripte veranschaulichen die Weite der literarischen und wissenschaftlichen Interessen Schleiermachers. Im Frühjahr 1800 schrieb er im Zusammenhang des „Lucinde"-Themas sein viertes Gedanken-Heft14 sowie den Dialog „Über das Anständige"1*. Wenig später im Mai und Juni 1800 nahm er an einem experimentell-analytischen Chemiekurs teil, der von Martin Heinrich Klaproth (1743-1817) veranstaltet wurde. Aus der Teilnahme an diesen Veranstaltungen erwuchsen zwei Manuskripte: „Auszug aus den Verhandlungen der chemischen Versammlungen bei Klaproth" und „Chemie".1'' Seine großangelegte Siedlungsgeschichte Neuhollands, speziell der englischen Sträflingskolonisation in Neusüdwales, gedieh im Sommer 1800 nach langwierigen Vorarbeiten zu einem umfänglichen, nur fragmentarisch überlieferten Manuskript, das in der von Johann Karl Philipp Spener herausgegebenen Reihe „Historisch-genealogischer Calender" publiziert werden sollte, aber nicht zum Druck gelangte.17 Im Herbst 1800 begann er sein fünftes Gedanken-Heft, in dem er bis 1803 die unterschiedlichsten Überlegungen, Lesefrüchte und Projektskizzen sammelte.1* Er war sich dabei seiner wachsenden literarischen Produktivität und öffentlichen Bedeutung sehr wohl bewußt.1'* 11
Blair, Hugh: Predigten, Bd 5, aus dem Englischen übersetzt von F. Schleiermacher, Leipzig 1802 " Vgl. KGA 1/2, XVII, Anm.35 13 Weld: Reise durch die nordamerikanischen Freistaaten und durch Ober- und Unter-Canada in den Jahren 1795, 1796 und 1797, aus dem Englischen frei übersetzt, Berlin 1800 14 Vgl. unten XLVIIf 15 Vgl. unten XLIV-XLVI " Vgl. unten XLVIf v Vgl. unten LXXXII-XCIII 18 Vgl. unten XCIII-XCVI " Vgl. Schleiermachers Brief vom 10. November 1801 an seine Schwester Charlotte: „Mein Leben bekommt jezt auch von einer andern Seite einen Werth, den es sonst nicht hatte, und einen gewissen Glanz, wenn ich so sagen darf. Mit dem wenigen, was ich bis jezt öffentlich sein und thun konnte, fange ich doch an auf die Denkungsart der gebildeten und besseren Menschen zu wirken; ich bin von denen, die man Philosophen nennt, geachtet und aus der Nähe und Feme schließen sich religiöse Seelen mit vieler Herzlichkeit an mich an. Ich kann sagen, daß ich vielen zum Segen bin, und wenn ich Gesundheit und Kraft behalte, um einige bedeutende Werke auszuführen, die ich unter Händen habe, so läßt sich voraussehn, daß ich bald sowohl in dieser Angelegenheit, als in mancherlei Wissenschaften noch mehr
χ
Einleitung des Bandherausgebers
In den Jahren 1800 und 1801 gewann Schleiermachers Rezensionstätigkeit größeren Umfang.10 Im letzten Jahrgang der Schlegelschen Zeitschrift „Athenaeum", fur den er auch Redakteur war, erschien im März 1800 seine signierte Beurteilung „Garve's letzte noch von ihm seihst herausgegebene Schriften"11, im August 1800 seine beiden signierten Rezensionen von Engels „Philosoph fiir die Welt, Band 3 "21 sowie von Fichtes „Die Bestimmung des Menschen"13. Das vom Verleger Heinrich Frölich veranlaßte Ende der Zeitschrift „Athenaeum" löste 1800 seitens des Frühromantikerkreises ein intensives Bemühen um ein weitergreifendes Nachfolgeorgan aus. Die geplante Zeitschrift „Kritische Jahrbücher der deutschen Literatur" kollidierte mit dem gleichzeitigen Zeitschriftenprojekt Johann Gottlieb Fichtes. Die vielfachen Verwicklungen, Einflüsterungen und Intrigen führten zum Scheitern beider Projekte und zur Feindschaft der Protagonisten. Für den Frühromantikerkreis wurde 1801 die Erlanger „Litteratur-Zeitung" bis zu ihrer Einstellung Ende Juni 1802 zum Ersatzorgan seiner Literaturkritik. Deren Herausgeber Gottlieb Ernst August Mehmel (1761-1840) lud auch Schleiermacher zur Mitarbeit ein.2i Schleiermacher nahm am 21. April 1801
Einfluß gewinnen und in wenigen Jahren zu den bekannteren Menschen gehören werde, deren Wort einiges Gewicht hat. So angenehm mir das auch ist, nicht nur, sofern es der natürlichen Eitelkeit schmeichelt, sondern auch, sofem es mir verbürgt, daß ich mich einer gewissen Wirksamkeit in der Welt werde zu erfreuen haben, es verschwände mir doch gänzlich und wäre mir alles nichts gegen die Aussicht auf ein stilles, frohes, häusliches Leben, und es würde mir gar nicht schwer werden, um dieses zu genießen, mich, wenn es nicht anders sein könnte, in eine Lage zu sezen, die mich von dem Schauplaz einer größeren Wirksamkeit ganz entfernte und meinen wissenschaftlichen Fortschritten sehr hinderlich wäre. Es ist doch alles in der Welt eitel und Täuschung, sowohl was man genießen, als was man thun kann, nur das häusliche Leben nicht. Was man auf diesem stillen Wege gutes wirkt, das bleibt; für die wenigen Seelen kann man wirklich etwas sein und etwas bedeutendes leisten." (Briefe l,284f; vgl. auch Briefe 1,321) 20
Am 11. Juni 1801 schrieb Schleiermacher an Ehrenfried von Willich: „Dürfte ich lauter solche Werke bilden, wie die bisherigen, wo ich mich bloß in meiner eigenen Sphäre bewege, so würde auch vom Geplagtsein gar nicht die Rede sein. Allein die Kenntniß fremder Werke und das Wissen fremder Gedanken auf dem Gebiet, wo man die Wechselwirkung mit diesen nicht vermeiden kann, kurz das leidige Lesen und Studiren, das macht mir unsägliche Mühe, theils aus Ungeschicklichkeit in der Behandlung, theils, weil mir die Natur dabei, besonders mit dem Gedächtniß, nur sehr schlecht zu Hülfe kommt. [...] Dazu kommt nun, daß ich grade deshalb mit Recht einen Beruf zur Verwaltung der Kritik zu haben glaube. Denn, wem es solche Mühe macht und wer es so gründlich damit nimmt, der hat wohl ein Recht, über den Werth der Bücher mitzusprechen." (Briefe l,278f; vgl. auch SW 1/5,665) Am 29. Dezember 1800 hatte Schleiermacher seiner Schwester Charlotte gestanden, daß „das Lesen mir größtentheils weit mehr Zeit kostet als hundert andern Menschen. Um etwas so gut zu verstehn, als ich es wünsche, muß ich es gleich zwei-, dreimal lesen und dann noch einzelne Stellen besonders, sonst bekomme ich kein rechtes Bild von dem ganzen." (Briefe 1,257)
»
22 23 Vgl. unten XL-XLIV Vgl. unten LXXII-LXXIV Vgl. unten LXXIV-LXXXII Der Briefwechsel Schleiermachers mit Mehmel wird im Nachlaß Schleiermacher im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR aufbewahrt. Er ist bisher noch un-
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Historische
Einführung
XI
Mehmels Einladung an25 und schlug mehrere Beurteilungen vor, die Mehmet am I.Mai 1801 alle akzeptierte26. In der Erlanger„Litteratur-Zeitung" erschienen anonym am 30. und 31. Juli 1801 Schleiermachers Rezension der Schillerschen Übersetzung von Shakespeares „Macbeth "27, am 28. September 1801 die der Schlegelschen „Kritiken und Charakteristiken"28, am 20. Oktober 1801 die der zweibändigen Lichtenbergschen Nachlaßausgabe „ Vermischte Schriften"M, am 30. November 1801 die des Engeischen Romans „Herr Lorenz Stark"}0 sowie am 12. April 1802 die der Astschen Abhandlung „De Piatonis Phaedro"n. Der bisher unveröffentlichte Briefwechsel Schleiermachers mit Mehmel gewährt Einblick in verschiedene Rezensionspläne, die nicht realisiert wurden, zu denen sich aber teilweise Vorarbeiten in den Gedanken-Heften oder Spuren in Briefen finden. Seine Pläne, die 4. Auflage der Adelungschen Schrift „ Ueber den Deutschen Styl" sowie die beiden Meinersschen Schriften „Grundriß der Ethik oder Lebenswissenschaft" und „Allgemeine kritische Geschichte der ältern und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft" zu rezensiereni2, gediehen nicht bis zur Verwirklichung33. Mehmel bat im August
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veröffentlicht. Dilthey hat nur einige knappe Sätze aus diesen Briefen mitgeteilt (vgl. Denkmale 124.129). Vgl. Schleiermachers Brief vom 21. April 1801 an Mehmel: „Ewr Wohlgeboren eben so unerwartete als gütige Einladung, die mir erst vor wenigen Tagen zugekommen ist, hat mir nicht anders als ungemein schmeichelhaft sein können; und ich bin erfreut daß andere Verbindungen mich nicht hindern meine etwanigen kritischen Arbeiten einem Institute zu bestimmen, welches mir in mehrerer Hinsicht immer eine erfreuliche Erscheinung gewesen ist. Jeder dem die nöthigen Eigenschaften dazu verliehen sind, sollte das Seinige dazu beitragen, daß das wichtige Geschäft der Kritik so gut und vollständig als möglich ausgerichtet würde, und so bin auch ich dazu bereit so weit meine Zeit und die eigenthümliche Beschränktheit meiner Kräfte es verstatten. Im Allgemeinen thue ich daher nur die Bitte mich mit unbedeutenden, allzuvoluminösen und noch unvollendeten Schriften zu verschonen. Die besonderen Gegenstände betreffend, so bin ich für Theologie und Pädagogik einem andern Institut verpflichtet; in der spekulativen Philosophie ist mir der Antheil, den die gegenwärtigen Häupter derselben in Deutschland an Ihrem Institut nehmen nicht entgangen, laßen indeß diese etwas merkwürdiges zurük, was Sie mir anvertrauen wollen, so werde ich es gern übernehmen. Eben so würde ich in dem Fache der praktischen und angewendeten Philosophie, mit Inbegrif der sogenannten Aesthetik und der Theorie der Sprache gem Einiges arbeiten, auch bisweilen etwas philologisches, wenn meine Studien mich eben darauf hinführen, eine kritische Schrift oder ein ausgezeichnetes Werk aus der prosaischen schönen Litteratur übernehmen. " (SN 757, Bl. 1 r-v) Schleiermacher hatte am 21. April 1801 Werke von Adelung, Ast, Lichtenberg, Meiners und Schlegel vorgeschlagen. Darauf antwortete Mehmel am I.Mai 1801: „Diese Werke sind mit Vergnügen Ihrer Beurtheilung überlassen und ich werde mit großer Sehnsucht den Erstlingen Ihrer thätigen Theilnahme an unserm Institute entgegensehen." (SN 329, Bl. 1 r-v) Vgl. unten CVI-CX 29 Vgl. unten CX-CXIII Vgl. unten CXIIIf 31 Vgl. unten CXVIIf Vgl. unten CXVIII-CXX Nach seinem ersten Vorschlag vom 21. April 1801 bestätigte Schleiermacher noch einmal im Juli 1801 seine Rezensionspläne zu „Adelung und Meiners" (SN 757, Bl.4r). Vgl. unten 283,14-284,4. 284,11-286,2. 288,16-289,13. 290,5-291,13. 299,21-300,3
XII
Einleitung des Bandherausgebers
1801 seinerseits um zwei Rezensionen: zum einen um eine Beurteilung der Eschenburgschen und der Schlegelschen Shakespeare-Übersetzung, zum anderen um eine Kritik von Pörschkes „ lieber Shakspeare's Macbeth"?* Mit diesen beiden Rezensionswünschen Mehmels verfuhr Schleiermacher zunächst im September 1801 dilatorisch. In verbindlicher Weise machte er aus seinem Widerstreben kaum ein Hehl und wies auf das Hemmnis der Buchbeschaffung hin?b Doch Mehmel wiederholte im Januar 1802 seinen Rezensionswunsch.ib Am 2 7. März 1802 willigte Schleiermacher für den Fall, daß Tieck absage, in eine Rezension der Eschenburgschen und der Schlegelschen Shakespeare- Übersetzung ein. Er bot sich außerdem an, F. Schlegels gereimtes Trauerspiel„Alarcos" und Hardenbergs Roman „Heinrich von Ofterdindingen" zu beurteilen.i7 Alle diese Vorhaben wurden nicht realisiert bzw.
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Vgl. Mehmels Brief vom 12. August 1801 an Schleiermacher: „Schreiben Sie es dieser Kritik [sc. der Schillerschen ,Macbeth'-ÜbersetzungJ zu, daß ich schon wieder mit einer Bitte komme; sie betrift den Shakespear von Eschenburg und Schlegel! Zwey Rezensionen habe ich schon kassirt, weil es heiliger Entschluß ist, nur ein Meisterstük hierüber abdrukken zu lassen. Sie sind der Mann, von dem ich so etwas erwarten darf. Helfen Sie mir das Geschwäz des Pöbels niederschlagen durch eine Kritik, die den Triumph des Genies, des Scharfsinns der Tiefe und Gerechtigkeit nicht verfehlen kann." (SN 329, Bl. 3 r) Seine Bitte um die Pörschke-Rezension fugte Mehmel in einem Postscriptum an.
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Vgl. Schleiermachers Brief vom September 1801 an Mehmel: „Ihre Zumuthung die beiden Uebersezungen des Shakespeare zu recensiren verursacht mir einige Beklemungen. Ich fühle in der That nicht bestimmt ob meine Kräfte dazu hinreichen und noch weniger sehe ich ab, wie sich ein solches Studium, als ich dazu noch machen müßte, mit meinen übrigen für diesen Winter berechneten Arbeiten vertragen soll. Können Sie mich dessen überheben, so erzeigen Sie mir in der That einen großen Gefallen, und ich hoffe, wenn Sie nur den ganzen Kreis Ihrer Mitarbeiter noch einmal mustern, finden Sie wohl einen bessern als mich. Als einen solchen würde ich Ihnen unbedenklich Tieck vorschlagen wenn nur darauf zu rechnen wäre daß er etwas Versprochenes auch wirklich fertig macht. Der Pörschke ist eine Kleinigkeit die sich wohl wird sehr kurz abfertigen lassen, und die ich gem acceptire. Indeß muß ich Sie bitten mich anzuweisen, wie ich zu diesem und andern Büchern, die Sie mir etwa vorschlagen werden, und die ich nicht selbst besize, gelangen soll. Dasselbe würde, falls Sie doch bei mir stehen bleiben müssen mit der neuen Eschenburgschen Uebersezung der Fall sein. " (SN 7W, Bl.3 r-v)
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Vgl. Mehmels Brief vom 20. Januar 1802 an Schleiermacher: „Es thut mir sehr wehe, daß Sie abgeneigt sind, die Kritik von Schlegels und Eschenburgs Shakesp[eare] zu übernehmen. Ich habe an Tiek geschrieben; sollte er meiner Bitte nicht entsprechen, so kann ich unmöglich umhin noch einmahl vor Ihrem Herzen anzuklopfen." (SN 329, Bl. 5 rj Schleiermachers Brief vom 27. März 1802 ist nicht mehr vorhanden, kann aber in seinem Inhalt teilweise erschlossen werden. Mehmel begann seinen Antwortbrief vom 24. April 1802: „Ihr Brief vom 27. März, sehr Verehrter Freund, ist ein geliebter Bote des Friedens für mich gewesen! Möge der Genius Ihnen das Anerbieten lohnen, die Kritik über Schlegels Alarcos und Heinrich von Ofterdingen zu übernehmen! Ich freue mich darauf, wie man sich nur auf eine Göttergabe freut. Sie werden hoffentlich bey dem Schlegelschen Gedichte Gelegenheit finden, seinem Verfaßer eine erschöpfende Genugthuung zu verschaffen, und das Allerheiligste der Poesie selbst zum Anstaunen der Geweihten zu bringen! Ihre Theilnahme im Gebiete der Philosophie ist mir ebenfalls höchst willkommen. Schelling und Hegel hören zwar nicht auf Beyträge zu liefern, aber werden doch durch die kritische Tendenz ihres
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Historische
Einführung
XIII
kamen nicht mehr zur Publikation, auch wenn sie ganz oder fast ganz ausgearbeitet waren}6 Die im November 1800 von Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1765-1837) brieflich angeknüpfte Verbindung eröffnete Schleiermacher den Zugang zu hessischen Zeitschriften, fur die er 1801/02 zwei Beiträge lieferte und weitaus mehr liefern wollte. Die „Allgemeine Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur" druckte im November 1801 seine Rezension von Joachim Heinrich Campes Schrift „Historisches Bilderbüchlein".39 Am 10. Oktober 1801 lieferte Schleiermacher außer der Campe-Rezension noch eine kleine Arbeit für die von Justus Balthasar Müller herausgegebene Zeitschrift „Praktisches Journal für Prediger und Predigergeschäfte" an Schwarz.™ Diese Veröffentlichung Schleiermachers
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" 40
Journals in ihrer Bereitwilligkeit fur unsere Litteratur Zeitung zu arbeiten sehr beschränkt. Sie werden mich sehr verbinden, wenn Sie Schulze über seine Kritik der theoretischen Philosophie den Staar von Grund aus stechen wollen!" (SN 329, Bl. 7r-v) Ein Antwortbrief Schleiermachers ist nicht vorhanden. Vgl. auch Briefe an Willich 37f. 41f Vgl. Mehmels Brief vom 3. Juli 1802 an Schleiermacher: „Ich habe Ihnen eine Nachricht zu geben, Theuerster Freund, die Ihnen vielleicht eben so unerwartet als unangenehm ist. Unsere Litteratur Zeitung hat mit dem Monat Junius aufgehört. Die Veranlassung dazu war der geringe Absatz den sie im Ganzen fand. [...] Es thut mir unendlich Leid, daß Ihr Amtswechsel Sie außer Stand sezte die Kritik über den Alarcos und Ofterdingen frühzeitig genug zum Drukke zu vollenden, um sie noch durch unsere Zeitung ins Publikum zu bringen. Herr Walther [sc. der Verleger der ,Litteratur-Zeitung'], um die Stimme in Diesem nicht ganz zu verlieren giebt unter der Direktion des Professors Ortlof (eines Mannes von wahrer Gelehrsamkeit, von Geist und Kraft) ein Magazin der Kunst und Wissenschaft heraus. Verleger und Herausgeber bitten Sie, beide Recensionen fur das erste Stük des Magazins welches zu Michaeli erscheint, auszuarbeiten. Es wäre Versündigung an allen guten Geistern, wenn nicht ein geweihtes Wort über beide Produkte gesagt würde, bevor die Jenaer darüber nicolaisiren." (SN 329, Bl. 9r-v) Über diesen Brief berichtet Schleiermacher Eleonore Grunow am 19. Juli 1802: Mehmel„meldet mir das im vorigen Monat erfolgte Ende der Erlanger Literatur-Zeitung. Es ist nothwendig, daß solche Anstalten, in denen bei allem guten Willen (wenn man es mit dem Worte so genau nicht nimmt) doch keine rechte Kraft ist, untergehen, dagegen die anderen, die eine schlechte Tendenz haben, aber dafiir mit einer gewissen Geschicklichkeit und Virtuosität geführt werden, wohl verdienen zu bestehen. Mein Leidwesen über das nicht zu Stande gekommensein unsrer Annalen erneuert sich bei dieser Gelegenheit mit großer Lebhaftigkeit. Ich bin sehr überzeugt, daß die Kritik in keinen bessern Händen hätte sein können, als in Wilhelm's und meinen, und früher oder später wird doch so etwas geschehen müssen. Daß ich nun eine ganz fertige und eine beinahe fertige und eine angefangene Recension übrig behalte, ist mir das unangenehmste." (Briefe 1,307) Ganz fertig war vermutlich die Rezension von F. Schlegels „Alarcos" (vgl. Briefe 1,297f; 3,312f. 320. 330f. 343. 408), angefangen wohl die von Hardenbergs „Heinrich von Ofterdingen" (vgl. Briefe 1,291.309f; 3,309). Schleiermachers Manuskripte dieser Rezensionen liegen nicht mehr vor. Vielleicht hatte er sie an Willich geschickt (vgl. Briefe an Willich 46). Vgl. unten CXVf Vgl. dazu: „Sie erhalten nun hiebei für das Journal der Prediger-Arbeiten einen vielleicht des Gegenstandes wegen nicht unmerkwürdigen Vortrag" (Briefwechsel mit Friedrich Heinrich Christian Schwarz, edd. H.Mulert/H. Meisner, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 5J, Stuttgart 1934, S. 255-294; hier 272f).
XIV
Einleitung des Bandherausgebers
konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Die 1800-1803 in Gießen in der Kriegerschen Buchhandlung publizierte Zeitschrift, die den Nebentitel „Beyträge zur Beförderung zweckmäßiger Predigten, Katechisationen, Liturgieen, Unterhaltungen mit Kranken etc." hat, ist nur fragmentarisch überliefert.41 Durch Publikationshemmnisse ist Schleiermachers gelieferter Beitrag vielleicht nicht mehr zum Abdruck gekommen.*1 Zwei weitere Publikationsvorhaben für die „Allgemeine Bibliothek" gelangten nicht über das Stadium der Planung bzw. der Materialaufbereitung hinaus. Zunächst kündigte Schleiermacher am 28. März 1801 einen Aufsatz „über das Predigen in technischer Hinsicht"** an. Dieser Aufsatz, auf den sich auch Notat Nr. 22 im fünften Gedanken-Heft bezieht, wurde aber nicht ausgearbeitet.u Sodann stellte er Schwarz am 10. Oktober 1801 mit Übersendung der Campe-Rezension eine weitere Rezension in Aussicht: „Sobald ich dazu kommen kann, möchte ich Ihnen gem eine Rezension von Tellers Zeichen der Zeit und den darübergeschriebenen Briefen eines ostpreußischen Landpredigers zuschicken, um dabei vielleicht etwas ausfuhrlich meine Meinung über das, was dem geistlichen Stande nottut, zu sagen. "45 Dieses Rezensionsvorhaben, das seinen Niederschlag auch in den Notaten Nr. 75. 77-79 des fünften Gedanken-Heftes gefunden hat, die vom Januar oder Februar 1802 stammen, trieb Schleiermacher weit voran, brachte es aber nicht zum Abschluß.46 Im Februar 1802 bekundete er außerdem seine Absicht, für die Erlanger „Litteratur-Zeitung" die Schwarzsche 41
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Von den vier Stücken des ersten Bandes Gießen 1800-1801 konnte nur Stück 1 in der Landeskirchlichen Bibliothek Düsseldorf und Stück 3 in der Universitätsbibliothek ErlangenNümberg, von den zwei Stücken des zweiten Bandes Gießen 1802-1803 nur Stück 1 in der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg ermittelt werden. In den erhaltenen Stücken ist Schleiermacher nicht vertreten. Schwarz berichtete Schleiermacher im November oder Dezember 1801: „Der Aufsatz für das praktische Journal von Müller wird vermutlich jetzt abgedruckt. Ich soll Ihnen den Dank des Herausgebers versichern und die Bitte um mehrere Beiträge. Der Verleger wird Ihnen in Leipzig das Honorar besorgen; ich bitte Sie nur, mich eine Anweisung dorthin wissen zu lassen. Der Setzer ist nicht so ganz mit Ihnen zufrieden wegen der feinen Schrift; ich wünsche, daß nicht auch Ihre Augen darüber unzufrieden sind." (Briefwechsel mit Schwarz 276) Am 10. Oktober 1801 ging Schleiermacher noch auf ein weiteres Publikationsvorhaben ein: „Dann schicke ich Ihnen auch wohl ein paar kurze und passende Vorträge für das Magazin von Wochenpredigten." (Briefwechsel mit Schwarz 273) Dazu ist er wohl nicht gekommen. Briefwechsel mit Schwarz 264 Vgl. Briefwechsel mit Schwarz 279. 281 Briefwechsel mit Schwarz 273 Im Februar 1802 schrieb Schleiermacher an Schwarz: „Der Aufsatz über Tellers Zeichen der Zeit liegt schon fast beendigt in meinem Pult; ich habe nur noch nicht dazu kommen können, die letzte Hand daran zu legen. Dies sowohl als mein Stillschweigen hat eine sehr angenehme Ursache gehabt, und ich mute allen Freunden, auch denen, die unter diesem Ereignis gelitten haben, zu, sich darüber zu freuen. Ich habe nämlich den Dezember und Januar hindurch Friedrich Schlegel bei mir gehabt." (Briefwechsel mit Schwarz 279) Schleiermacher hat diese Rezension nicht vollendet; die Rohfassung ist verlorengegangen.
Historische Einführung
XV
„Erziehungslehre" (Bd 1. Die Bestimmung des Menschen. In Briefen an erziehende Frauen) gleich nach dem Erscheinen zu besprechen." Schleiermachers Wechsel nach Stolpe, die Einstellung der Erlanger „Litteratur-Zeitung " und das Abbrechen des Briefkontakts mit Schwarz ließen dieses Vorhaben nicht über die Absichtserklärung hinauskommen.48
Schleiermachers Manuskripte
und Schriften der Jahre
1800-1802
1. Monologen. Eine Neujahrsgabe Anfang Januar 1800 veröffentlichte Schleiermacher anonym seine Schrift „Monologen. Eine Neujahrsgabe". Vermutlich um die Anonymität des Autors zu sichern, ist auf dem Titelblatt der Name des Berliner Buchdruckers Christian Sigismund Spener (1753-1813) und nicht der des Verlegers aufgeführt. Die Verlagsverhandlungen führte Schleiermacher mit Johann Carl Philipp Spener (1749-1827)49, dem älteren Bruder des gleichnamigen Buchdruckers. Spener zahlte Schleiermacher für die „Monologen" kein Honorar50 Die Schrift hat einen Umfang von 155 Seiten. Die jeweils mit 22 Zeilen bedruckten Duodezseiten sind 16 cm hoch und 8,9 cm breit. Die 24 Seiten starken Druckbogen sind durch Großbuchstaben Α bis G gezählt. Ein Inhaltsverzeichnis, das die „Darbietung"51 und die fünf Kapitelüberschriften „I. Die Reflexion.„II. Prüfungen.„III. Weltansicht."5*, „IV. Aus5S 56 sicht. " , „ V. Jugend und Alter." auffuhren würde, fehlt. Von den Druckseiten 87-99 (Schluß des 3. Monologs) hat sich das Manuskript, das als Druckvorlage diente, erhalten. Es befindet sich jetzt in der Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Vamhagen. Es umfaßt 2 Blätter von 20,9cm Höhe und 17,1 cm Breite: Abweichungen dieses Manuskripts gegenüber der Druckfassung sind jeweils im textkritischen Apparat notiert. Thematische Motive lassen sich bis Sommer 1798 zurückverfolgen. Sie finden sich vereinzelt im ersten Gedanken-Heft „ Vermischte Gedanken und Einfälle"57, in reicher Zahl im dritten Gedanken-Heft58. Während die mei47
" 50
" " 55 57
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48 Vgl. Briefwechsel mit Schwarz 281/ Vgl. Briefe 1,313.322.336 Vgl. Weidling: Dreihundert Jahre. Die Haude & Spenersche Buchhandlung in Berlin 1614-1914, Berlin 1914, S. 42-56 Vgl. Briefe 3,351 52 Unten 5,1 Unten 6,1 f M Unten 15,1 f Unten 28, l f Unten 41,1 f " Unten 53,1 f Vgl. Gedanken I, Nr. 3 (KGA 1/2, 4,1-4), Nr. 7 (KGA 1/2, 7,25-8,3), Nr. 134f(KGA 1/2, 32,5-10), Nr. 138 (KGA 1/2, 32,16f), Nr. 170 (KGA 1/2, 38,15-17) Vgl. Gedanken III, Nr. 26 (KGA 1/2, 125,13-17), Nr. 29 (KGA 1/2, 126,4f), Nr. 31-40 (KGA 1/2, 126,15-128, 4)
XVI
Einleitung
des
Bandherausgebers
sten Gedankensplitter Einzelüberlegungen sind, die in den Gedankengang der „Monologen" eingewoben worden sind, geben die beiden Notate Nr. 34 und 35 im dritten Gedanken-Heft die Konturen der Gesamtidee an. In Nr. 34 wird das Verhältnis der „Monologen " zu den Reden „ Uber die Religion" angedeutet: „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe; darum ist jede Reflexion unendlich. "59 Notat Nr. 35 grenzt sich gegen eine Philosophie ab, die sich durch Abstraktion konstituiert und die in der Trennung von Reflexion und Leben sich selbst apart vom Leben setzt. Hier leuchtet indirekt die methodisch-kategoriale Grundidee der „Monologen " auf: „Es ist die Beschränktheit der Philosophie beides zu trennen ihr Leben ist todt ohne Reflexion und ihre Philosophie ist ein lebloses Gemälde wenn sie erst das Licht des Lebens verlöschen müßen um durch den engen Raum der Abstraktion ihr inneres abzubilden. "b0 Schleiermacher will in der Selbstanschauung61 gerade die Einheit von Reflexion und Leben erlangen, er will in den „Monologen" ein lebendiges Gemälde seiner im Sinne einer gebildeten Individualität exemplarisch genommenen geistig-sittlichen Lebendigkeit vorstellen. Daß Schleiermacher die „Monologen " zusammen mit den Reden „ Über die Religion " gleichsam als deren Zwilling geplant hat, ist unwahrscheinlich. Eher könnte die zunächst teilweise zurückhaltende Aufnahme der „Reden" ihn bewogen haben, eine andere literarische Gattung zu wählen und wichtige Themen, die in den „Reden" nur angeschnitten sind, breiter zu entfalten. Eine briefliche Anregung, die Friedrich Schlegel im Oktober 1799 gab, könnte in dieser Richtung gedeutet werden: „Du siehst nun also, daß Du mit den eigentlichen Philosophen [sc. Goethe, Fichte, Schelling] (Hülsen geht immer mehr über die Philosophie hinaus; den rechne ich also nicht) durch die Reden nicht en rapport kommen kannst. Das thut auch gar nichts; da Du es aber doch wohl überhaupt wollen wirst, so wäre es ein Motiv, das über Spinoza oder auch das über die Grenzen der Philosophie recht bald zu schreiben. Vielleicht würde auch dieses letzte nicht zu lang fur's Athenäum. "" Die „Monologen" die sich ja auf der Grenze von wissenschaftlicher Philosophie und persönlich-individuellem Leben bewegen, die diese beiden Bereiche zu vermitteln versuchen in gegenseitiger Durchdringung zu einer konkreten Allgemeinheit, könnten das Projekt sein, über das sich Schleiermacher offensichtlich schon einmal geäußert hatte und dessen Ausarbeitung Schlegel ihm hier als zweites empfahl.
" KG Α in, 127, 6f KGA in, 127,8-11
60 61
62
Der Begriff der Selbstanschauung begegnet schon ganz selbstverständlich im Sommer 1798 von Seiten Friedrich Schlegels zur Kennzeichnung der eigenen Ideenartikulation, die allererst Kritik anderer ermöglicht (vgl. Briefe 3,83). Briefe 3,126/
Historische
XVII
Einführung
Schleiermacher hat die „Monologen " sehr schnell konzipiert und niedergeschrieben. Am 16. September 1802 erinnerte er sich brieflich gegenüber Henriette Herz an die Entstehung des Werks: „Nichts ist mir so unvermuthet entstanden. Als ich die Idee faßte, wollte ich eigentlich etwas ganz objektives machen, nicht ohne viel Polemik, und das subjektive sollte nur die Einkleidung sein. Aber im Entwerfen des Plans wuchs mir das subjective so über den Kopf, daß auf einmal die Sache, wie sie jezt ist, vor mir stand. Die Polemik ist nur als Stimmung hie und da übrig, und das objektive liegt ziemlich versteckt nurfur den Kenner da. Solche aber, welche das subjektive nicht recht verstehen, verweise ich noch immer auf das objective, und sie mögen sich jenes, wie es ihnen ursprünglich zugedacht war, nur als Einkleidung nehmen."" Dieses Selbstzeugnis läßt den Sachverhalt erklärlich werden, daß die „Monologen" sich dem interpretatorischen Zugang sperren und abweisend zeigen. Dem Konzeptionswandel entspricht eine gewisse Vielstimmigkeit in den Selbstcharakterisierungen des Werks durch Schleiermacher. So betonte er einerseits die Absichtslosigkeit und kunstlose Spontaneität seiner Produktion (im Sommer 1801 gegenüber Ehrenfried von Willich): „Aber ich lobe mich darum, daß ich sie geschrieben habe; es war eine unbezwingliche Sehnsucht mich auszusprechen, so ganz in's Blaue hinein, ohne Absicht, ohne den mindesten Gedanken einer Wirkung, und ich habe mir oft gesagt, es wäre eine Thorheit gewesen - aber da ich mich für einen Thoren hielt, bin ich weise geworden. "M So legte er aber andererseits gerade auf die stilistische Ausarbeitung großen Wert: die „Monologen" waren ihm „ein lyrischer Extract aus einem permanenten Tagebuch"6*. Aus den Briefen Schleiermachers an den Verleger Johann Carl Philipp Spener, die bisher nur teilweise publiziert sindbb, läßt sich der Entstehungsprozeß ziemlich genau erheben. Anfang November 1799 hatte Schleiermacher vermutlich seinen Plan geäußert. „Das ist wirklich sehr menschenfreundlich, daß Sie so auf meine Ruhe bedacht sind, und sehr schön, daß Sie so gutes Zutrauen haben. Auch bewegt sich's jezt schon auf dem Papier, und muß also schon lange im Herzen bewegt sein. Was ich Ihnen vorläufig davon sagen kann, ist folgendes. Es soll ein Beitrag sein die Denkungsart darzustellen, die durch die Spekulation entsteht, wobei also diese nicht sowol selbst vorkommt, als vielmehr vorausgesetzt wird. Der Form nach sind es Monologen, also keine Art von Schul- oder Lehrton, sondern Betrachtungen, die Jedermann anstellt, nur in jenem Charakter. Als Publikum denke ich mir also Alle, die sich für die Frage vom Einfluß der Spekulation auf irgend eine Art interessiren, und will so verständlich und gut schreiben, als " 64 65 66
Briefe 1,338 Briefe 1,277f Briefe 4,64 Vgl. Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, ed. H.Mulert,
Berlin/Leipzig
1934, S. 82-84
XVIII
Einleitung
des
Bandherausgebers
ich kann. - Ein kleines Format möchte ich vorziehn, weil es leichter aussieht und doch etwas mehr Körper gieht. "b? In seinem nur erschließbaren Antwortbrief muß Spener auf eine genauere Projektskizze gedrängt haben. Am 8. November 1799 schrieb daraufhin Schleiermacher an Spener: „Freilich haben Sie großes Recht, und Sie sollen auch nicht lange sizen und harren. Meine Rechnung ist kurz diese. Den 21. hujus denke ich ganz fertig zu sein. Vorher kann ich Ihnen Manuskript nur stükweise schiken, und weiß nicht wieviel Sie auf einmal haben müßen um Zwei Sezer zu beschäftigen. Das erste bekommen Sie Montag. Es würde schon Morgen geschehen wenn ich nicht auch einen Abschreiber nehmen müßte, um nicht von den geistlichen Herren, denen ich doch in die Hände falle bei der Censur erkannt zu werden wie es mir einmal zu meinem großen Schaden ergangen ist. "68 Wegen der Zensur bemühte Schleiermacher einen Abschreiber, um die Anonymität sicherzustellen. Am 13. November schrieb er: „Laßen Sie mich doch wißen ob Göttel die Censur angenommen hat so kann ich für die lezte Hälfte wenigstens das Kreuz mit dem Abschreiber sparen der mich sehr genirt." Die Reinschrift des Abschreibers ging über den Verleger an den Zensor (dieses Amt fiel an Zöllner), um dann mit dessen Druckgenehmigung zum Setzer zu gelangen. Die geplante Fertigstellung an Schleiermachers Geburtstag (21. November) gelang nicht. Doch war die Ausarbeitung schon fortgeschritten. Schleiermacher begutachtete an diesem Tag bereits Druckproben für die Entscheidungen über Format und Ausstattung. „Ob 8 oder Gr. 12 ist mir völlig gleich, und die Probe gefällt mir sehr gut. Nur daß sie mir für meine Person noch beßer gefallen würde, wenn die Kolumnen nicht höher und breiter würden. Doch ist das nur meine närrische Liebhaberei für einen großen Rand die also billig jeder andern Rüksicht nachsteht. Dann erbitte ich mir aber noch volle Freiheit für meine orthographischen Grillen und füge deshalb inliegenden Zettel an den Sezer bei damit er ihn noch zu rechter Zeit bekomme. Das Heften hat auch meinen Beifall. Ich hoffe daß Sie Heute noch die dritte Lieferung erhalten: ich bin am 4. Monolog." Am 24. November beklagte Schleiermacher ein plötzlich aufgetauchtes Hemmnis, das die Drucklegung verzögerte: „Es ist mir höchst fatal, daß der Abschreiber mich nun schon seit 4 Tagen hat sizen laßen grade mit den zwei lezten Blättern des dritten Monologs, und heute kommt er auch nicht. Ich fürchte das könnte uns am Ende zur Unrechten Zeit aufhalten. Wißen Sie etwa einen, der für die nächsten Tage zu haben wäre, so haben Sie doch die 67 68
SN 771, Bl.Hr+v Die Briefe Schleiermachers an Spener vom 8., 13., 21. und 29. November, vom 2. und 25. Dezember 1799 sowie ein undatierter Brief vom Dezember 1799 werden im Original in der Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Vamhagen, in Abschrift im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR (SN 771, Bl. 18.19. 20. 23. 24.32. 7) aufiewahrt.
XIX
Historische Einführung
Barmherzigkeit mir ihn zwischen 4 und 5 Uhr; denn eher oder später bin ich nicht zu Hause, oder wenn das nicht sein kann, Morgen ganz früh zu schicken, damit ich die Monologen einmal los werde, und mit dem Dichter sagen kann:,nun hab'ich es beschloßen, nun geht's mich nichts mehr an.'"69 Spener konnte Schleiermacher helfen, allerdings wohl ohne dessen Terminwunsch erfüllen zu können. Deshalb lieferte Schleiermacher seine beiden Manuskriptblätter direkt an den Verleger, der sie abschreiben lassen wollte. „Hier schike ich Ihrem Manne zur Probe den Rest des dritten Monologs; aber freilich eine schrekliche Frohn ists diese kleinen Buchstaben abzuschreiben. Könnten Sie nicht mit Zöllner das Abkommen treffen daß Sie ihm das Uebrige aus der Drukerei erst zur Censur schiken wollten, was ja oft genug geschieht? Dann sparten wir die ganze Operation."™ Diese beigefügten Manuskriptblätter mit dem Schluß des dritten Monologs sind als Briefanlage erhalten geblieben. Vermutlich ließ Spener sie sich von seinem Abschreiber zurückgeben. Ob das angeregte Zensurverfahren zur Anwendung kam, läßt sich nicht ermitteln. Am 26. November kündigte Schleiermacher den vierten Monolog für den folgenden Tag an: „Können Sie mir noch nichts vom Druck der Monologen sagen? Den 4. erhalten Sie Morgen früh. Ich war gestern und bin heute noch beschäftiget ihn in etwas größere Lettern und mit weniger Marginal Flickereien umzuschreiben. Denn so wie er war, konnte ich keinem andern als meinem bezahlten Abschreiber zumuthen, ihn zu lesen. Ich würde es mit dem Ende des 3. auch schon so gemacht haben, wenn ich nicht glaubte, Sie hätten Eile damit. Nun aber, dächte ich, könnten Sie es immer treiben mit so viel Sezern Sie wollen; der fünfte Monolog kann Sie nicht mehr aufhalten. "71 Am 29. November war die Niederschrift schon so weit fortgeschritten, daß über eine werbewirksame Anzeige nachgedacht wurde. Die entsprechende Verlegeranfrage nach deren Autor brachte Schleiermacher in Verlegenheit. „Einen Anzeiger für die Monologen weiß ich Ihnen wirklich nicht vorzuschlagen, nicht aus Mangel sondern aus Ueberfluß. Es ist mir Jeder gleich der nur nicht so verseßen auf eine philosophische Partei ist daß er sie wegwirft weil ein ander System als seines zum Grunde liegt. Mit Herz den Sie in Gedanken hatten, wäre das übrigens gerade der Fall. Hätte ich auch einen besonders in petto so hülfe es doch nicht, wenn er nicht auch von Ihnen gekannt wäre, da von mir Niemand etwas wißen soll. Das lezte Manuskript schicke ich Ihnen Morgen; meine Korrekturen erstreken sich bis dato nur noch auf den ersten Bogen. Auf dem Titel steht kein , Verlegt' sondern ein ,Gedrukt'. Das ist doch Ihre Ordre?" Am 2. Dezember sandte er die letzten Manuskriptblätter an den Verleger. Zugleich war das Korrekturlesen durch Verleger und Autor schon im 69 70 71
SN 771, Bl. 21 r Biblioteka Jagiellonska, SN 771, Bl.22r+v
Krakow,
Sammlung
Varnhagen.
Der Brief ist
undatiert.
XX
Einleitung
des
Bandherausgebers
Gange. „Hier das Ende. In Ihrem Bogen habe ich nur 2 Striche gefunden, die sich auf mich bezögen. Das eine war einer von den Druckfehlern, die der Verfaßer gar leicht übersieht, und die den Leser sehr confus machen können; das Andere eine Versezung von 12 Zeilen, die ich auch schon in der Correctur notirt hatte." Am 4. und 5. Dezember 1799 handeln Schleiermachers Briefe an Spener bereits vom größeren literarischen Projekt der australischen Siedlungsgeschichte, in das die „Monologen " nur zwischeneingekommen waren, und von Ausstattungsfragen: „Das ist eine gar schöne und dankenswerthe Idee mit dem Velin Papier! und Sie haben gar nicht einmal gewußt, wie ich darauf verseßen bin!"71 Nachdem offensichtlich niemand anderer für eine Anzeige gewonnen werden konnte, verfaßte Schleiermacher zu Werbezwecken eine Selbstanzeige seines Werkes, die er Spener zustellte. „Hier haben Sie die Anzeige; machen Sie nun damit was Sie wollen. Wenn sie Ihnen zu lang ist, wird sich wol hie und da etwas wegschneiden laßen." Der Verleger äußerte wohl Bedenken. Diese versuchte Schleiermacher am 25. Dezember 1799 zu zerstreuen, indem er noch einmal seine „Monologen" und deren Anzeige charakterisierte: „ Was wollen Sie, lieber Freund, daß ein Mensch von seinem eignen Machwerk beßeres sage als in der Anzeige geschehen ist? Liegt nicht mit klaren Worten darin 1.) daß die Monologen etwas anderes enthalten als was etwa jeder Fichtianer vorzubringen pflegt 2.) daß sie gegen alle Parteien angehn und also etwas eigentümliches sein müßen 3.) daß sie sich auf ihre Art mit wichtigen praktischen Gegenständen beschäftigen, und bezeichnet sie nicht dies Alles, und der ganze Ton als ein interessantes Produktt Dies ist aber doch die Hauptsache: denn das keiner Parthei recht sein halte ich, auch in Rüksicht auf den Absaz fur keine üble Eigenschaft. Meinen Sie daß dies Alles in einer Anzeige etwas stärker ausgedrükt sein muß, so machen Sie es wie mirs Buttmann mit einer Anzeige von der Uebersezung des Fawcett gemacht hat, und thun Sie ex propriis hinzu wie es Ihnen am zwekdienstlichsten scheint. Auf Berlin rechne ich übrigens auch nicht sehr; allein Sie haben ja auch von Memel bis Strasburg gerechnet, und in diesem großen Gebiet der deutschen Litteratur wird sich hoffentlich die kleine Auflage wol vertreiben." Die Verkaufschancen wurden offensichtlich schon vor Publikation vom Verleger als gering eingeschätzt. Da Spener sich von der ersten Selbstanzeige nicht überzeugen ließ, schickte ihm Schleiermacher am 27. Dezember 1799 eine neue Fassung. „ Was thut nicht ein Vater für sein Kind. Hier haben Sie eine andere Anzeige, die Ihnen vielleicht weniger mißfällt, ob sie gleich im Grunde dasselbe sagt, nur daß hier in den Zeilen steht was dort, wie Galiani es nennt, zwischen den Zeilen stand und umgekehrt. "7i Am 28. Dezember 1799 zeigte sich Schleiermacher darüber enttäuscht, daß n 75
SN 771, Bl. 26 r Universitätsbibliothek
Kopenhagen, Signatur Palsbo Ac
Historische Einfiihrung
XXI
Spener auch die zweite Fassung der Selbstanzeige nicht akzeptierte. „ Verstehe ich Sie recht: statuiren Sie die zweite Anzeige des interlinearischen Inhaltes wegen auch nicht? Die Klarheit hindert er wol eigentlich nicht, und ich denke Sie werden in jeder Anzeige einen finden. Aber haben Sie nicht in meine arglose Citation des Galiani, die gar keinen hatte, einen hineingetragen?"7* Schleiermachers Selbstanzeige wurde nicht publiziert. Anfang Januar 1800 erschienen die „Monologen", gleichzeitig mit Fichtes populärer Druckschrift „Die Bestimmung des Menschen", zu der sie konzeptionell in höchst markanter Konkurrenz stehen. Über die Aufnahme der „Monologen" im frühromantischen Freundesund Bekanntenkreis, den Schleiermacher durch Autorenexemplare mit seinem Werk bekannt machte, gibt sein Briefwechsel nähere Auskunft. Am 26. Januar 1800 bereits dankte August Ludwig Hülsen (1765-1809) für das Geschenk und verband mit dem Dank eine Beurteilung des Werks: „Ihre Monologen sind nicht zuverkennen als das, was sie sind, und ich brauche es Ihnen nicht erst zusagen, mit welchem Wohlgefallen ich Ihnen zu hörte. Gewissermaßen sind sie allerdings ein Gegenstück von meinen Naturbetrachtungen, aber das gewissermaßen hebt die Zusammenstimmung doch nicht auf, so schneidend sie auch dem Anschein nach oft zu hören seyn möchte. Einen Ihrer Haupttöne kann ich nur nicht billigen, und auch in Ihnen nicht begreifen. Sie sind ein junger Mann, der nicht furchten darf von der Welt außer sich erdrückt zu werden; und doch schreiben Sie mit einer gewissen Bitterkeit und einem Unwillen, als ob Sie das Ewige nicht sähen, und sich hingegeben hätten in die Beschränkungen des Zufalls. Ich kenne das Gefühl, dieser Weltansicht wol, und habe viel mit ihm gekämpfi und ihm oft erliegen müssen. Aber bleiben kann es doch nicht, wenn wir bleiben sollen. Harmonie unserer Gefühle ist unser identisches Wesen, das wir suchen und wollen. Aber eben darum will ich jetzt es sehen und begreifen, weil im Gefühle meines Daseyns ich wirklich bin, und ich kann es wahrnehmen, so bald ich jede Affection wieder als die meinige betrachte. Ich wurde in der That bange, Sie würden mich in Ihrer Weltansicht noch bei Namen nennen, denn Sie wissen, wie ich schon anders wo einen ganz andern Gesichtspunkt gegeben habe. Mich dünkt, daß wir in unsern Klagen uns selbst hintergehen, sobald wir einmal den Widerstreit im Ideale begriffen und ihn zum Scheine gedeutet haben. Anders ist er einmal nichts, weil wir sonst unsre eigne Vernunft nicht festhalten und den Menschen begreifen könnten. Sie scheinen mir auch ein böses Prinzip anzunehmen, das, ich weiß nicht auf welche Art, radikal seyn soll. Aber der Erklährungsgrund des verworrnen Schauspiels des Lebens liegt uns ja so nahe. Vom Mittelpunkt aus ist Ordnung der Sphären, und jede Verwirrung ist gelöst, wenn wir diesen Standpunkt ergriffen. Ich glaube auch nicht, daß so harte Entgegensetzungen mehr 74
Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz
Berlin (West), Signatur Autogr. 1/1028
XXII
Einleitung
des
Bandherausgebers
als augenblicklich in uns seyn können. Es widerstrebt ihnen unser ganzes Wesen, und wir würden das Leben nicht ertragen können, das in sich selbst einen solchen Widerstreit enthielte. Aber was ich Ihnen sagen kann wissen Sie alles selbst; und Sie sollen mir nur erklähren, warum die freie Ansicht Ihr Gefühl nicht auch bestimmte. Ich finde es durchblicken in allen Ihren Monologen. Oft zwar dient es nur die Hauptansicht dadurch in das hellste Licht zu stellen, aber die Klage erscheint doch als der eigne Zustand Ihres Gemüths, und das eben wollte ich nicht gern. Ich sage Ihnen dies um so freimüthiger, da Ihre Monologen den gleichen Werth für mich behalten, und ich sie noch oft mit großem Vergnügen lesen werde. Es ist doch einmal nichts köstlicher, als den Menschen in seinem freien Eigenthume zu erblicken, und darin wird Niemand Sie verkennen, wer frei und eigen Sie beurtheilt. Der schöne und heitere Schluß hat mir recht wohlgethan. Ueberhaupt finde ich in Ihrer Aussicht recht trefliche Gedanken und wenn ich es sagen darf, ein immerwährendes Begegnen meiner eignen Gefühle. "7i Seinem Jugendfreund Karl Gustav von Brinckmann (1764-1847) gab Schleiermacher auch konzeptionelle Erläuterungen und rechtfertigende Näherbestimmungen. Am 4. Januar 1800 wollte er ihm ein druckfrisches Exemplar nach Paris schicken und schrieb über das soeben erschienene Werk: „Dieser Brief bringt Dir dagegen ein neueres kleines Product, das so eben erst in die Welt geht. Es ist ein Versuch, den philosophischen Standpunct, wie es die Idealisten nennen, in's Leben überzutragen, und den Charakter darzustellen, der nach meiner Idee dieser Philosophie entspricht. Zu diesem Zweck schien mir die Form, die ich gewählt, die beste zu seyn; indessen weissage ich mir freilich, daß ich gänzlich werde mißverstanden werden, weil weder der Idealismus, noch die wirkliche Welt, die ich mir doch auch warlich nicht nehmen lassen will, ausdrücklich und förmlich deducirt worden sind. Ich bitte Dich bei diesem kleinen Werkchen, welches - zu meiner Schande gestehe ich es - in nicht ganz 4 Wochen entstanden ist, mit der Sprache im Einzelnen nicht zu sehr zu kritteln, weil ich nicht Zeit gehabt habe, zu der Gelassenheit zu kommen, die zu dieser lezten Feile erfordert wird; wie sie Dich aber im Ganzen afficiren wird, möchte ich wol wissen. Laß Dich also hübsch darüber mit mir ein, und bedenke das doppelte Interesse, welches ich habe Deine Meinung zu wissen, weil Du es bist, und dann überhaupt einen verständigen Leser reden zu hören, deren ein armer Schriftsteller so wenige bekommt,"76 Doch Schleiermacher brachte diese Buchsendung damals nicht auf den Weg.77 Am 14. März 1800 mahnte 75
n 77
Hülsen/Vermehren/Weichart: Briefe an Friedrich Schleiermacher, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, Neue Folge 8, ed. H. Meisner, Berlin 1913, S. 16f Briefe 4,55 Vgl. Schleiermachers Brief vom 15. Februar 1800 an Brinckmann: „Daß Du von meinen Arbeiten nichts gesehen hast ist wol sehr natürlich: sie haben noch nicht einmal die kleine Tour in Deutschland gemacht, und es würde mich gar nicht wundern, wenn sie sie auch in
Historische Einführung
XXIII
Brinckmann, der damals gerade erst die Reden „ Über die Religion " bekommen und sie enthusiastisch gelobt hatte, die „Monologen" dringend an.™ Daraufhin schickte ihm Schleiermacher die „Monologen"am 22.März 1800 und ordnete sie in seine literarischen Projekte ein: „Deinem Wunsche gemäß schicke ich Dir mein zweites Kind, welches dem Tadel kluger Menschen, daß es ein mystischer Galimathias ist, leicht noch mehr ausgesezt sein dürfte als das erste; ich bitte Dich dabei nicht so wol auf das zu sehen, was darin steht, als vielmehr auf das blanc de l'ouvrage, auf die Voraussezungen, von denen dabei ausgegangen wird, und die ich, so Gott will, in ein Paar Jahren in einer Kritik der Moral und in einer Moral selbst auf andere Weise und schulgerecht darzulegen denke. Das principium individui ist das Mystischste im Gebiet der Philosophie und wo sich Alles so unmittelbar daran anknüpft, hat das Ganze allerdings ein mystisches Ansehen bekommen müssen. Du siehst aus diesen Andeutungen, daß ich es nicht bei dem bisher Geschriebenen bewenden zu lassen gedenke, sondern noch mehr Bücherkeime im Kopf habe. Am Ende muß ich doch daran denken, der Welt etwas zu thun. Dich möchte ich, aus diesem Gesichtspuncte, zum Druckenlassen gar nicht auffordern. Du hast eine große Menge von Freunden, und mit Deiner erstaunlichen Thätigkeit kannst Du auf sie alle einzeln wirken, und diese schönere Wirksamkeit müßte leiden, wenn Du Dich ex professo und anders als nur gelegentlich mit dem Bücherschreiben abgeben wolltest: ich hingegen habe der Freunde nur wenige, und noch dazu weder das Talent zu sprechen, noch Briefe zu schreiben, so daß auch sie am Ende Manches, was ich denke und glaube, nicht anders oder wenigstens nicht besser erfahren können als aus den Büchern, - und so bleibt mir nichts Anderes übrig als dieses. Denke nur nicht, daß sie alle in diesem Styl sein werden, und siehe die Reden und die Monologen nur so an, als wenn Jemand, der ein recht ordentliches Concert zu geben gedenkt, sich vorher, und ehe die Zuhörer recht versammelt sind, etwas auf seine eigne Hand fantasirt. "79 In seinem Antwortbrief vom 29. April 1800, der allerdings erst am 23. Mai abgeschickt wurde, teilte Brinckmann auch seine Beurteilung der „Monologen" mit: „Du siehst also, daß ich Deine Monologen lese und zwar Zukunft nicht machten. Ich wollte sie Dir mit meinem lezten Briefe schicken, weil ich glaubte, er würde mit einem Courier abgehen, es fand sich aber dazu damals keine Gelegenheit, und hernach kamen die Gerüchte von Deiner Abreise." (Briefe 4,58) 78
Vgl. Brinckmann: Briefe an Friedrich Schleiermacher, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, Neue Folge 6, edd. H.Meisner/E. Schmidt, Berlin 1912, S.23f
79
Briefe 4, 59f. Als Schleiermacher von Brinckmanns schmerzhafter Erkrankung erfuhr, verband er am 19. April 1800 mit seinen brieflichen Genesungswünschen und vielen Nachrichten auch die Bitte, die „Monologen" erst nach völliger Gesundung zu lesen: „so ein lyrischer Extract aus einem permanenten Tagebuch (denn so kommen sie mir vor) muß sehr um eine gute und selbstthätige Stunde bitten, wenn er gefallen soll. Es giebt tausend Ellipsen darin zu suppliren, und das könnte Dir - so viel besser Du es auch können wirst als die meisten, selbst von denen, die ich mir zu Lesern wünsche - leicht verdrießlich fallen. " (Briefe 4, 64)
XXIV
Einleitung des
Bandherausgebers
mit ausnehmendem Vergnügen. Sie sind für mich vielleicht um so anziehender, weil ich sie besser zu verstehen glaube, wie die meisten Deiner Leser, und weils überhaupt ein Freimauerbuch ist, das doch zunächst für die Eingeweihten geschrieben ist. Ich liebe es übrigens nicht parteiisch, weil es das Werk meines Freundes ist, sondern ich würde auch den unbekannten Verfasser lieben und zu meinem Freunde wünschen wegen des Eindrucks, den sein Buch auf mich macht. Die Prüfungen haben ein ganz vorzügliches Interesse für mich, weil sie eine meiner eigentümlichsten Ideen oder vielmehr die eigenthümlichste Geschichte meines inneren Selbst mir so schön verdeutlichen und so filosofisch entwickelten. Ich möchte Stundenlang hierüber mit Dir plaudern, und dies wird sich ja wol auch noch finden, wenn ich nicht die ewige Heimfahrt halten muß, wozu es denn doch alleweile keinen rechten Anschein hat. Die Eigenheit des Styls in diesen Monologen ist von dem in der Religion und in allen Deinen Briefen so verschieden, daß er mir sonderbar aufgefallen ist, und ganz Sprech' ich Dich von dem Vorwurf nicht frei, ihn unnöthiger Weise ein wenig verkünstelt zu haben. Ich wenigstens halte die Schreibart der Reden für weit klassischer. Aber daß die Monologen beinah sämtlich in Jamben geschrieben sind, und zwar so merkwürdig, daß man ganze Seiten mit der unbedeutendsten Veränderung skandiren kan, so wie mehrere Zeilen hinter einander ohne Versezung einer einzigen Sylbe; davon ist Dir selbst vielleicht gar nichts bewußt. Du wirst finden, dies sei mehr Krittelei als Kritik - indeß würde ich es nicht geduldet haben, wenn ich Dein Buch in der Handschrift gelesen hätte. Meinen Pedantismus in dieser Hinsicht hab' ich von den Alten gelernt, die ganz anders als wir die Eigentümlichkeiten des prosaischen Styls heilig hielten. Und doch bedarf unsere ungelenkige Sprache dieser Sorgfalt viel mehr. Wir können Rhythmus und Wohlklang nie leise genug belauschen, denn selbst bei unsern besten Schriftstellern ist er offenbar mehr Instinkt als Studium, und daher wird die lieblichste Musik bei ihnen so oft durch schreiende Mistöne gestört. "80 Brinckmanns kritische Würdigung der „Monologen" veranlaßte Schleiermacher am 27.Mai 1800 in einem Antwortbrief, noch einmal ausführlich seine Konzeption von Stil und Rhythmus zu erläutern, nachdem er zunächst auf die Rezeption, die den „Monologen " in seinem Freundes- und Bekanntenkreis zuteil geworden war, beiläufig eingegangen war. „ Ueber den Styl hätte ich Lust recht viel mit Dir zu reden, weil es sehr unterrichtend fur mich sein müßte; - leider habe ich nur die Monologen jezt nicht zu Hause, und kann also nicht so in's Einzelne gehn. Ich wünschte, Du sagtest mir näher, was Du unter der Verkünstelung meinst; - ich bin mir dessen so gar nicht bewußt, daß ich keine bestimmte Anwendung davon machen kann. Die gänzliche Differenz von den Reden gestehe ich Dir gern ein; aber in den Reden habe ich mir auch den Styl durchaus rhetorisch gedacht, und 80
Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 28f; vgl. D. Schlegel: Briefe an Schleiermacher 70
Historische
Einführung
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was ich hiezu rechne, so viel es ging, überall einzuweben gesucht. Dies habe ich mir bei den Monologen ausdrücklich verboten; denn wer wird mit sich selbst rhetorisiren ? Ich habe es mir überhaupt sehr schwer gedacht ein Selbstgespräch zu construiren, so wol in Absicht auf die Ordnung der Materie, als auf den Ton. Was das erste betrifft, so war mir gleich klar, daß eine Entwicklung der Prinzipien darin nirgends vorkommen dürfte; denn indem man Grundsäze sucht, kann man unmöglich zusammenhängend mit sich selbst reden, - und ein Selbstgespräch scheint mir nur darin bestehn zu können, daß man sich nach der Beziehung der Grundsäze auf das Einzelne fragt, und sich der Anschauung des Einzelnen nach den Grundsäzen bewußt wird. Von dieser Idee bin ich überall ausgegangen. Der Styl, glaubte ich, dürfe auf gar nichts ausgehen, sondern nur überall zeugen von dem Interesse an der Reflexion und von der Tiefe des Eindrucks, - da dies die beiden einzig möglichen Quellen eines Monologs sind. Hiernach habe ich mir mein Schema gebildet; wirklich geschrieben ist aber das Ganze so schnell, daß es eigentlich gar nicht in der Handschrift existirt hat, sondern ich es beinahe dem Sezer dictirt habe. Deshalb glaube ich auch um so weniger, daß eigentliche Verkünstelung darin sein kann. Mit dem Rhythmus ist es, je nachdem Du es nimmst, ärger oder auch nicht so arg als Du denkst. Aerger, insofern ich wirklich gewollt habe, was Du für schlecht erkennst; nicht so arg, inwiefern die Bewußtlosigkeit doch eigentlich das Aergste ist. Ich wollte ein bestimmtes Silbenmaaß überall durchklingen lassen: im zweiten und vierten Monolog den Jamben allein, im fünften den Daktylus und Anapäst, und im ersten und dritten hatte ich mir etwas Zusammengesezteres gedacht, worüber ich Dir jezt, weil das Buch nicht zur Hand ist, keine genauere Rechenschaft geben kann. Das gestehe ich Dir aber gern, daß der Jambe stärker gewesen ist als ich, und sich im zweiten und vierten Monolog etwas unbändig auffuhrt. Diesen Mangel in der Ausführung bei Seite gesezt, hoffe ich, Du wirst gegen die Absicht in dieser Gattung nichts einzuwenden haben. Ich unterstreiche, um gleich aus dem Unterstrichenen gegen die Alten protestiren zu können. Die historische, die rhetorische und die didactische Prosa leiden das freilich nicht; aber ein Monolog ist offenbar eine Annäherung an das Lyrische, und hievon ausgegangen möchte ich mich leicht aus den Alten vertheidigen können. Bedenke nur auch, daß die Alten die Quantität weit genauer bezeichneten, und einen viel feinern Sinn dafür hatten als wir, und daß so etwas bei uns schon etwas dick aufgetragen werden muß, wenn die Leute nur ein Weniges davon durchhören sollen. Bist Du doch der Einzige, den es so frappirt hat, - ein Anderer hat eben so viel davon durchgehört als ich wollte, und die Uebrigen haben wenigstens nichts davon gesagt. Du siehst, daß ich dies wenigstens nicht fur eine Kleinigkeit und nicht fur Krittelei halte, und wirst Dich um so eher, wie ich hoffe, weiter darüber einlassen. Ich gestehe Dir, es ist mein großer Wunsch, da mir die Poesie ein für allemal versagt ist, es in allen Formen der Prosa mit der Zeit zu einer gewis-
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sen Vollkommenheit zu bringen, und dazu ist mir die Kritik noch sehr nothwendig. "81 Schleiermachers langer Rechtfertigungsbrief führte bei Brinckmann am 30. Mai 1800 zwar zu einer Ermäßigung, doch nicht zu einem Wegfall seines Vorwurfs stilistischer Verkünstelung. „Als ich Dir lezt schrieb hatte ich sie nicht ganz gelesen, und ohne Dein Erinnern fand ich hernach selbst, daß sie nicht alle gleich Jambisch wären, und das machte mich noch konfuser, weil ich nun Absicht hierin ahnden mußte, ohne sie ganz zu errathen. Deine Erklärung giebt mir nun Licht, aber befriedigt mich nicht ganz. In Prosa den Rhythmus so sehr dem Gegenstande anzupassen scheint mir selbst eine Art von Verkünstelung, und ganze Verse hinter einander dürfen doch wol nicht eigentlich statt finden. Ich habe hier nur Einen, ganz unbedeutenden, Leser der Monologe gefunden, und dem war der Jambismus gerade auch von selbst aufgefallen. Was ich übrigens an dem Styl gekünstelt fand, detaillire ich vielleicht ein andermal; da ich das Buch nicht hier habe. - Aber der Innhalt hat mich unendlich angezogen, und es sind göttliche Stellen überall. Jene prächtige von der Sprache! - Was Hülsen mit jener Bitterkeit gegen die Welt meint, begreif ich wol; nur nicht, wenn er dies Urtheil als Tadel versteht. Der Sanfteste lebe nicht in der besten Welt so wol, wie unter den Menschen, die sie vornehmlich konstituiren, und werde nicht in einem gewissen Sinne bitter! Und auch wieder nicht gegen die Menschen - die mag man ja wol dulden, entschuldigen, lieben - aber gegen einen gewissen leeren, verschrobenen, erbärmlichen Geist, der in Widerspruch steht mit allem grossen und edlen in dem bessern Menschen, kurz, um die Gemeinsprache zu reden, gegen den Weltsinn, den Du so treflich charakterisirst. Es ist sonderbar, wie sehr ich dies Brudergefühl bekommen habe, seit ich so anachoretenmäßig, ohne Gemeinschaft der Heiligen herumschwärme. So lebendig ahndete ich sonst nicht die Grenzlinie zwischen den privilegirten Seelen und den Gemeinen. "82 Auch Friedrich Schlegel in Jena hatte zu Jahresanfang 1800 ein Exemplar der „Monologen " von Schleiermacher zugeschickt bekommen, doch zunächst nicht gelesen. Wohl erst im März stattete er Schleiermacher seinen Dank ab mit einem Bericht über seine Lektüre dieses Werks und dessen Eindrücke auf ihn. „Du hast mich sehr freudig überrascht und nun komme ich mir eigentlich selbst etwas lächerlich vor, daß ich ein Buch dreymal hintereinander durchgelesen habe was ich zuvor mehrere Wochen auf der Stube gehabt, ohne auch nur einen Blick hineinzuthun. Aber Du glaubst nicht, wie sehr mich der blaugrüne Umschlag abschreckte. Es hat kein Mensch im Hause einen Blick hineingethan, als Caroline und Schelling, die nun eben 81
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Briefe 4,66-68. Im Dezember 1803 schrieb Schleiermacher an Reimer: „An der Ausarbeitung des Styls im Einzelnen wüßte ich in allen meinen Produkten viel zu ändern; [...] nicht so sehr würden die Monologen geändert werden " (Briefe 1,388). Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 30f
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nicht gemacht waren das Kleinod zu finden, und da ich vollends hörte, es sey eine Nachahmung der Reden, so erklärte ich mir gleich, daß der Verfasser es Dir geschickt und es dann aus Versehen hineingerathen, und da überstieg der Abscheu bey weitem die Neugier [...]. Du hast auch mir eine schöne Gabe gegeben, mit dem Ganzen zuerst und dann auch mit so vielem Einzelnen, daß ich nicht von jedem werde reden können. Was ich zunächst auf mich bezogen habe, finde ich sehr würdig und sehr liebenswürdig; aber nicht sowohl dadurch als durch das Ganze oder auch den Geist andrer Stellen ist mir eigentlich das völlig gelöst, was mich in dem letzten Winter am empfindlichsten gekränkt hat. Ich verstehe es nun, wie es gemeynt war, und es ist nicht mehr. Unter den einzelnen Stellen habe ich mich am lebhaftesten gefreut über die vom Vaterlande und über die Verbindung des Darstellungstriebes mit der Ahndung des Todes. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich über die Uebereinstimmung in dem ersten Stück freue. Auch Deine Ansicht der Kunst ist mir nun klarer geworden, nämlich warum Du die Selbstbildung, die innere Anschauung oder wie Du es sonst in dieser Beziehung nennen willst, damit unvereinbar findest. Daß dieß nicht so ist, weiß ich zwar lange, so gewiß Du Deine Freiheit weißt: aber jetzt glaube ich den Grund Deiner Täuschung zu sehen. Er liegt wohl ganz einfach darin, daß Du Dir die Kunst so grade gegenüberstellst: denn objectiv ist nun einmal die innere Anschauung unbegreiflich und erscheint als unmöglich, was man nur subjectiv durch die That wissen kann. Mir ist es durch den Gegensatz noch klarer geworden, da die Künstler gerade umgekehrt wie Du denken; und dieß ist so objectiv, daß es dabey auf ihr eignes Verhältniß zum Sinn gar nicht ankömmt. Mögen sie selbst noch so fern von aller Mystik seyn und sie aufrichtig verachten, sie werden sie an einem Künstler immer als eine verzeihliche Schwäche dulden, für den thätigen und geselligen Menschen aber jede Anwandlung derselben tödtlich finden, und sich hier ganz wie gewisse Frauen an die äußere Erscheinung der Energie halten. Da Du einmal ein Exemplar zurückschicktest, hättest Du doch das andre auch wieder mit beylegen sollen. Ich werde zwar mit diesem Buche sehr geheim umgehen, indessen hätte ich doch gern mit Hardenberg ohne Dich zu nennen den Versuch gemacht, und wie leicht kann sich noch eine Gelegenheit finden. Dorothea wird dieses gewiß weit besser verstehen können als die Reden. Auch von meiner Schwester möchte ich dieses vermuthen. "83 Schleiermacher bat ihn, nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf den Stil der „Monologen" einzugehen. Das tat F. Schlegel wohl im Mai: „Ich soll Dir auch über die Form und den Styl der Monologen etwas sagen ? Nun die Form gehört für mich zu denen, die sich selbst durch ihre innere Consequenz hinlänglich constituiren, wenn sie auch in keine äußere sich fügen können und wollen. Die Schönheit des Gesagten und des Sagens würde denen die 85
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Einleitung
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Dich nicht schon kennen, unmittelbar einleuchten, wenn der Ausdruck hie und da schmuckloser und einfältiger wäre. In dieser Rücksicht wäre es wohl gut, wenn Du einmal Gelegenheit fändest etwas ganz trocken und geradeaus schreiben zu müssen; dazu wird ja wohl durch Grammatik, Mathematik Raum werden."** Am 2.Juni ergänzte F.Schlegel seine Beurteilung des Stils. „Die Monologen habe ich im Numerus nicht so jambisch gefunden wie Brinkmann (von dem Du nicht einmal geschrieben wo er jetzt ist). Ich bemerke daß jetzt, da der Numerus und Prosa anfangen zu entstehen, zwey sehr verschiedene Tendenzen darin sichtbar sind, die hexametrische und die jambische. Das große Uebergewicht der ersten Tendenz bei Hülsen ist Dir gewiß auch aufgefallen, wir haben ja schon so oft davon gesprochen. Ritter schreibt, wenn er sich regen und schwingen will, reine Jamben. So auch manches von mir. Auch bey Dir glaubte ich sonst diese Tendenz überwiegend. Doch waren vielleicht ursprünglich schon beyde da; in den Monologen haben mich die weit häufigeren hexametrischen Sätze oft an Hülsen erinnert. Ich finde den Numerus durchaus angemessen und schön. "85 Erst im Mai kam Dorothea Veit (1763-1839), geb. Mendelssohn, spätere Schlegel, zu einer sorgfältigen Lektüre. „Die Monologen studire ich jetzt in heitern Stunden, sie werden mir aber ein wenig schwer; Friedrich [sc. Schlegel] begreift es nicht, worin es liegen mag wissen Sie es etwa?[...] Den vierten Monolog habe ich recht oft gelesen in Grunow'scher Hinsicht, aber denken Sie sich nur, daß ich nicht verstehe, wie ich sie darin zu finden habe. "86 Wohl aber erkannte sie Schleiermachers Abgrenzung gegen Friedrich Richter (Jean Paul).67 F. Schlegel sorgte auch dafür, daß Schleiermachers „Monologen" im frühromantischen Freundes- und Bekanntenkreis gelesen wurden. Schon im März bat er Schleiermacher um ein weiteres Exemplar der „Monologen" und forderte ihn auf, auch dem in Berlin wohnenden Fichte eins zukommen zu lassen. „Schicke mir doch ein Exemplar Monologen. Ich möchte es Hardenberg und Charlotten gern im Ernst zu lesen geben, und das geschieht doch, wenn ich nicht, was ich durchaus nicht möchte, Dich nenne, nur durch die wirkliche in manus traditionem. Du solltest doch auch Fichte veranlassen, daß er sie läse. Du weißt es so gut wie ich daß er das Beste darin nur verzeihen kann, und wie es mit seinem Verstehen steht ist Dir auch nicht unbekannt: aber ich bin fest überzeugt, daß er das Buch, wenn er es unbefangen kennen lernt, sehr lieben wird, und ich weiß nicht ob Du ihm ganz die Tiefe des Gefühls zutraust, die er wirklich hat. "8S
84
85 87
Briefe 3,177. F. Schlegel wollte damals auch das Bekanntwerden der „Monologen" durch ein Sonett unterstützen (vgl. Briefe 3,178). Doch veröffentlichte er im Sommer 1800 nur ein Sonett auf „Die Reden über die Religion" (vgl. Athenaeum 3/2, S. 234). 86 Briefe 3,180f Briefe 3,179f; vgl. D. Schlegel: Briefe an Schleiermacher 70. 82f 88 Vgl. Briefe 3, 189 Briefe 3,167
Historische Einfiihrung
XXIX
Am 5. Mai berichtete F. Schlegel, er habe in Weimar Friedrich Richter (Jean Paul) „des Versuchs wegen auch die Monologen zu lesen [sc. gegeben]; es gereut mich nicht, denn er sprach nicht unverständig und sogar herzlich besonders über die Stelle vom Sterben der Freunde u.s.w. Doch wittert er überall bei Dir verhüllten Fichtianismus, und das ist nun eben der Nerve, wo sein Verstand Geister spürt. Es ist Schade, daß er in so schlechter Gesellschaft lebt, die ihn sehr verdirbt. Mit uns müßte er noch wieder jung werden können. - Hardenberg war zu kurz hier, als daß er die Monologen hier hätte lesen können. Ich habe sie ihm mitgegeben. Ritter meynt, sie wären höher und heiliger noch als die Reden, in denen ihn eben die Pracht der Rede eher abstößt als anlockt. Da hast Du eine ganze Menge Resultate von Experimenten, mit denen Du nun wieder experimentiren kannst! Was sagt denn Hülsen dazu?"w Friedrich Schlegels Briefberichte referierte und kommentierte Schleiermacher am 9. Juni 1800 an Brinckmann: „Uebrigens ist er [sc. Richter] ganz voll von seiner Polemik gegen den Idealismus, und er meint sie gewiß, ob sie gleich dem Titan angehängt ist, nicht blos für die Nichtdenker. Dabei äußert er höchst kuriose Sachen: so findet er es zum Beispiel höchst verdammlich - namentlich auch an mir, wie er gegen Schlegel geäußert hat wenn man Idealismus spricht in andern als den hergebrachten idealistischen Terminologieen, oder wie ersieh ausdrückt in der realistischen Sprache, weil dann die Leute etwas vor sich hätten, was sie zu verstehen glaubten, und doch nicht verständen. Nun sage mir nur, ob es ein anderes Mittel giebt, sich ihnen verständlich zu machen, als wenn man denselben Gedanken in Formeln, die ihnen bekannter sind, ausdrückt? Ich halte das für die größte philosophische Kunst, und wollte wol, es wäre wahr, daß ich sie geübt hätte. Richter meinte damit weniger die Reden, als die Monologen, die ihm Schlegelgegeben hat. Dieser schreibt mir, er habe darüber nicht unverständig und über Manches sogar herzlich und mit Liebe gesprochen, besonders über die Stelle vom Sterben der Freunde. Die ist ihm freilich am analogsten, und ich dachte als ich sie niederschrieb daran, daß er sie lieben müßte. Dir will ich sie hiemit auch noch besonders empfohlen haben, damit Du Dich möglichst lange vor der Sünde hütest. Weißt Du wol, wieviel von mir mit Dir sterben würde? Allen, die Dich wirklich kennen, - deren sind freilich nur sehr Wenige - mußt Du unersezlich sein, aber mir noch mehr als Andern, welches Du auch recht gut wissen kannst. Die Stelle von der Sprache gehört unter die, aufweiche ich einen vorzüglichen Werth lege, (in Verbindung mit der Sitte; denn das scheint mir hier unzertrennlich zu sein,) aber sie wird gewiß für Keinen außer mir so viel Wahrheit haben als für Dich, der Du auch ein solcher menschenfreundlicher Sucher nach Menschen und Gedanken bist. Schlegel ist endlich auch mit der Sprache herausgegangen, daß der Ausdruck 89
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Einleitung
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an vielen Stellen in den Monologen schmuckloser sein könnte. Dies ist eigentlich noch etwas anders als Dein Tadel, der tiefer geht und gründlicher ist. Findest Du einmal Zeit mir ihn noch mehr zu detailliren, so wirst Du wohlthätig damit auf mich wirken. Wenn ich Zeit hätte, so wollte ich sie zu meinem Privatgebrauch umarbeiten, was mir gewiß sehr nüzlich sein würde. Es scheint, als ob ich mit dem Styl noch nicht zur Ruhe kommen könnte, sondern in den Extremen herumschwankte. "90 Dorothea Veit berichtete am 22. August 1800 über die Aufnahme der Monologen bei Johann Wilhelm Ritter. „Ritter, dessen Bekanntschaft ich seit kurzem genauer gemacht habe, hat mit uns draußen gelebt. Es ist ein herrlicher Mensch, eine von den seltenen Erscheinungen auf dieser Erde. Seyn Sie so gut und gebrauchen Sie Ihre bekannte unausbleibliche Opposition nur sogleich, ehe Sie ihn sehen; denn alsdann dürfen Sie wahrhaftig keine Zeit damit verderben. Sie müssen ihn ja doch am Ende liebgewinnen. Er ist einer Ihrer größten Liebhaber und Leser; die Monologen waren von großer Wirkung auf sein Gemüth, und mit den Reden geht eine neue Zeitrechnung bei ihm an. Die [sc. Lucinde-JBriefe (ohne daß er den Verfasser kennt) liebt er sehr; kurz, er ist durchdrungen von Ihnen und liebt Sie wahrhaft. "91 Die „Monologen" wurden von Schleiermacher selbst, aber auch vom Leserkreis als persönliches Zeugnis, als konfessorische Selbstdarstellung seiner sittlichen Individualität aufgefaßt und behandelt. Ihre Lektüre bereitete die freundschaflichen Beziehungen von Ehrenfried von Willich''1 und von Friedrich Heinrich Christian Schwarz93 zu Schleiermacher vor. Ihre Lektüre gewährte den Lesern und Leserinnen Einblicke in Schleiermachers Denken, Fühlen und Wollen, durch die sie in ein persönliches Verhältnis zu ihm gesetzt wurden: Nur dann, wenn sie mit Phantasie gelesen würden, könnten sie richtig verstanden werden?* Die sittlich-gemeinschaftschaffende Wirkung der „Monologen" bekannte Schleiermacher am 10. August 1803 Charlotte von Kathen, als diese ihn durch Ehrenfried von Willich um ein Exemplar hatte bitten lassen: „Mit einem frohen Gefühl habe ich noch in die Monologen geblickt, die ich Ihnen hier schicke. Es war ein glücklicher Genius, der mich trieb mich selbst oder vielmehr mein Streben, das innerste Gesez meines Lebens, so darzustellen. Viel Schönes verdanke ich ihm, manches liebenswürdige Gemüth hat sich dadurch an mich angeschlossen, und vielleicht habe ich es manchem erleichtert, sich und anderen in das Innere hineinzuschauen. "95 Von der inhaltlichen Seite löste besonders eine Eigentümlichkeit der „Monologen" kritische Anfragen aus. Manche nahmen Anstoß daran, daß ,0
" 94
Briefe 4, 70f Vgl. Briefe 1,277 Vgl. Briefe 1,314
" " ,5
Briefe 3,222 Vgl. Briefe 1, 299 Briefe 1,377
Historische
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Schleiermacher sich selbst ohne alle Mängel in strahlender Vollkommenheit darstelle. Am 28. Juli 1804 antwortete er Charlotte Pistorius:„Da sagen Sie, wenn ich so wäre, wie ich mich in den Monologen darstelle, so müßte ich ein außerordentlich vollkommener Mensch sein. Nun glaube ich, wenn Sie mich kennen, werden Sie mir Wahrheit zutrauen, und doch kann ich nicht leiden, daß Sie glauben, ich wäre ein außerordentlich vollkommener Mensch, weil ich es eben nicht bin, und ich muß also gegen den Zusammenhang Ihrer Folgerungen förmlich protestiren. Ich habe in den Monologen meine Ideen dargestellt, freilich nicht todte Gedanken, die man sich im Kopf ausrechnet, daß es ungefähr so sein müsse, sondern Ideen, die wirklich in mir leben und in denen ich auch lebe. Aber diese Ideen sind mir freilich nicht als Feengeschenk eingebunden, sondern sie sind mir, wie dem Menschen alles Bessere kommt, erst später aufgegangen nach mancher Verirrung und Verkehrtheit, und ihre Darstellung in meinem Leben ist also immer nur fortschreitend im Streite mit den Einflüssen und Ueberresten des früheren. Wenn demohnerachtet in den Monologen keine Spur von einem Streit mit mir selbst zu finden ist, so kommt das nur daher, weil ich eben darin resignirt bin, daß der Mensch nur fortschreitend werden kann. Deshalb nun hatte ich auch kein Interesse dabei, den Punkt, auf dem ich eben stehe, auseinander zu sezen. Da ist nun von Vollkommenheit noch gar nicht die Rede, und doch haben Sie sie gewiß nur in dieser Beziehung mir zugeschrieben. Denn die Ideen selbst zeichnen mich nicht aus vor meinen Freunden, die sie ja Alle auch als die ihrigen erkannt haben und nicht erst von mir angenommen; denn man nimmt keine Ideen an. "9b Das idealisierte Selbstbildnis der „Monologen " wurde später manchmal als historische Personenschilderung aufgefaßt; dem trat Schleiermacher im Brief vom 18. September 1808 an seine Braut Henriette von Willich, geb. von Mühlenfels, entgegen: „Daran sind mir die Monologen Schuld, in denen ich mich eben selbst idealisirt habe, und nun meinen die Guten, ich bin so. Nemlich ich bin ja freilich so, es ist meine innerste Gesinnung, mein wahres Wesen, aber das Wesen kommt ja nie rein heraus in der Erschei-
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Briefe 1,401 f . Schon am 19. Mai 1802 war Schleiermacher gegenüber seiner Schwester Charlotte auf diesen irritierenden Sachverhalt in anderer Wendung eingegangen: „Daß Du mich in den Monologen so verstehst, freut mich recht innig. Ich denke, Du wirst auch Da bei aller Verschiedenheit die Uebereinstimmung finden, und inne werden, daß, wenn ich auch für mein Denken und Sein eine eigne Form und besondre Art habe, das Streben doch im Wesentlichen dasselbe und auf das Innere und Höhere gerichtet ist. Was Dich manchmal unangenehm ergreifen wird, glaube ich, ist der Stolz; altein wer so stolz ist, kann auch wieder recht demüthig sein, und ich denke, das wirst Du fühlen, wenn es gleich da drin nicht steht. Aber sagt mir nur, was soll ich denn mit dem Beinamen der Erhabene machen? ich fürchte, er kommt aus den Monologen; aber er ist mir auf alle Weise lächerlich und ihr müßt mir einen andern geben, wenn ich nicht glauben soll, daß sich la Charmante aus Stolz neben diesem Erhabenen la soumise nennt." (Briefe 1,296)
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nung, es ist immer getrübt in diesem armen Leben, und dies getrübte steht nicht mit in den Monologen. "97 Friedrich Samuel Gottfried Sack wiederholte, indem er „Monologen" und „Reden" verknüpfte, anläßlich Schleiermachers Berufung nach Halle im Mai 1804 noch einmal kurz die Vorbehalte der neologischen Aufklärungstheologie. „Die in den Monologen und in den Reden über die Religion dargelegten Grundsätze und Meinungen werden Ihnen freilich theologische Vorlesungen, wenn Sie sich nicht bloß in den Grenzen des geschichtlichen halten, von mehr als einer Seite erschweren. "98 Da der Absatz der „Monologen" sehr schleppend war, bemühte sich Schleiermacher im Herbst 1800 nach zwei Seiten um Verkaufsunterstützung. Zum einen bat er A. W. Schlegel am 14. Oktober 1800, ihm in der geplanten Zeitschrift „Kritische Jahrbücher der deutschen Literatur" eine Selbstrezension einzuräumen, d.h. „um Erlaubniß [...] zu einer Selbstanzeige meiner Monologe, die da sie voriges Jahr gar nicht in den Buchhandel gekommen sind wol in die Periode des Instituts fallen. Ich würde mich darin auf die Prämissen die dabei zum Grunde liegen etwas näher einlassen. Indeß bitte ich Sie recht sehr Sich mit dieser Erlaubniß ja nicht zu geniren wenn das kleine Büchlein Ihnen nicht der Mühe wert scheint oder Sie sonst irgend Gründe dagegen haben es wird dies weiter gar nichts auf sich haben."" Zum andern bat Schleiermacher am 20. Oktober 1800 F.Schlegel um eine Anzeige (Kurzrezension), „aber auch um eine recht populäre. Der Spener, der sie vorm Jahr, theils weil es zu spät war, theils weil es an einer Anzeige fehlte so gut als gar nicht in den Buchhandel gebracht hat quält mich sehr darum und hier weiß ich keinen Menschen. Einen großen Gefallen thätest Du mir wenn Du Dich der Sache annähmest."100 Am 17. November ließ F. Schlegel durch Dorothea Veit Schleiermacher bestellen, „daß er in der nächsten ruhigen Stunde die Ankündigung der Monologen gewiß machen wird"101. Am 8. Dezember 1800 widerrief er jedoch seine Rezensionszusage und präsentierte dagegen einen ganz neuen Vorschlag. „ Was die Monologen betrifft, so hätte ich gerade eine gute Gelegenheit, da mich die Erlanger eingeladen haben; indessen will ich eher ein solches Buch unendlichemal lesen als einmal recensiren. Es liegt mir diese Form des Lebens, diese eigen thüm liehe Handlungsweise unendlich fern ab vor allem andern. Weißt Du wie wirs gar nicht nöthig gehabt hätten ? Wenn Du wieder Gelegenheit haben solltest etwas zu schreiben noch und Du Dich nicht nennen willst, so laß michs herausgeben. Vortrefflich ist die Wirkung die das gewiß hat: nämlich daß alles schlechte Gesindel sogleich in die Wuth geräth, die man Briefwechsel mit seiner Braut, ed. H. Meisner, 2. Aufl., Gotha 1920, S.144f Briefe 3,392; vgl. Briefe 3,276-278 " Briefe an August Wilhelm Schlegel, edd. J. Elstner/E. Klingner, in: Euphorion 21 (Wien/ Leipzig 1914), S. 760 100 Briefe 3,238 101 Briefe 3,242 97 98
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ihm gegen alles Gute zur heiligsten Pflicht machen sollte; und wenn der Verleger auch nicht gleich aus aller Verlegenheit kommt, so kann doch ein Buch nicht so ganz aus dem Handel bleiben, oder nicht in Verkehr kommen. Wenn Spener noch wollte einen neuen Titel zu den Monologen drucken lassen, 150 Exemplare wollte ich ihm wohl auf meinen Namen garantiren. Ich machte dann wie Du es haben wolltest, eine prosaische Vorrede oder ein Gedicht in Terzinen oder eine Elegie an den Verfasser, oder an die wenigen für die das Buch eigentlich existirt. Unsäglich würde ich mich freuen, daß dies Buch durch mich von neuem in die Welt einträte, und helfen würde es mehr als drey Recensionen, wenn es Dir wirklich Ernst ist mit dem Zweck der zwecklosen Mittheilung, und mit dem, Spener zu helfen. Ich fühle es wohl daß dieses Anerbieten etwas anmaaßend ist; da sich diese Anmaaßung aber nur auf die litterarische Welt bezieht, mit der Du nur gelegentlich des Versuchs wegen Experimente anstellst und von der es mir auch leicht genug wird zu abstrahiren, so ist diese Anmaaßung wenigstens nicht zwischen uns; und was die litterarische Welt betrifft, so glaube ich dergleichen Vorzug dadurch zu verdienen, daß das Gesindel mich immer als Centraipunkt alles dessen anzusehen pflegt, was es verabscheut und haßt."102 Dieser Vorschlag F. Schlegels wurde nicht verwirklicht. Neben diesen Beurteilungen und Erläuterungen in privaten Briefdokumenten erfuhren die „Monologen" auch eine öffentliche Würdigung in Rezensionsorganen. Die Rezension im ersten Stück des fünften Bandes der Zeitschrift „Allgemeine Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur" (Gießen 1801) auf den Seiten 81-104 stammt von Friedrich Heinrich Christian Schwarz, der zuvor schon die „Reden" empfehlend angezeigt hatte. Schwarz hatte sich am 9. November 1800 brieflich mit Schleiermacher bekannt gemacht und dabei auch auf die „Monologen " Bezug genommen: „Sie lassen es, verehrungswürdigster Mann, für etwas Besseres als Zudringlichkeit gelten, wenn ein Fremder, dem Sie aber durch Ihre Schriften nahe sind, dankbar und zutraulich Ihre Hand ergreift. Ich weiß nicht, wann mein Innerstes durch ein Buch so wäre angesprochen worden, als durch die Monologen und vorher, zwar nicht völlig, so aber doch zum Teil durch die Reden über Religion. Man nennt Sie als den Verfasser von beiden; in Kreisen von Freunden, worin der Name des Verfassers nicht entweihet wird, freut man sich nämlich, den Namen des würdigen Mannes sich sagen zu können. Ob es gegründet ist? - Ob Sie in diesem Falle gerne dafür bekannt sind? - Doch ich will nicht zudringlich sein; ich ehre den Verfasser zu sehr in allen seinen Zwecken und Gesinnungen. Nur kann ich nicht umhin, Ihnen in dem Falle, daß die unbekannten Verehrer dieses Mannes sich in der Person nicht irrten, meine innigste Freude über jene Erscheinungen, welche das erkaltete Zeitalter bedarf, selbst zuzurufen. Die Re102
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den über Religion habe ich in der zu Gießen bei Heyer vom dortigen Prof. Schmidt herausgegebenen Bibliothek der theologischen und pädagogischen Literatur rezensiert. Ich gestehe gerne, daß es etwas Anmaßung von mir war, aber die Absicht dabei gab mir den Beruf dazu. Ich wollte gerne bald in unserem Publikum die Aufmerksamkeit auf dieses Buch erwecken, und dabei zugleich meine Erinnerungen offen darlegen, weil mir diese wegen mancher Tendenzen unseres Zeitalters nötig scheinen, damit der Zweck des Verfassers desto besser erreicht würde. Ich habe bestimmt gesagt, worin ich nicht mit dem geistvollen Verfasser übereinstimmen kann; und ich hatte das Gefühl dabei, daß diese Nichtübereinstimmung den Buchstaben betreffe und wir von Grund des Herzens einig seien. Die Monologen bestätigen mir dieses angenehme Gefühl. Meiner Freunde einige, vornehmlich der wackere Professor Creuzer in Marburg, machen mir Einwendungen gegen meine Bemerkungen, und immer noch sind diese Gegenstände ein interessanter Stoff unserer Unterhaltungen. Der Verfasser jener beiden Rafaelischen Geisteswerke, oder wie soll ich sie bezeichnen, hat Ideen angeregt, welche ich unter die gesegnetesten, wohltätigsten unseres Zeitalters rechne. Wieviel für Religionskultur! Wieviel für Erhebung des Inneren! und die hohen Gefühle der Freundschaft !"w) In seinem Antwortbrief vom 15. Dezember 1800104 äußerte Schleiermacher sein Bedauern darüber, die Schwarzsche Rezension der Reden „ Über die Religion"105 wegen der schlechten literarischen Verbindungen Berlins mit dem westlichen Deutschland noch nicht bekommen zu haben, und fuhr dann fort: „ Wirklich war es mir unerwartet besonders die Monologen, von denen der Verleger mir sagte, daß sie so gut als gar nicht in den Buchhandel gekommen wären, irgendwo außer im Kreise meiner Freunde gelesen, und meinen Namen dabei genannt zu wißen. Ich kann sagen es hat mir eine besondere Freude gemacht, daß diese Sie vorzüglich afficirt haben, weil grade meine innersten Gesinnungen darin ausgesprochen sind, stärker und vertrauter, als es sich vielleicht für den gedruckten Buchstaben ziemt, und Sie werden dies Geständniß vielleicht auch für etwas beßeres nehmen als Eitelkeit. Es ist mir nicht selten sträflich vorgekommen daß ich dies Büchlein habe drucken laßen; ich sagte mir es läge jenseits aller möglichen und also auch der erlaubten Mittheilung, es würde eben wegen seiner Innerlichkeit Niemanden ansprechen da es gar kein Aeußerliches dabei hat, und wenn jemals Jemand mich darüber fragte würde ich ganz die Empfindung haben als wenn ein entblößter Nerv berührt wird. Sie können also denken wie es
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Briefwechsel
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Vgl. Tumwald: Ein bisher unbekannter Brief Friedrich Schleiermachers vom 15. Dezember 1800 an Friedrich Heinrich Christian Schwarz Pfarrer in Münster bei Butzbach, in: Zeitschrift fur Kirchengeschichte 97 (Stuttgart 1986), S. 391-403 Vgl. KGA H2, LXX-LXXII
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mit Schwarz
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mich überraschte einen Brief zu erhalten der ausdrücklich dem Verfasser der Monologen bestimmt war, und wie es mich freuen mußte, daß Sie hier Ihre Uebereinstimmung mit mir vollkommen gefunden haben. "l06 Wohl im Blick auf eine möglicherweise von Schwarz geplante Rezension auch der „Monologen" ging Schleiermacher ausführlich auf seine Haltung zu der nur schlecht gewahrten Anonymität seiner beiden Schriften ein. „ Sie fragen ob ich gern als Verfasser der Reden und Monologen bekannt wäre. Meinen Sie damit, ob es mir irgend eine angenehme Empfindung machen würde als solcher im Publikum mehr als bisher herumgetragen zu werden, so muß ich Nein antworten; ich bin gegen alle diese Dinge vielleicht gleichgültiger als Recht ist. Meinen Sie, ob ich die Zusammenstellung des Buchs und meines Namens scheue, so darf ich auch Nein antworten. Es wird sich keine Verkezerung deshalb ergeben; mein nächster Vorgesetzter war Censor der Reden, er erräth mich gleich, und ich stand in so freundlichem Verhältniß mit ihm daß ich mich ihm, auf die Gefahr es könnte doch früher oder später bekannt werden nicht verheimlichen mochte. Er war Anfangs sehr begeistert und hatte sogar den schmeichelhaften Ausdruck Rafaelisch mit Ihnen gemein zuletzt aber wußte er nicht, ob er es mehr atheistisch oder spinozistisch finden sollte, und es ist mir nicht gelungen ihn darüber zurecht zu weisen; sonach würde mir von dieser Seite die Anonymität nichts helfen. Ich habe aber nie die geringste Besorgnis dieser Art gehabt; die Ursach, warum ich meinen Namen nicht auf den Titel sezte war zunächst jener Gleichgültigkeit nur der Wunsch mich einigen mir sehr werthen Menschen zu verbergen, von denen ich im Voraus wußte daß ich manches darin ihnen nicht so verständlich würde machen können, daß es aufhörte ihnen schmerzlich zu sein. Seitdem Herr Falk in seinem Almanach die Güte gehabt hat mich öffentlich zu nennen ist auch das dem bloßen Zufall anheimgestellt und so ist mir das Incognito, deßen Kürze mir oft lächerlich gewesen ist, völlig unnüz. Auch habe ich mir fest vorgenommen es gar nicht mehr zu suchen."™ In seiner ausführlichen Rezension, die Schleiermacher wohl am 14. März 1801 gelesen hat10*, beurteilt Schwarz die Monologen, denen er „eine verbreitete Aufnahme in dem Publikum, denn es ist ein reichhaltiger Text über das Heiligste der Menschheit"109, wünscht, sowohl unter ästhetischem als auch unter intellektuellem Gesichtspunkt. Er billigt die Anonymität der Schrift als Selbstgesprächen angemessen, lüftet sie aber selbst dadurch teilweise, daß er auf die Identität des Autors mit demjenigen der „Reden" hinweist. 106 107 108 im
Tumwald: Brief392f Tumwald: Brief393f Vgl. Briefe 3,266 Schwarz: Allgemeine Bibliothek
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Bandherausgebers
Unter ästhetischem Gesichtspunkt110 rechnet er die „Monologen" den Erbauungsbüchern zu, allerdings vom besten Geschmack. In den „Reden" sei „ein Gegenstand des Glaubens für Gegner behandelt worden, daher boten sich dort mehrere Punkte dem Leser an, wo er dem Verf. widersprechen mochte, und das Ganze hatte mehr die Ansicht einer Partey. Dieses Buch hat dagegen mehr allseitige Fülle des Gemüthes, es wird aber nur natürlicher Weise insoweit ein andres Gemüth ansprechen, als dieses gleichgestimmt ist. Für Leser von ähnlichem Innern ist es ein wahres Erbauungsbuch. "1U Seine Beurteilung unter intellektuellem Gesichtspunkt112 führt Schwarz so aus, daß er jedes der fünf Kapitel der „Monologen " durch reichliche Zitatreihen darstellt, die er beim ersten und zweiten Kapitel jeweils in einem „Hauptgedanken"113 summiert. Zum ersten Kapitel schließt Schwarz eigene Erörterungen an, um in Abgrenzung gegen den „dogmatischen"Idealismus Fichtes sehr affirmativ den freien emotionalen der „Monologen" zu charakterisieren.m „ Wird aber das Gemüth zu dem freyen Act einer Selbstanschauung hingeführt, erweckt durch den Anblick eines anderen, so in sich selbst vertiefen Gemüthes, so findet es natürlich in sich nichts anders als freyes Handeln und nur darin Seyn; alles ist ihm Geist und geistiges Daseyn; Raum und Zeit verfallen unter ihm; es ist sich selbst gegeben und wird sich seiner höchsten Würde bewußt; der Geist wird sich bewußt, daß er nur im Reiche der Geister da ist, unter der Regierung des Unendlichen zum unendlichen Daseyn berufen. Und hier ist dieses alles lebendiges Gefühl der Gewißheit. Nichts ficht ihn nun noch an; er überwindet in allem weit; alles Irdische ist besiegt; er sieht nicht auf das was zeitlich und nichtig ist, sondern auf das Ewige, unendlich Wichtige, Uebersinnliche. Zu diesem Idealischen sollen wir uns erheben: das ist die wahre Hoheit des Geistes, und darin allein ist bleibender Trost. "U5 Durch diesen emotionalen Idealismus der inneren Selbstbestimmung und der damit verbundenen „ religiösen Stimmung" erhofft sich Schwarz „eine völlige Vereinigung des Realismus und Idealismus nicht nur, sondern auch des Vernunftphilosophen und ächten Christen [...]. Die Philosophie kömmt auf das Göttliche in dem Menschen zurück, von dessen Erhebung das Christenthum ausgeht. "ni Und zum fünften Kapitel hebt Schwarz warnend den Finger, die dortige Hochschätzung der jugendlichen Kraft und Lebendigkeit nicht schwärmerisch mißzuverstehen; er wendet sich gegen jede sentimentale Zügellosigkeit im frivolen Geist der Zeit. [...] Ein Buch, welches das idealische 110 111 112 113 114 115 116
Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,82-84 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,82 Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,84-104 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,88. 93 Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,88-91 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,89 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,90
Historische Einführung
XXXVII
Leben in seiner Vollendung darstellt, ist einem solchen Misverstand, in praktischer Hinsicht nicht nur, auch in theoretischer gar sehr unterworfen. Und doch enthält es so Treffliches, denn sein Hauptcharakter ist: Erhebung des Gemüths über alles Sinnliche, und selbst über die Form des inneren Sinnes, die Zeit, zum Uebersinnlichen."117 Schwarz faßt seine Rezension in vier Bemerkungen zusammen, in denen er den Gewinn der „Monologen" für die Philosophie, die Religionslehre, die Ethik und die Erziehungslehre bilanziert.U8 Für die Philosophie sei der Weg bereitet für eine Vereinigung von Kritizismus und Idealismus, von Rationalismus und Mystizismus. Für die Religionslehre sei das Zentrum („das Religiöse des Gemüths"119) zurückgewonnen und in der Lebendigkeit der Anschauung die Diastase von „Gefühl und Gedanke"110 aufgehoben, ihre Kongruenz fundiert. Für die Ethik sei die Ganzheit des Menschen gewonnen und die Pflicht durch die Liebe sowie das äußere Wirken durch die innere Selbstbetrachtung ergänzt. Schwarz vermißt hier allerdings einen letzten Schritt, „ohne welchen Schwärmerey genug hereindringt, die Wechselwirkung nemlich zu zeigen zwischen dem idealischen und wirklichen Leben, zwischen dem bildenden Selbstbeschauen des Gemüthes und dem thätigen Wirken auf die Welt, zwischen der inneren Würde und der äußeren Rechtschaffenheit, jene Wechselwirkung, worin das Wesen der Tugend besteht. "121 Für die Erziehungslehre sieht er den Gewinn der „Monologen" sowohl hinsichtlich der Volkserziehung als hinsichtlich der Kindererziehung in dem Ansporn, die grundsätzlichen Fragen zu erwägen und die Bedeutung der Religion ernst zu nehmen. Schwarz schließt, indem er via negationis die Ideenbasis seiner affirmativen Beurteilung angibt: „Aber vor allen Dingen bedarf unser junges Zeitalter der Einsicht, daß tiefer Gehalt der Seele, daß das höhere Leben, daß Religion, daß Menschenwürde - etwas ganz anders sey als Geniesucht, wildes Feuer der Phantasie, jugendliche Abentheuerlichkeit und Zügellosigkeit der Sitten."111 Die Rezension in Band 58 der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Zeitschrift „Neue allgemeine deutsche Bibliothek" (Berlin/Stettin 1801) auf den Seiten 169-172 ist mit „"5L "gezeichnet. Dieses Sigel steht fur Wagener, „Pastor zu Alten-Platow bei Genthin", der Arbeiten aus den Fachgebieten „Volksbücher, Gespenster, Optik"113 besprochen hat. Wagener baut seine ziemlich polemische Besprechung so auf, daß er zunächst die Anonymität 117
Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,100 Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,100-104 *" Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,101 120 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,102 121 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,103 122 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 5,104 123 Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet, Berlin 1842, S.30, vgl. auch 51 118
XXXVIII
Einleitung des Bandherausgebers
Schleiermachers lüftet, sodann das Konzept von Selbstgesprächen als eitle Prätention tadelt und schließlich die verworren-gezierte Schreibart der Ausführung bemängelt. Indem Wagener den enttarnten Schleiermacher dem Fichteschen und Schlegelschen Denkkreis zuordnet, gewinnt er die wichtigsten Gesichtspunkte seiner prinzipiellen Kritik. „Dieser junge Mann hat gute Anlagen, das sieht man wohl; aber auch, daß sie nicht genug ausgebildet sind, und daß er allzufrüh meinte reif zu seyn. Was das Schlimmste ist, dieß Letztere scheint Hr. S. gar nicht zu glauben; sondern auf jedes Wort, was er denkt und schreibt, einen nicht geringen Werth zu legen. Dieß ist daraus leicht zu erklären, daß er der Fichtischen Philosophie zugethan ist. Diese berühmt sich bekanntlich, daß man durch sie allein wissen könne, da alle nicht Fichtische Menschen nur meinen dürfen; wodurch denn alle Fichtische Philosophen zu der allgemein an ihnen bemerkten Selbstgenügsamkeit kommen, welche sie eben nicht sonderlich empfiehlt. Hr. Schleyermacher, der eben kein tiefsinniger Kopf ist, aber den Grad der Phantasie hat, welcher dazu gehört, um sich in der übersinnlichen Region zu gefallen, wohin die Fichtische Wissenschaftslehre uns weiset, um den Grund alles Wissens durch die freye Handlung des reinen Ich zu finden, stellt sich, seiner Neigung und Fähigkeit gemäß, an die Gränze, wo dieses tiefsinnig seynsollende Fichtische Wissen in süße Mystik durch eine sehr natürliche Folge übergeht; und er schreitet bis an die äußerste Gränze, dahin, wo die mystischen Gefühle anfangen ins Galimathias überzugehen, bis in die Region, wo seine Freunde, die Herren Gebrüder Schlegel, wallen und schweben, an deren berüchtigtem Athenäum er Antheil gehabt hat. Das ist die Region, wo fremde Redensarten für Philosophie, Concetti für Witz, seltsam zusammengekuppelte Phrasen, nach Gelegenheit, entweder fur Orakelsprüche, oder doch für scharfsinnige, oder aus dem tiefen Gefühl herausgehobene Sätze gelten sollen; wenn sie gleich nur einen ziemlich schielenden Sinn haben, welcher durch den pretiösen Ausdruck um nichts besser wird. So sind die Herren Schlegel; so ist Hr. Schleyermacher."11* Wagener belegt seine prinzipielle Kritik dadurch, daß er die konzeptionellen Unziemlichkeiten und Unzulänglichkeiten der Schleiermacherschen Selbstgespräche aufzudecken sucht. Er bezieht sich dabei auf die Vorrede der „Monologen", die ihn zu folgendem Kommentar reizt: „Ein Mensch muß ziemlich eitel seyn, wenn er glaubt, das Köstlichste, was er seinen Nebenmenschen geben könnte, wären seine Selbstgespräche! Wenn nun ein Mensch sich in sich selbst vergafft hätte, und glaubte, es sey Alles vortrefflich und erhaben, was er zu sich selbst spräche; es wäre aber nicht so, sondern es wären leere oder unzusammenhängende Gedanken; werden diese von andern Menschen, welche einen hellem Verstand haben als der Monologist, für eine köstliche Gabe gehalten werden? Wir sollten 124
Wagener: Neue Bibliothek
58,169f
Historische
Einfiihrung
XXXIX
denken, wenn ein Mensch die Bedürfnisse anderer Menschen kennte, und er schriebe für sie Bücher, wie Locke, Shaftesbury, Leibnitz, Klopstock, Lessing und Andere, dieß wären bessere Gaben, als kahle Selbstgespräch e."125 Neben der hier aufscheinenden Unbescheidenheit bemängelt Wagener aber auch die Gegenläufigkeit, daß das Innere des Gemüts, das der Autor in seinen Selbstgesprächen aufdecken will, gerade durch die prätentiöse Haltung und Sprachgestalt nicht offenbar werden könne. „Wir sehen nur den seynwollenden neuesten Philosophen, den selbstgefälligen Selbstredner, der zwar für das Schöne und Gute Sinn äußert; aber es mehr in hochfliegender Phantasie, als in herzlicher Empfindung sucht; den schön schreiben wollenden Schriftsteller, der aber noch nicht einmal die Sprache genug in seiner Gewalt hat, und durch pretiöse Wendungen und halbdeutliche halbdunkele Gedanken, die Wirkung der schönen Stellen, welche sich in diesem Buche hin und wieder finden, selbst verdirbt. Um seinem Büchlein eine allgemein gute Aufnahme versprechen zu können, hätte die Schreibart nicht beständig voll gezierter Wendungen seyn müssen; und aller Schimmer, der nur blendet, nicht leuchtet, so wie aller Anschein von Affektation und Schwärmerey, hätte wegbleiben müssen. "12b Wagener schließt seine Rezension damit, daß er zwei längere Zitate127 als Beispiele dafür anführt, wie sehr die Unbestimmtheit der Begriffe und die Geschöntheit der Wortwahl das Verständnis der „Monologen" behinderten.128 Schleiermacher berichtete Ehrenfried von Willich am 11. Juni 1801 darüber, wie er gemeinsam mit Henriette Herz diese Rezension gelesen habe. „Gestern haben wir uns beide an einer schmählichen Recension der Monologen in der deutschen Bibliothek ergözt. Es ist ordentlich das Verhängniß dieser Welt, oder wenigstens dieser Zeit, daß das Heiligste und der Scherz dicht neben einander liegen sollen; denn ich habe mich des herzlichsten Lachens nicht dabei enthalten können, und es schien mir bei näherer Betrachtung eine ganz natürliche Wirkung, daß die Monologen Spaß dieser Art erzeugen müssen. Aber wie gern kehrte ich zu dem Ernst zurück, und wie schön und heilig war mir dann gleich wieder zu Muth/"129 Die „Monologen" erfuhren zu Schleiermachers Lebzeiten noch drei weitere Auflagen.1*0 Sie hatten eine ähnliche Druck- und Rezeptionsgeschichte wie die Reden „Über die Religion": Im 19. Jahrhundert war der Text der 4. Auflage maßgeblichm, der auch in die „Sämmtlichen Werke"132 125 117 129 1,0 131
132
126 Wagener: Neue Bibliothek 58,170 Wagener: Neue Bibliothek 58,171 128 Monologen 17.151 Vgl. Wagener: Neue Bibliothek 58,171f Briefe 1,280 Die 2., die 3. und die 4. Auflage erschienen 1810, 1822 und 1829 im Verlag Georg Reimer. Der Text der 4. Auflage wurde vom Berliner Verlag Georg Reimer erneut 1836, 1853 und 1868, außerdem ohne lahresangabe in Leipzig und Halle gedruckt, sowie 1868 von Julius Hermann v. Kirchmann herausgegeben. SWIII/1, S. 345-420
XL
Einleitung
des
Bandherausgebers
aufgenommen wurde. Im 20. Jahrhundert dagegen trat der Text der 1. Auflage in den Vordergrund. Den Umschwung bewirkte die kritische, auf der Textfassung der 1. Auflage beruhende Ausgabe, die Friedrich Michael Schiele 1902 für die Leipziger „Philosophische Bibliothek" besorgte. Die Schielesche Ausgabe wurde 1914 durch Hermann Mulert in 2. Auflage erweitert herausgegeben.133 Den Text der I.Auflage legten Martin Rade und später Georg Wehrung jeweils ihren Monologen-Ausgaben zugrunde134; Paul Kluckhohn nahm ihn in die Sammlung „Deutsche Literatur"135 auf. Der Text der 1. Auflage hielt auch in die Werkausgaben Einzug: so in die von Otto Braun und Johannes Bauer herausgegebene vierbändige Auswahl136, weiter in die von Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch besorgte dreibändige Auswahl137 und schließlich in die von Jan Rachold betreute Edition „Philosophische Schriften"13S.
2. Garve's letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften rezension)
(Sammel-
Im ersten Stück des dritten Bandes der in Berlin bei Heinrich Frölich verlegten Zeitschrift „Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel" veröffentlichte Schleiermacher Ende März 1800139 anonym seine Sammelrezension „Garve's letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften ". Schleiermachers nicht signierter Beitrag auf den Seiten 129-139 eröffnet die Sammelrubrik „Notizen"1*0. Die Seiten im Oktavformat von 12,5 cm Breite und 21,5 cm Höhe umfassen normalerweise 30 Zeilen. Auf ihrer Schlußseite 139 nimmt die Sammelrezension nur das obere Viertel ein. Der neben Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai wohl beachtetste Vertreter der aufklärerischen deutschen Popularphilosophie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war Christian Garve, der im Alter von 56 Jahren nach langer Krankheit am 1. Dezember 1798 in seinem Geburtsort Breslau starb. In seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte er angesichts des nahen Todes eine Reihe von Sammlungen und Untersuchungen, die Schleierma133
Die 3. Auflage Hamburg 1978 ist ein Nachdruck mit ergänzter Bibliographie. Diese Ausgaben erschienen in Berlin bzw. Basel ohne Jahresangabe. 135 Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, ed. H. Kindermann, 17. Reihe. Romantik, Bd4. Lebenskunst, ed. P. Kluckhohn, Leipzig 1931, S. 28-80 136 Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd 4, 2. Aufl., Leipzig 1928, S. 401-471 137 Kleine Schriften und Predigten, Bd 1, ed. H. Gerdes, Berlin 1970, S. 11-75 138 Berlin 1984, S. 65-124 13 ' Vgl. Briefe an A. W. Schlegel 738 sowie Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom Jahre 1800, Nr. 53 (23. 4.1800), Sp. 434 140 Athenaeum 3/1, 129-164 134
Historische
Einführung
XLI
eher zum Gegenstand einer Sammelrezension machte mit dem Ziel und Anspruch einer Gesamtcharakterisierung und Würdigung des Garveschen Philosophierens. Die von Johann Kaspar Friedrich Manso und Karl Heinrich Gottlieb Schneider herausgegebenen Nachlaßschriften1*1 konnte Schleiermacher nicht zur Kenntnis nehmen. Die Entstehungsgeschichte der Sammelrezension über Garve liegt im Dunkeln. Das erste Briefzeugnis bezieht sich auf das schon fertige Manuskript. Schleiermacher schrieb am 5. Oktober 1799 an August Wilhelm Schlegel: „Daß Sie mit dem Garve zufrieden sind hat mich sehr gefreut. Ich hatte gefürchtet er werde Ihnen gar zu unwizig sein, war aber nicht im Stande das zu ändern, weil er sich meinem Gefühle nach gar nicht für den Wiz qualißcirt. "142 Die Niederschrift dürfte also vermutlich im Spätsommer 1799 erfolgt sein. Garves Popularphilosophie war Schleiermacher schon länger vertraut. Auf sie wird bereits im frühen Briefwechsel der Barbyer, Hallenser und Drossener Zeit Bezug genommen143; sie stand im Winter 1793/94 auf seinem Lektüreplan: „das Garve'sche Werk gehört vornehmlich zu denen, welche ich mir schon lange zu lesen gewünscht habe, da ich diesen Schriftsteller ganz vorzüglich liebe, und da ich es in Brinkmanns Bibliothek in Berlin finde, so werde ich es wohl, sobald es meine Zeit erlaubt, zu mir nehmen können."1** Garves philosophische Beiträge hatten für den jungen Schleiermacher Gewicht.Ui Diese Wertschätzung änderte sich mit der Ausbildung der frühromantischen Literatur- und Philosophiekonzeption. Garves Popularphilosophie wurde ein Gegenstand polemischer Kritik. Sie verfiel der programmatischen Selbstabgrenzung des Frühromantikerkreises, der Herabstufung konkurrierender zeitgenössischer Philosophierichtungen in den Status von Vorläufern oder Irrläufern. Zur Aufnahme der Garve-Rezension gibt es einige private und öffentliche Zeugnisse. Sie entstand wohl gleichzeitig und in symphilosophischer Konkurrenz zu einer Abhandlung Friedrich Schlegels über den gleichen Gegenstand}*'' Auch wenn Friedrich und August Wilhelm Schlegel die GarveRezension sehr lobten147, so war Schleiermacher, der allerdings die Veröf-
141
142 143 144 145 146
147
Garve: Ueber das Daseyti Gottes. Eine nachgelassene Abhandlung, Breslau 1802 - Garve: Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind, Bd 2, Breslau 1800 - Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bde 4-5, Breslau 1800-1802 Briefe an A. W. Schlegel 595 Vgl. KGA V/1, Nr. 39,24f; Nr. 113,8; Nr. 127,131f; Nr. 138,42-44 Vgl. KGA V/1, Nr. 231,100-104 Vgl. KGA V/1, Nr. 259,17-22; Nr. 265,17f Vgl. Briefe 3,138 sowie Briefe von Karl Gustav v. Brinckmann an Friedrich Schleiermacher, Berlin 1912, S. 26 Vgl. Briefe 3,137. 138.143 sowie Briefe an A. W. Schlegel 597
XLII
Einleitung
des
Bandherausgebers
fentlichung dringend machteus, mit seiner Arbeit doch nicht zufrieden. Er schrieb am 22. März 1800 an Brinckmann: „ Was von Garve darin steht, ist von mir, und ich bitte Dich dabei nicht an das zu denken, was Du vielleicht von Schlegel im Manuscript über ihn gelesen hast. Es ist dies nun der zweite Versuch, den ich im Recensiren - wenn Du dies so nennen willst - mache, und beide sind mir, wie ich sehr bestimmt fühle, mißlungen. Doch muß ich's weiter versuchen; denn das Recensiren ist mir durchaus nothwendig, um mich im Lesen zu üben, - nur daß ich's ein andermal nicht wieder drucken lassen werde. "149 Brinckmann antwortete am 8. April mit einem Lob: „Die Wendung, die bei Euch das Literarische Wesen nimmt, ermuntert wahrlich nicht zur öffentlichen Unparteilichkeit. Dies trifi Dich freilich nicht, denn aufrichtig gesprochen, hab' ich selten eine Rezension billiger und treffender gefunden, als die Deinige von Garve. Es ist ein nach meinem Gefühl völlig unrichtiges Urtheil, wenn Du sie dem Schl[egelschen] Manuscript unterordnest. Ich las jenes, wie ich noch von Enthusiasmus glühte über die Diatribe gegen Jakobi, und ich fand es eben so seicht wie mutwillig, und Schlegels keinesweges würdig. "15° Brinckmanns Lob veranlaßte Schleiermacher am 19. April 1800 zu einer differenzierteren Selbstkritik: „An der Billigkeit dessen, was ich über Garve gesagt habe, zweifle ich nicht, auch nicht am Treffenden; aber unklar und schwerfällig kommt mir's vor, so daß ich Niemand zumuthen kann es gern zu lesen, und daß ich zweifle, ob ich's hie und da selbst verstehen würde, wenn ich es nicht geschrieben hätte. Ebenso kommt mir auch die Recension von Kant's Anthropologie vor. "151 Im öffentlichen Streit A. W. Schlegels mit den Herausgebern der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" wurde von deren Seite auch knapp auf die Garve-Rezension Bezug genommen, ohne daß die Autorschaft Schleiermachers bekannt gewesen wäre.1" Christian Gottfried Schütz schrieb im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung" Nr. 62 am 10.Mai 1800 ironisch: Der Beweis fur A. W Schlegels Behauptung, daß Garve ein mittelmäßiger Philosoph sei, „ist seit dem nachgebracht; ein herrliches Stück Arbeit, von dem anderwärts sich wird sprechen lassen"1". Zu dieser Besprechung kam es nicht. Schleiermacher kommentierte die Schützsche Ankündigung am 27. Mai 1800 in einem Brief an A. W. Schlegel: „Ich denke, wenn er es wirklich thut, was ich gesagt habe, wol vertreten zu können; nur wünschte ich gar sehr, daß er vor der Hand der Meinung bleibe in der er doch wahrscheinlich steht daß dies von einem von Ihnen beiden herrührt. Wenn er aus dieser Voraussezung darüber schweigt, wird sich das Ganze 148 149 150 151 152 151
Vgl. Briefe an A. W. Schlegel 737 Briefe 4, 61 f Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 26 Briefe 4,63,f Vgl. Briefe 3,185 Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung,
Jena/Leipzig
1800, Sp. 517
Historische Einführung
XLIII
hernach desto komischer machen wenn er darüber von einem noch ganz unbekannten Menschen begrüßt wird. "154 Die von Schleiermacher und den Frühromantikern beabsichtigte Anonymität155 der Garve-Rezension wurde in der Folgezeit nicht besonders gut gewahrt; das belegen Sacks Vorwürfe 156, die Schleiermacher selbstbewußt zurückwies1". Der dritte Band vom „Athenaeum " wurde in Band 58 der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Zeitschrift „Neue allgemeine deutsche Bibliothek" (Berlin/Stettin 1801) auf den Seiten 104-110 kritisch vorgestellt. Diese Rezension ist „Sjt."gezeichnet und stammt von Johann Kaspar Friedrich Manso'5s, „Director des Magdalenen-Gymnasiums in Breslau"159. Manso beurteilt in seiner Rezension auch die Garve-Notiz, wobei er allerdings Schleiermacher und Schlegel als Autoren verwechselt zu haben scheint. „ Wir übergehen die bittern Ausfälle auf Garven, als Mensch und Gesellschafter, (S. 131.) deren Ungerechtigkeit Hr. Sehl, selbst gefühlt zu haben scheint, da er sich so wunderseltsam gebehrdet, um, was er ihm mit der einen Hand nimmt, mit der andern wiederzugeben; und bleiben bey dem über ihn als Philosophen gethanen Ausspruche stehen. Alles, was gegen ihn erinnert wird, läuft in der Anklage zusammen, daß Garve zu sehr an dem Einzelnen hänge, und nicht genug verallgemeinere. Vollkommen wahr; aber man lese nun den Aufsatz, und frage sich, ob auch vollkommen gerecht? Wird und muß nicht Jeder, der die übrigen aus diesem Satze abgeleiteten Behauptungen und Aeußerungen liest, der Meinung werden, daß Garve der fadeste Schwätzer, seine Bemerkungen die oberflächlichsten und seine Philosophie die erbärmlichste unter der Sonne sey? Gewiß geht Garven zum eigentlichen Philosophen noch Manches ab; und wer hat das besser eingesehn und es aufrichtiger bekannt, als er? Aber nenne uns doch Hr. Schlegel den Deutschen, dessen philosophische Versuche denen des berühmten Hume mit Recht an die Seite gesetzt zu werden verdienen, wenn es Garve nicht ist. Hat er darum nichts geleistet, weil er nicht Alles, oder vielmehr, weil er es nicht so geleistet hat, wie sichs Herr Schlegel denkt? und gebührt einer Kritik Achtung, die einzig die schwache Seite eines schätzenswerthen Schriftstellers auffaßt, und keine andre, als diese einzige, sehen will?"11'0
154 155
15'
Briefe an A. W. Schlegel 742f Vgl. A. W. Schlegels Briefäußerung vom 9. Juni 1800: „Daß Sie Verfasser der Notiz Garve sind, weiß nur Tieck, Schelling und Goethe, und es wird natürlich auch fur jetzt mandem weiter gesagt (Briefe 3,183)."
Vgl. Briefe 3,278 Vgl. Briefe 3,286; außerdem l,270f is» Vgl Parthey: Mitarbeiter 41 159 Parthey: Mitarbeiter 18 Manso: Neue Bibliothek 38,103f 157
über nie-
XLIV
Einleitung
des
Bandherausgebers
Die Sammelrezension von Garves letzten Schriften wurde in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" aufgenommen.161 Sie ist in den Nachdrucken der Zeitschrift „Athenaeum", nicht aber in deren Auswahlausgaben162 vertreten.
3. Uber das
Anständige
Schleiermachers eigenhändiges Manuskript, das „Ueber das Anständige. Zwei Gespräche " überschrieben ist und im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR im Schleiermacher-Nachlaß unter Nummer 193 archiviert ist, umfaßt 10 Blätter. Diese sind so angeordnet, daß zweimal zwei Doppelblätter ineinandergelegt sind, denen ein einzelnes Doppelblatt folgt. Das nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen hat ein Blattformat von 23 cm Höhe und 18,9cm Breite. Es ist mit Sepiatinte beschrieben. Durch Knicken ist ein Innenrand von 1 cm und ein Außenrand von 4,5-5 cm Breite freigelassen. Auf dem Außenrand hat Schleiermacher mit derselben Tinte Bemerkungen zugefügt. Diese Bemerkungen haben den Charakter von Anweisungen für eine Überarbeitung. Das ganze Manuskript weist als äußere Gliederung in seinem Textteil nur zwei Absätze auf: den einen nach „[...] schreiben könnte. "li}, den andern nach „[...] verhielt sich aber so:"lb4. Innerhalb des Dialogs hat Schleiermacher beim Sprecherwechsel den neueinsetzenden Sprecher jeweils unterstrichen. Zur visuellen Verdeutlichung ist in der Textwiedergabe dieser Sprecherwechsel zusätzlich jeweils durch einen Absatz markiert. Der Untertitel „Zwei Gespräche" benennt einen weitergesteckten Arbeitsplan, denn das vorliegende Manuskript enthält nur einen Dialog. Die Foliierung mit Bleistift stammt von fremder Hand. Bl. lOv ist unbeschrieben. Zur Datierung dieses Dialogs können nur wenige Zeugnisse herangezogen werden. Ein erster Datierungshinweis kann den Gedanken-Heften entnommen werden. Ein Gedankensplitter zum Thema des Anständigen steht in unmittelbarer Nachbarschaft zu Schleiermachers ersten konzeptionellen Überlegungen für seine Verteidigungsschrift „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" im dritten Gedanken-Heft. Die Notate Nr. 60-60b. 63. 67 zum Lucinde-Thema dürften im Winter 1799/1800 niedergeschrieben worden sein. Das Notat Nr. 69 stammt dann vermutlich ebenfalls vom Jahresanfang 1800: „Das Anständige als äußerlicher Schein des sittlichen in Dingen die eigentlich nicht sittlich sind. Dann geht die Sittlich162
163 164
Vgl. SW III/l, 509-516 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, ed. F. Baader, München 1905; ed. C. Grützmacher, 2 Bde, Reinbek 1969 Unten 75,12 Unten 76, 2
Historische
Einfiihrung
XLV
keit auf Vernichtung des Anständigen. Als positive Sittlichkeit. Dann muß man wißen können was gemacht wird. Als Hergebrachtes: dann ist das Anständige eigentlich Nachahmung des Unanständigen. "165 Der vorliegende Dialog gehört sachlich und zeitlich in den Umkreis des Lucinde-Themas.166 Es ist durchaus möglich, daß Schleiermacher ihn im Blick auf seine „ Vertrauten Briefe"plante. Sein Erörterungsbedürfnis und Überlegungspotential war ja durch diese nicht erschöpft.1''7 Die Datierung ins Frühjahr 1800 wird durch drei Briefzeugnisse gestützt. In einem Brief F. Schlegels vom Mai 1800 an Schleiermacher findet sich eine Anspielung, die Dilthey auf den vorliegenden Dialog bezogen hat: „Soll ich denn Dein Gespräch nicht zu sehen bekommen?Ich wäre sehr begierig danach, und wünschte Du ließest es drucken, so hat man es gewiß und am bequemsten. "168 Stimmt diese Zuordnung, so dürfte eine weitere briefliche Anspielung desselben Zeitraums ebenfalls auf diesen Dialog gehen. Dorothea Veit schrieb am 16. Juni 1800 an Schleiermacher: „F. [sc. Friedrich Schlegel] wird Ihnen über einen Dialog von Ihrer Hand schreiben, ob Sie den hineingeben wollen. "169 Für das zweite Stück des dritten „Athenaeum"-Bandes waren einige vorgesehene Beiträge ausgefallen, und da sollte Schleiermacher offensichtlich als Lückenfuller einspringen. Dazu kam es nicht. Schleiermacher lehnte die Publikation nämlich ab. Er schrieb am 28. Juni 1800 an A. W. Schlegel: „Mit meinem Gespräch das wäre nicht gegangen, theils weil noch Eins dazu gehört, theils weil ich es noch einmal hätte umschreiben müssen."170 Dadurch daß Schleiermacher hier ein Doppelgespräch im Blick hat, von dem die erste Hälfte - allerdings noch überarbeitungsbedürftig - vorliegt und die zweite noch aussteht, muß es angesichts der vorhandenen Uberlieferungsgestalt und des programmatischen Untertitels als zweifelsfrei beurteilt werden, daß diese Briefstelle das Gespräch „ Uber das Anständige " meint. Dieser Dialog ist demnach im Frühjahr 1800 abgefaßt worden, denn die Briefanspielung F. Schlegels setzt eine kürzlich erfolgte Mitteilung Schleiermachers voraus. „Uber das Anständige" scheint in seiner Charite-Zeit der einzige Dialog gewesen zu sein, der aus dem Planungsstadium herausgetreten ist. Die Randbemerkungen Schleiermachers zeugen von einer kritischen Sichtung zum Zweck einer Überarbeitung. Wann Schleiermacher diese Sichtung vornahm und zu welchem Zweck er eine Überarbeitung plante, dafür gibt es einige Hinweise. Sie steht wohl im Zusammenhang mit KGA 1/2,136,4-8 In Gedanken V, Nr. 43 (vgl. unten 292,13-293,4) nahm Schleiermacher 1801 einen Vergleich mit seinem Essay über die Schamhaftigkeit vor. 167 Vgl. Briefe 3,201 168 Briefe 3,178 Briefe 3,186 "" Briefe an A. W. Schlegel 747
165 166
XLVI
Einleitung des Bandherausgeben
Schleiermachers Plan, im Sommer 1801 einige philosophische Dialoge zu verfassen.m Diese Vermutung kann sich auf drei Notate im fünften Gedanken-Heft stützen, die ins Jahr 1801 gehören. Schleiermacher wollte offensichtlich seine ursprüngliche Intention, wie sie auch im Untertitel („Zwei Gespräche"171) formuliert ist, verwirklichen und den schon 1800 geschriebenen ersten Dialog durch einen zweiten ergänzen. In diesem Zuge hielt er wohl eine Überarbeitung des vorhandenen Dialogs für erforderlich und sinnvoll. In Nr. 44 notierte er sich eine stilistische Anregung, in Nr. 45 und 47 ging er auf das Verhältnis des schon vorhandenen ersten zum noch zu schreibenden zweiten Gespräch ein.l7i Dilthey veröffentlichte 1863 den Dialog im Anhang zum vierten Band der Briefsammlung „Aus Schleiermachers Leben. In Briefen" auf den Seiten 503-533. Diltheys Edition, die auch den Sprecherwechsel durch Absätze verdeutlicht, greift in mehreren Hinsichten in den Textbestand des Manuskripts ein. Erstens vereinheitlicht und modernisiert er die Schleiermachersehe Orthographie. Zweitens ergänzt er Schleiermachers spärliche Interpunktion auf das übliche Maß, wohl um der leichteren Lesbarkeit willen. Drittens läßt er einzelne Wörter aus und liest auch manche falsch. Viertens druckt er eine Wechselrede Kallikles-Sophron174 nicht ab.
4. und 5. Auszug aus den Verhandlungen der chemischen bei Klaproth sowie Chemie
Versammlungen
Schleiermachers eigenhändige Manuskripte, überschrieben „Auszug aus den Verhandlungen der chemischen Versamlungen bei Klaproth" (Nr. 517 im Schleiermacher-Nachlaß des Zentralen Archivs der Akademie der Wissenschaften der DDR) und „Chemie" (Nachlaß-Nr. 516), werden hier erstmals veröffentlicht. Beim ersten Manuskript hat Schleiermacher auf dem Titelblatt unter der Überschrift das Datum „Mai Jun. 1800" vermerkt. Dieser „Auszug" umfaßt 16 Blätter, wobei die beiden Bogen jeweils als 4 Doppelblätter zu zwei Lagen ineinandergelegt sind. Bl. 1-14 sind von Schleiermacher mit Sepiatinte beschrieben und von fremder Hand mit Bleistift foliiert; Bl. 15-16 sind unbeschrieben und unfoliiert. Das nachgedunkelte und etwas stockfleckige Papier mit Wasserzeichen ist nicht gleichmäßig aufgeschnitten. Die Blattbreite schwankt zwischen 16,8 cm und 17,5 cm, die Blatthöhe zwischen 20,9 cm und 21,2 cm. Die rechte und untere Seitenkante ist gezahnt, die obere glatt. Auf Bl. 1-8 (erster Bogen) ist durch Knicken ein Rand von 171
172 173 174
Vgl. Briefe 3, 258. 261. In den folgenden Jahren 1802 und 1803 ist die Absicht, Dialoge schreiben, viel unbestimmter formuliert (vgl. Briefe 3,312.322.354.360.370). Unten 75,4 Vgl. unten 293,5-15 u. 293,18-294,3 Vgl. unten 88,1-6
zu
Historische
XLVII
Einführung
ca. 6,5 cm markiert, auf Bl.9-16 (zweiter Bogen) ist dieser Rand etwa 5,5 cm breit. Bl. lv, 4v, 15, 16 sowie das untere Siebtel von Bl. 2v, die unteren zwei Drittel von Bl. 4 r, das untere Viertel von Bl. 7v, das untere Drittel von Bl. 9 ν und 11 v, die untere Hälfte von Bl. 13 ν und 14 ν sind unbeschrieben. Das Manuskript bricht ab. Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „Chemie" umfaßt einen Bogen, wobei aber die Blätter 5-8 der zweiten Bogenhälfte oben gar nicht aufgeschnitten sind. Beschrieben mit Sepiatinte hat Schleiermacher nur die Titelseite (Bl. 1 r) mit der Uberschrift sowie Bl. 2 r ganz und Bl. 2 ν zu vier Siebteln. Unbeschrieben sind Bl. 1 ν und Bl. 3-8. Die Foliierung mit Bleistift stammt von fremder Hand. Das Papier mit Wasserzeichen ist nachgedunkelt und hat einige Stockflecken. Die Blattkanten sind oben glatt, außen und unten gezahnt. Durch Knicken ist ein Rand von 6,5 cm Breite abgeteilt. Die Blätter sind etwa 17cm breit und 21cm hoch. Der Text beginnt auf Bl.2r „Den 12.May ..." Durch die sachliche Verknüpfung mit dem Manuskript „Auszug aus den Verhandlungen ..." kann somit das Manuskript „ Chemie " sicher auf Mai 1800 datiert werden. Das Manuskript bricht ab. Über die Entstehungsgeschichte der beiden Manuskripte gibt es keine brieflichen Zeugnisse. Sie dokumentieren das seit seiner Jugend bestehende naturwissenschaftliche Interesse Schleiermachers. Es war nicht das erstemal, daß er sich intensiv mit Chemie beschäftigte. Mit seinem als Apotheker ausgebildeten jüngeren Bruder Carl hatte er schon 1797 in Berlin entsprechende Studien getrieben. Am 27. September 1797 berichtete er seiner Schwester Charlotte: „Ich beschäftige mich seit einiger Zeit einigermaßen mit Naturwissenschaften und besonders mit Chemie, und da er [sc. Carl] nun sein Fach während seines Hierseins sehr wissenschaftlich betrieben hat, so habe ich viel von ihm gelernt, gewiß mehr, als er von mir in andern Dingen. Er hat gewiß mehr gründliche Einsicht in den Wissenschaften, die in sein Fach einschlagen, als hundert andere, und das hilft ihm für sein äußeres alles nichts ohne Geld; fatale Welt mit ihren Einrichtungen!"175
6. Gedanken
IV
Das vierte Gedanken-Heft (Nachlaß-Nr. 145 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt zwei in lateinischer Schrift beschriebene Einzelblätter. Das eigenhändige Manuskript ohne Uberschrift und ohne Datum beginnt „1. Vergleichung der poetischen ...". Die insgesamt 19 Notate sind durch lange Striche getrennt und nachträglich mit Tinte numeriert. Die beiden Blätter sind je 17,3 cm breit und 21,1 cm hoch. 175
Briefe 1,117f;
vgl. auch Briefe 1,174f
sowie F. Schlegel: KA
24,134
XLVIII
Einleitung des Bandherausgebers
Die linke und obere Kante sind jeweils glatt geschnitten, während die rechte und untere Kante gezahnt und teilweise eingerissen sind. Der durch Knikken markierte ca. 5,5 cm breite Rand weist mehrere Bemerkungen und Gedichte Schleiermachers in deutscher Schrift auf, außerdem Notizen und Anstreichungen mit Bleistift (vermutlich von Diltheys Hand). Das nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepiatinte von wechselnder Farbe beschrieben. Die Notate Nr. 1.3.4.14 hat Schleiermacher mit Tinte schräg gestrichen. Die Seitenzählung mit Bleistift stammt von fremder Hand. Die Datierung ist nur näherungsweise möglich. Schleiermacher bezieht sich zweimal auf Fichtes „System der Sittenlehre".17t Deren Publikation 1798 ist also der sichere terminus post quem. Die Notate Nr. 6.7.10.17 sind Vorüberlegungen zu „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde"177, die Schleiermacher im Juni 1800 publizierte. Da auch die Notate Nr. 2.4.12.14.16.19 und die Randgedichte zu Nr. 2 und 10 sich auf das Themenfeld der Liebe beziehen, das die „ Vertrauten Briefe" behandeln, so ist die Nähe des gesamten vierten Gedanken-Hefts zu diesem literarischen Unternehmen unübersehbar. Die durch die thematische Verschränkung gestützte Vermutung großer zeitlicher Nähe zu den „ Vertrauten Briefen " weist auf die erste Jahreshälfte 1800 als Abfassungszeitraum. Wann die Randgedichte niedergeschrieben worden sind, muß offen bleiben. Ein größerer zeitlicher Abstand ist allerdings unwahrscheinlich. Wilhelm Dilthey veröffentlichte 1870 das vierte Gedanken-Heft auszugsweise unter der Überschrift „Aus zwei einzelnen Blättern"179 in dem selbständig paginierten Anhang „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" zum ersten (und einzigen) Band seiner Schrift „Leben Schleiermachers". Dilthey publizierte 14 der 19 Notate.179 Er druckte Nr. 6.11 f 16f nicht ab. Er bot nur die jeweils erste Fassung der Randgedichte zu Nr. 9 und 10.
7. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde Im Juni 1800 erschien bei dem Hamburger Verleger Friedrich Bohn anonym Schleiermachers Druckschrift „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde". Als Verlagsorte sind Lübeck und Leipzig angegeben. Gedruckt wurde das Werk gemäß Impressum auf S. 153 in Jena bei Frommann und Wesselhöft. Das Werk umfaßt nach Titelblatt und Zwischentitelblatt 152 Druckseiten mit durchschnittlich 26 Zeilen. Die Oktavseiten sind 16 cm hoch und 9,6 cm breit. Die neuneinhalb Bogen sind durch Großbuchstaben (A bis K) gezählt. Ein Inhaltsverzeichnis, das den einleitenden Brief 176 178
Vgl. unten 135,1 u. Denkmale 113
136,4
177 179
Vgl. unten 143-215 Vgl. Denkmale 113-115
Historische Einführung
XLIX
an den fiktiven Herausgeber der Briefsammlung „/In**"180 samt „Zueignung an die Unverständigen"m, weiterhin den 1. Brief „An Ernes tine"182, den 2. Brief „An Dieselbe"183, den 3. Brief „Ernestine an mich"1** mit dem „Versuch über die Schaamhaftigkeit"m, den 4. Brief „Von Karoline"l86, 197 1 den 5. Brief „An Karoline" , den 6. Brief „An Eduard" **, den 7. Brief „Eleonore an mich"1*'' samt „Beilage"190, den 8. Brief „An Eleonore"m 192 und den 9. Brief „An Ernestine" aufführen würde, fehlt. Schleiermacher erhielt ein Bogenhonorar von einem Friedrichsd'or.193 Zur Entstehungsgeschichte der „Vertrauten Briefe", die ja als Gelegenheitsschrift eng mit der Publikation des Schlegelschen Romans verwoben sind, liegen mannigfaltige Zeugnisse vor. Friedrich Schlegel, der sich schon mehrere Jahre mit Plänen zu einem oder mehreren Romanen trug, äußerte seine Absicht zum Roman „Lucinde" erstmals am 20. Oktober 1798 gegenüber Hardenberg: „Diesen Winter denke ich wohl einen leichtfertigen Roman Lucinde leicht zu fertigen. "194 Anfang Februar 1799 schickte er den ersten Teil, „die ganze Ouvertüre"19i, auch „Synfonie"196 genannt, von Berlin an seinen Bruder August Wilhelm nach Jena. Dieser erste symphonische Teil besteht aus „Prolog", „Dithyrambische Fantasie über die schönste Situazion", „Charakteristik der kleinen Wilhelmine", „Allegorie von der Frechheit" und „Idylle über den Müßiggang"197. Wenig später schickte er den Abschnitt „Treue und Scherz"19*, der nicht mehr symphonisch, sondern „ganz dialogisch"199 ist. „Das nächste sind nun Lehrjahre der Männlichkeit, ganz erzählend, ziemlich lang und eigentlich der Roman selbst. Sie sind beynah fertig. "200 F. Schlegels Intention war, an Cervantes orientiert den Schäferroman der Renaissance in witziger Manier mit seinen allegorischen und erotischen Elementen nachzuahmen.201 Statt der leichten 182 Unten 149,2f Unten 143, 1 Unten 146,4-6 185 Unten 114,2 Unten 160,2 Unten 168,3-1 186 188 Unten 184,2 Unten 179, 2 Unten 190,2 189 1,1 Unten 201,1 Unten 191,2 Unten 207, 2 1.2 Unten 213, 2 1.3 Vgl. Briefe 3,311 1.4 F. Schlegel: KA 24,183. Im November 1798 scheint F. Schlegel die Arbeit am Roman aufgenommen zu haben (vgl. F.Schlegel: KA 24,199f). Die Ausarbeitung machte zunächst schnelle Fortschritte, so daß Schlegel bereits Anfang Dezember bei Heinrich Frölich anfragte, ob er bereit sei, „einen kleinen Roman dessen erstes Bändchen wenigstens ich in einigen Monaten in einer eleganten Form gedruckt zu sehen wünsche, in Verlag zu nehmen?" (F. Schlegel: KA 24, 204) 1.5 F. Schlegel: KA 24,227 F.Schlegel: KA 24,227 1.7 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 1-94; KA 1,3-29 1.8 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 94-119; KA 1,29-31 »" F. Schlegel: KA 24,227 200 F. Schlegel: KA 24,232 201 Vgl. F. Schlegel: KA 24, 239f. 244
180
183
L
Einleitung
des
Bandherausgebers
Fertigung war Schlegel nun mit ganzem religiösen Ernst bei der Sache. Dementsprechend konnte er im April konstatieren, „daß das Ganze eins der künstlichsten Kunstwerkchen ist, die man hat. "202 F. Schlegel schrieb den ersten Band ohne Rücksicht auf den geplanten und angekündigten zweiten. Darin sah er sich erleichtert gegenüber Schleiermacher, der bei seinen gleichzeitig niedergeschriebenen Reden „Über die Religion" sich in der Verschränkung der einzelnen Reden „sehr concentrisch"2W um seine Gesamtidee bewege. Demgegenüber wollte F. Schlegel „dem ersten Band sein volles Recht"204 geben. Der Roman war schon vor der Veröffentlichung im Berliner und Jenaer Frühromantikerkreis Gegenstand brieflicher Beurteilungen und Vermutungen.205 Dorothea Veit schrieb am 8. April 1799 an Schleiermacher in Potsdam: „ Was Lucinde betrifft — ja was Lucinde betrifft! - Oft wird mir es heiß, und wieder kalt ums Herz, daß das Innerste so herausgewendet werden soll - was mir so heilig war, so heimlich; jezt nun allen Neugierigen, allen Hassern Preiß gegeben. Umsonst sucht er mich durch den Gedanken zu stärken: daß Sie noch kühner wären, als er. - Ach es ist nicht die Kühnheit die mich erschreckt! Die Natur feyert auch die Anbetung des Höchsten in offnen Fempeln, laut durch die ganze Welt - aber die Liebe ? - Ich denke aber wieder: alle diese Schmerzen werden vergehen, mit meinem Leben, und das Leben auch mit, und alles was vergeht, sollte man nicht so hoch achten, daß man ein Werk drum unterließe das Ewig seyn wird. - Ja dann erst wird die Welt es recht beurtheilen, wenn alle diese Nebendinge wegfallen. "206 In der zweiten Aprilhälfie schickte F. Schlegel wohl einen großen Feil der Druckfahnen von „Lucinde" an Schleiermacher in Potsdam: „Hier ist die verlangte Lucinde soweit ich sie habe. Die Götter geben, daß sie Dir nun in Masse einen recht massiven Eindruck mache. Die Herz hat neulich ein Stück davon mit vieler Fheilnahme angehört. Indessen nimmt sie sie zu weltlich. Daran bist Du mit Deiner Religion Schuld. Was diese betrifft, so komme ich je mehr und mehr zum Optimismus zurück, nicht dem Leibnitzischen, sondern dem alten biblischen — und siehe was er gemacht hatte, war gut. "207 Daß Schleiermacher keine ungeteilte Zustimmung äußerte, läßt sich aus einer Schlegelschen Briefstelle erschließen: „Geben Dir meine Schriften nur Anlaß, Dich mit einem hohlen Gespenst von Verstehen und 202
203 204 205 206 207
F. Schlegel: KA 24,264. Obwohl F. Schlegel den Roman selbst als höchst artiftziell einstufte, berief sich Dorothea Veit gegenüber aller Kritik auf die Legitimität künstlerischer Spontaneität: „ Wie um des Himmels willen soll man ein Geschöpf erziehen, das so gekeimt, und gerüstet, und fertig dem Haupte des göttlichen Vaters entspringt? Lucinde ist nicht sowohl verzogen, als gar nicht erzogen." (F. Schlegel: KA 24,245) F. Schlegel: KA 24,248 F. Schlegel: KA 24, 248 Vgl. z.B. Hardenberg: Schriften, edd. Kluckhohn/Samuel, Bd4,279,18-280,18 F. Schlegel: KA 24,266 (auch Briefe 3, III); vgl. dazu auch Briefe 1,216 Briefe 3,114
Historische
LI
Einführung
Nichtverstehen herumzuschlagen, so lege sie noch bei Seite. Oder mache es mit allen, wie Du es glaube ich mit der Lucinde gemacht hast; freue Dich an dem was nach Deinem Sinne ist, und laß das übrige fallen. "20S Der erste (und einzige) Band von Friedrich Schlegels „Lucinde" erschien im Mai 1799. Der gesellschaftlich-literarische Skandal, den die Publikation auslöste, kam nicht ganz unerwartet. Hatte es doch im Kreis der Frühromantiker selbst und bei deren Bekannten schon in der Abfassungszeit vorausdeutende Schatten gegeben. So schrieb Schleiermacher bereits am 12. April 1799 aus Potsdam, wo er das Hofpredigeramt vertretungsweise wahrnahm, an Henriette Herz: „Denken Sie, auch die E[leonore] hat schon von der Unanständigkeit der Lucinde reden hören, wahrscheinlich durch Parthei und Nicolai, wie weit das schon verbreitet ist! ich habe sie lezthin förmlich eingeladen meine Reden nicht zu lesen: ich fühle, sie seien dunkel und es würde sie fast niemand verstehen, mit dem ich nicht sonst aus der Sache gesprochen hätte etc. Nun schreibt sie ihrer Mutter, sie habe gehört, Schlegel's Luzinde sei so natürlich, so gar zu natürlich, daß eine sittliche Frau sie nicht lesen könne, und so seien ihr zum Unglück die Bücher der beiden Freunde verboten, das eine, weil es ihr zu hoch, das andre, weil es ihr zu natürlich sei. "209 Damals tauchte auch der Plan zu einem literarischen Projekt auf, das Schleiermacher wohl bereits im Sommer 1798 anfangsweise bearbeitet hatte und das dann in seine „ Vertrauten Briefe " als „ Versuch über die Schaamhaftigkeit" Aufnahme fand. Am 16. April 1799 schrieb Schleiermacher an Henriette Herz: „Auf den Abend mit Heindorf freue ich mich; ich bin ihm wirklich sehr gut, und wie Sie ihm die Unschuld nicht abgemerkt haben, wenn Sie mit ihm von Menschen gesprochen haben, begreife ich nicht. Mit dieser Art von Unschuld wird man mit der Welt nicht durch andre bekannt, weil man immer von falschen Voraussezungen ausgeht. Es giebt hierin auch eine ursprüngliche Anschauung; wer zu der nicht kommt aus sich selbst, der ist eben für dieses Fach verloren. Ueber die Unschuld mache ich auch wohl noch mal einen Essay. Eigentlich glaube ich, daß ich von den Menschen ziemlich viel weiß, von ihrem Innern nemlich, da habe ich bald eine klare Anschauung; aber in dem, was man Welt nennt, in der Kenntniß, in der Routine und ihren kleinen Tries, da bin ich ein grausamer Stümper; es scheint mir immer nicht der Mühe werth darauf zu sehen. Jenes kostet mich nichts als Zeit, und dazu hat man sie ja. "210 Angesichts des allgemeinen Skandals und der parteiischen Aufgeregtheit warb F. Schlegel Ende November 1799 brieflich dafür, Schleiermacher möge doch eine öffentliche Beurteilung des Romans abgeben. „Eine ähnliche, wahrscheinlich noch dümmere [Rezension] steht nun von der Lucinde zu erwarten. Wie wird Dir bey dem Geschrey gegen diese? Du äußertest einmal gegen mich den Gedanken, Du 208
Briefe
3,124
2°'
Briefe
l,216f
210
Briefe
1,219
LH
Einleitung
des
Bandherausgebers
hättest wohl Lust, etwas über die Moralität der Lucinde zu schreiben, wenn Dir Veranlassung dazu gegeben würde. Wirst Du diese wohl irgendwo finden können f Mich verlangt wirklich sehr, einmal eine Stimme über ein Werk von mir schwarz auf weiß zu vernehmen. Sehr interessant würde es mir seyn zu sehen, wie Du das Ding angriffest."211 Nach Fertigstellung der „Monologen" zum Jahreswechsel 1799/1800 scheint sich Schleiermacher zur Abfassung seiner Lucinde-Briefe entschlossen zu haben. Doch wollte er offensichtlich nicht sogleich mit der Ausarbeitung beginnen, sondern erwartete noch eine Verbesserung seiner äußeren Arbeitsumstände. Thematische und konzeptionelle Vorüberlegungen zu den „ Vertrauten Briefen " begegnen im dritten und vierten Gedanken-Heft in größerer Zahl. Es sind in Gedanken III die Nr. 51. 60-60b. 63.67212 sowie in Gedanken IVdie Nr. 2. 6. 7.10.14.17in. Daß die ersten Vorüberlegungen zu den „ Vertrauten Briefen " erst nach den letzten zu den „Monologen " auftauchen, dürfte ebenfalls fur einen Arbeitsbeginn Schleiermachers nicht vor Januar 1800 sprechen. Diese Gedankensplitter sind eingebettet in poetologische Überlegungen und weisen auf den literarischen Gestaltungswillen hin. So zeigt schon der erste Aufriß2'4, wie stilistisch anspruchsvoll und literarisch vielseitig die „Vertrauten Briefe" mit Briefen, Persiflage, Essay und Fragmenten-Beilage von vornherein geplant waren. In diesem ersten Stadium waren allerdings noch zusätzlich ein alter Mann und ein zweiter Freund als Briefpartner vorgesehen. In der ausgeführten Fassung wird ja das Lucinde-Thema facettiert durch die fünf Korrespondenzpartner (Friedrich sowie Ernestine, Eleonore, Karoline und Eduard) abgehandelt. Schleiermachers stilistische Mittel lassen konzeptionelle Anleihen bei der romantischen Romantheorie erkennen, ohne daß er das künstliche Chaos des Lucinde-Romans nachahmte. Seine Gestaltung erweist sich als so kräftig und wirksam, daß selbst die wirklichen Äußerungen Eleonore Grunows2li in die Fiktion amalgamiert werden.
211
212 213 214
215
Briefe 3,137. Bereits vorher am 20. September 1799 sprach F.Schlegel von Jena aus Schleiermacher brieflich auf eine Beurteilung der „Lucinde" an, wobei allerdings nicht an eine öffentliche gedacht sein muß: „ Wenn Du Veranlassung fändest, etwas über die sogenannte Moralität der Lucinde zu sagen, das sollte mir sehr lieb seyn; theils der Lucinde wegen, theils an sich, würde es mich sehr interessiren zu sehen und meine Freude daran zu haben, wie Du etwas dergleichen angreifen würdest." (Briefe 3,121) Vgl. KGA 1/2,130-135 Vgl. unten 131-137 Vgl. Gedanken III, Nr. 60: „Enthüllung des Systems der Prüderie in einem Brief an eine Schwester. Theorie der Küße an ein kleines kokettes Mädchen. Persiflage der gemeinen Urtheile und Späße nebst dem über die Ungarn an einen Freund. Statt der Vorrede auch ein Brief. Ein auch ernsthafter an einen alten Mann der an der Luzinde die traurigen Folgen der Emancipation gezeigt hatte. Ernsthaft an eine Freundin über den Scherz mit der Liebe. An einen Freund über die Theorie der Ehe." (KGA 1/2,133,12-134, 5) Vgl. besonders unten 201,1-206, 4
Historische Einführung
LIII
Schleiermachers Verteidigung zielte auf eine Erhellung der sittlichen Qualität der „Lucinde", deren poetische Qualität er nicht allzu hoch schätzte21b. Am 4.Januar 1800 berichtete er Brinckmann: „Von Schlegels Lucinde, die doch bald nach der Ostermesse herausgekommen ist, scheinst Du im October noch nichts gewußt zu haben, denn sonst, hoffe ich, würdest Du sie auch schon gelesen und ein Wörtchen darüber gesagt haben. Hier in unserm Theile von Deutschland ist das Geschrei dagegen allgemein; der Parteigeist verblendet die Menschen bis zur Raserei, und die Verlezung der Decenz, dieses höchst unbestimmte Verbrechen, dessen man bezüchtigen und loslassen kann wie und wen man will, läßt auch vernünftige Menschen alles Schöne und Vortreffliche in diesem Buch und seinen eigenthümlichen gewiß großen Geist übersehen. Wenn man die Leute an die Alten erinnert, und sich erbietet ihnen in ihrem Wieland und andern verehrten Häuptern weit verführerischere Dinge zu zeigen, so sind sie freilich in Verlegenheit. Ueberhaupt ist bei den Meisten dieser Punkt nur Vorwand, um eine Brücke zu Schlegel's Persönlichkeit zu finden, und bei Andern ist es Verdruß, daß sie für die Verlezung der Decenz nicht die Valuta in baarem Sinnenkizel empfangen haben, wie es doch hergebracht ist. Schon seit langer Zeit bin ich in Versuchung, etwas über die Lucinde zu schreiben, damit die Leute doch dieses recht und das Andre endlich auch einmal sehen, - es sind nur äußere Verhältnisse, die mich daran gehindert haben; ich hoffe aber noch eine gute Auskunft zu finden. "217 F. Schlegel, dem er gleichzeitig seinen Entschluß mitgeteilt hatte, trieb ihn zur Eile an. Schleiermachers Forderung nach völliger Diskretion für seine Autorschaft sah Schlegel als Hemmnis fur die Publikation. „Sehr erfreut hat mich das was Du über Deine Schrift von der Lucinde schreibst. Weil aber jetzt das Aergemiß am höchsten gestiegen ist, wäre es glaube ich jetzt gleich am besten. Auch ginge mein Wunsch auf etwas Eignes, damit ich Dich ausführlicher zu vernehmen bekäme. Aber sehr bedenklich macht mich, was Du wegen der Verschwiegenheit schreibst; die bloße Möglichkeit, daß es ein Dir so heiliges Verhältniß verletzen könnte, macht mich fast meinen Wunsch bereuen. Tieck weiß es noch nicht; ich würde es auch gewiß keinem Berliner anbieten, sondern etwa Friedrich Bohn in Hamburg, den ich hier habe kennen lernen und der die Lucinde liebt. Aber wie leicht kann doch einer Deine Schreibart erkennen, und die Sache so verrathen werden! Ostern müßte es erscheinen, während das Geschrey noch warm ist. Ob Du den zweyten Theil erwarten müßtest, entscheide selbst. Zur Kunstbeurtheilung wäre es freylich nöthig, und doch streng genommen nicht hinreichend, bis ich wenigstens noch ein Werk der Poesie von mir gegeben hätte, wo man denn zwey Punkte hätte, aus denen sich das übrige construiren ließe: denn wenige Fälle und einige bestimmte Gattungen ausgenommen, wo das 216
Vgl. Briefe 4,63
217
Briefe 4, 54
LIV
Einleitung
des
Bandherausgebers
absolute Urtheil stattfindet, giebt's doch kein andres Kunsturtheil als das historische. Deine Absicht ging ja aber von Anfang an auf die Sittlichkeit, und was in dieser Hinsicht Geist der Lucinde ist, scheint mir soweit ich selbst urtheilen kann, im ersten Bändchen schon vollständig gegeben. Daß das zweyte weit weniger und weit gelinderes Aergerniß von der Art geben wird wie das erste thut nichts zur Sache, im Gegentheil knüpft sich die Polemik wohl am besten daran, wo das Aergerniß am größten ist."21* Wenig später drängte ihn F. Schlegel, der die Verlagsverhandlungen mit Friedrich Bohn für Schleiermacher führte, erneut zur Eile. „Betreffend Deine Briefe über Lucinde, so ist das wichtigste daß Du sie bald machst; unterbringen will ich sie wohl, wenn Du aber darauf wartest, so wird es zu spät. - Ich erwarte und hoffe und wünsche die unbedingteste Freymüthigkeit von Dir, lieber Freund. "2l9 Die von Schleiermacher gewünschte Anonymität gestaltete die Verlagsverhandlungen schwierig.120 Dankbarkeit für die übernommene Verteidigung von Seiten Dorothea Veits221 und Drängen zur Fertigstellung der Verteidigungsschrift von seiten F. Schlegels111 kennzeichnen die folgenden Briefe. Im Februar 1800 scheint Schleiermacher mit der Ausarbeitung seiner Lucinde-Briefe begonnen zu haben.22i Die Arbeit ging rasch voran.11* Anfang April hielt Schlegel wohl den ersten Teil der Schleiermacherschen Lucinde-Briefe in Händen und erläuterte gleich seine zustimmende Beurtein
> Briefe 3,145 " Briefe 3,152 Dorothea Veit berichtete am 14. Februar 1800 an Schleiermacher: „ Wie sehr mich Ihr Vorsatz mit der Ueber Lucinde freut, kann ich Ihnen nicht sagen; aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich es erwartete von Ihnen - möchte es doch kein Verhältniß geben das Sie abhält Ihren Namen zu Ihrer aufrichtigen Meynung zu geben! Fr. steht mit Bohn in Unterhandlung wegen der Briefe; er hat ihm sehr artig geantwortet, stößt sich aber gewaltig an der Anonymität, Friedrich will ihm nun wieder schreiben, doch hoffentlich wird er Ihnen eigenhändig über die Sache schreiben." (Briefe 3,155) 221 Vgl. Briefe 3,159 222 Vgl. Briefe 3,160 223 Für diese Datierung spricht die dringende briefliche Bitte vom 15. Februar 1800 an Brinckmann um dessen Rezension der „Lucinde": „ Wird denn Deine Recension der Lucinde Manuscript bleiben ? und wirst Du so geizig damit sein sie nicht einmal mir mitzutheilen ? Ich will Dich hiemit aufs Beste darum gebeten haben: ich möchte nicht nur die Berührungspunkte unseres Urtheils genauer wissen, sondern mir würden auch die Differenzen sehr interessant sein." (Briefe 4, 57f) 224 Die Wiederholung der Schleiermacherschen Bitte an Brinckmann vom 22. März 1800 kann wohl auf das nahe Ende bzw. ein fortgeschrittenes Stadium des Schleiermacherschen Ausarbeitungsprozesses gedeutet werden. „Noch einen großen Dienst könntest Du mir erzeigen, wenn Du mir Deine Recension der Lucinde, wenn Du sie anders bei der Hand hast, schicken wolltest; es müßte aber sogleich geschehen, wobei ich Dich versichere, daß kein Mensch eine Sylbe davon erfahren soll, und daß ich sie ganz allein fur mich haben will: es wäre mir eine sehr wesentliche Gefälligkeit, und um so wesentlicher, je eher." (Briefe 4,60f) 2
220
Historische
Einführung
LV
lung. „Herzliche Freude haben mir Deine Lucindenbriefe gemacht; um so mehr, da ich mich eigentlich mit bestimmteren Divinationen, wie sie seyn möchten, bisher nicht in Unkosten gesteckt hatte. Denn das ist der einzige Fall, wo ich die Fichte'sche Formel, daß man zu dergleichen keine Zeit habe, für mich anwendbar finde. Es thut mir unglaublich wohl, mit dieser Tiefe und mit dieser Freyheit und Anmuth über mein Werk reden zu hören, ich sehe mit Sehnsucht und Hoffnung der zweiten Epistel entgegen, und wünschte, Du mögest das Ganze so in einem Guß vollenden können. In dem nicht mitgezählten Brief, der auch die Zueignung enthält, finde ich zwar wohl noch etwas Zwang sichtbar. Da dieser aber so unerwartet abnimmt, und es immer wärmer und freyer wird je tiefer es eingeht, macht sich das im Ganzen schon jetzt sehr gut, und wird wenn das Ganze erst ganz ist, wohl als nothwendig erscheinen. Der Brief von Ernestine ist besonders schön. Ich habe nun schon eine bestimmtere Ansicht, wie Du Deinen Roman schreiben wirst. Auch ahnde ich nun schon, wo Deine Polemik hingehen wird, und gebe Dir, wenn ich recht sehe, zwar nicht gegen mich aber doch gegen die Lucinde vollkommen Recht. "225 Schlegel ergänzte diese Beurteilung wenig später durch die Beurteilung des zweiten ihm zugesandten Teils: „Heute mußt Du sehr vorlieb nehmen, mein Freund. Du kannst Dir ja leicht denken, wie viele Störung es hier giebt. Wundre Dich daher nicht, daß ich Deine letzte Sendung noch nicht recht gründlich habe lesen können, sondern erst den heutigen Abend dazu bestimmt habe, da ich mir ohnehin vorgenommen hatte, den Essay über die Schaamhaftigkeit noch einmal im ganzen zu lesen, ehe ich Dir mein endliches Resultat darüber schreibe; daß er mich sehr interessirt und intriguirt siehst Du schon daraus und versteht sich ohnehin. Den Brief der Caroline hat Dorothea äußerst liebenswürdig gefunden, und unendlich mädchenhaft, bis zum Erstaunen. Von dem angebotenen Recht wird sie vielleicht bey einem Wörtchen über die Lisette Gebrauch machen, weil dies doch für ein Mädchen ein sehr mißlicher Punkt ist. Aber verlaß Dich nur auf mich, daß weder der Lisette noch dem Brief Unrecht durch den Gebrauch jenes Rechtes geschehen soll. "22i Am 28. April 1800 ging das Manuskript, soweit es F. Schlegel in Jena schon vorlag, in Druck bei der Jenenser Druckerei Frommann und Wesselhöft.217 Am 3. Mai 1800 meldete Schleiermacher A. W.Schlegel die Fertig225 227
22t Briefe 3, 163 Briefe 3,167 Dorothea Veit berichtete darüber an Schleiermacher: „[...] in diesem Moment schickt Frommann nach dem Manuscript der Lucindenbriefe; ich habe es hingegeben soweit es da ist. Aber nun seyn Sie hübsch fix, lieber S., denn der Druck geht heute noch an. Er wollte einen Titel haben; es kommt ja wohl kein anderer dazu als darauf steht. Sollte etwa Friedrich noch einen dazu machen, einen ausführlicheren äußeren, so ist es immer noch Zeit. [...] Die Lucindenbriefe, mein guter Freund, sind ächte Briefe und nehmen Sie dafür mein Lob und meinen Dank. Was noch mehr ist, sie sind weiblich; was noch mehr ist, mädchenhaft, der von Caroline transcendental mädchenhaft. Gegen den Effect hatte ich ein kleines Gefühlchen darin. Was meynen Sie? Den letzten Brief habe ich, povera me! noch nicht lesen
LVI
Einleitung
des
Bandherausgebers
Stellung der Lucinde-Briefe,228 Im Mai leitete F. Schlegel die Aushängebogen an Schleiermacher weiter und teilte ihm zugleich weitere Beurteilungen mit. „Endlich kann ich Dir doch wenigstens Aushängebogen schicken. Ich denke, morgen wird alles ganz fertig,und hoffe sie werden auf Dich die gewünschte Wirkung haben, Dich mit Deinem Werk auszusöhnen. Ich habe den Essay nun mit gutem Bedacht lesen können, er gefällt mir wegen der weisen Sparsamkeit mit der Ironie und wegen der gelinden Continuität der Paradoxic. Ich sehe wohl ein, daß diese in naher Beziehung mit dem Charakter der Form wie Du sie Dir gedacht hast, stehen muß. Doch kann ich mir diesen selbst noch nicht bis zum Begriff bringen. Doch schreibe das nur auf Rechnung meiner Schwerfälligkeit. Hätte ich noch einen Versuch eines Essay von Dir vor Augen, so würde ich schon gar trefflich combiniren und nachconstruiren können. [...] Ueber den Inhalt der Lucindenbriefe möchte ich einmal einen Nachmittag mit Dir schwatzen können. In einem Briefe macht sich dies schlecht. Doch wenn es nicht anders wird, so soll es doch auch so geschehen. Ich weiß eigentlich nicht, warum Du nicht ganz zufrieden damit bist; mir scheint Du müßtest es ganz seyn. Wie sehr ich es bin möchte ich Dir am liebsten durch obenerwähntes Gespräch sagen. Denke Dir, daß es hier steht. "229 F. Schlegels Roman und Schleiermachers ethische Beurteilung desselben sind in ihrem Verhältnis Darstellungen und Gesprächsbeiträge der von beiden gepflegten Symphilosophie, allerdings mit dem Hindernis des räumlichen Entfernungsgrabens. Den gelang es zu beider Leidwesen und Klage nicht ganz und unblessiert zu überbrücken. F. Schlegel schrieb: „Du hast noch manches, sagst Du, über die Lucinde auf dem Herzen aus anderem Standpunkte, als aus dem der in den Briefen mit so vielem Rechte der einzige ist. Wäre es nicht möglich, Du fändest, um es vor der Hand bloß mir mitzutheilen, eine leichte Form? Kann es nicht bloß in Fragmenten seyn?"110 Und Schleiermacher schrieb am 10. Juli: „Unsre gemeinschaftlichen Philosophumena sollten meinem Wunsch nach nicht nur neben einander stehen, sondern mit einer gewißen Nothwendigkeit zusammengehören, können, [...] der Sommer und der Frühling nehmen mir Zeit und Gedanken. Zumal solch ein Frühling! welches schöne Land!" (Briefe 3,172) "« Vgl. Briefe an A. W. Schlegel 741 229 Briefe 3,177f. Auch Dorothea Veit äußerte sich am Ii.Mai 1800 höchst zustimmend: „Es ist mir auch darum recht lieb, daß er (Bohn) die Lucindenbriefe bekommen hat, denn sie sind ein ganz allerliebstes Product, und doch gewiß Vorbild und Ahndung Ihres künftigen Romans. Ihre Unzufriedenheiten zwischen Schreiben und Drucken sind ja schon eine ganz bekannte Erscheinung, erlauben Sie mir also, daß ich darauf nicht besondre Rücksicht nehme. Die letzten Briefe habe ich noch nicht gelesen, ich war nicht zu Hause als sie kamen, und Friedrich hat sie gleich zur Druckerei geschickt, ich muß mich also in Geduld fassen." (Briefe 3,179) Am I.Juni 1800 meldete sie den Abgang der Druckexemplare nach Leipzig und schickte „die lezten Aushängebogen, verzehren Sie sie mit Gesundheit." (D. Schlegel: Briefe an Schleiermacher 68) Briefe 3,201
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sonst ists doch keine rechte Symphilosophie. Demnach läßt sich nicht so sagen was ich dazu bestimmt habe; am wenigsten von meiner Seite zuerst. Dies ließe sich am besten mündlich abmachen, wo sich eher findet, was der Eine zu dem des Anderen gehöriges hat, auch darum scheint mirs notwendig, daß wir wieder ein Endchen beisammen lebten. Und wieviel giebt es nicht zu reden, was sich gar nicht so schreiben läßt! Dahin gehört meines Erachtens auch sehr das über die Lucinde und das Verhältniß der Briefe zu ihr. Hierauf kann ich Dir so gar nicht antworten; es muß schlechterdings gesprochen sein. Auf den zweiten Theil bin ich höchst begierig. "231 Mitte Juni 1800 erschienen anonym Schleiermachers „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde".132 In seinem Brief vom 19. Juli 1800 machte Schleiermacher seinen Jugendfreund Brinckmann auf die LucindeBriefe aufmerksam. Die Selbstcharakteristik seiner Schrift fiel dabei sehr distanziert, fast geringschätzig aus. „Zu schicken hätte ich Dir auch etwas, nemlich meine Briefe über die Lucinde. Da aber Friedrich Bohn in Lübeck sie verlegt hat, so kannst Du sie dort näher haben. Sie sind eigentlich mehr etwas über die Liebe als etwas über die Lucinde, und ich erwarte, daß wir in Rücksicht der wenigen Gedanken, die sie enthalten, eben nicht sonderlich dijferiren werden. Im Ganzen bedeuten sie nicht viel, und laß Dir darum ja Zeit sie zu lesen, bis Du nichts Besseres zu thun hast. Ueber den Styl der Briefe, und über die Form des Versuchs wünschte ich dann wol gelegentlich Deine Meinung zu vernehmen. "2i} Am 14. Dezember 1803 wiederholte er gegenüber Brinckmann seine durchaus ambivalente Selbsteinschätzung der Lucinde-BriefeP4 Ebenfalls im Dezember 1803 formulierte er gegenüber 231 232
233 214
Briefe 3,203 Ende Juni 1800 schickte F. Schlegel die kostbar auf Velin gedruckten Freiexemplare an Schleiermacher nach Berlin und setzte seine Bemerkungen zu „Lucinde" und den „ Vertrauten Briefen"fort. „Endlich erfolgen die Exemplare! Ich hoffe die intellectuelle Anschauung des Velin möge Dich noch mehr mit dem Totaleindruck des Ganzen aussöhnen. In einer Rücksicht hast Du mir zu einer Enttäuschung geholfen, die mir sehr lieb ist. Bey einer so complicirten Idee wie die der Lucinde kann sich leicht ein Fehler in die Construction einSchleichen, und schon ein falsch gewähltes Wort kann einen solchen Fehler constituiren. Scherz kann mir gar nicht zu viel in der Lucinde seyn, und auch des Naiven nicht zu viel und nicht zu naiv. Aber Ironie gehört nicht hieher, und die welche im Meister und Stembald ist, möchte ich hier nicht haben. Die Täuschung ist hier sehr fein und leicht; gerade auf diesem Punkt denkt man sich jenes Naive was jeder als nothwendig und fast das wesentlichste fühlt, leicht als Ironie, die ohnehin die Seele der arabesken Form ist. Manches beziehst Du nun freilich darauf was ich nicht darauf beziehe; so würde ich die Reflexion bey einer Umarbeitung nur noch weiter und stärker entwickeln. Meine Absicht damit zu rechtfertigen, das würde wie so manches andere zu weitläuftig seyn, und muß ichs mir aufs Mündliche vorbehalten. Einiges wird auch schon der zweite Theil erklären." (Briefe 3,193 f ) Am 5. Juli 1800 beklagte sich allerdings Schleiermacher gegenüber Henriette Herz, daß unbegreiflicherweise Exemplare seiner Lucinde-Briefe immer noch nicht angekommen seien (vgl. Briefe 3,195). Briefe 4, 74 Vgl. Briefe 4, 93
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Reimer seine starken stilistischen Bedenken: „An der Ausarbeitung des Styls im Einzelnen wüßte ich in allen meinen Produkten viel zu ändern; in den Reden und Briefen über die Lucinde würden vielleicht wenige Blätter ganz ohne Strictur bleiben. "235 Von verschiedenen Seiten wurde vermutet oder behauptet, die Briefäußerungen der weiblichen Korrespondenzpartner in den Lucinde-Briefen seien nicht von Schleiermacher. August Ferdinand Bernhardt schrieb sie Henriette Herz zu, diese ihrerseits Eleonore Grunow. Dorothea Veit berichtete, Bernhardt glaube, „Jette hätte die weiblichen Briefe zum Theil geschrieben. Hat das ein Tadel seyn sollen, so ist er auf der falschen Bahn, so hat er es eben damit bewiesen, wie weiblich sie sind. "2ib Henriette Herz ihrerseits behauptete in ihren 1828 diktierten Erinnerungen, Eleonore Grunow habe einige Briefe geschriebenP7 Doch dürften neben gesprächsweise erfolgten Anregungen nur die als „Beilage"2™ gedruckte Fragmentensammlung teilweise von Eleonore Grunow herrühren. Schleiermacher seinerseits stachelte durch ein briefliches Selbstzeugnis vom Sommer 1801 das Rätselraten noch an, indem er durch Andeutungen den Schleier nur halb lüftete. An Ehrenfried von Willich, den er im Mai 1801 auf Rügen kennengelernt und dem er ein Exemplar der „ Vertrauten Briefe"geschickt hatte, schrieb er: „Beinahe möchte ich mich darüber wundern, daß ich Ihnen die Briefe über die Luzinde so ohne alle üble Ahnung geschickt habe, da ich doch Ursach habe zu glauben, daß sie zwei von meinen Freunden von mir entfernt haben. Es ist der zarteste Gegenstand, über den geschrieben werden kann und wo die Mißverständnisse so sehr leicht sind und grade von den besten Menschen oft am schwerfälligsten genommen und zu einem Grunde von falschen Folgerungen gemacht werden. Sie können denken, daß ich auf Ihre Meinung begierig sein muß, nämlich über meine Ansicht des Gegenstandes, die jedoch nicht die meinige allein ist; denn ich habe bei allen eingeführten Personen wirkliche im Sinn gehabt, und besonders ist die auffallendste, die Leonore, ganz genau eine wirkliche Frau. Was unter diesem Namen gesagt wird, ist ganz ihr gedachtes und großentheils auch ihre Worte. "239 Welche zwei Freunde Schleiermacher 235 237
238
236 Briefe 1,388 Briefe 3,211 Vgl. dazu: „Auch Schleiermacher hatte sich nicht sofort in dasselbe [sc. in Schlegels Buch „Lucinde"] hineingefunden. Er schrieb mir gleich nach dem Erscheinen, daß er,doch eigentlich keine rechte Idee von der Lucinde habe'. Aber bald gewann er diese, und das oft fast vorsätzlich erscheindende Mißverstehen des Buches Seitens des großen Lesepublikums und ein gewisser Oppositionsgeist, welcher ihm überhaupt und namentlich gegen Alles einwohnte, was ihn philisterhaft dünkte, veranlaßte ihn, nach einiger Zeit mit seiner Ansicht über dasselbe in den ,Briefen über die Lucinde' hervorzutreten. Ich will jedoch bemerken, daß einige dieser Briefe nicht von ihm, sondern von einer Dame sind, zu welcher er damals in sehr freundschaftlicher Beziehung stand, der Gattin des hiesigen Predigers Grunow." (Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen, ed. J.Fürst, Berlin 1850, S. 112) 239 Unten 201-206 Briefe 1,274
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durch diese Publikation verlor, läßt sich nicht sagen. Welche wirklichen Personen er jeweils im Sinn hatte, dazu gibt es aussagekräftige Hinweise. Bei der Brief-Eleonore dachte er an seine Freundin Eleonore Grunow, die er nach ihrer bewunderungswürdigen Seite hin stilisierte1™; besonders in den beigefügten Fragmenten dürften „ihre Worte"241 vorkommen. Die Brief-Ernestine trägt die Züge von Charlotte Ernst, geb. Schlegel in Dresden. Schleiermacher schrieb nämlich am 21. Februar 1809 an seine Braut Henriette von Willich: „Die Ernestine in den Briefen und die in der Weihnachtsfeier sind gewissermaßen dieselbe Person. Ich kann nicht sagen, daß ich Jemanden bestimmt damit gemeint; ich weiß nur, daß mir ein Bild dabei vorgeschwebt, was ich mir selbst nach Erzählungen, die vielleicht nicht die getreuesten waren, entworfen habe von einer Schwester von Schlegel in Dresden. Wenn er mir von ihr erzählte, gestaltete sich diese Figur in mir, die ich hernach so aufgeführt habe."1*1 In der Brief-Karoline dürfte sich Schleiermacher seiner Cousine Beneke, geb. Schumann in Landsberg an der Warthe entsinnen, zu der er seit seiner Drossener Zeit 1789 emotional in engen Beziehungen stand, die er im Spätsommer 1798 zuletzt besucht und unverändert gefunden hatte243 und die er fiktiv in die Zeit ihrer ersten Freundschaft zurückverwandelte. Sich selbst zeichnete er im Briefschreiber Friedrich.1** Schleiermacher bemängelte im Sommer 1800 die unzureichende Verlagswerbung für seine Schrift. „Sage mir doch warum Bohn meine Briefe nirgends hat ankündigen lassen. Da sie im Meßkatalog auch nicht stehn, so kann ja ihre Existenz gar nicht bekannt werden, und das sollte mir doch leid thun, nachdem ich sie einmal geschrieben habe. "245 Zur Belebung des Absatzes bat der Verleger Friedrich Bohn im August F. Schlegel, eine Anzeige bzw. Kurzrezension der Schleiermacherschen Lucinde-Briefe zu schreiben.1*6 Schleiermacher begrüßte dieses Unternehmen am 13. September 1800 ausdrücklich. „Die Idee mit der Anzeige ist ja Bohn sehr spät gekom240
241 242 245 244
245
Vgl. Schleiermachers Briefmitteilung vom 21. Februar 1809 an Henriette von Willich, bei Lektüre seiner Korrespondenz mit Eleonore Grunow werde Henriette „sehen, wie mir die Lucinden Briefe freilich nur Gelegenheit gaben, die eine Seite von ihr darzustellen, von der sie am bewunderungswürdigsten und schönsten erscheint, und Du magst dann urtheilen, wie ich diese aufgefaßt habe." (Briefwechsel mit seiner Braut 346) Briefe 1,274 Briefwechsel mit seiner Braut 346 Vgl. Briefe 3,96f Diese Zuordnungen werden gestützt durch die Charakterisierung der weiblichen Figuren im ersten Aufriß der Lucinde-Briefe in Gedanken III, Nr. 60: „Enthüllung des Systems der Prüderie in einem Brief an eine Schwester. Theorie der Küße an ein kleines kokettes Mädchen. [...] Ernsthaft an eine Freundin über den Scherz mit der Liebe." (KGA 1/2, 133,12-134, 4). Die „Schwester" des fiktiven Briefschreibers Friedrich bekam in den „ Vertrauten Briefen" den Namen Ernestine; das „Mädchen" heißt dort Karoline und die „Freundin" Eleonore. Briefe 3,208f
246
Vgl. Briefe
3,217
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Einleitung
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men, wahrscheinlich erst seitdem Vermehrens Briefe da sind. Sage mir doch etwas von diesen, und ob es der Mühe werth ist sie zu lesen, und mache die Anzeige hübsch bald, auch auf die bin ich neugierig. "247 Schon am 20. September erinnerte er F. Schlegel an diese Anzeige24*, erneut am 20. Oktober249 gemeinsam mit der Klage, daß seine Lucinde-Briefe nicht im Messekatalog stünden. Am 14. Oktober 1800 hatte er auch A. W. Schlegel auf dieses Projekt des Bruders angesprochen.250 Am 8. Dezember 1800 kündigte F. Schlegel die umgehende Fertigstellung seiner Kurzrezension der LucindeBriefe an. „ Uebrigens schließe nur daraus daß ich auch die Anzeige der Lucindebriefe schon gemacht habe; gesetzt ich machte sie auch erst heute. "251 Diese versprochene Anzeige Schlegels ist nie erschienen. Zur Rezeptionsgeschichte der Lucinde-Briefe liegen einige Briefzeugnisse vor. F. Schlegel berichtete im Juni von der Aufnahme, die Schleiermachers anonymer Schrift im Kreis der Jenaer Frühromantiker zuteil wurde. Die Anonymität ließ sich hier kaum wahren.252 „ Tieck hat unglücklicherweise gleich auf Dich gerathen. Bohn und Frommann sind exemplarisch discret gewesen, ich gab es so unbefangen wie möglich und leugnete nachher so trokken und ernst wie ich wußte, daß ich nichts davon wisse. Aber schwerlich wird er seine Vermuthung, die ihm Gewißheit scheint, aufgeben. Rittern haben sie außerordentlich beschäftigt, gefallen und erfreut. Er rieth auf Hardenberg, welches Dir weniger wunderbar scheinen würde, wenn Du dessen Roman schon gesehen hättest. An Liecks Urtheil, der im Ganzen eine Antipathie dagegen hat kann Dir allenfalls nur das interessant sein, daß ihm doch der Versuch gefällt. Diesen lobt auch Wilhelm ganz vorzüglich. Er meynt die Schamhaftigkeit würde darin wie ein Kaninchen von der Frette aus jedem Winkel weggejagt, bis sie sich endlich aus der bestimmten Oeffnung stürzen müsse. Er hat Dich gründlich und mit Andacht gelesen, lobt sehr Deine Gedanken von den Versuchen in der Liebe als ihm einleuchtend und aus eigner Erfahrung bewährt; meynt jedoch Du arbeitest Dich immer tiefer in Deine Manier herein, wo die Kraft zu sehr von der Feinheit überwogen würde. Das sind nun so allerley Ansichten. Mir ist das liebste im Buch, daß es so genau ja ängstlich genommen wird mit dem worauf sich alles bezieht, und daß man den einen großen Gesichtspunkt nie aus den Augen verliehrt. Rittern wird es gut seyn. Er redete mir schon neulich von seinen Gedanken über das Verhältniß der Liebe und Religion recht aus der Tiefe. Der Versuch gefällt auch mir nun immer mehr. Ein Urtheil über die Form wage ich nicht, bis ich noch einen sehe. Das sehe ich schon jetzt, daß zwey Elemente darin verschmolzen sind, die in meiner Praxis getrennt sind und bleiben; die gelinde gesellige Paradoxie und Ironie, die ich wohl im
247 24
'
2S1
Briefe 3,229 Vgl. Briefe 3,238 Briefe 3,247
248 250 252
Vgl. Briefe 3, 233 Vgl. Briefe an A. W. Schlegel Vgl. Briefe 3,196
760
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dialektischen Briefe versucht habe, und was ich Versuche nennen würde, das innere Experimentiren mit der Reflexion ohne weiteres. "253 Dorothea Veit verband am 16. Juni 1800 mit der brieflichen Nachricht von der Publikation eine eingehendere Würdigung. „Die Lucindenbriefe habe ich zu mir genommen und muß Ihnen dafür danken, denn es ist wahr, daß Sie mich manches in der Lucinde haben besser verstehen gelehrt, wenigstens ihm klar und bestimmt seinen Platz angewiesen, wo ich es hinzuthun habe; sie sind eine erfrischend gereifte Frucht aus der Lucindenblüthe gesprossen, und Eleonorens Fragmente waren für mich der süße Kern. Mich dünkt Sie haben so scharfsinnig noch nichts geschrieben, und so leicht und klar; Friedrich rühmte auch die religiöse Gewissenhaftigkeit. Soll ich Ihnen aber ein Geständnißablegen?Eigentlich dürfte ich gar nicht darüber urtheilen, denn ich fühle es deutlich daß Sie es weit schlechter hätten machen können, und ich hätte mich dennoch damit gefreut, ich fühle es, daß die Absicht mich besticht; jede andere Polemik wäre überflüssig, die Absicht der Briefe ist an sich schon eine fürchterliche Rache, und die Zueignung ist vollends das Flammenschwerdt, das den Unverständigen am Eingang des Paradieses entgegenblitzt. Dem Himmel sey Dank, daß diese nicht ist weggenommen worden, wie Sie es Anfangs willens waren. Die Andern sind sehr vom Versuch über die Schamhafiigkeit entzückt; ich will aber nicht zu schamhaft seyn Ihnen zu gestehen, daß ich ihn noch nicht so recht fort habe; es wird aber wohl noch kommen. Mir war es, als zögen Sie Discretion und Bescheidenheit mit hinein; Schamhafiigkeit habe ich mir immer als das Bewußtseyn der Blöße gedacht, das ganz natürliche Gefühl, wovon in der Bibel steht, daß es die Menschen durch den Fall erhielten mit dem Verstand zu gleicher Zeit. Also je mehr Verstand, desto mehr innerliche Schamhafiigkeit wegen des bekannten Bewußtseins, aber auf keinen Fall eine Tugend. Haben Sie eben so gemeint? oder wie? der fünfte Brief ist recht sophistisch, Caroline hat ganz Recht, er geht schlecht mit den Mädchen um; aber Ihre Versuche zu lieben sind excellent und machen alles klar und gut. Daß mir nun die Briefe von und an Leonoren die liebsten sind, wird Sie weiter wohl nicht Wunder nehmen. Dürfte ich Eleonoren in Lucindens Namen und in ihrer Seele antworten, so würde ich sagen, über das was sie ein Mißton im Duett dünkt: eben weil der Grund auf der Ewigkeit der Liebe ruht, darum muß sie entsagen können ohne Furcht die Liebe zu zertrümmern. Sie muß entsagen wollen können, oder sie darf nicht besitzen wollen. - Dem zweiten Mißlaut den Friedrich will im Duett gefunden haben, wag ich nicht in Julius Namen zu widersprechen, darüber hängt der undurchdringliche Vorhang der Individualität, den auch Lucinde wohl niemals hinwegzuheben vermochte, und aus heiliger Ehrfurcht lieber zurücktrat. Sie sehen, wie aufmerksam ich die Briefe studirt habe, und wie sehr sie mich interessiren. Das 2"
Briefe 3,186,f
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muß ich Ihnen aber doch sagen, daß sie mir wenigstens so kühn wie die Lucinde selbst zu sein scheinen, und daß sie der Welt hoffentlich mit ihrer Gründlichkeit vollends den Kopf verrücken werden. "254 Am 4. Juli ergänzte Dorothea Veit ihre Berurteilung der Schleiermacherschen Schrift. „ Sie thun viel für uns, das ist gewiß, von meiner Dankbarkeit zu sprechen bin ich zu schamhaft. Ihren Versuch über die Schamhaftigkeit werde ich nun mit dem Licht, mit dem Sie mich ausgerüstet, aufs neue lesen, sobald mir der Arzt wieder zu denken erlaubt. Ich nahm freilich die Schamhaftigkeit zu grob und primitiv. Deutlicher als Ihnen Friedrich über Wilhelms Urtheil über Ihre Feinheit und Ihre Kraft geschrieben, werde ich wohl schwerlich können. Es ist simpel. Er meint, daß während der großen Feinheit der Form vielleicht das Ursprüngliche in Gefahr steht an Kraft zu verlieren. Ach was! nehmen Sie es nicht so genau. Auch Friedrich hat es ehrlich gemeint mit dem, was er Ihre religiöse Gewissenhaftigkeit nannte, und gar nicht so doppelsinnig als Sie es auslegen; ich habe es aber immer gesagt, er würde noch dermaaßen in der Virtuosität der Ironie zunehmen, daß seine Freunde selbst ihm nicht über den Weg trauen würden. "255 Johann Gottlieb Fichte äußerte seine Einschätzung am 16. August 1800 brieflich gegenüber F.Schlegel: er habe seine „herzliche Freude" an den Lucinde-Briefen, „ohnerachtet ich mit den leztern nicht durchaus einig bin: und ich auch nicht glaube, daß Sie es seyn werden. Der Verf. macht, scheint es mir, die Luc. zu sehr zu einem Lehrgedicht, das da diene zur Lehre, Ermahnung, Zucht in der Gerechtigkeit der Liebe. Das war wohl Ihre Absicht nicht. "256 In seinem umfänglichen Antwortbrief auf die briefliche Verurteilung, die Friedrich Samuel Gottfried Sack gegen seine Verbindung mit dem Frühromantikerkreis formuliert hatte, ging Schleiermacher im Juni 1801 auch auf Schlegels „Lucinde" und seine eigenen Lucinde-Briefe ein. „Schlegel hat die Lucinde geschrieben, ein Buch, welches man nicht ohne wieder ein Buch zu schreiben gründlich vertheidigen könnte, und welches ich auch nicht ganz vertheidigen möchte, weil es neben vielem lobenswürdigem und schönem manches enthält was ich nicht billigen kann, aber zeigt es verderbte Grundsätze und Sitten an? Wenn jemand eine Theorie, die er sich über den Umfang der poetischen Darstellung gemacht hat, in einem Beispiel ausdrükken will, so hat das mit seinem Charakter nichts zu schaffen. Und unsittliche Nebenabsichten oder unwillkürliche Ausbrüche innerer Unsittlichkeit habe ich für mein Theil in der Lucinde nicht gefunden, wol aber in vielen deutschen und französischen Dichtern, die niemand verketzert und beschimpft. Gegen diese kommt mir mein Freund vor wie ein Künstler, der eine unbekleidete Venus malt, gegen morgenländische Sultane, die üppige Tänze in Gegenwart der Jugend von lebendigen Personen aufführen las254
Briefe
3,188/
255
Briefe
3,196
256
Fichte: Ak HI/4,
284,9-13
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Einführung
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sen. — Nie werde ich der vertraute Freund eines Menschen von verwerflichen Gesinnungen sein: aber nie werde ich aus Menschenfurcht einem unschuldig geächteten den Trost der Freundschaft entziehen, nie werde ich meines Standes wegen, anstatt nach der wahren Beschaffenheit der Sache zu handeln, mich von einem Schein, der Anderen vorschwebt, leiten lassen. Einer solchen Maxime zufolge würden ja wir Prediger die Vogelfreien sein im Reiche der Geselligkeit; jede Verläumdung gegen einen Freund, wenn sie gut genug ersonnen war um Glauben zu finden, könnte uns von ihm verbannen. Vielmehr ist das Ziel welches ich mir vorgesetzt habe dieses, durch ein untadelhaftes gleichförmiges Leben es mit der Zeit dahin zu bringen, daß nicht von einem unverschuldeten üblen Ruf meiner Freunde ein nachtheiliges Licht auf mich zurückfallen kann, sondern vielmehr von meiner Freundschaft für sie ein vortheilhaftes auf ihren Ruf."li7 Im Zuge der lebhaften literarischen Debatte um den Schlegelschen Roman fanden auch Schleiermachers „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" durchaus öffentliche Beachtung. Sie wurden bald nach ihrem Erscheinen in mehreren Rezensionsorganen besprochen, zumeist allerdings nur kurz und ohne eingehende inhaltliche und stilistische Würdigung. In unmittelbarem Anschluß an Schleiermachers eigene Rezension von F. Schlegels „Lucinde" stellte August Ferdinand Bernhardt (1769-1820) anonym Schleiermachers Lucinde-Briefe im Juli-Heft der Zeitschrift „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" knapp in wenigen Sätzen vor: „ Wenn die vorstehende Anzeige [sc. Schleiermachers] auf das Formelle der Lucinde sich bezieht, so gehen die Briefe auf das Materielle; sie stellen die Ansicht dieses Buchs durch verschiedene Media dar, und sind eine treffliche und geistreiche Einleitung in dieselbe. Dankbar bekennen wir es, manches Problematische in diesem Buche ist uns durch die Briefe gelöst, manche neue Ansicht eröffnet worden. Als Apologet der Lucinde aufzutreten, dazu finden sich freilich nur zu häufige Veranlassungen in der allgemeinen Verfolgung, welcher dies Buch ausgesetzt ist; und daher bildet sich natürlich eine Opposition, welche, wenn sie nicht mit einem großen Uebergewicht der Vernunft versehen ist, der Sache durch die nothwendig entstehende einseitige Tendenz schädlich ist. Daher klingt nun jedes Urtheil, käme es auch aus noch so reinem Herzen, partheiisch. Indessen ist glücklicher Weise noch ein Mittelweg da, um das Urtheil über die Lucinde zu prüfen; und dies ist kein anderer, als wenn diejenigen, welche so behende sind Friedrich Schlegel für wahnsinnig zu erklären, sich ernstlich fragen: Ob es so durchaus unmöglich ist, daß sie einfältig wären; und ob ihr Urtheil über die Lucinde aus diesem möglichen Prädikate nicht sehr consequent könnte abgeleitet werden."™ 257 258
Briefe 3,281 f Bernhardi: Berlinisches Archiv, Jahrgang 1800, Bd2,
S.43f
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Einleitung des Bandherausgebers
Ganz anders als diese zustimmende Beurteilung Bernhardts fiel die ebenso knappe Besprechung, die am 29. November 1800 im Leipziger „Jahrbuch der neuesten Literatur" anonym veröffentlicht wurde, sehr polemisch und abwertend aus. Die rügenden Anfangs- und Schlußsätze rahmen fünf Zitate259, durch die der Vorwurf, die Lucinde-Briefe betrieben eine schamlose Rechtfertigung und Anpreisung der sinnlichen Liebeslust und führten zu einer Erniedrigung der Frauen, belegt werden soll: „Der Vf. dieser Briefe kennt nach seinem eignen Geständniß nichts trefflicheres, das die Kunst hervorgebracht habe, als die Lucinde. Er vertheidigt diesen Roman gegen die Beschuldigungen einiger Freundinnen. In welchem Geiste und von welchem Geiste getrieben, er schreibt, werden folgende Stellen, die er sogar einem Mädchen in den Mund legt, anschaulich machen. [...] Die Sprache ist hochtrabend, mystisch, und durch das Bestreben neu zu seyn, wird sie nur zu oft gemein. "26° Die anonyme knappe Rezension, die die „Allgemeine Literatur-Zeitung" am 25. Dezember 1800 veröffentlichte, hat parodistisch-polemischen Charakter. Sie gibt weder eine inhaltliche Darstellung noch eine in Einzelschritten nachvollziehbare Beurteilung der Schleiermacherschen LucindeBriefe, sondern schüttet ihren Spott über die angenommene Vorurteilsfreiheit und sittliche Fortgeschrittenheit sowie die stilistischen Unzulänglichkeiten aus. Der Rezensent versteht im Umkehrschluß zu den Argumentationen der Lucinde-Briefe die intellektuellen, ethischen und poetischen Anstrengungen der Frühromantiker nur als Äußerungen kaschierter Libertinage und sinnenfreudiger Schamlosigkeit. „Ree. ist von der neuesten mystischen Philosophie, die bestimmt ist, durch vorliegende Briefe, und Hn. Schlegels Lucinde, über das ganze kommende Jahrhundert auszugehen, so bis ins Innerste durchdrungen; die in jenen Meisterwerken enthaltne Poesie der Liebe, hat seinen Geist so mächtig angeregt; so tief und so bedeutungsvoll in seiner Mitte getroffen, daß er seit einigen Tagen nicht anders sprechen kann, als in Versen, und auch jetzt nicht dafür stehen will, diese Recension in Prosa zu endigen. In der That, was kann erhabener, was herzrührender seyn, als wenn die ernste Göttin der Weisheit selbst sich zu den kleinen Spielen der Menschheit herabläßt; wenn sie die gemeine Wirklichkeit mit ihrem Hieroglyphenstabe berührt, und uns so plötzlich um ein paar Jahrhunderte vorwärts rückt! Wie anders sieht sich die Welt von diesem höhern Standpunkte an! Die kleinen Gesetze alberner Schamhaftigkeit sind aufgehoben; die flüchtigsten Erscheinungen der Katheder sind verkörpert, und die abgezogensten Syllogismen vom J. 1800 gehen mit Taufnamen umher, essen, trinken, schlafen, sticken Westen, und lassen sich dabey etwas aus der Lucinde vorlesen. Was nie zu hoffen war, ist erfolgt; die widersprechensten
259 260
Der Rezensent nimmt Bezug auf „ Vertraute Briefe" S.42. 43.101.111.112. Jahrbuch der neuesten Literatur, Jg 1, 73. Stück, Leipzig 1800, Sp. 587
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Extreme sind einander näher gerückt, und all die kleinen, erbärmlichen Kunstfoderungen von Richtigkeit in der Zeichnung und Haltung der Charaktere glücklich bey Seite geschafft! [...] Glückselige Freyheit von Vorurtheilen, unnachahmlicher Dreyklang, hoher, nie vernommener Seelenaccord, wie lange wirst du noch säumen, das ganze contrebande Himmelreich gemeiner Seelen mit der Fülle deines himmlisch hohen Wohllauts zu durchdringen! Ο Jacob Böhme! Jacob Böhme! Und ihr frischen Blüthen der Sinnlichkeit, wenn werden unsre Frauen lächelnd sinnend mit euch die Altäre der Götter umschlingen! Wann wird die alte Lust der Körper uns fröhlich wieder aufleben?"261 Die abschließende Dialogparodie zu Julius und Lucinde, die zweideutig-erotische Wortmystifikationen F. Schlegels nachahmt und in ihrer obszönen Tendenz verstärkt, soll das sich unter der Maske des Poetisch-Romantischen verbergende sexuelle Verlangen und die damit einhergehende Aufwertung der grobsinnlichen Genußsucht entlarven. Bereits vorher im Herbst 1800 veröffentlichte Johannes Daniel Falk im „ Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire " eine ausfuhrliche ironisch-polemische Besprechung der Schleiermacherschen Lucinde-Briefe2bl, deren anonymen Autor er gegen Ende der Besprechung ganz beiläufig als „Schleyermacher" enttarnt, „der den alten, abgestandnen Formeln einen neuen und geistreichen Text unterlegt"2". Falk sieht in den „ Vertrauten Briefen" vorblickend den autorisierten Interpretationsschlüssel zum Schlegelschen Roman. „Doch endlich - dem Himmel sey Dank! - einmal ein Buch, in welchem sich etwas von dem philosophischen Geist, in glücklichen Vorbedeutungen, meldet, der in Deutschland allgemein herrschend werden muß, wenn nur die Vesuve erst aufhören zu brennen, und statt der abgeschmackten Trauformulare, bey'm Copuliren, nur von Fichtens Ehetheorie die Rede seyn wird - mit einem Wort, ein Schlüssel zur Lucinde, den zwar Herr F. Bohn über Leipzig und Lübeck ins Publicum bringt, der aber, wie aus S. 153 zu ersehen ist, dennoch in Jena, und unter den Augen des Verfassers verfertigt scheint; also gewiß alles aufschließt, was nur immer vor den Augen eines ehrsamen Publicums erscheinen darf."264 Falk behandelt deshalb auch nicht nur die Lucinde-Briefe, sondern geht mehrmals direkt auf Friedrich Schlegel ein2iS, wobei er besonders die poetischen Prätentionen, die unzureichende Zeichnung der Romanfiguren und die schamlosen Zweideutigkeiten bestimmter Situationen und Sprachwendungen in der „Lucinde" geißelt. Falk bemängelt an Schleiermacher sowohl die Briefform als die pointierten Lobeserhebungen der „Lucinde". Er gibt einen zusammen261
262
263 265
Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1800, Bd4, Jena/Leipzig 1800, Nr. 366, Sp.694696 Falk: Rezension von „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde", Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Bd3, Weimar 1800, S. 273-306 2» Falk: Taschenbuch 3,303 Falk: Taschenbuch 3,273f Vgl. Falk: Taschenbuch 3,281.293-296 Anm. 296f. 299-301.303-306
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fassenden Einblick in die Lucinde-Briefe durch eine ausführliche Charakteristik der Briefpartner, besonders der drei Frauen.266 „ Wahrlich! wenn sich nicht bald Jemand findet, der alle diese Dinge zu einem lustigen Possenspiele benutzt: so darf man die Schuld davon wenigstens nicht dem Verfasser beymessen, der sie selbst lustig genug zu gruppiren gewußt hat. Und doch findet sich bey dem nämlichen auch wieder eine sehr ernsthafte Seite! Dieß ist der unwürdige, zügellose Mißbrauch mit den das Heiligste und Ehrwürdigste der menschlichen Gesellschaft bezeichnenden Wörtern, Liebe, Scham, Unschuld, Religion. Eine moderne Mystik scheint diese heiligen Reliquien der Vorzeit in durchaus willkührlichen Bedeutungen an sich reißen zu wollen. "16? Falk tat dem von ihm festgestellten Verlangen nach einem Possenspiel selbst Genüge, indem er die Schleiermacherschen Briefpersonen Friedrich, Eleonore, Ernestine und Caroline in der dramatischen Satire „Der Jahrmarkt zu Plundersweilern. Parodie des Göthischen"268 gleich im Anschluß an die Rezension maßgeblich auftreten ließ. In der Rezension kritisiert er neben der gewollten Sprachverwirrung und der mitleiderregenden Unbescheidenheit gegenüber Wieland26'' hauptsächlich und wiederholend die irritierenden und abstoßenden Wertungen und Verhaltensmaximen der leitbildartig behandelten Frauenfiguren. „Oder sollen vielleicht alle jene liebenswürdigen Eigenschaften, die den wahrhaften Zauber der Liebe ausmachen, als conventioneile Vorurtheile, so gar für die Kunst und ihre Darstellung verloren gehn? Ist ein Zustand otahitischer Schamlosigkeit das Höchste, das Wünschenswürdigste der Menschheit? und müssen wir uns damit in Zukunft begnügen, Weiber von kaltem Verstände, wie Ernestine, die freylich über alles sprechen können, als das höchste Ideal der Weiblichkeit aufzustellen ? Denn ein Schritt weiter nur führt unausbleiblich zum Lächerlichen. Dieß sehen wir an Eleonoren, an der das Gemisch von platonischer Schwärmerey und grober Sinnlichkeit sich dem Auge so widerlich aufdringt. Und denn vollends die Naivetät dieser unschuldigen Caroline, die, wie sie selbst sagt, so consequent in der Lucinde zu naschen weiß: o, ich bitt euch, nichts mehr dergleichen! Und wenn es über uns verhängt ist, daß wir erst selbst verzeichnet seyn müssen, um das Verzeichnete schön zu finden: so heg' ich zu dem frommen, treuen Sinn der Deutschen die Zuversicht, daß sie diesem neuphilosophischen Unfug, wenn nicht den Zutritt in ihre Hörsäle, doch den in ihre Häuser verweigern werden."270 Die Falksche Rezension nahm Schleiermacher gelassen auf.271 Dagegen äußerte er am 10. Januar 1801 seinen Unwillen über die Rezension in der 2
"
267 268 269 270 271
Vgl. Falk: Taschenbuch 5, 276f. 278-293 Falk: Taschenbuch 5,293-295 Falk: Taschenbuch 5,307-398 Vgl. Falk: Taschenbuch 5,295-299 Falk: Taschenbuch 5,301f Vgl. Briefe 3,231, aber auch D. Schlegel: Briefe an Schleiermacher
97
Historische Einführung
LXVII
„Allgemeinen Literatur-Zeitung". Sie ließ ihn F. Schlegel drängen, doch die Erlanger „Litteratur-Zeitung" zur Artikulation des eigenen Kritikanliegens zu nutzen, wozu er auch seine Mitarbeit anbot.271 Eine Sammelbesprechung in Band 59 der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Zeitschrift „Neue allgemeine deutsche Bibliothek" (Berlin/ Stettin 1801) auf den Seiten 345-356 war dem Schlegelschen Roman sowie drei Sekundärschriften gewidmet. Sowohl der mit „Mt. "27i gezeichnete erste Teil, die polemische Rezension des Schlegelschen Romans, als auch der mit „ Og. "274 gezeichnete zweite Teil, der sich mit Vermehrens, Schleiermachers sowie einer dritten Beurteilungsschrift befaßt, stammen vom Wolfenbütteler Hofrat Ernst Theodor Langer (1743-1820)27i Langer faßt die Schleiermacherschen Lucinde-Briefe ihrer Anonymität wegen mit der polemischen Flugschrift „Drey Briefe an ein humanes Berliner Freudenmädchen über die Lucinde von Schlegel" als Kontrast von Verteidigung und Angriff zusammen.276 Er beschäftigt sich vornehmlich mit Schleiermachers Lucinde-Briefen, deren literarisch-stilistische Ausarbeitung er gering schätzt, deren Intention er als reine Apologie und deren Gehalt er als unbeholfene Lobrede beurteilt. „ Was den als Apologeten sich ankündigenden Schildknappen betrifft: so ergiebt sich gleich aus den ersten Blättern, daß man nichts als einen kahlen Apologisten vor sich hat, dem es um weiter nichts zu thun ist, als die Begriffe von Schaam, Anstand, Zartgefühl u. s. w. noch mehr zu verwirren, und mittelst dieser Kriegslist seinem Helden glücklich durchzuhelfen. Er, der Sachwalter selbst, verwickelt nicht selten sich in ellenlange Perioden, die Alles dergestalt verclausuliren, daß am Ende soviel als Nichts sich gesagt findet. Durch Vertheilung seiner sophistischen Schutzreden in neun Briefe, und das an und von verschiedenen Personen, worunter es auch weibliche Federn giebt, wird fur die Uebersicht gar nichts gewonnen, weil diese Briefsteller insgesammt einerley Ton anstimmen, um einerley Postulate sich drehn, und wenn über den Werth besagten Romans einige Zweifel gewagt werden, solche von der unbedeutendsten Art, mitunter sogar läppisch sind. Gerade was zu erweisen war, wird als schon erwiesen vorausgesetzt".277 Die unzulässigen Annahmen und eine verkehrte Angriffslinie findet Langer besonders im Schleiermacherschen „ Versuch über die Schaamhaftigkeit". „Hier wird diese immer als Tugend bestritten, wofür sie doch niemand nimmt; sondern für eine unserem geistigen Theile gewordne Schutzwehr gegen den Ausbruch der Sinnlichkeit; da denn von selbst hervorgeht, wie sorgfältig ein dergleichen Damm unterhalten zu wer272 273 274 275 276 277
Vgl. Briefe 3, 253 Neue Bibliothek 59,349 Neue Bibliothek 59,356 Vgl. Parthey: Mitarbeiter 65.14f Vgl. Langer: Neue Bibliothek 59,349-351 Langer: Neue Bibliothek 59,349f
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Einleitung
des
Bandherausgebers
den verlangt; ohne die Aufmerksamkeit dafür deshalb zur Tugend zu stempeln. "27s Langer moniert gegenüber den frühromantischen Ästhetikern die erotische Unsittlichkeit des propagierten Reinsinnlichen sowie die alle Konvention verachtende und konterkarierende Neuerungssucht. „Da die angeblichen Briefe im Grunde nichts mehr und weniger als eine plumpe Lobrede auf Lucinde sind: hat der Ree. vielleicht zu viel schon darüber gesprochen, und mag, was Styl und Grammatik derselben betrifft, gar nicht erörtern. "279 Soweit die Rezensionen. Im Herbst 1800 veröffentlichte Johann Bernhard Vermehren (1774-1803), ein assoziiertes Mitglied im Jenaer Frühromantikerkreis der Brüder Schlegel, mit Namensnennung seine Verteidigungsschrift „Briefe über Friedrich Schlegel's Lucinde zur richtigen Würdigung derselben" (Jena 1800). Vermehren zitiert einmal länger Schleiermachers Lucinde-Briefe, ohne deren Anonymität zu lüften.190 Er schließt sein Zitat aus dem Karoline-Brief281 mit der knappen Bemerkung: „Der Brief enthält tiefe Blicke in das Herz des Mädchens, und verdient gelesen zu werden. "282 Vermehren liefert ansonsten weder eine Darstellung noch eine Beurteilung der Schleiermacherschen Schrift, die er in völlig selbstverständlicher Weise ohne Erläuterung heranzieht. Schleiermachers „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" erfuhren zu seinen Lebzeiten keine Neuauflage, wohl aber wurden sie 1835 bald nach seinem Tod mit Namensnennung gleich zweifach wieder gedruckt. Die Hamburger Ausgabe erschien mit der fur die Jungdeutschen programmatischen umfänglichen Vorrede von Karl Gutzkow, die Stuttgarter Ausgabe ohne diese Vorrede. Im 19. Jahrhundert fanden die „Vertrauten Briefe" daneben nur noch in Schleiermachers „Sämmtliche Werke"2*1 Aufnahme. Im 20. Jahrhundert gab es zwar lediglich zwei Druckausgaben, die allein Schleiermachers „Vertraute Briefe" umfassen1**, dagegen aber sechs Ausgaben, in denen die Schleiermachersche Schrift gleichsam anhangsweise gemeinsam mit F. Schlegels Roman „Lucinde" abgedruckt wurdels>. Außerdem findet sich noch ein Abdruck in einer Werkausgabe Schleiermachers·!86 sowie ein Auswahlabdruck in einer literaturgeschichtlichen Quellensammlung 287. 278
Langer: Neue Bibliothek 59,350 Langer: Neue Bibliothek 59,351 281 280 Vgl. Vermehren: Briefe 160-163 Vgl. unten 182,22-183,11 282 283 Vermehren: Briefe 163 SW 111/1,421-506 284 Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, ed. J. Frankel, Jena 1907; ed. W. Hirschberg, Weimar 1920 285 F. Schlegel: Lucinde / F. Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, ed. R. Frank, Leipzig 1907; Berlin 1924; Frankfurt 1964; ed. E.Middell, Leipzig 1970; ed. H.Beese, Frankfurt/Berlin/Wien 1980; ed. U.Naumann, München 1985 286 Kleine Schriften und Predigten, Bd. 1, ed. H. Gerdes, Berlin 1970, S. 77-156 287 Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, ed. H. Kindermann, 17. Reihe. Romantik, Bd 4. Lebenskunst, ed. P. Kluckhohn, Leipzig 1931, S. 231-261
Historische
LXIX
Einführung
8. Rezension von Friedrich Schlegel: Lucinde Im Juli-Heft 1800 der von Friedrich Eberhard Rambach und Ignatius Aurelius Feßler im Berliner Verlag Friedrich Maurer herausgegebenen Zeitschrift „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" veröffentlichte Schleiermacher im zweiten Band des Jahrgangs 1800 auf den Seiten 37-43 anonym eine Rezension des Schlegelschen Lucinde-Romans. Dieses Zeitschriftenheft im Oktavformat von 20 cm Höhe und 11,2 cm Breite hat normalerweise 30 Druckzeilen pro Seite. Schleiermachers Lucinde-Rezension, als erster Beitrag dem Kapitel „Neueste Litteratur"288 zugehörig, füllt auf ihrer Schlußseite 43 nur das obere Fünftel. Gegenüber Schleiermachers „ Vertrauten Briefen" hat diese Rezension einen durchaus eigenen Charakter und bringt andere Gesichtspunkte zur Beurteilung der Schlegelschen „Lucinde" bei. Bei aller Knappheit geht Schleiermacher in dieser Rezension einerseits genauer darstellend und zurechtrückend auf die Rezeption ein, die der Schlegelschen „Lucinde" bis dahin zuteil geworden war, und erörtert andererseits die poetologisch-gattungsästhetische Qualität an der Leitfrage1M, ob Schlegel überhaupt einen Roman geschrieben habe, wie er beansprucht. Seine Zustimmung zur neuen romantischen Romankonzeption F. Schlegels und zur vorliegenden Romankomposition der „Lucinde" untermischt Schleiermacher durchaus mit Tadel an einigen Versäumnissen und Unverständlichkeiten in der Ausführung. Die moralische Beurteilung, die die „Vertrauten Briefe" ausführlich und vorrangig vornehmen, wird hier nur gestreift. Die anonym erschienene Rezension zur „Lucinde" löste Rätselraten über die Autorschaft selbst im Frühromantikerkreis aus. F. Schlegel wollte sie entweder Schleiermacher oder Fichte zuschreiben. Er schrieb Ende Juli/ Anfang August 1800 an Schleiermacher: „[...] wie kannst Du die Anzeige selbst so trocken mit Stillschweigen übergehen, wenn Du nicht etwa um das Geheimniß weißt, oder selbst der Urheber derselben bist? Ich finde sie für das, was eine solche Anzeige seyn kann, durchaus vortrefflich. Dorothea behauptet fest, sie sey von Fichte und rieth gleich auf diesen. Sprechen könnte er wohl so darüber; geschrieben hat er freylich noch nichts so im Conversationsstyl, aber freylich hat er auch noch keine solche Veranlassung dazu gehabt. Ich rieth anfangs wegen der Gründlichkeit des Verstehens auf Dich, was ich aber nachher doch verwerfen mußte wegen einzelner Ausdrücke, Gedanken und Wendungen. Bist Du es so hast Du Dich besser als noch je verleugnet, welches ja doch immer möglich bleibt, und so tritt wieder der curiose Fall ein, daß man zwischen Dir und Fichte schwanken muß und ich darf auf den Hülsen nicht mehr so herabsehn. "M° 288 289
Berlinisches Archiv 1800, Bd2, Vgl. unten 220, 16-22
S. 37-47 2,0
Briefe
3,209f
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Einleitung des Bandherausgebers
Am 8. August 1800 bekannte sich Schleiermacher gegenüber F. Schlegel zu seiner Autorschaft der Lucinde-Rezension: „Das mit der Lucinden-Anzeige ist lustig, und hat mir ungemein viel Spaß gemacht! Freilich weiß ich um das Geheimniß, und eben deshalb schwieg ich ganz darüber; ich bin auch in einer Rücksicht Urheber desselben: denn daß Ihr nicht gleich erfahren habt, von wem sie ist, geschah auf meine Veranlassung. Uebrigens ärgert es mich recht daß Fichte sie nicht geschrieben hat damit der Spaß auch einmal so käme daß man etwas von Fichte für meins hielte. Wenn es Euch nur nicht geht wie Hülsen, der nur zwischen Fichte und Schelling schwanken zu dürfen glaubte, und sich gar nicht einfallen ließ daß ein Dritter die Reden geschrieben haben könnte. Mein Gott! hinterm Berge wohnen auch manchmal Leute! Aber nun habe ich Euch genug herumgezogen und will mich nun der speziellen Erlaubniß bedienen welche mir der Verfasser sowol als der Herausgeber gegeben haben, Euch zu erzählen, daß - ich die Ehre gehabt habe diese Anzeige zu schreiben. Es kam ganz zufällig. Bernhardt sprach mit mir von seinen Kritiken, und sagte, er würde schon lange im Archiv die Lucinde angezeigt haben, wenn er sie nur recht verstände; es wäre ihm eine zu harte Nuß. Ich entgegnete drauf, ich glaubte wol sie soweit zu verstehen daß ich sie anzeigen könnte, und hätte schon lange ein kleines Lüstchen dazu gehabt; er bat mich drum und ich war sehr bereitwillig. Es war zu der Zeit als ich mit den Briefen beinahe fertig war, und ich hoffte ihm durch dieses Manoeuvre jede Vermuthung wegen der Briefe besser abzuschneiden; aber ganz im Gegentheil, er behauptet aus der Anzeige - die er schon hatte als die Briefe herkamen - diese errathen zu haben. Dies scheint mir aber hyperkritisch: denn was in beiden vorkommt sind wol nur solche Dinge die man gar nicht umgehen kann wenn man von der Lucinde redet, und es freut mich daß Ihr bei euren Divinationen von dieser Uebereinstimmung nicht ausgegangen seid. Mich zu verleugnen darauf bin ich übrigens gar nicht ausdrücklich ausgegangen, sondern nur mich in den Grenzen und der Manier einer solchen Anzeige zu halten, und in einigen Wendungen Bernhardt nachzuahmen, der mir Anfangs sagte es solle unter seinem Namen gehen. Diese Nachahmung aber ist mir wol schlecht gelungen: denn er fand es so außer seiner Art, daß er mich bat das Eingesandt darüber sezen zu dürfen. Nun wünsche ich aber wol zu wissen was für Gedanken, Wendungen und Ausdrücke Du mir absprechen zu müssen geglaubt hast, ob das die angenommenen sind oder eigne. Bernhardt erwartete fur denselben Monat Liecks Anzeige von Wilhelms Gedichten, und beschränkte mich deswegen in Absicht des Raumes sonst würde noch manches hineingekommen sein."™ Dorothea Veit äußerte sich nach dieser Entschleierung am 22. August 1800 überschwenglich lobend zur Lucinde-Rezension: „So vortrefflich ha2,1
Briefe 3,214 f
Historische Einführung
LXXI
ben Sie sich meinem Gefühl nach noch nirgend ausgesprochen, wo die Rede nicht von Ihnen selbst war. So klar, so kräfiig und nachlässig habe ich nichts mehr von Ihnen gelesen, diese Ruhe der Ansicht habe ich auch sonst nirgend von Ihnen gefunden; zu gleicher Zeit haben Sie sich auch in Absicht des Stils kunstreich doch nicht künstlich verborgen, so daß ich wohl Ihre Gesinnungen darin vermuthete, aber Ihre Art sich auszudrücken durchaus nicht darin finden konnte, wie wir es schon vermutheten daß es von Ihnen seyn könnte."1"*1 Auch Johann Gottlieb Fichte bekundete am 16.August 1800 brieflich gegenüber F. Schlegel seine Zustimmung zur anonymen LucindeRezension. „Die Anzeige der Lucinde im A.d.Z. ist an Bernhardt eingesandt, und ihm Stillschweigen darüber aufgelegt. Ich weiß nichts näheres darüber: aber meine herzliche Freude daran habe ich. "29J Johann Bernhard Vermehren zog in seiner Schrift „Briefe über Friedrich Schlegel's Lucinde zur richtigen Würdigung derselben" (Jena 1800) neben Schleiermachers Lucinde-Briefen ausführlich dessen Lucinde-Rezension heran."* Er lüftet die Anonymität Schleiermachers halb, indem er den Autor der Rezension als den Autor der Reden „Uber die Religion" wiedererkennt.Mi Er lobt Schleiermachers Rezension als „eine Beurtheilung der Lucinde, die mir in den Geist des Romans sehr tief einzudringen, und denselben richtig zu würdigen scheint. Die Herausgeber nennen den Aufsaz vortreflich, und ich stimme mit voller Ueberzeugung in diesen Ausspruch ein."296 Vermehren führt drei Punkte zur Romantheorie und zur Schlegelschen Gestaltung an, in denen sich seine Kritik mit der der Lucinde-Rezension trifft. Er widerspricht allerdings der Schleiermacherschen moralischen Einschätzung des Romans. „Die Andeutung des Beurtheilers, daß der Roman moralisch sey, und daß er das Verhältniß der Poesie zur Moral sehr rein angegeben habe, scheint mir ein bloßes imponirendes Paradoxon zu seyn, denn was der Verfasser Moral nennt, darf nach meiner Ueberzeugung, welche dieselbe nur in dem allgemeingültigen Geseze des, der inneren Stimme gemäßen Handelns anerkennt, nicht so genannt werden, und auch angenommen, daß die Lucinde das Verhältniß der Poesie zur Moral rein angebe, so würde das Werk selbst doch sicher nicht dadurch moralisch. Freilich kettet alle Wissenschaften und Künste ein gemeinschaftliches Band an einander, freilich haben sie alle einen gemeinschaftlichen Einfluß in einander, (Cicero. Omnes artes, quae ad humanitatem pertinent, habent quoddam commune vinculum, et quasi cognatione inter se continentur.) aber doch besteht jede für sich, doch bleibt jede in ihrem eignen Kraise, den sie ausfüllen soll. Ein Kunstwerk soll kein moralisches Werk seyn, und wird es auch dadurch nicht, daß es an die Moral gränzt. "297 2,2 2,4 2,6
Briefe 3, 216 Vgl. Vermehren: Briefe 229-234 Vermehren: Briefe 229f
2
«
m 2,7
Fichte: Ak III/4, 284, 7-9 Vgl. Vermehren: Briefe 232 Vermehren: Briefe 232f
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Einleitung des Bandherausgebers
In der von Jonas Fränkel 1907 besorgten Ausgabe von Schleiermachers Schrift „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" ist anhangsweise auf den Seiten 155-163 auch dessen Lucinde-Rezension abgedruckt.
9. Rezension von Johann Jakob Engel: Der Philosoph fur die Welt, Band 3 Im zweiten Stück des dritten Bandes der in Berlin bei Heinrich Frölich verlegten Zeitschrift „Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel" veröffentlichte Schleiermacher im August 1800 seine mit „S - r."gezeichnete Rezension des dritten, 1800 in Berlin erschienenen Bandes von Johann Jakob Engels Schrift „Der Philosoph für die Welt". Sie steht unter der Rubrik „Notizen"29* und umfafit 10 Seiten im Oktavformat von 12,9 cm Breite und 21,8 cm Höhe mit normalerweise 30 Zeilen. Allerdings nimmt sie auf der Anfangsseite 243 und auf der Schlußseite 252 jeweils etwa nur die untere bzw. obere Hälfte ein. Über die Entstehungsgeschichte dieser Rezension haben wir ausreichend Nachricht. Schleiermacher schlug am 27.Mai 1800 wohl erstmals in seinem Brief an A. W. Schlegel seine Engel-Rezension für das letzte „Athenaeum"-Heft vor. „Zur Belohnung für dieses schwierige opus [sc. die FichteRezension] aber erbitte ich mir von Ihnen wenn es irgend der Raum noch erlaubt - denn die Zeit wird dabei fur nichts zu rechnen sein - die Erlaubniß Engels Philosophie für die Welt 3. Th. zu notiziren. Der Mensch genießt doch einiges Renomme, er hat nicht verstanden was Friedrich über ihn gesagt hat, und ich möchte gern ein soviel als möglich lustiges und wiziges Wörtchen Deutsch mit ihm reden. "2" Anstelle des verreisten A. W. Schlegel antwortete ihm dessen Bruder Friedrich, dem er vielleicht denselben Vorschlag unterbreitet hatte, aus Jena: „Die Notiz über Engel's Philosophen wird herzlich willkommen seyn, und wenngleich Wilhelm noch nicht aus Leipzig zurück, erkühne ich mich doch sie in seinem Namen zu acceptiren. "30° A. W. Schlegel selbst billigte offensichtlich diese Publikationszusage seines Bruders und hielt eine entsprechende Briefmitteilung seinerseits für überflüssig, denn in seinem Brief vom 9. Juni 1800 ging er auf den Sachverhalt nicht ein.301 Dagegen rechnete er am 20. Juni 1800 mit der Möglichkeit, daß die Schleiermachersche Engel-Rezension noch nicht fertig sei, und mahnte deshalb indirekt zur Eile.302 Im selben Brief schlug er auch die Zeichnung der Engel- und Fichte-Rezension „mit einer Chiffre"3M vor. Diese Briefstellen legen die Vermutung nahe, daß Schleiermacher seine Rezension zum Zeitpunkt seines Publikationsangebots Ende Mai noch gar 2,8 300 302
Athenaeum 3/2, 238 Briefe 3,179 Vgl. Briefe 3,191
2
"
301 303
Briefe an A. W. Schlegel 742 Vgl. Briefe 3,181-185 Briefe 3,191
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Einführung
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nicht ausgearbeitet hatte und sich erst nach Akzeptation durch die Herausgeber an die Arbeit machte. Demnach verfaßte Schleiermacher seine Rezension von Engels „Der Philosoph für die Welt" im Juni 1800. Am 28. Juni meldete er A. W. Schlegel, der „Engel, der hoffentlich eingesalzen genug ist"}04, sei schon beim Verleger, nachdem er am 24. Juni noch seinen Willen geäußert hatte, sich dabei nicht zu übereilen305. Die nächste Briefnachricht gehört schon zur Rezeptionsgeschichte. Die Aufnahme im frühromantischen Freundeskreis ist brieflich knapp dokumentiert. Am 11. Juli 1800 schrieb A. W. Schlegel, wohl nach Erhalt der Korrekturbogen, an Schleiermacher: „Der Anfang vom Engel hat uns auf das übrige sehr begierig gemacht. Es ist ein großes brio darin. "306 Schleiermacher erhoffte sich am 19. Juli 1800 von A. W. Schlegel auch fur „das Uebrige des Engel Ihren Beifall"™7. Auch F. Schlegel ist im August 1800 bei Publikation des „Athenaeum"-Hefts voller Lob: „Der Engel ist ganz so sprightly zu Ende geführt wie angefangen; Goethe hat das Geistreiche sehr gerühmt, und da kommst Du also in das Prädikat bey den Poeten hinein, womit ich bey den Philosophen angefangen habe. "308 Schleiermacher selbst war mit seiner Engel-Rezension durchaus zufrieden, wie sein antwortender Kommentar vom 8. August 1800 zu seinem Engel-Beitrag zeigt, „der denn doch tüchtig genug ist. Dein sprightly gefällt mir, das ist gerade das Prädicat das ihm gebührt, geistreich scheint mir nicht recht darauf zu passen. "309 Dorothea Veit Schloß sich mit ihrer Lobeserhebung F. Schlegel an: „Mir gefällt nun Ihre Engeische Notiz ganz über die Maaßen sehr; es ist ein ewiges Wetterleuchten von Wiz. "310 Und auch A. W. Schlegel bekräftigte am 20. August 1800 noch einmal sein anfängliches Lob: „Der Philosoph für die Welt ist pepper'd for this world; es herrscht in dem ganzen Aufsatze dasselbe brio wie im Anfange, und durchaus die eleganteste Grobheit."311 Dieser Angriff auf Engel rief nach Schleiermachers eigener Einschätzung verbreitet Ablehnung hervor.312 So polemisierte Garlieb Merkel im ersten Band seiner Schrift „Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur" (Berlin 1800) scharf gerade gegen die Engel-Rezension, wobei Schleiermachers Autorschaft nicht gelüftet wurde. „Das Athenäum - dieser Sumpf voll äsopischer Frösche, die gern Stiere schienen - nachdem es lange genug Wieland, Voß, Garve und andre Beneidete herabzusetzen versuchte, hat sich denn nun auch gegen Herder und Engel erhoben und läßt diesen Männern, die jede Nachwelt ehren wird, von Menschlein nachschimpfen, denen der Nachbar zu viel Ehre erzeigt, wenn
304 305 307 309 311
Briefe an A. W. Schlegel 746 Vgl. Briefe an A. W. Schlegel 744 Briefe an A. W. Schlegel 750 Briefe 3,213 Briefe 3,218
Briefe 3,200 Briefe 3, 209 Briefe 3,215 Vgl. Briefe 3,345
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Einleitung
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Bandherausgebers
er sie bemerkt. Der Recensent des Philosophen versichert ganz ernsthaft und in dem gewöhnlichen supremen Ton der Clique: Engel habe nichts als triviale Dinge gesagt; er habe das Publikum grob, arrogant und schlecht behandelt und kenne selbst die ersten Anfangsgründe der Composition nicht. Dies saubere Stück Arbeit ist mit S - r unterschrieben. Sie lachen? Nein, meine Freundin, das soll weder Schacher noch Sünder, sondern wirklich den Namen eines jungen Menschen bedeuten, der vergebens bald auf diese, bald auf jene Weise sich auszuzeichnen suchte und endlich in Kritik verfallen ist; - ich sage: verfallen; denn wie jene Herren sie üben, ist sie wirklich von der Wuth nur darin verschieden, daß sie sich nicht durch Heulen, sondern durch Schreiben äußert. "313 Johann Kaspar Friedrich Manso, der für die „Neue allgemeine deutsche Bibliothek" den dritten Band des „Athenaeum" rezensierte^1*, verteidigte Engel gegen den Vorwurf der Antiquiertheit dadurch, daß er zitatweise die zustimmende Beurteilung A. W. Schlegels von 1796 mit der abwertenden Schleiermachers von 1800 konfrontierte^. Manso stellte Schleiermacher knapp als Verfasser vor: „ein verkappter H.S - r, (d.h. Schleyermacher, ein junger Prediger in Berlin, der sich durch seine auf Stelzen gehenden Reden über Religion und Monologen wenigstens nicht qualificirt, über einen Mann wie Engel abzuurtheilen,)"316. Friedrich Samuel Gottfried Sacks brieflichen Vorwurf vom Sommer 1801, Schleiermacher und sein Freundeskreis seien gegenüber den alten Aufklärern (u.a. Engel) überheblich und verächtlichmachend317, wies Schleiermacher zurück, indem er sein ablehnendes Urteil auf deren schriftstellerischen und nicht auf deren persönlichen Wert bezogen wissen wollte318. Die Rezension des dritten Bandes von Engels Schrift „Der Philosoph fur die Welt" wurde in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" aufgenommenι.319 Außerdem findet sie sich in den Nachdrucken, nicht aber in den Auswahlausgaben 320 der Zeitschrift „Athenaeum".
10. Rezension von Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen Im zweiten Stück des dritten Bandes der in Berlin bei Heinrich Frölich verlegten Zeitschrift „Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel" erschien im August 1800 Schleiermachers 313
314 315 316 317 319
Merkel: Briefe 1, 65f; vgl. auch unten Anm. 515 sowie [Merkel:] Ansichten der Literatur und Kunst unseres Zeitalters, Deutschland [Leipzig] 1803, S.28f Vgl. oben Anm. 158f Vgl. Manso: Neue Bibliothek 58,108f Manso: Neue Bibliothek 58,109 318 Vgl. Briefe 3,278 Vgl. Briefe 3,286; außerdem l,270f 320 Vgl. SWIII/1, 5 1 7- 52 3 Vgl. oben Anm. 162
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Rezension von Johann Gottlieb Fichtes Schrift „Die Bestimmung des Menschen". Diese populär gehaltene Darstellung der theologisch-anthropologischen Aspekte seiner Lehre hatte Fichte zum Jahresanfang 1800 publiziert, in thematischer und zeitlicher Nähe zu Schleiermachers „Monologen". Schleiermachers Rezension, die mit dem Namenskürzel „S - r." gezeichnet ist, steht unter dem Sammeltitel „Notizen"321 und umfaßt etwas mehr als 14 Seiten im Oktavformat von 12,5 cm Breite und 21,5 cm Höhe. Auf ihrer Anfangsseite 28 1 322 nimmt Schleiermachers Rezension die unteren zwei Drittel, auf ihrer Endseite 2 9 5 323 die oberen drei Viertel ein. Für die Entstehungsgeschichte gibt es ein reichhaltiges Brief- und Nachlaßmaterial. Schleiermachers Fichte-Rezension ist nämlich das erste öffentliche Zeugnis seiner Beschäftigung und kritischen Auseinandersetzung mit Fichte, die sehr viel weiter zurückreicht. Seine Fichte-Studien empfahlen ihn Friedrich Schlegel bei ihrem Bekanntwerden 1797; in ihrer zunächst vom philosophischen Interesse geprägten Verbindung begannen sie, zusammen „zu Fichtisiren"i14. Die gemeinsame Fichte-Lektüre könnte sich schon bemerkbar gemacht haben im nicht überlieferten Vortrag, den Schleiermacher im Oktober 1797 vor der Mittwochsgesellschaft über die Immoralität aller Moral gehalten hat, über den F. Schlegel kurz an Brinckmann berichtet: „Schleyermacher hat den Mittwoch durch eine göttliche, ja was mehr ist philosophische, und was noch mehr ist, cynische Vorlesung über die Immoralität der Moral geadelt. "325 Auch in seinen Notizen zur Vertragslehre ging Schleiermacher auf verschiedene Thesen und Argumente Fichtes ein.i2b Aus der gemeinsamen Fichte-Lektüre sollte ein Schleiermacherscher „Aufsatz über Kant und Fichte"*27 erwachsen, der im September 1798 für das vierte Stück des „Athenaeums" vorgesehen war, der dann aber zur Notiz über Kants Anthropologie328 zusammenschrumpfte. Nach seiner Entlassung aus der Philosophieprofessur in Jena infolge des Atheismusstreits329 siedelte Fichte nach Berlin um. Vermittelt durch F. 321
322 323 324
325 326 327 328 329
Athenaeum 3/2,238-334. (Im Darmstädter Nachdruck korrigiert in S. 238-336, weil im Erstdruck irrtümlich S. 258 als 256 gezählt ist und deshalb die Paginierung aller folgenden Seiten um 2 zu gering ist.) Im Darmstädter Nachdruck korrigiert in S. 283 Im Darmstädter Nachdruck korrigiert in S. 297 F. Schlegel: KA 24. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums (25. Juli 1797-Ende August 1799), ed. R. Immerwahr, Paderborn/Zürich 1985, S. 23; vgl. S. 12 F. Schlegel: KA 24, 28 Vgl. KGA 172, 58,17-59, 7.69,5. 73,24 F.Schlegel: KA 24,174 Vgl. KGA 172,365-369 Schon im Atheismusstreit billigte Schleiermacher keineswegs die Verteidigungsmaßnahmen Fichtes gegenüber der Weimarischen Regierung. Er schrieb am 2. Mai 1799 an Henriette Herz: „Heute habe in den Zeitungen von Fichte's kleiner Demüthigung gelesen. Ein falscher Schritt zieht immer den andren nach sich. Er mußte es freilich den Leuten sagen, daß
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Schlegel hatte Schleiermacher ab Juli 1799 persönlichen Kontakt zu ihm. Nachdem er Fichte gleich am Tag nach dessen Ankunft in Berlin kennengelernt und lange gesprochen hatte330, schrieb er an Henriette Herz: „Ich habe ordentlich eine kleine Furcht davor, daß Fichte gelegentlich die Reden lesen wird; nicht davor, daß er viel dagegen einzuwenden haben möchte, das weiß ich vorher und es macht mir nicht bange - sondern nur, daß ich nicht weiß, wo er mir alles in die Flanke fallen wird und daß ich nicht werde würdig mit ihm darüber reden können. Bei der Luzinde ist er eben und hat Friedrich gesagt, Vieles einzelne gefalle ihm, um aber eine Meinung über die Idee des Ganzen zu haben, müsse er es erst recht studiren. Er hat schon heute einen Besuch von der Polizei gehabt, man hat so horchen wollen, ob er etwa gesonnen sei, sich hier zu etabliren etc. Er hat dann gesagt, er sei zu seinem Vergnügen hier und wisse nicht, wie lange er sich aufhalten werde. Observirt wird er wahrscheinlich provisorisch von der kleinen Polizei. Es sollte mir leid thun, wenn er irgend Unannehmlichkeiten hätte. Große Sachen habe ich noch nicht mit ihm gesprochen, ich will es so sachte angehen lassen nach meiner Manier. "331 Nach dem Weggang F. Schlegels nach Jena im September ί 799 übernahm Schleiermacher zeitweilig Botendienste zwischen dem Jenaer Frühromantikerkreis und Fichte. Das Verhältnis beider blieb kühl.331
330 331 332
sie sich hei der Demission, die sie ihm gaben, unter diesen Umständen auf sein Fordern derselben nicht berufen konnten; aber das hätte auf eine ganz andere Art geschehen müssen. Und um so etwas zu sagen, wie er in seinem ersten Briefe sagte, von mehreren, die ihm nachfolgen würden, da muß man seiner Sache und seiner Leute sehr gewiß sein. Ein anderes Katheder findet nun Fichte gewiß nicht, und im Ganzen muß ich gestehen, halte ich es für ein vorteilhaftes Ereigniß, daß seine Philosophie vom Katheder, wohin sie gar nicht paßte, vertrieben ist. Spinoza hat eine philosophische Professur abgelehnt, ohnerachtet, daß er so enthusiastisch für seine Philosophie war, als Fichte nur immer für die seinige sein kann und hat sehr wohl daran gethan." (Briefe 1,222) Vgl. Briefe 1, 229 Briefe 1,230 Im Brief vom 4. Januar 1800 an Brinckmann berichtete Schleiermacher über seine Begegnungen mit Fichte und gab auch eine Charakteristik von dessen Person. „Fichte - der nun auch nicht mehr hier ist - habe ich freilich kennen gelernt: er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm - wie er es auch als Theorie aufstellt - ganz getrennt, seine natürliche Denkart hat nichts Außerordentliches, und so fehlt ihm, so lange er sich auf dem gemeinen Standpunct befindet, Alles was ihn für mich zu einem interessanten Gegenstand machen könnte. Ehe er kam, hatte ich die Idee, über seine Philosophie mit ihm zu reden, und ihm meine Meinung zu eröffnen, daß es mir mit seiner Art, den gemeinen Standpunct vom philosophischen zu sondern, nicht recht zu gehen scheine. Diese Segel habe ich aber bald eingezogen; da ich seh' wie eingefleischt er in der natürlichen Denkart ist, und da ich innerhalb seiner Philosophie nichts an derselben auszusezen habe, das Bewundem aber fur mich kein Gegenstand des Gesprächs ist, und es außerhalb derselben keine andern als die ganz gewöhnlichen Berührungspuncte gab, so sind wir einander nicht sehr nahe gekommen. Lehrreich ist er nicht; denn detaillirte Kenntnisse scheint er in andern Wissenschaften nicht zu haben, (auch in der Philosophie nicht einmal, insofern es
Historische Einführung
LXXVII
Im November oder Anfang Dezember 1799 fragte F.Schlegel bei Schleiermacher im Blick auf den dritten Band der Zeitschrift „Athenaeum" an: „ Wäre es nicht möglich, daß Du Fichte's Moral noch notizirtest? Gelesen hast Du sie ja, das ist bey Dir doch das schlimmste."333 Am 16. Dezember 1799 folgte eine entsprechende Anfrage A. W. Schlegels: „Könnten Sie aber nicht etwas über Fichte's Moral und seine neuste Bestimmung geben?"334 Während Schleiermacher F. Schlegels Bitte ablehnte, griff er A. W. Schlegels zweite Anregung zustimmend auf. Er schrieb letzterem am 24. Dezember 1799: „ Wie unmöglich es mir ist jetzt Fichtes Moral zu notiziren habe ich schon Friedrich geschrieben dagegen will ich sehr gern die Bestimmung des Menschen - wenn sie nur erst da wäre - übernehmen, vorausgesetzt, daß Fichte nichts dagegen hat und daß Friedrich nicht dazu kommt. "335 In der zweiten Januarhälfte 1800 übergab ihm F.Schlegel das Rezensionsvorhaben für die gerade erschienene Fichte-Schrift.336 Kurz darauf erläuterte F. Schlegel seine Entscheidung: „Die Bestimmung des Menschen wird für mich vor der Hand wohl noch eine Weile im Unbestimmten ruhen. Ich bin an der Lucinde, und es ist wahrlich hohe Zeit daß ich daran bin. Ich glaube auch, daß Deine Bestimmung oder Notiz derselben mir einen weit bestimmteren Eindruck geben wird. An sich halte ich's für eine falsche Tendenz, daß Fichte sich in dergleichen Redensarten gebraucht. Zu dem was wir ein Gespräch oder auch nur einen Brief nennen, wird er es nie bringen, da ja selbst seinen Reden ans Volk, zu denen er doch sonst entschiednen Beruf hat, immer etwas fehlt, was doch nicht fehlen dürfte. "337 Am 5. Mai drängte F. Schlegel Schleiermacher, seine Rezension bald abzuliefern.338 Zu diesem Zeitpunkt hatte Schleiermacher offensichtlich mit seiner Ausarbeitung gerade erst begonnen. Denn am 27. Mai 1800 berichtete erA. W. Schlegel: „Für das letzte Stück des Athenäums, woran noch immer nicht gedruckt wird, bin ich nun beim Fichte, den ich Ihnen noch zeitig genug schicken zu können denke um in aller Muße Ihre Notate drüber zu machen. "339 In der zweiten Junihälfte fiel ihm die Ausarbeitung sichtlich schwer. So äußerte er am 24. Juni 1800 gegenüber A. W. Schlegel, er wolle „den Fichte zum wenigsten noch ein Vierzehn Tage in einem feinen Herzen Kenntnisse darin giebt,) sondern nur allgemeine Uebersichten, wie unser einer sie auch hat. Das ist übrigens sehr schade, weil er eine ganze herrliche Gabe hat, sich klar zu machen, und der größte Dialektiker ist den ich kenne. So sind mir auch eben keine originellen Ansichten oder Combinationen vorgekommen, wie er denn überhaupt an Wiz und Fantasie Mangel leidet. Ueberdies habe ich ihm zulezt abgemerkt, daß er ein beinahe passionirter Freimaurer ist, und früher schon bin ich gewahr worden, daß er nothdürftig Eitelkeit besizt, und gar gern Parteien macht, unterstüzt und regiert, - und was solche Wahrnehmungen auf mich für einen Eindruck machen können, weißt Du ohngefa'hr." (Briefe 4, 53) 333 334 336 338
Briefe 3,138 Briefe 3, 143 Vgl. Briefe 3,151 Vgl. Briefe 3, 176
335 337 339
Briefe an A. W. Schlegel 597 Briefe 3,153 Briefe an A. W. Schlegel 742
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Einleitung des Bandherausgebers
erwägen - es ist eigentlich ein verdammtes Stück Arbeit, in so fern ich gern Alles sagen möchte was ich darüber auf dem Herzen habe ohne meinen aufrichtigen Respekt gegen Fichte auch nur äußerlich im geringsten zu verlezen. "340 A. W. Schlegel hatte bereits am 20. Juni, wohl auf eine nicht mehr vorhandene Briefäußerung Schleiermachers gegenüber F. Schlegel anspielend, sehr dringend gemahnt: „Daß es mit Ihrer Notiz über die Bestimmung noch windig aussieht, wie Sie schreiben, wollen wir von der Schiffahrt verstehen, wo man bald in den Hafen gelangt, wenn viel Wind ist. Doch da Sie schon seit Ihrem letzten Briefe gewußt, daß Noth an den Mann geht, und wir nun noch unsere dringendsten Beschwörungen hinzugefügt sich des Athenäums anzunehmen, so hoffe ich wird, wenn dieses kommt, der Fichte und Engel schon fertig und vielleicht schon im Druck seyn."341 Auf diese Mahnung und Ermunterung antwortete Schleiermacher am 28. Juni 1800: „ Was den Fichte betrifft, so wollte ich, Sie hätten Recht mit der Schiffahrt; indeß ereignen sich doch schon allerlei meteorologische Zeichen, die auf Morgen a fresh breeze vermuthen lassen und wenn nicht unglücklicherweise a gale draus wird, so hoffe ich mit Ihrer lezten Sendung zugleich einlaufen zu können, welches dann zeitig genug ist. Es ist ein verzwicktes verdammtes Buch diese Bestimmung des Menschen!"M1 Am 2. Juli 1800 berichtete Schleiermacher Henriette Herz, wieviel Mühe er sich mit der Fichte-Rezension gebe.343 Zwei Tage später am 4. Juli konnte er ihr die Fertigstellung seines Manuskripts melden: „Triumph! In diesem Augenblicke ist der Fichte fertig - aber auch ganz fertig: durchgesehen corrigirt paginirt - und das heillose Buch, das ich nicht genug verfluchen kann, schon an seinen alten Ort gestellt. Gott wird mich bewahren, fürs erste wieder hineinzusehen. Auch meine Notiz will ich nicht mehr ansehen, damit sie mir nicht, wie zu geschehen pflegt, schlecht vorkomme. "344 Ein Jahr später noch, als Schleiermacher am 11. Juni 1801 seinem neuen Freund Ehrenfried von Willich schrieb, standen ihm die Mühen dieser Fichte-Rezension deutlich vor Augen: „Ich erinnere mich noch mit Schmerzen, daß ich vier Wochen um und um zugebracht habe, ehe ich mir die Bestimmung des Menschen so zu eigen gemacht hatte, daß ich den wunderlichen Senf darüber schreiben konnte, der im Athenäum steht"34S. An Karl Gustav von Brinckmann in Eutin schrieb er am 19. Juli 1800 über seine im Druck befindliche Fichte-Rezension: „Nächstdem habe ich nicht längst eine Anzeige von Fichte's Bestimmung des Menschen für's Athenäum beendigt, durch die ich mir wahrscheinlich seinen Unwillen zuziehen werde. Hätte ich das früher bedacht, oder wäre es mir im Schreiben so vor340 342 544
Briefe an A. W. Schlegel 744 Briefe an A. W. Schlegel 746 Briefe 3,195
541 343 345
Briefe 3,191 Vgl. Briefe 3,19ß Briefe 1,279
Historische
Einführung
LXXIX
gekommen, so würde ich in Absicht auf die Manier vielleicht ganz anders verfahren sein, meine Meinung aber ebenfalls nicht verschwiegen haben. Die Tugendlehre verdient allerdings gar sehr, daß man sie studiert, - dies schließt aber nicht aus, daß nicht sehr viel dagegen zu sagen wäre. Du siehst, wenn mir kein größeres Unglück droht als das Verfichten, so steht es noch gut genug um mich. Namentlich ist mir's wol nie eingefallen auf dem Wege eines formalen Gesezes zur Religion kommen zu wollen, und ich hoffe Jacobi wird dies auch nicht aus den Reden herauslesen können, wenn er sie ordentlich liest. Ich wünsche, daß der liebenswürdige Mann mich auch ein wenig lieben möge mit der Zeit; er ist der einzige von unsern namhaften Philosophen, von dem ich mir dies wünsche. Reinhold ist mir höchst gleichgültig, und Fichte muß ich zwar achten, aber liebenswürdig ist er mir nie erschienen. Dazu gehört, wie Du weißt, für uns etwas mehr, als daß man (ein), wenn auch der größte, speculative Philosoph sei."iib Zur Rezeptionsgeschichte der Schleiermacherschen Fichte-Rezension liegen verschiedene Briefzeugnisse vor. Schon im Vorfeld der Publikation wurden Überlegungen und Vermutungen zur Aufnahme und Wirkung besonders im Frühromantikerkreis selbst angestellt. Um den erwarteten Unwillen Fichtes von den Brüdern Schlegel abzuwenden, kündigte Schleiermacher am 19. Juli 1800 A. W. Schlegel seine Maßregel an, mit der er deren Schutz zu sichern strebte: „Aber eine andre Angst mit dem Athenäum muß ich Ihnen mittheilen. Bernhardt meint daß Fichte über meine Anzeige seiner Bestimmung böse werden möchte, sowol des Inhaltes als der Manier wegen. Ich habe den doppelten Willen meine Meinung zu sagen, und doch Niemanden zu veranlassen Fichte etwas von seinem gebührenden Respekt zu entziehn nicht anders zu vereinigen gewußt als indem ich meine Meinung in den Mantel der christlichen Ironie einhüllte, und Manches mehr durch Combinationen andeutete als mit klaren Worten sagte. Spricht Fichte mit mir darüber so will ich mich wol verständigen, auch wenn er dies nicht für gut findet tragen was nicht zu ändern ist - sehr schmerzen sollte es mich wenn etwas davon auf Euch überginge. Ich werde dafür sorgen daß Fichte sogleich erfährt nicht nur daß die Anzeige von mir sei, sondern auch daß sie durch einen Zufall ihre Censur nicht passirt hat. Dies ist das einzige was ich vor der Hand thun kann. Sie sehen wie wenig ich mich noch darauf verlassen kann, daß bei meinen Arbeiten nichts anderes herauskommt als was ich wirklich will, und wie nöthig ich noch habe in specielle Aussicht genommen zu werden. Ich wollte dieser fatale Punkt wäre erst glücklich beseitigt. "347 Auch in seinem folgenden Brief an A. W. Schlegel vom 26. Juli 1800 wiederholte Schleiermacher noch einmal seine Besorgnis über dessen Urteil und Fichtes Stellungnahme.34S Als Schleiermacher Ende Juli 1800 Fichte persön346 347 348
Briefe 4, 74 f Briefe an A. W. Schlegel 749f Vgl. Briefe an A. W. Schlegel 751
LXXX
Einleitung
des
Bandherausgebers
lieh besuchte, sprachen sie auch übers „Athenaeum" doch ließ er seine Rezension, die im August erscheinen sollte, unerwähnt. „Da ich ihm die Notiz von der Bestimmung doch nicht geben konnte, habe ich auch noch nicht mit ihm davon geredet; die Vorklagen haben etwas gar zu klägliches an sich. "349 Von F. Schlegel erhielt Schleiermacher schon vor der Publikation eine Beurteilung. „Deine Kritik des Fichte hat mich über allen Ausdruck interessirt, Ich werde sie noch oft lesen, man muß darüber nachdenken, und man kann viel daraus lernen. Vielleicht ließe sich auch darüber wieder ein solcher Mono-Dia-Monolog schreiben. In der That, nie hab ich so etwas gesehn noch gehört, von philosophischer Recension nämlich. Ich glaube Fichte kann nicht böse darüber seyn, wenn er auch im innersten Herzen Deiner Absicht zufolge unzufrieden damit seyn muß. Kann er es so hat er Unrecht es zu können. "35° Diese Beurteilung rief bei Schleiermacher Unverständnis hervor. „Deine Aeußerungen über meine Kritik des Fichte haben mir zum Tröste gereicht, wenn ich Dir gleich gern bekenne, daß ich sie nicht durchaus verstehe. Besonders begreife ich nicht wo es ihr sizt daß man etwas daraus lernen kann; in diesem Stück bin ich ganz unschuldig. Daß Du dergleichen von philosophischer Recension noch nicht gesehen noch gehört hast, dies begreife ich; denn ich bin darin in ganz gleichem Falle mit Dir, mir ist aber auch dergleichen noch nicht vorgekommen, und insofern mag sie auch wol auf eine eigene Art interessant sein. Deinen Prophezeihungen von Fichtes Denken darüber kann ich die glückliche Erfüllung bis jezt nur wünschen. Ich will ihn nächstens besuchen und dann mehr darüber. In einem Punkt, in der Kunst nämlich das beste zwischen die Zeilen zu schreiben daß es nur durch Suppliren und Combiniren herausgebracht werden kann, werde ich wol nie wieder eine solche Epideixis machen".^1 Am 16. August 1800 schrieb Fichte über Schleiermachers Rezension an F. Schlegel: „Mit Schleyermacher habe ich weder vor Abdruk seiner Critik über die Best. d. M., noch seitdem gesprochen. Einige Einwendungen verstehe ich nicht: soviel aber sehe ich, daß er das endliche Resultat des 3ten Buchs dem, was ihr unter einander Spinozismus nennt, ganz gegen meine Absicht zunahe gerükt hat. Jener Mysticismus liegt nach mir durchaus im Felde der Transscendenz, auf welchem der Mensch nichts mehr versteht. Der Glaube an Freiheit und Selbstständigkeit bleibt nach mir in der vollendeten menschlichen Denkart unangetastet. Der Form nach. Der Materie nach aber ist mir ein Plan vorgezeichnet, mir bestimmt, was ich werden soll. Zu diesem macht mich nun keine fremde Macht, auch nicht des Unendlichen, sondern ich mache mich dazu."ii2 Uber diesen Brief berichtete Dorothea Veit, nachdem sie mitgeteilt hat, daß F. Schlegel die Schleiermachersche 549 151
Briefe Briefe
3,208 3,213
350
Briefe 3,209 Fichte: Ak UI/4,
283,17-284,6
Historische Einführung
LXXXI
Fichte-Rezension anbete, wohl noch im August an Schleiermacher: „Friedrich hat einen Brief von Fichten gehabt. Uebel scheint er nichts genommen zu haben; aber so viel ich von dem verstehe was er darüber sagt, scheint er sich zu wundern, daß man nicht jedes Ding in der Welt für abgethan und fertig hält, sobald er darüber etwas gesagt hat, so als ob seine Meinung der Schlußstein wäre, nach dem sich nichts mehr hinzufugen läßt. "353 Auch A. W. Schlegel äußerte am 20. August seine uneingeschränkte Bewunderung für Schleiermachers Rezension: „Das über die Bestimmung ist dagegen ein Meisterstück von Feinheit und Ironie, Parodie und schonender, respectueuser Architeufeley. Melden Sie mir doch, wie Fichte es aufgenommen hat. "354 Er fuhr im selben Brief später fort: „ Von Erfindung in Form und Einkleidung haben Sie bei der Bestimmung das glänzendste Beyspiel gegeben. "355 Schleiermacher war über diese zustimmende Beurteilung A. W.Schlegels sehr erleichtert und berichtete ihm am 29.August 1800: „Ihr Urtheil über meine beiden Notizen hat mir zur großen Beruhigung gereicht, mir war in der That bange gewesen es könnte Ihnen und Friedrich scheinen als sei ich mit Fichte nicht säuberlich genug verfahren ohnerachtet ich es nicht besser zu machen wußte, und es war mir höchst fatal daß der Aufsaz hatte gedruckt werden müssen ohne Ihre Censur passirt zu haben. Wie Fichte es genommen hat darüber weiß ich Ihnen wenig zu sagen. Als ich ihn das erste Mal nach Erscheinung des Athenäums sah sagte er nur er habe sie noch nicht ordentlich gelesen; vorgestern sagte er mir als ich gehn wollte, er habe noch ausführlich mit mir über meine Notiz zu sprechen es blieb mir aber damals keine Zeit übrig, und ich werde ohnedies nächstens wieder zu ihm gehn. Zu Bernhardt hat er gesagt: ich habe ihn persifliren wollen mich aber unglücklicherweise selbst persiflirt. Vielleicht noch mehr was mir dieser aber nicht wieder gesagt. Ich werde ihm beides gründlich zu benehmen suchen, und recht aufrichtig mit ihm über die Sache reden. " i i b Am 8. September schrieb A. W. Schlegel über die Aufnahme, die Schleiermachers Fichte-Rezension bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling gefunden hatte: „Schelling hat auch an der Notiz über die Bestimmung große Freude gehabt und sie meisterhaft gefunden, da er wohl sonst Ihren Arbeiten nicht immer Gerechtigkeit widerfahren zu lassen pflegte. Daß es Fichte verdrossen, ist daraus zu erklären und zu entschuldigen, daß er diese Waffe gar nicht wieder führen kann. "357 Der im Sommer und Herbst 1800 erörterte Plan, für das wirtschaftlich gescheiterte „Athenaeum " ein neues kritisches Zeitschriftenprojekt des Jenaer und Berliner Frühromantikerkreises auf den Weg zu bringen, führte zu starken Spannungen und persönlichen Feindschaften. Dieser Plan wurde zerrie-
353 354 356
Briefe 3, 215f; vgl. auch D. Schlegel: Briefe an Schleiermacher 80f.87 355 Briefe 3,220 Briefe 3, 2 1 8 Briefe an A. W. Schlegel 754 Briefe 3,22$f
LXXXII
Einleitung
des
Bandherausgebers
ben zwischen der Verlagskonkurrenz von Cotta und Unger einerseits und den divergierenden Konzeptionen A. W. Schlegels, Fichtes und Schellings andererseits. Fichtes Ablehnung, sich an einer kritischen Zeitschrift der Brüder Schlegel zu beteiligen, hatte nach A. W. Schlegels am 5. Oktober 1800 geäußerter Meinung mit Schleiermachers Rezension nichts zu tun. „Daß auch Klagen über Sie und die persiflirte Bestimmung dabey gewesen, habe ich keine Ursach zu vermuthen. "358 Im selben Monat brach Schleiermacher verstimmt den persönlichen Kontakt zu Fichte ab. Er schrieb am 20. Oktober an F. Schlegel: „Zu Fichte gehe ich jezt gar nicht mehr, außer wenn Wilhelm mir etwas an ihn aufträgt. Es sieht mir nachgerade zudringlich aus wenn ich ihn besuche, da er nie bei mir gewesen ist - ohnerachtet er oft bei Bernhardt war der so sehr in meiner Nähe wohnte - und mich auch nie zu sich eingeladen hat. "359 Trotz seiner Rezension hatte Schleiermacher aber noch lange mit dem Urteil zu kämpfen, er sei ein Schüler Fichtes.360 Die Rezension von Fichtes „Die Bestimmung des Menschen" wurde in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" aufgenommen?''1 Außerdem ist sie in den Nachdrucken362 und in der neueren Auswahlausgabeii} der Zeitschrift „Athenaeum" vertreten, nicht aber in deren Auswahlausgabe von 1905 364.
11. und 12. Materialien zur Siedlungsgeschichte Neuhollands sowie Zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (Australiens)
(Australiens)
Schleiermachers eigenhändige Manuskripte, die seinem literarischen Projekt zugehören, umfassend über die Geschichte der englischen Siedlungen in New South Wales an der Ostküste Neuhollands (Australiens) zu berichten, werden hier erstmals veröffentlicht. Der größere Teil dieser Manu358
Briefe 3,234 Briefe 3,238/ Georg Ludwig Spalding schrieb ihm am 3. Juni 1803, veranlaßt durch diesen in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" erhobenen Vorwurf: „Das plumpe Behaupten einer Fichte'schen Schülerschaft ärgerte mich vorzüglich. Sie sagten einst, über Ihren Angriff Engel's habe jedermann geschrien, während man den anderen auf Fichte, der in demselben Stück des Athenäums gestanden, ignorirt habe. Es ist freilich arg, daß man den Verf. jener Beurtheilung der Fichte'schen Bestimmung des Menschen einen Schüler Fichte's nennt. Aber das verzeihen Sie, wenn ich den Angriff auf Engel viel verständlicher finde als den auf Fichte. In diesem letzteren, den ich gleich nach Ihrer Abreise von hier las, grauset Ihr Tiefsinn mich in der That an. Was ich davon zu verstehen, nicht glaube, sondern wittere - ist eine mir untröstliche Anfeindung der Persönlichkeit als Beschränkung." (Briefe 3,345) 361 Vgl. SWIII/1,524-534 3 " Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Nachdruck München 1924 und Nachdruck Darmstadt 1960.1973.1983, Bd 3, 283-297 363 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, ausgewählt und bearbeitet von Curt Grützmacher, 2 Bde, Reinbek 1969; hier Bd2, 229-237 364 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, ed. F. Baader, München 1905 560
Historische Einführung
LXXXIII
skripte ist verlorengegangen; erhalten haben sich nur wenige Stücke, die im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR aufbewahrt werden. Dabei handelt es sich zum einen um einige Blätter (SN 519) der Materialsammlung, die Schleiermacher für seinen Bericht angelegt und in der er unter Sachstichworten Exzerpte und Ubersetzungen zusammengetragen hatte. Zum andern liegen zwei Passagen aus Schleiermachers Manuskript (SN 520) vor, das er als überarbeitungsfähige Druckvorlage dem Verleger Johann Karl Philipp Spener im August 1800 zur Begutachtung vorlegte. Im einzelnen bestehen die Materialien zur Siedlungsgeschichte Neuhollands aus vier eigenhändigen Manuskripten. Sie haben unterschiedlichen Charakter. Das umfänglichste Manuskript (SN 519/4) umfaßt 4 Blätter von 17,4cm Breite und 21,2cm Höhe. Der Text beginnt „Gentlemans Mag. 85 A" und ist ein in lateinischer Schrift geschriebenes englischsprachiges Exzerpt der angeführten Zeitschrift „ The Gentleman's Magazine and Historical Chronicle". Die Überlieferung ist fragmentarisch, der Text bricht auf Bl.4v durch Überlieferungsverlust mit dem Kustos „dange-" ab. Die Foliierung mit Bleistift stammt von fremder Hand. Die Ziffern 1-4 der Blattzählung erklären sich daher, daß dieses Manuskript früher der Archivalie Nr. 520 zugeordnet war. Die zwei ineinandergelegten Doppelblätter mit jeweils gezähnten Rändern haben Wasserzeichen und sind mit Sepiatinte ohne Seitenrand beschrieben, Bl. 2 r allerdings nicht im unteren Siebtel. Die andern drei Manuskripte sind Einzelblätter; sie enthalten Übersetzungen bzw. Zusammenfassungen englischer Reiseliteratur. Das erste Einzelblatt hat für die Ordnung der Materialsammlung den Vermerk „4. a." in der oberen rechten Ecke. Unter diesem Gliederungspunkt übersetzte Schleiermacher einen Abschnitt aus dem Bericht „ The voyage of Governor Phillip to Botany Bay" (London 1789) von Arthur Phillip. Der Text beginnt „P.88. King beschrieb Norfolk ...". Das Einzelblatt von 16,2cm Breite und 20,3 cm Höhe hat oben und außen einen glatten, unten und innen einen leicht gezahnten Rand. Das bräunliche nachgedunkelte und stockfleckige Papier ohne Wasserzeichen ist mit Sepiatinte beschrieben. Der Text ist durch Überlieferungsverlust fragmentarisch; er bricht auf der Rückseite unten ab. Erhalten hat sich die Übersetzung der Seiten 88-93. Das Manuskript ist von fremder Hand mit Bleistift als „3" foliiert. Das zweite Einzelblatt (SN 519/1) hat Schleiermacher nur auf der Vorderseite mit Sepiatinte beschrieben; deren unteres Viertel und die Rückseite sind unbeschrieben. Das Blatt trägt den Gliederungsvermerk ,,4.b.", woran sich der Autorenname „Tench" als Überschrift anschließt. Der Text beginnt dann „P. 75. Ihre Kähne in denen ...". Schleiermacher exzerpierte die deutsche Übersetzung „Nachricht von der Expedizion nach Botany-Bay nebst Bemerkungen über Neu-Südwallis" (Frankfurt/Leipzig 1789) des englischen Reiseberichts „A narrative of the expedition to Botany Bay"
LXXXIV
Einleitung des Bandherausgebers
(London 1789) von Watkin Tench. Das Exzerpt bezieht sich ausschließlich auf das 11. Kapitel „Beschreibung der Eingebohrnen von Neu-Südwallis. Unser Verkehr mit ihnen "}bi. Die Schleiermacherschen Seitenangaben machen es zweifelsfrei, daß die deutsche gedruckte Ubersetzung und nicht das englische Original in eigener Ubersetzung Schleiermachers dem Exzerpt zugrunde liegt. Nur vermutungsweise kann dagegen die Vorlage für die knappen Sätze ermittelt werden, die sich Schleiermacher auf dem Rand aus dem Reisebericht von John Hunter notierte. Da diese Sätze an einem Punkt deutlich von der gedruckten deutschen Übersetzung „Reise nach Neu-Südwallis nebst Nachrichten von den Entdeckungen in diesem Lande und in der Südsee" (mit Anmerkungen von J.R. Forster, Berlin 1794) abweichen, ist es wahrscheinlich, daß ihm das englische Original vorlag und er selbst die Übersetzung fertigte. Er sichtete wohl das umfangreiche Werk „An historical journal of the transactions at Port Jackson and Norfolk Island, with the discoveries which have been made in New South Wales and in the Southern Ocean, since the publication of Phillip's Voyage, compiled from the official papers; including the journals of Governors Phillip and King, and of Lieut. Ball; and the voyages from the first sailing of the Sirius in 1787, to the return of that ship's company to England in 1792" (London 1793) und notierte sich die eigene geraffte Übersetzung auf dem Rand als Ergänzung der Darstellung, die Tench von demselben Sachverhalt gab. Das bräunliche glattkantige Papier ohne Wasserzeichen ist stark nachgedunkelt und stockfleckig und hat eine Breite von 17,2 cm und eine Höhe von 19,9 cm. Die Bleistiftfoliierung „1" stammt von fremder Hand. Das dritte Einzelblatt (SN 519/2) ist 16,2cm breit und 20,2cm hoch. Die Vorderseite ist ohne Rand mit Sepiatinte beschrieben; deren unteres Viertel und die Rückseite sind leer. Das glattkantige Papier ohne Wasserzeichen ist nachgedunkelt. Der Text beginnt mit dem Gliederungsvermerk „5.d. Oekonomie" und dem Autorennamen „Collins" in derselben Überschriftzeile. Es folgt Schleiermachers Übersetzung einiger Mitteilungen aus dem ersten Band des Werkes „An account of the English colony in New South Wales" (London 1798) von David Collins. In etwa gleichem Umfang schließen sich daran verdeutschte Notizen aus dem Bericht „Journal of a voyage to New South Wales" (London 1790) von John White an. Durch die in Klammern in den Übersetzungstext eingefügten englischen Pflanzennamen und durch bestimmte Formulierungen läßt sich zweifelsfrei feststellen, daß Schleiermacher nicht die gedruckte Übersetzung „ Tagebuch einer Reise nach Neu-Süd- Wallis "ibb exzerpiert, sondern den englischen Origi365 ,66
Tench: Nachricht 70-86 White: Tagebuch einer Reise nach Neu-Süd-Wallis, Magazin von merkwürdigen neuen Reiseheschreibungen, aus fremden Sprachen übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet, Bd 5, Berlin 1791, S. 1-114; danach Anhang zur Naturgeschichte von Neu-SüdWallis
Historische
Einfiihrung
LXXXV
naldruck ausgewertet hat. Das Manuskript ist mit Bleistift von fremder Hand als „2" foliiert. Es trägt wie die anderen drei Manuskripte auf der Vorderseite oben links den rot und rechteckig gestempelten Vermerk „Litteraturarchiv Berlin". Schleiermachers eigenhändiges Manuskript zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (SN 520) ist durch Überlieferungsverlust fragmentarisch. Erhalten sind 5 Einzelblätter von 16,6 cm Breite und 20,5 cm Höhe, auf denen durch Faltung ein Seitenrand von ca. 5,7cm Breite ausgespart ist. Der Text beginnt „Diejenigen ihrer Kameraden ..." und umfaßt die Seiten 11-14 und 49-54, die Schleiermacher von eigener Hand auf der oberen Randecke paginiert hat. Die Blätter sind außerdem noch mit Bleistift von fremder Hand als „4-8" foliiert, weil dieses Manuskript früher als viertes Manuskript zur Archivalie Nr. 519 gehörte. Das glattkantige Papier mit Wasserzeichen ist nachgedunkelt und hat einige Flecken. Es ist mit Sepiatinte beschrieben. Kustoden finden sich auf den Seiten 12. 50. 52. 54. Auf dem Rand sind sowohl Textanmerkungen von Schleiermachers Hand als auch einzelne Notizen und Striche mit Rötelstift von fremder Hand, außerdem einige Bleistiftkreuze. Mit Rötelstift sind auch einige Unterstreichungen im Text (vielleicht von Spener) vorgenommen worden. Schleiermacher verfolgte mit Ausdauer und Intensität über einen längeren Zeitraum ein literarisches Projekt, das allerdings nicht zum Abschluß kam: Er wollte die englische Besiedlung der Ostküste Neuhollands (Australiens) darstellen, die zum Aufbau der Kolonie Neusüdwales führte. Dieses Projekt muß nach Umfang und Zeitdauer unter den literarischen Unternehmungen seiner frühromantischen Charite-Zeit als gewichtig eingeschätzt werden. Schleiermacher arbeitete an seiner umfänglichen historischen Darstellung wohl ab Jahresanfang 1799 bis zum Frühjahr 1802, d. h. bis zu seinem Wechsel von Berlin nach Stolpe. Die bisher nur teilediertenibJ Briefe Schleiermachers an den Berliner Buchhändler und Verleger Johann Karl Philipp Spener erhellen die Rahmendaten für dieses Arbeitsprojekt. Spener gab damals die Reihe „Historisch-genealogischer Calender oder Jahrbuch der merkwürdigsten neuen Welt-Begebenheiten" (1784-1800) mit dem Nebentitel „Allgemeines historisches Taschenbuch" heraus, in der jeweils Übersetzungen aktueller Berichte oder selbständige Darstellungen jahrbuchweise erschienen. Spener selbst hatte 1798-1800 dreibändig einen englischen Reisebericht von Sir George Staunton, dessen Originaldruck 1798 in London erschienen war, übersetzt: „Des Grafen Macartney Gesandschaftsreise nach China, welche er auf Befehl des Königs von Großbritannien, George des dritten, in den Jahren 1792-1794 unternommen hat; nebst Nachrichten über China und einen kleinen Theil der chinesischen Tartarey. Aus den Tagebüchern des Ambassadeurs und der vornehmsten 367
Vgl. oben Anm. 66
LXXXVI
Einleitung
des
Bandherausgebers
Personen seines Gefolges zusammengetragen und herausgegeben, aus dem Englischen frey übersetzt"?bi Da sich Schleiermacher bei den Blairschen und Fawcettschen Predigten als Ubersetzer ausgewiesen hatte und Spener auf dem stark expandierenden Markt der Reise- und Geschichtsdarstellungen immer auf der Suche nach neuem Lesestoff war, schlug vermutlich Spener Schleiermacher vor, als Kalender für das Jahr 1800 eine freie und gekürzte Übersetzung des englischen Berichts „An account of the English colony in New South Wales" (London 1798) von David Collins anzufertigen. Spener selbst hatte wohl auch angeregt, andere Autoren zur Ergänzung des Collinsschen Berichts heranzuziehen. Aus der Spenerschen Zwecksetzung der Kalenderpublikation ergab sich als Termin für die Ablieferung des Manuskripts der Sommer, genauer Ende Juni 1799. Schleiermacher war vom 14. Februar bis zum 14. Mai 1799 vertretungsweise Hofprediger in Potsdam. Kurze Zeit vor Antritt dieser Stelle hatte er wohl Spener persönlich kennengelernt.369 Eine Verabredung war noch nicht getroffen, sondern von Speners Seite nur der Vorschlag hinsichtlich der Collins-Ubersetzung gemacht. Eine persönliche Unterredung, die Schleiermacher zugesagt hatte, versäumte er vor seiner Abreise dann doch. Hier setzt der erste Brief ein, den Schleiermacher am 19. Februar 1799 aus Potsdam an Spener schrieb und in dem er berichtete, daß er Collins erst in Potsdam gelesen habe und bis zur persönlichen Begegnung Anfang März noch einmal durchzulesen gedenke im Blick auf die Tauglichkeit der Bearbeitungsvorstellungen. Doch Spener drängte offensichtlich auf raschen Arbeitsbeginn. Am 22. Februar entwickelte Schleiermacher seine Projektplanung und warb nachdrücklich darum, daß Spener ihm diesen Arbeitsauftrag übertrüge. „Daß der Collins nicht nur in sich zusammengezogen sondern auch aus Andern ergänzt werden müßte, und lieber umgearbeitet als nur ausgezogen, das war mir bei der Lektüre klar geworden und ich war so a priori in Ihre Idee entrirt daß ich Sie schon in meinem Briefe bitten wollte mir den Philipp und Barrington wenigstens zu verschaffen. Aber bedenken Sie nun nur selbst, wieviel mehr Zeit eine solche Arbeit erfordert als eine simple Uebersezung. Ich weiß nicht ob Sie überhört haben, was ich Ihnen sagte als ich die Ehre hatte bei Ihnen zu sein, daß ich vor der Ostermesse nicht würde dazu kommen können: ich bin noch jezt mit einem kleinen Büchlein beschäftigt dessen Vollendung aufzuschieben ich nicht mehr in meiner Gewalt habe und womit ich bis dicht an die Messe zu thun haben 568 369
Vgl. Weidling: Dreihundert Jahre 43 Vgl. Schleiermachers Selbstbeschreibung seiner Beziehung zu Spener in seinem Brief vom 22. Februar 1799 als „unserer jungen Bekanntschaft". Schleiermachers Briefe an Spener vom 19. und 22. Februar, 19. und 27. April, 4., 6. und 11.Mai, 11. Juli, 8. und 24. September, 8., 13., 21. und 29. November, 2. und 25. Dezember 1799, vom 30. September und 30. Oktober 1800, vom 30. Mai 1802 sowie sieben undatierte Briefe sind im Original in der Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Vamhagen, archiviert.
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LXXXVII
werde. Mit aller Anstrengung und dem besten Willen an dem es mir nicht fehlt würde ich also in dieser Zeit nichts thun können als nebenbei alles durchlesen was uns nöthig ist über die Art der Bearbeitung ganz einig werden, und einige Vorarbeiten machen. Bedenken Sie nun selbst, ob es mir, der sichs zum heiligen Gesez gemacht hat um keiner schriftstellerischen Arbeit willen seine übrigen Studien ganz liegen zu laßen, ja ob es auch ohne Rüksicht hierauf irgend Jemand andrem möglich wäre ein solches Werk hernach in zwei Monaten anders als höchst übereilt zu bearbeiten! Ich bekenne mich gern unfähig dazu. Ist es also unumgänglich nothwendig daß die Arbeit Ende Junius beendigt sei so muß ich lieber - so ungemein leid es mir thut, und so schwer es mir wird - die ganze Sache gleich aufgeben, als Ihnen etwas versprechen was ich gar nicht, oder nur schlecht halten könnte. Aber warum sollte denn das so nothwendig sein? Könnten Sie es mir nicht gönnen dem Collins meine ganze Sommermuße zu schenken, und sich damit begnügen daß im A ugust alles fertig wird und also zur Herbstmesse aufjeden Fall zurecht kommt? Das ist also der Punkt worauf alles ankommt. Liegt Ihnen jener terminus ad quem so am Herzen, daß Sie nicht drüber hinaus können, so muß ich wirklich diese Arbeit, auf die ich mich so sehr gefreut hatte einem Andern überlaßen; aber überlegen Sie Alles und sehn Sie zu was Sie thun können, ehe Sie zu meinem moratorio Nein sagen. Es würde mir gar schwer werden mich von diesem Projekt zu trennen; aber ich sehe deutlich voraus daß ich nichts kluges würde machen können, wenn ich mich an Ihren Termin halten müßte. Glauben Sie hierin nachgeben zu können, so komme ich auf den Freitag nach Zehlendorf und wir verabreden dann das nähere; ist es Ihnen schlechterdings unmöglich, so haben Sie die Güte es mich vorher wißen zu laßen und ich resignire dann, höchst ungern, auf alles Vergnügen was mir diese Arbeit gemacht haben würde, und schike Ihnen lieber gleich den Collins zurük um ihn nicht länger vor Augen zu haben. Im Fall Ihr Entschluß so ausschlägt wie ich es wünsche, soll ich ihn mitbringen oder nicht? und wird es nicht nöthig sein daß wir einander Pläze zur Rükfahrt bestellen um nicht in Zehlendorf sizen zu bleiben? Leben Sie indeßen wol, und wenn Sie doch im Fall ich nicht bin der da kommen soll eines andern warten müßen, so behalten Sie mich doch lieber gleich zum Messias." Spener stimmte offensichtlich dieser Planung zu und beauftragte Schleiermacher, den Kalender für 1800 zu schreiben. Obwohl bis Mitte April 1799 die Reden „ Über die Religion" im Vordergrund standen, arbeitete Schleiermacher begleitend und nebenherlaufend auch an seinem Neuhollandprojekt, um mit dem Umfeld vertraut zu werden und eine Materialsammlung anzulegen. Die Beschäftigung mit Collins (und d. h. Neuholland) war „zugleich ein Studium für mich" schrieb er am 4. Mai 1799, als er auf Bitten Speners bei der Ubersetzung des englischen Reiseberichts „ Travels in the interior districts of Africa" (London 1799) von Mungo Park einsprang. Durch diese neue Ubersetzungstätigkeit wurde offensichtlich der ursprüngli-
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Einleitung des Bandherausgebers
che Terminplan hinfällig. Entweder wurde bereits im Mai 1799 für Schleiermachers Neuholland-Geschichte 1801 als neuer Publikationstermin verabredet oder zumindest die Ablieferung des Manuskripts auf Herbst 1799 verschoben. Die von Matthias Christian Sprengel publizierte stark gekürzte Übersetzung „ Geschichte der brittischen Volkspflanzung in Neuholland oder Neusüdwales vom 13ten May 1788 bis zum September 1796" (Halle 1799) des Collinsschen Berichts beurteilte Schleiermacher am 8. September 1799 nicht als kaufmännische Bedrohung, sondern konzeptionelle Bestätigung seines Projekts. Den umfangreichen Lektürestoff für seine gründlichen Neuhollandstudien erhielt Schleiermacher von Spener. Am 19. April 1799 erbat er sich Unterlagen zu den „Parlaments Debatten", wohl um die politische Vorgeschichte der australischen Sträflingskolonie zu ermitteln. Am 8. September 1799 wiederholte und erweiterte Schleiermacher seine Bücherbitte: „Was uns fehlen wird scheint mir nach meiner jezigen Uebersicht von der Sache vorzüglich das zu sein, was im Mutterlande in Beziehung auf Neuholland vorgegangen ist, nicht nur die Debatten über die Errichtung der Kolonie, sondern auch was in den Budgets über die Kosten der ersten und folgenden Rüstungen und der Administration selbst doch gewiß vorgekommen ist, item Nachrichten von dem Aufenthalt einiger Neuholländer in England. Gewiß hat man auch dort schon Berichte von der Kolonie welche neuer sind als der Schluß von Collins Tagebuch." Außerdem verlangte er am 24. September 1799 ein „Buch worin man eine ganz genaue Auskunft über Alles was zur englischen Justizverfaßung gehört antrift". Zu diesem politisch-juristischen Themenbereich exzerpierte Schleiermacher 1800 die Zeitschrift „ The Gentleman's Magazine". Am 30. September 1800 hob er deren Quellenwert hervor. Am 30. Mai 1802 gab er ausgeliehene Bände dieser Zeitschrift an Spener zurück. Vermutlich im Oktober/November 1799 vor Beginn der „Monologen "-Ausarbeitung und synchron mit Schleiermachers Betreuung der Herzschen Ubersetzung des englischen Reiseberichts „ Travels through the states of North America, and the provinces of Upper and Lower Canada" (London 1799) von Isaac Weld lieferte Schleiermacher einen Entwurf seines Kalenderberichts an Spener, wobei die Einleitung noch fehlte und von Schleiermacher Materialien zur Vorgeschichte und zum Anhang über die Eingeborenen noch gesucht wurden. Ein undatierter änigmatischer Brief vermutlich vom Oktober 1799 kann wohl als Beleg fur diesen vorläufigen Arbeitsabschluß gelesen werden. „Den Rest von meiner Arbeit bekommen Sie Morgen; ich habe ihn jemand zeigen wollen, den ich seit Freitag nicht gefunden habe. Vergeßen Sie übrigens beim Lesen nicht, daß ich mir auch noch eine Arbeit vorbehalten habe. An Einzelnes stoßen Sie Sich also nicht, sagen Sie mir aber als amicus arduus Ihre Meinung über die Anordnung und den Ton des Ganzen; denn noch ist es Zeit. Was nun die Einleitung
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betrifi, die doch auch einmal gemacht werden muß, sollten da etwa Archenholz Annalen von diesen Jahren genug enthalten von den Verhandlungen in England? oder wenigstens Nachweisung f Könnten Sie mir die Jahrgänge quaestionis gebunden verschaffen, so möchte ich sie wenigstens in dieser Rücksicht durchlaufen. Auch späterhin wird es mir vorzüglich auf die Verhandlungen in England ankommen, von denen auch in den Extracts of Letters pp. sehr wenig steht, und dann auf Nachrichten von dem Aufenthalt einiger Neuholländer in England, wovon gewiß in Journalen allerlei steht, was den Anhang, den ich den Eingebomen noch zu widmen gedenke, interessanter machen könnte. "}70 Vermutlich hat Spener die Schleiermachersche Ausarbeitung nicht akzeptiert. Spätestens dann aber war der Publikationstermin 1800 hinfällig. Schleiermacher bot Spener statt des Kalenders die „Monologen " an. Das Kalenderprojekt wurde stattdessen um ein Jahr verschoben. Nach Abschluß des „Monologen"-Manuskripts wollte Schleiermacher gleich zu seinem Neuholland-Kalenderprojekt zurückkehren. Er schrieb deshalb am 4. Dezember 1799 an Spener: „Sie wißen, daß ich nun mit den Monologen Nichts mehr zu thun habe als die Correcturen; ich hätte daher nicht übel Lust nach gerade wieder nach Neuholland zu reisen, und frage, wann Sie mir meinen kleinen Anfang NB. mit Ihren Bemerkungen und. Gutachten wieder geben können f"i71 Spener muß ihn wohl umgehend auf die noch ausstehende Einleitung verwiesen haben. Schleiermacher antwortete nämlich am 5. Dezember: „Recht gern will ich an die Einleitung gehn; aber Sie wißen ja, daß uns dazu noch das Meiste fehlt. Laßen Sie Sich wenigstens nun den versprochnen Archenholz geben, damit wir sehn, was für Ausbeute der giebt. Auf den Sonntag werde ich mit Vergnügen erscheinen; allein zu unserm Discours über Neuholland werden Sie mir wol einmal ein Morgenstündchen schenken müßen."171 Sicherlich war zu Jahresende 1799 das Kalenderprojekt nur aufgeschoben, aber nicht aufgesagt, denn Schleiermacher bat Spener am 28. Dezember 1799 um einen Honorarvorschuß; er fragte, „ob Sie mir ohne Ihre Beschwerde in dieser höchst geldgefräßigen Zeit ein α conto von 40-50 Reichsthalern auf unser Neuholland geben können ?"373 Mehrere undatierte Briefe, die vermutlich in den Herbst 1799 oder ins Frühjahr 1800 gehören, geben einen Einblick in die starke Beteiligung Speners an Schleiermachers
370
371 572 375
SN 771, Bl. 16r-v. Abschriften von Briefen Schleiermachers an Spener werden im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR (SN 771) aufbewahrt. Die Korpora der überlieferten Brieforiginale und -abschriften sind nicht deckungsgleich: Es gibt sowohl Originale ohne Abschriften als auch Abschriften ohne zugehörige Originale. SN 771, Bl.25r SN 771, Bl. 26 r-v Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (West), Signatur Autogr. 1/1028
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Kalenderprojekt,374 Im Sommer 1800 äußerte sich Schleiermacher gegenüber F. Schlegel mehrfach zu diesem Unternehmen. Daraus ergibt sich für die relative Chronologie, daß nach seinen furs „Athenaeum" verfaßten Rezensionen von Engels „Der Philosoph für die Welt, Band 3 " und von Fichtes „Die Bestimmung des Menschen" Schleiermacher sich ganz der Fertigstellung des Kalenders über die Siedlungsgeschichte Neuhollands widmete. Diese Ausarbeitung, von der zwei Fragmente im Nachlaß erhalten sind, schickte er dann Ende August 1800 zur Begutachtung an den Verleger Spener. Am 10. Juli antwortete Schleiermacher auf die von F.Schlegel ausgesprochene Einladung nach Jena: „Zuerst muß ich den Kalender machen, von dem mich der Engel und Fichte wieder vertrieben hatten, und ehe der nicht fertig ist kann ich mich nicht von der Stelle rühren. Drei volle Monate brauche ich dazu gewiß [...]. Das erste und vornehmste ist daß ich mein möglichstes thue um mit dem Kalender fertig zu werden, und daran will ich es nicht fehlen laßen. "375 In der Fortsetzung dieses Briefes unter dem 11. Juli betonte Schleiermacher noch einmal die drängende Arbeit am Kalenderi7b und Schloß mit der Bitte an Friedrich Schlegel: „ Glaube nur, daß ich gewiß mein bestes thun werde um zu kommen, nur daß der verfluchte Kalender erst fertig werden muß."177 Am 2.August berichtete Schleiermacher F.Schlegel: „Ich arbeite sehr fleißig am Kalender, und der Gedanke an die Reise nach Jena hilft mir gewaltig; aber da werden in einigen Wochen die Dohnas kommen, das wird mir wieder Zeit kosten, und die schlechte Jahreszeit
374
Vgl- dazu: „Hier erhalten Sie den Meyer zurük, der mir doch nicht ganz unnüz gewesen ist, nebst den Kupfern avant la lettre. Ad quaestiones 1.) Von Rion's Schiffbruch habe ich keine Details, die allerdings sehr wünschenswerth wären 2.) Das Kupfer von der Reception in den Manner Orden ist ausgeschnitten 3.) eben so die Charte vom Hawkesbury und der Entdekung des Rindviehs 4.) Den Grundriß der neuen Stadt habe ich und er erfolgt. Allein so wie er hier ist gehört er offenbar in den Phillip. Auch finde ich im Verzeichniß des Collins keine Charte von Sidney cove sondern nur viele Views. Schade ist es daß alle Ihre landschaftlichen Kupfer aus der früheren Zeit sind! Indeßen darin ist wol nichts mehr zu ändern; es müßte uns denn die Ausführung offenbar auf 2 Theile fuhren. Den besten Dank für die Anekdote von Phillip; ich werde sie noch einschalten. Eben so werde ich die Erzählung von Turnkey erwarten, und Sie nächstens nach einer ähnlichen Merkwürdigkeit fragen, von der ich Spuren finde. " (Sammlung Vamhagen) Spener besorgte für Schleiermacher im großen Umfang die Quellen (vgl. SN 771, Bl. 9r). Dabei spielten fur Schleiermachers Studien besonders Karten eine wichtige Rolle. „Sie thäten mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir die Sketch of Sidney-cove, die zu Phillip Voyage P. 123. gehört, hervorsuchen könnten; ich bedarf ihrer recht ordentlich." (SN 771, Bl. 1 r) Und wenig später schrieb Schleiermacher: „Die herrlichen Nachrichten von allen Seiten haben mich in eine so gute Stimmung gesezt daß ich Ihnen sogar Ihre feindselige Auslegung verzeihe. Aber im Ernst sehr ungem behelfe ich mich ohne den Plan von Sidney-cove." (Sammlung Vamhagen)
375
Briefe 3, 201 f Vgl. Briefe 3,206 Briefe 3,207
376 377
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kommt gewiß heran ehe der schöne Vorsaz ausgeführt wird. "17e Und am 8.August ergänzte er, daß er mit dem Kalender „nun rasch vorwärts komme"379. Am 26. August 1800, gerade noch rechtzeitig für eine Publikation im Spätherbst als Kalender auf das Jahr 1801, lieferte Schleiermacher zum zweitenmal, diesmal ausgefeilter und ausgebreiteter, ein Manuskript zur Geschichte der englischen Sträflingssiedlung an der Ostküste Neuhollands (Australiens) bei Spener ab. Nach Schleiermachers Brief vom 30. Oktober 1800 erfaßte dieses Manuskript den Zeitraum bis zur Jahresmitte 1790 und hatte einen Umfang etwa von 130-140 Seiten. Davon haben sich im Nachlaß zwei kürzere Teile erhalten,380 Schleiermacher hatte offensichtlich auch den Siedlungszeitraum bis 1793 schon genauer skizziert. Am 26. August 1800 schrieb er an Spener mit genauen Erläuterungen zu seinem Manuskript: „Fertig, lieber Freund, ist ein relatives Wort, und wenn Sie es durch's Unterstreichen absolut machen wollen, so protestire ich dagegen, daß irgend etwas fertig ist, ehe es die zweite Correctur passirt hat. Am Sonnabend konnte ich Ihnen das beikommende Mscr. nicht schiken, weil ich es nicht zu Hause hatte. Ich bitte Sie aber es nun wirklich zu lesen, und nicht bei den ersten Blättern stehn zu bleiben wie damals. Im Text habe ich alle lateinischen Lettern vermieden, weil sie mit den deutschen nicht von gleicher Klarheit sein können, und sich das sehr häßlich macht. Was mit χ bezeichnet ist, wollte ich als Anmerkung unter den Text, und habe manche Anekdote dahin verwiesen, welche die Erzählung zu sehr unterbrochen hätte. Auch das Naturhistorische. Wollen Sie aber dieses lieber hinten in einem Anhange zusammenbringen, so können diese Anmerkungen leicht weggenommen werden. Ich wäre dafür; aber dies gehört ganz vor Ihr Forum. Mit den Eingebohrnen habe ich es so gehalten, nur das, was sich auf ihr Verhältniß zu Delolme bezieht, in den Text aufzunehmen, das übrige für einen Anhang aufzusparen, der ihre Charakteristik enthalten soll. Da werden alle die kleinen Anekdoten sich in dem Maße weit besser machen, und auch in das rechte Licht gesezt werden können. Die Einleitung der Einleitung, ich meine die ersten 2 Blätter, gebe ich Ihnen Preis, wenn sie Ihnen nicht leicht genug ist, oder zu sehr ab ovo anfängt, und wünsche nur, daß Ihnen das Ganze gefallen möge. Ihre Meinung hoffe ich bald zu erfahren. Wegen der kleinen Schrift muß ich Sie wol sehr um Verzeihung bitten: es ist eine unartige Angewohnheit; aber sie klebt mir nun einmal an, besonders wenn ich viel hinter einander schreibe, und sie ist auch leserlicher als meine größere. Der nächste Abschnitt, der bis zum Untergang des Sirius geht, ist noch nicht fertig. [...] NS. Sie haben aus Phillips Voyages die Charte vom track of the Alexander transport ausgeschnitten. Haben Sie etwa auf eine ausführlichere Beschreibung von Schertlands Reise gerechnet, die ich hier auf einer 178
Briefe 3, 208
3
" Briefe 3, 211
)8
°
Vgl. unten
267-279
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Seite abgefertigt habe ? Das übrige schien mir zu sehr bloß geographisch zu sein, und mit den Einwohnern seiner neuentdekten Inseln ist eben auch nicht viel anzufangen. Wollen Sie es aber, so nehme ich dann gleich die andre Reise von den Schiffen der ersten Flotte dazu, daß es ein ordentliches νοστος wird, und mache einen eignen Abschnitt daraus, der unmittelbar auf diese folgen müßte. "381 Spener ließ offenbar, um den Umfang des Werkes kalkulieren zu können, in einer fremden Setzerei einen Probedruck von ein oder zwei Bogen veranstalten. Das Ergebnis zeigte ein Anwachsen des Berichts auf zwei Bände an. Speners Unentschlossenheit über die verlegerische Konzeption und das weitere Vorgehen (umarbeitende Kürzung mit Verschiebung um Jahresfrist oder Zuendeführen in zwei Bänden) suchte Schleiermacher am 30. Oktober 1800 durch eine klare Alternative zu überwinden, wobei er keinen Zweifel ließ, daß er von seiner Seite der Fortfuhrung den Vorzug gebe. „Das ist ja Alles nicht sonderlich tröstlich, lieber Freund. Daß die Schrift auf beikommender Probe nicht die Ihrige ist thut mir leid: denn ich finde sie sehr nett und angenehmer als die im Macartney. Wenn die Differenz nicht zu groß ist so würden etwa 8 Seiten Manuscript auf einen Bogen - nemlich 16 Seiten - zu rechnen sein und dann würde mein Manuskript bis jezt d. h. bis zur Abreise der zweiten Flotte August 90 etwa 17 Bogen betragen, und bis zum Ende von Philipps' Statthalterschaft fortgeführt etwa 24. Sollten wir nun diesen Weg gehn -, dann müßen offenbar 2 Bändchen entstehen, oder soll nur ein Band werden, der dann doch nicht über 30 Bogen betragen dürfte ? Im lezten Falle müßte ich dann Alles bisherige noch einmal fast auf die Hälfte ins Kurze arbeiten. Dies ist nun die Hauptfrage worüber ich Ihre baldige endliche Entscheidung wünsche. Von meiner Seite ist nur Folgendes zu sagen. Ergreifen Sie das erste so kann ich recht gut noch vor Ende des Jahres das bestimmte Ziel erreichen; ergreifen Sie das lezte so würde diese gänzliche Umarbeitung mich allerdings in einige Verlegenheit sezen, und ich würde sie jezt nicht mehr unternehmen können; auch würde mir die Schäzung dieser doppelten Arbeit einige Schwierigkeiten machen, da doch die erste ebenfalls wenigstens was die Ausführlichkeit anbetrift Ihren Ideen angemessen war. Ich wiederhole die Bitte um Ihre baldige Entscheidung. " Spener gab die Kalenderreihe auf, vielleicht weil Schleiermacher nicht rechtzeitig fertig geworden und kein Ersatz verfügbar war, der eingeschoben werden konnte, vielleicht auch weil sie sich schlecht verkaufte. Vielleicht verlor Spener auch wegen der Unübersichtlichkeit der Situation das Interesse an Schleiermachers Bericht und benutzte das Eingehen der Reihe, um den Vertrag mit Schleiermacher zu kündigen. Spener scheint sich um eine klare Aussage gedrückt zu haben. 381
SN 771,
Bl.28r-29v
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Einfiihrung
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Schleiermacher stellte im Spätherbst 1800 seine Weiterarbeit ein, doch gab er das Unternehmen keineswegs auf. Er bemühte sich um noch mehr Quellenmaterial und wollte seinen Bericht gegen Ende 1801 abschließen. Am 29. Dezember berichtete er seiner Schwester Charlotte über das Neuhollandprojekt: „die andere Arbeit ist ohne meine Schuld nicht fertig geworden, weil es mir noch an einigen Materialien gefehlt hat, die aus England erwartet werden; nun wird sie sich wahrscheinlich bis an's Ende des künftigen Jahres verziehn. "382 Dieser Plan ging nicht in Erfüllung. Bei seiner Übersiedlung nach Stolpe sandte Schleiermacher am 30. Mai 1802 die ausgeliehenen Bücher an Spener zurück und schrieb im Begleitbrief: „Sie erhalten nun hiebei die Neo-Hollandica vorläufig zurük. Ich weiß nicht, und will nicht entscheiden, ob ich bei Ihrem langen gänzlichen Stillschweigen die ganze Unternehmung für gescheitert ansehen soll; oder ob Sie sie einmal wieder hervorsuchen wollen. Gem werde ich dann die Hand dazu bieten. Was ich ausgearbeitet und excerpirt habe ist mit meinen Papieren schon voran; brauchen würde ich nur den Hunter und Collins und wenn etwa in diesen 6 lezten Bänden des Gentleman's Mag. etwas von der Rükkunft der ersten Flotte steht." Die Anordnung der Neuholland-Manuskripte erfolgt gemäß der relativen Chronologie. Zunächst die drei Einzelblätter mit Materialien zur Siedlungsgeschichte lassen sich nur sehr grob zeitlich fixieren. Es sind Blätter aus Schleiermachers „Zettelkasten". Sie dürften aus der Zeit der vorbereitenden Studien im Sommerhalbjahr 1799 oder Winter/Frühjahr 1800 stammen. Diese drei Einzelblätter werden gemäß ihrem systematischen Gliederungsvermerk angeordnet, d.h. „4.a.", „4.b." und „5. d.". Sodann die Exzerpte aus der Zeitschrift „Gentleman's Magazine", die vermutlich ursprünglich die einschlägigen Jahrgänge 1785 bis etwa 1796 umfaßten, gehören wohl ins Frühjahr 1800, weil Schleiermacher erst später im Jahr 1800 rückblickend eine entsprechende Lektüre brieflich erwähnt. Für Schleiermachers fragmentarisches Manuskript zur Siedlungsgeschichte Neuhollands schließlich läßt sich der terminus ante quem eindeutig angeben: es ist der 26. August 1800. Dies Manuskript dürfte weitgehend im Juli und August 1800 verfaßt sein.
13. Gedanken
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Schleiermachers fünftes Gedanken-Heft (Nachlaß-Nr. 144 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt 17 Blatt unterschiedlicher Größe. Dieses eigenhändige Manuskript ohne Überschrift und ohne Datum beginnt „Es gelingt mir noch immer ...". Insgesamt 217 nicht durchgezählte Notate hat Schleiermacher mit Sepiatinte niederge382
Briefe
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XCIV
Einleitung
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schrieben und zumeist durch kurze, seltener durch lange Striche voneinander getrennt. Die Seitenzählung mit Bleistift ist von fremder Hand. Das Konvolut von insgesamt 17 Blatt besteht zunächst aus vier ineinandergelegten Doppelblättern (S. 1-16; je 17,2cm breit und 21,1 cm hoch; 4,7cm breiter durch Knicken markierter Rand), sodann aus einem einzelnen Doppelblatt, dessen zweites Blatt nicht beschrieben und nicht paginiert ist (S. 17-18; Blattgröße von 18,2cm Breite und 22,1cm Höhe mit ca. 5,8cm breitem geknickten Rand), des weiteren aus drei ineinandergelegten Doppelblättern (S. 19-29; je 18,2cm breit und 22cm hoch; ca. 5,5cm breiter geknickter Rand) und schließlich aus einem einzelnen Blatt von 17,4 cm Breite und 21,6cm Höhe, das nicht beschrieben und nicht paginiert ist. Seite 29 ist nur im oberen Siebtel beschrieben, die zugehörige Rückseite ist unbeschrieben. Das teilweise fleckige Papier mit Wasserzeichen ist bräunlich nachgedunkelt und hat einige Löcher. Auf dem Rand finden sich kurze Bemerkungen und Striche mit Tinte von Schleiermachers Hand. Außerdem gibt es dort Bleistiftnotizen und Bleistiftstriche, die vermutlich ebenso wie einige Bleistiftunterstreichungen im Text von Dilthey herrühren. Die Notate Nr. 1-53 sind mit Bleistift von fremder Hand (vermutlich Dilthey) gezählt; dabei ist Nr. 20 nicht eigens gezählt, sondern Nr. 19 beigegeben worden, so daß ab Nr. 20 die Numerierung je um 1 verschoben ist. Schleiermacher hat die Notate Nr. 21.24-26.85-90.92-94.97-99.101f. 105.109-112.131,f. 147. 151.153f. 158.175f. 181.195f jeweils schräg gestrichen, außerdem die Notate Nr. 75-79. 208-213 durch lange Striche am Rand gekennzeichnet, in Nr. 81 einzelne Sätze gestrichen. Das fünfte Gedanken-Heft enthält eine große Zahl von Vorüberlegungen zu Schleiermachers Druckschriften der Stolper Zeit. Seine „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (Berlin 1803) bereitete er mit den NotatenNr. 21.23-26.35.56.68. 70.82-92.94-102.104f.107.112.115.121 f. 132.136-138.142.144f. 149f. 152-155.159-161.175.183f.l91.195f.203205 vor. Seine kirchenpolitische Schrift „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat" (Berlin 1804) konzipierte er in den Notaten Nr. 50.133 f . 151.182.185-190.193. Die Umarbeitung und Fortsetzung seines Dialogs „ Über das Anständige" erwog Schleiermacher in den Notaten Nr. 43-45 und 47. Zu anderen Dialogen, von denen er allerdings keinen ausarbeitete, notierte er sich Vorüberlegungen in Nr. 46.48f.57. 65.140f.l48.150.155fl59.165 und 169. Im fünften Gedanken-Heft haben auch verschiedene Rezensionsvorhaben ihren Niederschlag gefunden. Realisiert wurden die Rezension von Engels „Herr Lorenz Stark"383, die Schleiermacher in Notat Nr. 54 entwarf, 383
Vgl. unten
451-465.
Historische Einführung
XCV
die Rezension von Asts „De Piatonis Phaedro"iS4, die er in Notat Nr. 81 vorbereitete, und die Rezension von Schellings „ Vorlesungen über die Methode des academischen Studium"385, die er in Nr. 208-213 im Blick hatte. Über das Stadium von Vorarbeiten kam Schleiermacher bei anderen Rezensionsplänen nicht hinaus. Seine Beschäftigung mit Adelungs „Ueber den Deutschen Styl" dokumentieren die Notate Nr. 5. 8-15. 28-32. 36-38. Meiners „Allgemeine kritische Geschichte der ältern und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft" ist der Gegenstand der Notate Nr. 70. 84. 88. 91. In den No taten Nr. 75. 77-79 untersuchte er vergleichend Tellers „Die Zeichen der Zeit">Sb und Wedekes „Briefe über die Abhandlung ... "387. Beide Schriften werden im Anhang abgedruckt, weil der Schleiermachersche Text mit seinen Kurzexzerpten und Gliederungsnotizen ohne sie unverständlich bleiben muß. Insbesondere nimmt Schleiermacher noch einen sorgfältigen Vergleich zwischen der Zeitschriftenfassung der Tellerschen Abhandlung388 und ihrer Monographiefassung „Die Zeichen der Zeit" (Jena 1799) vor, um die Zusätze der letzteren in seiner Rezension zu berücksichtigen. Diese Zusätze lassen sich durch den Abdruck im Anhang präzise eingrenzen. Durch die Kombination von Sachapparat (Seitenangaben der Zeitschriftenfassung) und Anhang läßt sich der Tellersche Aufsatztext rekonstruieren, auf den sich Wedeke allein bezieht. So werden auch Wedekes Verweise nachvollziehbar. Für die Datierung gibt es einige wichtige Anhaltspunkte. Die Literaturbezüge (Nr. 5-7. 19f) und die Erwägungen zu literarischen Unternehmungen (Nr. 16. 22) verweisen den Anfang des fünften Gedanken-Hefts in den Herbst 1800, so daß diese Jahreszahl zur einzigen, leider unvollständigen Datumsangabe in Notat Nr. 16 hinzugefügt werden kann. Durch biographische und literarische Erörterungen lassen sich weitere Datierungshinweise gewinnen. Nr. 54 dürfte im Spätsommer 1801, Nr. 69 im Januar 1802, Nr. 135 im August 1802, Nr. 156 im Herbst 1802 geschrieben sein. Das Ende des Manuskripts fällt wegen der Vorarbeiten zur Schelling-Rezension (Nr. 208-213) und der anderen Literaturbezüge ins Jahr 1803, vermutlich ins Sommerhalbjahr,389 Das fünfte Gedanken-Heft wurde bisher nur auszugsweise publiziert. Unter der Bezeichnung „Drittes Tagebuch" veröffentlichte Wilhelm Dilthey 1870 in dem selbständig paginierten Anhang „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers"zu seinem Buch „Leben Schleiermachers" 163 der 581 386 388
389
38S Vgl. unten 469-481 Vgl. KGA 1/4 387 Vgl. unten 485-515 Vgl. unten 516-579 Teller: Unmaaßgebliche und wohlgemeinte Erinnerungen den jungem Herren Predigern, und die überhaupt ins 19. Jahrhundert hinein das christliche Lehramt verwalten werden, gewidmet und durch die Zeichen der Zeit veranlaßt, in: Neues Magazin für Prediger 8 (Jena/Leipzig 1799), S. 1-28 Vgl. Briefe 1,369; Briefe an A. W. Schlegel 771 f sowie Reimers Brief vom 4. Juni 1803 an Schleiermacher (SN 358/1, Bl. 16)
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Einleitung
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insgesamt 217 Notate.™ In Anlehnung an Dilthey, aber in erneutem Rückgang auf das Manuskript druckte Kurt Nowak 1984 neben anderen Stücken in seinem Schleiermacher-Sammelband „Bruchstücke der unendlichen Menschheit" auch eine kleinere Auswahl von 102 Notaten erneut ab?91 Eine Edition der im fünften Gedanken-Heft enthaltenen Gedichte zusammen mit den anderen poetischen Versuchen Schleiermachers besorgte 1986 Hermann Patsch in seiner Monographie „Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche".392
14. Zum
Piaton
Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „Zum Piaton" (NachlaßNr. 184 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) beinhaltet auf insgesamt 14 Blättern 127 nicht numerierte Notate zu seinem Unternehmen, Piatons Werke ins Deutsche zu übersetzen. Es wird hier erstmals veröffentlicht. Bl.lv und 10-14 sind unbeschrieben. Die erste Lage (Bl. 1-6) umfaßt drei ineinandergelegte Doppelblätter graugetönten Papiers, wobei jede Seite 20,9 cm hoch und 17,1cm breit ist. Die zweite Lage (Bl. 7-14) aus vier ineinandergelegten Doppelblättern bräunlichen Papiers hat eine Seitengröße von 21,8 cm Höhe und 17,5 cm Breite. Die oberen Blattkanten sind jeweils glatt geschnitten, während die rechte und die untere Kante gezahnt sind. Das nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepiatinte beschrieben, und zwar auf Bl. 2 ohne Rand. Bl. 3-6 weisen einen durch Knicken entstandenen Außenrand von ca. 5,5 cm Breite, Bl. 7-9 einen von ca. 6,3 cm Breite auf. Etliche Randbemerkungen hat Schleiermacher mit derselben Tinte nachgetragen. Die Blattzählung wurde von fremder Hand mit Bleistift vorgenommen. Auf der Titelseite finden sich neben der Überschrift „Zum Piaton" mehrere Rechenübungen und Schreibübungen (z.B. „Stettin") von Schleiermachers Hand. Auf Bl. 9r ist das untere Drittel unbeschrieben. Nach Art seiner Gedanken-Hefte hat Schleiermacher seine Notate zumeist durch lange, selten durch kurze Striche voneinander abgeteilt. Das Manuskript ist in weiten Partien nur schwer oder kaum lesbar. Das Schriftbild erlaubt oft keine hinreichende Bestimmung der Lesung. Eindeutige Klärung konnte in diesen Fällen nur durch den Rückgang auf Schleiermachers Vorlagen gewonnen werden. Schon F. Schlegel klagte sehr über die Lesbarkeit der Schleiermacherschen Piaton-Manuskripte und mahnte am 26. Oktober 1801 entschieden deren Besserung an: „Schreibst Du die Einleitung etwa ab, so thu Dir Gewalt an und schreibe besser. Es ist 3.0 3.1 3.2
Vgl. Denkmale 123-145 Vgl. Bruchstücke 101-127 Vgl. Patsch: Alle Menschen sind Künstler
185-187.190-192.
196
Historische Einführung
XCVII
kaum möglich Deine Hand zu dechiffriren. Das magst Du denn auch bei den Druckfehlern in Anschlag bringen. Doch soll dies nur polemisch gelten für die Zukunft, damit Du wahrlich und im Ernst etwas besser schreibst. "39J Im vorliegenden Manuskript tat sich Schleiermacher offensichtlich keine Gewalt an. Der Titel „Zum Piaton" meint Schleiermachers Ubersetzungsprojekt. Das Manuskript enthält vorbereitende Überlegungen in sachlicher wie in konzeptioneller Hinsicht. Im Durchgang durch die Platonischen Werke sammelte, sichtete und bewertete Schleiermacher markante Stellen zur Echtheitsfrage, zur relativen Chronologie, zur ideellen Entwicklung, zu biographischen und historischen Verknüpfungen. Außerdem trug er Belegstellen antiker Autoren zu deren Aufnahme und Weitergabe Piatons zusammen und kommentierte wichtige Thesen der zeitgenössischen Erforschung Piatons. Schließlich schrieb er sich Gedanken sowohl für seine Einleitungen zu den einzelnen Platonischen Schriften als auch zur Gesamteinleitung auf. Das Manuskript hat den formalen und inhaltlichen Charakter eines Gedanken-Heftes für den Gesamtkomplex der Platonischen Schriften. Deshalb wird es hier in der I. Abteilung veröffentlicht. Uber die Entstehung dieses Manuskripts gibt es keine direkten Nachrichten, keine Zeugnisse, die als Belege für die Abfassung unmittelbar herangezogen werden könnten. In keinem der vielen Briefe zum Piaton- Unternehmen wird dieses Manuskript erwähnt. Sehr wohl aber lassen sich durch die Korrelation der mannigfaltigen Zeugnisse über das Schleiermachersche Piaton-Unternehmen mit einzelnen Stellen des vorliegenden Manuskripts Anhaltspunkte für dessen Einordnung in den allgemeinen Arbeitsprozeß gewinnen.*94 Das undatierte Manuskript enthält nur wenige Hinweise auf die absolute Chronologie. Notat Nr. 33 fuhrt zwei Literaturtitel an und zwar so, daß Schleiermacher sich hier Hinweise für seine künftige Lektüre festhält. Er hat die beiden Werke noch nicht gelesen, vermutlich noch nicht einmal in Händen gehabt, sondern gesprächsweise oder in Anzeigen Hinweise darauf bekommen. Da Wolfs Schrift im Februar 1802 erschien™, dürfte dieses Notat wenig später verfaßt worden sein. Notat Nr. 40 zieht die neue Platon-Ausgabe von Heindorf heran, deren erster Band 1802 erschienen ist. Notat Nr. 56 setzt sich mit einer Briefäußerung F.Schlegels vom 20.April 1802396 auseinander. Danach kann der Großteil des Manuskripts nicht vor 1802 entstanden sein. 393 394
395
396
Briefe 3,294 Leider sind viele Briefe Schleiermachers an F. Schlegel verloren gegangen, so daß der sehr intensive Briefwechsel für größere Zeitabschnitte nur durch die Schlegelschen Briefe dokumentiert ist, und seihst das teilweise lückenhaft. Vgl. Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena/Leipzig 1802, Nr. 30, Sp. 236f Vgl. Briefe 3,317
XCVIII
Einleitung
des
Bandherausgebers
Der Niederschriftsbeginn läßt sich ziemlich genau ermitteln. Friedrich Schlegel und Schleiermacher faßten vermutlich bereits während der Zeit ihrer Berliner Wohngemeinschaft (21. Dezember 1797 bis Ende August 1799) den Plan, gemeinsam Piaton zu übersetzen,397 Als F. Schlegel im Zuge seiner Bemühungen um den zweiten Band seines Romans „Lucinde" eifrige Platonlektüre in Jena betrieb™, trug ihm der Verleger Karl Friedrich Ernst Frommann in den ersten Wochen des Jahres 1800 eine Piaton-Übersetzung zu günstigen Bedingungen an399. Am 10. März 1800 meldete F. Schlegel den Abschluß eines Verlagsvertrages über zwei Bände an Schleiermacher und verband mit dieser Meldung gleich eine Projektskizze.40° Die räumliche Entfernung zwischen Jena und Berlin wirkte sich allerdings auf das Unternehmen hemmend bzw. schädlich aus. Sie behinderte den schnellen Austausch von Vermutungen, Vorschlägen, Anregungen, Ubereinkünften, sie beförderte Mißverständnisse und Eigenmächtigkeiten. Da beide diesen Mangel spürten, begleitete der gegenseitige Wunsch, Schleiermacher möge nach Jena oder F. Schlegel nach Berlin kommen, das Ubersetzungsunternehmen.*01 Das erste Wiedertreffen verzögerte sich bis Dezember 1801. Die regelmäßige Korrespondenz402 war kein zureichender Ersatz. Da F. Schlegel allein der Vertragspartner von Frommann war, kam es schon am Anfang, als noch kein Federstrich für die Übersetzung getan war und auch keinerlei Vorarbeiten vorlagen, zu einer ernsthaften Auseinandersetzung zwischen den beiden Übersetzern. Obwohl die Übersetzung als Gemeinschaftsunternehmen verabredet war und auch so durchgeführt wurde, wobei Schleiermacher die überwiegende Arbeitsbelastung immer stärker zuwuchs403, setzte F. Schlegel auf Wunsch Frommanns404 die öffentliche Ankündigung der Piaton-Übersetzung nur im eigenen Namen und ohne Rücksprache mit Schleiermacher auf. Schleiermachers Änderungswünsche kamen zu spät.*05 Am 29.März 1800 erschien F. Schlegels Ankündigung im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung" Nr. 43 auf den Spalten 349f: „Ich habe mich entschlossen, eine genaue und vollständige Übersetzung der sämtlichen Werke des Plato herauszugeben, von welcher der erste Band zur Oster-Messe 1801 im Verlage des Hn. Frommann erscheinen wird. Warum ich es überhaupt und besonders jetzt, nach der Erfindung und Aufstellung der Wissenschaftslehre, für nützlich ja für nothwendig halte, das Studium dieses großen Autors, mit welchem das der Philosophie 5.7 5.8 m 400 401 402 403 404 405
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Briefe Briefe Briefe Briefe Briefe Briefe Briefe Briefe Briefe
3, Π 7 3,152 3,152.f. 155 3,157 3, 200-202. 229f.236. 247f.255. 273. 275. 289. 293f. 296 3,200.275 3,193. 261. 263. 293.309.319 3,294 3,161.163 f
Historische
Einführung
XCIX
am schicklichsten angefangen und am würdigsten beschlossen wird, allgemeiner zu verbreiten, werde ich in einer besondern Abhandlung, welche das ganze Werk eröffnen soll, zu entwickeln suchen. Daß es auf dem Puncte der Ausbildung, welchem die deutsche Sprache sich jetzt zu nähern anfängt, möglich sey, diese schwere Aufgabe der Übersetzungskunst aufzulösen, wird am besten durch die That selbst gezeigt werden. Ich darf also nichts mehr sagen, als daß ich durch die Erklärung des Gedankenganges und Zusammenhanges nicht nur den Foderungen des Philologen und den Erwartungen des Philosophen Genüge zu leisten hoffe, sondern auch durch begleitende Anmerkungen für das Bedürfniß der Layen sorgen werde. [...] Jena, d. 21.März 1800. Friedrich Schlegel." Schleiermacher und F.Schlegel brachten zweifellos genügend Begeisterung für ihr Unternehmen mit.iab Die vielfache Arbeitsbelastung der beiden Übersetzer und ihr völlig verschiedener Arbeitsstil trugen aber die Keime der Verzögerung bzw. des Mißlingens gleich in das Unternehmen hinein.*07 Die zu bewältigende Aufgabe war gewaltig: Es mußte nämlich nicht nur der jeweils maßgebende Einzeltext im Original ermittelt werden, d. h. es mußten nicht nur umfangreiche philologische Detailstudien durchgeführt werden, um den griechischen Text festzustellen, der dann angemessen übersetzt werden sollte, sondern es mußte auch das Ganze des Platonischen Werks aufgehellt, d. h. die Frage der Echtheit und genetischen Anordnung der tradierten Materialien überzeugend beantwortet werden. Beide Aufgaben wurden ineinander verwoben von den Übersetzern in Angriff genommen: die philologisch-hermeneutische Detailarbeit der Einzelübersetzung sowie die kritische Sichtung und Konstruktion des Ganzen. Diese umfang406
407
Am 22.April 1800 schrieb Schleiermacher an seinen Jugendfreund Karl Gustav von Brinckmann: „Noch Eins. Ich fordere Deinen Glückwunsch und Deinen Segen zu einem großen Werk, zu welchem ich mich mit Fr. Schlegel verbunden habe. Es ist die bereits angekündigte Uebersezung des Plato. In der Ankündigung bin ich nicht genannt, und darum soll auch mein Antheil daran bis zur wirklichen Erscheinung ein Geheimniß bleiben. Es begeistert mich; denn ich bin von Verehrung des Plato, seit ich ihn kenne, unaussprechlich tief durchdrungen, - aber ich habe auch eine heilige Scheu davor, und furchte fast über die Grenze meiner Kräfte hinausgegangen zu sein. Der Himmel möge uns helfen." (Briefe 4,65) Entsprechend der Bedeutung Piatons forderte Schleiermacher auch von der Übersetzung höchste Qualität. Den enormen Arbeitsanspruch an sich selbst bekräftigte er noch einmal gegenüber Brinckmann am 9. Juni 1800: „Was für Studien werde ich noch machen müssen, um Schlegels würdiger Genösse im Uebersezen des Plato zu sein! Wärst Du doch hier, wie treulich würde ich mich Deiner Kritik bedienen! So begeistert ich von dem ganzen Unternehmen bin, so viel heilige Ehrfurcht habe ich auch, und nie würde ich es mir verzeihen, wenn ich hier etwas Mittelmäßiges machte. Es giebt gar keinen Schriftsteller, der so auf mich gewirkt, und mich in das Allerheiligste nicht nur der Philosophie, sondern des Menschen überhaupt so eingeweiht hätte, als dieser göttliche Mann, und dafür möchte ich ihm gern einen recht würdigen Dank bringen." (Briefe 4,71) Zumindest auf Seiten Schleiermachers war die Begeisterung mit dem Bewußtsein der immensen Schwierigkeiten verbunden (vgl. Briefe 3,195). Vgl. Briefe 3,161. 208. 230.
233.310
c
Einleitung
des
Bandherausgebers
reiche und schwierige Aufgabenstellung war nicht, wie angekündigt, in Jahresfrist zu schaffen. Der Sommer 1800 verstrich mit Unterhandlungen zwischen den Übersetzern über das Vorgehen und die Arbeitsverteilung.4tJ8 Da F. Schlegel der federführende Ubersetzer war, drang Schleiermacher in ihn, die kritische Übersicht über das Ganze zu liefern, bevor mit der konkreten Übersetzungsarbeit begonnen werden könne.409 Diese kritische Studie F. Schlegels mit seinen Hypothesen zur Echtheit und Anordnung der Platonischen Werke ließ lange auf sich warten.*10 Nachdem Schleiermacher sie am Jahresende 1800 in Händen hatte411, begann dieser seinerseits mit ausgedehnter Lektüre in und zu Piaton412 sowie zugleich mit der Übersetzung des „Phaedrus"41i, zu der ihn F. Schlegel schon gemahnt hatte*14. Am 10. Januar 1801 berichtete Schleiermacher nach Jena: „Ich überseze am Phaedrus, und lese auch wacker darauf zu. Von dem ersten hoffe ich Dir noch diesen Monat die erste Ausgabe schicken zu können; von den Früchten des andern läßt sich so aus der Mitte heraus wenig sagen. "41S Schleiermacher schloß in diesem Brief Überlegungen zu einigen Platonischen Schriften an. Dabei deckt sich sein Hinweis auf Diogenes Laertius mit Notat Nr. 3.41i Die Notate Nr. 5 f . 9f gehen jeweils auf „Phaedrus" und stehen wohl in Beziehung zu seinem damaligen Übersetzungsdurchgang. Diese Indizien deuten auf den Jahresanfang 1801 als Beginn der Niederschrift des Manuskripts „Zum Piaton". Das Niederschriftsende läßt sich nur sehr grob ermitteln. Der terminus ante quem ist Mai 1804, als der erste Band von Schleiermachers Übersetzung „Piatons Werke" zur Ostermesse erschien417 Die Notate Nr. 98. 100. 115 und 117 formulierten nämlich Überarbeitungsaufträge für die schon im Frühjahr 1802 fertiggestellten Einleitungen und Übersetzungen von „Phaedrus" und „Protagoras"418, die Schleiermacher in diesem ersten Band publizierte. Genauer wird man sagen können, daß der terminus ad quem der Druckbeginn für diese Dialoge ist, d.h. das Jahresende 1803. 408 4
°'
410 411 412 413
414 4,5 416 417 4,8
Vgl. Briefe 3,174f. 193. 204. 206. 226f Vgl. Briefe 3, 210f. 212,f Vgl. Briefe 3,233.245f sowie Briefe an A. W. Schlegel 761 Vgl. Briefe 3,247 Vgl. Briefe 3,261 In Angleichung an die Praxis im Sachapparat (vgl. unten CXXV) werden im folgenden die Platonischen Schriften in ihrer lateinischen Titelfassung angeführt. Vgl. Briefe 3,210.229f Briefe 3,251 Vgl. Briefe 3, 252 Vgl. Briefe 3,399 und unten CVI In seinem bisher nur teilweise veröffentlichten Brief vom 23. Juni 1803 an Reimer (vgl. Briefe 3,350-352) kündigte Schleiermacher für diese beiden fertigen Dialoge nur noch geringfügige Korrekturen an (vgl. Universitätsbibliothek Amsterdam, Signatur Do/238, Bl. 1 v-2 r).
Historische
Einführung
CI
Die Notate sind nicht das Ergebnis kontinuierlicher Lektüre, sondern sie sind wohl zum Teil blockweise mit größeren Zeitabständen entstanden. Schleiermacher wußte bei Nr. 68 nicht mehr, daß er dieselbe Textstelle schon in Nr. 3 notiert hatte. Die Notate sind nicht die Früchte der Erstlektüre, sondern oft der Wiederholungslektüre.419 Einige Notate enthalten Fingerzeige zur Datierung. Notat Nr. 35 spricht von der Einleitung zum „Phaedrus" als schon fertig, aber noch ergänzungsbedürftig. Schleiermacher hatte sie wohl in überarbeiteter Fassung im Februar 1802 abgeschlossen. Da Notat Nr. 33 vermutlich im Februar 1802 geschrieben wurde, dürfte Notat Nr. 35 in die letzte Phase der Ausarbeitung im Frühjahr 1802 gehören. Die Notate 49 und 63 könnten im Zusammenhang mit dem Wunsch F. Schlegels stehen, Schleiermacher möge ihn bei der Gesamteinleitung unterstützen*10, und gehören vermutlich in den Frühling 1802. In Notat Nr. 46 findet sich eine Einteilung der beiden Bände, die die „elementarische"421 Periode der Platonischen Schriften umfassen. Diese Einteilung weicht markant von der 1804 gewählten Anordnung ab, sie unterscheidet sich bei mancher Ähnlichkeit aber auch von der Schlegelschen Anordnung*22. Die Vermutung liegt nahe, daß Notat Nr. 46 der kontroversen Diskussion um die Anordnung der ersten Bände im März/April 1802423 zugehört. Durch die Verwicklungen im Übersetzungs- und Publikationsprozeß sind Ungenauigkeiten in der Datierung nicht auszuräumen. Das Ubersetzungsverfahren war auf echte Zusammenarbeit angelegt. Jeder der beiden Übersetzer war zwar fur bestimmte Platonische Schriften hauptverantwortlich, d.h. er verfaßte Übersetzung, Anmerkungen und Einleitung. Doch diese Erstfassung wurde dem Mitübersetzer zur kritischen und rücksichtslosen Begutachtung und Ergänzung überantwortet.424 Das Ergebnis dieser kritischen Prüfung wanderte zurück an den Erstübersetzer und wurde seinerseits einer strengen Prüfung unterworfen. Die neue Fassung ging dann abermals an den Mitübersetzer und wurde so gemeinsam als druckfertig autorisiert. Dieses Arbeitsverfahren wurde allerdings nur bei den von Schleiermacher übersetzten Dialogen „Phaedrus" und „Protagoras" praktiziert, während sich F. Schlegel zunächst um die Gesamtkritik mühte und mit seinen Übersetzungen scheiterte. Der erste (öffentlich angekündigte) Erscheinungstermin im Frühling 1801 verstrich fruchtlos, obwohl Schleiermachers Übersetzung des „Phaedrus" im April 1801 in Druck gegangen war.425 Schleiermacher sprach seine 419 420 421 422 421 424 425
Vgl. z.B. unten 353, l l f Vgl. Briefe 3,296.312 Unten 357,16f Vgl. Briefe 3,210. 256. 295.307.343 Vgl. Briefe 3,307.312-314 Vgl. Briefe 3,157 Vgl. Briefe 3, 264. 267. 288; 1, 266
CH
Einleitung des Bandherausgebers
Verärgerung darüber offen aus.426 Sein konzentrierter Arbeitseinsatz für Piaton war in der ersten Jahreshälfte 1801 gewaltig.*17 Er hatte noch die Ubersetzung des „Protagoras" übernommen428 und im Juni 1801 an F. Schlegel geliefert429; dennoch erschien der erste Band auch zur Herbstmesse nicht. Schleiermacher war mit F. Schlegel unzufrieden.430 Alle Anstrengun426
427
Vgl. Schleiermachers Brief vom 27. April 1801 an F. Schlegel: „Ja wenn ich aufrichtig sein soll muß ich Dir gestehen, daß Du durch die Art wie Du den Piaton und meinen Antheil daran behandelst, das Mögliche thust, um mir die Lust zur ganzen Sache zu verleiden. Ich bot diesem Werke so gem die Hand, nicht weil ich glaubte daß es durch meinen Beitritt besser werden würde, sondern weil ich mich innerlich freute etwas gemeinschaftliches mit Dir zu vollbringen, und nebenbei weil ich hoffte die Rücksicht auf diese Gemeinschaft würde Dich zu etwas mehr Ordnung und Stätigkeit in der Sache bewegen. Beides ist wie ich sehe gar nicht der Fall; Du treibst den gewohnten Wechsel zwischen eilfertigen Anstalten und langen Zögerungen, zuversichtlichen Verheißungen an den Verleger und leeren Vertröstungen eben so ungestört als ob Du allein interessirt wärest. Und mit der Gemeinschaft will es auch nicht viel sagen. Auf meine Thätigkeit nimmst Du keine Rücksicht: keine Zeile Erwiederung auf alles was ich schon gegen Dich geäußert habe, kein Schatten eines Urtheils über alles was Du nun schon seit länger als einem Monat von mir in Händen hast so daß ich nicht einmal weiß ob Du es schon gelesen hast oder nicht. Dies liegt über alle Entschuldigung hinaus; denn wie kann ich weiter arbeiten ehe ich nicht weiß ob ich nicht vielleicht Deiner Meinung nach auf einem ganz falschen Wege bin? [...] Du wirst begreifen, daß wenn ich mir dieses so vier oder fünf Jahre hindurch immer fortgehend denke, mir, wie Du meine Natur kennst, die Haare dabei zu Berge stehen müßen. Hierzu kommt noch daß ich bis diesen Augenblick nicht weiß, wie Du in Hinsicht auf die literarische Welt meinen Antheil betrachten und kundgeben willst. Du siehst leicht, daß wenn ich von Deiner Arbeit gar keine Kenntniß habe (und ich sehe nicht ein, wie Du es bei diesen Zögerungen möglich machen willst mir irgend etwas vorher zu schicken), auch von den Veränderungen die Du in meiner Arbeit vornimmst nichts erfahre, ich eigentlich gar keine öffentliche Verantwortlichkeit übernehmen kann, und es also ganz unnüz wäre meinen Namen zu nennen." (Briefe 3,271f) Ab Herbst 1801 wollte Schleiermacher nicht mehr Mitherausgeber der Platon-Übersetzung sein (vgl. Briefe 3,294. 297).
Vgl. Briefe 1,267. 279. 282 Vgl. Briefe 3,260f. 263 4 " Vgl. Briefe 3,287 430 Vgl. Schleiermachers Brief vom 17. September 1801 an A. W. Schlegel: „ Wie können Sie nur in Hinsicht auf diesen [sc. Piaton] den Friedrich vertheidigen wollen. Ich glaube daß ich eben so viel allgemeine Studien aufzuweisen habe als er deren Resultate uns für die ganze Arbeit zu Nuze kommen werden, und gegen die am Ende weniger einzuwenden sein möchte als gegen sein aufgestelltes System. Noch dazu ist das was er mir davon mitgetheilt hat so obenhin und ohne Detail daß sich nicht einmal etwas gründliches darüber sagen läßt. Lassen Sie Sich einmal den Bogen den er mir geschickt hat zeigen und urtheilen Sie dann selbst, und besehen Sie Sich hemach wenn Sie herkommen meine Studien dagegen. Dem sei aber wie ihm wolle; wenn er sich mit diesen allgemeinen Studien ein ganzes Jahr lang und drüber begnügen wollte, so hätte er nicht zwei Messen fälschlicherweise einen Band versprechen und mich nicht unnötigerweise treiben müssen. Mit dem Phädrus ist er sehr schlecht umgegangen und ich kann ihm schon aus den 2 Bogen die ich gelesen habe die unverantwortlichste Nachlässigkeit nachweisen, nicht nur Druckfehler und handgreifliche Schreibfehler sondern mehrere Stellen wo er mich offenbar hätte verbessern und andere wo er wenigstens große Bedenklichkeiten erst hätte äußern sollen. Die große Genauigkeit mit der er ihn gelesen haben will, wird nur darin bestehn, daß er keinen Griechen hat stehn las428
Historische
Einführung
CIII
gen beider Übersetzer waren darauf gerichtet, zur Jubilatemesse 1802 den ersten Band zu publizieren.*11 Schleiermacher verlangte im Herbst 1801 den Umdruck seiner„Phaedrus"-Übersetzung. Deren korrigierte Fassung lieferte er vollendet im März 1802 an F. Schlegel*11, ebenso seine „Protagoras"-Ubersetzung und -Einleitung*11. Doch wieder scheiterte das Vorhaben an F. Schlegel, der seine Ubersetzung von „Parmenides" und „Phaedo" nicht fertigstellte."* Frommann räumte, verbunden mit der Drohung der Vertragskündigung, eine letzte Verlängerung bis zur Michaelismesse 1802 ein. 435 Als auch dieser Termin ergebnislos verstrich, aber F. Schlegel im Frühherbst 1802 die Einleitungen zu seinen beiden Dialogen*lb und die Gesamteinleitung437 fertiggestellt hatte, gewährte Frommann eine allerletzte Terminverlängerung auf den Jahresanfang 1803438. Auch dieser Termin wurde von Seiten F. Schlegels nicht eingehalten. Mit dem Mai 1802 hatten sich in den äußeren Verhältnissen der beiden Übersetzer wichtige Veränderungen ergeben: Schleiermacher übernahm die reformierte Hofpredigerstelle in Stolpe (Hinterpommern), und F.Schlegel übersiedelte nach Paris. Im Mai 1803 trat F. Schlegel aus eigenem Entschluß von dem gemeinsamen Übersetzungsunternehmen zurück.439 Nach dessen Ausscheiden gab Frommann am 21. Juli 1803 förmlich das Projekt auf.*40 Schon seit August 1802, als Schleiermacher das Scheitern des gemeinsamen Übersetzungsunternehmens vermutet hatte, war er zur selbständigen
431
432 433 434 435 436 437 438 439
440
sen ohne ihn in einen Hellenen zu verwandeln. Auch habe ich ihm schon erklärt daß ich schlechterdings auf dem Umdruck aller dieser Stellen bestehe. Und nun da er doch nichts daran thut ersuche ich Sie Sich aufs baldigste den Phädros und den Protagoras und die dazu gehörigen Anmerkungen von ihm ausliefern zu lassen und mir zuzuschicken. Ich werde diese beiden Dialoge jezt mit Heindorf lesen und vielleicht noch einige Hülfsmittel in die Hände bekommen die mir bisher gefehlt haben und werde also viel zur Vervollkomnung der Arbeit thun können da sie bei ihm gewiß ganz unnüz liegt. Erweisen Sie mir diese einzige Liebe, ich beschwöre Sie darum" (Briefe an A. W. Schlegel 767j). F. Schlegel schrieb am 4. Februar 1802 an Schleiermacher: „An meinem Fleiß sollst Du Wunder erleben." (Briefe 3,302) Frommann allerdings beklagte am 12. April 1802 gegenüber Schleiermacher eine „entschiedene Arbeitsscheu" F. Schlegels, „die wir uns nicht leugnen können." (Briefe 3,316) Vgl. Briefe 3,305.308.316 Vgl. Briefe 3,312 Vgl. Briefe 3,316 sowie Vermehren: Briefe an Schleiermacher 52 Vgl. Briefe 3,318 Vgl. Briefe 3,321.323f Vgl. Briefe 3,330 Vgl. Briefe 3,324 Vgl. Briefe 3,340-343. F. Schlegel gestand in diesem Brief vom 5. Mai 1803 an Schleiermacher ein: „Das Uebersetzen ist wohl eigentlich nicht sehr meine Stärke. Ich habe keine rechte Neigung dazu; ich sehe dies besonders daraus, daß es vornämlich die Schwierigkeit und auch die Rücksicht auf einen materiellen Sachcommentar ist, was sie bestimmt." (Briefe 3,341) Vgl. Briefe 3,3 56f
CIV
Einleitung
des
Bandherausgebers
und alleinigen Fortführung der Piaton-Übersetzung entschlossen,441 Seit November 1802 wünschte442 und seit April 1803 betrieb443 er wegen der Unzuverlässigkeit F. Schlegels und wegen prinzipieller sachlicher Differenzen das Ende des Gemeinschaftsunternehmens. Seine Hochschätzung für und seine Verbundenheit mit Piaton war ungeschwächt.444 Der Verleger Georg Andreas Reimer, mit dem Schleiermacher seit dem 26. Mai 1802 befreundet war44i, schlug Schleiermacher im Juni 1803 vor, er solle die Platon-Übersetzungen in seinem Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung publizieren4*''. Schleiermacher akzeptierte am 23. Juni 1803 und skizzierte das Projekt und die finanziellen Erfordernisse 447 Reimer setzte in seinem Antwortbrief vom 6. Juli 1803 die Vertragsbedingungen fest.44S Die Fortführung des Ubersetzungsunternehmens war dadurch gesichert. Schleiermacher rechnete damit, es bestenfalls „in fünf bis sechs Jahren"44'' zu vollenden, und wollte dann sterben4S0. Schleiermacher ging im Herbst 1803 mit frischem Mut erneut an die Arbeit451 Am 12. November 1803 erschien im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung" Nr. 212 auf den Spalten 1732f seine vom Sommer 1803 stammende Erklärung zur Platon-Übersetzung: „Anzeige die Übersetzung des Piaton betreffend. Vor nunmehr drey Jahren verhieß Fr. Schlegel den Freunden der Philosophie eine vollständige und reichlich ausgestattete Übersetzung der Schriften des Piaton. Wiewohl damals nicht öffentlich genannt, und von seiner durch Umstände beschleunigten Ankündigung in der Ferne nicht wissend, sollte dennoch und wollte, einer alten Verabredung gemäß, ich sein Gehülfe seyn an diesem Werke. Welche Ursachen die Erscheinung desselben immer hingehalten, gehört nicht hieher; sondern nur dieses, daß jetzt fast zu gleicher Zeit auf der einen Seite der Verleger, durch immer erneuerte Verzögerung nicht mit Unrecht ermüdet, sich zurückgezogen, auf der andern auch Friedr. Schlegel sich überzeugt hat, er werde in den nächsten Jahren das Geschäft des Übersetzens nicht so eifrig und ausdauernd betreiben können, als dem Fortgange des Unternehmens nothwendig wäre. Solchergestalt von den Verbündeten verlassen, vermag ich dennoch nicht das Werk zu verlassen, sondern finde mich auf alle Weise 441 442 443 444 445 446
447 448 449 450 451
Vgl. Briefe 1,312.329.334 sowie Briefe an Willich 48 Vgl. Briefe 1,345f aber auch D. Schlegel: Briefe an Schleiermacher 122 Vgl. Briefe 1,364f Vgl. Briefe 1,327.336 Vgl. Briefe 1, 298 Die Briefe Reimers an Schleiermacher vom Jahr 1803 sind nicht vollzählig erhalten. mers Angebot kann nur noch aus Schleiermachers Antwort erschlossen werden. Vgl. Briefe 3,350f Vgl. SN 358/1, Bl. 19r-20r Briefe 1,383 Vgl. Briefe 1,386 Vgl. Briefe 3,360; 1,375.381 sowie Briefe an Willich 71. 75
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Historische
Einführung
CV
gedrungen, es auch allein zu wagen. Denn zu lebhaft ist meine Überzeugung, daß gerade jetzt nähere Bekanntschaft mit dem Sinn und Geist jenes großen Weisen zu den ersten Bedürfnissen gehört, und daß, um nicht mehr zu sagen, die Liebhaber wenigstens der Philosophie zum größten Theile nicht ausgerüstet sind, ihn in seiner eigenen Sprache zu vernehmen. Dabey will nicht verlauten, daß von denen, welche in jeder Hinsicht besser versehen waren als ich, einer diesem Geschäfte sich widmen wollte. So daß das Gefühl der Nothwendigkeit es davon trägt über das der Schwierigkeiten in der Sache und der Mängel in dem Unternehmer. Vorzüglich darauf ist der Wunsch gerichtet, die Werke des Piaton mehr als bisher geschehen in ihrem Zusammenhange verständlich zu machen; dann auch die Verbindung möglichst zu erhalten und ins Licht zu setzen zwischen dem Zweck und Geist eines jeden und der Methode der Ausführung. Welche Bemühung von der Art ist, daß, wenn auch manches darin verfehlt seyn sollte, sie doch Jeden, dazu fähigen zu eignen und verbessernden Untersuchungen aufregen muß. Eine allgemeine Einleitung soll vorangehend die Leser mit dem Standpunkt des Ubersetzers und den Grundsätzen seiner Arbeit bekannt machen, und wenn das günstige Geschick Vollendung gewährt, soll das Ganze beschlossen werden durch einige erläuternde Aufsätze über den Charakter des Piaton und der Stelle, welche ihm zukommt unter den Beförderern der Philosophie. Auf gleiche Weise wird jedem Gespräch eine Einleitung vorangehn, und nachfolgende Anmerkungen werden theils die nöthigsten Erläuterungen des Einzelnen enthalten, theils auch für den Sprachkenner die rechtfertigende Anzeige jeder gewagten Änderung. Denn daß dieser der Ubersetzer nicht entrathen kann, wird jeder zugestehen, welcher den Text der Platonischen Werke kennt. Ist meine Befugnis zu diesem Geschäft den mehrsten, welche dessen gute Ausführung wünschen, noch unbewährt, so mögen ihnen die Versicherungen zu einiger Bürgschaft dienen, daß zwey bewährte und mir befreundete Männer, G.L. Spalding und L.F. [korr. aus: B.H.J Heindorf mir Rath und Unterstützung verheißen. Und da auch diejenigen, welche einiges Vertrauen haben könnten zu meinen übrigen Bemühungen, sich ungern von der Hoffnung trennen werden, Fr. Schlegels so eigenthümliches und tiefgreifendes kritisches Talent auf die Werke des Piaton angewendet zu sehen; so wird es diese erfreuen zu erfahren, daß er die Resultate seiner Studien in einer eigenen Kritik des Piaton den Freunden solcher Untersuchungen, und zwar bald, vorzulegen gedenkt. Desto besser wird dann sowohl was uns gemeinschaftlich ist, als worin wir abweichen diejenigen, welchen beides vor Augen liegt, anleiten können, zum richtigen Verständnis und zur Bildung eines eigenen Urtheils. Versprechungen von schnellen Fortschritten würden übler Vorbedeutung seyn; indeß ist Manches schon wirklich ausgeführt, vieles vorgearbeitet, vor allen aber Lust und Liebe zum Werke nicht gering; und so wird, wenn der Anfang einige Ermunterung begünstigt, auch diese dem Fortgange förderlich seyn. Stolpe, den
CVI
Einleitung des Bandherausgebers
29. Julius 1803. F. Schleiermacher. Der erste Band dieser Übersetzung des Piaton erscheint unfehlbar zur Ostermesse 1804 in angemessenem Druck und Format in der Realschul-Buchhandlung in Berlin." Erst im Dezember 1803 erhielt Schleiermacher seine druckfertigen Manuskripte zu „Phaedrus" und „Protagoras" von Frommann zurück und schrieb sie zur Drucklegung nochmals um.4i2 Das Jahresende 1803 ist also der terminus ante quem für das Manuskript „Zum Piaton". Nun könnte die zweite Hälfte der Notate (ab Nr. 56) aber schon im Rahmen des Schlegel-Schleiermacherschen Gemeinschaftsunternehmens im Sommerhalbjahr 1802 entstanden sein. Schleiermacher war ja vom Herbst 1802 bis Sommer 1803 hauptsächlich mit seinen „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" beschäftigt453 und arbeitete erst in der zweiten Jahreshälfte am Piaton. Eine Datierung des Niederschriftsendes ins Jahr 1802 ist also nicht völlig auszuschließen. Doch legt eine Formulierung in Notat Nr. 104 die Datierung ins Jahr 1803 nahe. Hier blickt Schleiermacher nämlich auf eine „ehedem"*5* andere Datierung des „Phaedo" zurück. Er hatte ihn früher in die Megarische Periode gesetzt. Diese Einordnung hat er vermutlich bis etwa Frühjahr 1802 vertreten,455 Die Formulierung „ehedem" spricht für einen größeren zeitlichen Abstand und dürfte das Notat dem Jahr 1803 zuweisen. Schleiermacher hat also sein Manuskript „Zum Piaton" vermutlich in den Jahren 1801-1803 niedergeschrieben.
15. Rezension von Schillers Ubersetzung des Shakespeareschen
„Macbeth"
In der von Gottlieb Ernst August Mehmel herausgegebenen Erlanger „Litteratur-Zeitung" erschien am Donnerstag und Freitag, den 30. und 31. Juli 1801 in den Stücken Nr. 148 und 149 auf den Spalten 1177-1191 anonym Schleiermachers Rezension von Friedrich Schillers Ubersetzung des Shakespeareschen Trauerspiels „Macbeth". Die doppelspaltig bedruckten Seiten haben eine Breite von ca. 20,3 cm und eine Höhe von ca. 24,5 cm. Jede Spalte hat normalerweise 60 Zeilen von 8,3 cm Breite. Zur Schlußspalte 1191 gehört genau die obere Hälfte. In den Rezensionstext eingeschaltete ein- oder mehrzellige Zitate aus dem Shakespeareschen Original und der Schillerschen Übersetzung sind in Petitdruck ohne Anführungszeichen in verkleinertem Satzspiegel eingerückt. Die Rezension, besonders deren Zitatenteil, weist eine Vielzahl von Druckfehlem auf. So mußte besonders bei den englischen Zitaten stärker als sonst textkritisch eingegriffen werden. 452 453 454
Vgl. Briefe 4, 95; 3,373/sowie Briefe an Willich Vgl. Briefe 1,293.328.351.364.370.373,f.379 Unten 370,5
77f 455
Vgl. Briefe
3,272.293.307
Historische Einführung
CVII
Seine „Macbeth"-Übersetzung und Bearbeitung in Versform hatte Schiller in den ersten Monaten des Jahres 1800für das Weimarer Hoftheater angefertigt. Die erste Auffuhrung fand am 14. Mai 1800 statt,456 Im April 1801 publizierte Schiller seine Ubersetzung bei Johann Friedrich Cotta in Tübingen. Da die erste Auflage schnell vergriffen war, erschien noch im September 1801 eine zweite Auflage, die bei geändertem Satzspiegel weniger Seitenumfang hat (126 Seiten statt 161 Seiten). Durch das Entstehungsdatum der Rezension und die Seitenangaben der Zitatnachweise ist zweifelsfrei, daß Schleiermacher nur die erste Auflage benutzt hat. In seiner Rezension zitiert Schleiermacher ausgiebig aus dem englischen Shakespeareschen „Macbeth"-Text oder verweist auf ihn. Verwirrenderweise gibt er dabei in den meisten Fällen die völlig abweichende Schillersche Szenenzählung an. Derselbe Sachverhalt ist bei der Eschenburgschen Übersetzung zu beobachten. Die Frage nach der von Schleiermacher benutzten englischen Ausgabe läßt sich nur mit Wahrscheinlichkeit beantworten, weil er keine Seitenangabe macht. Einmal allerdings weist er auf die „Maloneschen Ausgaben "45/ hin. Er denkt dabei offensichtlich an eine ganze Familie von Ausgaben, die von Edmond Malone in der Nachfolge von George Steevens herausgegeben worden sind. Die Ausgabe „ The plays in ten volumes" (London 1778) freilich, an der Malone erstmals mitgearbeitet hat, bietet nicht die Anweisung „ Without the Castle" (Akt II, 4), um die es Schleiermacher zu tun ist.*5* Diese Anweisung findet sich in Band 4 der von E.Malone herausgegebenen Shakespeareschen Werksammlung „The plays and poems in ten volumes" (London 1790). Da Schleiermacher diese Ausgabe mit hoher Wahrscheinlichkeit benutzt hat, wurde sie den Angaben des Textkritischen Apparats und des Sachapparats zugrunde gelegt. Schleiermacher vergleicht die Schillersche Übersetzung nicht nur mit dem englischen Original, sondern auch mit den „Macbeth"-Übersetzungen Johann Joachim Eschenburgs und Gottfried August Bürgers. Da Schleiermacher sowohl Seitenangaben macht 459 als auch ein inhaltlich markantes Kurzzitat ohne Seitenangabe anführt, läßt sich die von Schleiermacher benutzte Auflage der Eschenburgschen Shakespeare-Übersetzung zweifelsfrei bestimmen. Die genannten Merkmale stimmen mit der Textfassung im Band 5 (Zürich 1776, S. 287-400) der 13bändigen zweiten Auflage der „Schauspiele" (Zürich 1775-1782) überein, während sie von der völlig überarbeiteten Übersetzung in Band 5 (Zürich 1801, S. 349-494) der zwölfbändigen dritten Auflage (Zürich 1798-1806) abweichen. Die von Schleiermacher monierte Übersetzung „innere Welt"460 bezieht sich auf die 4
«
Vgl. Schiller: Werke 13,364 Unten 383, 8 458 Vgl. unten 382,14-383,14 4S ' Vgl. unten 391, 25f 460 Unten 395,24
CVIII
Einleitung
des
Bandherausgebers
Wendung „meine ganze innerliche Welt"461 der 2. Auflage, die Eschenburg in der 3. Auflage zu „meine schwache Menschheit"462 abgeändert hat. Die Bürgersche Übersetzung „Macbeth ein Schauspiel in fünf Aufzügen nach Shakespear. Seinem unvergeßlichen Freunde Johann Erich Biester in Berlin gewidmet von G.A.Bürger" erschien 1783 erstmals (104 Seiten bei 16cm Höhe) und hatte 1784 eine zweite Auflage (136 Seiten bei 11cm Höhe). Die beiden Auflagen unterscheiden sich in der Übersetzung nicht. Welche Auflage Schleiermacher benutzt hat, dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Die Nachweise des Sachapparats gehen auf die 1. Auflage Göttingen 1783. Die Rezension gehört sichtlich in den Kontext von Schleiermachers eigenen poetischen und literaturästhetischen Ambitionen. Über ihre Veranlassung und Entstehung gibt es nur eine briefliche Nachricht. Am 17. Mai 1801 zählte Schleiermacher Henriette Herz u. a. folgende literarische Neuigkeit auf: „Drittens ist Schiller's Macbeth da, von dem Schlegel wunderliche Dinge erzählt, so daß es mich grausam in den Fingern juckt ihn zu recensiren; wer nur Zeit hätte !"ibi Von mündlichen Äußerungen A. W. Schlegels angeregt, dessen seit 1797 im Gang befindliches Übersetzungsunternehmen von Shakespeares Werkenibi Schleiermacher offensichtlich als vorbildlich vor Augen hatte, verfaßte er im Frühsommer 1801 in kurzer Zeit seine Rezension der Schillerschen Macbeth-Übersetzung. Im Juli 1801 schickte Schleiermacher seine Rezension unaufgefordert an die Erlanger „Litteratur-Zeitung". An deren Herausgeber Mehmel, mit dem er im Frühling 1801 eine Reihe anderer Rezensionen vereinbart hatte, schrieb er in seinem Begleitbrief:„Sie werden Sich wundern theuerster Herr Professor vor Allem und ohne Alles worüber wir übereingekommen sind, etwas anderes zu erhalten, was Sie mir gar nicht abgefordert haben. Ich wünsche nur daß Sie nicht in dem Falle sein mögen diese Recension des Macbeth nicht mehr brauchen zu können, weil ich sie in mancher Hinsicht für ein gründliches Stük Arbeit halte, wozu nicht jeder die Geduld haben möchte. Ich darf das wol selbst sagen denn was ich an ihr rühme ist nur der Fleiß. Sollten Sie indeß schon mit einer andern versehen sein, so bitte ich ergebenst, sie mir baldigst zurükzuschiken weil ich keine Abschrift davon habe und sie gern auf diesen Fall anderswo unterbringen möchte. [...] Fürchten Sie nur nicht von allen Recensionen eine solche Länge. Schiller und Macbeth denke ich rechtfertigen so etwas. "465
461 462 463 464
465
Shakespeare/Eschenburg: Schauspiele, 2.Aufl., Bd5,300 Shakespeare/Eschenburg: Schauspiele, 3.Aufl., Bd">, 365 Briefe 1,266 Shakespeare: Dramatische Werke, übersetzt von A. W. Schlegel, 9 Bde, Berlin In dieser Ausgabe ist „Macbeth " nicht enthalten. SN 717, Bl. 4 r
1797-1810.
Historische
CIX
Einführung
Mehmet nahm Schleiermachers „Macbeth "-Rezension sogleich an und drückte in seinem Antwortbrief vom 12. August 1801 seine Bewunderung aus: „Fürchten Sie nicht, theuerster Herr Prediger, daß ich unbestellte Recensionen, wie die Ihrige über Macbeth ist, zurükschikke. Ich habe sie bewundert, auf der Stelle abdrukken lassen und die bestellte abgeschrieben. Ueberraschen Sie mich öfters mit so gründlichen Arbeiten; sie sind wahrer Gewinn fürs Publikum und für den Verfasser. Schreiben Sie es dieser Kritik zu, daß ich schon wieder mit einer Bitte komme; sie betrift den Shakespear von Eschenburg und Schlegel! Zwey Recensionen habe ich schon kassirt, weil es heiliger Entschluß ist, nur ein Meisterstük hierüber abdrukken zu lassen. Sie sind der Mann, von dem ich so etwas erwarten darf. Helfen Sie mir das Geschwäz des Pöbels niederschlagen durch eine Kritik, die den Triumph des Genies, des Scharfsinns der Tiefe und Gerechtigkeit nicht verfehlen kann. "466 Diesem Rezensionswunsch Mehmels, der im selben Brief noch um die Besprechung einer Neuerscheinung der Shakespeare-Sekundärliteratur bat, kam Schleiermacher nicht nach.467 Uber die Aufnahme der „Macbeth"-Rezension im frühromantischen Freundeskreis findet sich nur eine Äußerung August Wilhelm Schlegels vom 7. September 1801: „Die Beurtheilung des Schiller'schen Macbeth hat uns viel Freude gemacht, sie ist wahrlich eine sehr respektable Probe Ihrer Philologie. Ich möchte sagen, um eine starke Sensation zu machen, ist sie zu gründlich und philologisch; allein das haben Sie auch nicht bezweckt, indem Sie grade das Härteste so gesagt, daß es nur Schiller und die Kundigen ganz verstehen können, in welchem Falle der ehrliche Erlanger sich wahrscheinlich nicht befunden hat. Indessen finde ich diese Schonung bey der Strenge sehr angebracht. Ich ließe es mir gern gefallen, meinen Sh. so von Ihnen beurtheilt zu sehen, wenn auch viel Tadel darin vorkommen sollte. "46S In seinem Antwortbrief vom 17. September 1801 ging Schleiermacher, der aus A. W. Schlegels Urteil eine gewisse Reserve heraushörte, ausführlich auf seine „Macbeth"-Rezension ein: „Es ist mir sehr angenehm liebster Freund, daß Ihnen die Kritik des Macbeth einiges Vergnügen gemacht hat, wiewohl es mir vorkommt als hätten Sie auch außerdem daß sie Ihnen zu wenig pikant ausgefallen ist noch etwas gegen sie in Petto, wohinter ich noch nicht recht kommen kann. Ich habe einige gar nicht üble Einfälle über die Hexen und das Morgenlied mit Fleiß abgewiesen, die ich anderswo nicht würde gestrichen haben, allein ich glaube daß man einem solchen Institut wie der Erlanger Zeitung nicht um etwas so unwesentlichen willen unnüze Händel erregen müsse. Was nöthig ist steht doch da, und ich denke wer nicht ganz mit Blindheit geschlagen ist muß es auch finden. Memel hat mir viel Bewunde466 467 468
SN 329, Bl. 3 r Vgl. SN 757, Bl. 3 r-v Briefe 3,290. (Die Datumsangabe
muß von „ 1800" in „1801" korrigiert
werden.)
cx
Einleitung
des
Bandherausgebers
rung bezeigt, ob verstehende oder gewöhnliche weiß ich nicht; das schlimmste ist daß sie in Thätlichkeiten übergegangen ist. Er muthet mir nemlich in seiner Entzückung im Emst zu Ihren und den Eschenb[urg]sehen Shakespeare zu beurtheilen; er habe schon 2 Recensionen cassirt, sei freilich entschlossen nur ein Musterstück hierüber abdrucken zu lassen, und erwarte das von mir. Denken Sie! Nun sehe ich zwar aus Ihrem Briefe daß Sie sich das wollen gefallen lassen; ich möchte Sie aber doch bitten mich dessen zu überheben, welches Sie am besten bewerkstelligen können wenn Sie ihm einen andern vorschlagen. "469 In Schleiermachers „Sämmtliche Werke" wurde die Macbeth-Rezension nicht aufgenommen. Wilhelm Dilthey besorgte 1863 anhangsweise im vierten Band der Briefausgabe „Aus Schleiermacher's Leben " einen Wiederabdrucki470 16. Rezension von August Wilhelm und Friedrich Schlegel: ken und Kritiken
Charakteristi-
In der von Gottlieb Ernst August Mehmel herausgegebenen Erlanger „Litteratur-Zeitung" erschien am Montag, den 28. September 1801 im Stück Nr. 190 auf den Spalten 1513-1520 anonym Schleiermachers Rezension des zweibändigen Sammelwerks „ Charakteristiken und Kritiken ", das die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel im selben Jahr 1801 in Königsberg veröffentlicht hatten. Die doppelspaltig bedruckten Seiten im Quartformat sind ca. 20,3 cm breit und 24,5 cm hoch. Jede Spalte hat normalerweise 60 Zeilen von 8,3 cm Breite. Auf der Schlußspalte 1520 füllt die Rezension nur die oberen 14 Zeilen. Die Zahl der Druckfehler ist gering. Friedrich Schlegel hatte schon während seines Dresden-Aufenthalts im Sommer 1798 beabsichtigt, seine kleinen kritischen Schriften gesammelt zu publizieren.*71 Im November 1798472 sowie nochmals im Februar 1799473 hatte er seinem Bruder August Wilhelm eine gemeinsame Sammlung vorgeschlagen. Nachdem dieser Publikationsplan sich aber wegen der nach Verlegerwechsel dann doch fortgesetzten Arbeiten an der gemeinsamen Zeitschrift „Athenaeum" verzögert hatte, wurde er im Sommer 1800 mit dem Ende dieser Zeitschrift erneut aufgegriffen: die Gebrüder Schlegel, die damals in Jena den Frühromantikerkreis im höchsten Glanz erstrahlen ließen, wurden mit Friedrich Nicolovius in Königsberg handelseinig. In die zweibändige Sammlung, die vermutlich Anfang Mai 1801 erschien 474, wurden nur we469 470 471 472 473 474
Briefe an A. W. Schlegel 767 Vgl. Briefe 4, 540-554 Vgl. Briefe 3,86 Vgl. F.Schlegel: KA 24,198 Vgl. F. Schlegel: KA 24,233 Vgl. K. Schlegel: Caroline. Briefe aus der Frühromantik, edd. G. Waitz/E. Schmidt, 2 Bde, Leipzig 1913-1921; hier Bd 2,112.124
Historische
Einführung
CXI
nige neue, bisher unpublizierte Beiträge au/genommen. Für das Sammelwerk standen die Beiträge des zweiten und dritten „Athenaeum "-Bandes aus verlagsrechtlichen Gründen, die altphilologischen Studien aus konzeptionellen Gründen nicht zur Verfügung; die literaturkritischen Arbeiten wurden mit geringen Überarbeitungen oder Ergänzungen wieder abgedruckt. Zur Entstehungsgeschichte dieser Rezension finden sich nur wenige Hinweise. Schon vor Erscheinen der Schlegelschen Sammlung war Schleiermacher über dieses Publikationsvorhaben unterrichtet. Dorothea Veit gab ihm am 27. Februar 1801 Nachricht über den Stand der Ausarbeitung, hier über F. Schlegels poetischen Abschluß seiner Fortsetzung des Lessing-Aufsatzes im ersten Band. „Ich freue mich ganz unendlich mit dem Herkules Musagetes. Sie wissen, oder wissen Sie nicht, daß diese Elegie den Aufsatz über Lessing in den Charakteristiken und Kritiken beschließen soll? Ich finde diesen Titel sehr wohl ausgedacht, Wilhelm und Friedrich haben sich darin charakterisirt und alles Uebrige kritisirt. Aber die Elegie! Sagen Sie mir nur, daß sie Ihnen eben so gefällt, Sie eben so rührt als mich, sonst ärgere ich mich. "47S Bereits in der ersten Märzhälfte erhielt Schleiermacher eine Abschrift oder einen Fahnenabzug des „Herkules" zugeschickt, denn er kündigte am 14. März 1801 F. Schlegel an: „ Ueber alles andre schreibe ich Dir nächstens einmal ausführlich besonders auch über den Herkules den ich noch recht studiren will."476 In einem verlorengegangenen Brief muß sich Schleiermacher kritisch über diese Fortsetzung des Lessing-Aufsatzes geäußert und den Vorwurf der Formlosigkeit erhoben haben. F. Schlegel reagierte darauf im April polemisch: „ Worüber ich Dir noch Lust hätte ganz heftig den Krieg zu machen, ist daß Du meinen Lessing für formlos hältst. Da mußt Du paradoxe Ansichten von Form haben. Du scheinst das für Nothbehelf zu halten, was ich für den Triumph der Beredsamkeit, wie ich sie in solcher Sphäre geben kann, ansehe. Wenn der Lessing formlos ist, dann ist es die Elegie gewiß auch. Die Form des Ganzen ist ganz wie die des alten Bruchstücks, nur in größerem Maaßstabe und, alles Individuelle bei Seite gesetzt, dieselbe wie die Grundlinien von Lessing's Form. "477 Doch konnte diese polemisch-rigide Verteidigung Schleiermacher offensichtlich nicht überzeugen. Im selben Brief meldete F. Schlegel zum zweiten Band: „Noch ist der Boccaccio nicht ganz fertig"*7*. Am 17.Mai 1801 berichtete Schleiermacher Henriette Herz, daß „auch der zweite Theil der Charakteristiken und Kritiken da" sei, „der wirklich mit einer Notiz von Friedrich über den Boccaccio schließt, welcher viel Studium voraussetzt. "479 475 476 477 478 479
Briefe 3,264 Briefe 3,266 Briefe 3,269f Briefe 3,268; vgl. auch Briefe 1,266
3,269
CXII
Einleitung des Bandherausgebers
Bereits vor Erscheinen der Schlegelschen „Charakteristiken" beabsichtigte Schleiermacher, dieselben zu rezensieren.**0 Er schlug deren Besprechung am 21. April 1801 dem Herausgeber der Erlanger „Litteratur-Zeitung" vor.**1 Mehmel willigte in seinem Antwortbrief vom I.Mai 1801 in dieses Vorhaben ein.**1 Im Juli 1801 kündigte ihm Schleiermacher an, die Ubersendung der Beurteilung, „an deren Verzögerung Schlegels selbst Schuld sind", werde „recht bald"m erfolgen. Die Anzeige lieferte Schleiermacher im September 1801 und bemerkte in seinem Begleitbrief an Mehmel dazu nur knapp: „Aus der Anzeige der Charakteristiken werden Sie wenigstens sehen daß ich auch bei den Arbeiten meiner Freunde den Tadel der mir gegründet scheint nicht verschweige. Ich habe diese nicht länger verzögern wollen, darum ist die Sendung nicht größer. "484 Schleiermacher wollte mit seiner Rezension zum einen die im Frühromantikerkreis verbreitete gegenseitige publizistische Unterstützung leisten und zum andern die eigene literaturästhetische Stellung präzisieren, indem er die Schlegelschen kritischen Studien nicht als normale Rezensionen, sondern als Artikulationen des romantischen Literaturkonzepts würdigte und an diesem Anspruch maß. Schleiermachers Rezensionsvorhaben wurde sowohl von Friedrich Schlegel als auch von dessen Bruder August Wilhelm ausdrücklich begrüßt und unterstützt; letzterer schrieb ihm am 7. September 1801: „Auf die Beurtheilung unsrer Charakteristiken, dieses seltene und wunderbare Ereigniß, etwas gescheidtes über unsre Sachen zu hören, freue ich mich recht sehr. Machen Sie nur, daß es bald kommt. "485 Friedrich Schlegel äußerte eine ähnliche Erwartung,486 Am 17. September 1801 meldete Schleiermacher A. W. Schlegel die Absendung des Manuskripts an den Verlag: „Die Recension der Charakteristiken ist bereits abgegangen; ich wünsche daß sie Ihnen recht sein möge. "487 Schleiermachers Rezension, die im Sommer 1801 entstand, ist nicht nur Belobigung, sondern mischt durchaus auch Tadel und Verbesserungswünsche in ihre Darstellung und Würdigung. Besonders die persönlich-polemischen Züge der Schlegelschen Kritiken, aber auch Vereinseitigungen und Übertreibungen, die die durch den Gegenstand gesteckten Grenzen überschreiten, verfallen seiner Mißbilligung. Schleiermacher folgt der Leitidee streng sachlich-konzeptioneller Kritik, die der verbreiteten Parteilichkeit des Rezensionswesens mit seinen präjudizierenden Interessenkonfigurationen 480 481 482 483 484 485 486 487
Vgl. Briefe 3,287 Vgl. SN 757, Bl.lv Vgl. SN 329, Bl. 1 r SN 75 7, Bl. 4 r SN 75 7, Bl. 3 r Briefe 3,290 Vgl. Briefe 3, 293 Briefe an A. W. Schlegel 768
CXIII
Historische Einführung
keinen Raum gibt. Gerade im Blick auf seine eigene Idee von Kritik bemängelte Schleiermacher am 17. Dezember 1803 die „Schlegel'sehen Charakteristiken, wo häufig noch viel zu viel Recensirwesen beibehalten ist. "48S Uber die Aufnahme der Schleiermacherschen Rezension fehlen sowohl brieflich-private als öffentliche Zeugnisse. Wilhelm Dilthey hat diese Rezension, die in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen ist, im vierten Band der Briefausgabe „Aus Schleiermacher's Leben" anhangsweise 1863 wiederabgedruckt.489
17. Rezension Bände 1-2
von Georg Christoph Lichtenberg:
Vermischte
Schriften,
In der von Gottlieb Ernst August Mehmel herausgegebenen Erlanger „Litteratur-Zeitung" (Band 6, Stück Nr. 206, Sp. 1642-1648) erschien am 20. Oktober 1801 anonym Schleiermachers Rezension der beiden Nachlaßbände der Göttinger Werkausgabe „ Vermischte Schriften" von Georg Christoph Lichtenberg. Die Quartseiten von 20,3 cm Breite und 24,5 cm Höhe sind doppelspaltig mit normalerweise 60 Zeilen von 8,3 cm Breite bedruckt. Auf der Anfangsspalte 1642 nimmt Schleiermachers Rezension nur etwa die untere Spaltenhälfte ein. Über die Entstehungsgeschichte dieser Rezension haben wir nur spärliche Nachrichten. Im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung" wurde am 15. Januar 1800 der erste Band von Lichtenbergs Göttinger Werkausgabe „Vermischte Schriften", die von Ludwig Christian Lichtenberg und Friedrich Kries veranstaltet wurde, als im Druck befindlich angekündigt.™ Am 6. August 1800 wurde das Vorliegen dieses Nachlaßbandes gemeldet und auf das baldige Erscheinen des ergänzenden zweiten Bandes hingewiesen,491 Beide Ankündigungen zielen gegen die konkurrierende Bayreuther Werkausgabe „Auserlesene Schriften", die Christian Siegmund Krause ebenfalls 1800 herausgab. Mit dem Zuendegehen ihrer Zeitschrift „Athenaeum" bemühten sich die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel seit April 1800 um die Gründung eines umfassenden kritischen Organs des frühromantisch-transzendentalphilosophischen Kreises. Eingebettet in Erörterungen zu Konzeptions-, Kompetenz- und Personalfragen unterbreitete A. W. Schlegel am 20. August und 8. September 1800 Schleiermacher auch Vorschläge zu Re488 489 4.0 4.1
Briefe 5,374 Vgl. Briefe 4, ii4-561 Vgl. Intelligenzblatt der Allgemeinen Vgl. Intelligenzblatt der Allgemeinen 1002f
Literatur-Zeitung, Literatur-Zeitung,
Jena/Leipzig Jena/Leipzig
1800, Nr. 9, Sp. 72 1800, Nr. 117, Sp.
CXIV
Einleitung
des
Bandherausgebers
zensionen, die er für die geplante Zeitschrift „Kritische Jahrbücher der deutschen Literatur" übernehmen könnte. Darunter war die Anregung: „Was sagen Sie endlich zu Lichtenbergs nachgelassenen Schriften ?"492 Schleiermacher beantwortete diesen Vorschlag am 29. August 1800 zustimmend: „Lichtenbergs Schriften kann ich wol vorläufig übernehmen, ob ich sie gleich noch nicht gelesen habe. "493 Am 14. Oktober 1800 bestätigte er seine Zustimmung für „den Lichtenberg, nunmehr zwei Theile "494. Zugleich allerdings verwahrte Schleiermacher sich gegenüber F. Schlegel dagegen, ihm die Mitsprache und die Mitarbeit im Bereich der Transzendentalphilosophie zu beschränken bzw. zu verwehren. „Sollte [...] jezt Schelling, hernach Fichte dies Fach allein bearbeiten, so werde ich mich auf eine freundschaftliche Art ganz sachte von den Jahrbüchern zurückziehen: denn auf ganz untergeordnete Sachen und auf belletristische Kleinigkeiten wie Lichtenbergs Nachlaß möchte ich mich nicht gern beschränken laßen. "49S Das Zeitschriftenprojekt löste zwischen seinen Protagonisten heftige Kämpfe aus und scheiterte schließlich zum Jahresende 1800. Für den Schlegel-Kreis war dann 1801 und 1802 die Erlanger „Litteratur-Zeitung" das Ersatzorgan. Wann Schleiermacher seine Rezension von Lichtenbergs „ Vermischten Schriften" niederschrieb, läßt sich ziemlich genau ermitteln. Am 21. April 1801 schlug er dem Herausgeber der Erlanger „Litteratur-Zeitung" diese Besprechung vor4%, dieser stimmte am I.Mai 1801 zum. Bei Übersendung seiner „Macbeth"-Rezension an Mehmel kündigte Schleiermacher im Juli 1801 an: „den Lichtenberg sollen Sie recht bald [...] erhalten"498. Als er im September 1801 seine Rezension der Schlegelschen „Charakteristiken" an Mehmel schickte, stellte er eine weitere Besprechung in Aussicht: „ich denke noch diesen Monat etwas abzuschiken. "4" Die hier gemeinte LichtenbergRezension dürfte also vermutlich im September 1801 entstanden sein. Über die Aufnahme dieser Rezension im frühromantischen Freundeskreis und in der literarischen Öffentlichkeit gibt es weder private noch öffentliche Zeugnisse. Wilhelm Dilthey hat 1863 die Lichtenberg-Rezension anhangsweise im vierten Briefeband „Aus Schleiermacher's Leben" wieder abgedruckt>0°, während sie in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen wurde. 4.2
Briefe 3,220; vgl. auch 3,225 Briefe an A. W. Schlegel 756 4.4 Briefe an A. W. Schlegel 760 4.5 Briefe 3,233 4.6 Vgl. SN 757, Bl.lv 4.7 Vgl. SN 329, Bl.lr 4.8 SN 757, Bl. 4 r 4 " SN 757, Bl. 3 r 500 Vgl. Briefe 4, 561-567 4.3
Historische
CXV
Einführung
18. Rezension von Joachim Heinrich Campe: Historisches
Bilderbüchlein
Im ersten Stück des sechsten Bandes der von Friedrich Heinrich Christian Schwarz und Johann Ernst Christian Schmidt herausgegebenen Zeitschrift „Allgemeine Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur", das im November 1801 erschien, veröffentlichte Schleiermacher anonym seine Rezension des ersten (und einzigen) Bandes der Schrift „Historisches Bilderbüchlein oder die allgemeine Weltgeschichte in Bildern und Versen" von Joachim Heinrich Campe. Die durchschnittlich mit 28 Zeilen von 7cm Breite bedruckten Seiten sind 9,7cm breit und 17,3 cm hoch. Schleiermachers Rezension auf den Seiten 80-100 eröffnet die Rubrik „ Ueber Bildungslehre oder Methodik". Sie umfaßt auf der Anfangsseite 80 etwa das untere Drittel, auf der Schlußseite 100 etwa das obere Viertel. Der Herausgeber Schwarz lüftet in seinem Zusatz501 die Anonymität Schleiermachers nicht, wenn er die hinzugefügten eigenen Betrachtungen zu Geschichte und Sprache als Bildungsmittel unmittelbar mit folgender Bemerkung anschließt: „ Obige Recension, welche sich in eine tiefe Kritik eines so sonderbaren Buches von einem wichtigen Manne eingelassen hat, mußte mir [statt Druckfehler: nur] dem einen Herausgeber um so interessanter seyn, da ihr Verf. der noch nicht bestimmt im pädagogischen Fache aufgetreten ist, so reiche Gedanken dazu auch seine Schriften enthalten, genau mit dem zusammen trift, was ich auf einem längeren Wege des Studiums und der Erfahrung gefunden habe. "502 Über die Entstehungsgeschichte der Campe-Rezension haben wir nur spärliche Nachrichten. Campes „Historisches Bilderbüchlein" wurde am 7. Februar 1801 im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung" mit der knappen Bemerkung angezeigt:„So eben ist erschienen, und in allen Buchhandlungen zu haben ..."503. Wann Schleiermacher Campes Buch erstmals in Händen hielt und wann er den Entschluß zur Rezension faßte, wissen wir nicht. Die im Winter 1800/01 angeknüpfte Verbindung zu dem hessischen Pfarrer Friedrich Heinrich Christian Schwarz in Münster bei Butzbach dürfte dieses Unternehmen befördert haben. Schleiermacher hatte am 28. März 1801 trotz der hinderlichen Entfernung die Mitarbeit an der „Allgemeinen Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur" zugesagt und die Übersendung einiger Arbeiten „mit Meßgelegenheit"i04 angekündigt. Ob Schleiermacher dabei schon an Campe dachte, bleibt ungewiß. Jedenfalls äußerte Schwarz am 12. Mai 1801 im Zusammenhang seines eigenen Publikationsprojekts einer „Erziehungslehre" gegenüber Schleiermacher, „wie ich mich nach Ihren Gedanken über Erziest
»
502 505 504
Vgl. Schwarz: Allgemeine Bibliothek 6,100-102 Schwarz: Allgemeine Bibliothek 6,100 Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Briefwechsel mit Schwarz 264
Jena/Leipzig
1801, Nr. 24, Sp. 197
CXVI
Einleitung
des
Bandherausgebers
hung sehne - wären es auch nur Winke"i0>. Solche Winke finden sich in der „Beurteilung der Campeschen Weltgeschichte", die Schleiermacher am 10. Oktober 1801 Schwarz ,Jur die Bibliothek" zusandte: Hierbei „ist es mir, wie sie bald sehen werden, mehr darum zu tun gewesen, gewisse Ideen zum Nachdenken hinzuwerfen, und Ihre Bibliothek begünstigt ja ein solches Verfahren. Ich bin nur neugierig, was Sie zu mancher Äußerung sagen werden; vielleicht erfahre ich dies in einer oder der andern Anmerkung, welche Sie dazu machen."506 Die Campe-Rezension ist vermutlich, so darf wohl aus der entschuldigenden Einleitung dieses Begleitbriefes geschlossen werden™7, erst knapp vor Übersendung des Manuskripts im September oder Anfang Oktober 1801 niedergeschrieben worden. Vermutlich im November 1801 sogleich nach Erscheinen des Zeitschriftenheftes ging Schwarz brieflich knapp auf Schleiermachers CampeRezension und seinen eigenen Zusatz ein. „Dafür bin nun ich vorerst Ihnen besonderen Dank schuldig. Sie haben einen Ton angestimmt, den ich längst gern zu hören wünschte, und daß Sie ihn nicht noch schärfer gegriffen haben, macht mir Ihre Humanität, die Sie hier gegen Campe beweisen, nur achtungswerter. Meine Anmerkung dazu ist unbedeutend, da ich Ihnen nur das dazu sagen wollte, was ich soeben gesagt habe, und unserem Publikum andeuten, daß es zu neuen Ansichten über Pädagogik und Methodik kommen müsse. "508 Öffentliche oder private Zeugnisse von anderer Seite über die Aufnahme der Campe-Rezension fehlen. In seiner durch Friedrich Schlegels Besuch verzögerten Antwort vom Februar 1802 bestätigte Schleiermacher noch einmal, daß seine Campe-Rezension von ihm als Erstling und Angeld der literarischen Zusammenarbeit gedacht war. „Bald nach Ihrem freundlichen Briefe, mein teurer Freund, erhielt ich auch das Bibliothekstück, worin die Rezension von Campe abgedruckt ist. Es war mir ein angenehmer Anblick, nun einen Anfang meines Mitwirkens in Ihrem Kreise gemacht zu sehen. Gedulden Sie sich nur, es wird schon mehr kommen."509 Doch brach seine Verbindung zu Schwarz vermutlich mit seinem Wechsel nach Stolpe Ende Mai 1802 ab, ohne daß Schleiermacher neue Beiträge geliefert hätte. Die Campe-Rezension wurde in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen, auch in keine der Auswahlausgaben. Hermann Mulert hat sie im Februar 1934 in der Zeitschrift „Erziehung" beschrieben und „Studienrat Liz. Wißmann in Darmstadt"510 als Wiederentdecker dieser verschollenen Publikation namhaft gemacht. 505 507 509 510
506 Briefwechsel mit Schwarz 267 Briefwechsel mit Schwarz 273 508 Vgl. Brießvechsel mit Schwarz 272 Briefwechsel mit Schwarz 276 Briefwechsel mit Schwarz 279 Mulert: Schleiermacher über Campe, in: Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 9 (Leipzig 1933/34), S. 251254; hier 251
Historische Einführung
CXVII
19. Rezension von Johann Jakob Engel: Herr Lorenz Stark Im sechsten Band der von Gottlieb Ernst August Mehmel herausgegebenen Erlanger „Litteratur-Zeitung" erschien am Montag, den 30. November 1801 in Stück Nr. 235 auf den Spalten 1873-1878 anonym Schleiermachers Rezension von Johann Jakob Engels Roman „Herr Lorenz Stark". Die doppelspaltig mit normalerweise 60 Zeilen von 8,3 cm Breite bedruckten Seiten sind ca. 24,5 cm hoch und ca. 20,3 cm breit. Auf der Schlußspalte 1878 nimmt Schleiermachers Rezension die oberen neun Zehntel ein. Zur Entstehung gibt es nur wenige Zeugnisse. Schleiermacher schlug Mehmel den Engeischen Roman im Juli 1801 bei Ubersendung seiner „Macbeth"-Rezension zur Beurteilung vor. „Ich würde einen ähnlichen Versuch mit dem Lorenz Stark gemacht haben, wenn ich das nicht fur noch gewagter hielte. Haben Sie ihn indeß noch nicht vergeben, so geben Sie mir ihn nur. Ich möchte gern nachdem ich Engels schwache Seite so wenig geschont habe von dieser Arbeit, worin er ganz in seinem Fach ist, und die ich für etwas sehr vorzügliches in ihrer Art halte, auch das Gute sagen was ich darin finde. "5U In seinem Antwortbrief vom 12. August 1801 sagte Mehmel zu: „Den Lorenz Stark überlasse ich Ihnen mit Vergnügen. "512 No tat Nr. 54 des fünften Gedanken-Hefies513 enthält den knappen Entwurf dieser Rezension, die im Herbst 1801 nicht lange vor ihrer Publikation entstanden sein dürfte. In Notat Nr. 54 wendet sich Schleiermacher nämlich auch gegen die apologetische Beurteilung des Engeischen Romans, die Garlieb Helwig Merkel im dritten Band seiner „Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur" (Juli- und August-Heft, Berlin 1801) veröffentlicht hatte51*. Schleiermachers Aufmerksamkeit dürfte nicht nur aus sachlichen, sondern auch aus persönlichen Gründen geweckt worden sein, auch wenn diese in seinem Notat keinen Niederschlag gefunden haben. Merkel hatte in seiner anfänglichen Polemik, mit der er die verschiedensten Vorwürfe gegen Engel zurückwies, höchst abschätzig u. a. Schleiermacher ohne Namensnennung massiv angegriffen, wobei er dessen Rezension von Engels „Philosoph für die Welt" im Auge gehabt haben muß: „Die spinozistische Schaumcikade, deren Speichel zu so krausen Predigten und Monologen geronnen ist, fand Engels Schreibart zu platt und flach"51S. Der Brief, mit dem Schleiermacher seine Rezension Mehmel zuschickte, ist nicht mehr vorhanden. Mehmel antwortete nach der Publikation am 20. Januar 1802
511 512 513 514 515
SN 75 7, Bl. 4 r SN 329, Bl.iv Vgl. unten 295,25-296,7 Vgl. Merkel: Briefe 3, 718- 726. 748- 768 Merkel: Briefe 3, 721
CXVIII
Einleitung
des
Bandherausgebers
mit einem Lob: „Ihre bewundernswürdige Kritik über Lorenz Stark ist ausgesandt in alle Welt zu lehren die Heiden die von der Kunst nichts verstehen."516 Engels Roman dürfte Schleiermacher aus mehreren Gründen zu einer Beurteilung gereizt haben. Die aufklärerische Popularphilosophie besonders in ihren Berliner Vertretern war, wie Schleiermachers Rezension von Engels Schrift „Der Philosoph für die Welt" beweist517, ein Gegenstand anhaltender Aufmerksamkeit. Sodann wurden Schleiermacher durch die Anregungen des Schlegel-Kreises poetologische Überlegungen wichtig, die er 1801 in mehreren literaturkritischen Rezensionen erprobte. Schließlich trug er sich in diesen Jahren selbst mit dem Plan, einen Roman zu schreiben.51S Die Rezension des Engeischen Romans wurde in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen. Wilhelm Dilthey veranstaltete 1863 anhangsweise im vierten Band der Briefsammlung „Aus Schleiermacher's Leben " einen Wiederabdruck.519
20. Rezension
von Friedrich Ast: De Piatonis
Phaedro
Im siebten Band der nunmehr von Gottlieb Ernst August Mehmet und Karl Christian Langsdorf herausgegebenen Erlanger „Litteratur-Zeitung" wurde am Montag, den 12. April 1802 im Stück Nr. 30 auf den Spalten 233-240 anonym Schleiermachers Rezension von Friedrich Asts lateinischer Studie „De Piatonis Phaedro" veröffentlicht. Die doppelspaltig bedruckten Seiten, deren jede Spalte normalerweise 60 Zeilen von 8,3 cm Breite aufweist, sind ca. 24,5 cm hoch und ca. 20,3 cm breit. Auf der Anfangsspalte 233 nimmt Schleiermachers Rezension nur die untere Hälfte ein. Zur Entstehungsgeschichte gibt es nur spärliche Nachrichten. Im Rahmen des von F. Schlegel im März 1800 öffentlich angekündigten Unternehmens, die Platonischen Werke in neuer deutscher Ubersetzung im Verlag Frommann zu publizieren520, übersetzte Schleiermacher von Januar bis März 1801 den Dialog „Phaedrus"521, wobei er die kritisch erarbeitete, aber noch unveröffentlichte Textfassung Ludwig Friedrich Heindorfs zugrunde legen konnte522. In den ersten Monaten 1801 war auch die Abhandlung von Friedrich Ast über den Platonischen „Phaedrus" in Jena erschienen. Schleiermacher hatte offensichtlich nach Abschluß und Ubersendung seiner
517 518
520 521 522
SN 329, Bl. 5 r Vgl. unten 227-234 Vgl. Briefe 1,230. 252; 3,125. 245 sowie KGA Vgl. Briefe 4, 567-572 Vgl. oben XCVIIIf Vgl. Briefe 3,251. 264 Vgl. Briefe 3,227.236
112,42,11-20
Historische Einführung
CXIX
Übersetzung an F. Schlegel davon erfahren und bat diesen um Auskunft darüber. Am 27. April 1801 beschwerte sich Schleiermacher verärgert über F. Schlegels Schweigen: Ja nicht einmal was schon da ist - ich meine die Dissertation die denn doch Ideen enthalten muß - theilst Du mir mit"52i. Diese Briefäußerung, die sich höchstwahrscheinlich auf Ast bezieht, kann sowohl die Antwort auf als auch die Veranlassung zu folgender undatierten Briefmitteilung F. Schlegels sein: „ Von Ast selber ist recht viel zu hoffen, aber mit seiner Schrift ists nicht so eilig. Sage das auch H[eindorf] nebst herzlichen Grüßen. Doch sollt Ihr sie mit nächstem haben. "524 Schleiermacher hatte also vermutlich im Frühling 1801 Asts Schrift in Händen. Bereits vorher, am 21. April 1801, hatte er dem Herausgeber der Erlanger „Litteratur-Zeitung" die Besprechung der Astschen Abhandlung vorgeschlagen.i2i Mehmel hatte in seinem Antwortbrief vom I.Mai 1801 dieses Vorhaben akzeptiert,i2i Im Juli 1801 stellte Schleiermacher Mehmel die baldige Ablieferung der Ast-Rezension in Aussicht: „Die Charakteristik [...] [,] den Ast, den Lichtenberg sollen Sie recht bald zusammen erhalten"527. Doch erst mit dem verlorengegangenen Brief vom 27. März 1802 hat Schleiermacher vermutlich seine Ast-Rezension, die er wenig früher niedergeschrieben hatte, an Mehmel geschickt?1* Im Winter 1801/2 nahm Schleiermacher noch einmal eine Überarbeitung seiner schon gedruckten Übersetzung529 des „Phaedrus" vor und lieferte diese verbesserte Version Anfang Februar 1802 an F. Schlegel·30, der sie prüfend durchsah, zurückschickte und am 18. März 1802 dann „vollendet"in in Händen hielt. Vermutlich im Februar oder März 1802, d.h. sogleich im Anschluß an die Überarbeitung seiner eigenen „Phaedrus"-Fassung, las Schleiermacher die Astsche Untersuchung gründlich durch und verfertigte sodann seine Rezension. Notat Nr. 81 im fünften GedankenHeft532 bezeugt die gründliche Lektüre und (mittels Streichungen) die Auswertung für die Rezension. Dieses Notat muß nach dem Besuch Friedrich Schlegels, der vom 2. Dezember 1801 bis 17. Januar 1802 in Berlin stattfand und dessen Ende Schleiermacher zu Notat Nr. 69 veranlaßte, geschrieben worden sein, d.h. nach dem 17.Januar 1802. Die vorangehenden WedekeTeller-Notate Nr. 75. 77-79533, die wohl in der zweiten Januarhälfte oder 523
525
527 528 i n 530 531 532 533
Briefe 3,271 Briefe 3,270; vgl. auch 3, 295 Vgl. SN 757, Bl.lv Vgl. SN 329, Bl. 1 r SN 75 7, Bl. 4 r Vgl. SN 329, Bl. 7 r Vgl. Briefe 3,288.297.316 Vgl. Briefe 3,305 Briefe 3,308 Vgl. unten 304,8-306,2 Vgl. unten 301,4-8 u. 301,11-303,20
cxx
Einleitung des Bandherausgebers
im Februar 1802 verfaßt worden sindiM, weisen ebenfalls auf Februar oder März 1802 als Entstehungszeitraum für die Ast-Rezension, über deren Aufnahme weder private noch öffentliche Zeugnisse vorhanden sind. Die Ast-Rezension ist in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen worden. Wilhelm Dilthey hat 1863 anhangsweise im vierten Band der Briefausgabe „Aus Schleiermachers Leben " einen Wiederabdruck besorgt.>3> Tabellarische Ubersicht Die literarischen Unternehmungen Schleiermachers 1800-1802, soweit sie der I. Abteilung dieser Gesamtausgabe zugerechnet werden müssen, sollen hier abschließend tabellarisch zusammengestellt werden. Chronologisch werden die im Druck erschienenen Schriften nach ihrem Publikationsdatum, dagegen Manuskripte nach ihrem Entstehungszeitraum eingeordnet. Bemerkenswert ist, daß Schleiermacher häufig gleichzeitig an mehreren Projekten gearbeitet hat."* Monologen gedruckt Garve's letzte Schriften (Sammelrezension) gedruckt erhalten Über das Anständige erhalten Chemische Versammlungen erhalten Chemie erhalten Gedanken IV Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels gedruckt Lucinde 1800 Rezension von F. Schlegel: Lucinde gedruckt 1800 Rezension von Engel: Der Philosoph fur die Welt, Bd 3 gedruckt 1800 Rezension von Fichte: Die Bestimmung des gedruckt Menschen 1799-1800 Materialien zur Siedlungsgeschichte Neuhollands teilweise erhalten 1800 Zur Siedlungsgeschichte Neuhollands teilweise erhalten 1800-1803 Gedanken V erhalten erhalten 1801-•1803 Zum Piaton Rezension von Schillers Übersetzung des 1801 Shakespeareschen „Macbeth" gedruckt gedruckt 1801 Rezension von Schlegel: Charakteristiken
1800 1800 1800 1800 1800 1800 1800
Vgl. Briefwechsel mit Schwarz 2 79 "5 Vgl. Briefe 4,573-579 »' Vgl. Briefe 1,321
Historische
1801 1801 1801 1801 1802 1802 1802
Einfiihrung
Rezension von Lichtenberg: Vermischte Schriften Rezension von Campe: Bilderbüchlein Zeitschriftenbeitrag für „Praktisches Journal" Rezension von Engel: Herr Lorenz Stark Rezensionsentwurf von Teller: Die Zeichen der Zeit sowie Wedeke: Briefe Rezension von Ast: De Piatonis Phaedro Rezension von F. Schlegel: Alarcos
CXXI
gedruckt gedruckt nicht erhalten gedruckt nicht erhalten gedruckt nicht erhalten
CXXII
Einleitung
des
Bandherausgebers
II. Editorischer
Bericht
Der vorliegende Band „Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802" (KGA 1/3) umfaßt die handschrifilich erhaltenen Arbeiten Schleiermachers und seine im Druck veröffentlichten Schriften aus dem Zeitraum vom Januar 1800 bis zum Wechsel aus der reformierten Predigerstelle an der Berliner Charite nach Stolpe (Mai 1802). Nicht aufgenommen wurden in diesem Band alle die Arbeiten, die ihrer literarischen Gattung nach der III. oder IV. Abteilung zugewiesen werden mußten. Das gilt zum einen für die Entwürfe und Druckfassungen von Predigten, die Schleiermacher in diesem Zeitraum gehalten hat. Das gilt zum anderen fur seine Ubersetzung von Blairs Predigten und für seine Mitübersetzung des Weldschen Nordamerika-Reiseberichts. Alle hier abgedruckten Nachlaßstücke werden im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Mitte aufbewahrt. Der dort befindliche Schleiermacher-Nachlaß war 1898 von der „Litteraturarchiv-Gesellschaft", deren roten rechteckigen Stempel „Litteraturarchiv Berlin" die Nachlaßstücke alle tragen, erworben und vor knapp zwei Jahrzehnten durch Friedrich Laubisch übersichtlich erschlossen worden.™7 Bisher waren nur drei der acht Nachlaßstücke aus den Jahren 1800-1802 der wissenschaftlichen Öffentlichkeit durch Wilhelm Dilthey bekannt gemacht worden, nämlich der Dialog „ Uber das Anständige" vollständig und die Gedanken-Hefte IV und V auszugsweise. Diltheys Verfahren genügt nicht den Anforderungen einer kritischen Edition. Im vorliegenden Band sind die Nachlaßstücke zusammen mit den Druckschriften chronologisch geordnet. Selbst datiert hat Schleiermacher nur ein Manuskript; für die anderen läßt sich aus der Kombination von Briefzeugnissen und inhaltlichen Gesichtspunkten (Quellenbenutzung, biographische Bezüge) eine ziemlich genaue Datierung gewinnen. Um die Eigenart eines druckfertigen Manuskripts, bei dem Schleiermacher sowohl seine Anmerkungen als auch seine Korrekturen auf den Rand geschrieben hat, zu veranschaulichen, ist dem Band eine faksimilierte Manuskriptseite der Siedlungsgeschichte Neuhollands beigegeben.iiS Der durchaus eigentümliche Charakter sowohl der Chemieaufzeichnungen539 als auch der poetischen Versuche im fünften Gedanken-Heft 540 wird durch ein Faksimile dokumentiert. Zwei weitere Faksimiles haben die Aufgabe, den Sachapparat zu unterstützen. Die Landkarte Neuhollands von 1794 soll den damaligen Stand des geographischen Wissens vor Augen führen}*1 Die Konstruktionszeich537 538 540
Vgl. KGA 1/1, LXXXIV Vgl. unten 266 Vgl. unten 282
541
Vgl. unten 102 Vgl. unten 250
Editorischer Bericht
CXXIII
nung auf dem Rand von Seite 10 des fünften Gedanken-Heftes macht Notat Nr. 66 allererst verständlich.542 Außerdem werden die Titelblätter der beiden selbständig erschienenen Druckschriften „Monologen"543 und „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde"544 faksimiliert wiedergegeben. Da fast alle Manuskripte über weite Strecken schwer leserlich sind, können sie oft nur durch Rückgang auf die Vorlagen oder durch den Sinnkontext eindeutig transkribiert werden. Bei den Rezensionen mit fremdsprachigen Zitaten oder Namen in der Erlanger „Litteratur-Zeitung" und in der Gießener „Allgemeinen Bibliothek" schlichen sich, weil die Setzer Mühe mit Schleiermachers Handschrift hatten und wegen der Entfernung ein Korrekturlesen durch den Autor nicht erfolgen konnte, ziemlich viele Druckfehler ein. Im Anhang ist Tellers Abhandlung „Die Zeichen der Zeit" in ihrer monographischen Fassung (Jena 1799)i45, aber ohne die beigefügte Anzeige546 abgedruckt, in der Teller die dritte Auflage von Johann Joachim Spaldings Schrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen" (Berlin 1799) hauptsächlich durch Angabe der Zusätze vorstellt; diese Anzeige war auch schon der Aufsatzfassung angehängt. Wedekes anonym publizierte Beurteilungsschrift „Briefe über die Abhandlung ..." ist im Anhang vollständig wiedergegeben. In Tellers Abhandlung sind drei Druckfehler, in Wedekes Schrift vierzehn Druckfehler stillschweigend verbessert. Der vorliegende Band ist nach den „Allgemeinen editorischen Grundsätzen für die I. Abteilung "547 sowie den „Besonderen Grundsätzen für die Edition von Handschriften "548 gestaltet. Die besonderen Gegebenheiten der hier veröffentlichten Texte machen einige zusätzliche Regelungen erforderlich. Durch Sperrung von Stichworten werden diese zusätzlichen Regeln auf die Grundsätze bezogen. Druckfehler. Durch die Formel „im OD teilweise" wird im textkritischen Apparat mitgeteilt, daß der Textbestand in verschiedenen Exemplaren des Originaldrucks durch korrigierte bzw. unkorrigierte Druckfehler unterschiedlich ist. Dieser Sachverhalt begegnet sowohl in den „Monologen " als in den „ Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde". Bei beiden Druckschriften gab es vermutlich Korrektureingriffe während des Drucks. Abbreviaturen. Schleiermacher benutzte zur Beschleunigung der Niederschrift des öfteren Kürzel und Abkürzungen, deren Zeichenwert konstant ist. Kurzform und ausgeschriebene Form eines Wortes können durchaus nebeneinander auftreten.549 Folgende Abbreviaturen des Originals sind S42 443 545 547 549
Vgl. unten 340 544 Vgl. unten 141 Vgl. unten 3 546 Vgl. Teller: Zeichen 111-124 Vgl. oben XCV und unten 302f 548 Vgl. KGA 1/1, Vgl. KGA Ι/Ι,ΙΧ-ΧΙΠ XIII-XVI Zur Rechtschreibung Schleiermachers vgl. seinen Brief vom 19. Mai 1804 an A. W. Schlegel (Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, ed. J. Körner, Bd 1, 2. Aufl., Bern/München 1969, S.84)
CXXIV
Einleitung des Bandherausgebers
im Drucktext aufgelöst, ohne daß ein Nachweis im textkritischen Apparat ebensowenig wie die Flexionsformen von Abbreviaturen, die Schleiermacher häufig durch den hochgestellten letzten Buchstaben der entsprechenden Flexionsendung kenntlich gemacht hat (Beispiel: Bc fur Begriffe). ab aber Aristoteles Aristot. auch ä, ä auf, -auf, auff, -f, f6,-6, 6aus, -aus, ausbbe B Begrif d6 daraus dß daß der, die, das d dse, dsr, dsn diese, dieser, diesen -dung -dg dh durch -en, -er ) ge gGr. Gran ht hat -ht -heit k kein -kt keit -1 -lieh, -lisch man ih
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Majesty nicht nichts -niß oder Olympiade Östlicher Länge perge Pfund philosophisch sein o d e r siehe sich sind Südlicher Breite und über, Ueber -ung von Ver-, ver- o d e r von Wedeke zwischen
Hinsichtlich der Zeichensetzung ist die Sparsamkeit, mit der Schleiermacher auch ausgedehnte Satzperioden nur durch wenige Interpunktionszeichen gliedert, durchaus programmatisch gewollt.55° Allerdings muß sein Schwanken in einigen Spezialfällen anders gewertet werden. In seinen Manuskripten setzt er nämlich nach den von ihm benutzten, damals gebräuchlichen Abkürzungen mal einen Punkt, mal aber auch nicht. Dies wird hier dahingehend vereinheitlicht, daß immer ein Punkt nach der Abkürzung gesetzt wird. Dasselbe gilt für den Punkt nach Ziffern und Buchstaben, die die Reihenfolge in einer Aufzählung markieren, sowie für die Abkürzungen, Kapitel- und Seitenzahlen in Literaturangaben. Bei Ordinalzahlen läßt Schleiermacher oft der Ziffer einen hochgestellten Schnörkel folgen, der „te", „ter" oder „tes" heißen soll und zumeist unleVgl. Briefe 4, 78f; 3,381
Editorischer Bericht
CXXV
serlich ist. Diese Ausgabe kennzeichnet die Ordinalzahl einheitlich durch Punkt hinter der Ziffer. Schleiermacher läßt bei der Silbentrennung von Wörtern häufig das Trennungszeichen weg. Dieses wird hier stillschweigend ergänzt. Schleiermacher setzt keine Wiederholungsstriche bei zwei einander folgenden Wörtern mit demselben Wortbestandteil: „Standes und Sittenschilderungen". Diese Wiederholungsstriche in parallelen Aufzählungen werden nicht ergänzt. Die Abgrenzungsstriche zwischen den Notaten, die Schleiermacher fast immer (allerdings mit unterschiedlicher Länge) in seinen Gedanken-Heften gezogen hat, sind regelmäßig und in normierter Länge gedruckt worden. Neben den Seitenzahlen der Originaldrucke werden auf den rechten Rand - soweit vorhanden - auch die Seitenzahlen des Wiederabdrucks in den „Sämmtlichen Werken" angegeben. Dabei wird im Text deren Seitenbruch nicht gekennzeichnet. Auf die Nennung von Abteilung und Band wird verzichtet. Im vorliegenden Band beziehen sich die Seitenzahlen alle auf SW III/1 (Berlin 1846). Der Sachapparat hat auch hier nicht die Aufgabe einer wissenschaftlichen Kommentierung des Textes. Er soll den Text nur erschließen. Die Auflösung abgekürzter Literaturangaben wurde bei antiken Autoren, besonders bei Piaton und Aristoteles, dahingehend reguliert, daß die lateinischen Fassungen der Titel gewählt worden sind, weil Schleiermacher sich überwiegend der lateinischen Kurzformen bedient hat (ζ. B. Leg. für Leges statt Νομοί oder Gesetze). Die lateinischen Titel, die Schleiermacher wechselweise neben den griechischen Fassungen gebraucht hat, sind dann im Sinne der Vereinheitlichung durchgängig benutzt worden. Die „Nikomachische Ethik " von Aristoteles, bei der die unterschiedliche Kapiteleinteilung verschiedene Stränge der Textüberlieferung markiert, wird in der jeweils angemessenen Druckausgabe nachgewiesen.
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*
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Meine mehrjährige Editionsarbeit am vorliegenden Band 1/3 der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe wurde wiederum durch Professor Dr. HansJoachim Birkner, den Leiter der Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, in großzügiger Weise unterstützt. Herrn Birkner gilt vor allen anderen mein herzlicher Dank. Die wöchentlichen Dienstbesprechungen in Kiel und die jährlichen Sitzungen der Herausgeber-Kommission gaben mir hilfreiche Anregungen. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers ermutigte meine Editionsarbeit in entgegenkommender Weise weiterhin durch meine
CXXVI
Einleitung
des
Bandherausgeben
Beurlaubung vom Pfarrdienst. Meinem Kieler Kollegen Hans-Friedrich Trauisen bin ich für vertrauensvolles Gespräch und sachverständige Unterstützung dankbar. Meinen Berliner Kollegen Dres. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond danke ich für sachkundigen Rat, wertvolle Literaturfunde, präzises Gegenlesen einiger meiner Transkriptionen und bereitwillige Hilfe bei den herangezogenen unveröffentlichten Briefen. Dres. Hermann Patsch (München) und Hans Dierkes (Niederkassel) unterstützten meine Arbeit durch erhellende Literaturhinweise, besonders zu Schleiermachers Lucinde-Briefen; dafür sage ich ihnen Dank. Dem Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Mitte danke ich für die hilfsbereite Unterstützung bei der Handschriften-Benutzung und für die Veröffentlichungsgenehmigung. Die Universitätsbibliothek Kiel beschaffte mir dankenswerterweise die oft schwer zugängliche auswärtige Literatur. Der Bibliotheka Jagiellonska in Krakow bin ich für die zur Verfügung gestellten Briefe dankbar. Frau Helma Talke fertigte zuverlässig die Reinschrift meiner Einleitung. Beim mühsamen Geschäft des Korrekturlesens und Umbruchklebens unterstützten mich mit Engagement Elisabeth Blumrich, Dolly Füllgraf, Martin Rössler, Helma Talke und Hans-Friedrich Trauisen. Ihnen allen danke ich für die gute Zusammenarbeit. Günter Meckenstock
Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800)
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Darbietung.
Keine köstlichere Gabe vermag der Mensch dem Menschen anzubieten, als war er im Innersten des Gemüthes zu sich selbst geredet hat: denn sie gewährt ihm das Größte was es giebt, in ein freies Wesen den offenen ungestörten Blik. Keine ist beständiger: denn nichts zerstört Dir den Genuß, den einmal Dir das Anschaun gewährt hat, und die innere Wahrheit sichert ihr Deine Liebe, daß Du sie gern wieder betrachtest. Keine bewahrst Du sicherer gegen fremde Lust und Tüke: denn sie ist nicht mit irgend einem Nebenwerk umgeben, das etwa an-|ders gebraucht und mißbraucht werden könnte, oder die sinnliche Begierde lokt. Wenn einer seitwärts steht, mit schiefem Blik das Kleinod ansieht, und ihm lächerliche Falten andichtet, die Dein grades Auge nicht findet: so möge der leere Spott Dir nicht die Freude rauben, wie er mich's nicht gereuen laßen wird, Dir mitgetheilt zu haben, was ich hatte. - Nimm hin die Gabe, der Du das Denken meines Geistes verstehen magst! Es begleite Dein Gesang das laute Spiel meiner Gefühle, und der Schlag, der Dich durchdringt bei der Berührung meines Gemüthes, werde auch Deiner Lebenskraft ein erfrischender Reiz.
3 Innersten] Innnersten
I.
Die Reflexion.
Auch die äußere Welt, mit ihren ewigsten Gesezen wie mit ihren flüchtigsten Erscheinungen, strahlt in tausend zarten und erhabenen Allegorien, wie ein magischer Spiegel, das Höchste und Innerste unsers Wesens auf urts zurük. Welche aber den lauten Aufforderungen ihres tiefsten Gefühles nicht horchen, welche die leisen Seufzer des gemißhandelten Geistes nicht vernehmen, an diesen gehen auch die wohlthätigen Bilder verloren, deren sanfter Reiz den stumpfen Sinn schärfen soll und spielend belehren. Selbst von dem, was die eigene Willkühr erdacht hat, und immer | wieder hervorbringen muß, mißverstehn sie die wahre Deutung, und die innerste Absicht. Wir durchschneiden die unendliche Linie der Zeit in gleichen Entfernungen, an willkührlich durch den leichtesten Schein bestimmten Punkten, die f ü r das Leben ganz gleichgültig sind, nach denen nichts sich richten will, weil alles abgemeßene Schritte verschmäht, weder das Gebäude unserer Werke, noch der Kranz unserer Empfindungen, noch das Spiel unserer Schiksale; und dennoch meinen wir mit diesen Abschnitten etwas mehr als eine Erleichterung f ü r den Zahlenbewahrer, oder ein Fest für den Meßkünstler; bei Jedem knüpft sich daran unvermeidlich der ernste Gedanke, daß eine Theilung des Lebens möglich sei. Aber Wenige dringen ein in die heilige Allegorie, und verstehen den Sinn dieser Verknüpfung, zu welcher die N a t u r sie auffordert. Der Mensch kennt nichts als sein Dasein in der Zeit, und dessen gleitenden Wandel | hinab von der sonnigen H ö h e in die furchtbare Nacht der Vernichtung. Vorstellung und Empfindung abwechselnd entwikelnd und in einander verschlingend, so meint er, ziehe eine unsichtbare H a n d den Faden seines Lebens fort, und drehe ihn jezt loser jezt fester zusammen, und weiter sei nichts. Je schneller ihre Folge, je rei7 horchen] Vgl. Adelung: Wörterbuch
2,1281f
/. Die Reflexion
7
eher ihr Wechsel, je harmonischer und inniger ihre Verbindung, desto herrlicher sei das bedeutende Kunstwerk vollendet, und k ö n n t e n sie seinen ganzen Z u s a m m e n h a n g mechanisch erklären, so ständen sie auf dem Gipfel der Menschheit u n d des Selbstverständnißes. So nehmen sie den z u r ü k g e w o r f e n e n Strahl ihrer Thätigkeit f ü r ihr ganzes T h u n , die äußeren Berührungspunkte ihrer K r a f t mit dem was nicht sie ist f ü r ihr innerstes Wesen, die Atmosphäre f ü r die Welt selbst, um welche sie sich gebildet hat. Wie wollten sie die A u f f o r d e r u n g verstehn, welche in der H a n d l u n g liegt, der sie nun gedanken-|los zusehn. D e r Punkt, der eine Linie durchschneidet, ist nicht ein Theil von ihr: er bezieht sich auf das Unendliche eben so eigentlich und unmittelbarer, als auf sie, und überall in ihr kannst du einen solchen P u n k t sezen. D e r M o m e n t , in dem du die Bahn des Lebens theilst und durchschneidest, soll kein Theil des zeitlichen Lebens sein: anders sollst du ihn ansehn, und deiner unmittelbaren Beziehungen mit dem Ewigen und Unendlichen dich bewußt werden; und überall wo du willst, kannst du einen solchen M o m e n t haben. Dein f r e u e ich mich, erhabene A n d e u t u n g der Gottheit in mir, schöne Einladung zu einem unsterblichen Dasein außerhalb des Gebietes der Zeit, und frei von ihren harten Gesezen! Die aber um den Beruf zu diesem h ö h e r n Leben nicht wißen, mitten im Strom der flüchtigen Gefühle und Gedanken, finden ihn auch dann nicht, wenn sie o h n e zu wißen was sie thun, die Zeit meßen und das irdische Leben abthei-|len. W e n n sie lieber nichts merkten von dem was ihnen gesagt werden soll, d a ß nicht ihr eitles T h u n und Treiben so schmerzlich mein G e m ü t h ergriffe, wenn es der heiligen Einladung zu folgen strebt. Sie wollen doch auch einen P u n k t haben, den sie nicht ansehen als flüchtige Gegenwart, n u r d a ß sie nicht verstehn ihn als Ewigkeit zu behandeln. O f t auf einen Augenblik bisweilen auf eine Stunde, nun gar auf einen T a g sprechen sie sich los von der Verpflichtung, so emsig zu handeln, so eifrig G e n u ß und E r k e n n t n i ß anzustreben, wie auch der kleinste Theil des Lebens es von ihnen verlangt, wenn er sie erinnert, d a ß er eben so bald Vergangenheit sein wird, als er noch kürzlich Z u k u n f t war. D a n n ekelt es sie Neues wahrnehmen, oder genießen, wirken o d e r hervorbringen; sie sezen sich ans U f e r des Lebens, aber k ö n n e n nichts thun, als in die tanzende Welle lächelnd hinab weinen. Gleich wilden Barbaren, | die am G r a b e des Vaters Weiber, Kinder, oder Sklaven m o r d e n , so schlachten sie am G r a b e des Jahres den Tag, der in leeren Fantasien vergeht, ein vergebliches O p f e r .
15 dich] Vgl. Adelung:
Wörterbuch
28 Gemeint ist der Neujahrstag.
1,873
35-38 Vgl. Gedanken I, Nr. 3 (KGA 1/2,
4,1-4)
8
Monologen
Für den soll es kein Nachdenken und keine Betrachtung geben, der das innere Wesen des Geistes nicht kennt; der soll nicht streben sich loszureißen von der Zeit, der auch in sich nichts kennt, als was ihr angehört: denn wohin sollte er ihrem Strome entsteigen, und was könnte er sich erstreben, als fruchtloses Leiden und Vernichtungsgefühl? Vergleichend wägt der Eine ab Genuß und Sorge der Vergangenheit, und will das Licht, das ihm aus der zurükgelegten Ferne noch nachschimmert, in ein einziges kleines Bild vereinigen, unter dem Brennpunkt der Erinnerung. Ein Anderer schauet an, was er gewirkt, den harten Kampf mit Welt und Schicksal ruft er gern zurück, und froh, daß es noch so geworden, sieht er hie und da auf dem neutralen Boden der gleichgültigen | Wirklichkeit ein Denkmal stehen, das er sich aus dem trägen Stoff herausgebildet, obwohl Alles weit hinter seinem Vorsaz zurük geblieben. Es forscht ein Dritter, was er wohl gelernt, und schreitet stolz im viel erweiterten und wolgefüllten Magazin der Kenntniße daher, erfreut, daß sich alles so in ihm zusammendrängt. Ο kindisches Beginnen der eiteln Einbildung! Es fehlt der Kummer, den die Fantasie gebildet, und den aufzubewahren das Gedächtniß sich geschämt; es fehlt der Beistand, den Welt und Schicksal selbst geleistet, die sie jezt nur feindlich begrüßen wollen; das Alte, was von dem Neuen verdrängt ward, die Gedanken, die sie unter dem Denken, die Vorstellungen, die sie unter dem Lernen verloren, werden nicht mit in Anschlag gebracht, und niemals ist die Rechnung richtig. Und wäre sie es, wie tief verwundets mich, daß Menschen denken mögen, dies sei Selbstbetrachtung, dies heiße sich erkennen. Wie | elend endet das hochgepriesene Geschäft! die Fantasie ergreift das treue Bildniß der vergangenen Zeit, mahlts mit schönern Umgebungen nicht sparsam in den leeren Raum der nächsten Zukunft, und sieht oft seufzend auf das erste noch zurük. So ist die lezte Frucht nur eitle H o f n u n g , daß Beßeres kommen werde, und die leere Klage, daß dahin sei, was so schön gewesen, und daß der Stoff des Lebens mehr und mehr von Tag zu T a g verrinnend der schönen Flamme bald das Ende zeige. So zeichnet die Zeit mit leeren Wünschen und mit eitlen Klagen brandmarkend schmerzlich ihre Sklaven, die entrinnen wollten, und macht den Schlechtesten dem Besten gleich, den sie eben so sicher sich wieder hascht. Wer statt der Thätigkeit des Geistes, die verborgen in seiner Tiefe sich regt, nur ihre äußere Erscheinung kennt und sieht, wer statt sich anzuschaun nur immer von fern und nahe her ein Bild des Lebens und seines Wechsels sich zusammen-|holt, der bleibt der Zeit und der
1-9,16 Vgl. Gedanken III, Nr.38 (KGA 1/2,127,17-19) in Gedanken III, Nr. 31 (KGA 1/2,126, Π f )
32-36 Ähnliche
Formulierung
I. Die Reflexion
9
N o t w e n d i g k e i t ein Sklave; was er sinnt und denkt, trägt ihren Stempel, ist ihr Eigenthum, und nie, auch wenn sich selbst er zu betrachten wähnt, darf er das heilige Gebiet der Freiheit betreten; denn in dem Bilde, was er sich von sich entwirft, wird er sich selbst z u m äußern G e genstande, wie alles andere ihm ist, alles ist darin durch äußere Verhältniße bestimmt. Wie es ihm erscheint, was er dabei sich d e n k t und fühlt, alles hängt ab vom Inhalte der Zeit, und von desjenigen Beschaffenheit, was ihn b e r ü h r t hat. W e r mit thierischem G e m ü t h e n u r den G e n u ß gesucht, dem scheint das Leben arm o d e r reich, nachdem der a n g e n e h m e n Augenblike viel o d e r wenig verstrichen sind in gleicher Zeit, und dieses Bild betrachtet er mit Wohlgefallen oder nicht, je wie das G u t e drin das erste o d e r lezte war. W e r Schönes bilden und genießen wollte, h ä n g t ab vom Urtheil über sich, vom Boden auf | dem er stand, und von d e m Stoff, den seiner Arbeit das Schiksal vorgelegt. So auch wer Gutes zu wirken strebte. Es beugen alle sich dem Szepter der N o t h w e n d i g k e i t , und seufzen unter dem Fluch der Zeit, die nichts bestehn läßt. Wie ihnen beim Leben, so ist mir zu M u t h e , wenn mannigfaltiger T ö n e kunstreiche H a r m o n i e dem O h r vorbeigerollt und nun verhallt ist, mit d ü r f t g e m Nachklang sich die Fantasie zermartert, und die Seele dem nachseufzt, was nicht wiederkehrt. So freilich ist das Leben n u r eine flüchtige H a r m o n i e , aus der Berührung des Vergänglichen und des Ewigen entsprungen: aber es ist der Mensch ein bleibendes Werk, d e r Anschauung ein unvergänglicher Gegenstand. N u r sein innerstes H a n deln, in dem sein wahres Wesen besteht, ist frei, und wenn ich dieses betrachte, f ü h l e ich mich auf dem heiligen Boden der Freiheit, und fern von allen unwürdigen | Schranken. Auf mich selbst m u ß mein Auge gekehrt sein, um jeden M o m e n t nicht nur verstreichen zu laßen als einen Theil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn heraus zu greifen, und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln. N u r f ü r den giebts Freiheit und Unendlichkeit, der weiß was Welt ist und was Mensch, der klar das große Räthsel, wie beide zu scheiden sind, und wie sie in einander wirken, sich gelöst; ein Räthsel, in d e ß e n alten Finsternißen tausend noch Untergehn, und sklavisch, weil das eigne Licht verloschen, dem trügerischsten Scheine folgen müßen. W a s sie Welt nennen, ist mir Mensch, was sie Mensch nennen, ist mir Welt. Welt ihnen stets das erste, und der Geist ein kleiner Gast n u r auf der Welt, nicht sicher seines Orts und seiner Kräfte. M i r ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spie-|gel. Es d r ü k e n sie mit E h r f u r c h t und mit Furcht danieder, die unendlich großen und schweren M a ß e n
17-23 Vgl. Gedanken III, Nr. 36 (KGA
1/2,127,12f)
10
Monologen
des körperlichen Stoffes, zwischen denen sie sich so klein, so unbedeutend scheinen; mir ist das alles nur der g r o ß e gemeinschaftliche Leib der M e n s c h h e i t , wie der eigne Leib dem E i n z e l n e n gehört, ihr a n g e h ö rig, nur durch sie möglich und ihr mitgegeben, d a ß sie ihn beherrsche, sich durch ihn verkünde. I h r freies T h u n ist auf ihn hingerichtet, um alle seine Pulse zu fühlen, ihn zu bilden, alles in O r g a n e zu verwandeln, und alle seine T h e i l e mit der G e g e n w a r t des königlichen Geistes zu zeichnen, zu beleben. Giebts einen Leib wol o h n e G e i s t ? ist nicht der Leib nur, weil und wann der G e i s t ihn b r a u c h t und seiner sich bewußt ist? M e i n freies T h u n ist jegliches G e f ü h l , das aus der K ö r p e r w e l t hervorzudringen scheint, nichts ist W i r k u n g von ihr auf mich, das W i r k e n geht immer von mir auf sie, sie ist nicht etwas von mir | verschiedenes, mir entgegengeseztes. D a r u m nenn ich sie auch nicht mit dem N a m e n W e l t , dem h o h e n W o r t e , das Allgegenwart und Allmacht in sich schließt. W a s W e l t zu nennen ich würdige, ist nur die ewige G e m e i n schaft der Geister, ihr E i n f l u ß auf einander, ihr gegenseitig Bilden, die h o h e H a r m o n i e der Freiheit. N u r das unendliche All der Geister, sez ich mir dem E n d l i c h e n und Einzelnen entgegen. D e m nur verstatt ich zu verwandeln und zu bilden die O b e r f l ä c h e meines Wesens, um auf mich einzuwirken. Hier, und nur hier ist der N o t h w e n d i g k e i t Gebiet. M e i n T h u n ist frei, nicht so mein W i r k e n in der Welt, das folget ewigen G e s e z e n . E s s t ö ß t die Freiheit an der Freiheit sich, und was geschieht, trägt der B e s c h r ä n k u n g und G e m e i n s c h a f t Z e i c h e n . J a , du bist überall das erste, heiige Freiheit! du w o h n s t in mir, in Allen; N o t h w e n d i g k e i t ist außer uns gesezt, ist der bestimmte T o n vom schönen | Z u s a m m e n stoß der Freiheit, der ihr D a s e i n verkündet. M i c h kann ich nur als Freiheit anschaun; was nothwendig ist, ist nicht mein T h u n , es ist sein W i derschein, es ist die A n s c h a u u n g der Welt, die in der heiligen G e m e i n schaft mit Allen ich erschaffen helfe. Ihr g e h ö r e n die W e r k e , die auf gemeinschaftlichem B o d e n mit Andern ich erbaut: sie sind mein Antheil an der S c h ö p f u n g , die unsere inneren G e d a n k e n darstellt. Ihr gehören die Gefühle, die bald steigen und bald fallen; ihr die Bilder, die k o m men und vergehn, und was sonst wechselnd ins G e m ü t h die Zeit bringt und hinweg nimmt: sie sind das Zeichen, d a ß W e l t und G e i s t sich liebevoll begegnet, der K u ß der F r e u n d s c h a f t zwischen beiden, der sich anders i m m e r wiederholt. D i e s geht, der T a n z der H ö r e n , melodisch und harmonisch nach dem Z e i t m a a ß ; doch Freiheit spielt die M e l o d i e und wählt die T o n a r t , und alle zarten U e b e r g ä n g e sind ihr W e r k . Sie ge-|hen aus dem innern H a n d e l n und aus dem eignen Sinn des M e n s c h e n selbst hervor.
36 Die Hören sind Verkörperungen
des natürlichen
Gedeihens.
I. Die Reflexion
11
So bist du Freiheit mir in allem das ursprüngliche, das erste und innerste. W e n n ich in mich zurükgeh, um dich anzuschaun, so ist mein Blik auch ausgewandert aus dem Gebiet der Zeit, und frei von der N o t w e n d i g k e i t Schranken; es weichet jedes d r ü k e n d e G e f ü h l der Sklaverei, es wird der Geist sein schöpferisches Wesen inne, das Licht der Gottheit geht mir auf, und scheucht die Nebel weit z u r ü k , in denen jene Sklaven irrend wandern. Wie ich betrachtend mich erkennen und anschaun soll, hängt nicht m e h r ab vom Schiksal o d e r Glük, noch auch davon, wie viel der f r o h e n Stunden ich geerndtet, o d e r was zu Stande gekommen ist und feststeht durch mein T h u n , und wie die äußere D a r stellung dem Willen ist gelungen: das alles ist n u r Welt, nicht ich. Es mochte das H a n d e l n , welches ich betrachte, darauf gerichtet sein, | der Menschheit ihren großen K ö r p e r zu eignen, ihn zu nähren, die O r g a n e ihm zu schärfen, oder mimisch und kunstreich ihn zu bilden zum Abd r u k der V e r n u n f t und des Gemüthes: wie ich ihn bei dem G e s c h ä f t zu meinem Dienst schon tüchtig fand, wie leicht zu bildend u n d zu beherrschend die rohe M a ß e durch des Geistes Macht, das ist ein Zeichen von der H e r r s c h a f t nur, die schon die Freiheit Aller über ihn geübt, ein Blik auf das, was noch zu thun verbleibt, und nicht ein M a a ß s t a b meines Handelns; es ändert nicht die Anschauung von meiner T h a t , das Bild von meinem ganzen Sein; mich f ü h l ich d a r u m nicht beßer und nicht schlechter, ich finde mich nicht als den Sklaven, dem die Welt, die eiserne N o t w e n d i g k e i t bezeichnet, was er sein darf. Wie dem starken gesunden Geist der Schmerz die H e r r s c h a f t über seinen Leib nicht gleich entreißet: so fühl auch ich mich frei beseelend und regierend den rohen Stoff, gleich-|viel ob Schmerz ob Freude folge. Es zeigen beide das innere Leben an, und inneres Leben ist des Geistes W e r k und freie T h a t . U n d war mein T h u n darauf gerichtet, die Menschheit in mir zu bestimmen, in irgend einer endlichen Gestalt und festen Zügen sie d a r zustellen, und so selbst werdend Welt zugleich zu bilden, indem ich der Gemeinschaft freier Geister ein eignes und freies H a n d e l n darbot: es bleibt daßelbe dem darauf gewandten Blik, ob nun unmittelbar etwas daraus entstand, das gleich mir selbst als Welt begegnet, ob mein H a n deln gleich dem H a n d e l n eines Andern sich verband, ob nicht. Mein T h u n war doch nicht leer, bin ich n u r in mir selbst bestimmter und eigener geworden, so hab ich durch mein W e r d e n auch Welt gebildet, ob nun f r ü h e r o d e r spät das H a n d e l n eines Andern anders und neu auf meines trift und sichtbare T h a t vermählend stiftet. N i m m e r kehr ich traurig von der Betrach-|tung meiner selbst zurük, und singe dem gebrochenen Willen, dem überwundenen Entschluße Klagelieder, gleich
37 spät] Kj später
12
Monologen
denen welche nicht ins Innere dringen, und nur im Einzelnen und Aeußern sich selbst zu finden wähnen. Klar wie der Unterschied des Innern und Aeußern vor mir steht, weiß ich es, wer ich bin, und finde mich selbst im innern Handeln nur, im Aeußern nur die Welt, und beides weiß der Geist zu unterscheiden, nicht ungewiß wie Jene zwischen beiden schwankend in verwirrungsvoller Dunkelheit. S o weiß ich auch, wo Freiheit ist zu suchen und ihr heiliges Gefühl, das dem sich stets verweigert, deßen Blik nur auf dem äußern T h u n und Leben der Menschen weilet. Wie sehr er sich vertiefen mag in tausend Irrgängen der Betrachtung sinnend und denkend hin und her, und alles mag erreichen: den Begrif versagt sein Denken ihm. Er folgt nicht nur dem Winke | der Nothwendigkeit: in abergläubiger Weisheit in knechtischer Demuth muß er auch sie suchen, und sie glauben, wo er sie nicht sieht, und Freiheit scheint ihm nur ein Schleier über die verborgne und unbegrifne Nothwendigkeit betrügerisch gebreitet. S o sieht der Sinnliche mit seinem äußern T h u n und äußern Denken auch Alles einzeln nur und endlich. Er kann sich selbst nicht anders faßen als einen Inbegrif von flüchtigen Erscheinungen, da immer eine die andere aufhebt und zerstört, die nicht zusammen zu begreifen sind; ein volles Bild von seinem Wesen zerfließt in tausend Widersprüchen ihm. Wol widerspricht im äußern Wirken das Einzelne dem Einzelnen, das Wirken hebt Leiden auf, das Denken zerstört Empfindung, und das Anschauen dringt unthätige Ruhe dem Willen ab. Im Innern ist alles Eins, ein jedes Handeln ist Ergänzung nur zum andern, in jedem ist das andere auch enthalten. D r u m hebt | auch weit über das Endliche, das in bestimmter Folge und festen Schranken sich übersehen läßt, die Selbstanschauung mich hinaus. Es giebt kein Handeln in mir, das ich vereinzelt recht betrachten, und keins, von dem ich sagen könnte, es sei ein Ganzes. Ein jedes T h u n stellt mir mein ganzes Wesen dar, nichts ist getheilt, und jede Thätigkeit begleitet die andere; es findet die Betrachtung keine Schranken, muß immer unvollendet bleiben, wenn sie lebendig bleiben will. Mein ganzes Wesen kann ich wieder nicht vernehmen, ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen; und die Menschheit, wer vermöchte sie zu denken, ohne sich mit dem Denken ins unermeßliche Gebiet und Wesen des reinen Geistes zu verlieren. Sie ist es also die hohe Selbstbetrachtung, und sie ist es allein, was mich in Stand sezt, die erhabene Forderung zu | erfüllen, daß der Mensch nicht sterblich nur im Reich der Zeit, auch im Gebiet der Ewigkeit unsterblich, nicht irdisch nur, auch göttlich soll sein Leben führen.
18 als] Kj als als
I. Die Reflexion
13
Es fließt mein irdisch T h u n im Strom der Zeit, es wandeln sich Erkenntniß u n d Gefühle, und ich vermag nicht eines fest zu halten; es fliegt vorbei der Schauplaz, den ich spielend mir gebildet, und auf der sichern Welle f ü h r t der Strom mich N e u e m stets entgegen: so o f t ich aber ins innere Selbst den Blik zurükwende, bin ich zugleich im Reich der Ewigkeit; ich schaue des Geistes H a n d e l n an, das keine Welt verwandeln, und keine Zeit zerstören kann, das selbst erst Welt und Zeit erschaft. Auch bedarf es nicht etwa der Stunde, die Jahre von Jahren trennt, um mich a u f z u f o r d e r n zum G e n u ß des Ewigen, und das Auge des Geistes zu weken, welches schlafen kann, wenn auch das H e r z schlägt, und die Glieder sich regen. Immer möchte das göttliche Leben | führen, wer es einmal gekostet hat: jegliches T h u n soll begleiten der Blik in die Mysterien des Geistes, jeden Augenblick kann der Mensch außer der Zeit leben, zugleich in der höheren Welt. Es sagen zwar die Weisen selbst, mäßig sollest du dich mit Einem begnügen; Leben sei Eins, und im ursprünglichen und höchsten D e n ken sich verlieren ein Anderes; indem du getragen werdest von der Zeit geschäftig in der Welt, könnest du nicht zugleich ruhig dich anschauen in deiner innersten Tiefe. Es sagen die Künstler, indem du bildest und dichtest m ü ß e die Seele ganz verloren sein in das W e r k , und d ü r f e nicht wißen was sie beginnt. Aber wage es mein Geist, t r o z der verständigen W a r n u n g ! eile entgegen deinem Ziele, das ein anderes vielleicht ist, als das ihre. M e h r kann der Mensch als er meint; aber auch dem H ö c h s t e n entgegenstrebend, erreicht er nur Einiges. K a n n das heiligste innerste Den-|ken des Weisen zugleich ein äußeres H a n d e l n sein, hinaus in die Welt z u r Mittheilung und Belehrung: w a r u m soll denn nicht äußeres H a n d e l n in der Welt, was es auch sei, zugleich sein k ö n n e n ein inneres Denken des Handelns? Ist das Schauen des Geistes in sich selbst die göttliche Quelle alles Bildens und Dichtens, u n d findet er n u r in sich, was er darstellt im unsterblichen Werk: w a r u m soll nicht bei allem Bilden und Dichten, das immer n u r ihn darstellt, er auch z u r ü k s c h a u e n in sich selbst? Theile nicht was ewig vereint ist, dein Wesen, das weder das T h u n noch das Wißen um sein T h u n entbehren mag, o h n e sich zu zerstören! Bewege Alles in der Welt, und richte aus was du vermagst; gieb dich hin dem G e f ü h l deiner angebohrnen Schranken, bearbeite jedes Mittel der geistigen Gemeinschaft; stelle dar dein E i g e n t ü m l i c h e s , und zeichne mit deinem Geist alles was dich umgiebt; arbeite an den heiligen | W e r k e n der Menschheit, ziehe an die b e f r e u n d e t e n Geister: aber immer schaue in dich selbst, wiße was du thust, und in welcher G e stalt dein H a n d e l n einhergeht. D e r Gedanke, mit dem sie die Gottheit
40-6 Vgl. Gedanken III, Nr. 33 (KGA
1/2,127,1-3)
14
Monologen
zu denken meinen, welche sie nimmer erreichen, hat doch f ü r dich die Wahrheit einer schönen Allegorie auf das was der Mensch sein soll. Durch sein bloßes Sein erhält sich der Geist die Welt, und durch Freiheit giebt er sich die Thätigkeit, die immer ein und dieselbe sein wechselndes Handeln hervorbringt: aber unverrükt schaut er zugleich jene Thätigkeit an in diesem Handeln immer neu und immer dieselbe, und dies Anschaun ist Unsterblichkeit und ewiges Leben, denn es bedarf der Geist nichts als sich selbst, und es vergeht nicht die Betrachtung dem zurükbleibenden Gegenstand, noch stirbt der Gegenstand vor der überlebenden Betrachtung. So haben sie auch gedichtet die Unsterblichkeit, die sie allzugenügsam erst nach der Zeit | suchen statt neben der Zeit, und ihre Fabeln sind weiser als sie selbst. Es erscheint ja dem sinnlichen Menschen das innere Handeln nur als ein Schatten der äußeren That, und ins Reich der Schatten haben sie die Seele auf ewig gesezt, und gemeint, daß dort unten nur ein dürftiges Bild der frühern Thätigkeit ein dunkles Leben ihr friste: aber klarer als der Olymp ist das, was der dürftige Sinn verbannte in unterirdische Finsterniß, und das Reich der Schatten sei schon hier mir das Urbild der Wirklichkeit. Jenseit der zeitlichen Welt liegt ihnen ja die Gottheit, und die Gottheit anzuschaun und zu loben haben sie den Menschen nach dem T o d e auf ewig befreit von den Schranken der Zeit: aber es schwebt schon jezt der Geist über der zeitlichen Welt, und ihn anzuschaun ist Ewigkeit und unsterblicher Gesänge himmlischer Genuß. Beginne darum schon jezt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was | kommen wird, weine nicht um das, was vergeht: aber sorge dich selbst nicht zu verlieren, und weine, wenn du dahin treibst im Strome der Zeit, ohne den Himmel in dir zu tragen.
14 f gemeint] geweint
II. Prüfungen.
Es scheuen die Menschen in sich selbst zu sehn, und knechtisch erzittern Viele, wenn sie endlich länger nicht der Frage ausweichen können, was sie gethan, was sie geworden, wer sie sind. Aengstlich ist ihnen das Geschäft, und ungewiß der Ausgang. Sie meinen leichter könne ein Mensch den andern kennen, als sich selbst; sie glauben mit würdiger Bescheidenheit zu handeln, wenn sie nach der strengsten Untersuchung sich noch den Irrthum in der Rechnung vorbehalten. Doch ist es nur der Wille, der den Menschen vor sich selbst verbirgt; das Urtheil kann nicht irren, wenn er anders | den Blik nur wirklich auf sich wendet. Aber das ist es, was sie weder können noch mögen. Es halten das Leben und die Welt sie ganz gebunden, und absichtlich das Auge beschränket, um ja nichts anders wahrzunehmen, erbliken sie in ihnen nur den losen gauklerischen Widerschein von sich. Den Andern kann ich nur aus seinen Thaten kennen, denn ich schaue sein inneres Handeln niemals an. Was eigentlich er wollte kann ich unmittelbar nie wißen; nur die T h a ten vergleich ich unter sich, und schließe daraus unsicher zurük, worauf die Handlung wol in ihm gerichtet war, und welcher Geist ihn trieb. Ο Schande wer sich selbst nur wie der Fremde den Fremden betrachtet! wer von seinem innern Handeln nichts weiß, und W u n d e r wie klug sich dünket, indem er nur den lezten aufs äußere T h u n gerichteten Entschluß belauschet, mit dem Gefühl das ihn begleitet, mit dem Begrif, der ihm unmittelbar voranging, ihn zu-|sammenstellt! Wie will er je den Andern oder sich erkennen? was kann die schwankende Vermuthung leiten, beim Schluß vom Aeußern auf das Innere, dem der auf keinen entschiedenen Fall auf nichts unmittelbar Gewißes baut? Das sichere Vorgefühl des Irrthums erzeugt die Bangigkeit; die dunkele Ahndung, daß er selbstverschuldet sei, beengt das Herz; und unstät schweifen die
27-10 Vgl. Gedanken III, Nr.32 (KGA
1/2,126,17ß
16
Monologen
Gedanken aus Furcht vor jenem kleinen Antheil des Selbstbewußtseins, den sie herabgewürdigt zum Zuchtmeister bei sich tragen, und ungern öfters hören müßen. Wol haben sie Ursach zu besorgen, wenn sie redlich das innere Thun, das ihrem Leben zum Grunde lag erforschten, sie möchten o f t die Menschheit nicht darin erkennen, und das Gewißen, dieses Bewußtsein der Menschheit schwer verlezet sehn: denn wer sein leztes Handeln nicht betrachtet hat, kann auch nicht Bürgschaft | leisten, ob er beim nächsten noch bedenkt, daß er ihr angehöre, und ihrer werth sich zeiget. Den Faden des Selbstbewußtseins hat er einmal zerrißen, hat sich einmal nur der Vorstellung und dem Gefühl ergeben, das er mit dem Thiere theilt: wie kann er wißen, ob er nicht in plumpe Thierheit ist hinabgestürzt? Die Menschheit in sich zu betrachten, und, wenn man einmal sie gefunden, nie den Blik von ihr zu verwenden, ist das einzige sichere Mittel, von ihrem heiigen Boden nie sich zu verirren. Dies ist die innige und nothwendige, nur Thoren und Menschen trägen Sinnes unerklärte und geheimnißvolle Verbindung zwischen T h u n und Schauen. Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein läßt kein anderes als der Menschheit würdiges Handeln zu. Wer sich zu dieser Klarheit nie erheben kann, den treibt vergeblich dunkle Ahndung nur | umher; vergebens wird er erzogen und gewöhnt, und sinnt sich tausend Künsteleien aus, und faßt Entschlüße um sich gewaltsam in die Menschheit wieder hinein zu drängen: es öfnen sich die heiigen Schranken nicht, er bleibt auf ungeweihtem Boden, und kann nicht der gereizten Gottheit Verfolgungen entgehen, und dem schmähligen Gefühle der Verbannung aus dem Vaterlande. Eitler T a n d ists immer und leeres Beginnen, im Reich der Freiheit Regeln geben und Versuche machen. Ein einziger freier Entschluß gehört dazu ein Mensch zu sein: wer den einmal gefaßt, wirds immer bleiben; wer aufhört es zu sein, ists nie gewesen. Mit stolzer Freude denk ich noch der Zeit, da ich die Menschheit fand, und wußte, daß ich nie mehr sie verlieren würde. Von innen kam die hohe O f f e n b a r u n g durch keine Tugendlehren und kein System der
16 Dies] Dis
16 f Vgl. Lk 24,25 31-3 Anspielung vermutlich auf Schleiermachers Ablösung von seiner Hermhutischen Erziehung, die er mit seiner Übersiedlung von Barby an die Hallenser Friedrichs· Universität im April 1787 manifest abschloß und die er hier wie ein pietistisches Bekehrungserlebnis stilisiert. Vgl. auch die Schilderung dieses Prozesses in Schleiermachers Briefen „An Cecilie" (besonders KGA 1/1,199,21-209,15) und in seiner Selbstbiographie (Briefe l,10ß.
II.
Prüfungen
17
Weisen hervorgebracht: das lange | Suchen, dem nicht dies nicht jene genügen wollten, krönte ein heller Augenblick; es löste die dunkeln Zweifel die Freiheit durch die That. Ich darf es sagen, daß ich nie seitdem mich selbst verlaßen. Was sie Gewißen nennen, kenne ich nicht mehr; es straft mich kein Gefühl, es braucht mich keines zu mahnen. Auch streb ich nicht seitdem nach der und jener Tugend, und freue mich besonders dieser oder jener Handlung, wie Jene, denen nur im flüchtigen Leben einzeln und bisweilen ein zweifelhaftes Zeugniß der Vernunft erscheint. In stiller Ruhe, in wechselloser Einfalt f ü h r ich ununterbrochen das Bewußtsein der ganzen Menschheit in mir. Gern und leichtes Herzens seh ich o f t mein Handeln im Zusammenhang, und sicher, daß ich nirgend etwas, was die Menschheit verläugnen müßte, finden werde. Wenn dies das Einzige wäre, was ich von mir fordere: wie lange könnt ich mich zur Ruhe | begeben, und vollendet das Ende suchen! Denn unerschüttert fest steht die Gewißheit, und strafwürdige Feigheit, die mein Sinn nicht kennt, scheint mirs, wenn ich von langer Lebenszeit erst vollere Bestätigung erwarten, und bange zweifeln wollte, ob nicht doch etwas sich ereignen könnte, was im Stande wäre mich hinabzustürzen von der H ö h e der Vernunft zur Thierheit. Aber Zweifel sind auch mir noch mitgegeben: es ist ein anderes und höheres Ziel mir aufgegangen, als jenes erreicht war, und bald stärker bald schwächer es im Auge habend weiß nicht immer die Selbstbetrachtung, auf welchem Wege ich mich ihm nähere, und auf welchem Punkte ich stehe, und schwankt im Urtheil. Doch wird es sicherer und bestätigt sich mehr, je öfter ich wiederkehre zur alten Untersuchung. Wär aber auch Gewißheit mir noch so fern, ich wollte doch nur schweigend suchen und nicht klagen: denn stärker als der Zweifel ist die Freude, | gefunden zu haben, was ich suchen soll, und dem gemeinen Wahn entronnen zu sein, der viele der Beßeren zeitlebens täuscht, und sie verhindert, zur rechten H ö h e der Menschheit sich empor zu schwingen. Lange genügte es auch mir nur die Vernunft gefunden zu haben, und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste anbetend, glaubte ich es gebe nur Ein Rechtes f ü r jeden Fall, es müße das Handeln in Allen daßelbe sein, und nur weil Jedem seine eigne Lage, sein eigner O r t gegeben sei, unterscheide sich Einer vom Andern. N u r in der Mannigfaltigkeit der äußern Thaten offenbare sich verschieden die Menschheit; der Mensch, der Einzelne sei nicht ein eigenthümlich gebildet Wesen, sondern nur ein Element und überall derselbe.
30-38 Anspielung auf die besonders durch die Kantische Philosophie bestimmte Schleiermachers
Lebensphase
18
Monologen
So treibts der M e n s c h ! w e n n er die u n w ü r d i g e Einzelheit des sinnlichen thierischen Lebens v e r s c h m ä h e n d das Bewußtsein d e r allgemein e n M e n s c h h e i t gewinnt, u n d v o r | d e r Pflicht sich niederwirft, v e r m a g er nicht sogleich auch zu der h ö h e r n Eigenheit der Bildung und der 5 Sittlichkeit e m p o r z u d r i n g e n , u n d die N a t u r , die sich die Freiheit selbst erwählt, zu schauen u n d zu verstehn. In unbestimmter Mitte schweb e n d e r h a l t e n sich die M e i s t e n , u n d stellen wirklich n u r im r o h e n Elem e n t d i e M e n s c h h e i t d a r , b l o ß w e i l sie d e n G e d a n k e n d e s e i g n e n h ö hern Daseins nicht gefaßt. M i c h hat er ergriffen. Es beruhigte mich 10 n i c h t d a s G e f ü h l d e r F r e i h e i t a l l e i n ; u n n ü z s c h i e n m i r d i e P e r s ö n l i c h k e i t u n d d i e E i n h e i t d e s f l i e ß e n d e n v e r g ä n g l i c h e n B e w u ß t s e i n s in m i r , u n d d r ä n g t e mich etwas H ö h e r e s Sittliches zu suchen, d e ß e n B e d e u t u n g sie w ä r e . E s g e n ü g t e m i r n i c h t , d i e M e n s c h h e i t in u n g e b i l d e t e n r o h e n M a ß e n a n z u s c h a u n , w e l c h e innerlich sich völlig gleich, n u r ä u ß e r 15 l i e h d u r c h R e i b u n g u n d B e r ü h r u n g v o r ü b e r g e h e n d e f l ü c h t i g e P h ä n o mene bilden.
20
25
30
35
S o i s t m i r a u f g e g a n g e n , w a s j e z t | m e i n e h ö c h s t e A n s c h a u u n g ist, es ist m i r k l a r g e w o r d e n , d a ß j e d e r M e n s c h a u f e i g n e A r t d i e M e n s c h h e i t d a r s t e l l e n soll, in e i n e r e i g n e n M i s c h u n g i h r e r E l e m e n t e , d a m i t auf j e d e W e i s e sie sich o f f e n b a r e , u n d w i r k l i c h w e r d e in d e r F ü l l e d e r U n e n d lichkeit Alles was aus ihrem S c h o o ß e h e r v o r g e h e n k a n n . D e r G e d a n k e allein h a t m i c h e m p o r g e h o b e n u n d g e s o n d e r t v o n d e m G e m e i n e n u n d Ungebildeten das mich umgiebt, zu einem W e r k der Gottheit, das einer b e s o n d e r n G e s t a l t u n d B i l d u n g sich z u e r f r e u e n hat; u n d die freie T h a t , die i h n b e g l e i t e t e , h a t u m sich v e r s a m m e l t u n d i n n i g v e r b u n d e n z u einem eigenthümlichen Dasein die Elemente der menschlichen N a t u r . H ä t t ich s e i t d e m d a s E i g e n e in m e i n e m T h u n a u c h s o u n a u s g e s e z t b e trachtet, w i e ich d a s M e n s c h l i c h e d r i n i m m e r a n g e s c h a u t ; w ä r ich j e d e s H a n d e l n s u n d B e s c h r ä n k e n s , d a s F o l g e ist v o n j e n e r f r e i e n T h a t , m i r eigens b e w u ß t g e w o r d e n , u n d | h ä t t ich u n v e r r ü k t d e r w e i t e r n Bildung u n d j e d e r A e u ß e r u n g d e r N a t u r r e c h t z u g e s e h e n : s o k ö n n t ich a u c h darüber keinen Zweifel tragen, welches Gebiet der Menschheit mir angehört, u n d w o von meiner Ausdehnung und meinen Schranken der gem e i n s c h a f t l i c h e G r u n d z u s u c h e n ist; d e n g a n z e n I n h a l t m e i n e s W e s e n s m ü ß t ich g e n a u e r m e ß e n , auf allen P u n k t e n m e i n e G r e n z e n k e n n e n , u n d p r o p h e t i s c h w i ß e n , w a s ich n o c h sein u n d w e r d e n k a n n . Allein n u r schwer u n d spät gelangt d e r M e n s c h z u m vollen Bewußtsein seiner Eig e n t h ü m l i c h k e i t ; n i c h t i m m e r w a g t ers d r a u f h i n z u s e h n , u n d r i c h t e t lieber das A u g e auf den Gemeinbesiz der Menschheit, d e n er so liebend
5f Vgl. unten 42,12-16 KGA 1/1,573,33-574,28 1/2,229,29-230,12)
13-16 Vgl. Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems, 17-21 Vgl. Über die Religion, Berlin 1799, S.92f(KGA
II. Prüfungen
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und so dankbar fest hält; er zweifelt oft, ob er sich als ein eignes Wesen wieder aus ihm ausscheiden soll, aus Furcht zurükzusinken in die alte strafwürdige Beschränktheit auf den engen Kreis der äußeren Persönlichkeit, das Sinnliche | verwechselnd mit dem Geistigen, und spät erst lernt er recht das höchste Vorrecht schäzen und gebrauchen. So muß das unterbrochene Bewußtsein lange schwankend bleiben; das eigenste Bestreben der Natur wird oftmals nicht bemerkt, und wenn am deutlichsten sich ihre Schranken offenbaren, gleitet an der scharfen Eke das Auge allzuleicht vorbei, und hält da nur das Allgemeine fest, wo eben in der Verneinung sich das Eigne zeigt. Zufrieden darf ich damit sein, wie schon der Wille die Trägheit hat gezähmt, und wie die Uebung den Blik geschärft, dem wenig mehr entgeht. W o ich jezt, was es sei, nach meinem Geist und Sinne handle, da stellt die Fantasie zum deutlichsten Beweise der freien Wahl noch tausend Arten vor, wie ohne der Menschheit Geseze zu verlezen anders gehandelt werden könnte, in anderm Geist und Sinn; ich denke mich in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigne zu erbliken. | Doch weil noch nicht vollendet das Bild in allen Zügen vor mir steht, und weil noch nicht der immer ununterbrochene Zusammenhang des hellen Selbstbewußtseins mir seine Wahrheit bürgt, darf auch noch nicht in immer gleicher und ruhiger Haltung die Selbstbetrachtung gehn, absichtlich muß sie öfter sich das ganze T h u n und Streben und die Geschichte meines Selbst vergegenwärtigen, darf der Freunde Meinung, die ich gern ins Innere schauen ließ, nicht überhören, wenn ihre Stimme von dem eignen Urteil abweicht. Zwar schein ich mir derselbe noch zu sein, der ich gewesen, als mein beßeres Leben anfing, nur fester und bestimmter. Wie sollt auch wohl der Mensch, nachdem er einmal zum unabhängigen und eigenen Dasein gelangt ist, mitten im Werden und sich Bilden plözlich eine andere N a t u r annehmen, eine andere Seite der Menschheit ergreifen, ohne die erste zur höchsten Vollkommenheit gebracht zu haben? | wie sollt ers wollen können? wie sollt es ihm begegnen, ohne daß ers wüßte? Entweder hab ich nie mich selbst verstanden, oder ich bin noch jezt der ich zu sein geglaubt, und jeder scheinbare Widerspruch muß mir, wenn die Betrachtung ihn gelöst, nur um so sicherer zeigen, wo und wie die lezten Enden meines Wesens verborgen und verbunden sind. Noch immer scheint der zwiefache Beruf der Menschen auf der Erde, mir die große Trennungslinie der verschiedenen Naturen anzu15 k ö n n t e ] k o n n t e 23 f Anspielung auf den Frühromantikerkreis Spätsommer 1797 eintrat.
um Friedrich Schlegel, in den Schleiermacher
im
Monologen
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deuten. Zu sehr ists zweierlei die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie darzustellen, oder sie kunstreiche Werke verfertigend äußerlich so abzubilden, daß jeder erbliken muß, was einer zeigen wollte. N u r wer noch auf dem niedrigsten Gebiet im Vorhof der Eigenheit sich aufhält, und sich aus Furcht vor der Beschränkung nicht fest bestimmen will, kann beides vereinen wollen, um in | beidem Weniges zu leisten: wer Eines wirklich erreichen will, der muß das Andere sich versagen, erst am Ende der Laufbahn giebts einen Uebergang, nur der Vollkommenheit zugänglich, die selten der Mensch erreicht. Wie könnte mirs zweifelhaft erscheinen, welchen von beiden ich gewählt? so ganz entschieden vermied ich das zu suchen, was den Künstler macht, so sehnsuchtsvoll ergriff ich Alles, was der eigenen Bildung frommt, und ihre Bestimmung beschleunigt und befestigt. Es jagt der Künstler Allem nach, was Zeichen und Symbol der Menschheit werden kann; er wühlt den Schatz der Sprachen durch, das Chaos der T ö n e bildet er zur Welt; er sucht geheimen Sinn und Harmonie im schönen Farbenspiele der Natur; in jedem Werk das ihm sich darstellt, ergründet er den Eindruk aller Theile, des Ganzen Zusammensezung und Gesez, und freuet sich des kunstreichen Gefäßes mehr als des köstlichen Ge-|haltes, den es darbeut. Dann bilden sich neue Gedanken zu neuen Werken in ihm, sie nähren heimlich sich im Gemüth und wachsen in stiller Verborgenheit gepflegt. Es rastet nimmer der Fleiß, es wechselt Entwurf und Ausführung, es beßert immer allmählig die Uebung unermüdet, das reifere Urtheil zügelt und bändigt die Fantasie: so geht die bildende Natur entgegen dem Ziele der Vollkommenheit. Mir aber hat dies Alles nur der Sinn erspäht, denn meinen Gedanken ist es fremd. Aus jedem Kunstwerk strahlet mir die Menschheit, die drinn abgebildet, weit heller hervor als des Bildners Kunst; nur mit Mühe ergreif ich diese in späterer Betrachtung, und erkenne ein wenig nur von ihrem Wesen. Ich lasse frei die freie Natur, und wie sie ihre schönen bedeutungsvollen Zeichen mir darbeut, weken sie Empfindung in mir und Gedanken, ohne daß es mich gewaltsam drängte sie anders und bestimmter zu eignem | Werke zu gestalten. Ich strebe nicht bis zur Vollendung den Stoff zu zwingen, dem ich meinen Sinn eindrüke; drum scheue ich Uebung, und wenn ich einmal in Handlung dargestellt, was in mir wohnt, liegt mirs nicht an, daß etwas schöner immer und faßlicher die T h a t sich o f t erneue. Die freie Muße ist meine liebe Göttin, da lernt der Mensch sich selbst begreifen und bestimmen, da gründet der Gedanke seine Macht, und herrscht dann leicht über Alles,
11 f Vgl. Über die Religion
166,f (KGA
1/2,262,2-12)
II.
Prüfungen
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wenn die Welt auch Thaten von ihm fordert. D r u m darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bilden; es troknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüths, es stoket der Gedanken L a u f ; ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern zu schauen, was es für Menschheit gieht, und was davon mir fremde bleibt, was mein eigen werden kann, und immer fester durch Geben und E m p f a n g e n das eigne Wesen zu bestimmen. | D e r ungestillte Durst es weiter stets zu bilden 48 verstattet nicht der That, der Mittheilung des Innern auch äußere Vollendung zu geben; ich stelle die Handlung und die R e d e hin in die Welt, es kümmert mich nicht, ob auch die Schauenden mit ihrem Sinn durchdringen durch die rauhe Schale, ob sie den innersten Gedanken, den eignen Geist auch in der unvollkommnern Darstellung glüklich finden. Mir bleibet nicht die Zeit, nicht Lust zu fragen; fort muß ich von der Stelle da ich stand, durch neues Thun und Denken im kurzen Leben noch das eigne Wesen, wenn es möglich, zu vollenden. Schon zweimal zu wiederholen haß ich, ein unkünstlerisch Gemüth. D r u m mag ich alles gern in Gemeinschaft treiben: beim innern Denken, beim Anschaun, beim Aneignen des Fremden bedarf ich irgend eines geliebten Wesens Gegenwart, daß gleich an die innere T h a t sich reihe die Mittheilung, und durch die süße und leichte | G a b e der Freundschaft ich 49 mich leicht abfinde mit der Welt. S o war es, so ist es, und noch bin ich so fern von meinem Ziele, daß ichs verrechne jemals hinüber zu k o m men. Wohl hab ich Recht, was auch die Freunde sagen, mich auszuschließen aus dem heiligen Gebiet der Künstler. Gern s a g ich Allem ab, was sie mir liehen, wenn ich nur in dem Felde, wo ich mich hingestellt, mich weniger unvollendet finde als sie wähnen. Oefne dich mir noch einmal, Anschauung des weiten Gebietes der Menschheit, das die bewohnen, die nur sich selbst zu bilden, und ohne bleibend Werk hervorzubringen, in wechselreichem T h u n sich darzustellen streben! O e f n e dich noch einmal, und laß mich schauen ob mir ein eigner Platz gebührt, ob nicht; ob in mir ist was sich zusammenreimet, oder ob ein innerer Widerspruch verhindert, daß das Bild sich schließe, und bald als ein verunglükter | Entwurf mein eignes Wesen 50 statt die Vollendung zu erreichen sich auflöst in ein leeres Nichts. Ο nein, ich darf nicht fürchten, es erhebt sich kein trauriges Gefühl im Innern des Bewußtseins! ich erkenne wie Alles ineinander greift ein wahres Ganzes zu bilden, ich fühle keinen fremden Bestandtheil der mich drükt, es fehlt mir kein Organ, kein edles Glied zum eignen Leben. Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist. Auch hier im Gebiet der höchsten Sitt-
33 50] im OD teilweise 0
34 Vollendung] Vol-/lendung
22
Monologen
lichkeit regiert dieselbe genaue Verbindung zwischen T h u n und Schauen. N u r wenn der Mensch im gegenwärtgen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit | erhalten: denn nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt. Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn. Und dieser, wie könnt er wol bestehen ohne Liebe? Es müßte das furchtbare Mißverhältniß zwischen Geben und Empfangen bald das Gemüth im ersten Versuch sich so zu bilden zerrütten, und weit hinaus es treiben aus der Bahn, und den, der so ein eignes Wesen werden wollte, ganz zertrümmern, oder zur Gemeinheit ihn herunterstürzen. Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müßt alles in gleichförmige rohe Maße zerfließen! Die weiter nichts zu sein begehren, bedürfen deiner nicht; ihnen genügt Gesez und Pflicht, gleichförmig Handeln und Gerechtigkeit. Ein unbrauchbares Kleinod war ihnen das heilige Gefühl: drum laßen sie auch das Wenige, was ihnen da-|von gegeben ist, nur ungebaut verwildern; und das Heilige verkennend, werfen sie es sorglos mit ein in das gemeine Gut der Menschheit, das nach Einem Gesez verwaltet werden soll. Uns aber bist du das Erste wie das Lezte: Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort. Vereint fühl ich in mir die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit! Ich habe Sinn und Liebe zu eigen mir gemacht, und immer höher steigen beide noch, zum sichern Zeugniß, daß frisch und gesund das Leben sei, und daß noch fester die eigne Bildung werde. Was ists, w o f ü r mein Sinn verschloßen wäre? Die welche Jeden gern zum Virtuosen und Künstler in der Wißenschaft erheben möchten, klagen genug, daß keine Beschränkung von mir zu gewinnen sei, daß jede H o f n u n g trüge, wenn es einmal scheint, als wollt ich alles Ernstes mich zu etwas | begeben: denn wenn ich eine Ansicht mir errungen, so eile nach gewohnter Weise der flüchtige Geist bald wieder zu andern Gegenständen fort. Ο möchten sie doch einmal mich in Ruhe laßen und begreifen, daß nicht anders meine Bestimmung ist, daß ich die Wißenschaft nicht bilden darf, weil ich mich selbst zu bilden gesonnen bin! Vergönnten sie mir doch den Sinn f ü r Alles, was sie geschäftig thun und treiben, mir offen zu erhalten, und möchten sie, was durch das Anschaun ihres T h u n s ich in mir bilde, doch auch f ü r etwas achten, das ih-
1 6 - 1 8 Polemische Abgrenzung
gegen Kant und Fichte
22 f Anspielung
auf Apk 1,17
II.
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rer Mühe werth gewesen sei. Sie zeugen durch ihre Klagen f ü r mich: aber ihnen entgegen klagen Andere, die zwar verschiedener Natur, doch gleich mir in die Mitte der Menschheit einzudringen streben, es sei im Grunde beschränkt mein Sinn; ich vermocht es über mich gleichgültig vor vielem Heiligen vorüberzugehen, und durch eitle Streitsucht den unbefangenen tiefen | Blik mir zu verderben. Ja ich gehe vor Vielem noch vorüber; aber nicht gleichgültig; ich streite, ja: doch nur um unbefangen den Blik mir zu erhalten. So und nicht anders muß ich thun nach meiner Art, bestrebt gleichförmig mir den Sinn zu füllen und zu erweitern. W o sich mir das Gefühl von etwas, das im Gebiet der Menschheit mir noch unbekannt ist, aufdringt, da ist mein Erstes zu streiten, nicht ob es sei, nur daß es nicht das, und das allein sei, w o f ü r es der mir giebt, an dem ich es zuerst erblikte. Es fürchtet der spät erwachte Geist, erinnernd wie lange er fremdes Joch getragen, immer wieder aufs neue die Herrschaft fremder Meinung; und wo ein neuer Gegenstand ihm neues Leben zeigt, da rüstet er sich erst, die Waffen in der Hand, sich Freiheit zu erringen, um nicht in der Erziehung Sklaverei ein jedes wieder, wie das Erste, anzuheben. H a b ich die eigne Ansicht nur gewonnen, so ist die | Zeit des Streits vorüber, ich laße gern jede neben der meinigen bestehn, und der Sinn vollendet friedlich das Geschäft sich jede zu deuten, und in ihren Standpunkt einzudringen. So ist, was o f t Beschränkung des Sinnes scheinen könnte, in mir nur seine erste Regung. O f t hat sie freilich sich äußern müßen, in dieser schönen Periode des Lebens, wo so vieles Neue mich berührt, wo manches mir im hellen Lichte erschien, was ich bisher nur dunkel geahndet, w o f ü r ich nur den Raum mir leer gelaßen hatte! O f t hat sie feindlich die berühren müßen, die mir der neueri Einsicht Quelle waren. Gelaßen habe ich es angesehn, vertrauend, daß sie es verstehen würden, wenn auch in mich ihr Sinn erst tiefer dränge. So haben mich auch o f t die Freunde nicht verstanden, wenn ich nicht streitend aber untheilnehmend ruhig vor dem vorüberging, was sie mit Wärme und frischem Ei-|fer rasch umfaßten. Nicht Alles kann auf einmal der Sinn ergreifen, vergeblich ists in einer einzigen Handlung sein Geschäft vollenden wollen; unendlich geht es in zwiefacher Richtung immer fort, und Jeder muß seine Weise haben, wie er beides vereint, um so das Ganze zu vollbringen. Mir ists versagt, wenn etwas Neues das Gemüth berührt, mit
14 Anspielung auf Schleiermachers Herrnhutische Erziehung 22-25,32 Schleiermacher geht hier vermutlich auf die Verstimmung ein, die im Frühjahr 1799 sein Verhältnis zu Friedrich Schlegel zeitweise trübte (vgl. Briefe 3,113), als dieser Schleiermachers Kritik gegen die Konzeption des Schlegelschen Romans „Lucinde" (Berlin 1799) brüsk abschnitt und durch seine beiden im Roman unmotiviert wirkenden Briefe „Julius an Antonio" (vgl. F. Schlegel: Lucinde 272-285; KA 5,74- 78) öffentlich zurückwies.
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heftgem Feuer gleich ins Innerste der Sache zu dringen, und bis zur Vollendung sie zu kennen. Ein solches Verfahren ziemt der Gleichmuth nicht, die zu der Harmonie von meinem Wesen der Grundton ist. Heraus aus meines Lebens Mitte würde es mich werfen, so mir etwas zu vereinzeln, und in dem Einen mich vertiefend würd ich das Andre mir entfremden, ohne Jenes doch als mein wahres Eigenthum zu haben. Niederlegen muß ich erst jede neue Erwerbung im Innern des Gemüths, und dann das gewohnte Spiel des Lebens mit seinem mannigfaltigen Thun | forttreiben, daß sich mit dem Alten das Neue erst mische, und Berührungspunkte gewinne mit Allem was schon in mir war. Nur so gelingt es mir durch Handeln mir eine tiefere und innigere Anschauung zu bereiten; es muß der Wechsel zwischen Betrachtung und Gebrauch gar oft sich wiederholen, ehe ich etwas ganz durchdrungen und ergründet zu haben mich erfreuen mag. So und nicht anders darf ich zu Werke gehn, wenn nicht mein inneres Wesen verlezt soll werden, weil in mir Selbstbildung und Thätigkeit des Sinnes in jeglichem Momente das Gleichgewicht sich halten müßen. So schreit ich denn langsam fort, und langes Leben kann mir gewährt sein, ehe ich Alles in gleichem Grad umfaßt: doch alles was ich umfaßt wird meinen Stempel tragen, und wieviel vom unendlichen Gebiet der Menschheit meine Sinne ergriffen hat, das wird in gleichem Maaß | auch in mir eigen gebildet und in mein Wesen übergegangen sein. Ο wie viel reicher ist es geworden! welches schöne Bewußtsein des innern Werthes, welch erhöhetes Gefühl des eignen Lebens und Daseins krönt mir die Selbstbetrachtung beim Blik auf den Gewinn so vieler guten Tage! Nicht war vergebens die stille Thätigkeit, die ungeschäftig müßges Leben von außen scheint: schön hat sie das innere Werk der Bildung gefördert. Es wäre nicht so weit gediehen bei verkehrtem Handeln und Treiben, das der eignen Natur nicht angemeßen, noch minder bei beschränktem Sinn. Ο Jammer, daß des Menschen inneres Wesen so mißkannt werden kann, von denen selbst, die wohl es überall zu kennen vermöchten und verdienten! daß doch auch ihrer so viele mit dem äußern Thun das innere Handeln verwechseln, dies wie jenes im Einzelnen aus abgerißenen Stüken zu erkennen meinen, und | wo Alles übereinstimmt Widersprüche ahnden! Ist denn der eigne Charakter meines Wesens so schwer zu finden? Versagt mir diese Schwierigkeit auf immer den liebsten Wunsch meines Herzens sich allen Würdigen mehr und mehr zu offenbaren? Ja, auch jezt, indem ich tief in mein Inneres schaue, bestätigt sich aufs neue mir, daß dies der Trieb sei der am stärksten mich bewegt. So ists, wie oft mir auch gesagt wird, ich 40-2 Vgl. Gedanken 146,1-148,17)
II, Nr. 3 (KGA 1/2,107,16f)
und Fragmente,
Nr. 336
(KGA 1/2,
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sei verschloßen und stoße der Lieb und Freundschaft heiiges Anerbieten oft kalt zurük. Wohl dünkt michs niemals nöthig von dem was ich gethan, was mir geschehen ist, zu reden; zu unbedeutend acht ich Alles, was an mir Welt ist, als daß ich den damit verweilen sollte, den ich das Innere gern erkennen ließe. Auch red' ich davon nicht, was nur noch dunkel und ungebildet in mir liegt, und noch der Klarheit mangelt, die es erst zum Meinigen macht. Wie sollt ich eben das dem Freund | entgegen tragen, was mir noch nicht gehört? warum ihm dadurch, was ich schon wirklich bin, verbergen? wie sollt ich h o f f e n ohne Mißverstand das mitzutheilen, was ich selbst noch nicht verstehe? Das ist nicht Verschloßenheit und Mangel an Liebe: es ist nur heilige Ehrfurcht, ohne welche die Liebe nichts ist; es ist zarte Sorgfalt das Höchste nicht zu entweihn noch unnüz zu verstriken. So bald ich etwas Neues mir angeeignet, an Bildung und Selbstständigkeit hie oder dort gewonnen, eile ich nicht in Wort und T h a t dem Freund es zu verkünden, daß er die Freude mit mir theile, und meines innern Lebens Wachsthum wahrnehmend selbst gewinne? Wie mich selbst lieb ich den Freund: sobald ich etwas f ü r mein erkenne, gebe ichs ihm hin. So nehm ich freilich auch an dem, was er thut und was ihm geschieht, nicht immer so großen Antheil, als die meisten die sich Freunde nennen. Sein äußeres Handeln, | wenn ich das Innere, aus dem es herfließt schon verstehe, und weiß daß es so sein muß, weil er so ist wie er ist, läßt mich so unbesorgt und ruhig. Es giebt meiner Liebe weder N a h r u n g noch Aufforderung, hat nichts mit ihr zu schaffen. Der Welt gehörts und unter der N o t w e n digkeit Geseze muß es sich fügen mit Allem was draus folgt; und was nun folget, was dem Freund geschiehet, er wird es schon mit Freiheit seiner würdig zu behandeln wißen; das Andere kümmert mich nichts, ich sehe ruhig seinem Schicksal wie dem meinen zu. Wer achtet das f ü r kalte Gleichgültigkeit? Es ist das helle Bewußtsein des Gegensazes zwischen Welt und Mensch, der Grund, worauf die Achtung gegen mich und das Gefühl der Freiheit ruht: soll ich dem Freund es weniger weihen als mir? Das ist es, deßen ich mich höchlich rühme, daß Lieb und Freundschaft immer so edlen Ursprungs in mir sind, mit keiner | gemeinen Empfindung je gemischt, nie der Gewohnheit, nie des weichen Sinnes Werk, immer der Freiheit reinste That, und auf das eigne Sein des M e n schen allein gerichtet. Verschloßen war ich immer jenen gemeinen Gefühlen: nie hat mir Wohlthat Freundschaft abgelokt, nie Schönheit Liebe, nie hat das Mitleid mich so befangen, daß es dem Unglük Verdienst geliehen, und den Leidenden mir anders und beßer dargestellt. So war f ü r wahre Liebe und Freundschaft freier Raum gelaßen dem Gemüth, und nimmer weicht die Sehnsucht ihn vollkommener stets und mannigfaltiger auszufüllen. W o ich Anlage merke zur Eigenthümlich-
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keit, weil Sinn und Liebe die hohen Bürgen da sind, da ist auch für mich ein Gegenstand der Liebe. Jedes eigne Wesen möcht ich mit Liebe umfaßen von der unbefangenen Jugend an in der die Freiheit keimet, bis zur reifsten Vollendung der Menschheit; jedes das ich so | erblike begrüß ich in mir mit der Liebe Gruß, wenn auch die That nur angedeutet bleibt, weil mehr nicht als ein flüchtiges Begegnen uns vergönnet wird. Auch meß ich nie nach irgend einem weltlichen Maaßstab, nach der äußern Ansicht des Menschen ihm Freundschaft zu. Es überflieget Welt und Zeit der Blik, und sucht die innere Größe des Menschen auf. Ob schon jezt sein Sinn viel oder wenig hat umfaßt, wie weit er in der eignen Bildung fortgerükt, wie viel er Werke gebildet oder sonst gethan, das darf mich nicht bestimmen, und leicht kann ich mich trösten, wenn es fehlt. Sein eigenthümlich Sein und das Verhältniß deßelben zur Menschheit, ist es, was ich suche: so viel ich jenes finde und dieses verstehe, so viel Liebe hab ich für ihn; allein so viel er mich versteht kann ich ihm freilich nur beweisen. Ach oft ist sie mir unbegriffen zurükgekehrt! des Herzens Sprache wurde nicht vernommen gleich als wär ich stumm | geblieben, und Jene meinten auch ich wäre stumm. In nahen Bahnen wandeln oft die Menschen, und kommen doch nicht einer in des andern Nähe; vergebens ruft der Ahndungsreiche und den nach freundlicher Begegnung verlangt: es horcht der Andere nicht. Oft kommen die Entgegengesetzten einander nah; es meint der Eine wohl es sei für immer, doch ists nur ein Moment; es reißt entgegengesezte Bewegung sie zurük, und keiner begreift wo ihm der Andere hingekommen. So ist es meiner Sehnsucht nach Liebe oft ergangen; wär es schmählig nicht, wenn sie nicht endlich sich gebildet hätte, die allzuleichte Hofnung geflohen wäre, und ahndungsreiche Weisheit eingekehrt? „So viel wird Der von dir verstehn, und Jener jenes; mit dieser Liebe magst du Den umfaßen, halte sie gegen Jenen doch zurük:" so ruft mir Mäßigung oft zu, und oft vergebens. Es läßt der | innere Drang des Herzens nicht der Klugheit Raum; viel weniger, daß die stolze Anmaßung ich hegte, den Menschen und ihrem Sinn für mich und meine Liebe Schranken zu sezen. Mehr seze ich immer voraus, versuche stets aufs neue, und werde der Habsucht gleich gestraft, oft im Versuch verlierend was ich hatte. Doch es kann nicht anders dem Menschen der sich eigen bildet ergehn, und daß es so mir geht ist nur der sicherste Beweis, daß ich mich eigen bilde. Nur ein solcher vereinigt in sich auf eigne Art verschiedene Elemente der Menschheit; mehr als Einer Welt gehört er an: wie könnte er in gleichförmiger Bahn mit einem Andern wandelnd, der auch ein Eigner ist, in seiner Nähe immer bleiben? Ko-
4 V o l l e n d u n g ] Vol-/lendung
II.
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meten gleich verbindet der Gebildete gar viele Weltsysteme, bewegt um manche Sonne sich. Jezt erblikt ihn freudig ein Gestirn, es strebt ihn zu erkennen und freundlich beugt er nähernd sich heran; dann siehts | ihn wieder in fernen Räumen, verändert scheint ihm die Gestalt, es zweifelt, ob er noch derselbe sei. Er aber kehret wieder im raschen Lauf, begegnet ihm wieder mit Lieb und Freundschaft. W o ist das schöne Ideal vollkommener Vereinigung? die Freundschaft, die gleich vollendet auf beiden Seiten ist? N u r wenn in gleichem Maaße Beiden Sinn und Liebe fast über alles M a a ß hinaus gewachsen sind. Dann aber sind mit der Liebe zugleich auch sie vollendet, und es schlägt die Stunde - ο Allen hat sie f r ü h e r schon geschlagen! - der Unendlichkeit sich wieder zu geben, und in ihren Schooß zurükzukehren aus der Welt.
10 vollendet] v o l - / l e n d e t
III. Weltansicht.
Das trübe Alter, meinen sie, dürfe nur den Klagen Raum vergönnen über die Welt: verzeihlich sei es, wenn lieber sich das Auge hinüberwende zur beßern Zeit des eignen Lebens in voller Stärke. Die fröhliche Jugend müße froh die Welt anlächeln, und nicht achtend des Mangelnden, was da ist nuzen, und der H o f n u n g süßen Täuschungen gern vertraun. Doch Wahrheit sehe nur der, die Welt zu richten verstehe nur der, welcher zwischen den beiden sich in sicherer Mitte glüklich halte, nicht eitel trauernd noch trüglich hoffend. Solche Ruh ist | nur der thörichte Uebergang von der H o f n u n g zur Verachtung; solche Weisheit nur der dumpfe Wiederhall der gern zurückgehaltenen Schritte, mit denen sie aus der Jugend ins Alter gleiten; diese Zufriedenheit ist nur verkehrter höflicher Betrug, der nicht die Welt, die ihn ja bald verläßt, zu schmähen scheinen will, noch weniger sich selbst auf einmal Unrecht geben; dies Lob ist Eitelkeit, die ihres Irrthums sich schämt, Vergeßenheit die nicht mehr weiß, was sie vor wenig Augenbliken begehrte, feiger Sinn dem, wenn es Mühe gelten soll, die Armuth lieber gnügt. Ich habe mir nicht geschmeichelt als ich jung war; so denk ich auch nicht jezt nicht jemals der Welt zu schmeicheln. Sie konnte den Nichts erwartenden nicht kränken: so werd auch ich sie nicht aus Rache verlezen. Ich habe wenig gethan um sie zu bilden: so hab ich auch kein Bedürfniß sie vortreflicher zu finden. Allein des schnöden Lobes ekelt mich, das ihr von | allen Seiten verschwendet wird, damit das Werk die Meister wieder lobe. Von Verbeßerung der Welt spricht das verkehrte Geschlecht so gern, um selbst f ü r beßer zu gelten, und über seine Väter sich zu erheben. Ο stiege von der schönen Blüte der Menschheit wirklich schon der erste süße D u f t empor; wären auf dem gemeinschaftlichen Boden in ungemeßener Zahl die Keime der eigenen Bildung über jede Verlezung hinaus gediehen; athmete und lebte Alles 3-19 Vgl. Gedanken 125,13-15)
I, Nr. 134 (KGA
1/2,32,5-7)
und Gedanken
III, Nr. 26 (KGA
1/2,
III.
Weltansicht
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in heiiger Freiheit; umfaßte Alles mit Liebe sich, und trüge wunderbar vereinigt immer neue und wundervolle Früchte: sie könnten doch nicht glänzender den Zustand der Menschheit preisen. Als hätten ihrer gewaltigen Vernunft donnernde Stimmen die Ketten der Unwißenheit gesprengt; als hätten sie von der menschlichen Natur, die nur als dunkles kaum kennbares Nachtstück abgebildet war, nun endlich ein kunstreich Gemälde aufgestellt, wo geheimniß-|volles Licht von oben Alles w u n derbar erleuchtet, daß kein gesundes Auge mehr den ganzen Umriß oder einzelne Züge verfehlen könne; als hätte ihrer Weisheit Musik die rohe räuberische Eigensucht zum zahmen geselligen Hausthier umgeschaffen und Künste sie gelehrt: so reden sie von der heutgen Welt, und jeder kleine Zeitraum der verstrichen, soll reich an neuem Gut gewesen sein. Wie tief im Innern ich das Geschlecht verachte, das so schaamlos als nie ein früheres gethan sich brüstet, den Glauben kaum an eine beßere Z u k u n f t ertragen kann, und schnöde Jeden der ihr angehört, beschimpft, und nur darum dies Alles, weil das wahre Ziel der Menschheit, zu welchem es kaum einen Schritt gewagt, ihm unbekannt in d u n k ler Ferne liegt! Ja, wem es gnügt, daß nur der Mensch die Körperwelt beherrsche; daß er alle ihre Kräfte erforsche, um zu seinem Dienst sie zu gebrauchen; daß nicht der Raum die | Stärke seines Geistes lähme, und schnell des Willens Wink an jedem O r t die Thätigkeit erzeuge, die er fordert; daß Alles sich bewähre als unter den Befehlen des Gedankens stehend, und überall des Geistes Gegenwart sich offenbare; daß jeder rohe Stoff beseelt erscheine, und im Gefühle solcher Herrschaft über ihren Körper die Menschheit sich ihres Lebens freue: wem das ihr leztes Ziel ist, der stimme mit ein in dieses laute Lob. Es mag mit Recht der Mensch sich dieser Herrschaft rühmen, wie ers noch nie gekonnt; und wie viel ihm auch noch übrig sei, so viel ist nun gethan, daß er sich fühlen muß als H e r r der Erde, daß ihm nichts unversuchtes bleiben darf auf seinem eigenthümlichen Gebiet, und immer enger der Unmöglichkeit Begrif zusammen schwindet. Hier fühl ich die Gemeinschaft die mich mit Allen verbindet, in jedem Augenblick des Lebens als Ergänzung der eigenen Kraft. Ein jeder treibet sein bestimmt Ge-|schäft, vollendet des Einen Werk, den er nicht kannte, arbeitet dem Andern vor, der nichts von seinen Verdiensten um ihn weiß. So fördert über den ganzen Erdkreis sich der Menschen Werk, es fühlet Jeder fremder Kräfte Wirkung als eignes Leben, und wie elektrisch Feuer führt die kunstreiche Maschine dieser Gemeinschaft jede leise Bewegung des Einen durch eine Kette von Tausenden verstärkt zum Ziele, als wären sie Alle seine Glieder, und alles was sie je gethan, sein Werk im Augenblik vollbracht. Lebendger 13 das so] daß so
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wohl und schöner noch wohnt in mir dies Gefühl des gemeinsam erhöhten Lebens, als in Jenen, die es so laut rühmen. Mich stört nicht täuschend ihre trübe Einbildung, daß es so ungleich die genießen, die doch Alle es erzeugen und erhalten helfen: durch Gedankenleere und Trägheit im Betrachten verlieren Alle, es fordert von Allen Gewohnheit ihren Abzug, und wo ich auch Beschränkung und | Kraft vergleichend berechne: ich finde überall dieselbe Formel, nur anders ausgedrükt, und gleiches M a a ß von Leben verbreitet sich über Alle. Und doch auch so acht ich dies ganze Gefühl gering; nicht etwas beßer noch in dieser Art wünscht ich die Welt, es peinigt mich bis zur Vernichtung, daß dies das ganze Werk der Menschheit sein soll, darauf unheilig ihre heilige Kraft verschwendet. Es bleiben nicht bescheiden meine Forderungen stehn bei diesem beßern Verhältniß des Menschen zu der äußern Welt, und wär es auf den höchsten Gipfel der Vollendung schon gebracht! Ist denn der Mensch ein sinnlich Wesen nur, daß auch das höchste Gefühl des Lebens, der Gesundheit und Stärke sein höchstes Gut sein dürfte? Genügts dem Geiste, daß er nur den Leib bewohne, fortsezend und vergrößernd ihn ausbilde, und herrschend seiner sich bewußt sei? Darauf geht ihr ganzes Streben, es gründet darauf sich ihr | ungemeßener Stolz. So hoch nur sind sie gestiegen im Bewußtsein der Menschheit, daß von der Sorge für das eigene körperliche Leben und Wolsein sie zur Sorge für das gleiche Wolbefinden Aller sich erheben. Das ist ihnen Tugend, Gerechtigkeit und Liebe; das ist über die niedere Eigensucht ihr großes Triumphgeschrei; das ist ihnen das Ende ihrer Weisheit; nur solche Ringe vermögen sie zu zerbrechen in der Kette der Unwißenheit, dazu soll Jeder helfen, es ist nur dazu jegliche Gemeinschaft eingerichtet. Ο des verkehrten Wesens, daß der Geist dem alle seine Kräfte für Andere widmen soll, was er für sich um beßern Preis verschmäht! Ο des verschrobenen Sinnes, dem in so niederm Gözendienste das Höchste gern zu opfern Tugend scheint! Beuge dich ο Seele dem herben Schiksal, nur in dieser schlechten und finstern Zeit das Licht gesehn zu haben. Für dein Bestreben, für dein inneres Thun ist nichts | von einer solchen Welt zu hoffen! nicht als Erhöhung, immer nur als Beschränkung deiner Kraft wirst du deine Gemeinschaft mit ihr empfinden müßen. So geht es Allen die das Beßere kennen und wollen. Nach Liebe dürstet manches Menschen Herz, es schwebt ihm deutlich vor, wie der geartet müßte sein, mit dem er durch den Tausch des Denkens und Empfindens zur gegenseitigen Bildung und zum erhöhten Bewußtsein sich verbinden könnte: doch wenn er nicht durch Zufall glüklich im engen Umkreis seines äußern Lebens ihn selbst entdekt, so seufzet jener wie er vergeblich im gleichen Wunsch das kurze Leben hin. Was hie und dort die Erde bringt beschreiben Tausende; wo irgend eine Sache deren ich bedarf zu finden
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sei, kann ich in einem Augenblik erfahren, im zweiten kann ich sie besizen: kein Mittel aber giebt es zu erkunden, wo irgend ein solch Gemüth zu finden sei, als mir zur Nahrung des innern | Lebens unentbehrlich ist; dazu giebts keine Gemeinschaft in der Welt, die Menschen die einander bedürfen, näher sich zu bringen, ist Keines Geschäft. Und wüßte der, aus deßen Herzen vergeblich sehnsuchtsvoll nach allen Seiten die Liebe strömt, wo ihm der Freund und die Geliebte wohnen: es feßelt ihn sein äußerer Stand, die Stelle die er in jener dürftigen Gemeinschaft einnimmt; und fester hängt der Mensch an diesen Banden, als an der mütterlichen Erde Stein und Pflanze. Des Schwarzen jammervolles Schiksal, der aus dem väterlichen Lande von den geliebten Herzen fortgerißen wird, zu niederm Dienst in unbekannter Ferne, täglich legts der Lauf der Welt auch Beßern auf, die zu den unbekannten Freunden in die ferne Heimath zu ziehn gehindert, in öder ihnen ewig fremder Nähe bei schlechtem Dienst ihr inneres Leben verschmachten müßen. Wol ist Manchem der Sinn geöfnet, um das innere | Wesen der Menschheit zu ergreifen, verständig ihre verschiedene Gestalten anzuschauen, und was gemeinsam ist zu finden: doch in öde Wildniß oder in unfruchtbare Ueppigkeit ist er gestellt, wo ewiges Einerlei des Geistes Verlangen keine Nahrung giebt; es kränkelt in sich gekehrt die Fantasie, es muß in träumerischem Irrthum sich der Geist verzehren, denn es leistet die Welt ihm keinen Beistand; Keinem ists Beruf mit Nahrungsstoff den Dürftgen zu versehen, oder in beßeres Klima liebreich ihn zu tragen. Wol Manchen drängt innerlich der Trieb kunstreiche Werke zu bilden, doch den Stoff zu sichten, und was unschiklich wäre sorgsam und ohne Schaden herauszusondern, oder wenn in schöner Einheit und Größe der Entwurf gemacht ist, auch die lezte Vollendung und Glätte jedem Theile zu geben, das ist ihm versagt: gewährt ihm Einer was ihm fehlt, bietet ihm Einer mit Freiheit seinen Vorrath, oder krönt | durch seine T h a t das Unvollendete? Allein muß Jeder stehn und unternehmen was ihm nicht gelingt! der Darstellung der Menschheit, dem Bilden schöner Werke fehlt die Gemeinschaft der Talente, die schon lange im äußeren Dienst der Menschheit gestiftet ist! nur schmerzlich fühlt der Künstler der Andern Dasein, wenn ihr Urtheil tadelt was seinem Genius fremd war, wenn das fremde und mangelnde des Schönen und Eignen Wirkung hemmt! So sucht vergebens der Mensch f ü r das, was ihm das Größte ist, in der Gemeinschaft mit den Menschen Erleichterung und Hülfe; ja sie fordern ist Aergerniß und Thorheit den geliebten Söhnen dieser Zeit, und eine höhere mehr innige Gemeinschaft der Geister ahnden, und beschränktem Sinn und kleinen Vorurtheilen zum T r o z sie fördern wollen, ist eitle Schwärmerei. Ungeschikte Begierde soll es sein nicht Armuth, was Schranken fühlen läßt, die so uns drüken, strafbare | Trägheit nicht Mangel an hülfreicher Gemeinschaft, was un-
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zufrieden mit der Welt den Menschen macht, und seinen leeren Wünschen gebietet auf weitem Felde der Unmöglichkeit umherzuschweifen. Unmöglichkeiten nur für den, deßen Blik auf niederer Fläche der Gegenwart nur einen kleinen H o r i z o n t bestreicht. Wie müßt ich traurig verzweifeln, ob jemals ihrem Ziele die Menschheit näher kommen würde, wenn ich mit blöder Fantasie nur an dem Wirklichen und seinen nächsten Folgen haften dürfte. Es seufzet was zur beßern Welt gehört in düsterer Sklaverei! Was da ist von geistiger Gemeinschaft, ist herabgewürdigt zum Dienst der irdischen; nur dieser nüzlich wirkt es dem Geiste Beschränkung, thut dem inneren Leben Abbruch. Wenn der Freund dem Freunde die H a n d zum Bündniß reicht: es sollten Thaten draus hervor gehn, größer als jeder Einzelne; frei sollte Jeder Jeden gewähren laßen, wozu der | Geist 80 ihn treibt, und nur sich hülfreich zeigen wo es Jenem fehlt, nicht seinem Gedanken den eignen unterschiebend. So fände Jeder im Andern Leben und Nahrung, und was er werden könnte, würd er ganz. Wie treiben sie es dagegen in der Welt? Zum irdischen Dienst ist Einer stets dem Andern gewärtig, bereit das eigne Wohlsein aufzuopfern; und Erkenntniß mitzutheilen, Gefühle mit zu leiden und zu lindern, ist das Höchste. Doch in der Freundschaft ist immer Feindschaft gegen die innere Natur; sondern wollten sie des Freundes Fehler von seinem Wesen, und was in ihnen Fehler wäre, scheints auch in ihm. So muß jeder von seiner Eigenheit dem Andern opfern, bis beide sich selber ungleich nur einander ähnlich sind, wenn nicht ein fester Wille das Verderben aufhält, und lange zwischen Streit und Eintracht die Freundschaft kränkelt, oder plözlich abreißt. Verderben dem, der ein weich Gemüth be-|sizt, wenn 81 ihm ein Freund sich anhängt! Von neuem und kräftigem Leben träumt dem Armen, er freut der schönen Stunden sich, die ihm in süßer Mittheilung vergehn; und merkt nicht wie im verkehrten Wohlsein der Geist sich ausgiebt und verschuldet, bis gelähmt von allen Seiten und bedrängt sein inneres Leben sich verliert. So gehn der Beßern Viele umher, kaum noch zu kennen der Grundriß des eignen Wesens, beschnitten von der Freunde Hand, und überklebt mit fremdem Zusaz. Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun. Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie T h a t sein Dasein bekunden. Ο Thränen, daß ich
32 kennen] im OD teilweise kennnen 11-16 Vgl. Gedanken I, Nr. 170 (KGA
1/2,38,15-17)
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immer und überall das schönste Band der Menschheit so muß entheiligt | sehn! Ein Geheimniß bleibt ihnen was sie thun, wenn sie es knüpfen; Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille J e der, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat; des Einen Schiksal wird der Andere endlich, und im Anschaun der kalten Nothwendigkeit erlischt der Liebe Gluth. Alle bringt so am E n d e die gleiche Rechnung auf das gleiche Nichts. Es sollte jedes H a u s der schöne Leib, das schöne Werk von einer eignen Seele sein, und eigne Gestalt und Züge haben, und Alle sind in stummer Einförmigkeit das öde Grab der Freiheit und des wahren Lebens. M a c h t sie ihn glüklich, lebt sie g a n z für ihn? Macht er sie glüklich, ist er g a n z Gefälligkeit? Macht beide Nichts so glüklich, als wo Einer dem Andern sich a u f o p fern kann? Ο quäle mich nicht Bild des Jammers, der tief hinter ihrer Freude wohnt, des | nahen T o d e s der ihnen diesen lezten Schein des Lebens, sein gewohntes Gaukelspiel nur vormahlt! W o sind vom Staat die alten Mährchen der Weisen? wo ist die K r a f t die dieser höchste G r a d des Daseins dem Menschen geben, das Bewußtsein das J e d e r haben soll, ein Theil zu sein von seiner Vernunft und Fantasie und Stärke? W o ist die Liebe zu diesem neuen selbstgeschafnen Dasein, die lieber das alte eigene Bewußtsein opfern als dieses verlieren will, die lieber das Leben wagt, als daß das Vaterland gemordet werde? W o ist die Vorsicht, welche sorgsam wacht, daß auch Verführung ihm nicht nahe, und sein G e müth verderbe? W o ist der eigne Charakter jedes Staates, und wo die Werke, durch die er sich verkündet? So fern ist dies Geschlecht von jeder Ahndung, was diese Seite der Menschheit wohl bedeuten mag, daß sie von einem beßern Organismus des Staates träumen, wie von einem Ideal | des Menschen, daß wer im Staate lebt, es sei der neuen oder der alten einer, in seine Form gern Alle gießen möchte, daß der Weise in seinen Werken ein Muster für die Zukunft niederlegt, und h o f f t es werde doch einmal zu ihrem Heil die ganze Menschheit es als ein Symbol verehren; daß Alle glauben, der sei der beste Staat, den man am wenigsten empfindet, und der auch das Bedürfniß, daß er da sein müße, am wenigsten empfinden laße. Wer so das schönste Kunstwerk des Menschen, wodurch er auf die höchste Stufe sein Wesen stellen soll, nur als ein nothwendiges Uebel betrachtet, als ein unentbehrliches M a schinenwerk um seine Gebrechen zu verbergen, und unschädlicher zu machen, der muß ja das nur als Beschränkung fühlen, was ihm den höchsten G r a d des Lebens zu gewähren bestimmt ist. 12 M a c h t ] macht
34 f Vgl. Über die Religion 33f(KGA
1/2,203,15J)
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Ο schnöde Quelle solcher großen Uebel, daß nur für äußere G e meinschaft der Sin-|nenwelt Sinn bei den Menschen zu finden ist, und daß nach dieser sie Alles meßen und modeln wollen. In der Gemeinschaft der Sinnenwelt muß immer Beschränkung sein; es muß der Mensch, der seinen Leib durch äußeren Besiz fortsezen und vergrößern will, dem Andern ja auch den Raum vergönnen das Gleiche zu thun; wo Einer steht da ist des Andern Grenze, und nur darum dulden sie es gelaßen, weil sie doch die W e l t nicht könnten allein besizen, weil sie doch des Andern Leib und Besiz auch brauchen können. D a r a u f ist Alles andere auch gerichtet: vermehrten äußern Besiz des Habens und des Wißens, Schuz und Hülfe gegen Schiksal und Unglük, vermehrte Kraft im Bündniß zur Beschränkung der Andern, das nur suchet und findet der Mensch von Heute in Freundschaft, E h e und Vaterland; nicht Hülfe und Ergänzung der K r a f t zur eignen Bildung, nicht Gewinn an neuem innerm Leben. Daran hindert | ihn jegliche Gemeinschaft die er eingeht vom ersten Bande der Erziehung an, wo schon der junge Geist, statt freien Spielraum zu gewinnen, und Welt und Menschheit in ihrem ganzen U m f a n g zu erbliken, nach fremden Gedanken beschränkt und früh zur langen Sklaverei des Lebens gewöhnt wird. Ο mitten im Reichthum beklagenswerthe Armuth! Hülfloser K a m p f des Beßern, der die Sittlichkeit und Bildung sucht, mit dieser Welt, die nur das Recht erkennt, statt Lebens nur todte Formeln bietet, statt freien Handelns nur Regel und Gewohnheit kennt, und hoher Weisheit sich rühmt, wenn irgend eine veraltete Form sie glücklich bei Seite schafft, und etwas Neues gebährt, was Leben scheint, und allzubald auch wieder Formel und todte Gewohnheit sein wird. W a s könnte mich retten, wärst du nicht göttliche Fantasie, und gäbest mir der beßern Zukunft sichre Ahndung! | J a Bildung wird sich aus der Barbarei entwikeln, und Leben aus dem T o d t e n s c h l a f ! da sind die Elemente des beßern Lebens. Nicht immer wird ihre höhere K r a f t verborgen schlummern; es wekt der Geist sie früher oder später, der die Menschheit beseelt. Wie jezt die Bildung der Erde für den Menschen erhaben ist über jene wilde Herrschaft der Natur, da schüchtern der Mensch vor jeder Aeußerung ihrer Kräfte floh: nicht weiter kann doch die selge Zeit der wahren Gemeinschaft der Geister entfernt von diesen Kinderjahren der Menschheit sein. Nichts hätte der rohe Sklave der Natur geglaubt von solcher künftgen Herrschaft über sie, noch hätte er begriffen was die Seele des Sehers der davon geweißagt, so bei dieser Ahndung hob; denn es fehlte ihm an 21 sucht,] sucht 32 beseelt.] Im Ms. folgt eine nach rechts geöffnete eckige Klammer. 35 floh:] Ms.: floh, 36 von] im Ms. mit Einfügungszeichen am Rand, fur (sein) 39 geweißagt,] Ms.: geweißsagt
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der Vorstellung sogar von solchem Zustand, nach dem er keine Sehnsucht fühlte: so begreift auch nicht der Mensch von heute, wenn Jemand ihm andere Zwecke vorhält, | von andern Verbindungen und einer andern Gemeinschaft der Menschen redet, er faßt nicht was man Beßeres und Höheres wollen könne, und fürchtet nicht, daß jemals etwas kommen werde, was seinen Stolz und seine träge Zufriedenheit so tief beschämen müßte. Wenn aus jenem Elend, das kaum die ersten Keime des beßern Zustandes auch dem durch den Erfolg geschärften Auge zeigt, dennoch das gegenwärtge hochgepriesne Heil hervorging: wie sollte nicht aus unserer verwirrten Unbildung, in der das Auge, welches schon sinkend der Nebel ganz nah umfließt, die ersten Elemente der beßern Welt erblikt, sie endlich selbst hervorgehn, das erhabene Reich der Bildung und der Sittlichkeit. Sie kommt! Was sollt ich zaghaft die Stunden zählen, welche noch verfließen, die Geschlechter, welche noch vergehn? Was kümmert mich die Zeit, die doch mein innres Leben nicht umfaßt? | Der Mensch gehört der Welt an, die er machen half, diese u m f a ß t das Ganze seines Wollens und Denkens, nur jenseit ihrer ist er ein Fremdling. Wer mit der Gegenwart zufrieden lebt und Anders nichts begehrt, der ist ein Zeitgenoße jener frühen Halbbarbaren, welche zu dieser Welt den ersten Grund gelegt; er lebt von ihrem Leben die Fortsezung, genießt zufrieden die Vollendung deßen, was sie gewollt, und das Beßere, was sie nicht umfaßen konnten, umfaßt auch er nicht. So bin ich der Denkart und dem Leben des jezigen Geschlechts ein Fremdling, ein prophetischer Bürger einer spätem Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen, ihr angehörig jede T h a t und jeglicher Gedanke. Gleichgültig läßt mich, was die Welt, die jezige, thut oder leidet; tief unter mir scheint sie mir klein, und leichten Blikes übersieht das Auge die großen verworrnen Kreise ihrer Bahn. Aus | allen Erschütterungen im Gebiete des Lebens und der Wissenschaft, stets wieder auf denselben Punkt zurükkehrend, und die nemliche Gestalt erhaltend, zeigt sie deutlich ihre Beschränkung und ihres Bestrebens geringen Umfang. Was aus ihr selbst hervorgeht kann sie
2 heute,] Ms.: heute 3 Zwecke] Ms.: Zweke 5 Beßeres und Höheres] Ms.: Beßres und Höher 5 könne, und fürchtet nicht,] Ms.: könne und fürchtet nicht 9 hervorging:] Ms.: hervorging; 11 nah] Ms.: nahe 12 erhabene] Ms.: erhabne 14 Geschlechter,] Ms.: Geschlechter 16 umfaßt?] Im Ms. folgt kein Absatz. 17 diese] Ms.: die 21 gelegt;] Ms.: gelegt, 21 f Fortsezung,] Ms.: Fortsezung 23 Beßere] Beßre 23 umfaßen] Ms.: erkennen 26 hingezogen,] hingezogen mit Einfügungszeichen am Rand, für (hinzugethan) 27 Gedanke.] im Ms. folgt (In ihrem Geiste leb ich, unbekümmert was draus entsteht, es sei des Schiksals LSorgel.) 29f Bahn. Aus] Ms.: Bahn; aus 30f Wissenschaft,] Ms.: Wißenschaft 31 zurükkehrend,] Ms.: zurükekehrend 32 erhaltend,] Ms.: erhaltend
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Monologen
nicht weiter bringen, bewegt sie immer nur im alten Kreise; und ich kann deßen mich nicht erfreun, es täuscht mich nicht mit leerer Erwartung jeder günstge Schein. Doch wo ich einen Funken des verborgenen Feuers sehe, das früh oder spät das Alte verzehren und die Welt erneuen wird, da fühl ich mich in Lieb und Hoffnung hingezogen zu dem süßen Zeichen der fernen Heimath. Auch wo ich stehe soll man in fremdem Licht die heiige Flamme brennen sehen, dem Verständgen ein Zeugniß von dem Geiste der da waltet. Es nahet sich in Liebe und Hoffnung jeder, der wie ich der Zukunft angehört, und durch jegliche That und Rede eines Jeden | schließt sich enger und erweitert sich das schöne freie Bündniß der Verschwornen für die beßere Zeit. Doch auch dies erschwert so viel sie kann die Welt, und hindert jedes Erkennen der befreundeten Gemüther, und trachtet die Saat der beßern Zukunft zu verderben. Die That, die aus den heiligsten Ideen entsprungen ist, giebt tausendfacher Deutung Raum; es muß geschehen, daß oft das reinste Handeln im Geist der Sittlichkeit verwechselt wird mit dem Sinne der Welt. Zu Viele schmüken sich mit falschem Schein des Beßern, als daß man Jedem, wo sich Beßeres ahnden läßt, vertrauen dürfte; schwergläubig weigert sich mit Recht dem ersten Schein der, welcher Brüder im Geiste sucht; so gehn sie oft einander unerkannt vorüber, weil des Vertrauens Kühnheit Zeit und Welt danieder drüken. So faße Muth und hoffe! Nicht du allein stehst eingewurzelt in den tiefen Boden der spät | erst Oberfläche wird, es keimet überall die Saat der Zukunft! Fahr immer fort zu spähen wo du kannst, noch Manchen wirst du finden, noch Manchen erkennen, den du lange verkannt. So wirst auch du von Manchen erkannt: der Welt zum T r o z verschwindet endlich Mißtraun und Argwohn, wenn immer das gleiche Handeln wiederkehrt und gleiche Ahndung das fromme Herz ermahnt. Nur kühn den Stempel des Geistes jeder Handlung eingeprägt, daß dich die Na-
3 jeder günstge] im Ms. mit Einfiigungszeichen am Rand, für (der erste) 3 verborgenen] Ms.: verborgnen 5 Hoffnung] Ms.: Hofnung 8 f Liebe und Hoffnung] Ms. : Lieb und Hofnung 10 erweitert sich] Ms.: weiter 11 beßere Zeit.] Ms.: beßre Zeit. Es folgt im Ms. kein Absatz. 12 Welt,] Ms.: Welt 14 verderben. Die That,] Ms.: verderben - Die That 14 heiligsten] Ms.: reinsten 15 ist,] Ms.: ist 15 Raum;] Ms.: Raum, 15-19 es muß . . . dürfte] im Ms. mit Einfiigungszeichen am Rand 15 geschehen,] Ms.: geschehn 17 Welt. Zu] Ms.: Welt [,] zu 18 Jedem,] Ais.: Jedem 18 läßt,] Ms.: läßt 19 dürfte;] Ms.: dürfte [,] 19 der,] Ms.: der 20 sucht;] Ms.: sucht: ; folgt gestrichenes Einfiigungszeichen 21 danieder] Ms.: darnieder 22 du] Ms.: Du 2 2 f tiefen Boden] Ms.: tiefern Boden, 24 du kannst,] Ms.: Du kannst 25 du] Ms.: Du 25 erkennen, den du] Ms.: erkennen den Du 26 du] Ms.: Du 27 Argwohn,] Ms.: Argwohn 29 den Stempel des Geistes] Ms.: des Geistes Stempel 29 eingeprägt, daß dich] Ms.: eingeprägt daß Dich
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hen finden; n u r kühn hinaus geredet in die Welt des H e r z e n s Meinung, daß dich die Fernen hören! Es dienet freilich der Z a u b e r der Sprache auch n u r der Welt nicht uns. Sie hat genaue Zeichen und schönen U e b e r f l u ß f ü r Alles was im Sinn der Welt gedacht wird und gefühlt; sie ist d e r reinste Spiegel d e r Zeit, ein Kunstwerk, worin ihr Geist sich zu erkennen giebt. U n s ist sie noch roh und ungebildet, ein schweres Mittel der Gemein-|schaft. Wie lange hindert sie den Geist zuerst, d a ß er nicht kann z u m Anschaun seiner selbst gelangen! D u r c h sie gehört er schon der Welt eh er sich findet, und m u ß sich langsam erst aus ihren Verstrikungen entwinden; und ist er d a n n troz alles Irrthums und verkehrten Wesens, das sie ihm angelernt z u r W a h r h e i t hindurch gedrungen: wie ändert sie dann betrügerisch den Krieg, und hält ihn eng umschloßen, d a ß er Keinem sich mittheilen, keine N a h r u n g empfangen k a n n . Lange sucht er im vollen U e b e r f l u ß ein unverdächtiges Zeichen zu finden, um unter seinem Schuz die innersten Gedanken abzusenden: es f a n g e n gleich die Feinde ihn auf, f r e m d e D e u t u n g legen sie hinein, u n d vorsichtig zweifelt der Empfänger, wem es wol ursprünglich angehöre. W o h l manche A n t w o r t k o m m t h e r ü b e r aus der Ferne dem Einsamen, d o c h m u ß er zweifeln, ob sie das bedeuten soll was er faßt, ob Freundes H a n d ob Feindes sie ge-[schrieben. D a ß doch die Sprache gemeines G u t ist f ü r die Söhne des Geistes und f ü r die Kinder der Welt! d a ß doch so lehrbegierig diese sich stellen nach der h o h e n Weisheit! D o c h nein, gelingen soll es ihnen nicht, uns zu verwirren o d e r einzuschreken! Dies ist der große Kampf um die geheiligten Paniere der Menschheit, welche wir der beßern Z u k u n f t den folgenden Geschlechtern erhalten m ü ß e n ; der Kampf der alles entscheidet, aber auch das sichere Spiel, das über Zufall und G l ü k erhaben n u r durch K r a f t des Geistes und w a h r e K u n s t gewonnen wird.
1 finden;] Ms.: finden, l f Meinung, daß dich] Ms.: Meinung daß Dich 2 hören!] Ms.: hören. Im Ms. folgt kein Absatz. 5 Sinn] Ms.: Sinne 5 gefühlt; sie ist der] Ms.: gefühlt, der 6 Zeit,] im Ms. folgt (worin) 6 Kunstwerk,] Ms.: Kunstwerk 6 worin] so Ms.; OD: worinn 9f findet,] Ms.: findet 10 entwinden;] Ms.: entwinden 11 dann] Ms.: dann, 11 Wesens,] Ms.: Wesens 12 gedrungen:] Ms.: gedrungen 13 Krieg,] Ms.: Krieg 13 eng] Ms.: enge 13 umschloßen] Im Ms. folgt eine halbe eckige nach links geöffnete Klammer. 14 im] im Ms. über (in den) 15 finden,] Ms.: finden 16 die] Ms.: den 16 abzusenden:] Ms.: abzusenden; 17 f vorsichtig zweifelt der Empfänger,] Ms.: zweifelnd wankt der E m p f ä n ger 18 W o h l ] Ms.: Wol 19 zweifeln,] Ms.: zweifeln 20 f a ß t ] Ms.: h o f f t 22 daß] Ms.: D a ß 23 Doch nein,] Ms.: Doch, nein! 24 nicht,] Ms.: nicht 24 einzuschreken!] Ms.: einzuschreken. 25f um die . . . K a m p f ] im Ms. mit Einfügungszeichen am Rand 26 K a m p f ] Ms.: Kampf, 27 alles] Ms.: Alles 27 sichere Spiel,] Ms.: sichre Spiel 28 erhaben] so Ms.; OD: erhaben, 28 wird.] Im Ms. folgt kein Absatz.
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Es soll die Sitte der innern E i g e n t ü m l i c h k e i t Gewand und Hülle sein, zart und bedeutungsvoll sich jeder edlen Gestalt anschmiegend, und ihrer Glieder Maaß verkündigend jede Bewegung schön begleiten. N u r dies schöne Kunstwerk mit Heiligkeit behandelt, nur es immer durchsichtiger und feiner gewebt, und immer dichter an sich es | gezogen: so wird der künstliche Betrug sein Ende finden müßen, so wird es bald sich offenbaren, wenn unheilige gemeine N a t u r in edler hoher Gestalt erscheinen will. Es sieht der Wißende bei jeder Regung das geheime Spiel der schlechten Glieder, nur lose liegt um den trügerischen leeren Raum das magische Gewand, und kenntlich entflattert es bei jedem raschen Schritte, und zeigt das innere Mißverhältniß an. So soll und wird der Sitte Beständigkeit und Ebenmaaß ein untrüglich Merkmahl von des Geistes innerm Wesen, und der geheime G r u ß der Beßern werden. Abbilden soll die Sprache des Geistes innersten Gedanken, seine höchste Anschauung, seine geheimste Betrachtung des eignen Handelns soll sie wiedergeben, und ihre wunderbare Musik soll deuten den Werth den er auf jedes legt, die eigne Stufenleiter seiner Liebe. Wohl können sie die Zeichen, die wir dem Höchsten widmeten mißbrauchen, und dem Heiligen, das sie | andeuten sollen ihre kleinlichen Gedanken unterschieben und ihre beschränkte Sinnesart: doch anders ist des Weldings Tonart als des Geweihten; anders als dem Weisen reihen sich dem Sklaven der Zeit die Zeichen der Gedanken zu einer andern Melodie; etwas anders erhebt er zum Ursprünglichen, und leitet davon ab, was ihm ferner und unbekannter liegt. Es bilde nur jeder seine Sprache sich zum Eigenthum und zum kunstreichen Ganzen, daß Ableitung und Uebergang, Zusammenhang und Folge der Bauart seines Geistes genau entsprechen, und die Harmonie der Rede der Denkart Grundton, den Accent des Herzens wiedergebe: dann giebts in der gemeinen noch eine heilige und geheime Sprache, die der Ungeweihte
4 N u r ] im Ms. davor (Wird); N u r korr. aus nur 4 mit Heiligkeit] im Ms. mit Einfügungszeichen am Rand,fiir (recht) 4 behandelt, nur es] Ms.: behandelt von den Guten [,] wird es 5f und immer . . . so wird] Ms.: zieht Jeder es immer dichter an sich: wird wol 6£ so wird . . . offenbaren,] Ms.: wird sichs bald offenbaren 11 Schritte,] Ms.: Schritte: 11 innere] Ms.: innre 12£ Merkmahl] Ms.: Merkmal 16 Handelns] so Ms.; OD: Handels 16 wiedergeben,] Ms.: wiedergeben 17 jedes] Ms.: Jedes 17 eigne] im Ms. mit Einfügungszeichen am Rand 18 Wohl] Ms.: Wol 18 Zeichen,] Ms.: Zeichen 18 f mißbrauchen, und dem Heiligen,] Ms.: mißbrauchen und dem Heiligen 23 Melodie; etwas anders] Ms.: Melodie, etwas Andres 23 Ursprünglichen, und leitet davon ab,] Ms.: Ursprünglichen und leitet davon ab 24 jeder] Ms.. Jeder 25 zum Eigenthum und] im Ms. am Rand 26 Zusammenhang] Ms.: Zusammenfügung 28 Grundton,] Ms.: Grundton 28 wiedergebe: dann] so Ms.; OD: wieder gebe. Dann 29 heilige] Ms.: heiige
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nicht deuten noch nachahmen kann, weil nur im Innern der Gesinnung der Schlüßel liegt zu ihren Charakteren; ein kurzer G a n g nur aus dem | Spiele der Gedanken, ein paar Accorde nur aus seiner R e d e werden ihn 97 verrathen. Ο wenn nur so an Sitte und Rede sich die Weisen und Guten erkennen möchten, wäre die Verwirrung nur gelöst, gezogen die Scheidewand, käme zum Ausbruch erst die innere Fehde: so würde der Sieg auch nahn, aufgehn die schönre Sonne, denn auf die beßre Seite müßte sich neigen der jüngeren Geschlechter freies Urtheil und unbefangner Sinn. Verkündet doch nur bedeutungsvolle Bewegung des Geistes D a sein, W u n d e r nur bezeugen eines Götterbildes Ursprung. U n d so müßte sichs offenbaren, daß es am Bewußtsein des innern Handelns fehle, w o schöne Einheit der Sitte mangelt, oder nur als kalte Verstellung da ist, als übertünchte Unförmlichkeit; daß der von eigner Bildung nichts weiß, noch je das innere der Menschheit in sich angeschaut hat, dem das feste Grundgestein der Sprache zu T a g e gefördert aus dem | Innern 98 in kleine Bruchstücke verwittert, dem der Rede Kraft, die tief das Innere ergreifen soll, in leere Unbedeutenheit und flache Schönheit sich auflöst, und ihre hohe Musik in müßige Schallkünstelei die nicht vermag des Geistes eignes Wesen darzustellen. Harmonisch in einfacher schöner Sitte leben kann kein Anderer, als wer die todten Formeln haßend eigne Bildung sucht und so der künftigen W e l t gehört; ein wahrer Künstler der Sprache kann kein Anderer werden, als wer freien Blikes sich selbst betrachtet, und des innern Wesens der Menschheit sich bemächtigt hat. Aus dieser Gefühle stiller Allmacht, nicht aus frevelhafter Gewaltsamkeit vergeblichen Versuchen, muß endlich die Ehrfurcht vor dem Höchsten, der Anfang eines beßern Alters hervorgehn. Sie zu b e f ö r dern sei mein Trachten in der Welt, womit ich meiner Schuld mich ge-
1 nachahmen] so Ms.; OD: nahahmen 2 Charakteren;] Ms.: Charakteren, 3 paar Accorde] Ms.: Paar Akkorde 4 verrathen.] Im Ms. folgt kein Absatz. 5 so] im Ms. am Rand, folgt (erst) 7 innere] Ms.: innre 8 Sonne,] Ms.: Sonne; 12 offenbaren,] Ms.: offenbaren 12 Handelns fehle,] Ms.: Handels fehlt 13 mangelt,] Ms.: mangelt 14 Unförmlichkeit;] Ms.: Unförmlichkeit, 15 weiß,] Ms.: weiß 15 innere] Ms.: Innere 17 Bruchstücke] Ms.: Bruchstüke 17 Kraft,] Ms.: Kraft 18 soll,] Ms.: soll 21 Anderer,] Ms.: Andrer 22 künftigen] Ms.: künftgen 23 Anderer] Ms.: Andrer 25 hat.] Im Ms. folgt kein Absatz. 2 6 - 2 9 Aus . . . befördern] im Ms. mit Einfügungszeichen am Rand 26 dieser Gefühle] im Ms.: dieses Gefühles korr. aus diesem Gefühle 26 stiller Allmacht] im Ms. mit Einfügungszeichen über der Zeile 27 Versuchen,] Ms.: Versuchen 28 Höchsten,] Ms.: Höchsten 29 sei] im Ms. davor (Das) 29 Welt,] Ms.: Welt
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Monologen
gen sie entlade, und meinem Beruf genüge. So einiget sich meine | Kraft 99 dem Wirken aller Auserwählten, und mein freies Handeln hilft die Menschheit fortbewegen auf der rechten Bahn zu ihrem Ziele.
1 entlade,] Ms.: entlade 1 genüge. So einiget] Ms.: genüge; so einigt 3 Ziele.] Unter dem Schlußstrich folgt im Ms. die Mitteilung (Ende des dritten Monologs.)
IV. Aussicht.
Ist es wahr, daß wir alle auf Erden abhängig wandeln, und ungewiß der Z u k u n f t ? daß ein dichter Schleier dem Menschen was er sein wird verbirgt, und daß des Schicksals blinde Macht, seis auch der höhern Vorsicht fremde Willkühr - beides gälte für mich hier gleich - mit unsern Entschlüßen wie mit unsern Wünschen spielt? Ο freilich, wenn Entschlüße nur Wünsche sind, so ist der Mensch des Zufalls Spiel! Wenn er nur im Wechsel flüchtiger Empfindungen und einzelner Gedanken, die die Wirklichkeit erzeugt, sich selbst zu finden weiß; wenn er im ungewißen Haben äußrer Gegenstände, im schwin-|delnden Betrachten des ewgen Wirbels in dem er mit diesem Sein und H a b e n sich auch bewegt, sein ganzes Leben hindurch begriffen ist, und niemals tiefer in sein eignes Wesen dringt; wenn er von diesem oder jenem einzelnen Gefühl geleitet immer nur auf etwas Einzelnes und Aeußeres sieht, und das betreiben und besizen will, wie die E m p f i n d u n g des Augenbliks gebietet: dann kann ihm das Schiksal feindselig rauben was er will und spielt mit seinen Entschlüßen, die ein Spiel zu sein verdienen; dann mag er klagen über Ungewißheit, denn nichts steht fest f ü r ihn; dann erscheint ihm als ein dichter Schleier die eigne Blindheit, und dunkel muß es freilich sein, wo nicht das Licht der Freiheit scheint; dann muß es freilich für ihn das Höchste sein zu wißen, ob jener Wechsel der ihn beherrscht von Einem Willen über alle Willen abhängt, oder vom Z u s a m mentreffen vieler Kräfte die neigungslose Wir-|kung ist. Denn schreklich muß es den Menschen ergreifen, wenn er nimmer dazu gelangt sich selbst zu faßen; wenn jeder Lichtstral, der in die unendliche Verwirrung fällt, ihm klarer zeigt, er sei kein freies Wesen, sei eben nur ein Zahn in jenem großen Rade, das ewig kreisend sich, ihn und alles bewegt, und H o f n u n g , immer wieder aller E r f a h r u n g allem Bewußtsein
3 u n d ] nnd
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zum T r o z erneute H o f n u n g auf höheres Erbarmen muß seine einzige Stüze sein. Willkommen mir, in jedem Augenblik, wo ich die Sklaven zittern sehe, aufs neue willkommen, geliebtes Bewußtsein der Freiheit! schöne Ruhe des klaren Sinnes, mit der ich heiter die Zukunft, wol wißend was sie ist und was sie bringt, mein freies Eigenthum, nicht meine Herrscherin begrüße. Mir verbirgt sie nichts, sie nähert sich ohne Anmaßungen von Gewalt. Die Götter nur beherrscht ein Schiksal, die nichts in sich zu wirken haben, und die schlechtesten | der Sterblichen, die in sich nichts wirken wollen; nicht den Menschen, der auf sich selbst sein H a n deln richtet wie sichs geziemt. W o ist die Grenze meiner Kraft? wo denn finge sich an das fürchterliche fremde Gebiet? Unmöglichkeit liegt mir nur in der Beschränkung meiner Natur durch meiner Freiheit erste That, nur was ich aufgegeben als ich bestimmte wer ich werden wollte, das nur kann ich nicht; nichts ist mir unmöglich als was jenen Willen, wie er einmal gesprochen hat, rükgängig machen müßte. Wem diese Beschränkung als fremde Gewalt erscheint, diese, die seines Daseins, seiner Freiheit, seines Willens Bedingung und Wesen ist, der ist mir wunderbar verwirrt. Und fühl ich mich in diesen Grenzen denn beschränkt? Ja, wenn ich selbst auf dem Gebiet der Sittlichkeit und Bildung nur dies und jenes in jedem Augenblik bestimmt begehrte, wenn jemals irgend eine einzelne T h a t das Ziel von mei-|nem Wollen wäre; dann könnte sich mir dies Ziel wenn ichs ergreifen wollte weit aus den Augen rüken; dann find ich unter fremder Herrschaft mich; doch wenn ich auch darüber das Schiksal verklagte, verfehlt ich nur den eigentlichen Gegenstand der Schuld, mich selbst. Aber niemals kann mir es so ergehn! Leb ich doch im Bewußtsein meiner ganzen Natur. Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwiklung dieses Einen Willens; so gewiß ich immer handeln kann, kann ich auch immer auf diese Weise handeln, nichts kommt in die Reihe meiner Thaten, es sei denn so bestimmt. Begegne denn, was da wolle! So lang ich alles auf diesen ganzen Zwek beziehe, und jedes äußere Verhältniß, jede äußere Gestalt des Lebens mich gleichgültig läßt, und alle mir gleich werth sind, wenn sie nur meines Wesens N a t u r ausdrüken, und zu seiner innern Bildung, seinem | Wachsthum mir neuen Stoff aneignen; so lange des Geistes Auge auf dies Ganze allgegenwärtig gerichtet ist, ich jedes Einzelne nur in diesem Ganzen, und in diesem alles einzelne erblike, nie aus dem Be-
2 6 Schuld,] S c h u l d
12-16 Vgl. oben 18, if
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wußtsein verliere, was ich unterbreche, und immer auch das noch will was ich nicht thue, und was ich thue auf alles was ich will beziehe: so lange beherrscht mein Wille das Geschik, und wendet Alles, was es bringen mag zu seinen Zweken mit Freiheit an. Nie kann solchem Wollen sein Gegenstand entzogen werden, und es verschwindet beim Denken eines solchen Willens der Begrif des Schiksals. W o h e r entspringt denn jener Wechsel des Menschlichen, den sie so drükend fühlen, als eben aus der Gemeinschaft solcher Freiheit? So ist er also der Freiheit Werk und meines. Wie könnt ich ihn für Andre durch mein T h u n bereiten helfen, wenn ich nicht auch f ü r mich ihn von den Andern forderte? Ja, ich verlange | ihn laut! es komme die Zeit und bringe wie sie kann 106 zum Handeln zum Bilden und Aeußern meines Wesens mir mannigfachen Stoff. Ich scheue nichts; gleich gilt mir die Ordnung, und alles was äußere Bedingung ist. Was aus der Menschen gemeinschaftlichem H a n dein hervorgehen kann, soll alles an mir vorüber ziehn, mich regen und bewegen um von mir wieder bewegt zu werden, und in der Art wie ichs aufnehme und behandle will ich immer meine Freiheit finden, und äußernd bilden meine Eigenthümlichkeit. Ists leere Täuschung etwa? Verbirgt sich hinter dies Gefühl der Freiheit die Ohnmacht? So deuten gemeine Seelen was sie nicht verstehn! Doch das leere Geschwäz der Selbsterniedrigung ist längst für mich verhallt, zwischen mir und ihnen richtet in jedem Augenblik die That. Sie klagen immer wenn sie die Zeit verstreichen sehen, und fürchten wenn sie kommt, und bleiben | ungebildet nach wie vor, bei al- 107 lern Wechsel immer dieselbe gemeine Natur. W o ist ein einzges Beispiel wo sie läugnen dürften, daß sie anders was ihnen begegnete, behandeln konnten? So wäre mirs leicht sie mitten im Schmerz noch ärger zu zermalmen, und dem zerknirschten Sinn noch das Geständniß auszupreßen, daß nur innre Trägheit war, was sie als äußere Gewalt bejammern, oder daß sie nicht wollten, was sie nur gewollt zu haben scheinen möchten; und so die niedrige Beschränkung ihres eignen Bewußtseins und Willens ihnen zeigend, sie eben dadurch glauben zu lehren an Willen und Bewußtsein. Doch mögen sie es lernen oder nicht: daß nichts was mir begegnet der eignen Bildung Wachsthum zu hindern, und vom Ziel des Handelns mich zurükzutreiben vermag; der Glaube ist lebendig in mir durch die That. So bin ich seitdem meines Wesens sich die Vernunft bemächtiget, und | Freiheit und Selbstbewußtsein in mir wohnen, die wechselreichen 108
26 dürften] durften
23-25 Vgl. Gedanken I, Nr. 3 (KGA 1/2,4,1-4)
36 f Anspielung auf Jak 2,17
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Bahnen des Lebens durchgewandelt. Im schönen G e n u ß der jugendlichen Freiheit hab ich die große T h a t vollbracht, hiewegzuwerfen die falsche M a s k e , das lange mühsame W e r k der frevelnden Erziehung, betrauern hab ich gelernt das kurze Leben der Meisten die sich wieder von neuen Ketten binden lassen, verachten gelernt das schnöde Bestreben der kraftlos Abgelebten, die auch die lezte Erinnerung an den kurzen T r a u m der Freiheit verloren haben, nicht wißen was der Jugend, in der sie eben erwacht, begegnet, und gern der alten Weise sie getreu erhielten. Im fremden Hause ging der Sinn mir auf f ü r schönes gemeinschaftliches Dasein, ich sah wie Freiheit erst veredelt und recht gestaltet die zarten Geheimniße der Menschheit, die dem Ungeweihten immer dunkel bleiben, der sie nur als Bande der N a t u r verehrt. Im buntesten Gewühl von | allen weltlichen Verschiedenheiten lernt ich den Schein 109 vernichtend in jeder Tracht die gleiche N a t u r erkennen und die mancherlei Sprachen übertragen, die sie in jedem Kreise lernt. Im Anschaun der großen Gährungen, der stillen und der lauten, lernt ich den Sinn der Menschen verstehen, wie sie immer nur an der Schale haften; und in der stillen Einsamkeit die mir zu Theil ward, habe ich die innere N a tur betrachtet, alle Zweke, die der Menschheit durch ihr Wesen aufgegeben sind, und alle Verrichtungen des Geistes in ihrer ewigen Einheit angeschaut, und in lebendger Anschauung gelernt das todte Wort der Schulen recht zu schäzen. Ich habe Freud und Schmerz empfunden, ich kenne jeden G r a m und jedes Lächeln, und was giebts unter Allem, was mich betraf seitdem ich wirklich lebe, woraus ich meinem Wesen nicht Neues angeeignet, und K r a f t gewonnen hätte, die das innre Leben nährt? |
So sei denn die Vergangenheit mir Bürge der Z u k u n f t ; sie ist ja da- 110 ßelbe, was kann sie mir anders thun wenn ich derselbe bin? Bestimmt und klar seh ich den Inhalt meines Lebens vor mir. Ich weiß worin mein 30 Wesen schon fest in seiner Eigenthümlichkeit gebildet und abgeschloßen ist; durch gleichförmiges Handeln nach allen Seiten mit der ganzen Einheit und Fülle meiner K r a f t werd ich mir dies erhalten. Wie sollt ich nicht des Neuen und Mannigfachen mich erfreun, wodurch sich neu und immer anders die Wahrheit meines Bewußtseins mir bestätigt. Bin 35 ich meiner selbst so sicher, daß ich deßen nicht bedürfte? daß nicht Leid und Freude und was sonst die Welt als Wohl und Wehe bezeichnet mir gleich willkommen müßten sein, weil jedes auf eigne Weise diesen Z w e k erfüllt und meines Wesens Verhältniße mir offenbart? Wenn
1 - 9 Anspielung auf Schleiermachers befreienden Bruch 1786/8 7 mit der Herrnhutischen Seminaristenerziehung in Barby (Elbe), der von einigen Mitschülern (z.B. Albertini und Zäslin) zwar gewünscht, aber nicht vollzogen wurde. 9-12 Anspielung auf Schleiermachers Hofmeisterzeit bei den Dohnas im ostpreußischen Schlobitten 1790-1793
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ich nur dies erreiche, was kümmert mich glüklich sein! Ich weiß | auch i l l was ich mir noch nicht zu eigen gemacht, ich kenne die Stellen, w o ich, noch in unbestimmter Allgemeinheit schwebend, seit langer Zeit den Mangel eigner Ansicht schmerzlich fühle. D e m Allen strebt schon lange Zeit die Kraft entgegen, und irgend wann werd ichs mit Thätigkeit und mit Betrachtung umfaßen, und innig verbinden mit Allem was schon in mir ist. Wißenschaften, ohne deren Kenntniß nie meine Ansicht der Welt vollendet werden kann, sind mir noch zu ergründen. Fremd sind mir noch viele Gestalten der Menschheit, Zeitalter und Völker giebts die ich nur erst wie jeder Andre kenne, in deren Denkart und Wesen sich nicht auf eigne Weise die Fantasie versezt, die keinen bestimmten Plaz einnehmen in meiner Anschauung von den Entwiklungen des Geschlechts. Manche von den Thätigkeiten die in mein eignes Wesen nicht gehören, begreif ich nicht, und über ihre Verbin-|dungen mit Al- 112 lern was groß und schön ist in der Menschheit, fehlt mir das eigne Urtheil oft. Das Alles werd ich miteinander nach einander gewinnen; die schönste Aussicht breitet sich vor mir aus. Wie viele edle Naturen, die ganz von mir verschieden die Menschheit in sich bilden, kann ich in der Nähe betrachten! V o n wieviel kenntnißreichen Menschen bin ich umgeben, die gastfrei oder eitel in schönen Gefäßen mir ihres Lebens goldne Früchte bieten, und die Gewächse ferner Zeiten und Zonen durch ihre Treue ins Vaterland verpflanzt. Kann mich das Schiksal feßeln, daß ich mich diesem Ziele nicht nähern darf? Kanns mir die Mit-
7 mir ist.] mir ist?
23-21 Der Oberhofprediger Friedrich Samuel Gottfried Sack hatte Schleiermacher seitens des reformierten Kirchendirektoriums im Sommer 1798 die Hofpredigerstelle in Schwedt angetragen. Am 25. Juli 1798 berichtete Schleiermacher seiner Schwester Charlotte: „Unterdeß habe ich hier schon wieder eine Fatalität gehabt. Sack hatte vom Kirchendirectorio den Auftrag mich zu fragen, ob ich als Hojprediger nach Schwedt gehn wollte, einem angenehmen Städtchen, wo die Gemeine nicht unbedeutend und das Gehalt von der Art ist, daß die Stelle zu den besseren gehört. Sack war sehr dafür, und Du kannst denken, daß die Sache mir den Kopf nicht wenig warm machte. Alles wohl überlegt habe ich es aber abgelehnt. Denke Dir, daß ich dort von so manchem Studium, welches ich hier mit Eifer betreibe, gänzlich hätte Abschied nehmen müssen, daß meine wissenschaftliche Bildung wegen der Entfernung von allen Hülfsmitteln und dem Mangel an literarischem Umgang ihre Endschaft erreicht hätte, daß ich in ein luxuriöses Städtchen gekommen wäre, wo die Geselligkeit in Festen und Spielen besteht, und daß ich mich von meinen hiesigen Freunden hätte losreißen müssen, ohne andere zu finden, - um diesen Preis ein Einkommen von etwa 600 Rthl. zu erkaufen, mit dem man doch eine Familie nur sehr kümmerlich ernähren kann, dazu, denke ich, ist es im Nothfall in zehn Jahren auch noch Zeit genug. Der gute Hofprediger sah das auf den ersten Blick nicht ein, und that mir die Qual an, mir noch eine neue Bedenkzeit zu sezen, nach welcher ich mich jedoch nicht anders erklären konnte. Noch habe ich mich nicht mit ihm ausreden können, und ich furchte, ich werde mich ihm nicht so bald ganz verständlich machen können , und er wird meine Ideen mißdeuten. Es
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tel der Bildung weigern, mich entfernen aus der leichten Gemeinschaft mit dem T h u n des jezigen Geschlechtes, und mit der Vorwelt M o n u menten? mich weit von der schönen Welt in der ich lebe hinaus in öde Wüsteneien schleudern, wo Kunde von der andern Mensch-|heit zu er- 113 langen vergeblich ist, wo in ewgem Einerlei mich die gemeine N a t u r von allen Seiten eng umschließt, und in der diken verdorbnen Luft, die sie bereitet, nichts schönes, nicht bestimmtes das Auge trift? Wol ist es Vielen so geschehen; doch mir kanns nicht begegnen: ich troze dem, was Tausende gebeugt. N u r durch Selbstverkauf geräth der Mensch in Sklaverei, und nur den, der sich selbst den Preis sezt und sich ausbietet, wagt das Schicksal anzufeilschen. Was lokt den Menschen unstätt von dem Orte weg wo seinem Geiste wohl ist? Was treibt ihn wol mit feiger Thorheit die schönsten Güter von sich zu werfen, wie die Waffen der Krieger auf der Flucht? Es ist der schnöde äußere Gewinn, es ist der Reiz der sinnlichen Begierde, den schon verdampft das alte Getränk nicht mehr befriedigt. Wie könnte meiner Verachtung solcher Schatten dies geschehen! Mit Fleiß und Mühe hab ich mir den O r t | errungen wo 114 ich stehe, mir mit Bewußtsein und Anstrengung die eigne Welt gebildet, in der mein Geist gedeihen kann: wie sollte dies feste Band ein flüchtger Reiz der Furcht oder H o f n u n g lösen? wie sollte ein eitler T a n d mich aus der Heimath loken, und aus dem Kreise der lieben Freunde?
Doch diese Welt mir zu erhalten und immer genauer zu verbinden, ist nicht das Einzige was ich fordere: ich sehne mich nach einer neuen Welt. Manch neues Bündniß ist noch zu knüpfen, mancher noch unbe25 kannten Liebe neu Gesez muß noch das Herz bewegen, daß sich zeige, wie sich dies in meinem Wesen zum Anderen fügt. In Freundschaft je-
ist ein sehr unangenehmes Gefühl, einem Mann, den man so sehr schäzt und liebt, dennoch etwas, was so genau mit dem innersten Menschen zusammenhängt, nicht deutlich machen zu können, und darum hauptsächlich nenne ich diese Geschichte eine Fatalität." (Briefe 1,183f, vgl. auch Briefe l,187f) 14-16 Vgl. Schleiermachers Brief vom 15. Oktober 1798 an seine Schwester Charlotte: „Die Stelle in Schwedt ausgeschlagen zu haben, hat mich noch keinen Augenblick gereut; es sind dabei wirklich nicht nur meine hiesigen freundschaftlichen Verbindungen im Spiel, sondern mein ganzes literarisches Streben, welches doch ein wichtiger Gegenstand ist. Wenn Andere Stellen annehmen und vertauschen, nur um des Geldes willen oder um heirathen zu können, so findet man das natürlich und in der Ordnung, und wenn jemand nicht seinen Beutel oder seinen Ehestand, sondern seinen Kopf die zweite Hauptrücksicht sein läßt, so soll das übel gedeutet werden; das ist in der That auf alle Weise unbillig. Ich tröste mich aber, und jede neue Gelegenheit etwas zu lernen, die sich mir eröffnet, und jede schöne Stunde die ich in Unterredungen zubringe, in denen das Gemüth sich fühlt und beruhigt und bestimmt, läßt mich mit Freude an meine Beharrlichkeit denken. Und gewiß verrichte ich meine Amtsgeschäfte hier mit so viel Lust und Liebe, als es mir in Schwedt nur immer möglich gewesen sein könnte." (Briefe 1,195) 17-21 Anspielung auf Berlin und den dortigen Frühromantikerkreis
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der Art hab ich gelebt; der Liebe süßes Glük hab ich mit heiigen Lippen gekostet, ich weiß was mir in beiden ziemt, und kenne meiner Schiklichkeit Gesez: noch aber muß die heiligste Verbindung auf eine neue Stufe des Lebens mich erheben, verschmelzen muß ich mich zu Einem Wesen | mit einer geliebten Seele, daß auch auf die schönste Weise 115 meine Menschheit auf Menschheit wirke; daß ich wiße, wie das verklärte höhere Leben nach der Auferstehung der Freiheit sich in mir bildet, wie der alte Mensch die neue Welt beginnt. In Vaterrecht und Pflichten muß ich mich einweihn, daß auch die höchste Kraft, die gegen freie Wesen Freiheit übt, nicht in mir schlummre, d a ß ich zeige, wie wer an Freiheit glaubt, die junge Vernunft bewahrt und schüzt, und wie in diesem großen Problem die schönste Verwirrung des Eigenen und des Fremden der klare Geist zu lösen weiß. Ergreift mich hier nicht gerade beim liebsten Wunsch des Herzens das Schicksal? Wird sich hier die Welt nicht rächen f ü r den T r o z der Freiheit, f ü r das übermüthige Verschmähen ihrer Macht? W o mag sie wohnen mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? Wer mag mir sagen, wohin ich wandern | muß um sie zu suchen? denn solch hohes Gut zu gewinnen ist kein Op- 116 fer zu theuer, keine Anstrengung zu groß! Und wenn ich sie nun finde unter fremden Gesez, das sie mir weigert; werd ich sie erlösen können? Und wenn ich sie gewonnen, hängts dann von meinem Willen ab, ob auch dem Gattenrecht der süße Vatername sich beigesellen wird? H i e r steh ich an der Grenze meiner Willkühr durch fremde Freiheit, durch den Lauf der Welt, durch die Mysterien der Natur. Ich hoffe; viel vermag der Mensch, und manches Schwere erringt des Willens Kraft und ernstliches Bestreben. Doch wenn nun H o f f e n und Bestreben vergeblich ist; wenn Alles sich mir weigert: bin ich dann vom Schiksal hier besiegt? H a t es dann wirklich der Erhöhung meines innern Lebens sich widersezt, und meine Bildung zu beschränken vermocht durch seinen Eigensinn? Es hindert nicht der äußern T h a t Unmöglichkeit das innere Handeln; und mehr | als mich und sie würd ich die Welt bedauern, die 117 Welt, die wol ein schönes und seltnes Beispiel dann verlöre, eine Erscheinung aus der beßern Z u k u n f t hieher verirrt, an der sie ihre todten Begriffe erwärmen und beleben könnte. Uns, so gewiß einander wir gehören, trägt doch auch unbekannt in unser schönes Paradies die Fantasie. Nicht vergeblich hab ich mancherlei Gestalten des weiblichen Ge-
16-24 Anspielung auf Eleonore Christine Grunow, geb. Krüger, der Schleiermacher seit dem Kennenlernen 1798 liebend verbunden war, die sich in ihrer 1796 geschlossenen kinderlosen Ehe mit dem lutherischen Prediger des Berliner Invalidenhauses August Christian Wilhelm Grunow (1764-1831) sehr unglücklich fühlte und die Schleiermacher zu Scheidung und neuer Heirat zu bewegen versuchte.
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müthes gesehn, und ihres stillen Lebens schöne Weisen mir bekannt gemacht. Je weiter ich noch selbst von seinen Grenzen stand, desto sorgsamer nur hab ich der Ehe heiliges Gebiet erforscht: ich weiß was Recht dort ist, was nicht; und alle möglichen Gestalten des Schiklichen hab ich mir ausgebildet, wie erst die späte freie Z u k u n f t sie zeigen wird, und welche drunter mir geziemt, weiß ich genau. So kenn ich die auch unbekannt, mit der ich mich fürs Leben aufs innigste vereingen könnte, und in dem schönen Leben, | das wir führen würden, bin ich einge- 118 wohnt. Wie ich jezt traurend in öder Einsamkeit mir manches einrichten und beginnen, verschweigen, versagen und in mich verschließen muß, im Kleinen und Großen: es schwebt mir doch immer lebendig dabei vor, wie das in jenem Leben anders und beßer würde sein. So ists gewiß auch ihr, wo sie auch sein mag, die so geartet ist, daß sie mich lieben, daß ich ihr genügen könnte; gleiche Sehnsucht, die mehr als leeres Verlangen ist, enthebt auch sie wie mich der öden Wirklichkeit f ü r die sie nicht gemacht ist, und wenn ein Zauberschlag uns plözlich zusammenführte, würde Nichts uns fremd sein, als wären wir alter süßer Gewohnheit verpflichtet, so anmuthig und leicht würden wir in der neuen Lebensweise wandeln. So fehlt uns also nicht, auch ohne jenen Zauberschlag, in uns das höhere Dasein; f ü r dieses Leben und durch daßelbe sind wir doch gebildet, und nur die äußre Darstellung entgeht der Welt. | Ο wüßten doch die Menschen diese Götterkraft der Fantasie zu 119 brauchen, die allein den Geist ins freie stellt, ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung weit hinaus trägt, und ohne die des Menschen Kreis so eng und ängstlich ist! Wie Vieles berührt denn Jeden im kurzen Lauf des Lebens? Von wieviel Seiten müßte der Mensch nicht unbestimmt und ungebildet bleiben, wenn nur auf das Wenige, was ihn von außen wirklich anstößt, sein innres Handeln ginge? Aber so sinnlich sind sie in der Sittlichkeit, daß auch sie selbst nur da sich recht vertraun, wo ihnen die äußre Darstellung des Handelns Bürgschaft leistet für ihres Bewußtseins Wahrheit. Umsonst steht in der großen Gemeinschaft der Menschen der, der so sich selbst beschränkt! es hilft ihm nicht, daß ihm vergönnt ist ihr T h u n und Leben anzuschaun; vergebens muß er sich über die träge Langsamkeit der Welt und über ihre matten Bewegungen beklagen. Er | wünscht sich immer neue Verhältniße, von außen immer 120 andre Aufforderungen zum Handeln, und neue Freunde nachdem die Alten was sie konnten auf sein Gemüth gewirkt, und allzulangsam weilt ihm überall das Leben. Und wenns auch in beschleunigterem Lauf ihn tausend neue Wege führen wollte, könnte denn in der kurzen Spanne des Lebens sich die Unendlichkeit erschöpfen? Was Jene niemals sich erwünschen können, gewinne ich durch das innere Spiel der Fantasie. Sie ersezt mir was der Wirklichkeit gebricht; jedes Verhältniß, worin
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ich einen Andern erblike, mach ich mir durch sie z u m eigenen; es b e wegt sich innerlich der Geist, gestaltets seiner N a t u r g e m ä ß , und bildet wie er handeln würde, im U r t h e i l vor. A u f gemeines U r t h e i l der M e n schen über fremdes Sein und f r e m d e T h a t , das mit todten B u c h s t a b e n nach leeren F o r m e l n b e r e c h n e t wird, ist freilich kein V e r l a ß , und g a r anders als sie v o r h e r ge-|urtheilt haben, handeln sie h e r n a c h . H a t aber, wie es sein muß, w o wahres Leben ist, ein inneres H a n d e l n das Bilden der Fantasie begleitet, und ist das Urtheil dieses innern H a n d e l n s lautes Bewußtsein: dann hat das angeschaute F r e m d e den G e i s t gebildet, eben als war es auch in der W i r k l i c h k e i t sein Eigenes, als hätte er äußerlich gehandelt. S o nehm ich wie bisher auch f e r n e r k r a f t dieses innern H a n d e l n s von der g a n z e n W e l t Besiz, und b e ß e r nuz ich Alles in stillem Anschaun, als wenn jedes Bild in raschem W e c h s e l auch äußere T h a t begleiten müßte. T i e f e r prägt so sich jedes V e r h ä l t n i ß ein, bestimmter ergreifts der Geist, und reiner ist des eignen W e s e n s A b d r u k im freien u n b e f a n g n e n Urtheil. W a s dann das äußere L e b e n wirklich bringt ist nur des frühern und reichern innern Bestätigung und P r o b e , und in das dürftige M a a ß von j e n e m ist nicht die Bildung des Geistes eingeschränkt. U e b e r des Schiksals Träg-|heit klag ich nicht mehr, als ü b e r seinen schnellen und krümmungsvollen L a u f . Ich weiß, d a ß nie mein äußeres L e b e n von allen Seiten das innere W e s e n darstellen und vollenden wird. N i e wird es mir ein g r o ß e s V e r h ä l t n i ß bieten, w o meine T h a t das W o l und W e h von T a u s e n d e n entscheidet, und sichs äußerlich b e weisen kann, wie Alles mir Nichts ist gegen ein einzges von den h o h e n und heiligen Idealen der V e r n u n f t . N i e werd ich vielleicht in o f n e F e h d e mit der W e l t gerathen, und zeigen k ö n n e n , wie wenig Alles, was ihr zu geben und zu nehmen vergönnt ist, meinen innern Frieden und die stille E i n h e i t meines W e s e n s stört. D o c h weiß ich in mir selbst, wie ich auch das behandeln würde, wie zu dem allen s c h o n lange mein G e müth bereitet und gebildet ist. S o leb ich in stiller V e r b o r g e n h e i t d o c h auf dem g r o ß e n thatenreichen Schauplaz der W e l t . S o ist der B u n d mit der geliebten Seele schon dem E i n s a m e n ge-|stiftet, die s c h ö n e G e m e i n schaft besteht, und ist der b e ß r e T h e i l des Lebens. S o werd ich auch der Freunde Liebe die einzige theure H a b e mir gewiß erhalten, was auch mir o d e r ihnen in Z u k u n f t mag begegnen. W o l fürchten die M e n s c h e n , daß nicht lange die F r e u n d s c h a f t währe, w a n d e l b a r scheint ihnen das G e m ü t h , es k ö n n e der Freund sich ändern, mit der alten G e s i n n u n g fliehe die alte Liebe, und T r e u e sei ein seltenes G u t . Sie haben R e c h t ; es liebt ja, wenn sie ü b e r das N ü z l i c h e hinaus noch etwas kennen, d o c h E i n e r vom A n d e r n nur den leichten Schein der das G e m ü t h umfließt, die o d e r j e n e T u g e n d , die was sie eigentlich im Innern sei, sie nie e r f o r s c h e n ; und wenn in den V e r w i r r u n gen des Lebens ihnen das zerfließt, so schämen sie sich nicht nach lan-
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gen Jahren noch zu gestehn, sie haben am Menschen sich geirrt. Mir ist nicht schöne Gestalt noch was sonst im ersten Anblik das Herz der Menschen fängt ver-|liehen: doch webt sich Jeder der mein Innres nicht 124 durchschaut auch einen solchen Schein. Da wird das gute Herz geliebt das ich nicht möchte, das bescheidne Wesen das ich nicht habe, die Klugheit auch die ich von Herzen verachte. Ja solche Liebe hat mich schon o f t verlaßen; auch gehört sie nicht zu jener H a b e die mir theuer ist. N u r was ich selbst hervorgebracht und immer wieder aufs Neue mir erwerbe, ist f ü r mich Besiz: wie könnt ich zu dem Meinen rechnen, was nur aus jenem Schein entsteht den ihr blödsichtig Auge dichtet. Rein weiß ich mich davon, daß ich sie nicht betrüge: aber warlich es soll die falsche Liebe mich auch nicht länger als ich es tragen mag verfolgen. N u r eine Aeußerung des innern Wesens, die sie nicht mißverstehen können, kostets mich; nur einmal sie grade hin auf das zu führen, was ich im Gemüth am köstlichsten bewahre, und was sie nicht dulden mögen: so bin ich ledig der Qual, daß | sie mich f ü r den ihren halten, daß 125 mich lieben, die mich haßen sollten. Gern geb ich ihnen die Freiheit wieder, die in falschem Schein befangen war. Die aber sind mir sicher, die wirklich mich, mein innres Wesen lieben wollen, und fest umschlingt sie das Gemüth, und wird sie nimmer laßen. Sie haben mich erkannt, sie schauen den Geist, und die ihn einmal lieben wie er ist, die müßen ihn immer wieder und immer tiefer lieben, je mehr er sich entwikelt und bildet.
Dieser Habe bin ich so gewiß als meines Seins; auch hab ich Kei25 nen noch verloren, der mir je in Liebe theuer ward. Du der in frischer Blüthe der Jugend, mitten im raschen frohen Leben unsern Kreis verlaßen mußtest - ja, ich darf anreden das geliebte Bild das mir im Herzen wohnt, das mit dem Leben und der Liebe fortlebt, und mit dem Gram nimmer hat dich mein Herz verlaßen; es hat dich mein Ge-|danke fort- 126 30 gebildet, wie du dich selbst gebildet haben würdest, hättest du erlebt die neuen Flammen, die die Welt entzünden, es hat dein Denken mit dem Meinen sich vereint, und das Gespräch der Liebe zwischen uns, der Gemüther Wechselanschauung hört nimmer auf, und wirket fort auf mich als lebtest du neben mir wie sonst. Ihr Geliebten, die ihr wirklich, nur in 35 der Ferne lebt, und oft von eurem Geist und Leben ein frisches Bild mir sendet, was kümmert uns der Raum? Wir waren lange bei einander und
1 - 3 Anspielung auf die Kleinwüchsigkeit und die leichte Verwachsenheit Schleiermachers 2 5 - 3 4 Anspielung auf Samuel Okely, der zu Schleiermachers Freundeskreis im Barbyer Seminarium der Brüder- Unität gehörte, aus Gewissensgründen das Seminarium am 3. Dezember 1786 verließ und im Frühsommer 1787 in seiner englischen Heimat beim Baden ertrank. 30 f Anspielung auf die Französische Revolution 3 4 - 6 Friedrich Schlegel, der seit dem 21. Dezember 1797 bei Schleiermacher gewohnt hatte, war Anfang September 1799 zusammen
IV.
Aussicht
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waren uns weniger gegenwärtig als wir jetzt sind: denn was ist Gegenwart als die Gemeinschaft der Geister? Was ich nicht sehe von Eurem Leben bild ich selbst, Ihr seid mir nahe bei allem in mir, um mich her, was Euren Geist lebendig berühren muß, und wenig W o r t e bestätigen mir alles oder leiten auf rechte Spur mich wo noch Irrthum möglich war. Ihr, die Ihr mich jezt umgebt in süßer Liebe, Ihr | wißt wie wenig die Lust mich quält die Erde zu durchwandeln; ich stehe fest an meinem Ort, und werde nicht verlaßen den schönen Besiz, in jedem Augenblik Gedanken und Leben mit Euch tauschen zu können; wo solche Gemeinschaft ist, da ist mein Paradies. Gebietet über Euch ein anderer Gedanke, wol: es giebt f ü r Uns doch keine Entfernung. - Aber T o d ? Was ist denn T o d , als größere Entfernung? Düstrer Gedanke, der unerbittlich jedem Gedanken an Leben und Z u k u n f t folgt! Wol kann ich sagen, daß die Freunde mir nicht sterben; ich nehm ihr Leben in mich auf, und ihre Wirkung auf mich geht niemals unter: mich aber tödtet ihr Sterben. Es ist das Leben der Freundschaft eine schöne Folge von Akkorden, der, wenn der Freund die Welt verläßt, der gemeinschaftliche Grundton abstirbt. Zwar innerlich hallt ihm ein langes Echo ununterbrochen nach, und weiter geht die Musik: doch erstorben | ist die begleitende Harmonie in ihm, zu welcher ich der Grundton war, und die war mein, wie diese in mir sein ist. Mein Wirken in ihm hat aufgehört, es ist ein Theil des Lebens verloren. Durch Sterben tödtet jedes liebende Geschöpf, und wem der Freunde Viele gestorben sind, der stirbt zulezt den T o d von ihrer H a n d , wenn ausgestoßen von aller Wirkung auf die, welche seine Welt gewesen, und in sich selbst zurück gedrängt, der Geist sich selbst verzehrt. Zwiefach ist des Menschen nothwendiges Ende. Vergehen muß, wem so unwiederbringlich das Gleichgewicht zerstört ist zwischen dem innern und äußern Leben. Vergehen müßte auch, wem es anders zerstört ist, wer, am Ziele der Vollendung seiner Eigenthümlichkeit angelangt, von der reichsten Welt umgeben, in sich nichts mehr zu handeln hätte; ein ganz vollende-
11 Entfernung.] Entfernung
19 ihm] ihn
19 Echo] Eccho
22 Durch] Dnrch
mit Dorothea Veit, die seinetwegen ihren Ehemann verlassen hatte, nach Jena übergesiedelt. Schleiermacher stand in regem Briefwechsel mit beiden. 6-11 Anspielung auf Henriette Herz und Eleonore Grunow 14-26 Vgl. Gedanken I, Nr. 7 (KGA 1/2,7,25-8,3) und Gedanken III, Nr. 1 (KGA 1/2,119,1-8). Schleiermacher teilte diese Textpassage, deren Gedankengehalt er schon am 18. August 1797 brieflich an seine Schwester Charlotte geäußert hatte (vgl. Briefe 1,144), derselben wörtlich am 13. Februar 1801 in einem Brief mit, wobei er diese „mir recht aus der Seele gegriffene Stelle aus einem kleinen Büchlein" (Briefe 1,263) mit dem Schlußsatz wertete: „Es ist etwas dunkel, wie das ganze Büchlein, aber wenn man es erst versteht, ist es schon recht. " (Briefe 1,263)
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tes W e s e n ist ein G o t t , es k ö n n t e die Last des Lebens nicht ertragen, und hat nicht in der W e l t der M e n s c h h e i t | R a u m . N o t h w e n d i g also ist der T o d , und dieser N o t h w e n d i g k e i t mich n ä h e r zu bringen sei der Freiheit W e r k , und sterben wollen k ö n n e n mein höchstes Ziel! G a n z und innig will ich die F r e u n d e u m f a ß e n und ihr ganzes W e s e n ergreifen, daß j e d e r mich mit süßen S c h m e r z e n tödten helfe, wenn er mich verläßt, und i m m e r fertiger will ich mich bilden, d a ß auch so dem Sterbenwollen i m m e r näher die Seele k o m m e . Aus beiden E l e m e n t e n ist imm e r der T o d des M e n s c h e n zusammengesezt, und so werden nicht die Freunde alle mich verlaßen, n o c h werd ich jemals g a n z der V o l l e n d u n g Ziel erreichen. In s c h ö n e m E b e n m a a ß werd ich nach meines W e s e n s N a t u r mich ihm von allen Seiten n ä h e r n ; dies G l ü c k gewähren mir meine s c h ö n e R u h e , und mein stilles gedankenvolles L e b e n . Es ist das höchste für ein W e s e n wie meines, d a ß die innere Bildung auch übergeh in äußre Darstellung, denn durch V o l l e n d u n g nähert j e d e N a t u r sich ih-|rem G e g e n s a z . D e r G e d a n k e in einem W e r k der K u n s t mein innres W e s e n , und mit ihm die ganze Ansicht, die mir die M e n s c h h e i t gab, zurükzulaßen, ist in mir die A h n d u n g des T o d e s . W i e ich mir der vollen Blüthe des L e b e n s bewußt zu werden anfing, keimte er auf, j e z t wächst er in mir täglich und nähert sich der Bestimmtheit. U n r e i f , ich weiß es, werd ich ihn aus freiem E n t s c h l u ß aus meinem Innern lösen, ehe das F e u e r des Lebens ausgebrannt ist; ließ ich ihn aber reifen und vollkommen werden das W e r k : so m ü ß t e dann, so wie das treue Ebenbild erschiene in der Welt, mein W e s e n selbst vergehn; es wäre vollendet.
24 w ä r e ] wärde
16-18 Vgl. Schleiermachers Pläne für einen Roman in Gedanken I, Nr. 187 (KGA 1/2, 42,11-20)
V. J u g e n d u n d Alter.
Wie der Uhren Schlag mir die Stunden, der Sonne Lauf mir die Jahre zuzählt, so leb ich - ich weiß es - immer näher dem Tode entgegen. Aber dem Alter auch? dem schwachen stumpferen Alter auch, worüber Alle so bitter klagen, wenn unvermerkt ihnen verschwunden ist die Lust der frohen Jugend, und der innern Gesundheit und Fülle übermüthiges Gefühl? Warum laßen sie verschwinden die goldene Zeit, und beugen dem selbstgewählten Joch seufzend den Naken? Auch ich glaubte schon einst, daß nicht länger dem Manne geziemten die Rechte der Jugend; leiser und be-|dächtig wollte ich einhergehn, und durch der Entsagung weisen Entschluß mich bereiten zur trüberen Zeit. Aber es wollten nicht dem Geist die engeren Grenzen genügen, und es gereute mich bald des verkümmerten nüchternen Lebens. Da kehrte auf den ersten Ruf die freundliche Jugend zurük, und hält mich immer seitdem umfaßt mit schüzenden Armen. Jezt wenn ich wüßte, daß sie mir entflöhe wie die Zeiten entfliehen, ich stürzte mich lieber bald dem Tode freiwillig entgegen, daß nicht die Furcht vor dem sicheren Uebel mir jegliches Gute bitter vergällte, bis ich mir endlich doch durch unfähiges Dasein ein schlechteres Ende verdient. Doch ich weiß, daß es nicht also sein kann: denn es soll nicht. Wie? es dürfte das Leben des Geistes, das freie, das ungemeßne mir eher verrinnen als das irdische, das beim ersten Schlage des Herzens
14-16 Anspielung vermutlich auf das Jahr 1797, in dem Schleiermachers Freundschaft mit Henriette Herz sowie die mit Friedrich Schlegel begann. 21-13 Schleiermacher, der fiir sich höchstens ein Lebensalter von 50 Jahren erwartete, der „so viel Muth" hatte und „so viel auf's Unvergängliche" (Briefe 1,192) hielt, schrieb am 9. September 1798 an Henriette Herz: „Fühlen Sie denn nicht selbst die Ewigkeit von allem, was ist, und es ist nicht eine untrügliche, sittliche Anschauung, daß dasjenige ist, was sich so offenbart?[...] Trösten Sie sich nur über meine fünfzig Jahre. Wozu wäre denn die ewige Jugend ewig, wenn es dabei auf Länge und
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schon die Keime des Todes enthielt? Nicht immer | sollte mir mit der vollen gewohnten Kraft aufs Schöne gerichtet die Fantasie sein? Nicht immer so leicht der heitere Sinn, und so rasch zum Guten bewegt und liebevoll das Gemüth? Bange sollt ich horchen den Wellen der Zeit, und sehen müßen, wie sie mich abschliffen und ausholten, bis ich endlich zerfiele? Sprich doch Herz, wie viel Male dürft ich noch zählen, bis das Alles käme, die Zeit, die mir jezt eben verging bei dem Jammergedanken? Gleich wenig wären mir, wenn ichs abzählen könnte, Tausende oder Eins. D a ß du ein T h o r wärest zu weißsagen aus der Zeit auf die Kraft des Geistes, deßen M a a ß jene nimmer sein kann! Durchwandeln doch die Gestirne nicht in gleicher Zeit daßelbe von ihrer Bahn, sondern ein höheres Maaß mußt du suchen um ihren Lauf zu verstehn: und der Geist sollte dürftigern Gesezen folgen als sie? Auch folgt er nicht. Frühe sucht Manchen das Alter heim, das | mürrische dürftige hofnungslose, und ein feindlicher Geist bricht ihm ab die Blüthe der Jugend, wenn sie kaum sich aufgethan; lange bleibt Andern der Muth, und das weiße H a u p t hebt noch und schmükt Feuer des Auges und des Mundes freundliches Lächeln. Warum soll ich nicht länger noch, als der am längsten da stand in der Fülle des Lebens, mir im glüklichen Kampf abwehren den verborgenen T o d ? Warum nicht ohne die Jahre zu zählen und des Körpers Verwittern zu sehen, durch des Willens Kraft festhalten bis an den lezten Athemzug die geliebte Göttin? Was denn soll diesen Unterschied machen, wenn es der Wille nicht ist? H a t etwa der Geist sein bestimmtes M a a ß und Größe, daß er sich ausgeben kann und erschöpfen? N u z t sich ab seine Kraft durch die That, und verliert etwas bei jeder Bewegung? Die des Lebens sich lange freuen, sind es nur die Geizigen, welche wenig gehandelt haben? Dann | treffe Schande und Verachtung jedes frische und frohe Alter: denn Verachtung verdient wer Geiz übt in der Jugend. Wäre so des Menschen Loos und Maaß, möcht ich lieber zusammendrängen was der Geist vermag in engen Raum: kurz möchte ich leben um jung zu sein und frisch so lange es währt! Was hilfts die Stralen des Lichts dünn auszugießen über die große Fläche? es offenbart sich nicht die Kraft und richtet Nichts aus. Was hilft Haushalten mit dem Handeln, und Ausdehnen in die Länge, wenn du schwächen mußt den innern Gehalt, wenn doch am Ende nicht mehr ist was du gehabt hast? Lieber gespendet in wenig Jahren das Leben in glänzender Verschwen-
Kürze ankäme. Lassen Sie uns in der Z.eit die Qualität suchen; dies ist immer zugleich die schönste Anticipation der Quantität. Wenn wir uns das goldene Alter machen, ist das nicht eben so gut, als ob wir so wohl hundert Jahre gelebt hätten, bis es etwa von selbst zu uns gekommen wäret und so haben wir es selbst noch dazu gemacht." (Briefe 1,192)
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dung, daß du dich freuen könnest deiner Kraft, und übersehen was du gewesen bist. Aber es ist nicht so unser Loos und Maaß; es vermag nicht solch sinnlicher Begrif in seinen Kreis zu bannen den Geist. Woran sollte sich brechen seine Gewalt? was | verliert er von seinem Wesen, wenn er handelt und sich mittheilt? was giebts das ihn verzehrt? Klarer und reicher fühl ich mich jezt nach jedem Handeln, stärker und gesunder: denn bei jeder That eigne ich etwas mir an von dem gemeinschaftlichen Nahrungsstoffe der Menschheit, und wachsend bestimmt sich genauer meine Gestalt! Ists nur so, weil ich jezt noch die Höhe des Lebens hinaufsteige? wol; aber wann kehrt sich denn plözlich um das schöne Verhältniß? wenn fang ich an durch die That nicht zu werden sondern zu vergehen? und wie wird sich mir verkünden die große Verwandlung? Kommt sie, so muß ich sie erkennen, und erkenne ich sie, so wähle ich lieber den Tod, als in langem Elend anzuschaun an mir selbst der Menschheit nichtiges Wesen. Ein selbstgeschafnes Uebel ist das Verschwinden des Muthes und der Kraft; ein leeres Vorurtheil ist das Alter, die schnöde Frucht von dem tollen Wahn, daß der | Geist abhänge vom Körper! Aber ich kenne den Wahn, und es soll mir nicht seine schlechte Frucht das gesunde Leben vergiften. Bewohnt denn der Geist die Faser des Fleisches, oder ist er eins mit ihr, daß auch er ungelenk zur Mumie wird, wenn diese verknöchert? Dem Körper bleibe was sein ist. Stumpfen die Sinne sich ab; werden schwächer die Bilder von den Bildern der Welt: so muß wol auch stumpfer werden die Erinnerung, und schwächer manches Wohlgefallen und manche Lust. Aber ist dies das Leben des Geistes? dies die Jugend, deren Ewigkeit ich anbete? Wie lange wär ich schon des Alters Sklave, wenn dies den Geist zu schwächen vermöchte! Wie lange hätte ich schon der schönen Jugend das lezte Lebewol zugerufen! Aber was noch nie mich gestört hat im kräftigen Leben, soll es auch nimmer vermögen. Wozu denn haben Andere neben mir beßeren Leib und schärfere Sinne? werden sie | mir nicht immer gewärtig sein zum liebreichen Dienste wie jezt? Daß ich trauren sollte über des Leibes Verfall wäre mein leztes! was kümmert er mich? Und welches Unglük wird es denn sein, wenn ich nun vergeße was gestern geschah? Sind eines Tages kleine Begebenheiten meine Welt? oder die Vorstellungen des Einzelnen und Wirklichen aus dem engen Kreise den des Körpers Gegenwart umfaßt, die ganze Sphäre meines innern Lebens? Wer also in niedrigem Sinn die höhere Bestimmung verkennt, wem die Jugend nur lieb war, weil sie das beßer gewährt, der klage mit Recht über das Elend des Alters! Aber wer wagt es zu behaupten, daß auch das Bewußtsein der großen heiligen Gedanken, die aus sich selbst der Geist erzeugt, abhänge vom Körper, und der Sinn für die wahre Welt von der äußeren Glieder
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Gebrauch? Brauch ich um anzuschaun die Menschheit das Auge, deßen Nerve sich | jezt schon abstumpft in der Mitte des Lebens? Oder muß, 139 auf daß ich lieben könne, die es werth sind, das Blut, das jezt schon langsam fließt, sich in rascherem Lauf drängen durch die engen Kanäle? O d e r hängt mir des Willens K r a f t an der Stärke der Muskeln? am Mark der gewaltigen Knochen? oder der Muth am Gefühl der Gesundheit? Es betrügt ja doch die es haben; in kleinen Winkeln verbirgt sich der Tod, und springt auf einmal hervor und umfaßt sie mit spottendem Gelächter. Was schadets denn, wenn ich schon weiß, wo er wohnt? Oder vermags der wiederholte Schmerz, Vermögens die mancherlei Leiden niederzudrüken den Geist, daß er unfähig wird zu seinem innersten eigensten Handeln? Ihnen widerstehn ist ja auch sein Handeln, und auch sie rufen große Gedanken zur Anwendung hervor ins Bewußtsein. Dem Geist kann kein Uebel sein, was sein Handeln nur ändert. | Ja, ungeschwächt will ich ihn in die späteren Jahre bringen, nimmer 140 soll der frische Lebensmuth mir vergehn; was mich jezt erfreut soll mich immer erfreun; stark soll mir bleiben der Wille und lebendig die Fantasie, und nichts soll mir entreißen den Zauberschlüßel, der die geheimnißvollen T h o r e der höhern Welt mir öfnet, und nimmer soll mir verlöschen das Feuer der Liebe. Ich will nicht sehn die gefürchteten Schwächen des Alters; kräftige Verachtung gelob ich mir gegen jedes Ungemach, welches das Ziel meines Daseins nicht trift, und ewige Jugend schwör ich mir selbst.
Doch verstoß ich auch nicht mit dem Schlechten das Gute? Ist 25 denn das Alter, entgegengestellt der Jugend, nur Schwäche? Was verehren denn die Menschen an den greisen Häuptern, auch an denen die keine Spur haben von der ewigen Jugend, der schönsten Frucht der Freiheit? Ach oft ist es nichts, als daß die Luft die sie einath-|meten und 141 das Leben das sie führten wie ein Keller war, worin ein Leichnam sich 30 lange erhält ohne die Verwesung zu sehen, und dann verehrt sie als heilige Leiber das Volk. Wie das Gewächs des Weinstocks ist ihnen der Geist: ist es auch schlechter Natur; es wird doch beßer, und höher geschäzt, wenn es alt wird. Aber nein! sie reden gar viel von den eigenen Tugenden der höheren Jahre, von der nüchternen Weisheit, von der 35 kalten Besonnenheit, von der Fülle der Erfahrung, und von der bewunderungslosen gelaßenen Vollendung in der Kenntniß der bunten Welt. N u r der Menschheit vergängliche Blüthe sei die reizende Jugend; aber die reife Frucht sei das Alter, und was es dem Geiste bringt. Da sei erst
1 f Kurzsichtigkeit und Empfindlichkeit der Augen behinderten Schleiermachers Arbeiten. 22 f Bereits im Sommer 1798 äußerte sich Schleiermacher brieflich gegenüber Friedrich Schlegel (vgl. Briefe 3,89) und Henriette Herz (vgl. Briefe 1,192) zum Thema der ewigen Jugend, auf die er dann auch Eleonore Grunow verpflichten wollte (vgl. Briefe 1,353).
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aufs höchste geläutert durch Luft und Sonne, und in schöner bedeutender Gestalt vollendet und zum Genuß bereitet das Innerste der menschlichen Natur. Ο der nordischen Barbaren, die das schönere Kli-|ma 142 nicht kennen, wo zugleich glänzt die Frucht und die Blüthe, und in schönem Wetteifer sich immer beide vereinigen! Ist die Welt so kalt und unfreundlich, daß sich der Geist nicht zu dieser höhern Schönheit und Vollendung erheben dürfte? Wol kann nicht Jeder Alles haben was schön und gut ist; aber unter die Menschen sind die Gaben vertheilt, nicht unter die Zeiten. Ein ander Gewächs ist Jeder; aber dies kann blühen und Früchte tragen immerdar. Was sich in Demselben vereinigen kann, das kann er auch Alles neben einander haben und erhalten, kann es und soll es auch. Wie kommt dem Menschen die besonnene Weisheit und die reife Erfahrung? wird sie ihm gegeben von oben herab, und ists höhere BeStimmung, daß er sie nicht eher erhält, als wenn er beweisen kann, daß seine Jugend verblüht ist? Ich fühle, wie ich sie jezt erwerbe; es ist das Treiben der Jugend und das frische Leben des Geistes, was | sie hervor- 143 bringt. Umschaun nach allen Seiten, aufnehmen Alles in den innersten Sinn, besiegen einzelner Gefühle Gewalt, daß nicht die Thräne, seis der Freude oder des Kummers, trübe das Auge des Geistes und verdunkle seine Bilder, rasch sich von einem zum andern bewegen, und unersättlich im Handeln auch fremdes T h u n noch innerlich nachahmend abbilden; das ist das muntere Leben der Jugend, und das ist das Werden der Weisheit und der Erfahrung. Je beweglicher die Fantasie, je schneller die Thätigkeit des Geistes: desto eher wachsen und werden sie. U n d wenn sie geworden sind, dann sollte dem Menschen nicht mehr ziemen das muntere Leben, das sie erzeugt hat? Sind sie denn je vollendet die hohen Tugenden? und wenn sie durch die Jugend und in ihr geworden sind, bedürfen sie nicht immer derselben K r a f t um noch mehr zu werden und zu wachsen? Aber mit leerer Heuchelei betriegen sich die Menschen um | ihr schönstes Gut, und auf den tiefsten Grund der be- 144 schränktesten Unwißenheit ist die Heuchelei gebaut. Der Jugend Beweglichkeit, meinen sie, sei das Treiben deßen der noch sucht, und Suchen zieme nicht mehr dem, der am Ende des Lebens ist; er müße sich schmücken mit träger Ruhe, dem verehrten Symbol der Vollendung, mit der Leerheit des Herzens, dem Zeichen von der Fülle des Verstandes; so müße der Mensch einhergehn im Alter, daß er nicht, wenn er noch immer zu suchen scheine, unter dem Gelächter des Spottes über das eitle Unternehmen hinab steigen müße in den T o d . N u r wer Schlechtes und Gemeines sucht, dem sei es ein Ruhm Alles gefunden zu haben! Unendlich ist was ich erkennen und besizen will, und nur in einer unendlichen Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen. Von mir soll nie weichen der Geist, der den Menschen vorwärts |
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treibt, und das Verlangen, das nie gesättigt von dem, was gewesen ist, immer Neuem entgegen geht. Das ist des Menschen Ruhm, zu wißen, daß unendlich sein Ziel ist, und doch nie still zu stehn im Lauf; zu wißen, daß eine Stelle kommt auf seinem Wege die ihn verschlingt, und doch an sich und um sich nichts zu ändern, wenn er sie sieht, und doch nicht zu verzögern den Schritt. Darum ziemt es dem Menschen immer in der sorglosen Heiterkeit der Jugend zu wandeln. Nie werd ich mich alt dünken, bis ich fertig bin; und nie werd ich fertig sein, weil ich weiß und will, was ich soll. Auch kann es nicht sein, daß das Schöne des Alters und der Jugend einander widerstrebe: denn nicht nur wächst in der Jugend weshalb sie das Alter rühmen; es nährt auch wieder das Alter der Jugend frisches Leben. Beßer gedeiht ja, wie Alle sagen, der junge Geist, wenn das reife Alter sich seiner annimmt: so verschönt sich auch | des Menschen eigne innere Jugend, wenn er schon errungen hat, was dem Geiste das Alter gewährt. Schneller übersieht was da ist der geübte Blik, leichter faßt Jeder wer schon viel ähnliches kennt, und wärmer muß die Liebe sein, die aus einem höhern Grade eigener Bildung hervorgeht. So soll mir bleiben der Jugend Kraft und Genuß bis ans Ende. Bis ans Ende will ich stärker werden und lebendiger durch jedes H a n deln, und liebender durch jedes Bilden an mir selbst. Die Jugend will ich dem Alter vermählen, daß auch dies habe die Fülle und durchdrungen sei von der allbelebenden Wärme. Was ists denn worüber sie klagen im Alter? Es sind nicht die nothwendigen Folgen der Erfahrung der Weisheit und der Bildung. Macht der Schaz der bewahrten Gedanken stumpf des Menschen Sinn, daß ihn nicht reizt weder Neues noch Altes? Wird die Weisheit mit ihrem festen W o r t zulezt banger Zweifel, der jedes | Handeln zurükhält? Ist die Bildung ein Verbrennungsgeschäft, das in todte Maße den Geist verwandelt? Was sie klagen ist nur, daß ihnen die Jugend fehlt. Und die Jugend warum fehlt sie ihnen? Weil in der Jugend ihnen das Alter gefehlt hat. Doppelt sei die Vermählung. Jezt schon sei im starken Gemüthe des Alters Kraft, daß sie dir erhalte die Jugend, damit später die Jugend dich schüze gegen des Alters Schwäche. Wie sie es theilen, soll gar nicht das Leben getheilt sein. Es erniedrigt sich selbst wer zuerst jung sein will, und dann alt, wer zuerst allein herrschen läßt, was sie den Sinn der Jugend nennen, und dann allein folgen, was ihnen der Geist des Alters scheint; es verträgt nicht das Leben diese Trennung seiner Elemente. Ein doppeltes Handeln des Geistes ist es, das vereint sein soll zu jeder Zeit; und das ist die Bildung
31 dir] Dir
31-59,32
32 dich] Dich
Vgl. Gedanken
37 Trennung] Trennnng
III, Nr. 29 (KGA
1/2,126,4 f )
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und die Vollkommenheit, d a ß Beider sich immer inniger bewußt w e r d e der Mensch | in ihrer Verschiedenheit, und d a ß er in Klarheit sondere 148 eines jeden eignes Geschäft. Für die Pflanze ist das H ö c h s t e die Blüthe, die schöne V o l l e n d u n g des eigenthümlichen Daseins; f ü r die Welt ist das H ö c h s t e die Frucht, die Hülle f ü r den Keim des künftigen Geschlechtes, das Geschenk was jedes eigene Wesen darbieten muß, d a ß die f r e m d e N a t u r es mit sich vereinigen möge. So ist auch f ü r den Menschen das muntere Leben der Jugend das Höchste, und weh ihm, wenn es von ihm weicht: aber die Welt will, er soll alt sein, damit Früchte reifen, je eher je lieber. Also o r d n e dir das Leben einmal f ü r immer. Was allzuspät die Menschen erst das Alter lehrt, wohin gewaltsam in ihren Feßeln die Zeit sie f ü h r t , das sei schon jezt aus des kräftigen Willens freier W a h l deine Weise in Allem was der Welt gehört. W o die Blüthe des Lebens aus freiem Willen eine Frucht ansezt, da werde sie ein süßer G e n u ß der Welt, | u n d 149 verborgen liege darin ein befruchteter Keim, der sich einst entwikelt zu eignem neuen Leben. Was du der Welt bietest, sei Frucht. O p f e r e nicht den kleinsten Theil deines Wesens in falscher G r o ß m u t h ! Laß dir kein H e r z ausbrechen, kein Blättchen pflüken, welches N a h r u n g dir einsaugt aus der umgebenden Welt! Treib auch nicht leeres Gewächs, ungestaltet und ungenießbar, w o etwa ein verderbliches Thierchen dich sticht; sondern Alles was nicht f ü r dich selbst ist W a c h s t h u m der Gestalt oder Bildung neuer Organe, das sei w a h r e Frucht, aus der innern Liebe des Geistes erzeugt, als freie T h a t seines jugendlichen Lebens Denkmal. W e n n sie aber empfangen ist, tritt sie heraus aus dem Gebiet des innern Lebens, und dann werde sie weiter gebildet nach des äußern Handelns Gesez. D a n n sei Klugheit um sie geschäftig und nüchterne Weisheit und kalte Besonnenheit, daß auch wirklich der Welt zu G u t e komme, was | freigebig die Liebe ihr zugedacht hat. D a n n wäge be- 150 dachtsam Mittel und Zwek, sorge und schaue u m h e r mit weiser Furcht, halte zu Rath K r a f t und Arbeit, lege hoch an deine M ü h e , und h a r r e geduldig und unverdroßen des glüklichen Augenbliks.
Wehe, wenn die Jugend in mir, die frische K r a f t die Alles zu Boden wirft, der leichte Sinn, der immer weiter will, sich je bemengte mit des 35 Alters Geschäft, und mit schlechtem Erfolg auf dem f r e m d e n Gebiete des äußeren T h u n s die K r a f t verschwendete, die sie dem innern Leben entzöge! So mögen nur die untergehn, die das innere H a n d e l n nicht kennen, und also mißverstehend den heiligen Trieb jugendlich sein wollen im äußeren T h u n . Im Augenblik soll eine Frucht reifen, wie eine 40 Blüthe sich entfaltet in einer Nacht; es drängt ein Entwurf den andern,
4 - 8 Vgl. Gedanken III, Nr. 39 (KGA 1/2,128,1 β
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und keiner gedeiht; und im raschen Wechsel widersprechender Mittel zerstört sich jedes angefangene Werk. Haben sie so in | vergeblichen Versuchen die schöne Hälfte des Lebens verschwendet, und nichts gewirkt und gethan, da Wirken und T h u n ihr ganzer Zweck war: so verdammen sie den leichten Sinn und das rasche Leben, und es bleibt ihnen allein das Alter zurük, schwach und elend wie es sein muß, wo die Jugend verscheucht und verzehrt ist. D a ß sie mir nicht auch fliehe, will ich sie nicht mißbrauchen; sie soll mir nicht dienen auf fremdem Gebiete zu ungebührlichem Geschäft; in den Grenzen ihres Reichs will ich sie halten, daß ihr kein Verderben nahe. Da aber soll sie mir walten jezt und immer in ungestörter Freiheit; und kein Gesez, welches nur dem äußeren T h u n gebieten darf, soll mir das innere Leben beschränken. Alles Handeln in mir und auf mich, das der Welt nicht gehört, und nur mein eigenes Werden ist, trage ewig der Jugend Farbe, und gehe fort nur dem innern Triebe folgend in schöner sorgloser Freude. Laß dir | keine O r d n u n g gebieten, wenn du anschauen sollst oder begreifen, wenn in dich hineingehn oder aus dir heraus! lustig das fremde Gesez verschmäht und den Gedanken verscheucht, der in todten Buchstaben verzeichnen will des Lebens freien Wechsel. Laß dir nicht sagen, dies müße erst vollendet sein, dann jenes! Gehe weiter wenns dir gefällt mit leichtem Schritt: lebt doch Alles in dir und bleibt was du gehandelt hast, und findest es wieder wenn du zurük kommst. Laß dir nicht bange machen, was wol daraus werden möchte, wenn du jezt dies beginnst oder jenes! Wird immer Nichts als du: denn was du wollen kannst gehört auch in dich hinein. Wolle ja nicht mäßig sein im Handeln! Lebe frisch immer fort: keine Kraft geht verloren, als die du ungebraucht in dich zurükdrängst. Wolle ja nicht dies jezt, damit du hernach wollen könnest jenes! Schäme dich, freier Geist, wenn etwas in dir sollte dienen dem andern; | nichts darf Mittel sein in dir, ist ja Eins so viel werth als das Andere; drum was du wirst werde um sein selbst willen. Närrischer Betrug, daß du wollen solltest was du nicht willst! Laß dir nicht gebieten von der Welt, wenn und was du leisten solltest f ü r sie! Verlache stolz die thörichte Anmaßung muthiger Jüngling, und leide nicht den Druk. Alles ist deine freie Gabe: denn in deinem innern Handeln muß aufgehn der Entschluß ihr etwas zu thun; und thue nichts als was dir in freier Liebe und Lust hervorgeht aus dem Innern des Gemüthes. Laß dir keine Grenzen sezen in deiner Liebe, nicht Maaß, nicht Art nicht Dauer! Ist sie doch dein Eigenthum: wer kann sie fordern? Ist doch ihr Gesez bloß in dir: wer hat etwas zu gebieten? Schäme dich fremder Meinung zu folgen in dem was das Heiligste ist! Schäme dich der falschen Schaam, daß sie nicht verstehen möchten, wenn du den Fragenden sagtest: darum liebe ich. Laß dich nicht | stören, was auch äußerlich geschehe, in des innern Lebens Fülle und Freude! Wer wollte vermi-
V. Jugend und Alter
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sehen was nicht zusammen gehört, und grämlich sein in sich selbst? Härme dich nicht, wenn du dies nicht sein kannst, und Jenes nicht thun! Wer wollte mit leerem Verlangen nach der Unmöglichkeit hinsehn, und mit habsüchtigem Auge nach fremdem Gut? So frei und frölich bewegt sich mein inneres Leben! Wenn und wie sollte wol Zeit und Schiksal mich andere Weisheit lehren? Der Welt laß ich ihr Recht: nach O r d n u n g und Weisheit, nach Besonnenheit und Maaß streb ich im äußern T h u n . Warum sollt ich auch verschmähen was sich leicht und gern darbietet, und willig hervorgeht aus meinem innern Wesen und Handeln? O h n e Mühe gewinnt das Alles in reichem Maaße wer die Welt anschaut; aber durch das Anschaun seiner selbst gewinnt der Mensch, daß sich ihm nicht nähern | darf Muthlosigkeit und Schwäche: denn dem Bewußtsein der innern Freiheit und ihres Handelns entsprießt ewige Jugend und Freude. Dies hab ich ergriffen und laße es nimmer, und so seh ich lächelnd schwinden der Augen Licht, und keimen das weiße H a a r zwischen den blonden Loken. Nichts was geschehen kann mag mir das Herz beklemmen; frisch bleibt der Puls des innern Lebens bis an den T o d .
14-16 Vgl. Gedanken III, Nr. 40 (KGA
1/2,128,3f)
Garves letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften (Sammelrezension) (Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Band 3, Erstes Stück, Berlin 1800)
Garve's letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften. Je w e n i g e r J e m a n d m i t d e r P h i l o s o p h i e a u f d e m r e c h t e n W e g e ist, d e s t o l e i c h t e r k a n n es f r e i l i c h g e s c h e h e n , d a ß e r d u r c h s e i n L e b e n s e i n 5 S y s t e m übertrift, o h n e eigentlich a u c h in j e n e m e t w a s o r d e n t l i c h e s g e l e i s t e t z u h a b e n : es ist a b e r d o c h e r f r e u l i c h w e n n e s a u f d i e A r t g e schieht, w i e b e y Garve, der w e d e r niedergedrückt n o c h abgestumpft, n o c h d e n E i n f l u ß a u f d i e W e l t f r ü h e r a u f g e b e n d als d a s L e b e n s e l b s t , die letzten beschwerlichen S t u n d e n desselben s o u n e r m ü d e t g e n u z t , 10 u n d s o f l e i ß i g g e e i l t h a t , w a s e r n o c h k o n n t e v o n d e n F r ü c h t e n s e i n e s N a c h d e n k e n s z u s a m m e l n u n d d e n z u r ü c k b l e i b e n d e n Z e i t g e n o s s e n als das beste D e n k m a l seines D a s e y n s z u m A u f b e w a h r e n zu übergeben. D a s b e s t e s a g e ich: d e n n o b g l e i c h d e r T o d alle s e i n e l e t z t e n S c h r i f t e n auf eine o d e r die andre Art unterbrochen hat (ich rechne d e n dritten 15 T h e i l d e r V e r s u c h e n o c h m i t ) s o s i n d s i e d o c h b e y w e i t e m d a s w i c h t i g -
8f Christian Garve starb ")6jährig am 1. Dezember 1798 in seinem Geburtsort Breslau nach langer Krankheit, die ihn schon 1772 gezwungen hatte, auf seine Leipziger außerordentliche Philosophieprofessur zu verzichten. 13 Garve: Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre; ein Anhang zu der Uebersicht der verschiedenen Moralsysteme, Breslau 1798 - Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friedrichs des zweyten, 2 Bde, Breslau 1798 - Ubersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsere Zeiten. Eine zu dem ersten Theile der übersetzten Ethik des Aristoteles gehörende und aus ihm besonders abgedruckte Abhandlung, Breslau 1798 (außerdem gedruckt unter dem Titel „Abhandlung über die verschiedenen Principe der Sittenlehre von Aristoteles an bis auf unsre Zeiten"in: Aristoteles, Die Ethik, übersetzt und erläutert von C. Garve, Bd 1, Breslau 1798, S. 1-394) 14 f Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd J, Breslau 1797. Dieser Band enthält die erste Hälfte der großangelegten Abhandlung „ Lieber Gesellschaft und Einsamkeit". Garve schließt seine auf den 21. September 1797 datierte Buchwidmung an Johann Joachim Spalding mit der Ankündigung: „Ich werde thun, was in meinem Vermögen steht, um den künftigen Winter den zweyten Theil dieses Buches zu Stande zu bringen. Die meisten Ideen zu demselben sind gesammelt: aber die letzte Ueberarbeitung, die überhaupt ihre große Schwierigkeiten hat, und nie den Geistes-Genuß gewährt, mit welchem die erste Meditation, und die Erfindung der Ideen verbunden ist, kostet einem Schriftsteller, der seiner Augen so gut als beraubt ist, eine ermüdende Anstrengung. Ich wünsche Ihnen nur, in dem Zustande noch einige Zeit zu verharren, in welchem Sie bisher gewesen sind. Es ist eine Freude, einen verdienstvollen Mann, durch ein hohes gesundes Alter, ungewöhnliche Munterkeit des Geistes, Freude an seinen Kindern und allgemeiner Werthschätzung beym Pu-
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ste, w a s w i r v o n d e m V e r s t o r b e n e n besitzen. W a s e r f r ü h e r p h i l o s o p h i r t hat, g e s c h a h i m m e r n u r in A n m e r k u n g e n zu f r e m d e n G e d a n k e n u n d in R e f l e x i o n e n ü b e r einzelne | a b g e r i ß e n e M a t e r i e n , u n d a u ß e r d e n B e o b - 130 a c h t u n g e n ü b e r die K u n s t z u d e n k e n w ü ß t e ich u n t e r seinen f r ü h e r n 5 S c h r i f t e n keine, w o r i n s o g r o ß e G e g e n s t ä n d e , u n d s o im Z u s a m m e n h a n g e b e h a n d e l t w ü r d e n w i e in diesen l e t z t e n W e r k e n . W e n n also die F r a g e e n t s c h i e d e n w e r d e n soll, w a s G a r v e im G e b i e t d e r P h i l o s o p h i e o d e r v i e l m e h r des D e n k e n s ü b e r h a u p t seyn u n d leisten k o n n t e : so m u ß m a n sich v o r n e h m l i c h an d a s j e n i g e halten, w a s e r in dieser letzten P e - 510 10 r i o d e h e r v o r g e b r a c h t h a t ; u n d es ist aus diesem G e s i c h t s p u n k t als eine E i n g e b u n g des Schicksals a n z u s e h n , d a ß er sich u n t e r s o l c h e n U m s t ä n d e n n o c h zu s o g r o ß e n A n s t r e n g u n g e n g e d r u n g e n g e f ü h l t h a t . A u c h h a t e r die B e a n t w o r t u n g d i e s e r F r a g e auf eine s e h r u n e i g e n n ü t z i g e A r t
blicum, belohnt zu sehen. Möchte diese Freude mir und so vielen Ihrer Verehrer noch lange vergönnt seyn! Ich bin zufrieden, wenn ich ohne große Schmerzen meine Heiterkeit des Kopfs, welche, Dank sey es der Vorsehung, bey einer zerrütteten Gesundheit, doch noch fortdauert, zu Untersuchungen, wie diese, welche ich Ihnen hier darbiethe, und zur Unterhaltung mit Freunden, wie der, an welchen ich schreibe, anwenden kann. Leben Sie wohl. "Die zweite Hälfte der Abhandlung wurde 1800 als vierter Band der „ Versuche über verschiedene Gegenstände" von J.K.F.Manso und K. H. G. Schneider aus dem Nachlaß veröffentlicht. 2 Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie, übersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen von C. Garve, Leipzig 1772 - MacFarlan: Untersuchungen über die Armuth, die Ursachen derselben und die Mittel ihr abzuhelfen, aus dem Englischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen und Zusätzen begleitet von C. Garve, Leipzig 1785 - Paley: Grundsätze der Moral und Politik, aus dem Englischen übersetzt mit einigen Anmerkungen und Zusätzen von C. Garve, Frankfurt/Leipzig 1788 - Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero's Büchern von den Pflichten, 3 Bde, 2. Aufl., Breslau 1784; 4. Aufl. 1792 - Garve: Vermischte Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt und Charakter. Aus dem zweyten Stücke des zwölften Bandes der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1772 3 Garve: Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik; oder, Einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten, Breslau 1788 - Garve: Einige allgemeine Betrachtungen über Sprachverbesserungen, in: Beiträge zur Deutschen Sprachkunde, Bd 1, Berlin 1794, S. 123-159 - Garve: Einige Züge aus dem Leben und Charakter des Herrn C.J.Paczensky v. Tenczin, Breslau 1793 - Garve: Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1779 - Garve: Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai über einige Aeußerungen in seiner Schrift, betitelt: Untersuchung der Beschuldigungen des C. G. gegen meine Reisebeschreibung, Breslau 1786 Garve: Ueber den Charakter der Bauern und ihr Verhältniß gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung, Breslau 1786; 3. Aufl. 1796 - Garve: Ueber den Charakter Zollikofers an Herrn Kreissteuer-Einnehmer Weiße in Leipzig, Leipzig 1788 - Garve: Ueber die Lage Schlesiens in verschiedenen Zeitpuncten und über die Vorzüge einer Hauptstadt vor Provinzialstädten, Breslau 1788 - Garve: Vermischte Aufsätze welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind, Bd 1, Breslau 1796 - Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bde 1-2, Breslau 1792-1796 3f Garve: Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, Versuche über verschiedene Gegenstände 2, 245-430
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erleichtert, indem er uns nicht etwa behutsam nur bis dicht an die Grenzen seines Gebiets, sondern sehr zutraulich immer etwas darüber hinausgeführt hat. N u r allzu sehr verdeutlicht er das Bewußtseyn dieser eigenen Situation seinem Leser, so daß ein Gefühl von schmerzlicher Theilnahme denselben durch alle diese Schriften hindurch begleitet. Man würde Unrecht thun es auf die äußere Lage des Verfassers beziehen zu wollen; von dieser redet er mit so viel ruhiger Gleichmüthigkeit, daß nicht die eigenthümliche Art wie er seines herannahenden Schicksals erwähnt, sondern nur der Umstand, daß er überhaupt daran denkt, diejenige Sehnsucht nach Leben verrathen kann, die einem Manne wie dieser natürlich und nothwendig war. Dieses Gefühl bezieht sich vielmehr auf das Innere der Bücher und auf die Anschauung, welche sie uns von dem | eigenthümlichen Wesen des Verfassers geben, auf den 131 Kampf eines redlichen Willens mit einem kleinen Gemüth, und eines kleinen Geistes mit großen Gegenständen, die er am liebsten zersplittern möchte, um sie nur umfassen zu können: ein Kampf der zwar kein festliches Schauspiel f ü r die Götter, für einen Menschen aber bis zur wehmüthigen Theilnahme rührend ist. Was Garve seyn wollte, nemlich ein liebenswürdiger Gesellschafter und ein feiner Beobachter, klingt freilich wie etwas Großes: wenn man aber näher betrachtet, was er sich darunter dachte, wenn man Acht giebt auf die immer und überall wiederkehrende Vergötterung des Vornehmen und der Bildung, welche unter den höhern Ständen jetzt wirklich anzutreffen ist; wenn man auf das offne und wiederholte Geständniß merkt, daß alles Bestreben nach Erkenntniß nur in dem nach Beifall, und alles Beobachten Seiner Selbst nur in der eitlen Vergleichung mit Andern seinen Grund hat: so kann i l l man sich nicht bergen, daß diese Tendenz seines Lebens nur etwas sehr geringes war. Aber mit diesem Wenigen nimmt er es denn so genau, verliert es so nie aus den Augen, und erzählt zur W a r n u n g und Belehrung so offenherzig jeden Schritt vorwärts und zurück, daß man diesen redlichen Willen nothwendig achten, und die Verschwendung desselben beklagen muß; und daß man es nicht erst nöthig findet ein Urtheil über den Charakter auszusprechen, der sich selbst in einer so eigenthümlichen Mischung von Bescheidenheit und Eitelkeit dargestellt hat, worin
11 dieser] Kj diesem
6f Vgl. z.B. Garve: Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friedrichs des zweyten, Bdl, Breslau 1798, S. XIV - Aristoteles: Die Ethik, übersetzt und erläutert von C. Garve, Bd 1, Breslau 1798, S. XIV 24-26 Schleiermacher spielt in polemisch verschärfender und vereinseitigender Interpretation vermutlich an auf Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände 1,VI-XII sowie 3,16f.
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nemlich die Bescheidenheit keinesweges eitel, sondern ächt und | ernst- 132 lieh gemeint ist, und auch die Eitelkeit sich nicht etwa bescheiden verbirgt, sondern offen und ehrlich sich selbst ankündigt und mit Namen nennt. Diesem Charakter seines Lebens ist auch der seines Denkens und seiner Untersuchungen durchaus analogisch. Auch hier hat Alles eine auseinander fahrende Richtung; was auf den ersten Anblick etwas Großes zu sein scheint, verwandelt sich wie unter den Händen in ein Unendlich kleines; auch hier fehlt es an einem Mittelpunkt und Anfang, er kommt nie zu etwas Ganzem oder Ursprünglichem, sondern muß sich immer nur im Kreise des Abgebildeten und Einzelnen herumdrehen, und nimmt alles auf guten Glauben so auf, wie es der gemeine Verstand aus der Hand gelegt hat; ja nicht nur mit der Wissenschaft, die ihm von N a t u r fremder ist, ergeht es ihm so, sondern auch wo es auf Untersuchungen über das Leben und die Menschen ankommt. Um alles dies von Garve zu wissen, bedurfte es freilich nur f ü r die, welche alles in großen Massen handgreiflich vor sich sehen müssen, der Anschauung dieser letzten Schriften; Andere hätten alles, was darin liegt aus einzelnen früheren Aeußerungen diviniren können, in denen Garve ganz gelegentlich und unbewußt sein Inneres so vollständig als möglich charakterisirt hat. In der Abhandlung von der Popularität im Vortrage sagt er einmal, „er glaube alle Wissenschaften, ein Wort welches bei ihm sehr weitschichtig ist, eintheilen zu können in solche, 5/2 worin über Erfahrungen reflectirt, und in solche in denen Ideen combinirt würden, und die Moral oder die Lehre vom | Menschen, so wie die 133 ganze Philosophie gehöre zu der ersten Klasse". In dieser einen Aeußerung liegt das ganze unerschöpfliche Chaos von Unphilosophie und Geistlosigkeit, wovon alle seine Schriften gleichsam nur Ausströmungen sind. Diese Art Erfahrungen und Ideen entgegenzusetzen, und das Gebiet der letztern am Ende auf die bloße Mathematik zu beschränken,
20 f Garve: Von der Popularität des Vortrages, Vermischte Aufsätze 1,331-358 21-25 „Ich glaube alle Wissenschaften eintheilen zu dürfen, in solche, worin nur über Erfahrungen reflectirt wird, - und solche, worin Ideen combinirt werden. Zu den ersten gehöret die eigentliche Philosophie, insbesondre die Seelenlehre und die Moral. Zu den letztem gehören, außer der Mathematik, alle die Wissenschaften, welche den mechanischen Künsten vorarbeiten. Erfahrungen machen, und über diese Erfahrungen reflectiren, ist der Antheil aller Menschen. Ideen oder Sachen auf eine eigne Art verknüpfen: und diese Composita als die Elemente zu neuen Zusammensetzungen brauchen, ist nur die Sache weniger, welche ein eignes Talent dazu, und einen bestimmten Zweck dabey haben. Wenn, mit der Länge der Zeit, sich eine ganze Reihe solcher Ideen-Verknüpfungen in einander geschlungen hat: ist es keinem Menschen mehr möglich, die letzte derselben zu begreifen, der nicht die erste aus ihren einfachen Bestandtheilen, und so fort die folgenden aus den vorhergehenden, herzuleiten gelernt hat. Ein abgerißnes Stück aus der Moral, oder der Lehre vom Menschen, ist jedermann verständlich. " (Garve: Vermischte Aufsätze 1,347)
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ist der höchste Gipfel der Empirie, gleichsam der Realismus des Raisonnements, der das was durch das gemeine Denken gefunden ist, als absolut gegeben, als das schlechthin wahre und denkbare an sich ansieht. Und wenn man den Prozeß, der mit Erfahrungen und Ideen, sofern sie entgegengesetzt werden können, vorzunehmen ist, so gleichsam verwechselt: so wird nebst der eigenen und ursprünglichen Anschauung und dem philosophischen Denken überhaupt auch das Historische schlechthin unmöglich. Eben darum ist das Buch über die Gesellschaft so unendlich langweilig. Es sollte eine Schilderung der geselligen N a t u r in ihren Wirkungen und Rückwirkungen enthalten; aber dazu hätten die großen Erscheinungen derselben c o m b i n i r t , und in einer bestimmten Beleuchtung unter gewisse Hauptpunkte zusammengestellt werden müssen. Dahin kann aber Garve nicht kommen, sondern er nimmt nur die einzelnen Beobachtungen, wie sie aus dem gemeinsten Standpunkte genommen werden, nach einander vor, und reflectirt eben über sie, und dieser einförmige Prozeß geht an dem Geländer trivialer Ideen von Verstand, Charakter, Bildung, Glückseligkeit, über welche auch nicht reflectirt worden ist, um sich ihrer | gehörig zu versichern, auf die uninteressanteste Weise fort. Aus denselben Gründen hat auch die Charakteristik eines bestimmten Individuums ein ganz verfehltes Werk werden müssen. Eine solche soll das Individuum chemisch zerlegen, die innerlich verschiedenen Bestandtheile desselben von einander sondern, und in ihrem quantitativen Verhältniß darstellen, dann das innere Princip ihrer Verbindung, das tiefste Geheimniß der Individualität aufsuchen, und so das Individuum auf eine künstliche Weise nachconstruiren. Das kann aber freilich nur geschehen, wenn man die verschiedenen Erscheinungen desselben combinirt und vorher über die Idee, wie überhaupt Erscheinungen im Menschen combinirt werden müssen, einigermaßen reflectirt hat. Darauf versteht sich nun Garve nicht, weil so etwas gar nicht in der Sphäre seines Denkens liegt: daher nimmt er Handlungen nur einzeln, und so wie die gemeine Betrachtung sie auch findet und sondert, das heißt nach dem Objekt auf welches gehandelt wird. Durch diesen Proceß wird das Individuum natürlich nur mechanisch zerstükkelt, die Einheiten sind noch an mehreren Orten zerstreut, und in allem, was f ü r einfach gegeben wird, ist noch die ganze Mannigfaltigkeit wel-
19 { Charakteristik] Carakteristik
8 Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd 3, Breslau 1797 (Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, 1. Hälfte) 19f Garve: Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friedrichs des zweyten, 2 Bde, Breslau 1798
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che eigentlich aufgelöset werden sollte. Dies ist eine schlechte Operation, und bewährt sich als solche unter andern auch dadurch, daß sie gar keine Form annehmen will. Sehr naiv klagt deshalb Garve darüber, daß das Mannigfaltige durch seine Menge ihn gedrückt habe, und freilieh waren der Objekte auf welche der König gehandelt hat, und der Materien | seines Handelns sehr viele - sein Charakter aber durchaus 135 höchst einfach. Dem Himmel sei Dank, daß Garve es so fern von sich fühlte, eine Geschichte Friedrich II. zu schreiben: denn fremder und widernatürlicher hätte ihm wohl nichts sein können als Historie. Aber auch in der Form oder Unform, welche die Fragmente jetzt haben, ist es nicht möglich gewesen, die schlechte Sache zu verbergen. Indem Garve über die einzelnen Handlungen nach seiner Art reflectirt, ist er doch bisweilen glücklich genug, eine richtige Idee zu treffen; und dann auch allemal ehrlich genug, sie nirgend unangedeutet zu laßen, wo, vielleicht unter einer ganz verschiedenen Rubrik, dieselbe Handelsweise wiederkommt. Diese häufigen Wiederholungen machen es dem Leser übermäßig klar, daß Garve sich sein Geschäft schlecht construirt hat, so daß gewiß ein Jeder sich wundert, wie nur er selbst dies nicht hat merken 514 können. D a ß Garve geglaubt hat mehr als den sittlichen Charakter Friedrichs geschildert zu haben, ist eben auch eine leere Einbildung, die daher entsteht, daß er sich die Handlungen nach den Objekten gesondert und bestimmt hat. Wenige und nur unbedeutende Ausnahmen abgerechnet, ist alles, was unter seinem Regierungs- und militairischen Charakter vorkommt, durchaus sittlich, und was unter diesem Titel selbst steht ist eben nur das, was sich mit Leichtigkeit unter die beliebten vier Haupttugenden zusammenfassen ließ, an welche sich Garve in allen moralischen Betrachtungen und Schilderungen so unerschütterlich fest hält. In dem großen Abschnitt vom literarischen Charakter | steht von diesem so gut als gar nichts, sondern hier ist der König recht 136 Garvisch wie eine Stelle behandelt, über welche und aus Gelegenheit welcher er mancherlei Anmerkungen anbringt. Mit Unrecht sage ich h i e r , der König ist eigentlich überall so gebraucht, und wenn auch Garve im Stande gewesen wäre, mit einem Charakter umzugehn, und eine Charakteristik zu machen: so hätte er doch vor dieser unüberwindliehen Sucht in einzelne Bemerkungen bei jeder Gelegenheit abzuschweifen, diese als die Hauptsache anzusehen, und alles soviel möglich zu sich herabzuholen, und auf seine Existenz, sein Bestreben und seine Forderungen zu beziehen, gewiß niemals dazu kommen können. Dies
3f Vgl. Garve: Fragmente 1, V1II-X1V Garve: Fragmente 2,125-164 24 £ Garve: Fragmente 2,13-124
23 Vgl. Garve: Fragmente 1,149-290 Vgl. Garve: Fragmente 1,291-345
23 f Vgl. 28 Vgl.
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ist aber das Wesen der Anmerkungs-Philosophie, und man kann an Garve, der seiner Reinheit wegen recht zu einem Exempel gemacht ist, am besten zeigen, worauf sie sich zu beschränken hat, daß sie keine andern Werke hervorbringen kann als einfache Reflexionen über einzelne Data, je klarer je besser, daß alles was etwas anders zu sein scheint, doch nur ein Aggregat von dergleichen M o n a d e n sein kann, daß es ihr nichts hilft große oder ganze Gegenstände vor sich zu nehmen, weil sie sie doch nicht als solche zu behandeln versteht, und daß es unmöglich ist, auch nur nach der „beobachtenden Methode" Gegenstände, wie sie auf dem Standpunkte des gemeinen Lebens wahrgenommen werden in 51J irgend einem Zusammenhange darzustellen oder über sie zu denken, wenn man nicht höhere Principien hat, die irgendwoher aus der Wissenschaft genommen sind, und wozu also eine höhere Ansicht der Wissen-|schaft gehört, als diese. Wie man über einen eigentlich wissen- 137 schaftlichen Gegenstand in dieser Manier nicht reden, und auch nur mit viel Kunst und Mühe zu reden scheinen kann, ist in den Betrachtungen über die Sittenlehre zu sehen. Die Moral ist Garven eine Wissenschaft, worin über Erfahrungen reflectirt wird, die allgemein anerkannten moralischen Vorschriften sind diese Erfahrungen, und die Principien der Philosophen sind den Hypothesen der Physik ähnlich. Von einem System, welches auf einem andern, zum Beispiel dem entgegengesetzten Wege construirt würde, weiß er nichts, und das um so weniger, da ihm zu Folge die Philosophen nur Ideen ableiten, Ideen willkührlich zu combiniren aber ein Werk der Dichtkunst ist. Hier haben wir jenen Realismus des Raisonnements in seiner höchsten Vollkommenheit. O h n e sich durch den Sextus Empiricus irre machen zu laßen, setzt er die apodiktische Gewißheit in die gemein geltenden Aussprüche, und sucht eine allgemeine Erklärung dazu, nicht als Triebfeder, sondern als Formel. Was er im Verstehen Anderer leisten konnte, hat er durch die Uebersetzung des Aristoteles und der verschiedenen Moralsysteme dargethan - denn die Darstellung derselben ist ebenfalls eine Uebersetzung in seine eigne Denkart. Die Systeme hat er als Erscheinungen angesehn, zerlegt und darüber reflectirt; aber sie zu combiniren hat er nicht verstanden; sie stehen neben einander aufs Ohngefähr. Ueberhaupt ist auch hier das Einzelne die große Losung; er will und kann nur
9 Vgl. z.B. Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände l,XVIf 16f Garve: Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre; ein Anhang zu der Uebersicht der verschiednen Moralsysteme, Breslau 1798 31 Aristoteles: Die Ethik des Aristoteles, übersetzt und erläutert von C. Garve, Bd 1, enthaltend die zwey ersten Bücher der Ethik nebst einer zur Einleitung dienenden Abhandlung über die verschiednen Principe der Sittenlehre von Aristoteles an bis auf unsre Zeiten, Breslau 1798
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das Einzelne verstehn und wiedergeben, und hält den Styl und den | T o n eben nicht f ü r etwas großes, wie er selbst - und bescheiden genug 138 auch mit Anwendung auf seine Werke - gesteht. Doch ist es mit den Systemen etwas besser gegangen als mit dem Aristoteles, wahrscheinlieh weil die meisten nicht so viel von Styl und T o n haben, denn dies al- J/6 les mußte in seinen Darstellungen eben so nothwendig verloren gehn, wie der Charakter eines Individuums in seiner Charakteristik. Aber hier vorzüglich leuchtet der redliche Wille hervor. Welche unsägliche Mühe hat er es sich nicht kosten laßen, besonders das Kantische System nach allen Seiten, die ihm als Seiten erscheinen, herumzudrehen, um überall etwas davon aufzufassen. Es ist nur eine gerechte Belohnung für diesen Eifer, daß er vorzüglich im Entdecken mancher Lücke Viele übertrifft, und daß der Verdruß über das Mißverstehen des Ganzen ihm nicht die Freude über das Verstehen manches Einzelnen ganz vergällt hat. Manches wäre noch zu sagen über seine Begriffe vom Witz, vom Anziehenden und mehrere Theorien, die mit seiner schriftstellerischen Praxis genau zusammenhängen; aber was man auch sagen möchte, es würde immer nur beweisen, daß man unmöglich etwas nachtheiliges von Garve sagen könnte, was er nicht auf irgend eine Art selbst gesagt hätte. Keinesweges aber immer unbewußt und unwillkührlich, sondern auch sehr gerade heraus. Und so bleibe es ungesagt, weil es ohnedies nicht mehr nöthig scheint, gegen eine übertriebene Meinung von Garve's Talenten oder Verdiensten als gegen ein herrschendes Uebel sich aufzulehnen; wohl aber wäre es nicht uneben, | wenn diejenigen 139 sich seine schöne Bescheidenheit und Selbsterkenntniß empfohlen sein ließen, die ohne etwas besseres zu seyn, oder gemacht zu haben, einen Ruhm darin suchen, ihm die Mittelmäßigkeit vorzuwerfen, die er selbst anerkennt, und von der sie nicht einmal rechtlichen Beweis zu führen im Stande sein dürften.
9f Vgl. Garve: Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre 183-394 15 Vgl. Garve: Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten, Sammlung einiger Abhandlungen 81-94 16 Vgl. Garve: Einige Gedanken über das Interessirende, Sammlung einiger Abhandlungen 253-439
Über das Anständige (1800)
Über das Anständige
Zwei Gespräche An A * *
Das Versprechen war mir nicht schwer Dir meine Meinung darüber was eigentlich das Anständige sei, und wie es sich zum Sittlichen verhalte ausführlicher darzulegen, da Du sie in den kurzen Worten unserer lezten Unterredung nicht hinlänglich zu verstehen glaubtest. Ich wußte daß ich zwei Gespräche besaß, welche Sophron darüber mit dem Kallikles geführt hat, und in denen bestimmter und klarer ausgedrükt ist, was ich denke, als ich es Dir sagen oder schreiben könnte. D a Du einige Jahre jünger bist als ich, so wirst Du Dich vielleicht nur dunkel des Sophron erinnern, den wir Andern wegen seines schönen Gemüthes und der ungemeinen Richtigkeit seiner Vorstellungen so vorzüglich liebten, und ihm gern verziehen daß er im Gespräch über wichtige Gegenstände etwas mehr als billig und in unsern Zeiten erlaubt ist zu sokratisiren pflegte. Einer von meinen Freunden, der sich hieran vorzüglich ergözte hat mehrere davon, worunter auch diese beide gehören zu Papier gebracht, in der Absicht sie in Zukunft einmal nach Art der griechischen Dialogen auszuarbeiten. Deshalb findest Du sie auch ganz ohne Eingang, denn er zeichnete nur das Wesentliche auf, so wie er es von denen hörte, welche Theil daran gehabt hatten, [Am Rand neben Z. 14-18:] Für diesen E i n g a n g k o m m t viel d a r a u f an o b diese G e s p r ä c h e die ersten sind und o b S o p h r o n eine p e r m a n e n t e P e r s o n sein soll. 24 darauf] df
25 Gespräche] Gespr.
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und behielt sich vor Alles zufällige nach Belieben anzuordnen und zu verändern. Mit diesen hier verhielt es sich aber | so: Sophron hatte den Kallikles, von dem Du wol auch gehört hast, daß er auf der Akademie das Eigenthümliche dieser Lebensart in seinem ganzen Betragen auf die schneidendste Weise zur Schau getragen hatte, seit seiner Rükkehr von dort fast gar nicht gesehen und traf ihn einst in den entfernteren Theilen des Thiergartens in der zierlichsten Kleidung und ganz in die Gestalt eines wolgezogenen Menschen verwandelt mit seinen Zöglingen einem Knaben und einem Mädchen von vornehmen Eltern. Er ließ sich von ihm erzählen wie es ihm seit so langer Zeit ergangen sei, und wie ihm sein gegenwärtiges Verhältniß zusage. Dann machte er sich mit den Kleinen zu schaffen, die ganz so frei und munter waren als man die Jugend jezt werden läßt, und so entfernt von aller Rohheit und Ungeschlachtheit, als die Kinder wolhabender und gebildeter Leute vorzugsweise zu sein pflegen. Als diese sich nun unter die Bäume verlaufen hatten lobte er gegen den Kallikles Vieles an ihnen, ihren guten Anstand und ihr natürliches ungezwungenes Wesen. Ο ja, sagte Kallikles am Ende sind sie natürlich genug, und was die Artigkeit und den Anstand betrift, so quälen die Eltern sie nur mäßig damit. Doch nach meinem Sinne geschieht deßen immer noch zu viel, und es ist das einzige was mich bisweilen verdrießlich macht. S o p h r o n . Sage mir, hältst Du es im Ernst f ü r eine Qual und f ü r etwas Unnüzes, daß man die Jugend sobald als möglich lehre, das Anständige zu finden und zu erkennen, und es auch in ihren Handlungen hervorzubringen? Verachtest Du das Anständige überhaupt, oder hast Du nur eine Abneigung gegen das was in ihrem Stande d a f ü r gehalten wird? K a l l i k l e s . Das lezte nicht obwol Du Grund genug haben magst es zu vermuthen; denn ich verstehe wol worauf Du zielest. Aber wenn ich mich ehedem betrug wie mir es damals ziemte so füge ich mich auch nun in das, was in meinem jezigen Verhältniß anständig ist. Auch kann ich nicht etwa deswegen eine Abneigung dagegen haben, weil es mir schwer geworden wäre. Wie Du mich siehst so war ich in wenig Tagen verwandelt, und habe den T o n und das Betragen welches die Leute von der feinen Welt f ü r eine so unendliche Kunst halten wenn es nicht in den Kinderjahren schon angenommen wird, in wenigen Tagen gelernt, ich möchte beinahe sagen, so gut als einer von ihnen. S o p h r o n . Das haben mir auch Deine Freunde schon erzählt, und ich finde es auch seitdem ich Dich in dieser neuen Gestalt erblike. In der T h a t Du gleichst mir dem Alkibiades, der eben so leicht und vortreflich ein Spartaner als ein Athener zu sein wußte. K a l l i k l e s . Ironisire mich nicht unverdient, Du siehst ja wie wenig Werth ich auf diese Sache lege. Ich bedaure nur die armen Kinder, die
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sich jezt soviel M ü h e um etwas geben m ü ß e n , w o v o n m a n ihnen jezt w e d e r den N u z e n n o c h den Z u s a m m e n h a n g begreiflich m a c h e n k a n n , u n d was sie z u r rechten Zeit leicht u n d spielend | erlernen w ü r d e n . S o p h r o n . W e n n sie es n u r lernen, lieber Kallikles, so scheint mir keine M ü h e z u groß, u n d keine Zeit zu f r ü h zu sein. A b e r wir d e n k e n hierin, wie ich sehe, ganz verschieden. Ich halte den anständigen M e n schen allein f ü r vollendet, indem n u r er seine W ü r d e g a n z u n b e f l e k t erhalten k a n n - d e n n D u wirst d o c h z u g e b e n d a ß auch d e r Rechtlichste u n d Sittlichste, w e n n er das Anständige aus d e n A u g e n sezt, d e m T a d e l u n d der V e r l ä u m d u n g , u n d allerlei V o r w ü r f e n die auf seinen C h a r a k t e r fallen nicht e n t g e h t - u n d n u r er, wie ein geschliffener D i a m a n t , von d e r Welt die sich in ihm spiegelt geliebt u n d b e w u n d e r t wird, o h n e deshalb von seiner innern Festigkeit u n d U n a u f l ö s l i c h k e i t das Geringste verloren zu h a b e n . D i r hingegen scheint dies eine u n b e d e u t e n d e N e bensache z u sein. D a r u m h a b e ich wol auch Alles mißverstanden, was D u von D e i n e m bisherigen Leben gesagt hast. K a l l i k l e s . W i e so? u n d was hast D u von mir gedacht? S o p h r o n . Nichts schlechtes, Kallikles. S o n d e r n weil ich das A n ständige f ü r die V o l l e n d u n g des M e n s c h e n halte, so glaube ich d a ß d e r jenige der es n o c h nicht besizt es überall a u f s u c h e n m u ß , u m es d u r c h die äußere A n s c h a u u n g in sich zu erweken u n d auszubilden: d e m aber, der es inne h a t scheint mir obzuliegen d a ß er überall diejenigen a u f s u che denen es n o c h fehlt, d a m i t er sich ihnen darstelle u n d d u r c h seine G e g e n w a r t u n d seine Lehre sie zu derselben V o l l k o m m e n h e i t a n f ü h r e . So glaube ich auch, d a ß die E r z i e h u n g nichts H ö h e r e s ausrichten w o l len k a n n als dieses, u n d da ich sah d a ß D u zu gleicher Zeit ein Meister des Anständigen u n d ein E r z i e h e r g e w o r d e n bist, so glaubte ich dieser g r o ß e Beruf sei D i r klar g e w o r d e n , u n d D u suchtest D i r u n t e r der J u gend die D i a m a n t e n auf welche D u schleifen wolltest, u n d habest D e i n e vorigen Zöglinge gegen diese vertauscht, nicht etwa weil jene D i r einfältiger o d e r u n w i ß e n d e r geschienen als billig, s o n d e r n weil sie nicht, wie diese, von der edlen N a t u r waren, welche allein diesen G l a n z a n z u n e h m e n f ä h i g ist. K a l l i k l e s . Ja darin hast D u U n r e c h t vermuthet, d e n n es w a r e n andere U m s t ä n d e welche mich bestimmten. Ich aber, S o p h r o n , glaube, d a ß ich mich auch in D i r geirrt habe: d e n n aus D e i n e m freien Leben, [Am Rand neben Z. 5-8:] Das kommt noch zu schwach und unvorbereitet. Vielleicht sollte auch das LCuionirenl hier noch nicht stehn. Doch als Umriß die Idee des Sophron.
19 ich] folgt
(et)
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welches zu einer viel höheren Schönheit gebildet ist, habe ich niemals gemerkt, daß Du ein solcher Verehrer sein könntest von diesem Gewebe äußerer Gebräuche und eingebildeter willkührlich erdachter T u genden, welche man das Anständige nennt. S o p h r o n . Freilich hast Du es nicht sehen können, und der Vorwurf fällt auf mich zurük. Wir sind eben ein Spiel von der wunderbaren Ungerechtigkeit des Schiksals: Du, der Du das Anständige kennst und es in den entgegengeseztesten Verhältnißen auszuüben verstehst, verachtest es: ich aber der ich es anbete, kann noch gar nicht mit mir selbst einig werden, worin es eigentlich besteht und wie man dazu gelangt. N u r soviel weiß ich, daß es f ü r ein mensch-|liches Leben keine höhere Schönheit geben kann. W o ich es sehe und ahnde entzükt es mich, wie Alles Schöne jeden Menschen entzükt; aber wenn ich das Wesen desselben betrachten und die innere Ahndung, die mich bei einer solchen vorübergehenden Anschauung ergreift in eine allgemeine und sichere Einsicht verwandeln will, so verwirre ich mich in meinen Begriffen, wie es ebenfalls den Meisten mit jeder Schönheit ergeht. Alsdann werde ich auch mißtrauisch gegen jene Gefühle und Ahndungen und füge mich nun schon seit langer Zeit in mein Schiksal, indem ich mich wieder um das Sittliche allein bekümmere, welches nun Gott sei D a n k so fest gebunden ist, daß es Niemandem mehr entlaufen kann, und das Anständige fahren laße bis mir einmal eingegeben oder offenbart wird was es ist, und einer kommt der diesen Proteus so fest halte, daß er auch mir Rede stehen muß. K a l l i k l e s . Dachte ich doch gleich, daß es Alles nur einer von Deinen Scherzen wäre! S o p h r o n . Wie so scheine ich Dir zu scherzen. K a l l i k l e s . Weil Du doch selbst weißt, daß es der Mühe nicht werth ist, und daß Du bei weitem das Bessere und Größere ergriffen hast da Du des Sittlichen Meister bist. Denn warlich das Anständige ist doch nur eine kleinliche und oft gar armselige Nachahmung von diesem. S o p h r o n . Eine Nachahmung des Sittlichen scheint es Dir zu sein? K a l l i k l e s . Ja, wenn man nemlich das Beste davon denken will. S o p h r o n . Du bist mir zuvorgekommen: denn ich wollte Dich bitten mir Deine Meinung zu eröfnen, ob diese etwa der rechte Zauber[Am Rand neben Z. 7 - 9 : ] Den Widerspruch zwischen der Idee und dem Dargestellten muß Sophron anders ausdrüken.
29 Du] folgt (Dich)
37 mir Deine] korr. aus Dir meine
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spruch wäre. Aber laß auch sehen, daß ich sie recht faße. Meinst D u das Anständige sei so eine Nachahmung des Sittlichen, wie die Zeichnung des Schülers eine Nachahmung ist von der Zeichnung des Lehrers; oder so wie diese selbst eine Nachbildung ist von irgend einem Gegenstande? K a l l i k l e s . In dem ersteren Sinne, lieber Sophron, scheint mir die Heuchelei eine Nachahmung des Sittlichen zu sein: denn sie will sich von diesem, wie die Nachzeichnung von dem Urbilde äußerlich gar nicht unterscheiden, es fehlt aber die innere Kraft, so wie dem Nachzeichner die Kunst fehlt die körperliche N a t u r auf der Fläche darzustellen. Ich halte also das Anständige f ü r eine N a c h a h m u n g im lezten Sinne, welche weder solche Ansprüche noch solche Mängel hat. S o p h r o n . Noch weiß ich Deine Idee nicht anzuwenden. Sage mir nur, jezt hältst Du es für anständig in Deinem Betragen gegen verschiedene Menschen auf gewiße Weise den Unterschied ihrer bürgerlichen Verhältniße anzudeuten, und jedem um so aufmerksamer und ehrerbietiger zu begegnen, je angesehener er in der Gesellschaft ist? K a l l i k l e s . Allerdings, und ich glaube nicht Unrecht zu haben. S o p h r o n . Und auf der Straße gehst Du bedächtig und ehrbar? K a l l i k l e s . Sollte ich nicht? S o p h r o n . Ehedem aber hieltest Du es f ü r anständig, zwischen denen | welche Dir ungelehrt und ohne Musen zu sein schienen, weiter keinen Unterschied anzunehmen? und Deine Kleidung war nur auf das Arbeitszimmer berechnet und auf die gymnastischen Uebungen? und auf der Straße schrittest Du despotisch in der Mitte einher, Jedem das Ausweichen gebietend und eilfertig bis zur Unbarmherzigkeit? K a l l i k l e s . Ja, und ich finde noch jezt, daß es mir damals so ziemte. S o p h r o n . N u n so laß mich hören, was f ü r Sittliches oder was f ü r eine Sittlichkeit Du damals nachahmtest, und was f ü r eine jezt? K a l l i k l e s . Das scheint mir nicht schwer zu sein, lieber Sophron. Damals nemlich war es mein Beruf lehrbegierig zu sein, die Wißenschaft über Alles zu schäzen, mich um die bürgerliche Welt, deren Verhältniße mich nichts angingen, auch nicht zu bekümmern, und mich den Studien nur soviel zu entziehen als nöthig war um den Körper zu stärken, das Gemüth zu erholen, und die Jugend zu feiern. Jezt aber ist es meine Pflicht die bürgerliche Gesellschaft kennen zu lernen, an der [Am Rand neben Z. 7-9:] Die folgende ausführliche Darstellung dieses Unterschiedes muß hier gleich vorkommen. 7 sie will] mit Einfügungszeichen am Rand Kunst) 14f v e r s c h i e d e n e M e n s c h e n ] mit mann) 21 z w i s c h e n ] korr. aus L a u f !
für (Lesl soll) Einfügungszeichen
9 K r a f t ] folgt (und am Rand fur (Jeder-
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ich Theil haben will, und Alles zu ehren was ihr Eigenthum oder ihr Werk ist, vornemlich aber dasjenige, was ich selbst einst zu besizen wünsche. Und nun entscheide selbst, ob ich nicht Beides richtig nachgeahmt und ausgedrükt habe. S o p h r o n . Sehr richtig, wie es mir scheint, und ich entdeke jezt in dem sonderbaren Stil Eurer Kleidung, Eurer Feste und Eures ganzen Lebens einen eigenthümlichen und nicht zu verwerfenden Anstand. Aber meinst Du, daß im Allgemeinen durch jedes Anständige auf diese Art etwas Sittliches nachgeahmt und dargestellt wird? K a l l i k l e s . Allerdings. So weit mir das Gebiet des Anständigen gegenwärtig ist, wie es sich über die Sprache, über die Formen des Umganges, und über die ganze Lebensweise verbreitet finde ich diese Erklärung ausreichend. Willst Du, daß ich es Dir noch mehr im Einzelnen durchführe? S o p h r o n . Wozu? ich will Dir glauben, und wir wollen also annehmen, daß das Anständige auf die von Dir bestimmte Art in der Nachahmung des Sittlichen bestehe. K a l l i k l e s . Ja, ich möchte sagen auch umgekehrt, daß Nichts zum Anständigen gehören könne, dem nicht eine solche Bedeutung abzumerken ist. S o p h r o n . Das ist ja vortreflich daß Du Deiner Sache so gewiß bist. Ist es aber nicht dieser Art von Nachahmung wesentlich, daß dadurch nur eine Aehnlichkeit der äußern Gestalt hervorgebracht werden kann, und nicht des innern Wesens? K a l l i k l e s . Allerdings, so wie jedes Bild nur die äußere Gestalt wiedergiebt. S o p h r o n . Und indem Du Dich also so beträgst, wie Du jezt thust brauchst Du nicht innerlich eben die Anhänglichkeit und Verehrung f ü r die Ordnungen der bürgerlichen Gesellschaft zu empfinden, die Du abbildest? und als Du Deinen ehemaligen Anstand beobachtetest, mußtest Du nicht auch wirklich lehrbegierig und den Wißenschaften ergeben sein? K a l l i k l e s . Wie Du nur frägst! Als ob Du nicht wüßtest, daß die Meisten von denen, die das Anständige eines Standes am eifrigsten beobachten, das Sittliche desselben am wenigsten besizen. S o p h r o n . Du sagst nur die Meisten: können wir nicht weiter gehn und würde es nicht Deinen Gedanken angemeßen sein zu | sagen daß Alle, welche das Anständige absichtlich annehmen und in ihr Betragen verweben, das Sittliche welches sie abbilden wollen nicht besizen? K a l l i k l e s . Das scheint mir ein hartes Urtheil zu sein; aber überzeuge mich. 6 Eurer . . . Eures] eurer . . . eurer . . . eures
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S o p h r o n . Bedenke Dir nur ob derjenige, der von Eurem damaligen Beruf recht durchdrungen gewesen wäre, in jedem einzelnen Falle eben so gehandelt und sich betragen haben würde? K a l l i k l e s . Allerdings, insofern nemlich unser Anstand vollkommen gut ausgedacht war: denn grade einen solchen wollten wir vorstellen. S o p h r o n . Jener aber würde nicht darauf gesonnen haben, sondern es wäre ihm von selbst so gekommen; oder vielmehr, was bei Euch ein Studium und eine Kunst war, das wäre bei ihm ein Sich gehen laßen, ein bloßes Nichthandeln gewesen. Nicht wahr? K a l l i k l e s . So scheint es mir. S o p h r o n . Und glaubst Du, daß es sich bei Allen, die dem Anständigen geflissentlich nachstreben, auf gleiche Weise verhalten muß? K a l l i k l e s . Ich sehe nicht daß die Verschiedenheit des Stoffs und der Anwendung einen Unterschied machen könnte. S o p h r o n . In so fern also Jemand das Anständige hervorbringen will, fehlt ihm gewiß das Sittliche? K a l l i k l e s . Foderst Du noch, daß ich ausdrüklich bekennen soll? S o p h r o n . Was nennst Du bekennen? Ich freilich habe Dir etwas zu bekennen, und ich will es auch gern thun. So höre denn, daß ich Anfangs im Begrif war schlecht von Dir zu denken, weil Du Dich als einen solchen Feind des Anständigen zeigtest, nun Du mich aber gelehrt hast was es ist muß ich Dir vollkommen beipflichten. - Aber, f u h r Sophron nach einer kleinen Pause fort, während der jener nicht wußte wie er diese Wendung wenden sollte, mir fängt an bange zu werden. K a l l i k l e s . Wovor denn? S o p h r o n . D a ß ich in meinen alten Zufall zurükfalle. K a l l i k l e s . In welchen Zufall? S o p h r o n . In die Verwirrung meiner Begriffe vom Anständigen. Denn nach dem, worüber wir zulezt übereingekommen sind fürchte ich es wird uns aus den Grenzen entweichen in welche wir es eingeschloßen hatten und in die Heuchelei übergehn von der wir es trennen wollten. K a l l i k l e s . Das fürchte ich beinahe auch, wenn ein Jeder im Anständigen dasjenige Sittliche abbilden will, welches er nicht hat. S o p h r o n . Sieh nur, es ist auch nach unserm Vergleich richtig. Du und die wenigen denen man wie Dir an der Leichtigkeit und Natürliche m Rand neben Z. 34-36:] Das Ironiren, welches darin liegt daß Kallikles überall als Vorbild und Ausnahme dargestellt wird muß entweder weiter fortgesezt oder aufgegeben werden. 1 Eurem] eurem
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keit ihres äußern Betragens ansieht daß nichts daran mühsam erlernt und absichtlich erkünstelt ist und die Ihr überall die Erfinder des Anständigen seid, Euer Leben ist gleichsam die Zeichnung des Meisters, welche jene Strich vor Strich mühsam nachbilden ohne von der innern Kraft, welche in Euch ist etwas zu wißen. K a l l i k l e s . Sollte es aber nicht möglich sein, daß wir noch bei unserer Meinung blieben, und sagten dies verhielte sich vielmehr wie der Gegenstand den sie abbilden? S o p h r o n . N u n wir wollen es noch einmal versuchen. Laß uns nur die beiden Arten der Nachahmung, welche wir gleich Anfangs unterscheiden wollten recht von einan-|der absondern. Die eine bringt gleichsam den Leib desjenigen was ihr Urbild ist hervor, aber durch eine andere Kraft, und also ist die Seele, das innere Princip von Jenem nicht darin vorhanden, so wie in der Zeichnung des Schülers weder die Perspektivische Kenntniß noch die Fantasie und der Kunstsinn des Lehrers vorhanden ist. Wollen wir das was diese hervorbringt, weil es für das Urbild selbst gehalten werden kann den S c h e i n nennen? K a l l i k l e s . Ich glaube wir würden recht thun. S o p h r o n . Und wollen wir dabei bleiben, daß, was immer die Sittlichkeit auf diese Art nachahme, Heuchelei sei? K a l l i k l e s . Vor der H a n d wenigstens. S o p h r o n . Die andere Art der Nachahmung bringt zwar auch eine Aehnlichkeit hervor, aber keine Verwechselung. Wollen wir das, was ihr Werk ist, das Bild nennen? K a l l i k l e s . Dies wird wol der angemeßene Ausdruk sein. S o p h r o n . N u n laß uns sehen worin sich Beide, wenn sie auf das Sittliche angewendet werden, unterscheiden müßen. Nicht wahr, wenn ich in einer Handlung in welcher eine gewiße sittliche Eigenschaft sich äußern soll das Verfahren desjenigen nachahme, der diese wirklich besizt, so habe ich einen Schein des Sittlichen hervorgebracht? K a l l i k l e s . So ist es. S o p h r o n . Und zulezt schien uns das Anständige eine solche Nachahmung zu sein, wenn zum Beispiel Deine Mitschüler Achtung gaben wie sich auf allerlei Weise Deine Lust zu den Wißenschaften und Deine Sorglosigkeit gegen äußere Dinge in Deinen Handlungen offenbarten, und dies nachahmten. K a l l i k l e s . So schien es uns zulezt. Anfänglich aber glaubte ich das Anständige sei eine Nachahmung von der anderen Art, und ich 2f und die . . . seid] mit Einfügungszeichen am Rand 3 Euer] euer 9 versuchen] folgt (, ich fürchte nur es wird noch etwas ärgeres herauskommen. K a l l i k l e s . Etwas ärgeres als die Heuchelei? Ist das Dein Ernst? S o p h r o n . Hältst Du nicht den Raub der am Heiligen begangen wird f ü r etwas ärgeres? K a l l i k l e s . N u n Du machst mich neugierig. Sophron) 33f Achtung gaben] mit Einfügungszeichen am Rand für (die nachahmten}
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glaube jezt wieder daß das in den meisten Fällen richtiger sein wird. S o p h r o n . So laß uns denn sehen wie denn ein Bild des Sittlichen hervorgebracht werden kann. Ich fürchte nur es wird auf diese Art noch etwas ärgeres herauskommen als die Heuchelei. K a l l i k l e s . Etwas ärgeres als die Heuchelei! ist das Dein Ernst? S o p h r o n . N u n zum Beispiel den Raub, der am Heiligen begangen wird, hältst Du den nicht f ü r ärger? K a l l i k l e s . Du machst mich neugierig. S o p h r o n . Scheint es Dir nicht zum Wesen eines Bildes zu gehören, daß es aus einem andern Stoff geformt sein muß als der abgebildete Gegenstand. K a l l i k l e s . Allerdings, sonst möchte es wieder eine Nachahmung von jener Art werden. S o p h r o n . So sage mir depn was ist der Stoff des Sittlichen? K a l l i k l e s . Die menschlichen Handlungen. S o p h r o n . Wolltet Ihr aber nicht in demselben Stoff auch das Sittliche wiederum durch das Anständige abbilden? K a l l i k l e s . N u r nicht in demselben: Denn es giebt doch H a n d l u n gen welche nicht geeignet sind Stoff f ü r das Sittliche zu sein; und grade diejenigen in denen das Anständige besteht scheinen mir von dieser Art zu sein. S o p h r o n . Also giebt es keine eigenthümliche Sittlichkeit in der Kleidung, wenn sie was die Form betrift den Geschäften wozu ich sie anlege hinderlich oder förderlich, und was den Stoff betrifft meiner Gesundheit, meiner Wirthlichkeit oder gar den Gesezen gemäß ist oder nicht? Gibt es keine Sittlichkeit im Gehen, wenn ich mich indem ich nach einem Ziele hinstrebe langsam, und im Gegentheil indem ich etwas betrachten oder ausdenken soll geschwind bewege? Giebt es keine Sittlichkeit in der Anrede wenn sie mit der innern Wahrheit meiner Gesinnungen übereinstimmt oder nicht? Du | siehst, ich gehe in das Allerkleinste, worin man die Sittlichkeit am wenigsten sucht: und wenn sie doch auch da ist, wieviel mehr wird sie nicht in Allem Andern und Größeren vorhanden sein müßen, das doch ebenfalls ins Gebiet des Anständigen gehört. K a l l i k l e s . Darin hast Du Recht; es scheint mir aber so zu sein, daß wir in gewißen Theilen einer Handlung eine Sittlichkeit abbilden die dieser Handlung nicht eigen ist, und in so fern geschieht es doch in einem fremden Stoff. [Am Rand neben Z. 9-11:] Es ist freilich eine Sophisterei daß dies als etwas wesentliches angegeben wird; aber sie muß bleiben. 2 S o p h r o n . ] folgt (Nun wollen)
2 uns denn] denn mit Einfiigungszeichen
am Rand
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S o p h r o n . Ei Ihr tugendhaften Menschen, die Ihr nicht genug habt an der Sittlichkeit die in eine Handlung gehört, sondern noch mehr hineintragen wollt! Stoiker seid Ihr nicht wie es scheint, daß Ihr glauben solltet alle Tugenden wären nur eins und in jede Handlung gehöre die ganze Sittlichkeit eines Menschen ohne daß man nöthig hat erst etwas hineinzutragen. Aber wenn Du mir nur den Raum zeigen könntest wo dieses stehen kann und die Theile einer Handlung, welche zu der eigenthümlichen Sittlichkeit derselben gar nichts beitragen. Sage mir wie habt Ihr es angefangen diese eigenthümliche Sittlichkeit jeder einzelnen Handlung immer vorher in Sicherheit zu bringen ehe Ihr sie als den Grund brauchtet, worauf Ihr Euer Bild auftragen solltet? K a l l i k l e s . In der That, ich glaube wir haben daran nicht genug gedacht. S o p h r o n . Ihr habt es wol gemacht wie jener Arzt der auch wenn er zum gefährlichsten Kranken gerufen ward die Langsamkeit des Ganges um nichts beschleunigte die er für einen wesentlichen Bestandtheil des Anstandes hielt. Oder werden nicht alle diese allgemeinen Regeln, nach denen das Bild irgend einer fremden Sittlichkeit zu Stande kommen soll, immerfort mit der eignen Sittlichkeit der Handlung: wenn man sie nur weit genug verfolgt, in Streit sein? K a l l i k l e s . Ich glaube nicht, daß dieses vermieden werden kann. S o p h r o n . Was willst Du also lieber, daß das Anständige sein soll, ein einzelnes Böses nemlich die Heuchelei oder eine offenbare Empörung gegen die Sittlichkeit überhaupt und eine frevelhafte Verhöhnung derselben indem man sie ihrer heiligsten Rechte beraubt und d a f ü r leere Bilderchen hinstellt? In beiden Fällen aber werden wir, wie es scheint, das Anständige nicht nur verachten, sondern ihm öffentlich den Krieg ankündigen und es nach Vermögen ausrotten müßen um f ü r die Sittlichkeit selbst und f ü r die heilige Wahrheit Raum zu gewinnen. K a l l i k l e s . Und es wäre also nicht nur eine kleinliche und armselige, sondern eine strafbare und verbotene Nachahmung. S o p h r o n . Und was noch mehr ist, zugleich eine ganz unnüze. Oder glaubst Du nicht daß Zwei anständige Menschen, die sich in dieser leeren Verrichtung begegnen in ein noch weit ärgeres Gelächter gegen einander ausbrechen müßen als zwei römische Augurn? Wenn [Am Rand neben 2.12-16:~\ Das Beispiel vom Arzt muß wegbleiben für das zweite Gespräch; aber der Widerstreit, der auf diese Art gegen das Sittliche entsteht, muß deutlich dargelegt werden.
1 Ihr . . . Ihr] ihr . . . ihr 3 Ihr nicht] ihr nicht 10 Ihr] ihr Einfiigungszeichen am Rand für (den) 11 Ihr Euer] ihr euer
lOf sie als den] mit
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nicht etwa der Unwille darüber die Oberhand behält, daß J e d e r weiß der andere rechnet ihn in seinem Herzen mit zu der Plebs die er hintergehn will; denn wenn das nicht wäre so müßte es wenigstens in den niedrigsten Ständen, die nichts niedrigeres mehr unter sich haben kein Anständiges geben, und auch die höchsten müßten es verbannen in ihren Mysterien der Vornehmigkeit | wo Alles entfernt ist, was sie irgend für gemeines V o l k halten. K a l l i k l e s . Ich für mein T h e i l kann mir dies wol gefallen laßen; aber Dich Sophron verstehe ich nicht: D u behauptetest das Anständige so außerordentlich zu verehren und giebst D i r nun alle M ü h e es in seine geheimsten Schlupfwinkel zu verfolgen und möchtest es am liebsten als das Schändliche darstellen, wobei D u nicht einmal soviel Anstand beobachtest als gegen einen Mißethäter, dem man einen Mantel vergönnt um sich zu bedeken. S o p h r o n . D a s ist eben was aus der Verwirrung der Begriffe bei mir entsteht, daß ich feindselig gegen die Anschauungen und Beispiele gestimmt werde, die mich verleitet haben: D e n n je unmöglicher es mir ist, die Idee selbst aus meinem Gemüth zu vertilgen, desto klarer mache ich mir wie verwerflich dasjenige ist, wodurch sie beinahe herabgesezt worden wäre, damit ich wenigstens im Stande bin, die Nachforschung danach, welche das Göttliche in mir gebietet, ganz von Neuem anzufangen. K a l l i k l e s . Aber sage mir nur, ob wir nicht etwa in einem Mißverstande des W o r t e s befangen sind: denn es k o m m t mir wunderbar vor, daß Du das Anständige, welches doch gewöhnlich etwas Kleines ist, so unmittelbar auf das Göttliche in D i r beziehst, als wäre es etwas wenigstens eben so großes und erhabenes als das Sittliche selbst. S o p h r o n . Ich habe D i r ja schon gesagt daß die Idee welche mir dunkel vorschwebt sich mir als etwas noch größeres und erhabeneres darstellt als das, was man gewöhnlich unter dem Sittlichen versteht. Aber laß Dich die kleinen Dinge nicht irren in denen es sich äußert. W e r kann dafür daß das Leben der Menschen so voll ist von diesen, und wer möchte läugnen daß auch in kleinen Dingen sich große und heilige Ideen darstellen sollen. O d e r möchtest D u etwa die Gerechtigkeit, die Anmuth, die Menschenliebe aus allem was gering ist verbannen? Alle die göttlichen Ideen des Menschen welche jezt jede eine eigne
[Am Rand neben Ζ 7 - 3 ; ] Diese lezte Folgerung muß besser und dialogischer auseinandergesezt werden.
9 Dich] korr. aus dies
19 wodurch] korr. aus was
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und große Welt beherrschen haben sich diese erst nach und nach gebildet, und konnten sich als die menschlichen Angelegenheiten überhaupt noch im Kleinen waren, oder das Reich der Rohheit noch allgemein war nur im Unbedeutenden zu Tage legen. Wie lange ist man jezt schon gerecht im Hause und im Staate, und doch noch immer nicht im großen Verkehr der Welt. So mag es auch mit dieser Idee sein, daß wir uns in Absicht auf sie noch im Stande der Kindheit befinden, und es liegt uns nur um desto mehr ob, sie auch im Kleinen zu suchen und zu ehren, damit wir auch das Unsrige beitragen um ihre Herrschaft über das Große zu verbreiten. Damit Dir aber kein Zweifel bleibe, daß wir von der nemlichen Sache reden, so laß Dir sagen, daß mir das Kleine und das Große darin völlig gleich gilt, und daß ich von derselben Idee geleitet werde von welcher Du ausgingst: wo sich nemlich in dem ganzen Betragen eines Menschen und in Allem was zu seiner Aeußerung und Darstellung gehört gleichsam die Aehnlichkeit und der Widerschein eines wolgeordneten und von der Sittlichkeit beherrschten Gemüthes zeigt, da glaube ich das Anständige zu sehen. | War das nicht Deine Meinung auch? K a l l i k l e s . Dasselbe. S o p h r o n . U n d mit der Welt sind wir auch einig: denn was diese unter dem Namen der Höflichkeit, der Sittsamkeit, der äußeren Bescheidenheit, welche alle Du eingebildete und willkührlich erdachte T u genden genannt hast, als Theile des Anständigen von uns fordert, ist es nicht eben dasselbe? K a l l i k l e s . O h n e Zweifel. S o p h r o n . U n d nun wir näher darauf Acht geben, hat sich uns dies Alles als betrügerisches und verbotenes Wesen dargestellt. Sollen wir also nicht lieber aufhören wissen zu wollen, was das Anständige sei? oder wie sollen wir es anfangen? K a l l i k l e s . Ich weiß nicht, mir scheint noch ein Mittel übrig zu sein. Laß uns wieder zu dem zurükkehren was wir den Schein des Sittlichen nannten. Bist Du nicht zu schnell zu Werke gegangen, als Du diesen unbedingt f ü r Heuchelei erklärtest? Dies ist er doch nur, wenn er die Absicht hat f ü r die Sache selbst gehalten zu werden. Diese Absicht aber scheinst Du mehr vorauszusezen, als daß sie wirklich da wäre. Der [Am Rand neben 2 . 3 1 - 3 5 B e n u z u n g des in dem ursprünglichen Bilde liegenden Unterschiedes zwischen Malern die ihre Copien für Originale geben und Kupferstechern welche den Namen des Meisters dabei schreiben aber gelegentlich auch wol selbst erfinden und malen d.h. sittlich sein wollen.
4 im] folgt (LReicl)
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Höfliche verlangt gar nicht, daß Du aus seiner Höflichkeit auf die innere Gesinnung des Wolwollens und der Menschenliebe schließen sollst: denn wenn nach dieser die Frage entsteht, wird er Dir ganz andere Beweise vorbringen; und der Bescheidene will nicht, daß Du deshalb glauben sollst, er halte sich im Ernst f ü r weniger weise als Dich, sondern Du sollst nur zufrieden sein, daß sie sich Alle die Mühe geben diesen Schein des Sittlichen um Deinetwillen und zu Deiner Annehmlichkeit hervorzubringen. S o p h r o n . Eine schöne Annehmlichkeit die ich mit soviel Zeit erkaufen und w o f ü r ich soviel leere Worte mit hinnehmen muß, theurer als jedes schlechte Schauspiel, welches eine einzelne gute Stelle hat! Aber warlich, um meinetwillen hätten sie grade das Gegentheil thun müßen. Was meinst Du wol von den künstlichen Gespenstern welche man kürzlich gezeigt, und dabei ausdrüklich gesagt hat es seien keine Gespenster, ob der Anblik wol denen angenehm gewesen sein mag, welche die Schwachheit haben an Gespenster zu glauben, und ob der Künstler nicht bitter spottete wenn er sagte er habe sie um ihrentwillen und zu ihrer Annehmlichkeit hervorgebracht? K a l l i k l e s . Zu ihrer Belehrung vielleicht, auch soll er sich das wirklich einbilden: aber zu ihrem Vergnügen gewiß nicht. Denn je täuschender die Geister nachgemacht sind, um desto wankender müßen die Gläubigen gemacht werden, welches gewiß der unangenehmste und unbequemste Zustand ist. S o p h r o n . Ich bin ganz Deiner Meinung. Aber nun sieh nur wie das Anständige wieder auf diese Art uns und sich selbst betrügt. Denn wenn die Nachahmer des Sittlichen nicht wollen daß man den Schein f ü r die Sache halten soll, so sind sie nur denen angenehm, welche an das Sittliche nicht glauben, und sich wunderbar genug an der Genauigkeit und Schönheit der Nachahmung ergözen indem sie das Urbild f ü r ein Gespenst und eine Erfindung des Aberglaubens halten. Uns hingegen, die wir | an das Sittliche glauben kann nichts frevelhafter erscheinen als diese Kunst und kein Zustand kann verdrießlicher sein, als der in welchen der Anblik derselben uns versezt. Aber glaubst Du im Ernst daß Verständige Menschen ihr ganzes Leben lang ein solches Schauspiel aufführen, es sei nun um eine große Künstlichkeit in Kleinigkeiten zu verschwenden oder um den verhaßten Glauben an das Sittliche auf eine langsame aber sichere Weise zu untergraben?
5 Dich,] Es folgt ein Einfügungszeichen, das auf dem Rand wiederholt ist, ohne daß das Einzufugende von Schleiermacher formuliert worden wäre. 7 Deinetwillen] korr. aus meinetwillen 7 Deiner] korr. aus meiner 11 schlechte] mit Einfügungszeichen am Rand 30 Uns] korr. aus Wenn
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K a l l i k l e s . Mir kommt es vor als ob Du noch immer dem Anständigen zuviel Absicht unterlegtest, und auch eine ganz falsche. Ich will versuchen Dir ganz herauszusagen was ich meine; dann magst Du zusehen ob Du es annehmen kannst. S o p h r o n . So sage denn, ich will Dich nicht unterbrechen bis Du geendet hast. K a l l i k l e s . Ich glaube, daß diejenigen welche das Anständige ausüben gar nicht unmittelbar die Absicht haben den Schein des Sittlichen hervorzubringen, sondern daß dies nur das Mittel ist deßen sie sich bedienen um ihren eigentlichen Endzwek zu erreichen, der am Ende nur darin besteht, das gesellschaftliche Leben leichter und angenehmer zu machen. Dazu scheint das Anständige, indem es in die Art und Weise, wie die Menschen ihre Handlungen verrichten und ihr Leben anordnen, eine gewiße Gleichförmigkeit und Bestimmtheit bringt ein eben so allgemeines und unentbehrliches Hülfsmittel f ü r die freie Gemeinschaft der Menschen zu sein als Recht und bürgerliche Verfaßung in Absicht auf die Gemeinschaft, welche sich auf bestimmte Zweke und Handlungen bezieht. Habe ich den Umriß meiner Meinung deutlich ausgedrükt? S o p h r o n . Ganz habe ich Dich noch nicht verstanden, lieber Kallikles: ich weiß aber nicht ob es daher kommt weil Du zu viel, oder daher, weil Du zu wenig gesagt hast. K a l l i k l e s . Das verstehe ich schon wie es gemeint ist. Das Hinwegnehmen des Zuvielen will ich Dir überlaßen, und lieber noch mehr hinzufügen, damit Du etwas zu zerstören habest. Siehe das Leben der Menschen scheint mir zweierlei zu sein: Einige wollen bloß gewiße Geschäfte in der Welt verrichten, Andere wollen, was darin ist und geschieht betrachten, ergründen, und sich zu eigen machen; Beide aber werden durch ungebundene Willkühr und uneingeschränkte Mannigfaltigkeit zurükgehalten und gehindert. Darum hat die Natur in alle Dinge bestimmte Kräfte gelegt, welche immer auf gleiche Weise wirken, damit diejenigen welche Geschäfte verrichten die ähnliche H a n d lung auch immer auf ähnliche Art vollbringen können: und die verschiedenen Gestalten der Dinge hat sie durch Stufenweise Aehnlichkeit unterschieden und verbunden, damit die Betrachtenden auch ihre Beobachtungen also sondern und verbinden könnten. Damit nun der Mensch in seinen Handlungen nicht das Einzige ungebundene und zügellose sein möchte; so ist ihm eingegeben, oder durch die Nothwendigkeit auferlegt worden zuerst das Recht und die Sittlichkeit zu erfinden um sich nach und nach an ein eben so gesezmäßiges Han-|deln zu gewöhnen, und dann auch das Anständige, damit sie das Gleiche auch auf gleiche Weise verrichten, und nicht der Handelnde durch die eigenthümliche Art eines Jeden mit dem er zu thun hat aufgehalten, der Be-
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trachtende aber durch das Mannigfaltige in der Art und Weise und im Aeußeren, welches doch immer nur unbedeutend sein kann, von der Betrachtung des Innern zurükgezogen werde. Dieses, daß ein Jeder gleich wiße wen er vor sich, und gewißermaßen auch was er von ihm zu erwarten habe, scheint mir der eigentliche und lezte Zwek des Anständigen zu sein. S o p h r o n . J e z t verstehe ich Dich; aber sage mir nur woher kommt denn jene Verwandschaft, auf daß ich es recht allgemein ausdrüke, des Anständigen mit dem Sittlichen die sich uns überall gewaltsam aufdrängt? K a l l i k l e s . Ei aus tausend Ursachen. Welche Gleichförmigkeit könnte wol dem Menschen lieber sein, als diejenige, welche eine gewiße Mäßigung ausdrükt, und am Ende auch, wenn gleich nur in Kleinigkeiten wirklich hervorbringt? Daher findest Du auch nur von solchen T u genden, die sich in der Bändigung blinder Triebe äußern eine Aehnlichkeit im Anständigen. Dann ist aber überhaupt das Sittliche das Urbild Alles gesezmäßigen in menschlichen Handlungen, so wie die Schönheit deßen in den Umgebungen, und dasjenige was die Art und Weise der menschlichen Handlungen in Gleichförmigkeit bringt, muß sich eben so von selbst der Sittlichkeit nähern wie wir in allen gemeinschaftlichen Anordnungen der Menschen in Rüksicht ihrer nächsten Umgebungen, ihrer Kleider, ihrer Wohnung ihrer Werkzeuge eine Annäherung zur Schönheit und Anmuth antreffen. S o p h r o n . Oh weh, Kallikles, wie konntest Du es nur über Dein gutes Herz gewinnen dasjenige wovon ich eine so hohe Idee habe, und glaube, daß es aus dem innersten Heiligthume des Gemüthes hervorgehe grade mit dem willkührlichsten und kleinsten zusammenzustellen, was in den menschlichen Dingen zu finden ist! K a l l i k l e s . Verzeihe, ich wußte nicht, daß ich gegen Dich die V o r sichtsmaßregeln eines Redners gebrauchen müßte, und glaubte jeder Vergleich würde gut sein, der nur ähnlich wäre. Indeßen Du weißt ja welche Eigenschaft alle Gleichniße haben; suche diese nur auf und Du wirst bald gut machen, was ich versehen habe. S o p h r o n . Wenn nur nicht Dein Vergleich gar zu gut ist: denn er ist Dir so natürlich gekommen. Ich sehe nun wol Deine ganze Ansicht läuft darauf hinaus das Anständige herabzuwürdigen. Dies wolltest Du schon dadurch daß Du es für die Nachahmung des Sittlichen erklärtest, und nur als Du sähest, daß es zugleich offenbar beschimpft wurde, warst Du zu artig um das nicht zurükzunehmen. Nun aber hast Du Dich im höchsten Grade der Künste eines Redners gegen mich bedient,
5f Anständigen] mit Einfiigungszeichen
am Rand für (Sittlichen)
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indem Du um mich desto sicherer zu fangen ganz oben von dem G r ö ß ten und Schönsten anhobst, und dann immer weiter hinabstiegst bis Du Dich | da ich es nicht bemerkte zulezt mir zum Spott in dieser niedrigen und verächtlichsten Gegend mit Deiner Rede landetest. K a l l i k l e s . Erlaube mir, daß ich nichts von Deinen Beschuldigungen verstehe; ich bin ganz arglos zu Werke gegangen. S o p h r o n . Du weißt doch daß nach Deiner Ansicht das Anständige nichts anders ist, als das Gebräuchliche, das Hergebrachte, eine Gleichförmigkeit zu welcher man nicht durch die Schönheit der Form angelokt wird, auf die es dabei gar nicht ankommt, auch nicht durch irgend eine Idee, denn es liegt keine darin, sondern die nur durch eine Form, welche es auch sei die menschliche Eigenthümlichkeit beschränken und peinigen, als Maschine aber und als Mittel f ü r die Andern den Menschen vervollkomnen soll. Dazu ist das Anständige unter Deinen Händen geworden! Indeß wenn Deine Idee nur in sich besteht, und das, was man anständig nennt, wirklich unter sich begreift, so ist mir nichts so lieb was ich nicht der Wahrheit wegen aufgeben könnte, und ich will dann nach dem Größeren welches mir im Sinne lag nicht weiter suchen. K a l l i k l e s . Dieses Größere, lieber Sophron, kann dennoch etwas sehr Wahres und Nothwendiges sein, nur etwas Anderes, als was die Welt durch das Anständige auszudrüken und zu erreichen meint. S o p h r o n . Hebe mir nur diesen Zweifel: wenn es mit dem Anständigen nur darauf abgesehen ist durch die Gleichförmigkeit Andern ihre Beobachtungen, ihre Beurtheilungen und ihre Geschäfte zu erleichtern, so beobachtet man ja das Anständige nur um Anderer willen. Meinst Du das so, oder bist Du geneigt denjenigen als einen innerlich schmuzigen und Unanständigen zu verachten, der das Anständige nicht auch in der Einsamkeit und f ü r sich selbst eben so heilig hält wie der wahre T u gendhafte das Sittliche? K a l l i k l e s . Meinem Saz zu Liebe sollte ich zwar das erste sagen, Sophron, ich bin aber genöthigt das Lezte zu bekennen. S o p h r o n . Und den Unanständigen tadelst Du auch nicht als einen solchen der eine Gefälligkeit oder Erleichterung f ü r Andere unterläßt, sondern ganz anders als einen Solchen, der seiner Natur untreu wird. O d e r begegnet Dir darin nicht dasselbige als mir? K a l l i k l e s . Nicht immer Sophron wenn ich aufrichtig sein soll. Es giebt Theile des Anständigen, bei deren Verlezung ich auf diese, Andere bei deren Uebertretung ich auf jene Art gestimmt bin. S o p h r o n . Und kannst Du diese Fälle im Allgemeinen von einander unterscheiden? 4 Gegend] korr. aus Rede (mich)
8 Hergebrachte,] folgt
(mit dem ga)
17 will] folgt
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K a l l i k l e s . Ο ja! Diejenigen, wo mir nur eine Gefälligkeit versagt zu sein scheint, sind die wo das Anständige sich dem Begrif des Hergebrachten nähert, die Andern die, wo ich Deine Idee wahrzunehmen glaube. S o p h r o n . Und da es Fälle giebt, wo es Pflicht sein kann eine G e fälligkeit zu versagen, so kannst Du Dir auch denken, daß es bisweilen sittlich sein kann unanständig zu sein nach Deiner Idee: aber Du wirst nicht glauben, daß eine Unanständigkeit erlaubt sein könnte nach meiner Idee? K a l l i k l e s . So scheint es mir. S o p h r o n . Und nach meinem Begrif, wenn wir seiner nur erst habhaft | werden könnten, würden wir überall beurtheilen können was anständig ist, nach dem Deinigen aber niemals, wenn wir nicht das G e bräuchliche unter ihnen kennten. Nicht so? K a l l i k l e s . Auch das gebe ich Dir zu, und ich glaube es wird uns noch gut gehen, weil unsere Begriffe anfangen sich bestimmter zu scheiden. S o p h r o n . Meinst Du? J a wenn der meinige so gutartig wäre als Deiner! Aber es ist wunderbar wie verkehrt ihnen wieder ihre Eigenschaften zugemeßen sind! K a l l i k l e s . Wie so? S o p h r o n . Ja, sieh nur, von dem Meinigen glauben wir nur noch daß er etwas sei und können ihn nicht aussprechen, sondern haben nur eine gewiße Ahndung davon ergriffen: den Deinigen hingegen haben wir klar und bestimmt ausgesprochen, dafür aber wißen wir auch, daß er Nichts ist. K a l l i k l e s . Nichts wäre er? S o p h r o n . Nichts wenn es darauf ankommt ihn anzuwenden, und ihm einen Inhalt zu geben. K a l l i k l e s . Nun darauf bin ich neugierig. S o p h r o n . Wenn ich Dich nun frage warum denn das Anständige sich so oft ändert, wenn es doch nur darauf ankommt daß dadurch etwas bestimmt wird, und nicht wie. K a l l i k l e s . Dies habe ich Dir eigentlich schon beantwortet. Wenn das Anständige schon von selbst zu einer Aehnlichkeit mit dem Sittlichen geräth, so ändert es sich auch mit den Begriffen von den T u g e n den, denen es ähnlich ist. S o p h r o n . Aendern sich denn die Meinungen von diesen T u g e n den bei allen Menschen auf einmal oder nach und nach? K a l l i k l e s . Nach und nach. 1 eine] mit Einfugungszeichen Umstand)
am Rand für (ihre)
12 überall] folgt
((und unter)) (allen
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S o p h r o n . So daß Einige schon die richtigere haben, wenn Andre noch der irrigen anhängen? K a l l i k l e s . Allerdings. S o p h r o n . Wenn aber erst Einige auf diese Art weiser geworden sind, ist dann das, was sich auf diese neuen Begriffe bezieht anständig oder ist es noch unanständig, und in wie vieler Zeit und durch wie viele Menschen kann es anständig werden? K a l l i k l e s . Spotte nicht, es muß ja freilich gleich anständig sein. S o p h r o n . Ja, dann erfüllt es aber nicht die Forderung des Gleichförmigen, und Du hast Merkmale verbunden, die sich nicht verbinden laßen. Soll das Gleichförmige das Wesen des Anständigen sein, so mußt Du die Aehnlichkeit mit dem Sittlichen so viel möglich verbannen; willst Du diese aber f ü r etwas mehr als das Allerzufälligste halten, so kann die Gleichförmigkeit nur einen Zustand deßelben bezeichnen, und zwar einen solchen an den gar nicht zu denken ist, da man nemlich über das Sittliche einig sein wird. Bis dahin aber wird bei Dir immer das Anständige und das Unanständige eines aus dem andern entstehen und sich in das Andere verwandeln, und zwar so unmerklich, daß kein einziges bestimmtes Urtheil darüber und keine bestimmte und sichere Anwendung davon möglich sein wird. O d e r verhält sich die Sache nicht so. K a l l i k l e s . Ja, und es scheint als hätte ich uns nicht ans Ziel gebracht. S o p h r o n . Aber wir hätten das Alles nicht nöthig gehabt, und sind in der T h a t ein wenig stumpf gewesen, das Nähere welches Deiner Meinung entgegen ist nicht zuerst zu sehn. Bei Gott ich bitte Dich, was ist das doch f ü r eine Gefälligkeit welche Du da als den Zwek des Anständigen angegeben hast, | ist es nicht eigentlich eine sträfliche und thörichte Beschüzung ihrer Gemeinheit und ihrer Trägheit? oder wenn Du etwas duldsamer denken willst eine Krüke f ü r ihre Ungeschiklichkeit, die sie entbehren lernen müßen? Soll nicht jeder Mensch eine Eigent ü m l i c h k e i t haben, und soll er nicht diese überall mitnehmen und dadurch Alles was er thut und hat als das seinige bezeichnen? Müßen wir also nicht eine Zeit hoffen und sie herbeizuführen suchen, da Jeder stark und gebildet genug sein wird um die E i g e n t ü m l i c h k e i t des Andern zu ertragen ohne sich dadurch stören und aufhalten zu laßen? K a l l i k l e s . Und wenn nun auf diese Art das Anständige darauf arbeitete sich selbst überflüßig zu machen? S o p h r o n . Freilich wol, so wäre es in sehr guter Gesellschaft! Aber es arbeitet nicht daran, sondern je eifriger es beobachtet wird, desto mehr tritt jenes Ziel in eine unerreichbare Weite zurük. Aber selbst jezt ist doch diese Art von Gefälligkeit etwas so zweideutiges, daß auch die leiseste Spur von der Möglichkeit eines andern Bestimmungsgrun-
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des sie weit überwiegen und es also nur da Statt haben würde wo wir nicht mehr scharfsichtig genug sind etwas Sittliches wahrzunehmen. K a l l i k l e s . Nein Sophron, Du gehst nicht aufrichtig zu Werke! Dieses muß ein Ende nehmen daß Du dem Anständigen jeden Spielraum und jedes Gebiet streitig machst, unter dem Vorwande daß es der Sittlichkeit gehöre. Aufs sorgfältigste habe ich beides geschieden und Du übersiehst es, als ob es gar nicht geschehen wäre. S o p h r o n . Freilich ist es unser Unglük, daß wir immer wieder auf diesen Streit zurükkommen! Aber was hast Du gesagt um ihn zu schlichten? ich besinne mich auf nichts dergleichen in Deinen Aeußerungen. K a l l i k l e s . Ich habe das Anständige gar nicht auf die Handlungen bezogen, weil diese ganz und gar der Sittlichkeit gehören, sondern auf die Art und Weise sie zu verrichten. S o p h r o n . Dies habe ich nicht überhört, aber es scheint mir damit Nichts gewonnen zu sein. Denn wie unterscheidest Du Beides? Etwa so, daß, um auf unser altes Beispiel zurükzukehren, das Gehen in den Hörsaal die Handlung gewesen, und das Schnell oder Langsam die Art und Weise; und das Sichbekleiden die Handlung, die Form der Kleidung aber die Art und Weise? K a l l i k l e s . So meinte ich es allerdings. S o p h r o n . Aber erinnere Dich doch nur, daß wir am Ende immer fanden, wie auch dieses zur Sittlichkeit der Handlung gehöre. Indeßen laß uns noch einmal zusehn ob wir irgend eine Grenzscheidung finden können; denn sonst werden wir freilich nie im Stande sein den Begrif fest zu halten. K a l l i k l e s . Hätten wir doch gleich damit angefangen! S o p h r o n . Ei beschuldige uns nicht unrecht! Wir sind ja von Anfang an auf nichts Anderes ausgegangen, und welchen Begrif vom Anständigen Du mir auch gabst, ich bin immer dabei geblieben diese entscheidende Linie zu suchen. K a l l i k l e s . Nun, so laß uns nur einmal die Sache anders anfangen und nicht von einem Begrif ausgehn. S o p h r o n . Aber wie sollen wir es denn machen? ich verstehe Dich nicht. K a l l i k l e s . Wir müßen sehen, was menschliche Handlungen möglicher weise enthalten können, und da muß sich ja finden | ob es in denselben außer dem Sittlichen noch Etwas geben, und was dieses sein kann.
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S o p h r o n . Freilich bleibt uns kein anderer Weg übrig; aber wenn wir auch auf diesem Wege etwas finden, werde ich Dir dann nicht immer die Einwendung machen müßen, die Du mir bisher gemacht hast, daß nemlich zweifelhaft bleibt, ob das unsrige auch das sei, was die Welt anständig nennt? K a l l i k l e s . Lieber Sophron, die Menschen fordern etwas von uns außer dem Sittlichen, und nennen es das Anständige; sie wißen uns keinen bestimmten Begrif davon zu geben, wenn wir nun selbst einen finden, da wo sie ihn uns anweisen, und ihnen sagen können, daß es außer dem Sittlichen in den Handlungen nichts weiter geben könne als dieses, so muß ja dies nothwendig ihr Begrif sein, und wenn das Einzelne welches sie anständig nennen nicht darunter fällt, so bleibt nichts übrig, als daß sie in der Anwendung ihrer Idee gefehlt haben. Laß uns also darüber keine unnüze Sorge tragen. S o p h r o n . Also außer dem Sittlichen sollen wir das Anständige in den Handlungen finden. Meinst Du ganz außerhalb desselben oder nur auf gewiße Weise. K a l l i k l e s sagte daß er diese Frage nicht verstände. - Nun, erklärte sich S o p h r o n , vorher schien es mir, als hieltest Du das Anständige f ü r eine einzelne Tugend denn Du beschriebst es als eine gewiße Gefälligkeit; jezt scheinst Du mir dies nicht zu glauben? K a l l i k l e s . Nein denn wenn es eine einzelne Tugend wäre, so würde es bisweilen einer andern weichen müßen. Es soll aber in jeder Handlung und überall sein, so wie das Sittliche, denn dies ist der eigentliche Sinn unserer Forderung. S o p h r o n . Wenn also Beides überall sein soll, so werden wir uns entschließen müßen, alles menschliche Handeln in zwei verschiedene Bestandtheile zu zerlegen, die in jeder einzelnen Handlung angetroffen werden müßen, und deren einer sich auf die Sittlichkeit und der andere auf das Anständige bezieht. Nicht wahr? K a l l i k l e s . So muß es freilich sein wenn wir ein Anständiges finden sollen. Aber welches sollen diese Elemente sein? S o p h r o n . Wir müßen sie suchen. Zuerst laß uns nur dafür sorgen, daß es uns nicht so gehe wie vorher. Nicht wahr jede Handlung geht darauf aus, an einem bestimmten Gegenstand eine bestimmte Gesinnung darzustellen, und diese Bestimmung des Willens macht ihr eigentliches Wesen aus. Ich bestehe nicht auf den Worten denn es kann freilich auf tausend Arten ausgedrükt werden; wenn Du nur den Sinn verstehst und mir die Sache zugiebst.
36 Bestimmung des Willens] mit Einfügungszeichen
am Rand
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K a l l i k l e s . Allerdings, und diese Bestimmung des Willens soll uns das Wesen der Handlung sein, man drüke sie nun aus durch eine Beziehung auf den Zwek wie Einige, oder durch eine Beziehung auf die Gesinnung wie Andere. S o p h r o n . Gut, und was in einer Handlung durch diese Willensbestimung bestimmt ist oder sein sollte, das gehört zu ihrer Sittlichkeit, wie geringfügig es auch übrigens sei? K a l l i k l e s . Ja, und wir wollen dies nicht wieder zum Anständigen rechnen. S o p h r o n . Aber wo wollen wir nun unser Außerhalb des Sittlichen suchen? K a l l i k l e s . Ich weiß in der T h a t diesem nichts in der Handlung entgegenzustellen, als das Mechanische was zur Ausführung jener Willensbestimmung dient. Meinst Du dieses, und könnte das Anständige darin etwas sein. S o p h r o n . Ich glaube nicht; denn was ist die Vollkommenheit dieses mechanischen Theiles der Handlung? Hältst Du den f ü r den Meister darin der dabei auf die zierlichste, anmuthigste und unanstößigste Weise zu | Werke geht oder den der was er machen soll am tüchtigsten zu Stande bringt? K a l l i k l e s . Gewiß den lezten. S o p h r o n . Und wird nicht Alles was zu diesem mechanischen der Handlung gehört, unter dieses Princip der Beurtheilung fallen, ebenfalls wie klein und geringfügig es auch sei? K a l l i k l e s . Ja und aus diesem Gebiet wird also das Anständige durch die Geschiklichkeit eben so vollkommen verdrängt, wie aus Jenem durch die Sittlichkeit. S o p h r o n . Aber was giebt es denn außer dem Gewollten und dem um des Gewollten willen Hervorgebrachten noch in der Handlung? K a l l i k l e s . Es müßte etwas sein was weder absichtlich noch mechanisch ist: aber ich sehe nichts dergleichen. S o p h r o n . Ist denn in dem Menschlichen Gemüth in jedem Augenblik Alles durch das bestimmte Wollen bestimmt welches auf die Handlung gerichtet ist mit der wir uns eben beschäftigen, so daß der Mensch gar nichts ist, als dieses jedesmalige Wollen, und das was dazu gehört? K a l l i k l e s . Das sollte ich nicht denken. Denn indem der Mensch wollend ist, ist er nicht nur zugleich anschauend, wodurch eine Menge von Vorstellungen in ihm entsteht, sondern auch erinnernd, es schweben ihm Gedanken aus seinem vorigen Zustande vor, und dies Alles
5 diese] korr. aus diesen
19 zu] darunter Werke
39 entsteht] entstehen
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hängt nicht von dem bestimmten Wollen eines jeden Augenblikes ab. S o p h r o n . U n d diese Vorstellungen, oder wie Du es sonst nennen willst, die ihr freies Spiel im Gemüthe treiben kann man diese absichtlich oder mechanisch nennen? K a l l i k l e s . Ich denke nein; aber sieh nur, sie bleiben im Innern des Gemüthes, sie haben auf die Handlung keinen Einfluß, und so sehe ich nicht was wir aus ihnen werden machen können. S o p h r o n . Sollte etwas so ganz abgesondert im Gemüthe sein, und der jedesmalige Zustand des Menschen aus zwei ganz verschiedenen Theilen bestehen, die mit einander gar nichts zu schaffen haben? K a l l i k l e s . Gewißermaßen hieße das freilich zwei Seelen annehmen. S o p h r o n . Und dafür wollen wir uns doch hüten. Wenigstens wirst Du mir also soviel zugeben, daß wenn es etwas in den Handlungen giebt, was weder durch die Sittlichkeit noch durch die Geschiklichkeit bestimmt sein kann, als dann diese Vorstellungen sich deßen bemächtigen und darauf wirksam sein werden. K a l l i k l e s . Und dieses, wenn es sich findet, soll hernach das eigentliche Gebiet des Anständigen sein? S o p h r o n . So meine ichs; Du brauchst aber nicht erst zu sagen wenn es sich findet: denn es ist in der T h a t schon gefunden. K a l l i k l e s . Nun? S o p h r o n . Findest Du nicht in jeder Handlung so etwas? Ich wenigstens sehe in jedem Augenblik Anständiges in Dir. Ich bemerke, indem Du mit mir redest, den gemäßigten T o n Deiner Stimme, den ruhigen Charakter Deiner begleitenden Bewegungen, ich bemerke daß Du Dich fragend und ungewiß ausdrükst wo wir von einander abweichen, und nicht spöttisch oder hart verneinend. H ä n g t dies Alles von Deinem gegenwärtigen bestimmten Wollen ab, welches darauf gerichtet ist den Begrif des Anständigen ins Klare zu bringen; oder könntest Du nicht dessen unbeschadet von diesem Allen das Gegentheil thun? K a l l i k l e s . So scheint es. S o p h r o n . U n d ist Dein Wille hierauf ausdrüklich und besonders gerichtet, oder ist irgend ein Mechanismus dabei im Spiele? K a l l i k l e s . Keins von Beiden. | S o p h r o n . Was bestimmt Dich also? Nicht wahr es sind Vorstellungen die unabhängig von diesem Wollen in Dir sind, und die sich desjenigen in Deinen Handlungen bemächtigen, was durch dieses unbestimmt gelaßen wird. Als Du ehedem in den Hörsaal gingest, so gehörte wol Dein Schnell oder Langsam gehn zur Sittlichkeit, aber nicht der
3 die . . . treiben] mit Einfiigungszeichen
am Rand
28 verneinend.] folgt (K)
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breite Stein und so Manches andere. Und wird sich dergleichen nicht überall finden? K a l l i k l e s . Ich glaube fast überall, und das Gebiet des Anständigen haben wir also wirklich gefunden. Aber bis jezt sehe ich noch nicht dasjenige, wodurch nun auf diesem Gebiet das Anständige vom U n a n ständigen geschieden wird. Wie werden wir dieses finden? S o p h r o n . Ich denke wir werden in diesen Vorstellungen wodurch es bestimmt wird etwas aufsuchen müßen was uns gefällt, und etwas, was uns mißfällt. Oder glaubst Du wir sollen es nicht aus seinem Grunde, sondern aus seinen Folgen beurtheilen, etwa aus dem Eindruk, den es macht, oder aus dem Nuzen, den es bringt. K a l l i k l e s . Gehe mir f ü r das Anständige mit Deinem Nuzen; der findet hier eben so wenig Plaz als beim Sittlichen, und der Eindruk kann ja bei diesen Dingen nur davon abhängen, was man sich dabei denkt: Aber ich weiß f ü r diese Vorstellungen auf welche wir sehen müßen keine andere Beurtheilung als die sittliche, und ich sehe nicht wie etwas sittlich sein kann, was gar nicht absichtlich ist. S o p h r o n . Darin hast Du Recht, aber sage mir nur sind dieselben Vorstellungen immer unabsichtlich und zu keiner Willensbestimmung gehörig, oder kommt jede Thätigkeit bald absichtlich und nur begleitend im Gemüth vor. K a l l i k l e s . Abwechselnd Allerdings. S o p h r o n . Zum Beispiel wenn Du ehedem gingst um zu gehen, um Dich öffentlich darzustellen, so gehörte Alles jenes damals zum Absichtlichen und Sittlichen, zu der Idee die Du ausdrüken, zu dem Verhältniß gegen Andere in welchem Du Dich darstellen wolltest. U n d siehst Du nun den Unterschied zwischen dem Anständigen und U n a n ständigen? K a l l i k l e s . Ο ja, was, wenn es zum Absichtlichen und ausdrüklich Gewollten gehörte sittlich war, das wird, wenn es unabsichtlich vorkommt anständig sein. S o p h r o n . Habe ich nun nicht Recht gehabt zu sagen das Anständige sei die höchste Vollendung des Menschen? Denn in der Sittlichkeit eines bestimmten Wollens sehe ich immer nur einen einzelnen Entschluß, der eine sehr unsichere Bürgschaft des Charakters ist, in dem Anständigen aber erblike ich die Spuren einer langen standhaften Uebung und immer gegenwärtiger Grundsäze und Begriffe. So lange es einem Menschen hieran fehlt habe ich immer Recht an dem Werth einzelner Entschließungen zu zweifeln; wer aber jene Beglaubigung bei
20 absichtlich] folgt ein Einfiigungszeichen, zu dem sich aber keine entsprechende findet. 25 ausdrüken] korr. aus ausdrüklich
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sich führt, den muß ich gewiß f ü r dasjenige anerkennen was er ist. K a l l i k l e s . Das kommt mir noch immer wunderbar vor, daß es etwas so leichtes sein soll, die Sittlichkeit und den innern Werth eines Menschen zu beurtheilen, und ich fürchte auf diesem Wege mich immerfort zu irren, da ja das Anständige überall mehr oder weniger auf Regeln gebracht ist, und also auch von denen die das Sittliche gar nicht so inne haben daß aus der Gewohnheit desselben das Anständige in ihnen entstanden sein könnte, ein Schein dieses leztern | erkünstelt werden kann. S o p h r o n . Mit Recht lieber Kallikles fürchtest Du Dich zu irren, wenn Dir diese Beurtheilung etwas leichtes zu sein scheint; aber kann dies wol Dein Ernst sein. Bedenke nur daß Du zuerst das Sittliche und das zwekmäßige in einer Handlung genau kennen mußt ehe Du bestimmen kannst was in derselben zum Gebiet des Anständigen gehören kann, daß Du alsdann, und dies ist gewiß nicht etwas leichtes aus diesen einzelnen äußeren Bestimmungen auf die Vorstellungen schließen mußt, welche dabei thätig sind, auf die Spuren öfterer und früherer Willensbestimmungen, und daß Du dann wieder über die Sittlichkeit von diesen urtheilen mußt. N u r der anständige Mensch kann Richter sein über das Anständige, und nur in dem kann das wahre Anständige entstehen der das Sittliche in allen seinen Handlungen bis in die feinsten Zweige hinein verfolgt und ausübt; denn nur dieses kann ihm wenn es in der Erinnerung fest liegt und durch Uebung zur Natur geworden ist, zum Stoff des Anständigen werden. K a l l i k l e s . Und Du hast also nicht gescherzt wenn Du sagtest Du gingest allein dem Sittlichen nach und kümmertest Dich nichts um das Anständige sondern bist eben deshalb auf dem einzig richtigen Wege gewesen auch dieses zu finden. S o p h r o n . So scheint es, und es ist auch natürlich da das Anständige welches wir gefunden haben keinesweges eine Kunst und ein Studium, sondern in der T h a t wie es mir vorher schon ahndete, ein Sich Gehen laßen und ein Nichthandeln ist[.] Aber Du hast auch sehr recht gehabt in Deinem Widerwillen das Anständige zu lehren: denn wie wir gefunden haben läßt es sich weder lehren noch lernen sondern nur durch freie Selbstthätigkeit und Uebung erwerben. Laß uns nur auf diesem Wege fortgehn sowol was unsere eigene Bildung als unser Urtheil über Andre betrift. Gewiß werden uns diejenigen nicht hintergehen, welche ein Anständiges haben, oder vielmehr einen leeren Schein desselben, der sich nach Regeln erlernen läßt. Sie können das wahre nie er8 erkünstelt] davor (in ihnen ent) 12 f und das zwekmäßige] mit Einßigungszeichen am Rand 15 kann] korr. aus kannst 15 nicht] mit Ein/ügungszeichen über der Zeile 25 Und Du] folgt (der Du) 37 werden] folgt (wir)
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reichen, und wenn sie auch nicht - wie wir sie doch so oft auf der T h a t ertappt haben - diesen Regeln zu Liebe das Sittliche, deßen wahres G e biet sie nicht kennen, verlezen, so werden wir sie doch immer erkennen weil sie unvermeidlich in ihrer anmaßenden Rohheit grade das höchste Anständige verdammen, und weil überhaupt das leere und todte von denen in welchen das Lebendige wohnt, niemals verkannt werden kann. K a l l i k l e s . So war es also das wahre und das falsche Anständige, deßen Verwechselung uns anfänglich in so viele Widersprüche verwikelte. S o p h r o n . Ja, und dafür laß uns diesem falschen einen immerwährenden Krieg ankündigen, wie vortrefliche und wakre Bundesgenoßen es auch an allen Andern Verkehrtheiten der Menschen haben mag; und laß uns versuchen ob es möglich sein wird durch die Freiheit, welche dem wahren Anständigen eigen ist, und durch die Mischung des Erhabenen und Anmuthigen die auch dem Widerschein des Sittlichen im äußern Betragen nicht fehlen kann, wenigstens Einen und den Andern vom Schein zur Wahrheit und von der Sklaverei der Gewohnheit und willkührlicher Sazungen zum freien Dienste des Guten und Schönen hinüberzuloken.
14 dem] korr. am Ldiel
Auszug aus den Verhandlungen der chemischen Versammlungen bei Klaproth (Mai-Juni
1800)
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Auszug aus den Verhandlungen der chemischen Versamlungen bei Klaproth Mai Juni 1800.
Erstes Objekt. Das Zinn. I. Allgemeine Erörterungen. 1. Das Zinn b r i c h t nur in wenigen Gegenden des Erdbodens, da aber ziemlich reichlich, und da es häufig im Granit so vorkommt daß man sieht die Theile des Zinns sind gleichzeitigen Ursprungs mit den Gemengtheilen dieser Gebirgsart: so hält man es für eins der ältesten Metalle. D i e bisher bekannten Lagerstätten sind Cornwallis, Galizien in Spanien, das Erzgebirge, Malacca und Bancas. Man hat das Zinn bis jezt nur in einem zweifachen Z u s t a n d e gefunden[:] verkalkt und geschwefelt; das Dasein des Gediegenen ist
3 Juni] Jun.
6 I] 1
8 reichlich] korr. aus reichhaltig
2 Der Apotheker und Chemiker Martin Heinrich Klaproth (1743-1817) arbeitete nach einer fünfjährigen Lehrlingszeit (1759-1764) als Apothekergeselle in Quedlinburg, Hannover, Berlin, Danzig und wieder Berlin, bis er in Berlin die Bären-Apotheke 1780 erwarb und 20 Jahre deren Eigentümer blieb. Nach mehreren ehrenamtlichen Lehrtätigkeiten wurde Klaproth 1800 besoldeter ordentlicher Chemiker der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und zusätzlich 1810 ordentlicher Professor der neugegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität. Entsprechend seiner experimentellen Methodologie forderte Klaproth besonders die Mineralchemie, indem er zahlreiche quantitativ exakte Analysen von Mineralien im Laboratorium seiner Apotheke vornahm. Dabei entdeckte und charakterisierte er 7 chemische Elemente: Zirkonium (1789), Uran (1789), Titan (1792), Strontium (1793), Chrom (1797), Tellur (1798), Cer (1802). Er benannte außer Uran und Titan das Beryllium. Nach einer experimentellen Uberprüfung gab Klaproth 1792 die Phlogistontheorie zugunsten der Lavoisierschen Oxydationstheorie auf. 12 Auf der indonesischen Insel Banka (Bangka), die der Ostküste von Sumatra in geringer Entfernung etwas südlich des Äquators vorgelagert ist, wurde Zinnstein im Tagebau gewonnen.
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zweifelhaft. Das Geschwefelte (Zinnkies) noch vor nicht gar langer Zeit und nicht häufig in Cornwallis. Verkalkt in allem Z i n n s t e i n . Die einfache Grundgestalt kommt selten vor, es sind vierseitige, mit vier Flächen pyramidalisch zugespizte Säulen. Der Zinnstein bricht theils in 5 Gängen theils wird er aus dem Sande der Flüße ausgewaschen. Eine seltne vom Gewebe so benante Art des lezteren ist das Holzzinn (woodtin). Das Waschzinn ist o f t mit Gold vergesellschaftet. Das Ostindische Zinn ist das r e i n s t e , nächst ihm das englische, welches von dem Arsenikkies fast ganz frei ist, mit dem die deutschen 10 Zinnerze mehr oder weniger gemengt sind. Die G e w i n n u n g ist einfach: Pochen, Schlemmen, Rösten, Reduction durch Kohle. Eben so beschreibt sie schon Plinius H . N . L. X X X I V cp. 47. (plumbum album, stannum Lwarl ein Gemisch von Blei und Silber.) LAusl ursprünglicher Legirung | des Kupfers mit Zinn; späterhin 2v 15 Z u s a m e n s e z u n g mit Zinn; Lunsrel Bronze. Nach den verschiedenen Mischungsverhältnißen geht die Farbe vom röthlich gelben bis ins Weiße. Zwei merkwürdige Ueberreste von Gloken die in Torre di greco durch einen Lavastrom zerstört worden. Sie waren nicht zum Schmelzen gekommen der Zinnantheil aber durch Verflüchtigung oder Ver-
12 Plinius] Plin. chen über der Zeile
13f Silber.)] Silber. 15 den] dem 17 Weiße] folgt (über)
16 bis] mit
Einfiigungszei-
12-14 Vgl. Plinius: „Sequitur natura plumbi. Cujus duo genera, nigrum, atque candidum. Pretiosissimum candidum, a Graecis appellatum cassiteron, fabuloseque narratum in insulas Atlantic! maris peti, vitilibusque navigiis circumsutis corio advehi. Nunc certum est, in Lusitania gigni, et in Gallaecia: summa tellure arenosa, et coloris nigri: pondere tantum ea deprehenditur. Interveniunt et minuti calculi, maxime torrentibus siccatis. Lavant eas arenas metallici, et quod subsidit, coquunt in fomacibus. Invenitur et in aurariis metallis, quae aluta vacant: aqua immissa eluente calculos nigros paulum candore variatos, quibus eadem gravitas quae auro: et ideo in calathis, in quibus aurum colligitur, remanent cum eo: postea caminis separantur, conflatique in album plumbum resolvuntur. Non fit in Gallaecia nigrum, cum vicina Cantabria nigra tantum abundet: nec ex albo argentum, cum fiat ex nigro. Jungi inter se plumbum nigrum sine albo non potest, nec hoc ei sine oleo. Ac ne album quidem secum sine nigro. Album habuit auctoritatem et Iliacis temporibus, teste Homero, cassiteron ab illo dictum. Plumbi nigri origo duplex est: aut enim sua provenit vena, nec quidquam aliud ex se parit: aut cum argento nascitur, mixtisque venis conflatur. Ejus qui primus fluit in fomacibus liquor, stannum appellatur: qui secundus, argentum: quod remansit in fomacibus, galena, quae est tertia portio additae venae. Haec rursus conflata, dat nigrum plumbum deductis partibus duabus." (Historia naturalis 34,47, ed. Societas Bipontina, Bd 5, Zweibrücken 1784, S.263f) 17 Torre del Greco ist eine kampanische Küstenstadt südöstlich von Neapel am Fuß des Vesuv. 1794 wurde sie durch einen Vulkanausbruch stark zerstört.
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brennung aus beiden entwichen. Das eine Stük enthielt bloß verkalktes Kupfer; das andere in der Mitte völlig metallisches Kupfer. 2. Das specifische Gewicht des Zinnsteins und des Metalls ist weniger verschieden als bei andern Metallen. Ersteres (Zinnstein aus Zinnwalde) betrug 6,896; lezteres (englisches Zinn) 7,274.
II. Reduction des Zinnsteins. Wegen der starken Verwandtschaft des Zinns zum Sauerstoff kann man den Kalk in ofnen Gefäßen nicht reduciren. Die Reduktion geht von Statten im Kohlentiegel. 1. In einen böhmischen Tiegel wurde ein ganzes Stük Zinnwalder Zinnstein 120 Gran schwer und 2. in einen hessischen eben soviel im Stahlmörsel fein gepulverter. Man darf die Tiegel die 18 Minuten die volle Hize des Gebläses bekamen nicht heiß öfnen weil sich sonst das Zinn wieder oxydirt. Das Korn aus 1. wog 99j Gran. Das Korn aus 2. - 97. |
III. Verglasung des Zinnsteins. In dasselbe Feuer ward ein kleiner Thontiegel mit 180 Gran pulverisirtem Zinnstein ohne Zusaz gethan. Er war aber nicht zum Fluß gekommen. Dies wurde in der Folge im Porzellanofen bewerkstelligt. Die Masse war geflossen, und hatte wie es bei dieser Arbeit immer geschieht oberwärts eine bräunliche m a t t e R i n d e , die sich als Anflug auch weiter über die L Wandel des Tiegels verbreitete. Unter ihr fand sich ein reines g e l b e s Glas. Der untere Theil hatte das Ansehn als ob er zwar geflossen gewesen wäre, sich aber hernach schlakenartig krystallisirt hätte. Anderen schien er eine wahre Schlake zu enthalten, welches nicht weiter untersucht ward.
5 7,274] folgt (2.) Reduction) 12 gepulverter] zu ergänzen wohl gefüllt folgt (nicht) 17f pulverisirtem] pulveris. 26 ward] am Rand NB.
13 Tiegel]
5 Zinnwald ist ein kleiner Bergbauort im Erzgebirge an der sächsisch-böhmischen Grenze genau südlich von Dresden. 11 1 Gran (Apothekergewicht) betrug in Preußen 0,061g.
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IV. Behandlung des Zinnsteins auf nassem Wege. 1. E r ö r t e r u n g e n . M a n hielt sonst diese Zerlegung f ü r unmöglich. Bergmann gab zuerst eine einigermaßen gelingende Methode an. Er ließ den Zinnstein anhaltend und heiß mit concentrirter Schwefelsäure digeriren und sezte hernach Salzsäure zu. Er gewann aber doch dem Zinnstein nur einige Procent ab. Man muß statt der sauren alkalische Auflösungsmittel anwenden. Da diese in den meisten Fällen einen beträchtlichen Grad von Hize erfordern, so wendete man sie sonst fast ganz allein auf troknem Wege an, indem man die aufzulösenden Substanzen mit kohlensaurem Laugensalz glühte. Klaproth bediente sich zuerst mit Erfolg der flüßigen Aezlaugen. Die Mischung (sehr har-|te Mineralien müßen erst gepulvert werden) wird bis zur T r o k n e evaporirt und in freiem Feuer geglüht. Klaproth erklärt sich das Ganze so, daß die Behandlung mit Alkali das Mineral f ü r die Wirkung der Säuren aufschließe, dagegen Guiton LMordeaul sie nur als eine mechanische Zertheilung gelten laßen will. Klaproth denkt hierauf zu antworten. Ich verstehe die Klaprothische Idee nicht recht: denn was heißt aufschließen? und der Guitonschen kann ich nicht beistimmen. 2. Prozeß. 100 Gran im Feuersteinmörsel zerkleinerter Zinnstein wurden in einem Silbertiegel auf der Sandkapelle nach und nach mit 1800 Gran Aezlauge deren Gehalt j war übergoßen, bis zur Trokne evaporirt und noch ^ h. im freien Feuer geglüht. Durch diese Arbeit (sagt Fischer) verbindet sich der Zinnkalk nicht nur mit dem Kali zur Auflöslichkeit im Wasser, sonderen wird auch auf einen solchen Grad der Oxydation zurükgeführt bei dem er in den Säuren auflöslich ist. Die geglühte Masse wird mit heißem Wasser erweicht zur klaren Auflösung und filtrirt. Der unaufgelöste dunkelbraune Rükstand betrug 4^-5 Gran. Er ward mit Salzsäure übergössen, die sich gelb färbte, die klare Auflösung welche daraus entstand ward abgegossen und das blausaure Kali gab daraus einen Eisenniederschlag. Das Eisen pflegt wie Klaproth sagt pro Cent zu betragen.
5 concentrirter] concentr. 14 so,] folgt (2.Arbeit) 17 Klaproth] 17-19 Ich ... beistimmen.] am Rand 28 unaufgelöste] folgt (Rü)
Klapr.
4 Der schwedische Naturforscher Torhern Bergman (1735-1784) studierte und lehrte in Upsala Physik, Mathematik, Astronomie sowie physische Geographie. Er erhielt dort 1767 die Professur für Chemie und erprobte in zahlreichen Laboratoriumsexperimenten die Mineralogie im Naßverfahren. Er entdeckte das Schwefelzinn. Er untersuchte die Affinität der chemischen Elemente mit mathematischer Genauigkeit.
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Aus der Kaiischen Auflösung kann man nun den Zinnkalk durch genaue Sättigung fällen. Es ward aber vorgezogen die Methode der Uebersättigung so daß er in eine saure Auflösung übergeht die dann durch kohlensaures Kali gefällt wird. Beim Zugießen der Salzsäure entstand ein Aufbrausen welches verrieth daß die Aezlauge beim Kochen und Glühen Kohlensäure angezogen hatte. Je mehr sich die Flüßigkeit dem Neutralisationspunkt näherte, desto häufiger und bleibender wurde der Niederschlag; er verschwand durch Vermehrung der Säure. Aus dieser sauren Auflösung wurde der Zinnkalk durch | Kohlensaures Kali gefällt wobei abermals Kohlensäure entwich weil der Zinnkalk wenig oder nichts davon annimmt. Der Kalk wurde in der Folge mit Salzsäure übergoßen und löste sich ohne Aufbrausen darin auf. Die klare Auflösung ward in einem Cylinderglase verdünnt und ein Zinkstäbchen hinein gelegt um das Zinn metallisch niederzuschlagen. Es ward endlich von der Flüßigkeit abgesondert und getroknet und wog 62 Gran. |
V. Krystallisation des Zinnes. 1. Erörterung[.] Alle Metalle nehmen beim Uebergang aus dem tropfbar flüßigen in den festen Aggregatzustand ein krystallinisches Gefüge an. Man kann dies wahrnehmen wenn man das geschmolzene Metall in dem Zeitpunkt ausgießt wo es nur erst an den Wänden des Gefäßes aber noch nicht in der Mitte erhärtet ist; die innere Fläche der erhärteten Rinde (gleichsam ein naßer Bruch) zeigt dann o f t die Gestalt der Krystalle. 2. Prozeß. Einige Unzen englisches Zinn wurden in einem Tiegel geschmolzen und auf die beschriebene Weise behandelt. Der Bruch war offenbar kristallinisch; aber die Gestalt nicht recht deutlich. VI. Auflösungen des Zinnes in Salzsäure. 1. E r ö r t e r u n g . Da das Zinn einer doppelten Stufe der Oxydation fähig ist, so sind zwei Auflösungen möglich welche sich sehr von einander unterscheiden. Man kann nur die oxydulirten durch unmittelbare Auflösung erlangen, wobei sich dann das Zinn unter der gewöhnli-
2 aber] folgt (folgende Methode) 13 Zinkstäbchen] korr. aus Zinnstäbchen 15 62 Gran] folgt (V. Reduction des Zinns auf nassem Wege) 28 1. E r ö r t e r u n g ] E r ö r t e rung 30 oxydulirten] folgt (Auf) 30 Oxydulation ist die niedrigstufige Verbindung von Sauerstoff mit einem in zwei oder mehr Wertigkeitsstufen vorliegenden Element (Beispiel: FeO Eisenoxydul).
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chen Erscheinung auf Kosten des Wassers oxydirt. Man erhält diesen Zustand langsamer aber gewißer wenn man äußere Erhizung vermeidet. Das unterscheidende dieser Auflösung ist die starke Neigung des sich darin befindlichen Zinnes sich stärker zu oxydiren und den meisten Körpern mit denen sie in Verbindung gebracht wird noch Sauerstoff zu entziehen. Die oxydirte Auflösung ehemals spiritus fumans Libavii wird durch einen sehr complicirten Prozeß bereitet, Lweiterl unten. Fragen. Wenn das Zinn durchaus einer zweifachen Oxydationsstufe fähig ist, so müßte sich doch auch wie bei andern Metallen der | Kalk in einer doppelten Gestalt zeigen, wovon nichts gesagt worden ist, mir auch sonst nichts bewußt ist. Auch kann man das wol nicht einen dem Körper eignen Zustand nennen woraus er sich so sehr und auf alle Weise zu entfernen strebt. Ferner müßten alle sauren Auflösungen des Zinnes doppelt sein und der salzsauren müßten viere (wegen der oxygenirten Salzsäure) wenigstens gesucht werden. Es scheint mir daher richtiger den Saz so aufzustellen^] der Zinnkalk ist oxydulirt nicht für sich darstellbar und oxydirt nicht in Säure auflöslich. Mehreres unten. 2. Prozeß. Bereitung der oxydulirten Zinnauflösung in gemeiner Salzsäure. Eine Unze geraspeltes englisches Zinn ward in einem Kolben mit Salzsäure übergössen und äußere Erwärmung vermieden. Es entwikelte sich Wasserstoffgas mit Spuren von Schwefel theils durch Trübung der Flüßigkeit, theils durch hepatischen Geruch des Gases. Der Kalk blieb mehrere Tage stehn und nur zulezt ward äußere Erwärmung zu Hülfe genommen, um die Auflösung des lezten Restes zu beschleunigen. Der getroknete Rükstand der gewöhnlich schwarz ist war diesmal mehr grün. Er zeigte sich vor dem Löthrohr durch Flamme und Geruch als Schwefel vermuthlich mit Kohle vermengt. Von Arsenik war keine Spur. 3. Erscheinungen dieser Zinnauflösung a. mit der Goldauflösung bildet sie einen rothen Niederschlag, den Lmineralischenl Purpur. Das oxydulirte Zinn entzieht dem Golde nur einen Theil seines Sauerstoffes, wodurch beide Metallkalke ihre Auf-|löslichkeit verlieren und im Augenblik der Fällung in eine chemische (?) Verbindung treten. Man nimmt gewöhnlich dazu eine aus gleichen Theilen Salpetersäure und Salzsäure bereitete Zinnauflösung. 11 zeigen] erscheinen
6-8 Vgl. unten 111,4
17 oxygenirten] oxygen.
26 Gases] Gas
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Die aus der bloßen Salzsäure pflegt keinen so schönen Purpur zu geben. b. an der f r e i e n L u f t zieht sie den Sauerstoff so an daß sie mit der Zeit die Fähigkeit auf den Goldpurpur zu wirken verliert. D a h e r wirkt sie c. mit dem S a u e r s t o f f g a s als Eudiometer. Es wurde ein kleines Glas mit gutem Sauerstoffgas gefüllt und umgekehrt in die Zinnauflösung gesezt, die es in der folgenden Stunde ganz absorbirt hatte. D o c h gab sie noch Niederschlag mit der Goldauflösung. Frage. O b alsdann, wenn man sie an der Luft oder durch Absorption des Sauerstoffgases mit Sauerstoff s ä t t i g t e , der Kalk noch aufgelöst bleiben würde[?] d. D e r u n v o l l k o m n e n S c h w e f e l s ä u r e sogar entzieht die Zinnauflösung ihren Sauerstoff, und stellt den Schwefel wieder her, welches ein eigentlich entscheidender Versuch über die N a t u r dieser Säure ist. Es wurde in einem Glase Wasser das bis zur Sättigung mit unvollkomner Schwefelsäure imprägnirt war mit Zinnauflösung verbunden. Die Flüßigkeit trübte sich bald ward immer gelber und es bildete sich häufiger Niederschlag der aus Zinnkalk und Schwefel besteht und gewißermaßen ein auf nassem Wege bereitetes Musivgold ist. Er hatte jedoch von dem lezten weder das Fettige noch den metallischen Glanz, und als er in der Folge mit Säuren behandelt ward löste sich der Zinnkalk auf und der Schwefel schwamm auf der Auflösung in Blasengestalt, er wurde auf die Kohle gebracht und zeigte sich deutlich als Schwefel. e. auf andere M e t a l l k a l k e , namentlich Queksilber Molybdän Wolfram und Arsenik wirkt sie als Reductionsmittel auf nassem Wege. R o t h e r Q u e k s i l b e r k a l k per se und Sublimat wurden mit Zinnauflösung übergössen. Die Farbe verschwand sehr bald und das Q u e k silber fiel zu Boden in Gestalt von unzähligen kleinen glänzenden grauen Kügelchen. W e i ß e r M o l y b d ä n k a l k der aus der Kaiischen Auflösung vermittelst einer Säure gefällt war, ward mit Wasser zu einer milchichten Flüßigkeit zusammengerieben und dann Zinnauflösung hinzugethan. Statt eines blauen Niederschlags bildete sich ein brauner der sich zu ei-
9 noch ... Goldauflösung] auf den Rand hinausgeschrieben 10-12 Frage ... würde[?]] am Rand 10 Frage.] Fr. 17 Schwefelsäure] folgt (gesätti) 29 Boden] folgt (als)
6 Eudiometer meint hier Sauerstoffmesser. 20 Musivgold (Muschelgold) ist pulvriges goldglänzendes Zinndisulfid, das in Lösungen zur Herstellung von Bronzefarbtönen benutzt wurde. 27 Sublimat ist ein aus dem festen Aggregatzustand erst gasförmig und dann wieder fest gewordener Stoff.
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ner klaren braunen Flüßigkeit bald wieder auflösete. Es mußte in der Mischung das Verhältniß der | Zinnsolution sehr vermindert werden, um den blauen Niederschlag zu erhalten, der unter dem Namen des blauen Karmins bekannt ist. Auf den blauen Stoff wirkte die Salzsäure fast gar nicht und er gab sich dadurch als reducirtes Molybdänmetall zu erkennen welches den Säuren sehr widersteht, da es hingegen als Kalk sehr auflöslich in ihnen ist. W o l f r a m k a l k auf dieselbe Weise behandelt nahm anfänglich eine grünlich blaue Farbe an die aber bald in ein völliges Blau überging. Der getroknete Niederschlag (ebenfalls reducirtes Wolframmetall) ging aber an der Luft wieder ins grünliche über welches einer Oxydation zuzuschreiben ist. f. Wirkung der Zinnauflösung auf F a r b e n s t o f f e . 1. Erörterung. Die Färber bedienen sich derselben unter dem N a men K o m p o s i t i o n um mehrere Farben zu erhöhen. Sie erhöht die Cochenille zu Scharlach und auf ihr beruht auch die geheim gehaltene Bereitung des rothen Karmins. Bei der Analyse findet man den Farbenstoff der Cochenille, etwas Alaunerde und oxydirtes Zinn. Nach der Vermuthung auf welche dies führt wird nun verfahren. 2. Prozeß. Cochenille j Unze, Römischer Alaun Skrupel und Wasser 1 P f u n d ward in einer zinnernen Schale abgekocht und königsaure Zinnauflösung zugesezt. Es entstand ein hellerer Niederschlag[.] Er wurde abgesondert und getroknet und war von hellerer Farbe als Karmin sein muß. In der abgegossenen Flüßigkeit entstand nach und nach noch ein feinerer Niederschlag von schöner Karminfarbe. Im Glase zeigte sich nachdem dieser abgesondert worden noch ein dritter wiederum hellerer Niederschlag. Die Flüßigkeit war nun gelb.
VII. Reduction des Zinnes auf nassem Wege. Das Zinn kann aus seiner Auflösung durch Zink, der den Sauerstoff noch begieriger anzieht gefällt werden. Verdünnte Zinnauflösung
10 Niederschlag] folgt (ging a) Skrupel] > I β
10 reducirtes] reduc.
20 ^ Unze] \
β
20 l j
16 Karmin (Cochenillerot) ist ein mittelroter Farbstoff, der aus Koschenilleschildläusen durch Wasserlösung gewonnen wird. 18 Alaun bezeichnet eine Gruppe kristallisierter Doppelsulfate mit ein- und dreiwertigen Metallen. Das häufig gemeinte Kalialaun ist Kalium-Aluminium-Sulfat mit 12 Kristallwassermolekülen. 20 In Preußen betrug 1 Unze (Apothekergewicht) 29,212g ( = 8 Drachmen), 1 Skrupel (Apothekergewicht) 1,217g (= 20 Gran), 1 Pfund (Gewichtsmaß) 467,404g (= 32 Lot).
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ward in ein Glas gegossen und ein in den Kork | befestigter Nagel von Zink hineingebracht. Die LEntsäuerungl des Zinns zeigte sich sehr bald indem sich ein Zinnbaum anzusezen anfing.
VIII. Bereitung des Spiritus fumans Libavii, richtiger Liquor stanni oxydati muriatici concentratus. 1. Prozeß. Nach der allgemeinen Vorschrift Recipe stanni unciam I et dimidiam Mercurii unciam I. Amalgamato adde Mercurii muriatici corrosivi uncias IV et dimidiam fiat destillatio wurden U Unzen geraspeltes englisches Zinn in einem Tiegel geschmelzt, und nach mäßiger Abkühlung ohne Verhärtung 1 U n z e Queksilber zugesezt. Die Mischung wurde umgerührt, durch Kälte erhärtet und zu Pulver zerrieben. Dies ist der eigentliche Zwek des Amalgamirens und daher das Verhältniß des Queksilbers willkührlich; wesentlich aber das des Sublimats (3:1). Es wurden also 2j Unzen Sublimat abgewogen mit dem Amalgam zusammengerieben und in eine gläserne Retorte gefüllt, und diese in eine Sandkapelle gelegt mit einer Vorlage versehen. Die Destillation erfolgt bei einer Temperatur unter dem Siedepunkt und kam nach einiger Zeit fast augenbliklich in Gang. Die Tropfen folgten sich schnell und ein schwerer weißer Dampf flöß stromweise wie eine tropfbare Flüßigkeit in die Vorlage. Nach beendeter Destillation wurde die rauchende Zinnauflösung in ein Stöpselglas gefüllt und wog l j Unzen. Der Inhalt der Retorte bestand aus ziemlich flüßigem Zinn Amalgam, welches mit einer festen grauen Rinde bedekt war, die aus oxydirtem gemein salzsaurem Zinn besteht. Im Halse der Retorte saß ein weißer Anflug welcher aus der rauchenden | Zinnauflösung selbst bestand, deren Dünste an die Körper in weißen nadeiförmigen Krystallen - ehedem barba Jovis genannt - anhängen.
7 Recipe . . . dimidiam] Rp 2li I β 8 Mercurii . . . I] 2ii \ I 8 Mercurii] oder argenti vivi 10 Mercurii . . . dimidiam] muriat. corros. \ IV β 17 (3:1).] (3:1.) 17 wurden] wurde 25 1- U n z e n ] \ I β 29 Dünste] folgt (sich)
4 Spiritus fumans Libavii ist Zinntetrachlorid und wurde 1605 erstmals von Andreas Libavius erwähnt. Wird es in Wasser gelöst, so bildet sich u. a. Hexachlorozinnsäure und kolloide Zinnsäure auf Basis von Zinndioxyd. 5 Diese Bezeichnung ist von Schleiermacher irrtümlich als präzisierendes Äquivalent für Spiritus fumans Libavii gemeint; vgl. unten 127,2Sf
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2. Erörterungen. Diese Auflösung unterscheidet sich von der obigen nicht bloß durch den hohen Grad der Oxydation sondern auch dadurch - so sagt Klaproth - daß die Salzsäure dort gemein hier oxygenirt ist. Klaproth beweist dies dadurch, weil die Auflösung ohne alle Spur von GasEntweichung noch mehr Zinn aufzulösen im Stande ist. Er meint die Säure sei auch im Sublimat schon oxygenirt und daher kämen großentheils die Eigenschaften dieses Salzes. 3. Erscheinungen. Begreiflich keine von allen der oxydulirten Auflösung eignen, wegen der gänzlichen Sättigung des Zinns mit Sauerstoff. Dagegen a. hoher Grad von Flüchtigkeit. Die Auflösung ist in einem beständigen Zustande des Verflüchtigens, schon bei der Destillation aber auch immerfort an freier Luft. Selbst durch den Stöpsel des Stöpselglases drängten sich die Dämpfe. b. Die Flüßigkeit ist die schwerste unter allen tropfbaren. Ihr specifisches Gewicht ist 2,225. c. Adets Versuch der Coagulation des Wassers vermittelst derselben ward wiederholt. 22 Theile derselben mit 7 Theilen Wasser vermischt verbanden sich unter einer starken Erhizung. Das Glas wurde in kaltes Wasser gesezt und nach wenigen Minuten fing die Auflösung an krystallinisch anzuschließen. In weniger als einer halben Stunde hatte sich die ganze Masse krystallisirt. |
IX. Musivgold. 1. Erörterung. Das oxydirte Zinn verbindet sich auf troknem Wege mit dem Schwefel; das Produkt hat eine glänzende Goldfarbe und wird zum Bronziren des Gypses und zum Malen gebraucht. 2. Prozeß. Nach der Vorschrift Recipe stanni pari unciam I et dimidiam argenti vivi unciam I. Amalgamato adde sulphuris sublimati unciam I ammonii muriatici uncias VI. Misce et spiritum adde
15f specifisches] spec. 18 derselben] derselb 28 Recipe . . . dimidiam] Rp 21i pari 1β 29 argenti . . . I] 52ü vivi J-1 29 argenti] oder Mercurii 31 sulphuris . . . I] £ i s subl. J. I 32 ammonii . . . VI] amon. mur. % VI 33 spiritum adde] Ω a 17 Der französische Chemiker der Phlogistontheorie.
Pierre Auguste Adet (1763-1834)
war schon früh ein
Gegner
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wurde das Amalgam wie oben bereitet; dann mit dem Schwefel und Salmiak zusammengerieben alles in einen Kolben gefüllt und dieser in eine SandKapelle gestellt. Nach mehrstündiger Sublimation wurde der Kolben bis zur Mitte seines Bauchs abgesprengt. In der obern Hälfte und am Halse befand sich ein weißer und rother Anflug, Lwovonl jener sublimirter Salmiak, dieser Zinober ist. Die Masse in der untern Hälfte war mit einer grau schwarzen Rinde bedekt, die aus geschwefeltem metallischem Zinn besteht. Das geschwefelte Zinnoxyd oder Musivgold befand sich unter dieser Rinde zu unterst im Kolben. Es hat einen gelben metallischen Glanz ist leicht zerbrechlich und fühlt sich fettig zwischen den Fingern an. Während des Processes entwikeln sich viele D ä m p f e die hauptsächlich aus geschwefeltem Ammonium und geschwefeltem Wasserstofgas bestehn. Das Gerathen des Präparats hängt von der Erhaltung eines gemäßigten Feuersgrades ab. Ueber die Aetiologie wurde noch bemerkt a. daß das Queksilber sich gänzlich verflüchtigt und wenn auch etwas im Musivgolde zurükbliebe dies doch nur eingemengt ist und nicht zur Mischung gehört da sich das Musivgold unmittelbar aus oxydulirtem Zinn und Schwefel zusammensezen läßt. b. Die Oxydulation des Zinns geschehe wahrscheinlich nur durch eine Zersezung des im Salmiak befindlichen Krystallisationswaßers. Daher auch die Entstehung des geschwefelten Wasserstofgases. D e r Salmiak selbst sublimire sich zum Theil, zum Theil entweiche die Salzsäure und das Ammonium bilde mit dem Schwefel Lflüchtige Schwefelleberl. D a ß keine Oxydation aus der Luft vorgehe erhelle daraus weil das Musivgold von unten anfange sich zu bilden. |
X. Oxydirung des Zinns durch Salpetersäure nebst Prüfung desselben auf Bleigehalt. 1. Erörterung. Das Zinn greift die Salpetersäure heftiger an als irgend ein anderes Metall. Wird sie unverdünnt angewendet so entwikeln sich unter der stärksten Erhizung mehr rothe D ä m p f e als bei irgend ei-
5 am] korr. aus im gas
18-26 g e h ö r t . . . bilden.] am Rand
22 Wasserstofgases] Wasserstof-
J Sublimation ist der unmittelbare Übergang eines Stoffes vom festen in den gasförmigen gregatzustand (oder umgekehrt). 24 f Schwefelleber (Hepa sulfuris) ist Kali-Schwefel entsteht, wenn Schwefel und Kaliumcarbonat zusammengeschmolzen werden.
Agund
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ner metallischen Auflösung und man behält nichts als das trokne oxydirte Zinn im Kolben. Braucht man verdünnte Säure so wird nicht nur diese und zwar in ihre entfernten Bestandtheile (Sauerstoff und Stikstoff) gänzlich zersezt sondern auch das Wasser dabei entwikelt sich aber wenig oder nichts an gasförmigen Stoffen indem der Stikstoff und der Wasserstoff sich zu Ammonium verbinden. Dies entweicht auch nicht weil es von der noch vorhandnen freien Säure angezogen wird und mit ihr Ammonium nitricum (nitrum flammans) bildet. Es bleibt also zulezt eine Flüßigkeit zurük welche dieses Salz mit Lwenigeml aufgelöstem Zinn enthält. 2. Prozeß. Das Verfahren mit unverdünnter Säure ward im Collegio, das mit verdünnter von Herrn Klaproth in der Zwischenzeit angewendet. a. 120 Gran englisches und eben so viel hiesiges Probezinn wurden in zwei verschiedene Kolben gethan. Am zwekmäßigsten ist es die Säure in den Kolben zu thun und das Zinn langsam und bei kleinen Portionen einzutragen um die heftige Hize zu vermeiden. Da wir aber den starken Angrif gern beobachten wollten wurde umgekehrt verfahren. In kleinen Portionen wurde nach und nach 1 Unze unverdünnte Salpetersäure in jeden Kolben gethan. Dike rothe Dämpfe entwikelten sich augenbliklich und das Zinn ward schnell in ein weißes Pulver verwandelt; die Hize war so heftig daß man sehr bald die Kolben nicht mehr halten konnte. | Der Rükstand wurde in beiden Kolben mit Wasser übergoßen um die auflöslichen Theile aufzulösen; der übrige Rükstand, das bloße oxydirte Zinn ward abgesondert und getroknet. Die Auflösungen waren beide farbenlos. Um sie auf fremden Metallgehalt zu prüfen ward zuerst Schwefelsäure angewendet die mit dem Blei den schwerauflöslichen Bleivitriol bildet. Das englische Probezinn gab gar keinen Niederschlag, das andere einen sehr häufigen. Um alles Blei zu erhalten muß man nicht nur so lange Schwefelsäure zusezen als noch ein Niederschlag erfolgt sondern auch die übrige Flüßigkeit noch concentriren weil sie einen kleinen Antheil aufgelöst enthalten kann. Der Niederschlag wog l_20~l Gran und gab sich durch Reduction vor dem Löthrohr als Schwefelsaures Blei zu erkennen. Die Reduction geschieht f ü r sich kann aber durch Natron perge noch befördert werden. Da der metal-
6 Ammonium] Amonium 12 Herrn] H. 18 wurde] folgt (das) 19 1 Unze] \ I 33 f Der Niederschlag] über (Das Blei) 36 f metallische] mit Einfügungszeichen über der Zeile 29 Vitriole sind Sulfate zweiwertiger wasser kristallisieren.
Metalle, die mit sieben oder fünf Molekülen
Kristall-
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lische Bleigehalt des Bleivitriols 0,69 zu sein pflegt, so enthielten die 120 Gran Probezinn 17,94 Gran Blei also 15 p. Cent. Eine andere Prüfung der Auflösung ist die auf Kupfer Zink oder Messing welches dem verarbeiteten Zinn gewöhnlich in dem Verhältniß von l j : 100 zugesezt wird um ihm mehr Härte und Klang zu geben. Beide Auflösungen wurden mit blausaurem Kali Lversuchtl und in beiden zeigte sich der rothbraune Niederschlag des Kupfers. Das englische Probezinn war also auch von verarbeitetem genommen worden. b. Oxydation in verdünnter Salpetersäure. 2 Unzen Salpetersäure waren mit 2 Unzen Wasser verdünnt und englisches Zinn in kleinen Portionen hineingetragen worden, eine nicht eher bis die vorige sich oxydirt hatte. So wurden nach und nach 6 Unzen Zinn hineingetragen, es entwikelte sich weder Wärme noch Gas. Am Boden des Kolbens lag das oxydirte Zinn; die klare Flüßigkeit wurde durch Wärmen concentrirt, wobei sich noch eine beträchtliche Menge oxydirtes Zinn ausschied, zum Beweise daß es in | verdünnter Salpetersäure auflöslich ist. In einen Theil der Flüßigkeit ward darauf kaustisches Kali getröpfelt. Es entstand ein Aufschäumen das Folge der Erhizung war, und der Geruch zeigte sehr deutlich daß sich Ammonium entwikle. Ein mit Salzsäure befeuchteter Glasstöpsel beschlug über dem Gefäß sogleich mit den weißen Dämpfen des entstehenden Salmiaks. Der übrige Theil der Flüßigkeit ward mit gebranntem Kalk zusammengerieben, erhizte sich ebenfalls stark und verrieth durch den Geruch entweichendes Ammonium.
X I . Zinn und salpetersaures Kupfer. Frisch angeschoßenes (oder in Ermangelung deßen mit ein Paar Tropfen Salpetersäure frisch befeuchtetes) Salpetersaures Kupfer in Zinnfolie gewikelt giebt nach Linnererl Erhizung eine kleine Explosion. Das Salpetersaure Kupfer nemlich zersezt sich, die Säure bemächtiget sich des Zinns und weil sie selbst dadurch zerstört wird geschieht dies mit einer Explosion. Anm. Es wurde das specifische Gewicht der bei den bisherigen Versuchen gebrauchten Säuren durch Abwägen in einem Stöpselglase bestimmt, und fand sich Salpetersäure Salzsäure
9 2 Unzen] f . ΪΙ (gebrannten)
1,218. 1,126. |
10 2 Unzen]
j. II
12 6 Unzen Zinn]
J V I 21
21 Theil der] folgt
Zweites Objekt.
10r
Das natürliche salzsaure Kupfer von los Remolinos in Chili.
1. Erörterung. Dieses Fossil, ein grünes Kupfer Erz, wovon Herr 5 Klaproth zwei Stük besizt, ist vor nicht langer Zeit entdekt worden, und das fünfte natürliche salzsaure Metallsalz. Man hatte nemlich bis jezt nur Silber Queksilber und Spießglanz, seit kurzem in Derbyshire auch Blei in dieser Gestalt gefunden. Das Gefüge ist krystallinisch; die Krystalle hatten flache Endspizen[;] die Zahl der Seiten war nicht si10 eher zu bestimmen. 2. Analytischer Prozeß. 220 Gran fein gepulvert wurden abgewogen und durch Schlemmen von dem LTherl befreit mit dem das Mineral durchwachsen ist. Der Rükstand hatte nun eine dunklere und schönere Farbe als das Mineral selbst. Er wog 116 Gran. 15 Davon wurden 100 Gran abgewogen und in einem Cylinderglase mit Salpetersäure übergössen um kalt gelinde zu zergehen, damit das stark oxydirte Eisen welches in der Masse noch vorausgesezt wurde nicht mit aufgelöst würde. Nachdem das Glas eine Zeitlang gestanden zeigte sich am Boden eine beträchtliche Menge Eisen. Die Auflösung 20 ging ohne Aufbrausen von Statten zum Zeichen daß das Mineral keine Kohlensäure enthielt. Die Auflösung war blau; das aus ihr gesamelte Eisen wog nur Gran. Es ward geurtheilt daß das Eisen, weil es sich sehr körperlich abschied nicht zur Mischung des Minerals gehöre und daß die Auflösung 25 nun völlig frei davon sei. | Um den Gehalt des Minerals an Salzsäure zu bestimmen ist die lOv Salpetersaure Silberauflösung das beste Mittel indem sich aus der Menge des niedergeschlagenen Hornsilbers die Menge der vorhande-
4 f Herr Klaproth] H. Kl. 9 hatten] mit Einfiigungszeichen über der Zeile 9 die] über (deren) 9 der Seiten war] mit Einfügungszeichen über der Zeile 11 220] korr. aus 200 ; am Rand die Zahl 220 wiederholt 3 Los Remolinos ist ein geographischer Ort (etwa 42° südlicher Breite, 74° westlicher Länge) an der Nordküste der chilenischen Insel Chiloe nahe Ancud. 7 Spießglanz bezeichnet die Gruppe der Sulfidminerale. 28 Homsilber ist Chlorargyrit (mineralisches Chlorsilber).
Chemische
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nen Salzsäure genau berechnen läßt. Da nemlich in 100 Hornsilber 75 metallisches Silber enthalten ist, das Silber aber um in Säuren auflöslich zu sein 12 bis 15 p. C. Sauerstoff animirt so kann man annehmen, daß in 100 Salzsaures Silber 5 metallisches Silber 75 Sauerstoff also Salzsäure 15^ enthalten sind.
10
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20
25
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35
Die Fällung ward unter den gewöhnlichen Erscheinungen gemacht das Hornsilber durchs Filtrum abgeschieden und getroknet und das in der Flüßigkeit überflüßig enthaltne Salpetersaure Silber ebenfalls durch Salzsäure gefällt, und besonders ausgeschieden. Das erst erwähnte Hornsilber ward um es wasserfrei zu machen in einer silbernen Schale geschmelzt und wog 64^ Gran. Hieraus folgt daß in 100 Theilen salzsaures Kupfer 10 Theile Salzsäure enthalten gewesen. Um völlig gewiß zu sein daß die Auflösung kein Eisen enthalte wurden ein Paar Tropfen davon in einige T r o p f e n Blutlaugensalz gethan. Der Niederschlag hatte ganz die reine rothbraune Farbe unter welcher das Kupfer erscheint. Eine größere Quantität der Auflösung wurde so lange mit Ammonium versezt bis aller Niederschlag sich wieder aufgelöst hatte. Die Auflösung war vollkommen klar und zeigte keine Spur von umherschwimmenden Eisenatomen. Diese Quantität der Auflösung war nicht verloren sondern wurde der Hauptmasse wieder zugegossen weil diese überschüßige Säure genug hatte um die Ammoniakalische Auflösung wieder in die saure zu verwandeln. Um den Kupfergehalt zu bestimmen kann man das Kupfer entweder als Kalk oder als Metall fällen. Das erste geschieht am besten durch Kali carbonium. Man muß dann den erhaltenen grünen Niederschlag durch Glühen von der Kohlensäure befreien, und kann dann auf 5 Theile des braunen Kupferkalks 4 Theile Metall rechnen. Zur | Fällung llr in Metallgestalt kann man sich des Zinks, unter Anwendung gewißer Handgriffe auch des Bleis, am bequemsten aber des Eisens bedienen; nur muß man wenn die Auflösung mit Salpetersäure gemacht ist gewiße Vorsichtsmaaßregeln beobachten. Ueberhaupt muß bei jeder solchen Fällung in der Auflösung die Säure vorwalten, weil sonst der Angriff auf das Metall langsam oder gar nicht erfolgt. In diesem Falle aber be-
2 metallisches] metall.
7 1 5 j ] unter
(84j)
33 m a n ] folgt
17 Gelbes Blutlaugensalz ist Kaliumhexacyanoferrat anoferrat(III).
(sich)
(II), rotes Blutlaugensalz
Kaliumhexacy-
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Chemische
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sonders möchte mit dem metallischen Kupfer zugleich erstlich ein Theil salpetersaures Kupfer niederfallen welches einen Theil seiner Säure verloren hat, und dadurch unauflöslich geworden ist. Nächst diesem auch oxydirtes Eisen weil dieses sich in der Salpetersäure sehr gern vollkommen oxydirt und dann unauflöslich in ihr wird. Beidem kann man durch einen Zusaz von Salzsäure oder Schwefelsäure vorbeugen; auch kann man diese Säuren in Gestalt von Neutralsalzen anwenden die sich mit der salpetersauren Kupferauflösung durch doppelte Verwandschaft zerlegen so daß eine salzsaure oder schwefelsaure Auflösung entsteht in welcher sowol das oxydirte Eisen als der salpetersaure Kupferniederschlag aufgelöst bleiben. In unserer Auflösung war schon Salzsäure enthalten, es war also nichts dergleichen nöthig sondern wurde nur ein Stük blankgefeiltes Eisen hineingelegt. Das Kupfer fällte sich, und da aus der überstehenden grünen Flüßigkeit das Blutlaugensalz ein Berlinerblau von reiner Farbe fällte so konnte man die Fällung des Kupfers f ü r vollständig halten. Das niedergeschlagene Kupfer wog getroknet 51\ Gran. Da nun 4 Theile metallisches Kupfer 5 Theile oxydirtes geben, so waren in unserm Mineral 72 Gran oxydirtes Kupfer enthalten. Wir haben also nach und nach folgende Bestandtheile in den 100 Gran entdekt. Beigemengtes Eisen Salzsäure Metallisches Kupfer Sauerstoff
l j Gran 10 57\ 14j
zusammen
83jGran
die noch übrigen
16f Gran
sind f ü r Krystallisationswasser zu halten. | Rechnet man das zufällige Eisen gleich ab so enthalten 100 Theile des davon befreiten Minerals Metallisches Kupfer Sauerstoff Salzsäure Krystallisationswasser
58,4 14,6 10,1. 16,9.
Es wurde noch folgendes bemerkt. Wenn man sich bei der lezten Fällung des Metalls durch die Probe mit Blutlaugensalz und mit Am-
3 ist] sind
23 Metallisches] Metall.
33 Krystallisationswasser] Krystallis. Wasser
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monium nicht überzeugt hält daß in der Flüßigkeit kein Kupfer mehr vorhanden sei so muß man das gefällte Kupfer absondern und in die Flüßigkeit aufs neue blankes Eisen legen. Der Niederschlag der etwa entsteht kann Kupfer oder auch oxydirtes Eisen sein. Im lezten Falle wird er sich durch einen Zusaz von Salzsäure oder Schwefelsäure sogleich wieder auflösen[,] im ersten nicht. Die Flüßigkeit war ebenfalls so behandelt worden und der entstandene Niederschlag hatte sich als Eisen gezeigt. Auch beim Troknen ist Vorsicht nöthig. Denn Kupfer sowol als andere metallische Niederschläge pflegen den lezten Antheil Wasser an sich zu halten und sich beim Troknen durch Zersezung desselben wieder zu oxydiren. Man muß sie daher nicht aufs Filtrum bringen sondern bloß abwaschen, das lezte Wasser so rein als möglich abgießen dann etwas spiritus vini aufgiessen und diesen in einer mäßigen Wärme schnell verdampfen laßen.
Drittes Objekt.
12r
Sauerkleesäure.
Allgemeine Erörterungen. Diese Säure wird von der Natur durch den vegetabilischen Orga5 nismus in sehr vielen Pflanzen erzeugt: Oxalis acetosella und andere Rumex Acetosa und Acetosella, Geranium acetosum und andere Pflanzen mit sauren Säften. Sie ist in diesen Gewächsen zwar mit Kali gebunden aber sehr vorwaltend so daß zur Neutralisation noch eben so viel Kali erfodert wird als schon darin vorhanden ist. Dieses übersaure 10 Salz welches aus den ausgepreßten Säften krystallinisch dargestellt wird wird an vielen Orten fabrikenmäßig betrieben und ist unter dem Namen Kleesalz, Sauerkleesalz bekannt. Man kann die Säure daraus zwar wie die Weinsteinsäure aus dem Weinstein durch Kalkerde abscheiden; aber alsdann nicht leicht abge15 sondert darstellen weil die Kleesäure sich von der Kalkerde durch keine andere Säure trennen läßt. Man bedient sich daher zum Abscheidungsmittel des Bleis oder der Schwererde. Beide Verbindungen sind zwar auch unauflöslich aber doch durch Schwefelsäure trennbar. Aus ihren entfernteren Bestandtheilen kann man diese Säure bis 20 jezt nicht künstlich zusammensezen aber doch fast aus allen vegetabilischen Materien Holz, Gummi, Zuker, Weingeist; ja auch aus thierischen Stoffen Wolle, Seide perge durch Behandlung mit Salpetersäure, die diesen Stoffen einen Theil ihres Sauerstoffs überläßt, produciren. Die Bereitung aus Zuker veranlaßte ehemals die Meinung daß die 25 Säure als Bestandtheil im | Zuker vorhanden, und darin mit Phlogiston I2v gebunden wäre.
2 Sauerkleesäure (Oxalsäure) ist HOOC-COOH, die einfachste aliphatische Dicarbonsäure. 5 Oxalis acetosella ist Sauerklee. 6 Rumex acetosa und acetosella sind saurer und säuerlicher Ampfer. 25 Nach der Phlogistontheorie des 17. und 18. Jahrhunderts (ausgearbeitet ζ. B. durch G. E. Stahl) enthalten alle brennbaren Stoffe die brennbare Grundsubstanz Phlogiston, die bei Verbrennung an der Luft aus den Stoffen entweiche. Die Phlogistontheorie wurde im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts von der Lavoisierschen Oxydationstheorie abgelöst.
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I. Zerlegung des Kleesalzes auf troknem Wege.
5
10
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35
1. Prozeß. Kleesalz 300 gr. wurden in eine Retorte gethan und an diese eine tubulirte Vorlage mit einer Entbindungsröhre die unter Wasser geleitet wurde. Die Retorte ohne Kapelle wurde in einen kleinen Ofen gelegt und nach und nach bis zum Glühen erhizt. Von einem gasförmigen Stoff der bald überzugehn anfing und in mehreren Flaschen aufgefangen ward entwikelten sich nach und nach 150 Kubikzoll. Hals und Vorlage blieben anfangs klar, hernach zeigten sich mäßige weiße Dämpfe die mit dem Gas übergingen. Die Flaschen waren daher zuerst trübe wurden aber wieder klar. In der Vorlage sammelte sich nur wenig von einer farbenlosen Flüßigkeit, gar nichts von dem empyreumatischen Oel das bei Destillation des Weinsteins so häufig ist. Auch kein dergleichen Geruch; nur eine kurze Zeitelang einer der gebratnen Zwiebeln gleich. Das Salz in der Retorte behielt fast während der ganzen Destillation seine weiße Farbe, nur gegen das Ende zeigten sich einige Spuren freier Kohle. Die Destillation dauerte etwa j Stunde. 2. Untersuchung a. des Gasförmigen Stoffs. Aus den mittleren Flaschen absorbirte sich durch Schütteln unter Kalkwasser etwa § des Inhalts, aus den ersten und lezten fast gar nichts. Der Ueberrest verbrannte mit einer blauen Flamme die sich zwar nicht wie ganz reines Wasserstoffgas machte aber doch bei weitem nicht so gefärbt war, als es zu sein pflegt wenn es sehr gekohlt ist. Die Flamme erlosch während des Eingießens des Wassers ehe noch alles Gas ausgetrieben war und der Ueberrest entzündete sich dann schwerer oder verlöschte gar das darüber gehaltene Licht. Das aufgefangene Gas bestand also aus einem mit wenig Kohle geschwängerten Wasserstoffgas, einem nicht starken Zusaz von Kohlensaurem Gas und einem geringen Antheil Stikgas. | b. der Vorlage. In derselben hatte sich etwa nur 1 Unze einer sau- I3r ren farbenlosen Flüßigkeit gesammelt. Geruch und Geschmak deuteten auf Essigsäure; der geringen Quantität wegen ward aber ihre N a t u r nicht genauer untersucht. c. Die Retorte war durch Einwirkung des freigewordenen Kali gerissen[:] es konnte also nichts recht genau bestimmt werden. Der Rük-
4 Kapelle wurde] Kapelle
13 nur] N u r
8 In Preußen betrug 1 Zoll (Längenmaß)
24 als es] korr. aus als sie
2,615cm (=12
Linien).
31 1 Unze] J. I
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stand ward indeß ausgelaugt und die wenige vorhandene Kohle durchs Filtrum abgeschieden. Es waren kaum ein Paar Gran.
II. Darstellung der Kleesäure aus dem Kleesalz. 1. Erörterung. Die Abscheidungsmittel sind essigsaures Blei oder 5 essigsaure Schwererde, welche beide das Kleesalz durch doppelte Verwandschaft zersezen und unauflösliche Niederschläge geben die aber durch Schwefelsäure zersezbar sind. Indeß da in der Auflösung des bloßen Kleesalzes nicht Kali genug vorhanden sein würde um die Essigsäure zu sättigen, und also freie Essigsäure in der Auflösung wäre, wel10 che leicht einen Theil des kleesauren Bleis oder der kleesauren Schwererde aufgelöst halten könnte, so muß man die Auflösung des Kleesalzes vorher neutralisiren. 2. Prozeß. Oxalidi grana D. wurden über Kohle in heißem Waßer aufgelöst, und Cali carbonium so lange zugesezt bis kein Ausbrausen 15 mehr erfolgte. Die Lakmusprobe zeigte einen Ueberschuß von Kali an der möglichst genau mit Essigsäure gesättigt wurde. Zur Abscheidung der Säure war vorher eine Auflösung von reinem essigsauren Blei bereitet worden worin das Wasser 0,75 und das essigsaure Blei 0,25 betrug. Das Glas, welches sie enthielt wurde auf die 20 Wage gebracht und das Bruttogewicht zurükgelegt um hernach bestimen zu können wieviel von dieser Auflösung verbraucht wurde. Dies ist nothwendig um daraus berechnen zu können wieviel Schwefelsäure man zur Zersezung des Kleesauren Bleies anwenden muß. Ein vorher gemachter Versuch hatte gezeigt daß 100 Theile reines krystallisirtes 25 essigsaures Blei 2β\ Gewichtstheile concentrirte Schwefelsäure erfordern von dem specifischen Gewicht 1,850. Von dieser Auflösung wurde der Auflösung des | neutralisirten Kleesalzes so lange in kleinen Portionen zugesezt als noch ein Niederschlag entstand. Es wurden dazu 1100 Gran (das Wasser abgerechnet) 30 verbraucht. Das kleesaure Blei wurde getroknet und edulcorirt. In die-
2 Gran] Gran sein cifischen] specif.
13 Oxalidi grana] Oxalii gr. 27 wurde] korr. aus wurden
25 concentrirte] concentr. 27 des] folgt (Klee-)
26
spe-
30 Vgl. dazu: „Absüssen, Edulcorare, Edulcorer, in der Schmeltz-Kunst, die scharfe gesaltzene Theile eines zerlassenen Cörpers durch ein wiederholtes Waschen in reinem Wasser ausziehen und hinwegnehmen. In der Apotheke heisset es: denen Artzeneyen einen süssen Geschmack, durch Vermisch mit Zucker, Honig u. d. g. beybringen. In der Chymie ist es eine Beraubung der Schärffe bey den Kalcken und Magisteriis. Solches erlanget man [..wenn man öffiers auf die
liv
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sem kann nicht mehr und nicht weniger oxydirtes Blei enthalten sein als in dem angewendeten essigsauren und ist also das Verhältniß der Schwefelsäure eben so zu bestimmen. Es würde demnach concentrirte Schwefelsäure erfodert werden 11 · 26} = 291} Gran. Da aber die anzuwendende Schwefelsäure mit 2 Theilen Wasser verdünnt war so wurden von derselben 3 · 291} Gran = 874j Gran genau abgewogen. Das Kleesaure Blei ward mit mehreren Unzen Waßer übergoßen und die abgewogene Schwefelsäure hinzugesezt. Die Zersezung geschieht ohne alle äußerlich bemerkbare Erscheinung. Die Flüßigkeit, welche die reine Kleesäure enthält, ward von dem Bodensaz durchs Filtrum abgeschieden. Der Bodensaz besteht aus schwefelsaurem Blei und sein Gewicht betrug 895 Gran. |
III. Darstellung der Kleesäure aus Seide. 1. Prozeß. Ein Loth roher Seide ward in einer gläsernen Retorte mit 4 Unzen Salpetersäure übergössen, diese nachdem vom Entbindungsrohre Lanlutirtl worden in eine Sandkapelle gelegt und allmählich bis zum Kochen der Säure erhizt. Das Gas ging anfangs langsam und in kleinen Blasen über von denen beim Durchgang durch das Wasser ein Theil absorbirt zu werden schien; auch zeigte sich das Sperrungswasser bei der LakmusProbe stark mit Säure impraegnirt. Von der 2. Flasche an belegten sich die Wände und die Oberfläche des Wassers mit einer fettigen einem geronnenen Oel ähnlichen Substanz. Von der dritten Flasche an wurde der GasUebergang lebhafter und die Absorption hörte auf Lkenntlichl zu sein. Zugleich gingen weisse Dämpfe, und in die Röhre eine tropfbare Flüssigkeit über. Das Gas klarte sich in den Flaschen bald wieder auf. In der Retorte löste sich die Säure in der kochenden Flüssigkeit völlig auf, die Auflösung war gelb. Nach 6 Flaschen ward eine Veränderung in den Blasen der kochenden Flüßigkeit bemerkt. N u n hätte die Arbeit beendigt werden sollen aber ehe man dies noch bewerkstelligen konnte entstand nun Selbstentzündung und die Retorte sprang mit einer starken Explosion. Der Dampf roch nach verbrennendem Zuker.
9 Erscheinung] Erscheing
10 enthält,] folgt (die)
15 4 Unzen] J- IV
Materiam Wasser giesset, oder öffiers Spiritum vini über die Materiam anzündet, bis der Kalck seiner Schärffe gantz beraubet worden und keinen Geschmack mehr hat." (Zedlers Universallexicon 1,206) 14 In Preußen betrug 1 Lot (Gewichtsmaß) 14,606g (=4 Quentchen).
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2. Untersuchung. In den Scherben der Retorte saß eine Lschmierigel Materie von einer schmuzigen gelbgrünen Farbe und auffallend bitterm Geschmak. Das Gas wurde mit reiner Sauerstoffluft im Fontanaschen Eudio5 meter gemischt, es zeigte sich aber in keiner Flasche eine Spur von vitrösem Gas. Das Kalkwasser absorbirte einen nicht sehr beträchtlichen Theil, aus der ersten Flasche am wenigsten. | Selbst nach Absorption der Kohlensäure verlöschte in allen Fla- i4v 10 sehen die Kerzenflamme. Der Versuch wurde auch mit dem im Eudiometer mit gleichen Theilen reinem Sauerstoffgas vermischten Gas gemacht. Die Flamme brannte heller als in Atmosphärischer Luft, sezte aber an den Wänden mehr Kohle ab, als in atmosphärischer oder Sauerstoffluft zu geschehn pflegt. 15 Das Gas schien demnach hauptsächlich aus Stikgas und kohlensaurem Gas - jedoch ersteres sehr vorwaltend - zu bestehen.
IV. Darstellung der Kleesäure aus Zuker. 1. Prozeß. Eine Unze Rohzuker aus Runkelrüben ward in einer TubulatRetorte mit 6 Unzen Salpetersäure übergössen; an den Hals der 20 Retorte eine Entbindungsröhre befestigt und
14 Sauerstoffluft] sauerstoffluft
19 6 Unzen] J- VI
19 an] An
4 Der italienische Naturforscher Feiice Fontana (1730-1805), ab 1766 Physikprofessor in Pisa, war ein bedeutender Vertreter der experimentellen Forschung in Physiologie und Toxikologie. Ein Eudiometer ist ein gläsernes Meßrohr, um Gas zu Analysezwecken aufzufangen.
Chemie (Mai 1800)
Chemie Den 12. May. Der in Kali causticum in flüßiger Gestalt aufgelöste, dann abgerauchte geschmolzene und mit warmen Wasser aufgelöste Zinnstein ward mit Salzsäure übergössen wodurch er, wie Klaproth sagt aus der Kalinischen in die saure Auflösung übergeht. Es brauste weil das Kali während des Schmelzens zum Theil immer wieder kohlensauer ward. Dann wurde der Zinnkalk aus dieser Auflösung durch kohlensaures Kali gefällt. Es frägt sich warum der Zinnkalk nicht schon bei der ersten Operation nemlich dem Zugießen der Salzsäure niederfällt, indem die Verwandschaft der Säure zum Kali größer ist als die Verwandtschaft jedes dieser beiden Stoffe zum Metall? Vielleicht deshalb weil der Zinnkalk der Salzsäure noch Sauerstoff entzieht und durch dieses in Gleichgewicht sezen des Sauerstoffs die Verwandtschaft beider verstärkt wird. Eben so mag vorher durch das Schmelzen die Verwandtschaft des Kalis zum Metall verstärkt worden sein. M a n sollte doch versuchen diese Mischung f ü r sich zu behandeln ohne das Metall durch Kali carbonicum zu fällen. Und warum kann man bei dieser Fällung nicht wieder Cali causticum nehmen? Antwort. Er fällt allerdings nieder nur muß um ihn ganz zu fällen der Sättigungspunkt genau getroffen werden. Da dies nun schwierig ist übersättigt man lieber wodurch allerdings der Kalk in die saure Auflösung übergeht. Das oxydulirte salzsaure Zinn hatte noch nicht so viel Sauerstoff angezogen um die Wirkung auf die Goldsolution zu verlieren. LSimonl sagte mir[:] auch bei der stärksten Sättigung mit Sauerstoff verwandle sich diese Auflösung nie in Spiritus fumans Libaviif,] Liquor stanni oxydati muriatici concentratus (worin nemlich das Zinn sich im Loxydirterenl Zustande befindet) weil in dem lezteren | die Salzsäure so
2 in] über (mit) 2 causticum] caust. ; folgt (ge) 16 Verwandtschaft] Verw. nicum] carb. 20 causticum] caust. 21—24 Antwort ... übergeht.] am Rand wort] Antw. 28f Liquor ... concentratus] am Rand 4 Vgl. oben Anm. zu 103,2 111,4.5
25 Vgl. oben Anm. zu 107,30f
19 carbo21 Ant-
28f Vgl. oben Anm.
zu
Chemie
128
gut als ganz wasserfrei ist. Es f r a g t sich nun ob nicht von den Eigenschaften dieses Praeparats manche auch auf LRechnungl der Anzieh u n g der Salzsäure gegen das Wasser zu sezen ist. 14.Mai[.] Aus dem salzsauren K u p f e r schied sich sehr bald sehr körperlicher LTherl ab, weshalb Klaproth nicht glaubte d a ß er eigentlicher Bestandtheil des Fossils gewesen. Das quantitative Verhältniß dieses Fossils ward bestirnt durch salpetersaures Silber bei deßen Zertröpfelung sich Hornsilber bildet deßen Lquantitativesl Verhältnis man kennt und also die Menge der Salzsäure bestimmen kann. Das Zinn zersezt die Salpetersäure bei einem gewißen Verfahren, wenn sie nemlich verdünnt ist in ihre entfernten Bestandtheile wobei sich allemal aus dem Stikstoff derselben und dem Wasserstoff des zersezten Wassers Ammonium bildet. Die große E r h i z u n g die dabei entsteht e r h ö h t wahrscheinlich die V e r w a n d t s c h a f t des Stikstoffs zum LHydrogenl bis zur Möglichkeit dieser Mischung.
2 LRechnungl] Rehnug
8 Vgl. oben Anm. zu
4 14.Mai] am Rand
116,28
8 Lquantitativesl] quantitativ
Gedanken IV (Vermutlich 1800)
1. Vergleichung der poetischen und practischen Naturen. Jene ι sind mehr historisch, diese mehr prophetisch. T e n d e n z beider in den andern Standpunkt hinüber zu spielen. Die poetischen welche das Bilden als blosse Praxis betreiben wollen verhunzen die Kunst. Die praktischen welche die Praxis als Kunst betreiben wollen verhunzen die Welt und sich selber. Dies kann nur der Standpunkt der Gottheit seyn. Handle und was daraus werden soll in der Welt und f ü r die Welt das überlasse dem Genius der Zeit. Wirkung auf die Menschen darf nur auf diese Art statt finden. Politische Naturen sind eigentlich poetisch nicht ethisch. So der Onkel im Meister. Eine ethische N a t u r ist in der Politik immer fragmentarisch und scheinbar inconsequent. Eine poetische N a tur will auch sich selbst bilden wie ein Werk eine praktische behandelt sich als ein organisirtes Wesen dem man nur N a h r u n g geben und nachhelfen kann. Eben so weichen sie in der Paedagogik ab.
2. M o t t o zur Treue aus Aristoteles: N u r tugendhafte Seelen die in sich selbst beständig sind können es auch gegen andere seyn. Siehe 4.12. [Am
Rand:]
Weißt Du dem Urbild nur, dem Du nachstrebest Treue zu halten Dann wo Du liebest geschiehts sicher mit ewiger Treu.
16f Siehe 4.12.] S . 4 . 1 1 . am
Rand
1 - 1 4 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 62 (s. KGA 1/5) 10 Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, 4 Bde (auch: Neue Schriften, Bde 3-6), Berlin 1795-1796 15 f Vgl. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, Lübeck/Leipzig 1800, S. 91 (unten 185,19-32) \iiFast wörtliche Übersetzung von Aristoteles: Ethica Nicomachea 1159b,4f,ed. Turnebe 422f; ed. Bywater 167
132
Gedanken IV
3. Die praktischen Naturen philosophiren, die poetischen machen eine Philosophie. Fichte ist eigentlich keine poetische N a t u r und Kant keine praktische.
4. Es giebt eine historische Treue die sich auf die Vergangenheit allein bezieht. Sie ist elegisch und mit der Zeit nicht ohne heroische Anstrengungen möglich. Es giebt eine prophetische diese ist mehr praktisch. Recht poetische Naturen schaffen sich als Obiect der Treue ein untergeschobenes Bild. Zu 2. Siehe 12.
5. Nichts ist nur relativer Begriff. Das fühlt man wenn man sagt 2 absolut nichts; aber auch d a f ü r giebt es einen höheren Gesichtspunkt wo es etwas ist. N u r im Gebiet der Freiheit ist dieser Begriff durch eine scharfe Spitze geschlossen.
6. Doppeltes Princip bei der Schamhaftigkeit die Sinnlichkeit nicht zu profaniren und einen der Sinnlichkeit fremden Gemüthszustand nicht durch Sinnlichkeit zu profaniren. Wer nur die lezte hat fürchtet sich vor seiner eignen Lascivitaet. Wer nur die erste hat ist ein sentimentaler Wollüstling. Die erste f ü r sich allein ist den Frauen sehr eigen, die zweite den Mädchen. Eine neue Frau besizt die höchste Schaamhaftigkeit weil sie nothwendig beide vereinigen muß. In Rüksicht des ersten Princips besteht die Schamhaftigkeit in Vermeidung des groben animalischen, in Rüksicht des lezteren in Vermeidung des anschaulichen und des genetischen. Je ethischer ein Zustand ist je gröber kann man von allen Obiecten der Schaamhaftigkeit reden ohne sie zu verlezen je erotischer er ist: desto üppiger darf man seyn aber ja nicht plump. Hieraus ergeben sich zugleich die Regeln f ü r die Individuen. So wie bei der vollkomnen Unschuld keine Schaam ist so bei der vollkom-
8 Zu 2. Siehe 12.] Z. 2 S. 11. am Rand
1-3 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 62 (s. KGA 1/5) 4 - 8 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 63 (s. KGA 1/5) 13-2 Vgl. Vertraute Briefe 50-74 (unten 168,3-178,24)
133
Gedanken IV
nen Corruption auch keine. In der Art wie Männer und Frauen hierin miteinander umgehn liegt'ein Lvollständigerl L Ί .
7. Ueber meine Anhänglichkeit an die Mädchen. Sie beruht auf dem zusammengewikelten Leben in ihnen. D a r u m würde eine vollkommen ausgebildete keinen Theil dran haben.
LDetaill und Natur. 3 8. Die Antinomie der Willkühr: im kleinen sucht man sie nicht mehr in den einzelnen Theilen einer bestirnten Wollung; im großen aber sucht man sie in den einzelnen Theilen der bestirnten Wollungen und nicht im Ganzen. Ist die N a t u r auf beiden Seiten die Grenze der Willkühr?
9. Die Wemuth entsteht aus der ElementarAnschauung der sittlichen Welt wie sie ist, in sich. Sie ist ein Theil des praktischen Spinozismus. N u r ein Ironist kann sie haben. Kanst du dich nicht in fremde Natur mitlebend einfinden.
[Am
Rand:]
Trauert ein zärtliches H e r z um das untergegangene Schöne Reichet den liebenden Wahn achtend ihm freundlichen Trost. Seht ihr ein hohes Gemüth nicht achtend Lvergänglichesl Dasein Klagend dem innern LSeinl weihen das ernste Gefühl
2 L v o l l s t ä n d i g e r l ] folgt gestrichenes unleserliches Wort 6 L D e t a i l l u n d N a t u r ] am oberen Blattrand 8 W o l l u n g ; ] folgt (aber) 9 sie] folgt (nicht) 19 L v e r g ä n g l i c h e s l ] korr. aus unleserlichem Wort
3-5
Vgl. Vertraute
Briefe
87 (unten
185,1-5)
Gedanken
134
IV
Welchem ach Reinheit fehlt überall Lwiel im eigenen Busen W o immer Tugend und Geist waltet und liebende Kunst Dann zu der Wemuthseufzenden Brust anbetend das Höchste Neigt mittrauernd Euch harrend und schmerzenerfüllt.
T r a u e r t ein zartes Gemüth um das untergegangene Schöne Reicht ihm, den liebenden W a h n theilend die tröstende Hand. Aber ein größeres H e r z algegenwärtig in Allem W ä g e t die W e r k e der Zeit Lstärkendl das hohe Gefühl Sehend in dem was ist das Gewesene gleich und die Zukunft
10. Unschuld ist das Unbewustseyn der Wechselwirkung des animalischen und moralischen. M a n kehrt wieder zu derselben zurük indem man diese Wechselwirkung vernichtet. [Am Rand:] Wunderlich oft in scheinbarem Krieg in listigem Frieden Lebet im Menschen das T h i e r mit dem erhabenen Geist[:] Selig die Unschuld die das verborgene Spiel noch nicht ahndet Heilig die Weisheit kräftig Lvernichtendl den T r u g .
Wunderlich unter dem Schein des Krieges Lin frölichem Handell Lebet im Menschen das T h i e r oft mit dem höheren Geist[:] Selig die Unschuld die nicht ahndet Linnerei T ä u s c h u n g Heilig die Weisheit nur welche vernichtet den T r u g .
1 überall Lwiel] über (L 1 fehlt)
10-12
Vgl. Vertraute
Briefe
6 Reicht] korr. aus Reichet
37 (unten
161,29-31)
6 ihm] über der Zeile
Gedanken IV
135
11. N a c h Fichte bin ich eine ganz weibliche Seele und völlig vergriffen; denn der Geschlechtstrieb erscheint bei mir größtentheils nur als Trieb das Weib zu befriedigen.
12. U e b e r meine intellectuelle Faublastaet. Zu 2. und 4.
13. W i e ich o h n e U m s t a e n d e geworden bin. W e m alles nahe fern und alles ferne nahe ist der hat keine physischen Umstände, und u m moralische z u haben m u ß man erst eine moralische N a t u r seyn. D i e Erziehung m u ß vorzüglich darauf sehn daß es für den Z ö g l i n g keine U m stände gebe. Umstände können immer nur der Bestimmungsgrund der Aeusserungen nie der Realgrund des Seyns seyn. D i e s e moralische Einsicht sollte besonders jeder Mathematiker haben der die Buchstabenrechnung v o n der mit Zahlen zu unterscheiden weiß.
14. Liebe geht zuerst und zunächst auf die V e r s c h m e l z u n g der Personen, der Organe, der primitiven Eindrüke der Rechte, alles was den M e n s c h e n in der Außenwelt repraesentirt. Freundschaft auf V e r schmelzung der Individualität, des Fragments welches jeder von der ganzen Menschheit in sich hat, deßen was in d e m einzelnen die
4 Zu 2. und 4.] am Rand
1 Vgl. Fichte: „So gewiß daher Vernunft im Weibe wohnt, und in die Bildung ihres Charakters Einfluß gehabt hat, kann der Geschlechtstrieb desselben nicht erscheinen, als Trieb zu einem bloßen Leiden, sondern er muß sich gleichfalls in einen Trieb zur Thätigkeit verwandeln. Unbeschadet der Natureinrichtung, welche denn doch daneben auch bestehen muß, kann dies nur ein Trieb seyn, einen Mann, nicht sich selbst, zu befriedigen; sich hinzugeben; nicht um sein selbst, sondern um des andern willen. Ein solcher Trieb heißt Liebe. Liebe ist Natur, und Vernunft in ihrer ursprünglichsten Vereinigung." (Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena/Leipzig 1798, S. 445; Ak 1/5, 289,4-11) 4 Faublas ist die sprichwörtlich für einen Frauenverführer gewordene Titelfigur der Romantrilogie „ Une annee de la vie du chevalier de Faublas", „Six semaines de la vie du chevalier de Faublas", und „Fin des amours du chevalier de Faublas", die Jean-Baptiste Louvet de Couvray in den Jahren 1787-1790 veröffentlichte. Vgl. auch Gedanken I, Nr. 187 (KGA 1/2,42,11-20). 13136,16 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 64 (s. KGA 1/5)
136
Gedanken IV
Menschheit repraesentirt. Daher kann Liebe nur | zwischen zwei Geschlechtern oder wie bei den Griechen zwischen einem mündigen und unmündigen statt finden denn Personalitaet laeßt sich nicht verschmelzen ohne Aufopferung, daher auch die Fichteschen und Kantischen Eheideen. Daher sind ferner die poetischen Naturen mehr zur Liebe die praktischen und speculativen mehr zur Freundschaft. Die aecht mystischen schlagen sich zu den poetischen obgleich contradictorisch entgegengesezt. Der Mysticismus ist intellectuelle Onanie. Daher entstehn bei einer fertigen Freundschaft Streitigkeiten nur aus dem personellen bei einer fertigen Liebe nur aus dem individuellen. Daher wird aber auch eine Liebe viel leichter fertig als eine Freundschaft. Bei der Liebe ist oft die Personalität des einen Theils nur accompagnirend nicht concertirend und dann ist sie keine gleiche Verbindung. O b dies bei der Freundschaft auch statt finden kann ist zweifelhaft. Daher giebt es in der Liebe keine eigentlichen Beleidigungen in der Freundschaft aber wol.
15. Die Heiligkeit des Selbstmordes deducirt aus dem Willkührlichen in der Idee des Berufs. Das Gefühl daß gewiße Personen in Romanen und Schauspielen durchaus tragisch sind beruht ganz auf demselben nur daß hier die Willkühr der Person mit der des Dichters zusammenfällt.
16. Die Paederastie läßt sich als nothwendig deduciren bei einem Volk welches nur politische Praxis hatte und den Frauen kein öffentliches Leben gestattete. Die Liebe konnte also nie practisch seyn. Bei den Römern hingegen war sie unnatürlich.
4 Vgl. Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Bd 2, Jena/ Leipzig 1797, S. 158-226; Ak 1/4,95,6-136,22 und Das System der Sittenlehre 443-450; Ak 1/5,287,18-291,33 4 Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, Bd 1. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg 1797, S. 106-111; Ak 6,277,9-280,8
Gedanken IV
137
17. Theorie der negativen Küße
18. Es giebt in der ethischen Welt Fixsterne Planeten und Cometen. Ich bin ein Comet. Ob die lezten auch keinen Kern haben? Eine Hypothese ist es wenigstens auch in der moralischen.
5
Sonett mit Gleichnissen
19. Man muß nicht nur liebenswürdige lieben sondern auch liebensbedürftige sonst bleibt man imer einseitig. Jede Liebe zu einem Gleichen geht früher oder später in eine von beiden über. Im Alter muß das lezte vorstechen in der Jugend das erste. Wer sich in der Jugend 10 schon an Bedürftige anschließt wird nicht lange leben moralisch.
5 Sonett mit Gleichnissen] am Rand
1 Vgl. Vertraute Briefe 83f (unten
182,39-183,8)
Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800)
Vertraute
SÖriefe
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3
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5
10
15
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25
Vertraute Briefe über F r i e d r i c h Schlegels Lucinde.
111,421
An **
1; 423
Hier hast Du, weil Du es verlangst, was zwischen uns bei Gelegenheit der Lucinde hin und her geschrieben worden ist, nebst ein Paar Kleinigkeiten, welche gewissermaßen dazu gehören. Was Du eigentlich damit willst, magst Du selbst wissen. Ich gestehe Dir, da Du uns Alle samt und sonders kennst, begreife ich nicht was f ü r eine wunderbare Begierde und Eil Du haben kannst, einige einzelne Gedanken, Mißverständnisse und Erörterungen über Gegenstände zu vernehmen, über welche Dir doch unsere Gesinnungen nicht fremd sind. Ein tüchtiges Urtheil, wie wir es über die Bücher fällen, die so vorkommen, wirst Du doch nicht erwarten? Du weißt ja, wie das der Frauen Sache überall nicht ist, und wie ich scheu und bedächtig und ehrerbietig mit Allem umgehe, was sich mir als ein eigen gebildetes Wesen ankündigt, sei es ein Mensch oder ein Gedanke oder ein gebildetes Werk, und wie | lange 2 und unersättlich ich bei der Anschauung verweile, ehe ich mich an etwas wage, was einer Uebersicht oder einem Urtheil ähnlich ist. Und nun gar dieses Werk, welches wie eine Erscheinung aus einer künftigen Gott weiß wie weit noch entfernten Welt da steht! Gewiß, sie könnte eben so lange vollendet sein, als sie nun unvollendet ist, ehe ich es mir erlauben würde, in diesem Sinne etwas über die Composition und die Kunst darin überhaupt zu sagen, das heißt wirklich zu meinen. Verhielte sich auch der zweite Theil zu dem ersten nur wie die Rückseite einer Schaumünze oder das Gegenstück eines Gemäldes; so würde ich 424 mir bis zur Vollendung Schweigen und Ungewißheit gebieten, wieviel Betrachtungen dieser Art sich mir auch aufdrängen, seitdem ich mit 5 f Anspielung vielleicht auf [Nicolai:] Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundinn Julie S**, Berlin/Stettin 1799, S.3 7 F.Schlegel: Lucinde. Ein Roman, Erster [einziger] Bd, Berlin 1799; KA 5, ed. H. Eichner, Paderborn 1962, S. 1-82 26 Der von F. Schlegel in rascher Abfolge geplante zweite Romanteil wurde nie fertiggestellt. Im Nachlaß haben sich nur einige Bruchstücke erhalten (vgl. KA 5,83-92).
144
Vertraute Briefe
dem Geist und Charakter des Buchs recht gesättigt bin, und seitdem Friedrich Schlegel seine Ansicht von der romantischen Poesie in so klaren W o r t e n von sich gegeben hat. D o c h lieber Freund, dieses Aufschieben eines vollendeten Urtheils geht bei mir nicht n u r auf die Composition, sondern auf Alles, und ich müßte zu meinem Unglück weniger h o h e Begriffe von dem haben, was die Kritik eigentlich leisten kann und soll, wenn es anders wäre. W o so-|viel Schönheit und H a r m o n i e ist, 3 da muß auch zwischen dem Stoff und der Form, zwischen dem Dargestellten und der Darstellung ein so inniger Z u s a m m e n h a n g obwalten, d a ß die Einheit des Werks der einzige sichere Schlüssel zum Verständniß auch des Einzelnen bleibt, und der einzige S t a n d p u n k t zur vollständigen Beantwortung mancher Fragen, was mit diesem und jenem gemeint o d e r w a r u m gerade dieses und jenes dargestellt sei. Also suche Nichts, was ein fertiges Urtheil wäre, auch nicht über die Gesinnung und den Charakter; nur Variationen über das große T h e m a der Lucinde, wie sie einem Jeden von uns ziemten und natürlich waren, einzelne Hinweisungen auf die lichten Punkte, von denen Glanz und Klarheit über das G a n z e ausströmt. Gedanken die denen des Buchs bald gleich laufen bald sich mehr o d e r weniger davon entfernen, und tausend Ausdrücke meiner Achtung und Liebe f ü r das in seiner Art einzige Werk, f ü r welches mir eben deshalb alle Beinamen, die ich hieher hätte setzen können, nicht recht sind. D a s Alles kann wol einen Ramen um die Lucinde ausmachen, auf dessen Feldern mit flüchtiger H a n d leichte Zeichnungen entworfen sind, deren Beziehung auf das Werk, das sie gern umgeben | möchten, sie allein zu etwas macht - weiter aber auch 4 nichts. W a r u m ich mir die M ü h e nehme, D i r so ausführlich ans H e r z zu legen, was diese Briefe nicht sind? Nicht aus Koketterie oder derglei- 425 chen etwas; sondern weil ich aus verschiedenen U m s t ä n d e n auf die V e r m u t h u n g gerathen bin, als f ü h r e s t D u im Schilde, sie drucken zu lassen. Schlechthin habe ich nichts dagegen; das kannst Du leicht denken, da D u weißt, wie ich über diesen P u n k t selten einen Willen habe, und die Entscheidung gern denen überlasse, die Veranlassung haben, etwas darüber zu wollen. Aber in so fern D u irgend eine Absicht bei diesem Einfall gehabt hast, wirst D u ihn hoffentlich, wenn Du Dir dies Alles recht überlegst, bald aufgeben. Etwa eine Vermittelung zwischen dem W e r k und dem allgemeinen Geschrei dagegen zu stiften, oder gar
31 Du leicht] Kj Du Dir leicht 2f Vgl. F.Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Athenaeum 58-128 und 2. Stück, S. 169-187; KA 2, ed. H. Eichner, 8f Vgl. Gedanken III, Nr. 60a (KGA 1/2,134,6-8)
3 (Berlin Paderborn
1800), 1967,
1. Stück, S. S. 284-351
An
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**
die Leute zu bekehren und zu belehren, dazu sind diese Briefe ihrer Entstehungsart und N a t u r nach gar nicht geeignet, und es muß nothwendig die Denkart, die sich hier äußert und die Voraussetzungen welche durchleuchten uns Alle in gleiche Verdammniß werfen, wie die Lucinde selbst, ja in noch är-|gere, weil wir in prosaischer Besonnenheit 5 und Ruhe reden. Soll ich Dir noch etwas gestehen? Als ich Deinen Vorsatz zuerst ahndete, machte er mir viel Freude, und ich sezte mich hin, um zu den wirklich geschriebenen Briefen noch ein Paar hinzuzudichten, die ganz polemischer Natur sein sollten gegen die über die Lucinde, das heißt über die Liebe und Alles, was damit zusammenhängt, herrschende - soll ich sagen Denkart? Haarklein, und bis zum eigenen Eingeständniß der Dummheit wollte ich den Leuten beweisen, daß sie sich nichts Gesundes denken, bei allem was sie vorbringen: ich habe sie aber nicht zu Stande bringen können. Es war mir schlechthin unmöglieh, mich in eine Gemeinschaft oder ein Gespräch mit so Gesinnten hinein zu versetzen, ja auch nur eine Veranlassung zu erfinden, wie ich hineingerathen sein könnte, und ich wußte nicht, wie ich mich dazu anstellen sollte, vernünftig mit Leuten zu reden, denen die einfachsten und natürlichsten Begriffe nicht beizubringen sind, die nichts, auch nicht an seiner rechten Stelle, verstehen, und f ü r nichts, was nicht in ihnen ist, irgendwo eine Stelle zu finden wissen, kurz - von denen man ei- 426 gentlich Nichts sagen müßte, um Alles gesagt zu haben. Daraus habe ich | denn geschlossen, daß nur mein böser D ä m o n mir dies als etwas 6 Mögliches und Ausführbares vorspiegelt. Laß Dich warnen, lieber Freund, derselbe treibt auch in Dir sein Wesen. Vielleicht wirst Du sagen, diese Unfähigkeit habe ihren Grund nur in der Manier, wie ich mit solchen Menschen im mündlichen Gespräch verfahre, und die sich freilich schriftlich noch weit komischer ausnehmen müßte, als Sturz Dialog vermittelst des einzigen Wortes Monsieur. Irre Dich aber nicht, es liegt in der Sache selbst; es giebt zwischen diesen entgegengesezten Denkarten keine Verständigung und keine Mittheilung, wie es denn auch nicht anders sein kann, da der Gegensatz nicht irgendwo an der Seite oder auf der Oberfläche, sondern im Mittelpunkte liegt.
Willst Du aber ohne alle Absicht nur eine Stimme hören lassen 35 über diese Sache, gleichviel, ob es auch eine in der Wüste sei, die zu nichts dient, als daß das Aergerniß ja nicht abreiße: wol, so sei es drum. N u r erlaube mir, auf diesen Fall f ü r etwas zu sorgen, was Du gewiß vernachläßigt hättest, nemlich daß wir uns zuvor gehörig vorsehen und
16 versetzen,] versetzen; 28 Anspielung
vermutlich
auf eine literarische
Figur
34 f Anspielung
auf Mt 3,3
146
Vertraute Briefe
uns einigen Schutz und Anhalt verschaffen. Deshalb sende ich Dir, | und mache Dirs zur unerlaßlichen Bedingung, an die Spitze zu stellen 7 folgende
Zueignung an die Unverständigen.
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35
Lieben Freunde und Mitbürger in der Welt und in der Litteratur! Was von unser einem irgendwo gedruckt, oder auch nur f ü r mehr als Einen gesagt und geschrieben wird, es sei Großes oder Kleines, das bringen wir immer sehr gern Euch zur Ansicht und P r ü f u n g dar. Nicht etwa wegen Eurer reinen Verehrung f ü r Worte, Buchstaben ja alle einzelne Z ü g e und T ö n e an sich; sondern eigentlich aus ungeheuchelter Achtung f ü r die Euch eigenthümliche Vortreflichkeit, 427 und zu Folge der ehrfurchtsvollen Gesinnungen, welche Euer hoher Beruf in der Welt uns einflößen muß. Bemerkt nur dabei die Unparteilichkeit und O f f e n h e i t , die uns eigen ist, und achtet sie ein wenig, wenn Ihr könnt. Denn, daß ich es o f f e n h e r z i g bekenne, | wenn ich mir den Zustand und Fortgang der Menschheit be- 8 trachte, so erscheint Ihr mir darin als das nothwendige Gegengewicht gegen die unruhige Reizbarkeit, den fortschreitenden Geist und die thätige Weisheit derjenigen, denen Euer auszeichnender N a m e nicht zukommt, und zugleich gegen die leichte V e r f ü h r b a r keit des Neuerungssüchtigen Volkes, gleichsam als der hohe und nicht genug zu verehrende Senat der Erhalter. V o n Anbeginn der Welt habt Ihr diese Funktion zur Zufriedenheit des menschlichen Geschlechtes versehen: denn Euch allein verdanken wir es, daß es in dieser ewigen Fortschreitung etwas stillstehendes und bleibendes giebt. Euch ist es gegeben, das bewegliche Leben ertödtend zu fesseln, und was sich ohne Euch immer weiter veredelt und fortgebildet hätte, die rohesten A n f ä n g e der kindischen V e r n u n f t und die ungeschickten Werke des Zufalls, in festen Z ü g e n darzustellen. Sobald etwas dieser Art unter uns dem Besseren Platz gemacht hat, bereitet Ihr es f ü r Euch zu einer ewig dauernden Mumie, und bewahrt es als ein heiliges Palladium. Nicht vergeb-|lich seid Ihr zu 9 diesem E n d z w e c k ausgerüstet mit jener großen Naturkraft, die keiner andern an Allgegenwart und Unbegreiflichkeit weicht, sich aber ganz besonders in Euch verherrlicht, durch Euren standhaf2 unerlaßlichen] unerlaßlichtn
An
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ten W i d e r w i l l e n g e g e n Alles, w a s lebt u n d a t h m e t . Z u e r s t w i e billig v e r n i c h t e t I h r in E u c h j e d e f r e i e B e w e g u n g , u m d u r c h E u e r g a n z e s L e b e n u n d Sein d e n heiligen D i e n s t d e r e h e r n e n F o r m e l n , z u d e m I h r b e r u f e n seid, a u s z u d r ü c k e n , u n d d a n n stellt I h r E u c h z u m g e rechten V e r f o l g u n g s k r i e g e gegen Alles a u ß e r E u c h , was d a w i d e r a n g e h t , g l e i c h u n p a r t h e i i s c h es sei S c h e r z o d e r E r n s t , W i t z o d e r 428 E n t h u s i a s m u s , V e r n u n f t o d e r Leidenschaft, u n d sprecht ü b e r Alles E u e r v e r d a m m e n d e s U r t h e i l . V o r z ü g l i c h a b e r h a b t I h r in A b s i c h t der Liebe eine Constitution zu vertheidigen, an d e r J a h r h u n d e r t e g e a r b e i t e t h a b e n , d i e d i e r e i f s t e F r u c h t ist v o n d e m s c h ö n e n B u n d e d e r B a r b a r e i u n d d e r V e r k ü n s t e l u n g , u n d d e r s c h o n s o viel L e b e n u n d G e d e i h e n g e o p f e r t ist, d a ß es w o l t h ö r i c h t w ä r e , n i c h t a u c h d a s w e n i g e ü b r i g e n o c h h i n z u g e b e n , u m sie a u f r e c h t z u e r h a l t e n . A u c h s e i d I h r d u r c h d e n r e i c h l i c h e n B e s i t z | a l l e r ö k o n o m i s c h e n 10 H e r r l i c h k e i t e n , d i e sie E u c h s i c h e r t , i h r e z u v e r l ä ß i g s t e n u n d u n b e -
30
stechlichsten V e r f e c h t e r . U n d so w i d m e ich E u c h im V e r t r a u e n auf E u r e n heiligen Eifer diese Blätter, u m E u c h das frevelhafteste Buch z u bezeichnen und die gefährlichsten Anschläge zu enthüllen. D i e L i e b e soll a u f e r s t e h e n , i h r e z e r s t ü c k t e n G l i e d e r soll ein n e u e s L e b e n v e r e i n i g e n u n d b e s e e l e n , d a ß sie f r o h u n d f r e i h e r r sche im G e m ü t h d e r M e n s c h e n u n d in i h r e n W e r k e n , u n d die leeren Schatten vermeinter T u g e n d e n verdränge. Ja wol die gefährl i c h s t e n A n s c h l ä g e ! d e n n w e n n es o f f e n b a r w i r d , d a ß d a s j e n i g e , w a s ihr f ü r d e n A n g e l d e r T u g e n d a u s g e b t , w e i t a u ß e r h a l b alles S i t t l i c h e n liegt, w e n n d i e s e r Z a u b e r g e l ö s t w i r d , w e r w i l l d a n n d e m n e u e n L e b e n w e h r e n , w e l c h e s sich v o n h i e r a u s v e r b r e i t e n k a n n ? S o k ö n n t e es l e i c h t d a h i n k o m m e n , u n d d i e s sei d a s s c h m e r z h a f t e ste, w o r a n i c h E u c h e r i n n e r n will, d a ß E u r e N a c h k o m m e n , i m G e i s t n e m l i c h - d e n n f e h l e n w i r d e s d o c h a n i h n e n n i e m a l s - in A l lern, w a s s i t t l i c h ist, u n d w e n n a u c h E u e r S i n n z e h n f a c h a u f i h n e n
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r u h e n sollte, g a n z a n d e r n F o r m e l n z u h u l d i g e n g e - | n ö t h i g t seyn w e r d e n , als d i e j e n i g e n s i n d , w e l c h e I h r g e r n f ü r a l l e E w i g k e i t e n geltend machen möchtet. Diese Zeit wollen wir herbeiführen, thut Ihr indessen dagegen, was Euch recht dünkt, und erlaubt, d a ß wir uns nichts d a r u m k ü m m e r n .
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E s t h u t m i r l e i d u m D i c h , d a ß d i e s e Z u e i g n u n g e t w a s l a n g u n d 429 b r e i t g e r a t h e n ist, i n d e s s e n h o f f e i c h w i r s t D u a u c h d a s n i c h t u n s c h i c k lich u n d d a s G a n z e b e s s e r f i n d e n , als i r g e n d e i n e D i s p u t a t i o n . W a s h i l f t
148
Vertraute
Briefe
auch das Argumentiren? Eine Gesinnung vertheidigt sich nur, indem sie als in sich bestehend und an alles Große und Schöne sich anschließend bewährt wird. Diesen Versuch laß uns überall im Leben und in der Kunst vor Aller Augen anstellen, und sie zu Zuschauern einladen. Und 5 so gehabe Dich wol und thue, wie Du willst.
E r s t e r Brief.
12
An Ernestine.
Wirst D u sehr böse seyn, d a ß ich so lange g e z ö g e r t habe, u n d d a ß 5 D u deshalb vielleicht nicht die erste in L. bist, welche die lang erwartete Lucinde erhält? Sieh, ich wollte sie d o c h gern erst gelesen haben, u m sie mit ein P a a r W o r t e n begleiten zu k ö n n e n , u n d D u weißt, wie schwer ich das E n d e vom Lesen finde, u n d den A n f a n g z u m Schreiben. D e n lezten h a b e ich n o c h bis diesen Augenblick nicht, u n d m ö c h t e am lieb10 sten Nichts sagen, o d e r o h n e A n f a n g u n d E n d e , u n d o h n e a u f f a l l e n d e n äußeren Z u s a m m e n h a n g , wie die Lucinde selbst o f t dasteht, ü b e r sie reden u n d c o m m e n t i r e n o d e r vielmehr sie w i e d e r h o l e n u n d nachsingen; so bin ich bis ins | Innerste von ihr g e t r o f f e n u n d d u r c h d r u n g e n . V o r b e - 13 reiten m ö c h t e ich Dich aber w e n n ich könnte, ein wenig, damit D u 15 nicht d u r c h allerlei u n g e h ö r i g e G e d a n k e n gestört u n d desorientirt, das Buch vielleicht erst einmal ungeschickt u n d o h n e G e n u ß lesen müßtest, u m des Lesens w ü r d i g zu w e r d e n . Entschlage D i c h n u r vorläufig, ich bitte Dich, alles dessen, was m a n bei d e r U e b e r s c h r i f t R o m a n zu d e n ken g e w o h n t ist, aller E r w a r t u n g e n , die D u D i r nach Allem, was das Be- 430 20 ste in dieser G a t t u n g ist, g e m a c h t haben kannst; ja w e n n D u D i r aus andern W e r k e n u n d A e u ß e r u n g e n des Verfassers etwa eine Vorstellung gebildet hättest, auch dieser, d e n n D u k a n n s t D i r u n m ö g l i c h die rechte gemacht h a b e n . Es giebt nirgends eine bestimmte V o r b e d e u t u n g auf dieses W e r k , u n d es ist, so wie überhaupt, so auch in Rücksicht auf d e n
19 Dir] dir
20 Dir] dir
5 Kürzel vielleicht für Landsberg ( Warthe)
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Vertraute Briefe
V e r f a s s e r etwas Ursprüngliches und f ä n g t eine neue P e r i o d e seiner künstlerischen E x i s t e n z an. N u r eine auch von uns lange gefühlte S e h n sucht, ein inneres B e d ü r f n i ß des Geistes weiset d a r a u f hin, und dieses bringe D i r vor allen D i n g e n wieder recht ins B e w u ß t s e i n und sprich es D i r recht deutlich aus; dies ist die W e i h e , die D u D i r geben mußt. E r i n nere D i c h , wie wenig uns immer, wenn | wir es recht bedachten, Alles 14 befriedigte, was über die Liebe als R e f l e x i o n gesagt und als Darstellung gedichtet ist, wie wir uns beklagten, d a ß man aus der Sinnlichkeit nichts zu m a c h e n weiß, als ein nothwendiges U e b e l , das man nur aus E r g e bung in den W i l l e n G o t t e s und der N a t u r wegen erdulden muß, o d e r geistlose und unwürdige Libertinage, die sich r ü h m t einen thierischen T r i e b etwa bis z u r H ö h e der K o c h k u n s t hinauf verfeinert und humanisirt zu haben. E r i n n e r e D i c h , wie weh es uns i m m e r that, uns am E n d e des Spottes nicht erwehren zu k ö n n e n über diejenigen, die sich in ihren Darstellungen o d e r in ihrem Leben des geistigen Bestandtheiles der Liebe recht vollständig bemächtigt zu haben glaubten, und dann d o c h nirgends verbergen konnten, d a ß sie damit nicht w u ß t e n w o h e r n o c h w o h i n und von dem E i g e n t h ü m l i c h e n ihres G e f ü h l s keine R e c h e n s c h a f t zu geben im S t a n d e waren: und nicht begreiflich m a c h e n k o n n t e n , warum sie sich am E n d e in eine ordentliche f r u c h t b a r e E h e retteten und nicht der C o n s e q u e n z zu Liebe das H e l d e n s t ü c k begannen, in ihrer sublimen geistigen G e m e i n s c h a f t neben einander w e g zu leben, o h n e an etwas zu denken, w o z u sie ihrer V e r s i c h e r u n g nach in ihrem G e f ü h l | gar keine V e r a n l a s s u n g finden. D e n k e recht lebhaft daran, welche 15 S e h n s u c h t uns diese Einseitigkeiten erregten, die göttliche P f l a n z e der 431 Liebe einmal g a n z in ihrer vollständigen Gestalt abgebildet zu sehn, und nicht in abgerißnen Blüthen und Blättern, an denen nichts von der W u r z e l zu sehen ist, welche das Leben sichert, n o c h von dem H e r z e n , woraus sich neue Blüthen und Zweige entwickeln k ö n n e n - diese alte S e h n s u c h t m a c h e D i r wieder recht lebendig, und D u wirst inne werden, d a ß das B u c h ausdrücklich da ist, um sie zu befriedigen, und es wird D i r einen G e n u ß gewähren, den D i r nichts v o r h e r geben konnte. H i e r hast D u die Liebe ganz und aus einem Stück, das Geistigste und das Sinnlichste nicht nur in demselben W e r k und in denselben P e r s o n e n neben einander, sondern in j e d e r A e u ß e r u n g und in j e d e m Z u g e aufs innigste verbunden. Es läßt sich hier Eins vom A n d e r n nicht trennen; im Sinnlichsten siehst D u zugleich klar das Geistige, welches durch seine lebendige G e g e n w a r t beurkundet, d a ß jenes wirklich ist w o f ü r es sich ausgiebt, nemlich ein würdiges und wesentliches E l e m e n t der Liebe; und eben so siehst D u durch den reinsten A u s d r u c k der geistigsten
5 Du Dir] Du dir
24 finden] Kj fanden
Erster Brief
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Stimmung und des erhaben-|sten Gefühls hindurch das H e r z höher schlagen, das Blut sich lebhafter bewegen, und das süße Feuer der Lust gedämpfter und milder durch alle Organe ein- und ausströmen. Kurz, so eins ist hier Alles, daß es ein Frevel ist, Angesichts dieser Dichtung die Bestandtheile der Liebe nur abgesondert zu nennen, und daß ich in diesem Augenblick schon den Genius derselben um Verzeihung bitte, es gethan zu haben. Und wie vollständig ist sie dargestellt! Vom leichtesten Gaukeln des Scherzes, von dem ausgelassenen Muthwillen, den der Uebermuth der Jugend und das Glück einer fast unverhofften Rettung erzeugt, bis zur heiligsten Anbetung der Menschheit und des Universums in der Geliebten, durch alles hindurch, was dazwischen liegt, das ruhige und heitre Dasein, das besonnene Streben nach gemeinsamem Leben und Wachsthum, und in allen Stimmungen, im tiefsten unsäglichsten Schmerz, im Enthusiasmus der Freude, und in der unendlichen Ruhe, in der sich die Liebe nur nach sich selbst sehnt, auch durch die Erinnerung, und mehr als Erinnerung der frühern Ahndungen und Versuche sich nur erhöht, und sich jede Zukunft, selbst die des Entsagens vor Augen stellen kann. Doch, ich wollte Dir ja nicht sagen, was du finden wirst, | sondern Dich nur auf die rechte Art empfänglich machen dafür; aber so geht es mir immer mit diesem Buch: es zieht mich unwiderstehlich tiefer und tiefer in sich hinein, so o f t es mir vor dem Gemüthe schwebt. N u r das muß ich Dir sagen, daß Du Dir ja zu diesen Darstellungen der Liebe keine äußern Zurüstungen denkest. Das kleinste erotische Gedicht selbst in lyrischer Form, wie viel mehr denn jede, auch die beschränkteste Produktion von der romantischen Gattung hat weit mehr Neben- und Außenwerke als Du hier findest. Die Liebe ist dem Werk Alles in Allem, es hat nichts anders und bedarf nichts anders. Entschlage Dich also ja aller Gedanken an eine große Menschenmasse oder an complicirte Verhältnisse und Begebenheiten, an alles Novellenartige, was in unsern Romanen so oft das wesentliche und immer die allzureichliche Draperie ist, welche die Figuren erst im Allgemeinen beinahe verbirgt, und sie dann noch einzeln als ein schweres Gewand unkenntlich macht. Du findest hier nichts, was den Schein erregen könnte, als sei es auf etwas anderes abgesehn, und als sollte die Liebe nur Theil oder Mittel oder wolhergebrachte Maschinerie sein. Es ist die einfachste Composition und die | Figuren sind so hervorgehoben und in so großem Maaßstabe, daß Du hinter ihnen und um sie her nichts siehst, und wenn Du erst in der Betrachtung bist, auch nichts vermissest. Dir kün-
28 Dich] dich
26 f Anspielung
auf 1 Kor
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Vertraute
Briefe
dige ich diesen Mangel an Umgebungen nur an, damit Du nicht das Gewöhnliche eine Zeitlang vergeblich suchest; Andern, die f ü r den eigentlichen Gegenstand des Kunscwerkes keinen Sinn haben, könnte er Dürftigkeit scheinen. N u r Erwähnungsweise und außerhalb dem eigentlichen Zeitraum des Werkes kommen andere Menschen vor, und auch da ist nur ihr Verhältniß zur Liebe eigentlich geschildert, alles andere bloß mit wenigen Strichen angedeutet. Die bürgerliche Welt und 433 die feine Gesellschaft sind so gut als gar nicht vorhanden, erstere wird möglichst vernichtet, letztere nur ein Paar mal flüchtig erwähnt und leicht gebraucht, dann aber sogleich wieder aus der H a n d gelegt, und auf die Scene kommt eigentlich gar nichts als Julius und Lucinde. Schaue diesen Glauben recht lebendig an, daß die Liebe in ihrer innern Schönheit und Majestät hinreicht, um allein eine Dichtung auch von der größten Gattung zu beleben und würdig zu vollenden; und wenn er Dir auch nicht wie mir ein neues Zeichen ist von der | Wiederkehr eines 19 großen und schönen Stils in der Kunst, so verehre wenigstens darin die tiefe Verehrung des Menschen, und liebe die schöne Simplicität des Werkes um so herzlicher, je weiter sie sich von der unwürdigen Sinnesart derer entfernt, die tausend Unbedeutendes um sich versammeln, weil das Innere des Menschen ihnen zu wenig dünkt, um genug daran zu haben, oder zu unheilig, um es zu berühren.
Dabei fällt mir noch Eines ein. Du siehest hieraus, wie sehr das Gedicht im Widerstreit ist gegen Alles, was im Allgemeinen jetzt gesucht und dargestellt wird, und kennst aus andern Orten die polemi25 sehe Stärke mit der der Verfasser sonst, wenn er sich in diesem Falle befindet, gegen die Masse des Zeitalters auftritt, diese suche hier ja nicht, und wolle nichts schlechterdings so deuten; Du bringst Dich sonst um den reinen Genuß des besten Humors, und des anmuthigsten Scherzes. Denn freilich ist sich der Dichter dieses Widerstreites bewußt, aber er 30 läßt seinen Julius damit spielen ohne alle Bitterkeit und Verachtung und es herrscht überall die große Unschuld, die einem durch die eigne Kraft gebildeten und durch die Liebe vollendeten Gemüth | so natürlich 20 ist. Also nicht die, welche von diesem und jenem nichts weiß oder wissen will, denn es wird wol von allen Verkehrtheiten geredet, die mit der
27 Du bringst Dich] du bringst dich
11 In der Liebesbeziehung der Romangestalten Julius und Lucinde stellte Schlegel nicht allzu verschlüsselt seine eigene Liebesbeziehung zu Dorothea Veit, geb. Mendelssohn, dar, die er im August 1797 im Herzschen Salon kennengelemt hatte und mit der er seit deren Scheidung im Januar 1799 zusammenlebte. 2 4 - 2 6 Anspielung vermutlich besonders auf F. Schlegels Beiträge in der von ihm und seinem Bruder August Wilhelm veranstalteten Zeitschrift „Athenaeum" (3 Bde, Berlin 1798-1800)
Erster Brief
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Liebe getrieben werden, aber die, welche auf ihrem graden W e g e von nichts außer sich besondere N o t i z nimmt, und sich durch nichts bestimmen oder verstimmen läßt. Scherz und Muthwille ist alles, was das Be- 434 wußtsein dieses Widerstreits ausdrükt, und eben so alles, was den 5 Schein annimmt, als wolle es ihn entschuldigen oder rechtfertigen. W a s Julius der Freundin sagt, um ihrem G e f ü h l über manches Einzelne die rechte Richtung zu geben, das sagt der Verfasser der W e l t g e w i ß o h n e alle Absicht und in der gutmüthigsten Laune, und w e n n er sie dadurch nur noch mehr gereizt hat - wie sie sich denn an dem Vergleich mit 10 dem lieblichen Kinde gewiß nicht erbauen wird - so thut er das warlich in seiner Unschuld. M i r ist das aus einem Gesichtspunkt beinahe das größte in dem W e r k . S o unbefangen und leicht, so unbekümmert um alles, was geschehen kann, so ohne Rüksicht darauf zu nehmen, was das Herrschende und das Gedrükte ist in der Welt, sollte Jeder, der ein15 mal in der Opposition ist und sein muß, sein Leben hinstellen, bei allem | innern Ernst und hoher W ü r d e scherzend mit den Elementen der U n - 21 Vernunft, wie dieses ernste, würdige und tugendhafte W e r k thut. U n d so lies es denn andächtig, und alle Götter werden g e w i ß mit D i r sein.
18 D i r ] dir
9f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 31-40; KA
5,13-Π
Z w e i t e r Brief.
An
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Dieselbe.
Da bin ich schön angekommen, wie es scheint, mit meiner Empfehlung und mit meinem Buche! Aber sage mir nur, was ist aus Dir geworden? Leopold ist nemlich bei mir gewesen und hat mir erzählt, wie er Dich oft und viel gesprochen in L. unter andern auch, wie Du die Lucinde bekommen und gesagt habest, Du würdest sie wol nicht lesen, denn Du möchtest kein Buch lesen, worüber mit Niemanden zu sprechen sei. Erst glaubte ich, das sei so eine von Deinen Manieren, aber da er mir vielerlei erzählte, was auf dasselbe hinauslief, mußte ich es endlich für Ernst nehmen, und nun verzeihe mir, daß ich Dich nicht begreifen kann. Du weißt, es ist mein alter Grundsatz, daß ein Mensch sich 435 nicht umkehren | kann, sonst müßte ich aufrichtig glauben, Du seist seit 23 kurzem eine Prüde geworden. Auf diesen Fall würde ich Dich bitten, Dich doch mit der nächsten Gelegenheit nach England einzuschiffen, wohin ich die ganze Gattung verweisen möchte. Uns ist sie hier, wo es sich auf manche Weise zum Terrorismus fürs alte Regime neigt, gefährlicher als je, und dort fangen an die Originale zu aller der Delikatesse und Zartheit, die in den Romanen verbraucht wird, etwas abzugehn, so daß Du als Miß sehr willkommen sein würdest. Das ist es nun freilich nicht; aber was ist es denn? Du kannst doch nicht sagen, daß es über die Lucinde nichts zu reden giebt; wenn Du auch nur von dem ausgehst, was ich Dir geschrieben habe, so wirst Du doch zugeben müssen, daß es ein Buch sei, durch welches jeder, von welcher Sinnesart er auch sei, auf tausenderlei Art angeregt wird zur Billigung oder zum Tadel, gewiß wird auch Ach und Weh genug darüber geschrien werden, und 13f Vgl. Gedanken III, Nr.60 (KGA 1/2,133,12-134,5; hier 133,12f)
Zweiter Brief
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d i e , w e l c h e es l i e b e n u n d v e r s t e h e n , w e r d e n a l s o g e n u g z u v e r t h e i d i g e n h a b e n . D a s scheint auch bei E u c h s c h o n d e r Fall z u sein, u n d D u , die ich i m m e r m e i n e m u t h i g e u n d k ü h n e S c h w e s t e r g e n a n n t h a b e , w o l l t e s t still s c h w e i g e n ? E r i n n e r e D i c h | d o c h , i c h b i t t e D i c h , d e r s c h ö n e n 24 Zeiten, w o w i r a n f i n g e n zu d e n k e n , w o u n s e r e Freiheit sich e n t w i k e l t e u n d u n s e r e G e s i n n u n g sich aus d e r u m g e b e n d e n G e m e i n h e i t h e r a u s h o b . H a s t D u d e n G r u n d s a t z v e r g e s s e n , d e r u n s , als w i r i h n g e f u n d e n h a t t e n , s o viel K r a f t u n d M u t h g a b , als e r a u s d r ü k t e , u n d d e n w i r u n s als d e n r e i n e n Spiegel u n s e r e r F r e i h e i t n i c h t o f t g e n u g v o r h a l t e n k o n n t e n ? T r e u bist D u i h m bis j e z t g e b l i e b e n u n t e r m a n c h e r l e i V e r s u c h u n g e n , u n d h a s t i h n in s c h w i e r i g e n F ä l l e n v o r a l l e r W e l t a u s g e ü b t u n d b e k a n n t . W o r a n k a n n es d e n n l i e g e n , d a ß D u g e r a d e h i e r e i n e A u s n a h m e m a c h e n willst. S c h o n d a m a l s r e c h n e t e n w i r die Liebe g a n z v o r z ü g l i c h u n t e r die D i n g e , an d e r e n Existenz wir glaubten, u n d ü b e r die m a n also e t w a s d e n k e n m ü s s e , u n d w i r d a c h t e n d a m a l s , w i e i c h s e h r w o l w e i ß , 436 d a ß D u n o c h d e n k s t . I s t e t w a in L. g a r k e i n s c h i k l i c h e r O r t , u m z u s a gen, w a s D u d e n k s t ? W e n n d e r U n v e r s t a n d o d e r die B o s h e i t sich l a u t m a c h e n , sollte eine edle Frau schweigen? Ich w e i ß d o c h aus a n d e r n , n o c h g a n z n e u e n B e i s p i e l e n , d a ß D u es n i c h t s c h e u s t D i c h d i e s e n e n t g e genzustellen, u n d d a ß D u D i c h g a n z allein m a n c h e r g e k r ä n k t e n Seele a n g e n o m m e n hast, die mit einigen heiligen W o r t e n niedergestoßen w e r - | d e n s o l l t e ; ist d e n n e i n B u c h n i c h t e b e n s o g u t a l s e i n M e n s c h i n 25 dieser Zeit, w o Beide gleich selten sind? N i c h t gerechnet, d a ß aus diesem G e s i c h t s p u n k t betrachtet, allemal ein M e n s c h d a h i n t e r stekt, u n d es e i g e n t l i c h a u f d i e s e n u n m i t t e l b a r l o s g e h t , a u c h w e n n m a n k e i n e n V e r f a s s e r w ü ß t e o d e r d a s B u c h g a r k e i n e n h ä t t e , h a t es n i c h t e b e n s o g u t e i n e n G e i s t u n d e i n e n C h a r a k t e r ? U e b e r d i e s k a n n ich m i r r e c h t g u t d e n k e n , d a ß viele M e n s c h e n v o n d e n e n , die D u n i c h t g e n u g v e r a c h t e s t , u m sie i h r e m S c h i k s a l z u ü b e r l a s s e n , n i c h t r e c h t w i s s e n , w a s sie z u d i e ser Darstellung d e r g a n z e n Liebe d e n k e n o d e r sagen sollen. W e n n v o m S e n t i m e n t a l e n a l l e i n d i e R e d e ist, s o w i s s e n sie, d a ß es i h r e S c h u l d i g k e i t ist, es z u p r e i s e n , u n d z u b e w u n d e r n u n d u n e n d l i c h s c h ö n u n d z a r t z u finden, u n d die feine B e h a n d l u n g zu r ü h m e n , w e n n d u r c h einzelne Stellen, die so r e c h t d ü n n u n d geistig g e w e b t sind, hie u n d d a e t w a s a n d e r e s d u r c h s c h e i n t , u n d w e n n v o m S i n n l i c h e n a l l e i n d i e R e d e ist, s o h a b e n sie n u n schon einen U e b e r s c h l a g , wieviel lüsterne A n d e u t u n g e n o d e r verschleierte üppige G e m ä l d e m a n d e n schönen Versen o d e r d e n übrigen Verdiensten verzeihen dürfe, und was offenbar frech und verwerflich ist. A b e r m i t e i n e r s o l c h e n V e r - | e i n i g u n g w i s s e n sie n i c h t u m z u g e h n , 26 u n d w i s s e n n i c h t , w i e v i e l f r e c h e s sie d e m G e i s t i g e n z u g u t h a l t e n , o d e r w i e v i e l G e i s t i g e s sie u m d e s F r e c h e n w i l l e n u n w i l l i g ü b e r s e h e n s o l l e n . U n d in d i e s e r R a t h l o s i g k e i t a u f w e n s o l l e n sie d e n n a c h t e n , als a u f e d l e F r a u e n , d e r e n B e r u f d o c h e i n m a l d i e L i e b e ist, u n d d i e n o t h w e n d i g e t -
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w a s d a v o n v e r s t e h e n m ü s s e n ? a l s o a u c h A l l e in D e i n e m K r e i s e g a n z b e - 437 s o n d e r s a u f D i c h , d a es v o n d e r g a n z e n W e l t a n e r k a n n t ist, d a ß D u v o n d e r L i e b e e t w a s v e r s t e h s t u n d als e i n e v o n d e n w e n i g e n A u s e r w ä h l t e n i n e i n e r w a h r e n E h e l e b s t ? A u c h w ü r d e n sie g e w i ß A l l e D i c h f r a g e n , w e n n D u sie n i c h t d u r c h s o l c h e k a t e g o r i s c h e A u s s p r ü c h e , d a ß ü b e r d i e S a c h e n i c h t z u r e d e n sei, e i n f ü r a l l e m a l a b w i e s e s t . D e r a r m e L e o p o l d s c h e i n t m i r selbst u n t e r d i e s e B e d ü r f t i g e n z u g e h ö r e n , u n d h a t sich g a r stig a b g e f ü h r t g e f u n d e n d u r c h j e n e E r k l ä r u n g : D u h ä t t e s t vielleicht ein gutes W e r k an ihm verrichten k ö n n e n . W i e kannst D u also n u r D e i n e n B e r u f z u m R e d e n v e r k e n n e n ? E r ist s o e n t s c h i e d e n , d a ß w e n n D i c h auch N i e m a n d f r a g t e u n d a u f f o r d e r t e , D u v o n selbst r e d e n u n d die A n d e r n a u f f o d e r n müßtest, weil d o c h auf eine solche V e r a n l a s s u n g Jeder, d e r e i n e n G e d a n k e n u n d e i n e M e i n u n g h a t , sie w e i t | l e i c h t e r ä u ß e r n 27 u n d z u T a g e f ö r d e r n k a n n , als w e n n sie g a n z a u s f r e i e r H a n d in t r o k n e n W o r t e n v e r z e i c h n e t u n d aus d e m I n n e r n h e r a u s g e h o l t w e r d e n soll. D u h a s t dies bei literarischen, m o r a l i s c h e n u n d p o l i t i s c h e n G e g e n s t ä n d e n g e t h a n , d i e D i r b e i w e i t e n n i c h t s o n a h e l a g e n , als d i e s e r , d e r n o c h d a z u a l l e s d r e i e s ist, u n d m i t d e n e n w i r M ä n n e r a m E n d e o h n e E u c h f e r t i g w e r d e n k ö n n e n , w e l c h e s h i e b e i s c h l e c h t e r d i n g s u n m ö g l i c h ist. Dies lezte wirst D u doch gewiß einsehen: d e n n w e n n wir auch mit den d e u t l i c h s t e n W o r t e n u n d d e n b ü n d i g s t e n B e w e i s e n a p r i o r i in p h i l o s o p h i s c h e r F o r m u n d in D i c h t u n g e n d i r e k t u n d i n d i r e k t z e i g e n , w a s d i e L i e b e e i g e n t l i c h ist, u n d d a ß sie ü b e r h a u p t s e i n soll, u n d d a ß sie d e m n ä c h s t n o t h w e n d i g g r a d e d i e s e s s e i n m u ß , s o b l e i b e n d a s alles l e e r e W o r t e u n d k a n n nichts d a m i t ausgerichtet werden, w e n n wir nicht die L i e b e in d e r W i r k l i c h k e i t a u f z e i g e n k ö n n e n , u n d w i e k ö n n e n w i r d a s , w e n n sich keine Frau auf u n s e r n A u f r u f z u r Liebe b e k e n n t , s o n d e r n I h r E u c h , d a ß i c h s n u r d e u t s c h h e r a u s s a g e , d e r s e l b e n s c h ä m t . S o s i e h t es wenigstens aus. Ich n e h m e D e i n Schweigen nicht so; a b e r was sollen die Leute d a v o n denken? N i c h t z u m mindesten, d a ß D u Dich f ü r die
L i e b e | n i c h t m e h r i n t e r e s s i r s t , u n d ist es n i c h t s c h o n e i n H o c h v e r r a t h , 28; 438 diesen G e d a n k e n z u v e r a n l a s s e n ? A n d e r n w ü r d e ich M a n c h e s v e r z e i h e n u m d e r menschlichen Ungeschiklichkeit willen, die d o c h nicht g a n z a l l e i n e i n E r b t h e i l d e r M ä n n e r ist, s o n d e r n a u c h b e i E u c h b i s w e i l e n 35 z u m V o r s c h e i n k o m m t . I c h k a n n m i r d e n k e n , d a ß m a n c h e F r a u , d i e e s g e r n w o l l t e , v e r l e g e n s e i n m a g , w i e sie ü b e r d i e s e n G e g e n s t a n d u n d n a m e n t l i c h ü b e r dieses B u c h r e d e n soll, o h n e sich d e r G e f a h r a u s z u s e t z e n , d a ß U n v e r s t ä n d i g e sie e b e n n i c h t v e r s t e h e n , L ä s t e r m ä u l e r i h r d e n Sinn ihrer R e d e verdrehen u n d r o h e verderbte M ä n n e r von denen, die 40 s i c h a m m e i s t e n h e r a u s n e h m e n , e i n e n V o r w a n d d a r i n f i n d e n k ö n n t e n ,
1 Deinem] deinem
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die Grenzen der guten Lebensart zu überschreiten. Von Dir kann ich aber das unmöglich annehmen, liebe Ernestine. Ich habe zwar lange nicht das Vergnügen gehabt Dich zu hören, aber ich besinne mich noch gar wol, welche Meisterin des Gespräches D u bist, und in solchen Künsten lernt man nicht zurück, am wenigsten in Deinen Verhältnissen. Eine Frau, welche diese Gabe hat, immer grade nicht mehr zu sagen als eben nöthig und schiklich ist, auf jede verfängliche Frage eine einlenkende und tüchtige Antwort zu geben, und mit | lustigen Wendungen, 29 feinem Witz, und wo es nöthig, auch mit dem gehörigen Ansehn und genug Grandezze ein Gespräch das unschiklich werden könnte, abzubrechen, was kann der wol begegnen, worüber sie auch immer spreche? Worauf soll ich also diesen Widerspruch schieben, in den Du Dich mit Dir selbst gesezt hast? Am Ende kann ich wirklich bei Nichts anderm stehen bleiben als bei der falschen Schaam, welche den meisten von Euch eigen ist. Ihr wißt eben, daß wir Eurem Geschlecht im Allgemeinen das Talent zur Abstraktion absprechen, und also glaubt Ihr, wenn Ihr mit Männern oder vor Männern über diese Empfindungen redet, noch dazu auf Veranlassung eines Buches, wo die Liebe bis in ihre innersten Mysterien aufgesucht wird, so müßten wir nothwendig denken, daß Eure Fantasie zugleich geschäftig sei, diese Empfindungen nachzuzeichnen, als könntet Ihr nicht aus Euren Erfahrungen reden, ohne sie 439 innerlich zu wiederholen, und dies ist eine Lage, in welche Ihr Euch gegen einen Mann, der an Euren Gefühlen keinen eignen Antheil haben soll, nicht sezen mögt. Das klingt wie etwas, ist aber am Ende, von weleher Seite man es auch betrachte, gar nichts. Wie wollt Ihr denn das | hindern, daß ein Mann sich nicht Vorstellungen davon mache, wie diese 30 und jene im Zustande des Liebens wol sein und wie Alles, was dazu gehört, sich in Jeder eigenthümlich gestalten möge? Dazu müßtet Ihr ganz andere Mittel wählen; denn es giebt tausend Situationen, in denen Ihr ganz unbefangen seid, welche weit mehr zu solchen Reflexionen reizen, als ein Gespräch über die Angelegenheiten der Liebe, wo im Wechsel der Urtheile, im Bestreben die Vorstellungen des Anderen zu fassen und Gründe f ü r die eignen aufzusuchen, dem Gemüth sehr bald keine Muße bleibt, diesem verborgenen Spiel Eurer Fantasie aufzulauern. Ihr müßtet vielmehr zuerst aufhören eigenthümlich zu sein, damit man nicht in Versuchung geriethe, Eure Eigenthümlichkeit in der Liebe auch aufsuchen zu wollen; demnächst müßtet Ihr Euch nie mit Euren
15 Eurem] eurem 20 Eure] eure 21 Euren] euren 23 Euren] euren ihr 34 Eurer] eurer 36 Eure] eure 37 Euren] euren
1 Vgl. Gedanken III, Nr. 67 (KGA
1/2,135,16f)
28 Ihr]
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Vertraute
Briefe
M ä n n e r n o d e r Geliebten zeigen u n d E u c h nie bei d e r geringsten Z ä r t lichkeit b e l a u s c h e n lassen, u n d w a s das G e s p r ä c h a n b e l a n g t , so w ä r e das, was I h r vermeiden müßtet, w e n n I h r von jener M e i n u n g ausgeht, w a h r h a f t u n e n d l i c h . U n s e r e M i s t r e ß B., ü b e r d e r e n ä c h t e n g l i s c h e s „ G u 5 t e r G o t t , w i e k ö n n e n Sie d o c h in G e g e n w a r t d e r M ä d c h e n v o n S t r u m p f b ä n d e r n r e d e n " w i r s o | o f t u n s ä g l i c h g e l a c h t h a b e n , w ä r e n o c h 31 unvorsichtiger, u n d der geringste M a a ß s t a b der Sittlichkeit wäre jene a n d e r e E n g l ä n d e r i n , w e l c h e b e h a u p t e t e , es sei u n k e u s c h , in e i n e r v e r m i s c h t e n G e s e l l s c h a f t d a s W o r t k e u s c h a u s z u s p r e c h e n , ja a u c h a n s t ä n 10 d i g h a b e s c h o n e t w a s u n a n s t ä n d i g e s . D u s i e h s t , d i e s ist u n m ö g l i c h , u n d in d e m M a a ß , als I h r d a r a u f a u s g e h t , e r t ö d t e t I h r a l l e M i t t h e i l u n g u n d a l l e s w a s i m U m g a n g e r e i z e n d s c h ö n u n d s i t t l i c h ist. A b e r w o z u s o l l es d e n n a u c h v e r h i n d e r t w e r d e n , d a ß w i r n i c h t , s o g u t es e i n d r i t t e r e b e n w i s s e n k a n n , e r f a h r e n , w i e J e d e v o n E u c h d i e L i e b e b e h a n d e l t u n d s i c h 440 15 d a r i n v e r h ä l t ? W a r u m w o l l t I h r m i t E u r e m G e m ü t h w e n i g e r f r e i g e b i g s e i n als m i t E u r e r G e s t a l t ? U n d s o l l t e n n i c h t a u c h h i e r d i e j e n i g e n , d i e Einiges g a n z u n b e f a n g e n zeigen, anderes d a f ü r aber ernstlich verberg e n , z ü c h t i g e r s e i n als d i e , w e l c h e A l l e s n u r h a l b v e r h ü l l e n u n d a b s i c h t lich d i e I m a g i n a t i o n a u f f o r d e r n ? I c h g e b e E u c h j a z u , d a ß e i n i g e s v e r 20 b o r g e n b l e i b e n soll, a b e r w e n n I h r es a u f r i c h t i g m e i n t , v e r s t e h t I h r E u c h s c h l e c h t a u f d i e M ä n n e r u n d a u f E u r e n V o r t h e i l , w e n n I h r es a u f d i e s e m W e g e e r r e i c h e n w o l l t . I h r w i ß t ja, w i e g e n e i g t w i r z u r A b s t r a k t i o n s i n d , j a d a ß i c h s r e c h t s a g e , w a h r e S k l a v e n d e r s e l b e n , | u n d w i e u n s 32 ein G e g e n s t a n d f ü r die E m p f i n d u n g u n d die Fantasie sogleich e n t z o g e n 25 w i r d , w e n n m a n i h n u n s f ü r d a s U r t h e i l d a r b i e t e t . S p r e c h t a l s o u n b e f a n g e n u n d in k l a r e n W o r t e n ü b e r d i e L i e b e , s o w e r d e t I h r u n s a m b e s t e n die G r e n z e n sagen k ö n n e n , welche schiklich u n d n o t h w e n d i g sind, u n d w e l c h e sich eigentlich o h n e d i e s j e d e r rechtliche M a n n v o n selbst sagt. F ü r E u c h w ä r e d a s a m E n d e a u c h a m h e i l s a m s t e n , w e l c h e s ich D e i n e r 30 e i g n e n U e b e r l e g u n g a n h e i m s t e l l e . A b e r g l a u b e n u r n i c h t , d a ß ich n u r s o aus N e b e n a b s i c h t e n das Gespräch ü b e r die Liebe empfehle, damit Dies u n d J e n e s d a d u r c h v e r h ü t e t o d e r e r r e i c h t w e r d e ; ich bleibe vielmehr d a b e i , es u m s e i n s e l b s t w i l l e n z u f o r d e r n . D i e L i e b e ist e i n u n e n d l i c h e r G e g e n s t a n d f ü r d i e R e f l e x i o n , u n d s o soll a u c h ins U n e n d l i c h e d a r ü b e r 35 n a c h g e d a c h t w e r d e n , u n d N a c h d e n k e n f i n d e t n i c h t S t a t t o h n e M i t t h e i lung u n d z w a r zwischen deneri, w e l c h e ihrer N a t u r n a c h verschiedene S e i t e n d e r s e l b e n s e h e n . E s ist w o l e t w a s s e h r u n f r u c h t b a r e s , w e n n F r a u e n u n t e r e i n a n d e r v o n d e r Liebe r e d e n , u n d D u w i r s t selbst wissen, a n w a s f ü r e n g e n G r e n z e n sich d a s h e r u m d r e h t , a u c h u n t e r d e n e n , die 40 n i c h t g e m e i n s i n d , u n d n i c h t w i e d i e M e i s t e n d u r c h i h r g a n z e s L e b e n
1 Euch] euch deiner
15 Eurem] eurem
16 Eurer] eurer
21 Euren] euren
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d i e L i e b e | e n t h e i l i g e n ; a b e r M ä n n e r u n d F r a u e n m ü s s e n u n t e r e i n a n d e r 33 d a v o n reden, u n d da m a n dabei nicht von d e r Liebe dieses u n d jenes w i r k l i c h e n M e n s c h e n a u s g e h n d a r f , d i e m a n n i e g a n z z u k e n n e n g l a u - 441 b e n soll, s o g i e b t es ja n i c h t s s c h ö n e r e s d a z u als d i e w a h r e n u n d k l a r e n 5 D a r s t e l l u n g e n e i n e s b e g e i s t e r t e n D i c h t e r s , a n d e r e n A n s i c h t sich a u f eine natürliche Art die e i g e n t h ü m l i c h e V o r s t e l l u n g s a r t eines J e d e n a n krystallisirt. U n d n u n b e f e h l e ich Dir, k r a f t m e i n e r b r ü d e r l i c h e n A u t o rität u n d unseres alten g e m e i n s c h a f t l i c h e n Bundes, nicht e t w a die L u c i n d e z u l e s e n - d e n n es f ä l l t m i r k e i n e n A u g e n b l i c k e i n z u g l a u b e n , 10 d a ß D u d a s n i c h t g e t h a n h a b e s t - a u c h n i c h t m i t m i r d a r ü b e r z u r e d e n , d e n n d a s e r w a r t e ich a u c h v o n s e l b s t u n d b a l d , s o n d e r n m i t k e i n e m auch n u r e i n i g e r m a ß e n v e r n ü n f t i g e n M e n s c h e n ein rechtliches G e spräch darüber zu scheuen, u n d Dich keiner Art von Engländerei hinzugeben, die D i r n o t h w e n d i g h ö c h s t unnatürlich stehen m u ß .
D r i t t e r Brief.
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E r n e s t i n e an mich.
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Du armer Mensch! ich weiß, es kann Deinem ökonomischen Geiste nichts ärgeres begegnen, als wenn Du inne wirst, daß Du Dir unnütze Mühe gegeben hast, und doch kann ich nicht umhin, Dir zu sagen, daß Du Dir Deine ganz lezte Epistel gar füglich hättest ersparen können von dem Antrage zu der englischen Reise bis zu der Dissertation über die falsche Schaam. Wie Du zu dem ersten gekommen bist, weißt Du ja selbst nicht, und gestehst, es sei eine innere Unmöglichkeit, mich f ü r eine Prüde zu halten, und was in der lezten steht, hast Du viel ordentlicher, klarer und anmuthiger in Deinem Versuch über die Schaamhaftigkeit gesagt. Hast Du gemeint, ich hätte den vergessen, da wir ihn doch, was die | Gedanken betrift, eigentlich gemeinschaftlich gemacht 35 haben? Und das war das lezte, wobei Deine Weisheit stehen blieb. Aber so seid Ihr! Wenn Euch etwas vorkommt, was nicht glatt durchgeht, so könnt Ihr nicht ganz einfältig dem Faden nachgehn, da sich denn das Knötchen gar leicht findet und auflöst, sondern Ihr macht große Zurü- 442 stungen und nehmt die verschiedenen Möglichkeiten auf, und da kommen denn statt des Rechten, welches Ihr überseht, so schöne Sachen heraus: erst viel unnütze Worte, und dann solche Meisterstücke von Klugheit wie der, daß Du doch am Ende herausbringst, ich würde wol die Lucinde gelesen haben und auch so frei sein, Dir meine Meinung darüber zu sagen. Nun, das werde ich auch sogleich, nur muß ich Dich erst über das Uebrige auslachen und belehren. Es war wirklich sehr künstlich, nicht zu finden, warum ich hier mit Niemand über das Buch rede, besonders da Du doch darauf kamst, es müsse ein leidlich ver11 £ Vgl. unten
168,3-178,24
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nünftiger Mensch sein. Laß D i r klagen, d a ß es wirklich über diesen P u n k t keinen hier giebt: M ä n n e r und Frauen sind gar erschreklich gemein, und erstere geberden sich noch dazu höchst r o h dabei. O b d e r literarische Parteigeist, der so entsezlich wüthet, sich auch ihrer bemächtiget | hat, da d o c h diese Dinge sie gar nichts angehn, weiß ich nicht; am 36 Ende ist aber wol zu der Blindheit, mit der sie geschlagen sind, u n d dem w u n d e r b a r e n Abscheu, der sich in r o h e Schimpfreden ergießt, G r u n d genug in ihrer eignen Verderbtheit, die eben wie die Gelbsucht allem ihre Farbe mittheilt. D e n k e Dir nur, d a ß die Frauen, u n d z w a r die, welche gern f ü r sehr frei und ein wenig ruchlos gehalten sein wollen, meinen, eine müsse sich vor der andern schämen, die Lucinde gelesen zu haben. Aus diesem P r ö b c h e n kannst D u denn auf das Uebrige schliessen. Was soll ich nun machen? Mich hinstellen u n d g r o ß e Reden halten? u n d wovon? W e n n ich ihnen das Geistige, E r h a b e n e u n d Sittliche auch Zeile f ü r Zeile zeigen wollte, sie sehen es nicht, weil das Sinnliche überall so nahe dabei steht, und diese chemische Vereinigung, wie D u es, glaube ich, genannt hast, thut auf die V e r k e h r t e n eine ganz verkehrte W i r k u n g , und es ist am Ende gar nicht einmal eine höfliche Lüge, sondern buchstäblich wahr, daß ich ihre Lucinde nicht gelesen habe. Lezthin kam einmal durch ein sehr ungeschiktes O h n g e f ä h r die Rede darauf. Es war in einer ansehnlichen Gesellschaft; die kleine M a - 443 thilde, die D u kennst, stand mit ih-|rer Arbeit im Fenster und es w a r 37 eben eine von den Pausen, die von Euch gewöhnlich sehr ungeschikt unterbrochen werden. H ö r e einmal, sagte ihr Bruder zu ihr, D u machst Dich doch da erstaunlich komisch. - Wie so? - N u n , weil D u so gewaltig unschuldig drein siehest, und D u weißt ja, d a ß das eine komische Situazion ist. Ei, sagte ich, um dem armen M ä d c h e n aus der Verlegenheit zu helfen, da müßen Sie doch ein sehr schlechtes Auge haben, denn seitdem Sie zurück sind, ist es ihr bei ihrem Verstände unmöglich gewesen, nicht die männliche und weibliche Verderbtheit kennen zu lernen, und davon nichts zu wissen ist doch die eigentliche Unschuld. Darauf entstand denn ein großer Streit über den Sinn der W o r t e ; aber von solcher Art, d a ß ich die gröbste Behandlung des zarten Gegenstandes erwarten mußte. Ich machte also der Sache ein Ende u n d sagte, ich wolle ihnen eine Unschuld zeigen, die sie gewiß d a f ü r erkennen würden, u n d die doch ein auch nach ihren Begriffen höchst ehrbarer Dichter als eine höchst komische Situation nehme. Ich ließ mir den Voßischen Alma-
26 f Vgl. F. Schlegel: „Es wäre ja grob mit einem reizenden Mädchen so zu reden, als ob sie ein geschlechtsloses Amphibion wäre. Es ist Pflicht und Schuldigkeit immer auf das anzuspielen, was sie ist und seyn wird; und so unzart, steif und schuldig, wie die Gesellschaft einmal besteht, ist es wirklich eine komische Situazion, ein unschuldiges Mädchen zu seyn." (Lucinde 116f; KA 5,34f) 29-31 Vgl. Gedanken IV, Nr. 10 (oben 134,10-12) 37f Anspielung ver-
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nach geben, und las ihnen daraus das schöne Liedchen, das Du weißt, wodurch sie denn etwas perplex wurden, und mir ersparten, die Fortsetzung des Ge-|sprächs ausdrüklich zu verbieten. Willst Du mir öfter sol- 38 che Veranlassungen wünschen, über diese Gegenstände zu reden? Deinen Leopold aber hätte ich zum Vertrauten meiner Lektüre und meiner Gedanken machen müssen, den indiskreten jungen Menschen, und der so entsezlich neu ist? Es wird ihm wirklich schwer, die Worte zu verstehen, die wir so reden, denn es muß Alles hübsch kathedermäßig sein, und mit dem Zirkel gemessen. Dabei liesse er sein Leben für Fichte's Ehetheorie, und über die hätte ich also zuerst mit ihm disputiren müssen; das ist nichts für mich, und kommt mir beinahe eben so arg vor, als die Andern mit ihrem Wesen. Dafür habe ich lieber Karolinen gefragt, ob sie das Buch nicht lesen wollte; das närrische Mädchen will aber 444 nicht, und will Dir seine Gründe selbst sagen, denn ich habe ihr gesagt, Du wünschtest sehr, daß wir es Alle lesen sollten. Ja, nun soll ich wol auf die Lucinde selbst kommen; wirds Dich aber nicht verdrießen, daß ich hier auch mit dem Widersprechen anfange? und zwar wird es gegen Dich eben so sehr als gegen das Buch gerichtet sein. Beinahe sollte es mir vorkommen, als wärst Du recht schlau ge-|wesen, und hättest mich auf die schöne Seite von dem auf- 39 merksam machen wollen, wogegen Du Einwendungen vermuthetest; wenigstens treffen die meinigen gerade Alles, was Du mir am meisten gelobt hast. Geht nicht die Liebe in dem Buche bei aller Vollständigkeit der Darstellung doch ein wenig gar zu sehr in sich selbst zurück? Ich
mutlich auf das Gedicht „Das unschuldige Mädchen", das Johann Heinrich Voß in dem von ihm herausgegebenen „Musenalmanach für 1800" (Neustrelitz 1800) veröffentlichte: „ Wie soll mans machen, / Um nicht zu lachen, / Wenn Robert freundlich naht, / Und bald ein artig Zeischen / Im Käfig, bald ein Sträußchen, / Bald was zu naschen hat?// Wir sitzen dränge, / Fast Wang'an Wange, / Im Eckchen, er und ich. / Gem lass' ich ihn besehen; / Doch störet er int Nähen, / So straft ein Nadelstich. // Die großen Töchter / Entstellt Gelächter! / So sagt die Mutter zwar: / Mit Zucht empfang'ihn künftig, / Und rede hübsch vernünftig; / Du bist schon vierzehn Jahr! // Ich will ja gerne! / Doch hör' ich ferne / Nur Roberts leichten Gang; / Dann hüpft in lauten Schlägen / Ihm schnell mein Herz entgegen, / Und lacht vor Freud' und Dank. // Die Mütter sorgen / Für Übermorgen: / Wir sehn nur Tag und Nacht. / Ich kenn' ihn seit der Fibel; / Und niemals nahm ers übel, / Wenn ich ihn angelacht. " (68f) Die spiegelbildliche Antwort läßt Voß im Gedicht „Der unschuldige Knabe" unmittelbar folgen: „Der Muthwill plagt mir die Dirne, / Sie hasple, oder sie zwime, /Sie strick', und näh'am Tuch! / Man wird noch gänzlich verblödet / Von all dem Tande! Sie redet / Ja nie gesezt und klug! //Man bring' ihr dieses und jenes, / Und sag' ihr allerlei schönes; / Nur Muthwill ist der Dank! / Wie anders dankte sie neulich, / Und gab die Hand mir so treulich, / Am Bach auf kühler Bank! // Ja hüpft' und spielte mit unter / Ihr Herz ein wenig zu munter! / Allein sie übertreibt! / Sie neckt beständig und wizelt, / Und lacht dazu, wie gekizelt; / Sie sticht sogar, und kneipt! // Ihr Lachen, meint sie, ihr Lachen / Soll gut die Posse mir machen, / Weils schön ist anzusehn! / Verbitten werd' ich mir sicher / Das kinderhafte Gekicher, / Und sei es noch so schön!" (70f) 9 £ Vgl. oben Anm. zu 136,4
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wollte sie ginge auch hinauswärts in die Welt und richtete da etwas tüchtiges aus. So einiges von dem Ritter sollte der Leichtfertige doch an sich haben. Mir ist es schon recht, daß etwas geschieht gegen die moralisch sein wollende Weichlichkeit, die die Liebe immer nur auf der Oberfläche spielen läßt, aber man muß nicht in eine andere Weichlichkeit gerathen, die eben so arg ist, daß man Alles in sich zehren läßt, weil man nichts damit zu machen weiß, oder es sich nicht getraut. Wenn Herkules das Symbol sein soll von der Männlichkeit, die wir anbeten, so ist wahrlich die Kraft, womit er die Weiblichkeit umfaßt, nicht Alles darin, sondern seine Thaten gehören nothwendigerweise auch dazu. Wer nicht das seinige verrichten kann in der Welt, der soll auch nicht lieben, und die Liebe soll Niemanden daran hindern, sondern noch Lust und Eifer verdoppeln. Deshalb sollte sie auch, | meine ich, nicht darge- 40 stellt werden, ohne diesen ihren Einfluß, und es ist mir eben so zuwider, als es unserm seligen Vater war, wenn von Glauben ohne die Werke geredet wurde. Das scheint mir nun in der Lucinde gar sehr zu fehlen, und darum finde ich die Liebe nicht vollständig dargestellt darinn, und vermisse die äußere Welt gar sehr, deren Abwesenheit Du so schön findest. Verstehe mich nur recht: ich will ja meinen Geliebten nicht auf 445 Abentheuer ausschicken gegen die Heiden oder die Ungeheuer; aber der liebende Mann soll Alles, was er vorher gethan hat, anders thun, und er soll auch vieles thun, was er vorher gar nicht gethan hat. Was steht denn davon in der Lucinde? Julius hat immer ein Bischen gezeichnet - ich kann es nicht anders nennen, weil man gar zu wenig bestimmtes davon erfährt - das macht er nun freilich anders und etwas besser, das ist mir aber lange nicht genug, es offenbart sich darin die Kraft einer so innigen und vollkommenen Liebe viel zu wenig. Was soll er denn aber machen, wirst Du sagen, er hat ja einen entschiedenen H a ß gegen alle bürgerlichen Verhältnisse? Nun, das ist es eben, was ich sage: diesen H a ß dürfte er gar nicht mehr haben, seitdem er die Liebe | gefunden 41 hat. Wenigstens nicht in einer solchen Welt, wo die bürgerlichen Einrichtungen die Frauen so sehr erdrücken, da muß derjenige, dem sich ein Weib ergeben hat, schon aus Selbstvertheidigung in das bürgerliche Leben hineingehn und da wirken. Sonst weiß ich recht gut, daß dies nicht die einzige Art der menschlichen Thätigkeit ist, und ich hätte mir die andere, nemlich die Kunst, auch recht gern gefallen lassen, nur muß es zu etwas ordentlichem kommen, und nicht so erstaunlich nebenher behandelt sein. Jeder Dichter soll freilich seine Freiheit haben, sich Grenzen zu stecken, wie er will, nur darf doch darüber geurtheilt wer-
2 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 42-54; KA 5,29 15 f Anspielung auf Jak 2,14
5,16-19 8 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 92f; KA 25 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 204-206; KA 5,56f
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den, ob diese Grenzen eine schöne Figur bilden, und ob sich das schiefe der Idee, die dabei zum Grunde gelegen hat, nicht darin zeigt. Mir scheint Liebe und Welt eben so unzertrennlich zu sein als Mensch und Welt im Leben und in der Darstellung, und wer sie in der lezten von einander scheiden will, versündigt sich. Verbunden hat man sie freilich bis jezt auch schlecht genug, und es ist lächerlich und widersinnig, wenn die alten romantischen Dichter aus Liebe und zur Verherrlichung der Liebe Heldenthaten verrichten lassen, die nicht in der geringsten Verbindung mit ihr stehen, aber es lag doch | die richtige Idee darin, daß die Liebe, wenn sie recht tief in den Menschen hineingegangen ist, auch wieder recht weit aus ihm herausgehen muß, und wer ihr das wehrt, der kommt mir vor, als schnürte er ihr den Hals zu, und liesse sie nach Luft schnappen, wie sie mir denn auch, wenn ich hieran denke, in der Lucinde hie und da asthmatisch genug vorkommt. Und was hier zu wenig ist, das scheint mir auf der andern Seite zu viel zu sein: die Lust an der Lust, das kann ich Dir nicht bergen, ist mir manchmal ein wenig gar zu laut; oder vielmehr etwas ungehörig, denn es ist nicht der Grad der Freude, was mir einen unangenehmen Eindruck macht, sondern ein eignes gewisses Etwas darin. Ich zweifle, daß mir in diesem Augenblick klare Worte zu Gebote stehen werden, um Dir zu beschreiben, was ich eigentlich meine; nimm nur mit etwas Verwirrung vorlieb, und bringe sie mir hübsch verständig und geduldig in Ordnung. D a ß Julius, dem der Genuß gar nichts Neues sein kann, eines solchen Genießens desselben, und einer so lebendigen Freude darüber fähig ist, das ist mir sehr viel werth. Die Bezauberung eines Neulings ist etwas sehr zweideutiges, und kann ziemlich gemeinen Ursprunges sein; darum kommt | es mir immer so abgeschmakt vor, daß auf die bewahrte Keuschheit in den meisten Romanen ein so großer Werth gelegt wird. - Dieser Enthusiasmus aber hat etwas sehr Schönes und Ehrwürdiges. Die Liebe in ihrem ganzen ungetheilten Wesen ist ihm neu, und dieser frische Reiz, dieses neue Leben verbreitet sich auch auf das, was ihm an und f ü r sich bekannt genug ist, und man fühlt hierin bestimmter, als es durch Worte hätte gesagt werden können, wie das Sinnliche durch seine innige Verwebung in das Geistige ganz neue Eigenschaften erhält, und über alle Gefahr des Abstumpfens und Veraltens hinausgehoben wird. In sofern also kann mir die Freude davon nicht laut genug sein; aber sie muß auch immer auf jenes Verschmelzen mit dem Geistigen bezogen werden, sobald ihr diese Begleitung fehlt, und sie allein dasteht, ist mir jeder T o n zu laut. Absicht soll nirgends sein in dem Genuß der süßen Gaben der Liebe, weder irgend eine sträfliche Nebenabsicht, noch die an sich unschuldige Menschen hervorzubringen - denn auch diese ist 41 unschuldige] Kj unschuldige,
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anmaßend, weil man es doch eigentlich nicht kann, und zugleich niedrig und frevelhaft, weil dadurch etwas in der Liebe auf etwas Fremdes bezogen wird. Eben so wenig | aber gefällt es mir, wenn die Lust als In- 44 stinkt erscheint, der nicht weiß, was er will, oder als Begierde, die auf die unmittelbare Empfindung gerichtet ist. Der Gott muß in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung, die sie in demselben Augenblicke gemeinschaftlich fühlen, und hernach auch wollen. Ich nehme in der Liebe keine Wollust an ohne diese Begeisterung und ohne das mystische, welches hieraus entsteht, und von dem, welches wir oft zusammen verachtet haben, gar sehr verschieden ist. Ist Dir das nicht deutlich genug, so lies nur die dithyrambische Fantasie, wo ich dies höchst anschaulich und unübertreflich schön finde, gerade weil hier die freiste Lust, bei der an gar keinen Aberglauben, oder irgend eine Statthalterschaft Gottes auf Erden zu denken ist, mit der geistigen Anschauung der Liebe so innig Eins ist, viel mehr als in Treue und Scherz, wo Beides eigentlich nur neben und um einander herum, nicht aber in einander ist. Dagegen leuchtet an andern Orten, nicht eben in großen Portionen, aber in einzelnen Stellen und Andeutungen so etwas hervor von einem Absondern und Zerlegen, welches im Gemüth vorgegangen ist, und dies ist eben, | was ich im Namen der Liebe 45 verbitten möchte. Nichts Göttliches kann ohne Entweihung in seine Elemente von Geist und Fleisch, Willkühr und N a t u r zerlegt werden. Darum sind es eben wahre und ächte Mysterien, weil die Personen nicht anders können, als sie so zerlegen und sie also niemals sehen, wie sie sind. Auch hat nirgends ein Profet gewagt, seinen Gemüthszustand so zu anatomiren, und der Unglaube in ihm und Andern wäre die natürliche Folge davon gewesen; so ist es mit den Profeten der Liebe auch. Denke nicht, daß mir das nur so unrecht vorkommt, weil ich eben 448 als Frau keinen Sinn habe f ü r die Abstraction; nein, ich habe alle Achtung dafür, aber ich habe auch als Frau einen sehr feinen T a k t dafür, mit Deiner Erlaubniß, wohin sie gehört. Meinetwegen mögt Ihr die Elemente der Liebe abgesondert betrachten, ich wünsche, daß recht viel Gutes dabei herauskommen möge; wenn Ihr nur wißt, daß Ihr alsdann spekulirt. Wollt Ihr aber dies Einzelne wieder darstellen, und den D a r Stellungen der Liebe einverleiben, so nimmt es sich allemal als etwas Fremdes unschiklich aus, und ich möchte fast wetten, daß es Allen an-
31 Deiner] deiner
31 Ihr] ihr
11 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 16-29; KA 5,10-13 15f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 94-119; KA 5,29-35 18 f Vgl. ζ. B. F. Schlegel: Lucinde 60-64; KA 5,20-22 29 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 20fΛ13; KA 5,11.34
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Vertraute
Briefe
stößig sein wird, die etwas d a v o n verstehen. U e b e r l e g e D i r das r e c h t u n d lies d e n n | d i e R e f l e x i o n ( d i e a u c h w o l d a r ü b e r r e f l e k t i r t , d a ß sie 46 n i c h t v e r s t a n d e n w e r d e n s o l l ) u n d s i e h D i r e i n i g e S t e l l e n in d e m e r s t e n B r i e f e m i t e t w a s m e h r A u g e a n , als I h r g e w ö h n l i c h z u ^ h u n p f l e g t , u n d 5 frage Dich unter andern, ob D u Dir unter den Wuthbeschreibungen d e r F a n t a s i e e t w a s a n d e r s d e n k e n k a n n s t , als s o l c h e Z e r l e g u n g e n u n d Z u s a m m e n s e t z u n g e n d a r a u s . F r e i l i c h ist e s s c h l i m m , d a ß g e r a d e d a s , was so an d e r äußersten G r e n z e des Sittlichen u n d S c h ö n e n n u r n o c h mit einem F u ß e darauf zu stehen scheint, so vorzüglich unbestimmt ge10 l a s s e n ist. I s t d a s e i n U e b e r m a a ß v o n U n s c h u l d , d i e n i c h t d a r a n d e n k t , d a ß es n o c h e i n e n U n t e r s c h i e d g e b e n m u ß z w i s c h e n d e r L i e b e ü b e r h a u p t u n d d e r Liebe d e s Julius, u n d d a ß m a n d e n e b e n wissen will, w e n n m a n m i t d e r L i e b e ü b e r h a u p t in R i c h t i g k e i t ist? M a n s o l l t e es denken, weil i m m e r von d e m erstaunlich objektiven dieser Liebe die 15 R e d e ist. E s k a n n a b e r a u c h e i n e g e w i s s e U n g e s c h i k l i c h k e i t s e i n , v o n d e r soliden Art, die m a n n i c h t mit b e k e n n t ; o d e r ein heimliches Bew u ß t s e i n , d a ß e r auf e i n e m f r e m d e n B o d e n s t e h t , w o m a n sich l i e b e r v e r s t e k t a l s z e i g t . G o t t w e i ß es, i c h m a g m i r d e n K o p f n i c h t d a m i t z e r b r e c h e n . W ä r e a b e r v o n d e r h o h e n E i n - | f a l t , d i e D u r ü h m s t , e t w a s w e n i - 47 20 g e r d a , u n d d a g e g e n E i n i g e s v o n d e r u m g e b e n d e n W e l t u n d d e r a n d e r w ä r t s e i n g e f ü h r t e n löblichen O r d n u n g , so k ö n n t e m a n sich e h e r h e l f e n . E s g i e b t n o c h M e h r e r e s , w o r i n e i n e g e w i s s e m o r a l i s c h e Z w e i d e u t i g k e i t 449 liegt, u n d w a s m a n a u s U n b e s t i m m t h e i t u n d M a n g e l d e s A e u ß e r e n nicht r e c h t a n s c h a u e n u n d fassen k a n n , z u m Beispiel die B e h a n d l u n g 25 f r ü h e r e r V e r h ä l t n i s s e u n d d i e I d e e d e s E n t s a g e n s i n d e m g ö t t l i c h e n D u e t t , d a s i c h i m m e r w i e d e r m i t E n t z ü c k e n l e s e . W u n d e r l i c h g e n u g ist es in d i e s e r R ü k s i c h t , d a ß S c h l e g e l s e i n e n J u l i u s z u m M a h l e r g e m a c h t hat, d e n n ein M a h l e r , d e r so g a r n i c h t ein U n d u l i s t sein k a n n , m u ß d o c h a u c h , w e n n er sich selbst m a h l t , e t w a s m e h r auf d i e C o n t o u r s h a l 30 t e n ; d a s Z e r l e g e n i n d e s s e n , w a s i c h e i g e n t l i c h m e i n e , ist a n d e r w ä r t s s e h r klar. W i e k a n n m a n , ich bitte D i c h , d e n Sinn f ü r die Lust o r d e n t l i c h klassifiziren, u n d eine T h e o r i e d a r ü b e r a u s s p i n n e n ! Ich verstehe nicht viel v o n T h e o r i e n , u n d g l a u b e g e r n , d a ß d i e s e e i n s c h ö n e s S t ü c k A r b e i t sein mag, n u r a n d e r s w o h i n g e h ö r i g : d e n n etwas v o n Julius an L u c i n d e n 35 g e s c h r i e b e n e s k a n n sie g e w i ß n i c h t s e i n . D a r ü b e r i s t w o h l w e i t e r n i c h t s z u s a g e n n ö t h i g , m a n b r a u c h t n u r d i e s c h ö n e Z e i l e | S. 6 0 . z u l e s e n , d i e 48
2
Vgl.
F.Schlegel:
Lucinde
262-269;
KA
5,72f
if
Vgl.
F.Schlegel:
Lucinde
222-248;
KA 5,61-68 5 f Vgl. F. Schlegel: „Köstlich ist aber deine schöne Eifersucht auf meine Fantasie und ihre Wuthbeschreibungen." (Lucinde 234; KA 5,64) 1 4 £ Vgl. F.Schlegel: Lucinde 76; KA 5,24f 2 4 f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 291f; KA 5,79f 2 5 f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 286-293; KA 5,78-80 31 f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 60-70; KA 5,20-23
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ich noch nie ohne Lachen gelesen habe: „Bei diesen aber ist schon ein großer Unterschied zu machen"; ich wenigstens sehe mich dann gleich zu einer akademischen Vorlesung eingeladen, ganz sittig auf dem Stuhle sitzen und zuhören. Auch die Zweideutigkeiten scheinen mir eine gewaltsam herbeigezwängte und verfehlte Theorie zu sein, die keine kleine Beleidigung gegen die Liebe in sich faßt. So sieht mir die ganze Vertheidigung derselben aus, und auch fast alle, welche Beispielsweise vorkommen, denn von Herzen geht eigentlich keine einzige. U m Dir ein Pröbchen zu geben, daß ich mein Lesen nicht umsonst treibe, und nachgerade lerne einer Sache auf die Spur zu kommen, will ich Dir haarklein demonstriren, wie es damit zugegangen ist. Wenn man an die Allgemeinheit des Scherzes glaubt, und zu Allem die Ironie sucht, so entsteht freilich die Aufgabe, auch Scherz über die Liebe zu finden und zwar von und f ü r die Liebenden selbst. Auf der andern Seite sind die „Elemente der Leidenschaft" einmal da, und mit denen kann man nichts anders machen als sie zu Scherz verarbeiten: ist deshalb der Scherz mit 450 der Liebe, und der Scherz „mit den Elementen der Leiden-|schaft" ei- 49 nerlei? Meinem Gefühle will das nicht eingehn. Ich glaube wol, daß ein Mann seiner Geliebten Zweideutigkeiten sagen darf, und daß sie sie anhören wird, wenn sie witzig sind; aber er behandelt sie dabei doch nicht als Geliebte, sondern als eine Person, von deren Geschlecht er nach Belieben abstrahiren und sich auch wieder daran wenden kann. Auch wird er sie eigentlich nicht an sie richten, sondern sie ihr nur erzählen. So scheint mirs, indeß ist mir weder der Scherz mit der Liebe, noch die Zweideutigkeit oft genug vorgekommen, und ich wollte wol, daß Du mir über Beides gelegentlich etwas gründliches sagtest. Ich habe Dir f ü r heute, dächt' ich, genug gesagt; da kommt auch Karoline mit ihrem Briefchen, und ich will nur zusiegeln.
Damit Du doch weißt, worauf sich Ernestine am Anfang dieses 30 Briefes bezieht, und auch sonst besser verstehst, warum von Manchem gar nicht erst die Rede ist zwischen uns, so lege ich Dir den kleinen
17 „mit den Elementen] mit den „Elementen
l f F.Schlegel: KA 5,21 4 - 7 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 114-117; KA 5,34/ 15 F. Schlegel: Lucinde 117; KA 5,35. Statt Elemente Q : Elementen 17 F. Schlegel: Lucinde 117; KA 5,35 31 f Schleiermacher hat in den folgenden „ Versuch über die Schaamhafiig-
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A u f s a t z bei, an den sie mich erinnert hat. D u wirst ihm ansehen, daß er alt | ist, und ihm in dieser Rüksicht Manches verzeihen. 50
Versuch über die
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Schaamhaftigkeit.
Das Uebelste ist, daß schon vorläufig die Frage entsteht, ob es nicht sogar schaamlos sei, von der Schaamhaftigkeit zu reden, oder was Jemand darüber sagt anzuhören. So wunderbar diese Frage klingt, so entsteht sie in der T h a t ganz natürlich: denn einem Jeden wird sein G e fühl sagen, daß es bei der Schaamhaftigkeit darauf ankomme, gewisse Vorstellungen, diejenigen nemlich, welche sich auf die Mysterien der Liebe beziehen, entweder gar nicht zu haben oder wenigstens nicht mitzutheilen, und dadurch in Andern zu erregen - denn welches von Beiden die Hauptsache sei, können wir vor der H a n d noch unentschieden 4SI lassen, und man kann doch o f f e n b a r von dieser T u g e n d nicht reden, ohne auf ihren Inhalt hinzudeuten, und dies wiederum nicht ohne die | Vorstellungen selbst, welche darunter gehören und vermieden werden 51 sollen, in sich und andern auf gewisse Weise wenigstens anzuregen. Auf der andern Seite wäre dieses V e r b o t widersinnig und abgeschmackt, weil dies alsdann die einzige T u g e n d wäre, welche aus Mangel an L u f t ersticken und deshalb untergehen müßte, weil man ihrer edlen Flamme keinen Nahrungsstoff darreicht. Unter allen scheint auf den ersten A n blick diese T u g e n d am wenigsten dazu gemacht, von selbst zu gedeihen, weil diese Vorstellungen dem Menschen auf mehrere Weise sehr nahe liegen, und es ihm so natürlich ist, zu äußern, was in ihm vorgeht, daß eine ausgebreitete und traurige E r f a h r u n g dazu gehört, ehe er sich selbst das Gesetz macht, schon die Gedanken als die entferntere Gelegenheitsursache der Sünde zu vermeiden, weshalb auch die Fehler gegen die Schaamhaftigkeit, wenn sie dem Mangel dieser E r f a h r u n g und der Belehrung, welche sie ersetzen kann, zugeschrieben werden müssen, selbst wiederum zu einer sehr beliebten T u g e n d gehören. Dies ist, beiläufig gesagt, ein anderer schwieriger Punkt, der die Untersuchung sehr
keit" vermutlich auch 1798 entstandene Überlegungen zu einem Essay über die Scham eingearbeitet. 3-5 Vgl. Gedanken IV, Nr. 6 (oben 132,13-133,2)
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v e r w i c k e l t m a c h t . E b e n s o w e n i g ist d a s Beispiel allein h i n r e i c h e n d , d i e M e n s c h e n z u dieser T u g e n d a n z u f ü h r e n . Es | k a n n überall f ü r sich s e l b s t n i c h t viel a u s r i c h t e n . D e n n d a j e d e H a n d l u n g s e h r z u s a m m e n g e s e z t ist, s o m u ß m a n d o c h e r s t w i s s e n , w o r a u f m a n i n d e m v o r g e s t e l l t e n Beispiel z u sehen, u n d w o v o n m a n z u a b s t r a h i r e n h a t , u n d d e r Begrif d e r T u g e n d , w o r a u f es s i c h b e z i e h e n soll, m u ß a l s o s c h o n v o r h e r g e g e b e n s e i n , a m w e n i g s t e n a b e r ist es b e i e i n e r s o g a n z n e g a t i v e n T u g e n d m ö g l i c h , w o b e i es u r s p r ü n g l i c h g a r n i c h t s z u s e h e n g i e b t . B e l e h r u n g ü b e r d i e S c h a a m h a f t i g k e i t ist d a h e r u n u m g ä n g l i c h n o t h w e n d i g , w e n n es S c h a a m h a f t i g k e i t ü b e r h a u p t g e b e n s o l l - u n d e s w ü r d e g e w i ß m e h r wahre u n d weniger falsche geben, w e n n m a n das nicht aus Mißverstand u n t e r l i e s s e . - S o l l t e s i c h f i n d e n , d a ß d i e S c h a a m h a f t i g k e i t n i c h t s ist, s o w e r d e n w i r a u c h n i c h t g e g e n sie g e h a n d e l t h a b e n , u n d s o l l t e d e r B e g r i f , d e r sich a m E n d e f i n d e t , die A r t wie die U n t e r s u c h u n g g e f ü h r t w o r d e n ist t a d e l n , s o ist d i e s e i n e S ü n d e , d i e w i r e i n f ü r a l l e M a l e z u m B e s t e n der g a n z e n W e l t begehen, u n d die uns deshalb verziehen w e r d e n m u ß . E s ist a l s o h i e r ü b e r w e i t e r n i c h t s v o r z u r e d e n u n d d i e U n t e r s u c h u n g k a n n a n g e h n . V i e l l e i c h t ist es a m b e s t e n , sie b e i d i e s e m W i d e r s p r u c h a n z u f a n g e n , d e r d o c h e i n m a l g e k o m m e n ist, u n d e i n R e c h t h a t , z u e t w a s g e b r a u c h t z u w e r d e n ; es m u ß w e - | n i g s t e n s m ö g l i c h s e i n , a u c h v o n hieraus d e r Sache a u f s klare zu k o m m e n . Soviel g e h t d a r a u s h e r v o r , d a ß es a u f e i n e g e w i s s e A r t e r l a u b t sein m u ß , d i e V o r s t e l l u n g e n , w e l c h e die S c h a a m h a f t i g k e i t ächtet, zu haben, u n d d a ß also das V e r m e i d e n n u r in e i n e m b e s c h r ä n k t e n S i n n e z u v e r s t e h e n ist. D i e s e g r o ß e W a h r h e i t hätten wir freilich a u c h auf einem a n d e r n W e g e f i n d e n k ö n n e n , w e n n wir z u m Beispiel d a r a n g e d a c h t hätten, d a ß die M y s t e r i e n d e r Liebe d o c h g e w i s s e r m a ß e n i n s B e w u ß t s e i n k o m m e n m ü s s e n , w e n n sie a u s g e ü b t w e r d e n , u n d d a ß d i e s e s g e w i s s e r m a ß e n n o t h w e n d i g ist, w ä r e e s auch n u r u m d e r S c h a a m h a f t i g k e i t selbst willen - welches hier unstreit i g d e r b e s t e B e w e i s ist - d e r es j a s o n s t b a l d g e n u g a n d e n S u b j e k t e n u n d mit diesen auch an den O b j e k t e n fehlen w ü r d e . I n d e ß wir h a b e n sie n u n e i n m a l a u f d i e s e m W e g e g e f u n d e n , d e r f ü r e i n e U n t e r s u c h u n g w i e d i e u n s r i g e viel m e t h o d i s c h e r ist, u n d w o l l e n n u n d a r a u f f o r t g e h n . W e n n es a l s o e t w a s e r l a u b t e s h i e r i n g i e b t , s o k o m m t e s d a r a u f a n , d i e Grenzlinie zwischen diesem und dem Verbotenen zu finden. Hiebei fällt m a n natürlich d a r a u f , eine gewisse A n a l o g i e zu suchen z w i s c h e n d e r S c h a a m h a f t i g k e i t u n d d e m , w a s m a n in e i n e m w e i t e r e n S i n n e d e s | W o r t e s S c h a a m z u n e n n e n p f l e g t : d e n n d i e V e r w a n d t s c h a f t ist u n l ä u g bar, m a n s e h e n u n auf die B e s c h a f f e n h e i t d e s G e f ü h l s o d e r auf d e n allg e m e i n e n S p r a c h g e b r a u c h . S c h a a m , ich r e d e n u n v o n d i e s e m w e i t e r e n S i n n e , ist d a s G e f ü h l d e s U n w i l l e n s d a r ü b e r , d a ß e t w a s i m G e m ü t h v o r g e g a n g e n ist, es sei n u n d i e s e s E t w a s s e i n e m W e s e n n a c h v e r d a m m l i c h o d e r n u r s e i n e r B e s c h a f f e n h e i t n a c h , d e n n sie b e z i e h t s i c h n i c h t n u r a u f
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das Böse, sondern auch auf das Unvollkommene. Worauf hiebei der Unwille eigentlich gerichtet ist, sieht man sehr leicht, wenn man die Schaam mit der Reue vergleicht. W o jene ist, kann diese auch sein; aber jene ist etwas höheres. Die Reue nemlich bleibt bei der Wirklichkeit dessen stehen, was geschehen ist, und sieht also auf den Zusammenhang und auf die Folgen; bei Einigen auf die äußeren, bei Andern auf die innern, welche das Gewissen hervorbringt. Die Schaam hingegen schließt nur von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit, und der Unwille geht darauf, daß es möglich war so zu handeln oder so zu denken, und daß im Gemüth ein Princip war, woraus dies hervorgehen konnte, oder eins fehlte, wodurch es hätte verhindert werden müssen. Daher ist die Schaam auch nie auf die bloße Vorstel-|lung gerichtet; ich kann mir Al- 55 les Böse und Verächtliche, dessen ich mich schämen würde, denken und hin und her darüber reden, ohne mich im geringsten zu schämen. Ist dies nun bei der Schaamhaftigkeit eben so, und ist sie nur eine Anwendung jener Empfindungsart auf den angegebenen Gegenstand? Dies ist keinesweges der Fall, und so scheint jene Analogie, so nahe sie auch lag, zu gar nichts zu führen. Zuerst ist dabei schon gar nicht von einer Unvollkommenheit die Rede, sondern was die Schaamhaftigkeit verdämmt, das verdammt sie nur um desto härter, je vollständiger es da ist. Dann unterscheidet sie auch gar nicht so, daß vorzustellen und zur Reflexion sich geben zu lassen erlaubt wäre, was zu thun oder ursprünglich selbst zu denken verboten ist. Eines Theils haben wir vorher schon zufällig gesehn, daß das Handeln mit den Objekten der Schaamhaftigkeit nicht ganz verboten werden kann; und wenn andern Theils Einige behaupten möchten, das Verbot gehe eigentlich auf das Vorstellen und Mittheilen der Vorstellung, und es in dieser Rüksicht f ü r eine erhabene und preiswürdige Aufgabe halten, sich auch beim Handeln des Vorstel- 454 lens und des begleitenden Bewußtseins der Gegenstände gänzlich zu entschlagen, so kann man | ihnen diesen tugendhaften Wunsch wol ver- 56 gönnen; aber es steht ihnen doch entgegen, daß das Vorstellen ebenfalls nicht ganz untersagt werden kann, weil dies den Untergang mehrerer höchst nothwendiger Künste und Wissenschaften nach sich ziehen und die Existenz der Menschen auf eine andere Weise eben so sehr in Gefahr bringen würde, besonders in diesen verderbten Zeiten, als das Verbot des Handelns. Das Verbot kann also hier gar nicht darauf gehn, daß kein Princip vorhanden sein sollte, um diese Vorstellungen, auf welche Art es auch sei, hervorzubringen, und das Gefühl kann nicht ein Unwille sein über das Dasein dieses Princips; worin demnach die Schaamhaftigkeit von der Schaam gänzlich abweicht. Sie geht also nur, und zwar bedingterweise auf das wirkliche Vorkommen dieser Vorstellungen, und es fragt sich nur, welches diese Bedingung ist. In zweierlei kann sie nur gesucht werden, in einer innern Beschaffenheit derselben,
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welche schlechthin vermieden werden müßte, oder in einem gewissen äußern Zusammenhange, worin sie schlechthin vermieden werden m ü ß ten, oder in einer gewissen Begrenzung dieser beiden Sphären durch einander. D a s erste versagt sich wieder, denn es giebt von der leisesten Andeutung bis zur genauesten Aus-|führlichkeit, und von der kältesten 57 Betrachtung bis zur lebhaftesten E m p f i n d u n g nichts, was sich nicht dem bloßen Gefühl, (welches man doch allein fragen muß, wenn das Raisonnement erst festgestellt werden soll) bisweilen als der Schaamhaftigkeit widerstreitend, und bisweilen als ihr nicht widerstreitend, ankündigte. Eben so geht es natürlicherweise mit dem zweiten, denn es giebt wol kein Verhältniß vom einsamen Gespräch mit dem unschuldigsten Jüngling oder M ä d c h e n bis zur lautesten und vermischtesten G e sellschaft, v o m Schlafgemach bis zur Kanzel, von der nachdenklichsten bis zur leidenschaftlichsten Stimmung, worin nicht irgend etwas aus diesem Gebiet erlaubt sein sollte. A b e r auch anderes unschaamhaft, und 455 so bleibt das dritte das Einzige, was wir versuchen müssen. Die M o mente, w o r a u f es ankommt, werde ich w o l vorläufig schon berührt haben: denn da wir noch nicht wissen, ob mit der Schaamhaftigkeit mehr das Nichthaben, als das Nichtmittheilen gemeint ist, so müssen wir bei der Gesellschaft anfangen, w o beides verbunden ist, und da kann nur die Beschaffenheit der Menschen und ihre Stimmung in Betracht g e z o gen werden. Die erste am Ende auch nur um der lezten willen, und hier liegt also der große | Knoten, der gelöst werden soll, es soll vermieden 58 werden irgend eine W i r k u n g auf die Stimmung und den G e m ü t h s z u stand der Menschen. Es ist nun g a n z und gar keine K u n s t mehr zu sehen, w o r a u f es hinauswill: diese Vorstellungen nemlich hängen gar zu genau mit einem Triebe zusammen, dessen A l l g e w a l t von den ältesten Zeiten an vergöttert worden ist, und die Besorgniß ist diese, daß es den Menschen nicht möglich sein möchte, w o auch diese Vorstellungen in Anregung gebracht werden, dem U e b e r g a n g auszuweichen, der sie von da zum Begehren führt, und daß also ihrem logischen oder praktischen Zustande auf einmal ein Ende gemacht werden, und sie dagegen in den der Begierde hineingerathen möchten. D a ß es das sein müßte, habe ich freilich schon lange gesehen, und ich hätte es durch Divination im ersten Augenblick aussprechen können, wenn ich nicht auf dem sicheren W e g e durch die Nothwendigkeit der Untersuchung hätte hinkommen wollen. W i e ich aber leider sehe, habe ich diesen V o r s a t z doch nicht g a n z vollkommen ausgeführt, und mich auch nun durch einen nur etwas kürzeren Sprung auf den rechten Fleck gestellt. W i e mag das z u g e gangen sein? sollte es etwa gar zu schwer gewesen sein, ohne ein sol-
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ches Hülfsmit-|tel dahin zu gelangen? Diese Frage kann ic!h nur zu meiner Rechtfertigung beantworten, indem ich eine andere in Anregung bringe, die mir schon lange heimlich zu schaffen gemacht hat. Es ist doch, man nehme es nun, wie man will, eine ganz sonderbare und einzige Sache, und widerstreitet allen gesunden Begriffen, daß eine T u gend in den Grenzen einer gewissen beschränkten Materie des H a n delns, eines bestimmten Objekts eingeschlossen sein soll, und dies ist bei der Schaamhaftigkeit der Fall. Was den Namen betrift, so ist die Sache häufig. Die Wohlthätigkeit, in dem Sinne, den der Sprachgebrauch fest stellt, geht auch auf ein bestimmtes Objekt, auf die Mittheilung der äußeren Güter, aber wenn man nun sieht, wodurch und auf welche Art denn eigentlich gefehlt wird, wenn man nicht wohlthätig ist, so sieht jeder, daß er durch jede Vernachläßigung fremden Wohlergehens aus Gefühllosigkeit und Eigennuz auch außer dem Gebiet des Eigenthums auf gleiche Weise fehlt. N u r von der Schaamhaftigkeit ist außerhalb des Stoffes, worauf sie sich bezieht, nichts Aehnliches anzutreffen. So ist es freilich kein Wunder, wenn eine rechtliche Untersuchung ohne eine kleine Nachhülfe den rechten Punkt nicht trift; dies ist nicht mög-|lich, wenn er nicht unter ein größeres Gebiet und eine noch mehr unter sich begreifende allgemeine Formel gehört, und aus dieser durch die gehörige Eintheilung gefunden werden kann. Ich wäre also gerechtfertigt, aber die Schaamhaftigkeit nicht: denn es ist und bleibt einmal unerlaubt so allein zu stehn, wenn man eine wirkliche Tugend sein will. Dasjenige, worauf sie dringt, ist eigentlich Achtung für den Gemüthszustand eines Andern, die uns hindern soll, ihn nicht gleichsam gewaltsamerweise zu unterbrechen; sollte es denn auf anderm Gebiet nicht auch ähnliche ungebührliche Eingriffe in die Freiheit geben? Es wäre doch sehr wunderbar und herabsetzend, wenn man sagen wollte, Alles übrige, was man appliciren kann, um einen Menschen aus einem Zustande in einen andern zu bewegen, sei nur ein Reiz, und es hänge von ihm ab, in wiefern er ihm folgen wolle oder nicht; dieses aber sei eine Naturnothwendigkeit! Dennoch scheint diese Ansicht Schuld daran zu sein, daß man so wenig Sinn hat f ü r die Analoga der Schaamhaftigkeit. Ein Scherz von irgend einer andern Art zur Unrechten Zeit angebracht, ein schneidender Witz mitten in eine ernsthafte Untersuchung, ein Keim zu irgend einer andern Leidenschaft in den stillen Fluß einer | ruhigen Stimmung hineingeworfen, scheint mir eben so ungebührlich zu sein und dasselbe Gefühl erregen zu müssen. N u r ein M e h r und Weniger kann dazwischen Statt finden, und die allgemeine Aufgäbe der Schaamhaftigkeit bleibt also, jeden Menschen, in jeder Stimmung die einem eigen oder mehreren gemeinschaftlich ist, kennen zu lernen, um zu wissen, wo seine Freiheit am unbefestigtsten und verwundbarsten ist, um sie dort zu schonen. Aber soll denn der Zustand ei-
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n e s M e n s c h e n , e r sei n u n d e n k e n d o d e r h a n d e l n d o d e r e m p f i n d e n d , d a d o c h diese F u n k t i o n e n mit e i n a n d e r abwechseln müssen, nicht eben so g u t d u r c h e i n e ä u ß e r e A n r e g u n g als u n m i t t e l b a r v o n i n n e n h e r in e i n e n a n d e r n ü b e r g e h e n k ö n n e n ? S o s c h e i n t es, u n d es k a n n a l s o a u c h n i c h t d e r U e b e r g a n g sein, w a s v e r w e r f l i c h ist, s o n d e r n d i e U n t e r b r e c h u n g , d i e n u r d u r c h d i e E i n w i l l i g u n g d e s a n d e r n , i n d e m e r sie m i t F r e i h e i t a n n i m m t u n d o h n e eigne M i ß b i l l i g u n g f o r t s e z t , ein U e b e r g a n g w e r d e n k a n n . W e n n i c h e i n e m B e t r ü b t e n m i t t e n in d e m L a u f s e i n e s S c h m e r z e s e i n e l u s t i g e G e s c h i c h t e e r z ä h l e , s o b i n ich n i c h t z u t a d e l n , w e n n ich i h n d a d u r c h w i r k l i c h in e i n e f r ö h l i c h e S t i m m u n g v e r s e t z e ; n u r w e n n i c h m i c h v e r r e c h n e t hatte, u n d m e i n e B e m ü h u n g f e h l s c h l ä g t , bin ich | s c h a a m l o s g e w e s e n . H i e r , w i e ü b e r a l l , w o es a u f d e n U m g a n g m i t M e n - 62 s e h e n a n k o m m t , g i e b t es z w e i A r t e n , w i e m a n sie b e h a n d e l n k a n n , n a c h allgemeinen Voraussetzungen o d e r nach einer besondern und sichern K e n n t n i ß v o n j e d e m Einzelnen. D a s erste z i e m t n u r d e n e n , welche sich a u f i h r e i g e n e s U r t h e i l n i c h t v e r l a s s e n k ö n n e n ; d a s l e z t e r e ist f r e i e r , z i e m t a b e r a u c h n u r F r e i e n , u n d m a n m u ß sich d a z u j e d e s m a l a u f s n e u e d u r c h die T h a t selbst legitimiren. Ein allgemeiner u n d h ö h e r e r Begrif ist a l s o f e s t g e s t e l l t u n d d a d u r c h d e r S c h a a m h a f t i g k e i t i h r A n s p r u c h a u f den N a m e n einer T u g e n d gesichert, u n d ihr C h a r a k t e r vorläufig bestimmt; n u n k ö n n e n wir zu demjenigen Theile ihres Gebietes z u r ü c k k e h r e n , w o sie a l l g e m e i n a n e r k a n n t ist. Z u e r s t ist s c h o n g e w i ß , d a ß w e - 458 n i g e r d a s N i c h t h a b e n , als d a s N i c h t m i t t h e i l e n g e w i s s e r I d e e n g e m e i n t ist; d e n n a u f j e n e s l ä ß t sich d e r e i g e n t l i c h e B e g r i f d e s U n s i t t l i c h e n in d e r Schaamlosigkeit nicht a n w e n d e n . M a n k a n n nicht sagen, d a ß ein M e n s c h E i n g r i f f e in s e i n e e i g n e F r e i h e i t t h u t , u n d w e n n J e m a n d n i c h t d i e K r a f t h a t , sich in e i n e m g e w i s s e n Z u s t a n d e z u e r h a l t e n , s o n d e r n in j e d e m A u g e n b l i c k in G e f a h r s t e h t , d u r c h e i n e h e r r s c h e n d e I d e e n v e r b i n d u n g h e r a u s g e w o r f e n z u w e r d e n , s o ist d a s | f r e i l i c h e i n g r o ß e s U e b e l , 63 a b e r nicht s c h a a m l o s . N u r w e n n ein M e n s c h e i n m a l f ü r diese N i e d r i g k e i t b e k a n n t ist o d e r d e n A u s d r u c k d e r s e l b e n ü b e r a l l in s i c h t r ä g t , k a n n er, o h n e sich absichtlich z u ä u ß e r n , d u r c h seine b l o ß e E x i s t e n z a n s t ö ß i g werden, und den Eindruck der verlezten Schaamhaftigkeit hervorbring e n , u n d d e r g l e i c h e n g i e b t es, u n d n i c h t u n t e r d e n S c h l e c h t e s t e n . N ä c h s t d e m scheint man mir aber auch von dieser Schaamhaftigkeit eine g u t e H ä l f t e z u ü b e r s e h e n , weil m a n sich zu d e m r e c h t e n Begrif n i c h t e r h e b t . E s ist s e h r e i n s e i t i g , w e n n m a n n u r d a s v e r d a m m e n will, w e n n der Z u s t a n d des D e n k e n s o d e r der R u h e ü b e r h a u p t d u r c h einen R e i z auf die Sinnlichkeit u n d d a s B e g e h r e n u n t e r b r o c h e n w i r d : d e r Z u stand des G e n u s s e s u n d d e r h e r r s c h e n d e n Sinnlichkeit h a t a u c h sein H e i l i g e s u n d f o r d e r t g l e i c h e A c h t u n g , u n d es m u ß e b e n f a l l s s c h a a m l o s sein, i h n g e w a l t s a m z u u n t e r b r e c h e n . D i e s g e h ö r t a u c h g a n z h i e h e r : d e n n es g e s c h i e h t d u r c h d i e s e l b i g e n V o r s t e l l u n g e n , d i e i h n , w e n n m a n
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sie v o n e i n e r a n d e r n S e i t e i n s A u g e f a ß t , o f t z u r U n r e c h t e n Z e i t h e r b e i f ü h r e n . V o n dieser L ü c k e aus läßt sich vielleicht das hellste Licht ü b e r d i e g a n z e S a c h e v e r b r e i t e n , w e n n m a n sie r e c h t a u f d e k t . J e d e V o r s t e l l u n g l ä ß t e i n e d r e i - | f a c h e B e z i e h u n g z u , w e n n sie v o r d a s B e w u ß t s e i n g e b r a c h t w i r d : sie k a n n z u r E r k e n n t n i ß e i n e s G e g e n s t a n d e s v e r a r b e i t e t w e r d e n , d i e F a n t a s i e k a n n sie in B e z i e h u n g a u f d i e I d e e d e s S c h ö n e n b r i n g e n , u n d sie k a n n als R e i z a n d a s B e g e h r u n g s v e r m ö g e n g e b r a c h t w e r d e n . D i e Vorstellungen, w e l c h e O b j e k t e d e r S c h a a m h a f t i g k e i t sind, s i n d in a l l e n d i e s e n B e z i e h u n g e n g l e i c h f r u c h t b a r , a b e r a u c h g a n z v o r z ü g l i c h a u s e i n e r in d i e a n d e r e b e w e g l i c h . I n d e s s e n ist es d o c h m ö g l i c h , sie in j e d e r a l s d a s f e s t z u h a l t e n , w a s sie s i n d , u n d es ist k l a r , d a ß sie a l s d a n n in d e n Z u s t a n d g e h ö r e n , d e r i h n e n a n a l o g ist, u n d in d i e s e m w i e jeder andere einzelne Gegenstand v o r k o m m e n können, und daß jede n u r in d e m e n t g e g e n g e s e z t e n e t w a s f r e m d a r t i g e s , u n d d e r S c h a a m h a f t i g k e i t z u w i d e r ist. E n t g e g e n g e s e z t s i n d s i c h a b e r n u r d e r e r s t e u n d lezte; die B e z i e h u n g auf d a s S c h ö n e liegt in d e r M i t t e z w i s c h e n Beiden, u n d in d i e s e r B e z i e h u n g g e n o m m e n m u ß A l l e s , w a s z u r L i e b e u n d i h r e n Geheimnissen gehört, überall v o r k o m m e n k ö n n e n , was nemlich die Schaamhaftigkeit betrift. D e n n eine solche Darstellung läßt das G e m ü t h , w e n n es s i c h a n d e r A n s c h a u u n g d e s S c h ö n e n g e s ä t t i g e t h a t , g a n z f r e i u n d e n t h ä l t in s i c h | n i c h t d e n g e r i n g s t e n b e s t i m m t e n R e i z z u m U e b e r g a n g e w e d e r in e i n e n w i d r i g e n B e g r i f n o c h in e i n l e i d e n s c h a f t l i c h e s V e r l a n g e n ; u n d w o e i n s v o n b e i d e n z u r U n z e i t g e s c h i e h t , ist es e i n l e diglich g e n o m m e n e s A e r g e r n i ß , d a s b l o ß in e i n e r h e r r s c h e n d e n Stimm u n g d e s A n s c h a u e n d e n s e i n e n G r u n d h a b e n k a n n . W i e k o m m t es, d a ß d i e g e m e i n e M e i n u n g d i e s n i c h t a n e r k e n n e n w i l l ? D a ß sie ü b e r h a u p t e i n s e i t i g ist, u n d v o n d i e s e r E i n s e i t i g k e i t n i c h t s w e i ß , u n d a l s o i h r e i g e n e s P r i n c i p n i c h t k e n n t , ist w o h l w a h r u n d k l a r g e n u g ; a b e r es k a n n d i e s e n M i ß g r i f n i c h t e r k l ä r e n . W e n n sie a u c h n u r d a r a u f b e r e c h n e t ist, daß das trokne Leben und Geschäftführen, u n d das dazu so eben unumgänglich nöthige D e n k e n das einzige nothwendige u n d heilsame s e i n , u n d a l l e s ü b r i g e n u r als m e h r o d e r w e n i g e r u n e n t b e h r l i c h e s M i t t e l , unvermeidliches Uebel oder verwerfliche Abweichung betrachtet werd e n soll; s o f o l g t freilich, d a ß v o n d e m Z u s t a n d e d e r L e i d e n s c h a f t u n d des G e n u s s e s g a r n i c h t die R e d e sein, u n d d a ß er w e n i g s t e n s niemals das Bessere u n d E r n s t h a f t e r e u n t e r b r e c h e n soll; d a ß also aus d e n U n t e r h a l t u n g e n ü b e r das L e b e n jede A n d e u t u n g v e r b a n n t sein m u ß , mit d e r es d a r a u f a n g e s e h e n ist, d a s V e r l a n g e n z u w e c k e n : a b e r | f o l g t a u c h , d a ß n u r die trockensten Vorstellungen von den Geheimnissen der Liebe eben wie andere natürliche D i n g e mit der nöthigen Vorsicht und am
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r e c h t e n O r t e g e l e g e n t l i c h als G e g e n s t ä n d e d e r U n t e r s u c h u n g u n d d e r Belehrung v o r k o m m e n dürfen? folgt auch, d a ß das Schöne mit seinem l i e b s t e n G e g e n s t a n d e sich, w e n n d i e g e s e l l i g e U n t e r h a l t u n g a n g e h t , e n t fernen m u ß , wie die englischen Frauen, w e n n d e r W e i n aufgesezt wird? 5 u n d d a ß es n i c h t s a n d e r s w i r k e n k a n n , als e i n e n A n f a l l v o n L e i d e n s c h a f t ? D i e s l i e g t n i c h t a n d e r E i n s e i t i g k e i t , s o n d e r n e s l i e g t in d e r A b s c h e u l i c h k e i t d e r g e m e i n e n D e n k a r t . A m b e s t e n sieht m a n dies, w e n n m a n die a n d e r e Seite d e r S c h a a m h a f t i g k e i t b e t r a c h t e t , u n d sieht, w i e d i e j e n i g e n es h a l t e n , d i e d i e s e r f ä h i g s i n d . S e t z e n w i r a l s o d e n Z u s t a n d 10 d e s i n n e r n L e b e n s , d e r L i e b e u n d d e s B e w u ß t s e i n s d a v o n a l s h e r r s c h e n d , s o f o l g t z u e r s t , d a ß in d i e s e m e b e n j e n e t r o k n e n o b j e k t i v e n V o r s t e l l u n g e n s c h a a m l o s s e i n m ü s s e n . D e n n sie b e z i e h n s i c h a u f d a s animalische Leben, auf das g a n z e System desselben v o m zartesten u n d w u n d e r b a r s t e n b i s in d a s g r ö b s t e u n d u n l i e b e n s w ü r d i g s t e , u n d v o r d i e 15 s e r p h y s i o l o g i s c h e n A n s i c h t z i e h t s i c h d i e L i e b e s c h e u z u r ü c k , u n d k a n n n i c h t b e s t e h e n , w e n n d a s j e n i g e i s o l i r t u n d z u m M e c h a n i s m u s 67 h e r a b g e w ü r d i g t w i r d , w a s in i h r m i t d e m H ö c h s t e n v e r b u n d e n i s t . D i e s e also als e i n e n E i n g r i f in i h r f r e i e s Spiel z u f ü h l e n u n d e n t f e r n t z u h a l t e n , ist d i e S c h a a m h a f t i g k e i t d e r L i e b e n d e n u n t e r e i n a n d e r . I h r e u n d 20 b e s o n d e r s d e r F r a u e n h e i l i g s t e S o r g e ist, d a ß d e r D i e n s t d e r g r o ß e n Göttin nicht entweiht w e r d e ; was von der Liebe, d e m Verlangen, d e m B e w u ß t s e i n d e s G e n u s s e s e i n g e g e b e n w i r d , g e h ö r t als s c h ö n e U m g e b u n g zu i h r e m Z u s t a n d e ; j e d e r e i z e n d e A n d e u t u n g , j e d e s w i t z i g e Spiel, w e l c h e s d i e F a n t a s i e h e r v o r b r i n g t , ist in d e r O r d n u n g , u n d es g i e b t 25 d a r i n v o n w e g e n d e r S c h a a m h a f t i g k e i t k e i n U e b e r m a a ß u n d k e i n e G r e n z e . B e i l ä u f i g ist d o c h z u m e r k e n , d a ß d i e s n u r v o n d e n e n g e l t e n k a n n , d i e w i r k l i c h z u l i e b e n v e r s t e h e n : d e n n j e w e n i g e r d i e s d e r F a l l ist, d e s t o w e n i g e r s i n d a u c h d i e M e n s c h e n , s e l b s t w e n n d a s , w a s sie L i e b e nennen, ihr G e m ü t h erfüllt, empfänglich f ü r das Schalkhafte, R e i z e n d e 30 u n d w a h r h a f t U e p p i g e , d e s t o m e h r v e r l i e r t s i c h d e r S i n n f ü r d i e s e S c h a a m h a f t i g k e i t , u n d d e n j e n i g e n , in d e n e n n u r d i e r o h e B e g i e r d e 461 w o h n t , kalten Wüstlingen u n d gefühllosen M i e t h l i n g i n n e n sind selbst i m Z u s t a n d e d e r L e i d e n s c h a f t d i e p l u m p s t e n V o r s t e l l u n - | g e n u n d R e f l e - 68 xionen ü b e r das Thierische, auf welches ihre E m p f i n d u n g u n d ihr Stre35 b e n s i c h b e z i e h t , n i c h t a n s t ö ß i g . D i e s e D i n g e a l s o s i n d d e n w i r k l i c h L i e b e n d e n e i n G r ä u e l : a b e r w i e k o m m t es d e n n , d a ß sie es ü b r i g e n s n i c h t m a c h e n w i e j e n e R u h i g e n , w e l c h e a l l e s , w a s sie h ö r e n , a u f d a s j e n i g e d e u t e n u n d b e z i e h e n , w a s i h n e n z u w i d e r ist, d a m i t sie n u r ü b e r v e r l e z t e S c h a a m h a f t i g k e i t k l a g e n k ö n n e n ? w i e k o m m t es, d a ß sie n i c h t 40 in j e d e r s c h ö n e n D a r s t e l l u n g d e r E m p f i n d u n g n u r d a s k ö r p e r l i c h e u n d
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n a t ü r l i c h e s e h e n , w e l c h e s sie h a s s e n , u n d i n j e d e r A b b i l d u n g m e n s c h l i cher G e s t a l t e n o d e r eines M o m e n t s d e r Liebe, d a s T h i e r u n d d e n M e c h a n i s m u s s e i n e r N a t u r b e s t i m m u n g ? d a ß sie v i e l m e h r f ü r j e d e s c h ö n e D a r s t e l l u n g d e r Liebe u n d ihrer M y s t e r i e n e m p f ä n g l i c h sind, u n d selbst dergleichen nach d e m M a a ß ihrer Anlage h e r v o r z u b r i n g e n streben? Es k o m m t u n s t r e i t i g d a h e r , w e i l sie w i r k l i c h s i c h i n d e m Z u s t a n d e b e f i n d e n , in d e m sie s a g e n , u n d w e i l a l s o e i n B e s t r e b e n in i h n e n ist, d i e s e n z u u n t e r h a l t e n , u n d i h m , w a s v o r k o m m t u n d sie b e r ü h r t , z u a s s i m i l i r e n , s o d a ß sie n u r d a , w o d a s i h n e n w i d e r s t r e b e n d e e i n d e u t i g u n d in s e i n e m g a n z e n G e g e n s a t z i h n e n v o r g e l e g t w i r d , es n i c h t v e r k e n n e n k ö n n e n . | W a s soll m a n a l s o v o n d e n e n h a l t e n , d i e in d e m Z u s t a n d e d e s r u h i g e n 69 D e n k e n s u n d H a n d e l n s zu sein vorgeben, u n d d o c h so unendlich reizb a r sind, d a ß auf d e n kleinsten e n t f e r n t e n A n s t o ß v o n a u ß e n , R e g u n g e n d e r L e i d e n s c h a f t in i h n e n e n t s t e h e n , u n d u m d e s t o s c h a a m h a f t e r z u s e i n g l a u b e n , j e l e i c h t e r sie ü b e r a l l e t w a s V e r d ä c h t i g e s f i n d e n ? N i c h t s als d a ß sie s i c h in j e n e m Z u s t a n d e e i g e n t l i c h n i c h t b e f i n d e n , d a ß i h r e e i g n e r o h e B e g i e r d e ü b e r a l l a u f d e r L a u e r liegt, u n d h e r v o r s p r i n g t , s o b a l d s i c h v o n f e r n e t w a s z e i g t , w a s sie s i c h a n e i g n e n k a n n , u n d d a ß sie d a v o n die Schuld g e r n auf dasjenige schieben m ö c h t e n , was die h ö c h s t u n s c h u l d i g e V e r a n l a s s u n g d a z u w a r . G e w ö h n l i c h m u ß i h n e n die liebe U n s c h u l d z u m V o r w a n d e d i e n e n : J ü n g l i n g e u n d M ä d c h e n w e r d e n v o r - 462 g e s t e l l t als n o c h n i c h t s v o n L i e b e w i s s e n d , a b e r d o c h v o n S e h n s u c h t , d i e jeden Augenblick auszubrechen droht, u n d den kleinsten Anlaß erg r e i f t , u m m i t v e r b o t e n e n A h n d u n g e n z u s p i e l e n . D a s ist a b e r n i c h t s . W a h r e Jünglinge u n d M ä d c h e n sind freilich das Ideal dieser Art von S c h a a m h a f t i g k e i t , a b e r i n i h n e n g e w i n n t sie e i n e a n d e r e G e s t a l t . N u r w a s k e i n e n a n d e r n S i n n h a b e n k a n n , als V e r l a n g e n u n d L e i d e n s c h a f t z u e r w e c k e n , m u ß sie v e r l e t z e n ; a b e r | w a r u m s o l l t e n sie n i c h t d i e L i e b e 70 k e n n e n d ü r f e n , u n d d i e N a t u r , d a sie b e i d e ü b e r a l l s e h e n ? w a r u m s o l l t e n sie n i c h t d e s t o u n b e f a n g e n e r v e r s t e h e n u n d g e n i e ß e n k ö n n e n , w a s d a r a u f g e d e u t e t o d e r d a v o n g e s a g t w i r d , je w e n i g e r e b e n die L e i d e n s c h a f t in i h n e n s e l b s t a u f g e r e g t w i r d ? J e n e ä n g s t l i c h e u n d b e s c h r ä n k t e S c h a a m h a f t i g k e i t , d i e j e z t d e r C h a r a k t e r d e r G e s e l l s c h a f t ist, h a t i h r e n G r u n d n u r in d e m B e w u ß t s e i n e i n e r g r o ß e n u n d a l l g e m e i n e n V e r k e h r t heit, u n d eines t i e f e n V e r d e r b e n s . W a s soll a b e r a m E n d e d a r a u s w e r d e n ? Es m u ß dieses, w e n n m a n die Sache sich selbst überläßt, i m m e r w e i t e r u m sich greifen; w e n n m a n so g a n z eigentlich J a g d m a c h t auf d a s n i c h t s c h a a m h a f t e , s o w i r d m a n s i c h a m E n d e e i n b i l d e n , in j e d e m I d e e n k r e i s e d e r g l e i c h e n z u f i n d e n , u n d es m ü ß t e a m E n d e alles S p r e c h e n u n d alle G e s e l l s c h a f t a u f h ö r e n , m a n m ü ß t e die G e s c h l e c h t e r s o n d e r n , d a m i t sie e i n a n d e r n i c h t e r b l i c k e n , u n d d a s M ö n c h t h u m , w o n i c h t n o c h e t w a s ä r g e r e s e i n f ü h r e n . D a s ist n u n n i c h t z u e r t r a g e n , u n d es w i r d d a h e r d e r G e s e l l s c h a f t e r g e h e n wie u n s e r n F r a u e n , die, w e n n die
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S i t t s a m k e i t sie i m m e r e n g e r b e d r ä n g t u n d es a m E n d e u n s c h i c k l i c h ist, eine Fingerspitze zu weisen, wie aus V e r z w e i f l u n g auf einmal rasch u m kehren, und wieder | Nacken, Schultern und Busen den rauhen Lüften u n d d e n f o r s c h e n d e n A u g e n Preis geben; o d e r wie d e n R a u p e n , die d e n a l t e n B a l g d u r c h e i n e e n t s c h l o s s e n e B e w e g u n g a b w e r f e n . S o w i r d es sein: w e n n die V e r d e r b t h e i t d e n h ö c h s t e n G i p f e l e r r e i c h t hat, u n d die r o h e n T r i e b e so herrschend g e w o r d e n sind, u n d so reizbar u n d scharfs i c h t i g , d a ß es n i c h t m ö g l i c h ist, sie d u r c h i r g e n d e t w a s n i c h t a n z u r e g e n , s o p l a z t j e n e r f a l s c h e S c h e i n v o n s e l b s t , u n d es w i r d s i c h d a r u n t e r zeigen die j u n g e Schaamlosigkeit mit d e m K ö r p e r d e r G e s e l l s c h a f t s c h o n l ä n g s t i n n i g z u s a m m e n g e w a c h s e n , als i h r e w a h r e H a u t , in d e r sie sich n a t ü r l i c h u n d l e i c h t b e w e g t . D i e v ö l l i g e V e r d e r b t h e i t , u n d d i e v o l l endete Bildung, durch welche m a n zur U n s c h u l d z u r ü k k e h r t , m a c h e n beide d e r S c h a a m h a f t i g k e i t ein E n d e ; d u r c h jene stirbt mit d e r f a l s c h e n a u c h die w a h r e i h r e m W e s e n n a c h , d u r c h d i e s e h ö r t sie n u r a u f e t w a s z u sein, w o r a u f e i n e b e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t g e w e n d e t u n d e i n e i g n e r W e r t h g e s e z t w i r d , sie v e r l i e r t sich in d i e a l l g e m e i n e G e s i n n u n g , u n t e r d e r sie b e g r i f f e n ist. S o l l e n w i r u n s j e n e r K a t a s t r o p h e a u s s e z e n , o d e r sollen wir d e n gesellschaftlichen Z u s t a n d diesem lezteren Ziele n ä h e r bringen? V o r der H a n d kann das nur dadurch | geschehen, d a ß man den M e n s c h e n d i e E h r e t h u t , sie s o z u b e h a n d e l n , als w ä r e n sie e t w a s b e s ser, u m e i n G e g e n g e w i c h t g e g e n j e n e s V e r f a h r e n h e r v o r z u b r i n g e n , w e l c h e s a u f d e r V o r a u s s e z u n g i h r e r S c h l e c h t i g k e i t b e r u h t . M a n soll n i c h t annehmen, d a ß unter gesitteten M e n s c h e n jede etwas lebendige V o r Stellung gleich d u r c h die Fantasie zu e i n e m R e i z m i t t e l f ü r die B e g i e r d e u m g e b i l d e t w i r d ; m a n soll n i c h t g l a u b e n , d a ß sie u n f ä h i g s i n d , a u s d e m S c h ö n e n e t w a s b e s s e r e s z u m a c h e n , als e i n e n U e b e r g a n g z u r w i l d e n L u s t ; m a n soll n i c h t g l a u b e n , d a ß n u r ü b e r d i e s e n G e g e n s t a n d j e d e r schalkhafte Scherz und jede wizige A n d e u t u n g den eigentlichen Eind r u c k verfehlt, so d a ß d e r R e i z des Spieles v e r l o r e n geht, u n d J e d e r u n v e r m e i d l i c h bei d e m S t o f f s t e h e n b l e i b t , m i t w e l c h e m g e s p i e l t w i r d . D a s e r s t e , w a s n o t h w e n d i g ist, u m d i e S a c h e in d i e s e n b e s s e r e n G a n g z u b r i n g e n , ist d i e H ü l f e d e r F r a u e n ; n i c h t n u r w e i l A l l e s , w o v o n sie s i c h e n t f e r n e n , r o h w e r d e n m u ß , s o n d e r n a u c h w e i l v o n i h n e n , in d e n e n d i e S c h a a m als in i h r e m s c h ö n s t e n H e i l i g t h u m e w o h n t , a u f d i e h i e b e i i m m e r v o r z ü g l i c h g e s e h e n w i r d , u n d in d e n e n j e d e V e r b i n d u n g z w i s c h e n d e m I n n e r n u n d A e u ß e r n s o viel z a r t e r u n d f e i n e r ist, d e r B e w e i s a u s g e - | h e n m u ß , d a ß es m i t d i e s e m v e r b o t e n e n V e r k e h r d e r V o r s t e l l u n g e n u n d d e r S i n n e s o a r g n i c h t ist, als d i e M e i s t e n b e f ü r c h t e n ; sie s i n d es, d i e d u r c h d i e T h a t alles d a s j e n i g e h e i l i g e n m ü s s e n , w a s bis j e z t d u r c h f a l s c h e n W a h n g e ä c h t e t w a r . N u r w e n n sie z e i g e n , d a ß es sie nicht verlezt, k a n n das S c h ö n e u n d d e r W i t z frei g e g e b e n w e r d e n . N ä c h s t i h n e n ist d a s e i n z i g e , w a s d e n M e n s c h e n z u e i n e r richtigen A n -
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schauung von dieser Sache verhelfen kann, die Kunst, wenn sie dasjenige, was sein soll und darf, in ihren Werken hervorbringt. Die bildenden Künste können sich Momente der Liebe zu ihren Darstellungen wählen, und so beweisen, daß es auch hier eine Schönheit giebt, die den Gegenstand würdig ausdrückt und einhüllt, ohne das Gefühl zu verletzen und die Leidenschaft loszulassen. Besonders aber haben viele Gattungen der Poesie den eigensten und nächsten Beruf zu zeigen, wie sich innerhalb der Grenzen des Schönen die beiden entgegengesezten Arten der Schaamhaftigkeit vereinigen lassen. Die Poesie bringt den Menschen in Gesellschaft mit ihren Werken, er soll in ruhiger Betrachtung und freier Anschauung ihre Bildungen genießen, und sie darf also kein anderes und fremdes Verlangen in ihm absichtlich oder | ungeschikt erregen, welches diesen Genuß zerstören würde. Wenn nun auf der andern Seite f ü r viele ihrer Werke die Liebe der höchste Gegenstand ist, von denen sie ganz durchdrungen sein sollen, so darf nichts fehlen, was denen natürlich und eigen ist, die in diesem Gefühl leben, und nichts kaltes und todtes dort dargestellt werden, was sie beleidigen könnte. Hier gilt es also das ganze schwierige Gebiet nach allen Seiten zu durchstreifen, ohne über seine Grenzen auszuweichen, und dadurch kann der eigentliche Umfang desselben am klarsten dargestellt werden. Dichtungen, die dies leisten, sind nicht nur an sich schön und wünschenswerth, sondern sie thun uns auch Noth, um durch ihr Beispiel den rechten T a k t und T o n wieder herzustellen für dasjenige, was das zarteste und schönste ist in der Lebenskunst.
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V o n K a r o l i n e , E i n l a g e in den v o r i g e n .
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Haben Sie wirklich gewollt, daß ich die Lucinde auch lesen soll? Ich hoffe wenigstens nicht so ernstlich, daß ich fürchten müßte, Sie böse zu machen, wenn ich nicht folge. Ich habe mir fest vorgenommen, sie jezt nicht zu lesen. Schon von Anfang an hatte ich keine Lust dazu nach Allem, was ich davon hörte, und was Sie Schönes darüber an Ernestine schreiben - sie hat mirs Alles treulich vorgelesen - hat mich in meinem Vorsatz nur noch bestärkt. Zur Ziererei haben Sie mich nicht erzogen, und wissen auch gewiß, daß ich niemals mehr davon an mir haben werde, als jezt oder ehedem; darüber also rechtfertige ich mich nicht. Auch glauben Sie | wol nicht, daß mir jemals der Gedanke ein- 76 fällt, als ob ein Buch, welches so beschaffen ist, daß ich es mit Vergnügen lesen kann, im Stande sein würde, mir die Sitten oder die Fantasie zu verderben oder sonst ein Unheil anzurichten. Es ist ja widersinning, daß Jemand ein solches Buch sollte lieb gewinnen können, da sich ein Buch nicht verstellen oder einen wieder irre machen kann, wie ein Mensch; und noch weniger wird doch Jemand aus freien Stücken ein Buch zu Ende lesen, welches er nicht lieb hat? Am wenigsten konnte ich also so schlimme Sachen von einem Werke fürchten, von dem Sie mit so viel Achtung reden, und das ich auch wol lieben würde, da ich dem Verfasser schon aus Ihren Erzählungen so gut bin. Aber eben deshalb möchte ich es mir gern aufsparen auf eine andere Zeit, wo ich besser im Stande sein werde, es zu genießen. Bin ich doch noch keine Frau, nicht einmal eins von den Mädchen, welche Sie immer Frauen nennen, die nur zufällig noch nicht geheirathet haben, sondern ein wahres und ächtes von der ersten Klasse, grade wie ich Sie vor dem Jahre verlassen habe. Wie soll ich also alle die Schönheiten verstehen, die Sie so vorzüglich an dem Buche lieben? O b die | Liebe hier in ihrer ganzen Voll- 77; 466
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endung erscheint, und ob in der Mischung des Geistigen und Sinnlichen so viel Wahrheit ist, als Sie rühmen, und was sonst noch in dieses Kapitel gehört, das kann ich ja eben so wenig beurtheilen, als die, welche Männer und Frauen geworden sind, ohne zu lieben, und nun so gewaltigen Anstoß an dem Buche nehmen. W ü r d e ich also nicht im Grunde eine eben so unwürdige Leserin sein, wenn gleich keine so boshafte und lächerliche? O d e r soll ich über die Lucinde aus dem urtheilen, was ich wol in andern Büchern über die Liebe gelesen habe, und was so von ihren äußeren Erscheinungen im Leben zu sehen vergönnt wird? Das möchte mir noch übler gerathen; auch habe ich gar keine Neigung dazu. Ueber diese Dinge muß man seine eigne Ansicht aus seinem eignen Gefühl und seiner schönsten Erfahrung haben, sonst ists nichts damit, und bis dahin will ich mich nur gedulden. Ist doch die Lucinde kein so vergängliches Werk, daß in ein Paar Jahren nicht mehr die Rede davon sein sollte. Da ist Karl hier, der fängt jezt wieder an die Alten zu lesen, wie ich zu seinem Lobe sagen muß, und klagt gewaltig darüber, daß er so manchen treflichen Schriftsteller | auf der Schule hat 78 lesen müssen zu einer Zeit, wo es ihm noch ganz an den nöthigen Sachkenntnissen fehlte, oder ihm der Sinn f ü r Schönheiten mancher Art noch nicht aufgegangen war. Und Angesichts dieses traurigen Beispiels sollte ich nun die Lucinde lesen, da es doch auch nur ein schülerhafter Versuch sein würde? Freilich, wie der arme Junge gequält worden sein mag, werde ichs nicht; und doch von Ihnen? Ο ich sehe schon, daß da der Rechenschaften, die ich würde geben sollen, und des hin und her Fragens kein Ende sein würde. W o h e r ich das so bestimmt weiß? Ja, sehen Sie, ich will Ihnen nur gestehen, ich habe ein wenig genascht; aber gar nicht so, wie Sie es nicht leiden können, sondern recht consequent, und Ernestine hat sich mir dazu hergegeben. Ich habe mir nemlich Alles von ihr vorlesen lassen, was von Mädchen in der Lucinde vor- 467 kommt, weil ich auf Ihr Zeugniß von mir hin behaupte, daß ich das verstehen muß, und schon über dieses Wenige habe ich so viel auf dem Herzen, daß ich lieber nicht erst damit anfangen möchte. Da ist zuerst die Geschichte mit der Lisette - denn Ernestine bestand darauf, daß ich diese als Mädchen sollte gelten lassen, und so sehr ich mich sonst dagegen | sträube, thut es mir doch diesmal nicht leid, nachgegeben zu ha- 79 ben. Ach, das ist eine herrliche Geschichte, die einen großen Eindruck auf mich gemacht hat; und nicht nur die Geschichte, auch das Mädchen ist mir so sehr lieb, und das sollen Sie mir eben erklären, wie so? Es ist gar nicht bloß Rükwirkung der Katastrophe; denn ich weiß noch genau, daß mir schon eben so zu Muthe war, ehe ich diese ahnden
29 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 126-134.143-155.187-189; F.Schlegel: Lucinde 143-155; KA 5,41-44
KA 5,37-39.41-44.52
33 Vgl.
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konnte. Auch nicht, was so hie und da durchblikt, daß sie eine Ahndung bekommt von dem, was ihr fehlt, und von dem Widrigen ihres Zustandes: denn wenn ich mir das so weiter ausmahle, wie es wol hie und da vorkommt, Lisette als eine büßende Magdalena, der ein edler und angenehmer Mann auf einmal zur Anschauung der Tugend verholfen hat, und dann ihr Bestreben sich aufzurichten, und seine Bereitwilligkeit ihr zu helfen, und ihre stille demüthige Liebe, und seine Uneinigkeit mit sich selbst, und wie es denn weiter aus einander geht, das hätte einen ganz andern Eindruck auf mich gemacht, und pflegt mir - Ihnen darf ich ja das wol sagen - neben aller Rührung gern ein wenig ekelhaft zu sein. Mitleiden ist es auch gar nicht: denn mit dieser übermäßig sinnlichen Natur ist sie wol nicht nur | vermöge eines traurigen Schiksals, 80 sondern hintennach aus gutem Vorsatz und zu Folge ihres innersten Wesens das, was sie ist, ich müßte also mit ihrem innersten Wesen Mitleid haben, und das hieße ja sie verachten. Ich schätze sie im Gegentheil, und habe sie auch lieb, recht so, wie man ein Caprice-Gesicht hübsch findet, wo man an allen einzelnen Theilen viel auszusetzen hat, aber doch von dem Ganzen zu einem gewissen Wolgefallen und Interesse daran gezwungen wird; ja ich kann mir sogar denken, daß ich 468 recht gern öfters hätte mit ihr sein mögen, wenn es ihr anders gelegen gewesen wäre, mit ihrem eignen Geschlecht umzugehn, woran ich jedoch zweifle. Besonders lieb wird sie mir immer wieder, wenn ich sie mit jenem andern ungenannten sehr gebildeten Mädchen vergleiche, die Julius Alles erlaubte bis auf das lezte, und sich dann etwas damit wußte, dies f ü r thierisch und roh zu erklären. Dergleichen kenne ich einige, auch recht gebildete; aber ich habe einen unüberwindlichen Widerwillen gegen sie, und ich dächte, es wäre noch etwas ganz Anderes in ihr, was dem Julius mißfallen müßte, als bloß jenes Nicht vollenden wollen. M i r ist immer, als stäk hinter diesem Unterschied ein Be-|trug, 81 oder wenn es ehrlich damit gemeint ist, als wüßte man nicht, was man wollte, und das ist doch hierin besonders verächtlich. K u r z bald kommen sie mir vor, wie manquirte Hetären - aber von einer niedrigeren Gattung als Lisette - bald wie manquirte Prüden, und beides ist unausstehlich. Habe ich Recht: oder weiß ich vielleicht mit meiner Abneigung nicht was ich will? Doch das sind Alles nur Nebenfragen, die Hauptsache ist die zarte Louise, wie sie doch, Gott sei Dank, Julius selbst nennt; die ist ein Mädchen wie sichs gehört; auch habe ich sie mir lange nicht aus den Gedanken bringen können, und Ihre Weste ist
23-25 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 187-189; KA 5,52. Schlegel erzählt hier verschlüsselt seine eigene Beziehung zu Rahel Levin. 36 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 156; KA 5,44. Über die Liebesbeziehung zu Louise, zu deren Schilderung Schlegel eigene Erlebnisse mit seiner Jugendfreundin Caroline Rehberg verarbeitete, ist auf S. 126-134 (KA 5,37-39) berichtet.
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vielleicht deshalb nicht so schön geworden, als ich wünschte. Ganz wüthend böse war ich Anfangs auf diesen Julius, und es half ihm nichts, daß er sich selbst über die ganze Geschichte verdammt: denn es bleibt immer noch soviel einzelnes drin, worüber er sich nicht verdammt. Nicht etwa, daß er hintennach glauben kann, sie sei böse gewesen, nicht ganz verführt zu sein; das halte ich ihm gern zu gut, was ist in so einem hintennach nicht zu verzeihen? Tausend andere Dinge, die meinen ganzen Stolz empörten, und gar nicht zu verzeihen sind. Am Ende habe ich mich | indeß damit beruhigt, daß er eben gar keine Kenntniß von Mäd- 82 chen hat. Denken Sie, weil er mit ihr als Kind gespielt, und sie ihm damals gefallen hat, meint er, es würde ihm ganz wol behagen, wenn er sie 469 sich jezt verführen könnte: als ob er aus dem, was sie damals war, auch nur den geringsten Schluß machen könnte auf das, was sie geworden sein mag; als ob nicht zwischen dem Kinde und dem Mädchen wenigstens ein eben so großer Unterschied wäre, als zwischen dem Mädchen und der Frau! Aber nein, auch das weiß er nicht. U n d dann ist von dem Wie gar nicht die Frage, Gott bewahre! wer eine verführt hat, kann Alle verführen; als ob wir eine wären, wie die andere. Auch bei andern Gelegenheiten, wo nur von Mädchen die Rede ist, kommt dieser merkwürdige Unglaube zum Vorschein, als ob es keine Eigenheit unter ihnen gäbe? wenn kommt sie denn? ich hätte bald was gesagt! Und wie urtheilt er von dem lieben Mädchen. Zuerst, als sie sich weigert, meint er, es sei nur Achtung gegen ein fremdes Gebot gewesen; und dann, als sie sich hingiebt, meint er doch, sie müsse wol lange einer unbestimmten Sehnsucht in ihrer Fantasie nachgehangen haben. Wenn sie nur | ein 83 fremdes Gebot zu überwinden hatte, so dächte ich, wären wol die Gegenwart und die Bitten des geliebten Jünglings ohne eine solche Vorbereitung genug gewesen: mußte diese erst so lange walten, so konnte er ihr wol die Ehre erzeigen, zu glauben, was sie abhielt, und ihr so schmerzlich und gewaltsam wieder kam, sei irgend ein eigenes Gefühl gewesen. Aber freilich er weis keines, das ein Mädchen warnen und zurükhalten könnte, als das Erlaubte! D a ß sie sich fragen mochte, ob er es auch werth sei, sich ihm ganz hinzugeben, ob seine Liebe gegen sie dieser Ergebung entsprechen, und sie rechtfertigen würde, das fällt ihm nicht ein; ihm, bei dem dieses Bedenken so wol gegründet war, da er sie unmittelbar nach dieser Katastrophe so ganz verlassen konnte, als ginge es ihn nichts an, was f ü r ein Eindruck davon in ihrem Gemüthe zurükblieb. U n d das hat mich noch zulezt am meisten aufgebracht. Wie? Ein Mann soll glauben, ein einziger Kuß, ein schüchterner Kuß, den eine Frau nur gewährt, sei eine Einwilligung in Alles, und ver-
39-8 Vgl. Gedanken IV, Nr. 17 (oben 137,1)
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p f l i c h t e sie z u A l l e m ; u n d e r s e l b s t g l a u b t s i c h d u r c h A l l e s d i e s e s n i c h t 470 e i n m a l s o v i e l g e b u n d e n , d a ß e r h e i l e n m ü s s e , w a s e r s o tief u n d s c h m e r z l i c h v e r w u n d e t h a t ? | H i e r b l i k t e i n ä r g e r e r G e s c h l e c h t s d e s p o - 84 t i s m u s h i n d u r c h , a l s e r m i r j e m a l s v o r g e k o m m e n ist. D e n n w e n n w i r erst, n a c h d e m w i r d u r c h die B e s i z n a h m e d e r M ä n n e r g l e i c h s a m g e a d e l t s i n d , A c h t u n g u n d A u f m e r k s a m k e i t v e r d i e n e n , s o s i n d sie s e l b s t es d o c h n u r , w a s sie in u n s a c h t e n , u n d es ist d i e s d i e a l l e r g e w ö h n l i c h s t e D e n k u n g s a r t , n u r ein klein w e n i g verlarvt. W i e k a n n m a n e i n e n M e n s c h e n m i t d i e s e m f ü r c h t e r l i c h e n M ä n n e r - E g o i s m u s , als d e n H e l d e n e i n e r wahren, ächten, u n d das ganze G e m ü t h d u r c h d r i n g e n d e n Liebe aufstell e n ? Bei d e m A l l e n s a g t E r n e s t i n e , d i e s e r J u l i u s v e r s t e h e s e h r viel v o n d e n F r a u e n , u n d es sei A l l e s s e h r w a h r u n d t i e f , w a s e r v o n i h n e n s a g e . N u n b i t t e i c h Sie, w i e ist es m ö g l i c h , d a ß m a n e i n e n M e n s c h e n d i c h t e n k a n n , d e r viel v o n F r a u e n v e r s t e h t , u n d g a r n i c h t s , a b e r a u c h g a r n i c h t s v o n M ä d c h e n . M i c h soll w u n d e r n , w i e m i r sein W e s e n m i t d e n F r a u e n v o r k o m m e n w i r d , w e n n i c h e r s t e i n e b i n , u n d es l e s e . F ü r j e z t k a n n i c h n i c h t s t h u n , als i h m e i n e T o c h t e r w ü n s c h e n , s o ist d o c h H o f n u n g , d a ß e r s i c h in v i e r z e h n o d e r f ü n f z e h n J a h r e n i n R ü k s i c h t a u f u n s e i n e s B e s sern b e s i n n t . S o l a n g e ich n o c h ein M ä d c h e n bin, will ich m i c h a n d i e R o m a n e h a l t e n , w o | w i r d i e H e l d i n n e n s i n d , u n d w o r i n d a s E n t s t e h e n 85 d e r e r s t e n L i e b e in j u n g e n H e r z e n , b i s z u r g l ü k l i c h e n E n t w i k l u n g , d i e H a u p t s a c h e ist; d a v o n k a n n i c h d o c h d a s B e s t e v e r s t e h e n . D a ß d i e s e Alle leidlich schlecht sind, d a f ü r k ö n n e n w i r nichts. U e b r i g e n s h a b e ich g a r n i c h t s g e g e n d i e L u c i n d e , u n d w ü n s c h e a l l e n F r a u e n , f ü r d i e sie d o c h e i g e n t l i c h b e s t i m m t ist, r e c h t viel G l ü c k d a z u ; d a s s c h a d e t j a d e m W e r t h e i n e s B u c h e s n i c h t , w e n n es g e r a d e f ü r u n s n i c h t i s t . A d i e u ! S e i n Sie n u r n i c h t b ö s e , d a ß e i n g r o ß e r u n b e s c h e i d e n e r B r i e f g e w o r d e n ist, w a s n u r ein t r o z i g e s kleines Z e t t e l c h e n w e r d e n sollte; Sie k e n n e n ja Ihre Karoline.
F ü n f t e r Brief.
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An Karoline.
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Da hast Du Dich ja einmal wieder recht ordentlich ereifert, liebe Kleine, f ü r die Ehre der Mädchen. Diese Unbill scheint Dir recht zu Herzen gegangen zu sein; und da es damit doch so arg nicht ist, könnte mir die Störung Deiner frölichen Ruhe wol leid thun, wenn ich es nicht ganz billig fände, daß Du f ü r Dein unbefugtes Naschen mit einigen unangenehmen Eindrücken bestraft wirst. Und Du nennst es gar consequent! Du mußt doch eben auch von der Idee ausgegangen sein, daß man sich aus der Lucinde, weil sie nicht so streng an dem Faden einer zusammenhängenden Geschichte fortläuft, nach Belieben etwas herauslesen könne, und da-|mit muß man bei diesem Buche, wo Alles innerlich 87 so sehr zusammenhängt, und jeder Theil wirklich ein Theil ist, ganz besonders zu Schaden kommen. Darin aber liegt noch ein ganz eigener niedlicher Irrthum, daß Du so treuherzig glaubst, was über Euch vorkomme, müsse doch so gewissermaßen ein Ganzes f ü r sich ausmachen! Hast Du denn nicht gleich, fast aus der ersten Stelle gesehen, daß der Verfasser der Lucinde der Meinung ist, in Euch Mädchen sei nichts, überhaupt nichts, klar und fertig, sondern Alles schwebe noch in einem reizenden Zauber dunkler Ahndungen, in einer anmuthigen Verwirrung, bis sich einmal am lezten Schöpfungstage das Licht von der Finsterniß auf eine andere Art als gewöhnlich scheidet? Auch kann Dir ja diese Ansicht von den Knospenjahren des zartesten Geschlechtes nicht
6 Deiner] deiner
17-23 Vgl. vermutlich
F.Schlegel:
Lucinde
66; KA 5,22
21 f Anspielung
auf Gen
1,3-5
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fremd sein, Du mußt oft gehört haben, wie ich meine unwiderstehliche Neigung zu Euch mit dem Reiz dieses zusammengewickelten Lebens vertheidige, welches allen Anforderungen von außen widersteht, bis es sich oft in einer einzigen warmen thauigen Nacht nach seinen eignen innern Gesetzen entwickelt und zu bestimmten Formen ausbildet. H ä t test Du nun das Buch Lucinde nur ein klein | wenig gekannt, so hättest 88; 472 Du leicht voraussehen können, daß überall, wo Mädchen unmittelbar dargestellt werden, diese negative Ansicht die herrschende sein würde, und würdest Dich also bequemt haben, das was der Dichter f ü r die eigentlichen Bestandtheile dieses schönen Chaos hält, in der Schilderung der Frauen aufzusuchen. Würdest Du denn zufrieden sein, wenn man Dir eine Knospe aufschnitte, und Dir alle die kleinen Blättchen vorzählte und zeigte? Das ist eben Eure Heiligkeit, daß man das nicht darf, und Ihr würdet sehr übel thun, sie Preis zu geben. Eine Knospe kann nur gezeichnet werden; wer wissen will, was darin ist, der sehe die Rose an. Versuche doch aber einmal, ob Du das Eigenthümliche mitzeichnen kannst, wodurch sie sich als Rose von den übrigen unterscheiden wird, obgleich es in der T h a t darin ist. Wie kannst Du nur sagen, daß dies in der Lucinde geläugnet wird? Ist nicht von Louisen und auch von jener andern, welche Du hassest, so viel angedeutet, daß man sieht, sie werden sich als ganz eigne Wesen ausbilden? N u r geschildert soll diese Eigenheit nicht werden, und die andern Romane, zu denen Du zurükkehren willst, hoffentlich aber nicht wirst, sind schon | deshalb profan und 89 anmaßend, weil sie das wollen. Verlangst Du, man soll unter Euch verhältnißmäßig mehr Individualität annehmen, als unter den reifen Menschen? O d e r kannst Du f ü r diejenigen, in denen dergleichen nun einmal nicht anzutreffen ist, mehr von einem Manne verlangen, als daß er Anwandlungen habe, auch an ihrer Vollendung arbeiten zu wollen? Ich weiß in der T h a t nicht, was f ü r gegründete Beschwerden Ihr gegen die Lucinde führen könntet, und die Deinigen sind gar nichts. Wenn man nun dazu beitragen will, daß eine Knospe f r ü h e r aufbreche, kann man etwas anderes thun, als ihr den Nahrungsstoff reichlicher zuführen, und sie in eine wärmere Temperatur bringen? und wenn dies bei Allen dasselbe sein muß, folgt daraus, daß nicht jede demohnerachtet etwas eigenes sein kann? Von hieraus wird Dir auch das, was Dich so vorzüglich aufgebracht hat, ganz anders erscheinen. Du wirst doch nicht läug- 473 nen, daß die ersten Regungen der Liebe sich als eine unbestimmte Sehnsucht verkündigen - ich kann Dich darüber auf Dein eigenes Bewußtsein verweisen - und daß sie sich eigentlich nur von der H ö h e der
1 - 5 Vgl. Gedanken IV, Nr. 7 (oben 133,3-5) 187-189; KA 5,37-39.52
19f Vgl. F.Schlegel: Lucinde
126-134.
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ausgebildeten und vollendeten Liebe | hintennach f ü r das erkennen lassen, was sie sind, das wird Dir, eben auch hintennach, noch klarer werden. Dies bis zur Klage einer Verletzung zu mißverstehen, als ob dabei nur von einem körperlichen Gefühle die Rede wäre, würde Dir gewiß nicht begegnet sein, wenn nicht Deine kleine Eitelkeit nur darauf ausgegangen wäre, sich überall zu opponiren. Ueberlege Dir nur, liebes Kind, ob nicht alles Geistige im Menschen ebenfalls von einem instinktartigen, unbestimmten innern Treiben anfängt, und sich erst nach und nach durch Selbstthätigkeit und Uebung zu einem bestimmten Wollen und Bewußtsein und zu einer in sich vollendeten T h a t herausarbeitet; und ehe es so weit gediehen ist, ist an eine bleibende Beziehung dieser innern Bewegungen auf bestimmte Gegenstände gar nicht zu denken. Warum soll es mit der Liebe anders sein, als mit allem übrigen? Soll etwa sie, die das Höchste im Menschen ist, gleich beim ersten Versuch von den leisesten Regungen bis zur bestimmtesten Vollendung in einer einzigen T h a t gedeihen können? Sollte sie leichter sein, als die einfache Kunst zu essen und zu trinken, die das Kind lange erst mit ungeschikten Objekten und in rohen Versuchen ausübt, | die ganz ohne sein Verdienst nicht übel ablaufen? Auch in der Liebe muß es vorläufige Versuche geben, aus denen nichts Bleibendes entsteht, von denen aber jeder etwas beiträgt, um das Gefühl bestimmter und die Aussicht auf die Liebe größer und herrlicher zu machen. Bei diesen Versuchen nun kann auch die Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand nur etwas zufälliges, im Anfang o f t nur eine Einbildung, und immer etwas höchst vergängliches sein, eben so vergänglich, als das Gefühl selbst, welches bald einem klareren und innigeren Platz macht. So findest Du es gewiß bei den reifsten und gebildetsten Menschen, die über ihre ersten Lieben als über ein kindisches und wunderliches Beginnen lächeln, und oft ganz gleichgültig neben den vermeinten Gegenständen derselben hinleben. Auch muß es der Natur der Sache nach so sein, und hier Treue fordern, und ein fortdauerndes Verhältniß stiften wollen, ist eine eben so schädliche als leere Einbildung. Merke Dir das, liebes Kind, Du wirst es brauchen, um über Deine ersten merklicheren Anwandlungen von Leidenschaft und Liebe mit Dir selbst einig zu werden; und mache Dir ja kein solches Hirngespinst von der Heiligkeit einer ersten Empfindung, als beruhte nun | Alles darauf, daß daraus etwas ordentliches würde. Die Romane, die dieses beschützen, und zwischen denselben zwei Menschen die Liebe vom ersten rohen Anfang bis zur höchsten Vollendung
16 Sollte] sollte
19-32 Vgl. Gedanken IV, Nr. 2 (oben 131,1 i f )
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sich in einem Strich fort ausbilden lassen, sind eben so verderblich als sie schlecht sind, und die, welche sie machen, verstehen insgesammt von der Liebe eben so wenig als von der Kunst, und schaden der Sittlichkeit und Freiheit der ersten eben so sehr, als der Wahrheit und Schönheit der leztern. Wie ist denn so etwas möglich? Wenn sich nun Deine noch mehr oder weniger unbestimmte Sehnsucht nach Liebe auf einen bestimmten Gegenstand richtet, so entsteht daraus nothwendig ein bestimmtes Verhältniß, indem es einen Punkt der größtmöglichen Annäherung giebt, und wenn Ihr den nun erreicht habt und fühlt, daß es der rechte nicht ist, auf dem Ihr bleiben könnt, was bleibt Euch dann übrig, als daß Ihr Euch eben wieder von einander entfernt? N u r nachdem ein solcher Versuch als Versuch vollendet, das heißt, abgebrochen worden, kann die Erinnerung daran und die Reflexion darüber zur näheren Bestimmung der Sehnsucht und des Gefühls würken, und so zu einem andern besseren | Versuch vorbereiten. Sollte es nun etwa eine Verbind- 93 lichkeit geben, diesen wieder mit demselben Subjekt anzustellen? W o sollte denn die liegen? Ich f ü r mein Theil finde das weit eher widernatürlich als die Ehen zwischen Bruder und Schwester. Laß Dir also darin 475 die unbeschränkteste Freiheit, und sorge nur, einen reinen Sinn und ein zartes Gefühl dafür zu behalten, was ein Versuch ist, damit Du nicht einen solchen, der bestimmt ist Versuch zu bleiben, durch die Hingebung festhältst und sanktionirst, die ihrer N a t u r nach das Ende des schülerhaften Versuchens, und der Anfang eines Zustandes wahrer und dauernder Liebe sein soll. Einen solchen Mißgrif, der die Folge und die U r sach der unseligsten Täuschungen ist, halte f ü r das schreklichste, was Dir begegnen kann, und wisse, dies heißt eigentlich sich verführen lassen. Denn wenn Du die wahre Liebe ergriffen hast, und Dich auf dem Punkt fühlst, von wo aus Du Dein Gemüth vollenden und Dein Leben schön und würdig bilden kannst, so wird Dir von selbst jede Zurükhaltung und jede Scheu vor dem lezten und schönsten Siegel der Vereinigung als Ziererei erscheinen. Das gefährlichste ist nur, daß auch jeder Versuch seiner Natur nach auf | diesen Punkt hinstrebt. D a ß das so sein 94 muß, kannst Du aus Deinem bischen Chemie begreifen. Der Sättigungspunkt ist nur durch Uebersättigung zu finden; nur durch das Bestreben einen noch höhern Grad der Vereinigung zu Stande zu bringen, läßt sich finden, welcher Grad in einem gegebenen Fall der höchst mögliche ist. Wenn Du gesund bleibst an Sinn und Gefühl, wird Dich gewiß, so o f t sich ein Versuch zu lieben diesem Punkt nähert, eine heilige Scheu ergreifen, die etwas viel höheres ist, als die Gewalt eines fremden Gebots, oder was man gemeinhin Schaam und Zucht nennt; denn jene
9 Ihr] ihr
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Scheu wird gewiß richtig unterscheiden, einen leeren Versuch von dem, was der Anfang eines schönen und gediegenen Lebens werden kann, weil sie nichts anders ist, als das Gefühl, welches aus der Vergleichung des gegenwärtigen Zustandes mit der Idee des Liebens entsteht. Das hat Dir wol auch vorgeschwebt, wenn gleich nur als dunkle Ahndung, in dem, was Du von dem Werthsein der Hingebung sagst; Dein Sinn war edler als Deine Worte. Damit Du nun dieses Gefühl bewahren und stärken kannst, mußt Du so viel wahre Liebe anschaun, als es nur giebt in der Welt um Dich | her, und nichts mit solcher Aufmerksamkeit und Andacht betrachten, als sie. Eben deshalb, nicht um zu urtheilen, liebes Mädchen, sondern um unbefangen anzuschauen, wollte ich auch, daß Du die Lucinde lesen solltest. Waren wir doch ganz von ihr abgekommen: aber das ist sehr natürlich, und die Liebe f ü h r t zum Glük eben so auf die Lucinde zurück, wie die Lucinde auf die Liebe hinführt. Ich sage Dir nun nichts weiter darüber, warum es ganz in der O r d n u n g ist, daß Julius die zarte Louise verlassen mußte, und was es eigentlich war, was Beide so heftig bewegte. Auch wirst Du selbst einsehn, daß von irgend einer Männer-Barbarei hier gar nicht die Rede ist, und daß ein Kuß von einer Frau, welche die Liebe von Angesicht zu Angesicht geschaut haben soll, allerdings etwas bedeutenderes und entscheidenderes sein muß, als die größte Annäherung eines Mädchens. Denn wo dieses nur ahnden kann, soll jene bestimmt wissen, ob sie mit einem Manne Eins werden und bleiben kann, und wo sie weiß, daß sie es nicht kann, soll sie auch nicht das kleinste Verhältniß der Art beginnen lassen. Diese Theorie entstand in Julius, wie es mit allen ächten Theorien geht, mit der | Praxis zugleich, und nachdem er eine solche Frau gefunden, und sich mit ihr auf den wahren Gipfel der Liebe erhoben hat, sollte es der Wahrheit nicht gemäß sein, daß er Euch Mädchen mit dem kleinen Stolz behandelt, den man im Gefühl einer neuen selbsterworbenen Würde, so gern gegen diejenigen zeigt, denen man so eben vorangeeilt ist? Du kannst immer auch darin, wenn Du unpartheiisch sein willst, den Dichter bewundern. Aber sage mir nur, wo hast Du denn das her, von der bindenden Kraft des Kusses? das geht ja über die sittsamen Grenzen, die Du Dir bei Deinem Lesen oder Vorlesenlassen gestekt hattest, weit genug hinaus: denn in dieser Stelle ist, soviel ich weiß, von Mädchen gar nicht die Rede, und die gottlose Ernestine hat Dich noch weiter aus Deiner Klausur hinausgelokt, als nur bis zur nahgelegenen Lisette. N u n dächte ich nahmst Du Dir auch Deine Freiheit ganz wie-
16f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 129-134; (KGA 1/2,133,12-134,5; hier 133,14) 154,11; hier 153,35f)
KA 5,38/ 17-21 Vgl. Gedanken III, Nr. 60 22-24 Vgl. Fragmente, Nr. 364 (KGA 1/2,153,19-
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der, und läsest die Lucinde recht ordentlich, die ohnedies mehr als irgend ein anderes Buch ganz gelesen sein will. Deine E i n w e n d u n g mit dem Urtheilen ist Dir ja schon b e n o m m e n ; D u sollst nicht urtheilen, sondern uns nur vorläufig glauben, d a ß das Liebe ist, was drin steht, und sie D i r | darauf ansehn. Mit dem Urtheilen kannst D u Dir hernach immer noch einen eignen G e n u ß machen, und es wird D i r nicht g e h n wie Karin. H a s t D u aber etwa noch andere Bedenklichkeiten im H i n terhalt, so laß die nur gut sein, ich stehe D i r f ü r allen Schaden; u n d nimm mein W o r t , daß D u noch immer mein erstes Kabinetstück bist, und daß ich Dich gar von H e r z e n lieb habe. G r ü ß e Ernestine, und bitte sie, sich ein wenig zu gedulden; ich würde ihr nächstens recht a u s f ü h r lich schreiben.
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Das hatte ich wol gedacht, lieber Freund, daß Ihr wolmeinender Moderantismus - Sie wissen, daß ich das W o r t zu Ehren bringen will, wenn ich Ihre Denkart so nenne - zu dem Buche auf den ersten Anblick gewaltig den Kopf schütteln würde. Lassen Sie mich vor der H a n d nur Alles übergehen, was über andere litterarische Gegenstände in Ihrem Briefe vorkommt, und mich zuerst hierüber recht ausreden; es liegt mir sehr am Herzen, denn es gehört zu den Zeichen der Zeit. Was Sie so in verlornen Worten von Unsittlichkeit sagen, verstehe ich überhaupt nicht, und noch weniger in Ihnen und f ü r den gegenwärtigen Fall. | Ich kenne gar keine Unsittlichkeit eines Kunstwerkes, als die, 99 wenn es seine Schuldigkeit nicht thut, schön und vortreflich zu sein, oder wenn es aus seinen Grenzen hinausgeht, kurz wenn es nichts taugt. Worin sollte sie denn auch liegen? In der Unsittlichkeit der dar- 478 gestellten Gesinnungen und Handlungen? Das ist doch bei andern Arten des Unsittlichen, die häufig durch alle Künste dargestellt worden sind, noch Niemand eingefallen; also wenn auch die Liebe, so wie sie hier vorkommt, etwas Unsittliches wäre - was Sie doch gewiß nicht meinen - so dürfte man das doch nicht sagen. Oder in dem Mangel der poetischen Gerechtigkeit, und wo diese im eigentlichsten Sinne nicht statt finden kann, weil es kein Strafamt zu verwalten giebt, in dem Mangel eines tüchtigen Urtheils, wodurch der Dichter gleichsam daneben schreibt: „Lieben Leute, glaubt nicht, daß ich das bin, oder daß Ihr es sein sollt; um Gottes willen hütet Euch, es ist ja das leibhaftige Laster"? Das ist doch auf jeden Fall entweder sehr dumm oder sehr grob. Was giebt es denn nun noch? Ich weiß nichts weiter, als was ich vorher
1 Sechster] D r i t t e r
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gesagt habe. Sie erinnern mich daran, daß ich oft gelegentlich äußerte, Wielands Sachen seien unsittlich, | und d a ß ich neulich gegen Jemand die Lucinde mit Wieland vertheidigt habe, als sei sie nicht schlimmer als etwas von ihm. Es ist möglich, daß ich das lezte gesagt habe, es m u ß aber zu Jemand gewesen sein, dem sich eben nichts bessers sagen ließ: denn übrigens ist wol der Unterschied so ungeheuer, daß an eine Vergleichung nicht zu denken ist. Sie sehen, ich nehme nicht zurück, was ich von Wieland gesagt habe; aber ich glaube mir dabei nicht zu widersprechen: seine erotischen Sachen sind unsittlich, weil sie schlecht sind. Er geht fast überall darauf aus, die Lust, die erste sinnliche Empfindung, zu beschreiben, die doch gar nichts Darstellbares ist, das geht aus den Grenzen eines Kunstwerkes heraus und taugt nicht. In diesem unglüklichen Bestreben verwandelt er sich denn aus einem Dichter in einen Redner, der unmittelbar Gemüthsbewegungen hervorbringen will, damit ihm der Leser von innen heraushelfe, und das ist eben schlecht. Finden Sie so etwas in der Lucinde? Da ist wahrlich nichts angefangen, was sich nicht ausführen läßt, und selbst an den schwierigsten Stellen sind die Grenzen des Darstellbaren mit großer Weisheit gehalten. Daher steht denn auch Alles, was ausgeführt ist, so | klar und vollständig da, daß Niemand sich beschweren darf, man nöthige ihn, etwas von dem seinigen hinzuzuthun. Am wenigsten sind sinnliche Empfindungen halb gezeichnet, wobei das natürliche Bestreben nachzuhelfen, so leicht in eine wirkliche Hervorbringung dieser Empfindungen ausartet. U n d wieviel Ueberflüssiges finden Sie nicht bei solchen Gelegenheiten immer im Wieland und andern erotischen Dichtern seiner Art; ja der ganze Auftritt ist oft für den Zweck und Plan des Ganzen etwas Ueberflüssiges. Hier ist Alles, wie es sich f ü r ein edles Kunstwerk ziemt, in einem einfachen hohen Stil, nur was nöthig ist, ohne alles Nebenwerk, und das Nöthige ist immer sehr nöthig. In dem übelberüchtigten Dialog sowol, als in dem, was am Ende der Lehrjahre von Julius und Lucindens Liebe vorkommt, stehn gerade die unentbehrlichsten Züge zur Darstellung des individuellsten in diesen Menschen, das Innere sowol als das Aeußere, denn ich rechne das lezte auch gar sehr mit. Ich möchte wol wissen, wo Gemüth und Gestalt besser, und die lezte besonders reiner, und, daß ich so sage, plastischer dargestellt wären, als hier; oder wie beide in einem Werk, wo Alles auf die | Liebe bezogen wird, auf eine andere Weise hätten dargestellt werden können, als eben-
29 nöthig.] im OD teilweise nöthig..
29f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 189-210; KA }J2-5S
94-119;
KA
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30 Vgl. F.Schlegel:
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falls durch Beziehung auf die Liebe. Wer also dies als etwas Sittliches zugiebt, muß auch Alles übrige zugeben. Dagegen habe ich Nichts, daß man von der Beschaffenheit eines Kunstwerks einen Schluß auf die moralischen Ansichten und Ideen des Künstlers mache, und eben deshalb habe ich immer den Wieland f ü r eine unedle Natur gehalten, weit mehr als etwa den Crebillon, oder wen Sie sonst von dieser Art nennen wollen. Diese Leute ignoriren den geistigen Bestandtheil der Liebe gänzlich, sie geht bei ihnen immer nur von der Schönheit, oder vielmehr von dem Reiz der Gestalt aus, sie mahlen immer nur die Sinnlichkeit, und sind dabei ganz unbefangen. Auch sieht man aus ihren übrigen morali- 480 sehen Tendenzen gar bald, was f ü r eine Art von ehrlichen Leuten sie sind. Wielands Subjekte hingegen sind fast niemals rein sinnlich, sie müssen sich wenigstens immer etwas einbilden von andern Gefühlen, und sein bester Spaß ist, sie darüber auszulachen. Eben so kommt denen, die beim Geistigen anfangen, die Sinnlichkeit immer hinterwärts als eine Schwachheit und mit dem bösen Gewissen, daß | man glauben 103 muß, man würde ihnen einen Dienst thun, wenn man sie combabisirte, und ihnen Alles, auch die Fantasie mit, sauber einpakte, vorausgesezt nemlich, daß man es ihnen nicht unterm Galgen, sondern vor dem Altar wieder einhändigen, und in integrum restituiren könnte, die Fantasie ausgenommen, die immer verkehrt bleibet, und in Gottes Namen verbrannt werden mag. Kann wol ein Mensch, der selbst eine richtige Ansicht hat, immer und immer dieses verzwikte Wesen darstellen, wobei ihm selbst bang und weh zu Muthe sein muß? Dagegen in der Lucinde nichts ausgeschlossen aber Alles in Harmonie ist, und so wie es dasteht, den reinsten Sinn und die richtigste Denkart zum Grunde haben muß. Das kann es also nicht gewesen sein, was Sie meinen, und ich muß es allein auf das beziehen, was Sie von der Weisheit eines solchen Unternehmens sagen, und was eigentlich Ihr Moderantismus ist. Lieber Freund, da kann ich nun nichts thun, als Ihnen das Alte predigen, was vom Dichten eben so gut gelten muß, als vom Leben. Vorausgesezt, daß nur Alles an sich gut und schön ist, so muß jeder leben, wie ihm zu Muthe ist, und dichten, was ihm die | Götter eingeben. Das Talent des Mißver- 104 standes ist gar unendlich, und es ist ja nicht möglich, dem auszuweichen. Wer darauf ausgeht, sich durch dies und jenes seinen Wirkungskreis nicht zu verderben, der wird bald gar keinen haben, und sich so lange hüten, etwas zu thun, bis ihm nichts mehr übrig bleibt. Darum ist es besser gerathen, die Sache umzukehren, und sich zu hüten, daß man nichts unterlasse; diese Maasregel vernichtet weder sich selbst, noch
17-20 Vgl. Wieland: Combabus. Eine Erzählung, Leipzig 1770; SW 10, Leipzig 1795 (Nachdruck Hamburg 1984), S. 241-302
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den Menschen. Ein jedes Kunstwerk, welches sich als ein solches fühlt, muß seiner Natur nach Anspruch auf die Ewigkeit machen, und eben deshalb muß es auch existiren wollen, sobald es existiren kann: denn was erst auf einen günstigen M o m e n t wartet, zeiht sich selbst der V e r gänglichkeit. Eine vorübergehende T h a t thut wol, den Augenblick der größten K r a f t abzuwarten; aber ein Werk? Es besteht ja, dieser A u g e n blick kommt doch zur rechten Zeit; warum soll Alles verloren gehn, was es vorher sein und ausrichten kann? Vorbereiten soll man erst? Nun ja, Kunstwerke selbst sollen nebenbei Vorbereitungen sein, sie sollen den Menschen den Sinn öfnen, um Ideen in ihr Gemüth und ihr L e ben aufzunehmen: aber auf | sie soll man wieder erst vorbereiten? w o durch? durch Theorie? W e r kehrt sich denn an T h e o r i e , w e r nimmt sie ernsthaft heut zu T a g e , und sucht eine Beziehung aufs Leben darin? Also womit soll man wieder auf die Theorie vorbereiten, und w o soll dieser Kreislauf der Präcautionen ein Ende nehmen? Nein, nein! Ein Kunstwerk enthält eine Anschauung, von dieser muß am E n d e alles ausgehn, und also ist sie billig das erste, was dargeboten wird. Es kommt hier auf eine Synthesis an, diese läßt sich nicht demonstriren, man muß sie vormachen und vorzeigen; hat man das aber gethan, so kann man auch von allen Menschen fordern, daß sie sie verstehen sollen, in so fern ihnen nemlich die Elemente davon bekannt sind, und daran ist doch hier kein Zweifel. Sie sagen zwar, die Liebe als Fülle der Lebenskraft, als Blüthe der Sinnlichkeit, sei bei den Alten etwas Göttliches gewesen, bei uns sei sie ein Skandal; ist sie es aber wol aus einem andern Grunde, als weil wir sie immer dem intellektuellen, mystischen Bestandtheil der Liebe, der das höchste Produkt der modernen Kultur ist, entgegensetzen? Sollen wir denn gerade hier bei diesem Gegensatz stehen bleiben? Ueberall gehen wir ja dar-|auf aus die Ideen, welche aus der neuen Entwiklung der Menschheit hervorgegangen sind, mit demjenigen zu verbinden, was das W e r k der früheren war; dies ist die Fortschreitung, die uns aufgegeben ist, und durch die allein wir überall zu etwas vollendeten kommen. Soll man nicht verlangen, daß die M e n schen sie hier auch machen können sollen, in dieser einfachen Sache? Sie wissen ja doch von Leib und Geist, und der Identität beider, und das ist doch das ganze Geheimniß. Ist es aber nicht an der Zeit, daß dieses einmal entsiegelt werde, und daß die Widersprüche, die aus unserer Einseitigkeit entspringen, eben so gut ein E n d e nehmen, als die aus Dürftigkeit und Unwürdigkeit, aus dem Einseitigen der Alten? J a die Religion der Liebe und ihre Vergötterung w a r unvollkommen, und
38 f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 26; KA 5,12 134,20-135,2)
38-2 Vgl. Gedanken
III, Nr. 63 (KGA
1/2,
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m u ß t e deshalb untergehn, wie jeder andere T h e i l d e r alten Religion u n d B i l d u n g . N u n a b e r d i e w a h r e h i m m l i s c h e V e n u s e n t d e k t ist, s o l l e n n i c h t d i e n e u e n G ö t t e r d i e a l t e n v e r f o l g e n , d i e e b e n s o w a h r s i n d a l s sie, sonst m ü ß t e n wir v e r d e r b e n auf eine a n d e r e Art. V i e l m e h r sollen w i r 5 n u n erst r e c h t verstehen die Heiligkeit d e r N a t u r u n d d e r Sinnlichkeit, d e s h a l b s i n d u n s d i e | s c h ö n e n D e n k m ä l e r d e r A l t e n e r h a l t e n w o r d e n , 107 w e i l es s o l l w i e d e r h e r g e s t e l l t w e r d e n , in e i n e m w e i t h ö h e r e n S i n n a l s e h e d e m , w i e es d e r n e u e n s c h ö n e r e n Z e i t w ü r d i g ist; d i e a l t e L u s t u n d F r e u d e u n d d i e V e r m i s c h u n g d e r K ö r p e r u n d d e s L e b e n s n i c h t m e h r als 10 d a s a b g e s o n d e r t e W e r k e i n e r e i g n e n g e w a l t i g e n G o t t h e i t ; s o n d e r n E i n s mit d e m tiefsten u n d heiligsten G e f ü h l , mit d e r V e r s c h m e l z u n g u n d Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. W e r n i c h t s o in d a s I n n e r e d e r G o t t h e i t u n d d e r M e n s c h h e i t h i n e i n s c h a u e n , u n d d i e M y s t e r i e n d i e s e r R e l i g i o n n i c h t f a s s e n k a n n , d e r ist 15 n i c h t w ü r d i g e i n B ü r g e r d e r n e u e n W e l t z u s e i n . D a m i t es a b e r j e d e r w e r d e , d e r es w e r d e n k a n n , s o l a s s e n Sie es a u c h P r i e s t e r u n d L i t u r g e n d i e s e r R e l i g i o n g e b e n , s o b a l d u n d s o v i e l e es i m m e r k a n n , u n d w e h r e n S i e K e i n e m . I c h k e n n e k e i n e W e i s h e i t , w e n n n i c h t A l l e s w e i s e ist, w a s mit w a h r e r T h ä t i g k e i t auf das G u t e u n d S c h ö n e a b z w e k t . Ich w e i ß 20 a u c h n i c h t , w a r u m Sie S i c h h a b e n a b s c h r e c k e n l a s s e n , d a s B u c h m i t F r a u e n z u l e s e n , w e n n n u r k e i n e p r o f a n e u n d u n w ü r d i g e d a r u n t e r ist, 483 u n d m a n d a s B u c h v o r h e r k e n n t , u m i h m n i c h t u n r e c h t z u t h u n . E s ist j a A l l e s m e n s c h l i c h u n d g ö t t l i c h | d a r i n , e i n m a g i s c h e r D u f t v o n H e i l i g - 108 keit k o m m t aus d e r innersten T i e f e desselben hervor, u n d d u r c h w e h t 25 d e n g a n z e n T e m p e l , u n d w e i h t J e d e n e i n , d e s s e n O r g a n n i c h t in V e r k n ö c h e r u n g ü b e r g e g a n g e n ist; u n d d i e S c h e r z e , d i e i h n e b e n f a l l s ü b e r all m i t d e n z a r t e s t e n B l u m e n d e r W e i s h e i t s p i e l e n d e r f ü l l e n , v e r k ü n d e n n u r u m s o s i c h e r e r d i e G e g e n w a r t d e r G ö t t i n , d e r e n t r e u e B e g l e i t e r sie sind. U n d u n t e r dieser B ü r g s c h a f t sollten F r a u e n sich scheuen, d e n 30 P r i e s t e r d e r G ö t t i n a n z u h ö r e n ? u n d e i n e a n d e r e , als n u r d i e A u s g e s t o ß e n e n , s o l l t e v o r F u r c h t z i t t e r n ? G e h e n Sie d o c h , d a s w ä r e j a u n n a t ü r lich; v e r s u c h e n Sie es n u r a u f e i n e w ü r d i g e A r t , u n d m i t W ü r d i g e n .
17 bald u n d ] im OD teilweise bald uns
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Es ist ordentlich hart von Dir, daß Du mir so eilig und dringend Deine Lucinde abforderst, ehe ich selbst eine habe. Du weißt es wol nicht, Du böser geliebter Mann, wie innig wol mir immer gewesen ist, so oft ich mich in meiner stillen Einsamkeit vor diesen reinen und schönen Spiegel der Liebe hinstellen konnte, und in den zauberischen Bildern desselben bald Deine und meine Gestalt erblikte, und dann auch wieder alle andere Gestalten der Einen und ewigen Liebe, an denen allen ich mich herzlich erfreute, sie wenigstens in der Dichtung zu finden, da sie im Leben leider so selten erscheinen. Wenn ich | dann dachte, wie 110 auch unsere Liebe ein Stoff ist f ü r eine solche Welt der Dichtung, und auch in uns, wer es nur verstände, die ganze Liebe und das ganze Leben, ja ich darf es wol im Stolz meines Herzens sagen, die ganze Menschheit mit ihren unendlichen Geheimissen anschauen könnte, wenn dann meine schwärmende Fantasie mich in die schöne Z u k u n f t 484 hineintrug, wo ich ganz nicht nur in Dir, sondern auch mit Dir leben werde, und mein treues Gedächtniß, das mir eine ganze Welt werth ist Dir jeden kleinsten Zug aus der Geschichte unserer Liebe, jedes einzelne Begegnen unserer Geister rein und lebendig wieder geben wird, und Du aus diesen Blumen einen eben so schönen Kranz winden wirst - ο Friedrich! wer war seliger als ich. Und von dem geliebten Buche soll
3 daß] das 2 Schieiermacher führt hier vermutlich verschlüsselt Eleonore Grunow, geb. Krüger, als Briefpartnerin ein, zu der er wohl seit dem Herbst 1798 eine leidenschaftliche Zuneigung empfand. 22 Mit der Nennung seines Vornamens gibt Schleiermacher einen kleinen Hinweis zur Entschlüsselung seiner ungenannten Verfasserschaft.
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ich mich trennen? Doch Du forderst es zu einem schönen und würdigen Zweck, wie sollte ich dem nicht gern auch den liebsten Genuß aufopfern? Nimm es denn, und wenn Du wieder drin liesest, so lies alle meine Gedanken und Gefühle mit heraus, die ich Dir ja doch nicht sagen und kaum an Deiner liebenden Brust in abgebrochenen Worten und ergänzenden Blicken und Thränen und Lächeln aushauchen könnte. O b | wol Friedrich Schlegel, wenn er mich kennte, es der Mühe werth 111 gehalten haben würde, mich eigen hinzustellen, mit dem Eindruck den sein Buch auf mich gemacht hat? Denn unter denen, die er seinen Julius aufführen läßt, bin ich nicht; ich müßte mich denn unter die allgemeine Rubrik derer stellen, die ihn hie und da besser verstehen, als er selbst, und das will ich nur im Uebermuth meines Herzens unbedenklich thun. Abgestoßen und beleidigt hat er mich eigentlich nirgends; am wenigsten da, wohin er wahrscheinlich bei dieser Stelle zielte. Nein, Deine Geliebte kann das Alles verstehn, und von Deinem Geiste überall umgeben und durchdrungen, ohne falsche Schaam und ohne ein widerstrebendes Gefühl, bis in die geheimste Mitte der Sinnlichkeit folgen, wenn sie so schön und heilig behandelt wird; auch mag ich wol, daß davon geredet werde, denn warum nicht? Entzükt hat er mich oft, auch ohne die schönen Beziehungen auf uns, ohnerachtet ich mich ihrer fast überall nur mit Mühe enthalten konnte, wenn ich einmal dies und jenes oder das Ganze rein f ü r sich, wie es da ist, genießen wollte. Und eben darum hätte ich es gern noch länger behalten, um mich in jeder Stimmung damit | zu beschäftigen, auch in der, wo ich am leichtesten von 112; 485 Dir und uns abstrahiren, und mich als reine unbefangene Zuschauerin in irgend eine Welt hineinstürzen kann - Du weißt schon, wenn das ist, wenn Du eben von mir gegangen bist, und ich am vollsten bin von Dir. Freilich weiß ich sie fast auswendig, und habe schon Manchem zu seiner großen Kränkung mit langen tüchtigen Stellen daraus gedient; aber das hilft mir Alles nicht; ich muß mit den Augen darauf ruhen können, um mich bei dem festzuhalten, und es recht hin und her zu besehen, worüber ich noch so viel zu fragen habe. Dessen ist warlich nicht wenig, und weil Du doch willst, ich soll Dir etwas über das Buch ausdrüklich sagen, so möcht' ich Dir am liebsten das vortragen. Aufgefallen ist mir besonders das gänzliche und bestimmte Abläugnen der Möglichkeit, daß es eine reine Freundschaft geben könne zwischen Männern
5 Deiner] deiner
15 Deinem] deinem
8 - 1 0 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 65-75, besonders 72-75; KA 5,22-24, 10f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 73; KA 5,24 3 5 - 1 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 5,32-34
besonders 108-114;
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und Frauen. Du weißt, daß ich aus eigner Erfahrung gar nicht darüber urtheilen kann; nicht einmal eine Freundin habe ich jemals gefunden, und f ü r alle Männer, mit denen ich in nähere und besondere Verhältnisse gekommen bin, und deren waren nicht wenige, habe ich mehr oder weniger sinnliche | Gefühle gehegt, und ohnerachtet ich gerade diese mit der naivsten Natürlichkeit ihnen entgegentrug, konnte ich mich doch keinem ganz mit meinen innern Eigenheiten aufschließen und hingeben; nur Du bist mir Alles geworden, was mein H e r z bedarf, Geliebter und Freund. Und darum sollst Du mich auch hierüber belehren, da überdies Dein Beispiel mich in der Scheu bestärkt, jene Behauptung deshalb zu unterschreiben, weil in meiner Erfahrung das Gegentheil davon nicht vorgekommen ist. Du hast ja eine Freundin, so sage mir doch, wie es zugegangen ist, daß sie Deine Freundin blieb, ohne Dir etwas anderes zu werden? So etwas, w o f ü r ich Gott nicht genug danken kann, und was ich nicht eher glauben konnte, bis Du es mir selbst sagtest, möchte ich doch auch, wo möglich, gern verstehen. Indeß muß ich Dir nur sagen, es wird Dir leicht genug werden; denn wenn ich recht in mich hineingehe, kommt es mir vor, als würde mir jezt möglich sein, was mir noch nie möglich war. Ehe ich liebte, war mit jedem Wolgefallen an einem Manne, das mich ihm näher führte, auch ein Wunsch und ein Versuch ihn zu lieben verbunden; jezt fühle ich, daß ich ein | ganz reines Wolwollen empfinden könnte, wenn mir einer vorkäme, der es verdiente, und nicht nur Wolwollen, auch Vertrauen und ein gewisses Eröfnen meines Innern, was ich nicht anders als Freundschaft nennen könnte, nur daß sie zwischen den beiden Arten, die Julius in dem Briefe an Antonius aufstellt, in der Mitte stehen würde. Ja ich kann mir jezt auch denken, daß ich eine Freundin haben könnte, wenn ich nur eine fände, auch das konnte ich sonst nicht. Sage mir Friedrich, finden wir denn mit der Liebe, und nur mit ihr, Alles andere? Ich meine uns Frauen: denn mit Euch ist es anders; Du hattest ja die Freundschaft vor der Liebe gefunden, und Julius auch. Uns spricht aber dieser alles T a lent zur Freundschaft ab, nicht nur mit Männern, sondern auch unter uns. Meine Erfahrung ist auch hier mit ihm; aber mein Gefühl nicht. Ich sollte denken, Friedrich, wem das Unendliche nicht zu groß ist, dem könnte auch das Beschränkte nicht zu klein sein, und so stellt doch Julius die Freundschaft der Liebe gegenüber, vorne wenigstens; denn hinten scheint er fast anderer Meinung zu sein. Wenn es nur darin liegen soll, daß die Freundschaft ganz geistig sein, und bestimmte | Grenzen
12-14 Anspielung auf Schleiermachers Freundschaft mit Henriette Herz 25f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 282-285; KA 5,77/ 35 f Vgl. ζ. B. F. Schlegel: Lucinde 108f; KA 5,32f 36f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 286-293; KA 5,78-80
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haben muß, ich dächte, das wollte ich wol leisten. Im Grenzen finden und festhalten bin ich von jeher eine große Heldin gewesen. Bei allen meinen Versuchen zu lieben, die natürlich bei etwas Endlichem stehen bleiben mußten, war es mir immer fast im ersten Augenblick klar, daß es etwas Endliches war, und auch bestimmt, was ich wußte, wie weit Jeder mich verstand, und wie weit ich mit Jedem gehen könnte und würde; wieviel mehr würde es mir jezt klar sein, da durch die Liebe und durch Dich alle meine Ansichten und Einsichten soviel bestimmter und reiner geworden sind. Mit dem ganz Geistigen, da möchte ich auch lächeln, daß mir das eine Schwierigkeit sein sollte, jezt meine ich. Der Leib ist Dir ja ganz hingegeben, als Werkzeug und Organ der Liebe nemlich, und das ist untheilbar, und außerdem kann er nur noch gemeines Gut sein f ü r alle, nemlich um daran die innere Anmuth zu schauen, die uns Allen gemein und Jeder eigenthümlich sein soll. Weißt Du noch etwas drittes damit zu machen? Ich dächte, es könnte nicht einmal eine Anwandlung dazu entstehen, und ich habe nun gar keinen Sinn mehr für die Simultanliebe, wie Richter es nennt, die ich | ehedem oft zu Malen tragen konnte, in so fern nemlich wirklich etwas ähnliches wie Liebe darin sein soll. Diese hätten mein Wesen zerstören können, wenn mir nicht immer das Bessere vorgeschwebt, und Du, der mir Alles sein kann, erschienen wärst. So wird das Unvollkommene von dem Vollkommenen vertrieben. Aber desto besser dächte ich, und desto reiner könnte sich nun die wahre Freundschaft, die ja etwas ganz Anderes ist, neben die wahre Liebe hinstellen. Das sind so meine Gedanken durch einander; nun sage Du mir, was Recht ist darin. Noch mehr aber ist mir der schneidende Unterschied aufgefallen, den Julius macht zwischen der Liebe der Männer und der Frauen. Das könnte ich mir wol gefallen lassen, lieber Friedrich, daß bei uns Frauen die Liebe ursprünglich und bei Euch nur abgeleitet sein sollte. Wie oft habe ich Dir aus dem innersten Herzen heraus gesagt, wenn Du irgend etwas an mir schön und gut findest, oder gar als etwas besonderes loben und bewundern wolltest, daß ich gar nichts könnte und wüßte als lieben; daß das meine einzige Kunst und mein einziges Verdienst ist, und immer sein soll. Was so das ganze Wesen des Menschen ausmacht, das muß | freilich ursprünglich in ihm sein, sonst wäre er ja gar nichts. Bei Euch ist das nicht so. Du Unendlicher kannst noch viel Anderes als lieben, und wenn gleich die Liebe sich in Alles verbreitet, und ich wenigstens sie in Allem sehe: so kommt doch nicht Alles nur aus der Liebe allein her. Friz, wenn wirk-
17 Vgl. Richter: Hesperus oder 45 Hundposttage, 3 Bde, Berlin 1795, hier Bd 1,274-276; 1/3, edd. H. Bach/E. Berend, Weimar 1929, S.172f 21 f Vermutlich Anspielung IKor 13,10 26-29 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 62.202; KA 5,21.56
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lieh Deine Liebe nur abgeleitet wäre aus der meinigen! meine die Quelle, und ich gewissermaßen die Schöpferin Alles dessen, was Liebe ist in Dir, und was ich so liebend und unersättlich anschaue und wieder in mich einsauge! Nein, diesen stolzen Gedanken kann Deine Geliebte nicht ertragen, und wenn Julius so liebt wie Du, wird es ihm Lucinde niemals geglaubt haben. Auch muß es nicht so sein. W a r u m soll so einseitig eine Liebe abgeleitet sein von der andern? Jede ist Ursach und Wirkung der andern, so gewiß als jede Liebe zugleich Gegenliebe, und jede wahre Gegenliebe zugleich Liebe ist. Aber das war es nicht, was mich eigentlich verwirrt hat in Julius Theorie; sondern die Ungleichartigkeit, die er annimmt. N u r in uns soll die Liebe ein völlig durchgearbeitetes in allen seinen Theilen und Aeußerungen gleichartiges Gefühl sein, und in Euch nur ein rascher, beweglicher Wechsel aller | jener Be- 118 standtheile. Je mehr ich darüber denke, desto weniger kann ich mir das denken; und hier ist nicht einmal meine Erfahrung auf seiner Seite. Nein die schöne Erfahrung, die Du mir täglich giebst, macht mir das Gegentheil zur lebendigsten Gewißheit. Es müßte nur in den frühesten Zeiten, wo noch nicht Alles in uns klar und fest war, ein Paarmal geschehen sein, daß ich bei Dir die Leidenschaft oder die Sinnlichkeit allein gesehen hätte, und auch von diesen möchte ich es nicht mit Gewißheit behaupten, weder von Dir, noch von mir; aber gewiß von mir eben so sehr als von Dir. Jezt würde es mich ängstigen, wenn ich nur fürchten dürfte, dies jemals zu finden: denn es würde mich aufs schmerzlichste aus meinem innigsten Gefühl und aus meiner klarsten Anschauung von Dir herauswerfen. Es ist aber nicht so. Wenn wir unser Sinnen und Denken und Handeln bis in seinen geheimsten Sitz verfolgen, und überall aufs neue die unendliche Uebereinstimmung unserer Geister antreffen, daß Du entzükt ausrufst: sind wir denn mehr als Ein Wesen, Leonore? Dann durchglüht uns auch gewiß am stärksten und göttlichsten das heilige Feuer der Liebe, und dann feierten wir am | 489 liebsten ihre höchsten Mysterien. Und wenn Du, an meine Brust ge- 119 lehnt, alle Deine Freude an mir, und alle Deine Sehnsucht nach dem schönen Leben, das wir im Auge haben, in der unmittelbaren N ä h e meines Herzens aushauchst: dann fühlen wir auch beide am tiefsten, wie einig wir sind durch und durch, und mich durchzükt, wie ein göttlicher Blitz, der mich fast verzehrt, eine unendliche, zusammenhängende Reihe von gleichen Gedanken und Gefühlen, die vom höchsten Himmel bis in den Mittelpunkt der Erde reicht, und mir Vergangenheit und
4 Deine] deine
32 Deine ... Deine] deine ... deine
11-14 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 202; KA 5,56
35 wir] wird
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Zukunft, und Dich und mich und Alles erleuchtet und erklärt. Und Dir ist es auch so, ich fühle es und weiß es, wenn Du auch nichts sagst. Sieh nur, wenn in Dir die Liebe so ganz anders wäre, als in mir, wie könnte ich dann auf jede Frage in mir eine Antwort finden in Dir? wie könnte jeder T o n , den ich noch so leise angebe, in Dir ansprechen? wie könntest Du mich verstehen, wenn so viel Anderes in mir wäre, in einem solchen Augenblick, wo in Dir nur Sinnlichkeit oder Leidenschaft wäre. Laß mich keinen solchen erleben, lieber Mann, ich würde Dir nachgeben, ich würde auch aus mir verbannen für den Augenblick, | was nicht 120 zugleich in Dir wäre: aber was f ü r bittere T h r ä n e n würde ich weinen, und wie würde mein ganzes Leben nun einen Schmerz haben, der nicht mehr verginge! Doch was schwärme ich doch in Unmöglichkeiten! Und wenn gleich hier die höchste Wissenschaft der Liebe ist, die ich irgend in einem Buche gefunden habe, das glaube ich ihm doch nicht. Vielmehr ist dies einer von den Punkten, wo ich Julius besser zu verstehen glaube, als er selbst. Das ist nicht der Unterschied der Geschlechter, sondern der Grade; diese Sonderung der Elemente, wenn auch nur f ü r einzelne Augenblicke, ist noch Unbildung und Schülerwesen. Julius soll also wol noch nicht so vollendet in der Liebe dargestellt werden, als Lucinde. Warum erfahren wir aber nicht, wie diese es wurde? warum ruht auf der Geschichte ihres Werdens ein solcher Schleier, da doch lie- 490 bende Frauen früher und unbegränzter offen sind, als Männer. Auf ihre Lehrjahre hätte ich eine große Neugierde. Wird der zweite Theil sie enthalten? Werde ich recht haben, daß in diesem von dem, was den Unverständigen am anstößigsten ist, wenig vorkommen wird, aber viel f r o hes und freies Leben, wie es immer im Gefolge der Liebe ist? | Doch das 121 müßte ich den Verfasser fragen, den ich nicht fragen kann. Du weißt, wie es mit meinem Schreiben ist: ich muß aufhören, und zwar diesen Augenblick. Geschwind will ich Dir noch ganz roh ein Blättchen Gedanken beilegen, wie sie mir beim Lesen aus der Feder geflossen sind. Adieu, mein süßes Leben, laß Dich bald wieder umarmen.
12 Und] und
16f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 73; KA 5,24 23 Von dem geplanten, aber nie veröffentlichten zweiten Romanteil haben sich im Nachlaß nur Bruchstücke erhalten (vgl. KA 5,83-92).
Beilage.
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(Das Original von diesem Blatte kann ich nicht missen, und was ich Dir abschreibe ist bei weitem nicht Alles, sondern nur das, was sich noch am unmittelbarsten auf die Lucinde bezieht. Du kannst den5 ken, daß Leonore, die so gern in sich und über sich spekulirt, aus Gelegenheit derselben Vieles gedacht und hingeworfen hat, was nur auf sie und mich geht. Damit mußt Du Dich gedulden, bis Du einmal herkommst.)
Die sogenannte schönste Situation nimmt wol mit Recht nur einen 10 ganz kleinen Raum ein in der dithyrambischen Fantasie, deren eigentli-|ches Thema die Liebe selbst ist, ohne alle Situation; oder wenn 123 man doch etwas Einzelnes will, der erhabene mystische Gedanke, der darin angegeben ist. Kann denn ein Scherz mit der Liebe, eine mimische Parodie das Höchste und Schönste sein? Der Stoff ist es freilich: denn 15 in den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertauschen des Bewußtseins, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste. Ganz läßt sich das aber nicht parodiren, sondern der Scherz muß, eben wie er es hier in der Nachbildung ist, von dem 491 heiligsten Ernst durchdrungen sein. Und warum denkt man sich nicht 20 das zarte Geheimniß, welches hier aufbewahrt ist, gerade so? Scherzen läßt sich doch mit den kleinen Eigenheiten und zufälligen Manieren, die aus dem hervorgehn, was in Jedem noch Ungebildetes und Unvollendetes ist, und dieser Scherz kann den höchsten Genuß umspielen, eben wie sein Gegenstand an demjenigen hängt, was eigentlich geliebt 25 und angebetet wird.
Das ist wol nicht wahr, daß die Liebe und die Schilderung derselben allein dieses Aergerniß | und diesen H a ß angerichtet hat. Die Den- 124 9 Vgl. F.Schlegel: 5,10-13
Lucinde
28f;
KA
5,12f
10 Vgl. F. Schlegel:
Lucinde
16-29;
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kungsart ist es, der große und freie Stil des Guten und Schönen, diese f ü r die kleinlichen Menschen riesenhafte und ungeheure Moral, auf der die Lucinde als auf ihrem ewigen Fundamente ruht, und die überall mittönt. Aber an diese wagen sie sich nicht: denn der Witz und die soge5 nannte Frechheit, von der sie recht gut wissen, was sie eigentlich ist, das sind Personen, mit denen sie sich aus guten Gründen nicht gern etwas zu schaffen machen. Es ist nur eine gemeine Maaßregel, daß sie ihre ganze Anklage gegen jenen Punkt richten, ein schlechter Kunstgriff; denn wenn man sich nun über die Liebe mit ihnen einlassen wollte, 10 müßten sie doch auf jenen ihnen so furchtbaren Streit zurükkommen; da ist bei Gott keine Gnade.
Solche einzelne Blitze, die bis in die innerste Tiefe hineingehn, merkt wol fast Niemand. Wie zum Beispiel das schöne W o r t vom Witz: „er wuchs und dehnte sich, bis er nicht mehr war", und - „in mir 15 glaubte ich ihn wieder zu finden, ein Stück meines Selbst, und | doch 125 verschieden von mir". - Merke Dir nur ein f ü r allemal, daß mir keiner entgeht, so voll auch das ganze Buch davon ist, und so sehr ich mich auch ins Ganze vergrabe.
Jeder hat doch seine eigne Eitelkeit. Wir Frauen mögen gar zu 492 20 gern Alles, was uns liebenswürdig vorkommt, an uns selbst f ü r persönliche Eigenheit halten; die Männer nehmen gern das, was sie trotz aller Selbstzufriedenheit an sich belächeln müssen, f ü r Charakter des Geschlechts. Es ist gar lieblich, wie Julius mit dieser Täuschung spielt. Der Muth, und besonders der, welcher dazu erfordert wird, ein Held oder 25 ein Künstler zu werden, der lebendige und schaffende Enthusiasmus ist gewiß etwas Gemeinschaftliches in allen Männern, so gewiß als er ausschließend in ihnen ursprünglich, und in uns immer nur abgeleitet und angelernt ist. Aber wie ungebildet und ungeschikt er noch ist, das ist doch gewiß etwas persönliches. Die Ironie, die der Dichter hierüber mit 30 seinem Helden treibt, kann nicht weiter gehn, und nicht würdiger sein, und hat mich unendlich amü-|sirt. Wie höchst gebildet ist nicht die Per- 126 siflage der gemeinen Bücher- und Gesellschafts-Moral; aber so wie Enthusiasmus und Zorn gegen das Falsche und Unächte an die Reihe
4f
Vgl. F. Schlegel: Lucinde 40-59;
KA 5,16-20
1 4 - 1 6 F. Schlegel: Lucinde 54; KA
5,19
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kommt, ist eine gar anmuthige Beimischung von etwas H ä r t e und U n bildung gar nicht zu verkennen. Und indem Julius so seine innerste Persönlichkeit abdrukt, glaubt er selbst nur das allgemeine Costum der Männer nicht zu verletzen. Ich bitte Dich, habe doch auch etwas von 5 dem Zorn, der in Julius sein soll, damit ich den T r i u m p h haben kann, Dir ihn auszutreiben. Denn Zorn, wie gebildet er auch sei, ist doch immer eine Rohheit und Ungeschlachtheit des Muthes, die durch die Liebe hinweggenommen werden muß.
Wie kann Julius nur am Ende einen Traktat mit der Eifersucht 10 schließen? auch nur mit solchen kleinen Anfällen von etwas Aehnlichem! Und wie kann einer Frau so etwas kommen, die es dahin gebracht hat, alles so groß und so nachlässig zu nehmen! Aber freilich, so lange die Liebe des Mannes noch in einem Wechsel ih-|rer einzelnen 127 Elemente besteht, kann auch die Eifersucht der Frau wol an ihrer Stelle 15 sein.
Wie schön ist das überall angedeutet und durchgeführt, daß der 493 Mann durch die Liebe an Einheit gewinnt, an Beziehung Alles dessen, was in ihm ist, auf den wahren und höchsten Mittelpunkt, kurz an Klarheit des Charakters; die Frau dagegen an Selbstbewußtsein, an Ausdeh20 nung, an Entwickelung aller geistigen Keime, an Berührung mit der ganzen Welt. Mir wenigstens scheint dies ein ganz allgemeines Verhältniß zu sein. Ihr bildet uns aus; aber wir befestigen Euch. Wunderlich kommt es immer heraus, wenn man das Umgekehrte annimmt; aber gar toll ist jede Darstellung, wo Männer und Frauen schon ganz vollendet 25 und fertig die Liebe nur so finden, als eine Zugabe oder als den höchsten Gipfel der Glükseligkeit. Da muß es freilich Intriguen und Katastrophen geben: denn was sollte in dem Buche sonst stehn? Den armen Leuten scheint es eben auch im geistigen Sinne unzüch-|tig, zu zeigen, 128 wie die Menschen durch die Liebe gemacht werden.
9f Im Dialog „Treue und Scherz" (F. Schlegel: Lucinde 94-119; KA 3,29-35) halten Julius und Lucinde „einen langen Diskurs über die Eifersucht" (107-119; KA 3,32-35; Zitat: 107; KA 5,32)
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Du kannst Dir denken, wie ich diese Lehrjahre begriffen habe. Wie wunderschön und klar ist hier die Sehnsucht nach Liebe, die das Gemüth vernichten oder vollenden muß, und die Schmerzen, die ein Mensch, der zum höhern Leben bestimmt ist, zu leiden hat, ehe er ge5 boren wird.
Auch die, welche Manches Andere verstanden, haben das so gemein genommen, daß die Geliebte keinen Theil ihres Freundes dem Staat oder den Andern überlassen will; und es ist doch so klar. Aber es giebt eben keine Worte, welche eben und dürftig genug f ü r sie wären. 10 Ja, Friedrich werde Alles, was Du sein kannst, noch außerdem, daß Du der meinige bist, den Freunden und der Welt. Aber überlassen? Nein! ich muß Alles, was Du ihnen giebst, noch vollständiger haben, weil ich das Ganze habe; ich muß Dich überall verstehen, wenn | ich auch hie 129 und da die Sachen nicht verstehe. Und auch das soll ein Ende nehmen, 494 15 und einen Krieg soll es gar nicht geben zwischen der Liebe und dem heldenmäßigsten oder wissenschaftlichsten Leben.
Gott sei Dank, ich weiß doch, daß es nichts ist mit dieser wunderlichen Ketzerei, die zwar nicht ausdrüklich behauptet, aber vernehmlich genug angedeutet ist, als ob das schöne Band der Liebe sich erst dann in 20 das heiligere einer wahren Ehe verwandelte, wenn die Liebenden sich als Vater und Mutter begrüßen. Auch im Uebermaaß der schönsten und würdigsten Freude sollte Niemand so etwas sagen. Wie habe ich mich damit gequält, denn es liegt etwas in dem Gedanken. Aber als ich es mir aus tausend Ursachen wahrscheinlich gemacht hatte, und wei25 nend vor dem heiligen Tempel stand, in den ich kaum hineinzugelangen hoffe, da fiel mir der köstliche Augenblick ein, und die schönen Thränen der Freude, die Du dabei weintest, als ich Dir sagte, daß, und wie ich Dich neben allen andern Lieben auch mit der einer zärtlichen Mutter liebte. Und mußt Du | mich nicht auch väterlich lieben, da ich ja 130 30 Deine ewige Schülerin sein werde? und achtest Du nicht schon lange die äußerlichen Dinge mehr als sonst meinetwegen? und treibt es Dich nicht eben so die unsterblichen Früchte zu tragen, welche Geist und Willkühr bilden? Und nun weiß ich wie es ist. Es giebt freilich auch innerlich einen Unterschied zwischen Liebe und Ehe, und in der ersten ei-
1 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 119-210; KA 5,35-58 5,11 1 8 - 2 1 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 223-225;
7f Vgl. F.Schlegel: KA 5,61 f
Lucinde
21;
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nen Brautstand vor der lezten; aber in der Welt der Gefühle fängt nichts so grob an mit einer äußern Begebenheit oder einem sichtbaren Zeichen. Die erste Freude der Liebe weiß von gar keiner Sorge, das ist die bräutliche Ruhe, in der sie einander nur sehen in ihrer göttlichen 5 Unwrlezlichkeit und Unsterblichkeit. Wenn aber die äußere Welt ihnen wieder aufgeht, und jeder Acht hat f ü r den Andern, daß sie ihn nicht unangenehm berühre, dann entstehen alle Gefühle, welche die Liebe zur Ehe machen, denn alle Sorge ist mütterlich und väterlich. Aber wie hinreissend und schön ist nicht diese Begeisterung von der 10 höchsten W ü r d e der Natur. Und doch wem das das einzige Heilige 495 wäre in der Lucinde, das Einzige, wovon er zu reden wagte, der verdiente nicht es gelesen zu haben. Wer denselben Geist | nicht überall 131 findet, hat ihn gewiß auch hier nicht entdekt.
Der beklagt sich, nicht singen zu können, der dieses entzückende 15 Duett gemacht hat? Alles, was noch in mir lebt von Musik, hat es aufgeregt aus dem langen alten Schlummer. Es ist zu schön und zu heilig, um nur davon zu reden, und wenn ich es vorläse, würde michs verdriessen, wenn Jemand ein Wort darüber sagte. Aber wie ist der eine T o n hineingekommen, der mich so wunderbar stört? ich verstehe ihn nicht. Macht 20 er nicht f ü r Jeden einen Mißlaut mit dem Grundton, der die Ewigkeit der Liebe verkündigt?
Ich meinte erst mit dem Duett dürfe der Theil wol schließen; aber nein, die Tändeleien sind dazu noch weit schöner. Welche Stimmung! Das besänftigende Oel ist ausgegoßen über das stürmische Meer, und 25 nun bewegt sich das Schifflein mit stiller Zuversicht in der heiligen U m gebung. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie mir zu M u t h e ist; ich fühle in mir selbst die Allgewalt der Liebe, die Gottheit des Men-|schen und 132 die Schönheit des Lebens. Die Metamorphosen waren die erste Geschichte des liebenden Gemüths; dies ist seine lezte Vollendung. „Dem 30 Rhythmus der Geselligkeit und Freundschaft folgen, und keine H a r m o -
15 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 286-293; KA 5,78-80 1 8-21 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 290f; KA 5,79 20f Vgl. Briefe 3,189 23 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 293-300; KA 5,81 f 28 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 216-222; KA 5,59-61 29-1 F. Schlegel: Lucinde 299; KA 5,82 30 Statt folgen ,Q: zu folgen
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nie der Liebe stören": giebt es eine höhere Weisheit und eine tiefere Religion? kann man klarer das Gesez aussprechen, nach dem wir das Leben abspielen sollen? Laß mich immer anbeten das köstliche Werk, und den Dichter einkleiden als Priester der Liebe und der Weisheit.
1 Statt stören Q : zu stören
A c h t e r Brief.
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Mir ist doch noch Niemand vorgekommen, der den wesentlichen Unterschied zwischen guten und schlechten Büchern, und daß er gar nicht nur im Grade besteht, so praktisch bewiese als Du. Andere M e n schen suchen sich gewöhnlich doch auch aus schlechten Büchern, wenn sie sich einmal mit ihnen abgeben müssen, irgend etwas heraus oder hineinzulesen, und unternehmen es ordentlich davon zu reden. Du hingegen brauchst sie immer nur zum Schimpf und Spott; aber f ü r jedes ächte und schöne Werk der Kunst hast Du einen reinen Sinn. Und wie hat Dich dieses von allen Seiten ergriffen und angeregt, Du liebes Geschöpf, und was f ü r ein köstliches | Geschenk hast Du mir gemacht, in- 134 dem Du mir so manchen freien Blick vergönnst in die innersten Tiefen Deines schönen Gemüthes! Du hast mir die Unendlichkeit der Lucinde aufs neue bewiesen: denn so kann nur etwas afficiren, was nach innen zu unbegrenzt einen unerschöpflichen Reichthum von Gedanken und Gefühlen enthält. Nächstdem aber auch Deine eigne: denn das Neue, was ich in Dir entdecke, nimmt kein Ende, obgleich Nichts fremdes darin ist. Beinahe möchte ich darüber klagen, daß es mit der Entdekkung der Verschiedenheiten zwischen uns gar nicht f o r t will, die organischen ausgenommen, die wir von Anfang an kennen. In dem, was Du über die Lucinde sagst, habe ich eben auch keine gefunden; Du hast mir nicht einmal die Beantwortung Deiner Fragen übrig gelassen, sondern auch die selbst übernommen. Ueber das Räthsel von der Freundschaft kann ich nach meinem innersten Gefühl keine andere Auflösung geben als Du. Es ist eben so, daß Ihr nur mit der Liebe und durch sie alles Andere findet, und die Freundschaft gehört auch zu den Ausdehnungen und Bereicherungen, zu denen Ihr erst dann geschikt werdet. 497 Vor der Liebe scheint mir eine Freundschaft zwischen Mann und Frau |
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etwas unnatürliches und ein leeres, ja sogar sträfliches Unternehmen: denn warum soll nicht bei denen, die doch mit Versuchen in der Liebe begriffen sind, alles, was sich von Natur dazu eignet, ein solcher Versuch werden? Ist es aber nicht ganz etwas Anderes, wenn irgendwo schon Liebe ist? Es giebt wol wenig männliche Naturen edler Art, und sie müssen sich in einem so außerordentlichen Zustande befinden als Julius, in denen Liebe aufkeimen könnte f ü r eine Frau, die sie vom ersten Augenblick an schon als ein fremdes Gut ansehn; wie aber eine solche Liebe, noch als Liebe zurükbleiben kann, nachdem eine bessere und vollkommenere aufgegangen ist, die von der schönsten Gegenliebe genährt wird, das ist mir völlig unbegreiflich, und es giebt also f ü r mich zwei T ö n e in dem schönen Duett, welche ich nicht fasse. Hast Du diesen überhört, oder klingt er Dir heller? Dagegen kann ich sehr gut begreifen, wie Freundschaft zwischen Männern und Frauen entstehen kann, welche schon lieben, und zwar nicht etwa nur in Ermangelung eines Besseren, sondern ganz von Natur, mit voller Zustimmung des H e r zens und ohne einige geheime Wünsche. Das begreift nun wieder Julius | nicht. So sind die Grenzen des Einzelnen in diesem unendlichen Gebiet, welches Keiner ganz besizt, und wo es schon eine seltene Gabe ist, dasjenige nur zu erkennen und zu verstehen, was außerhalb des Eignen liegt. Glaube nicht, daß ich D i c h damit loben will; es ist nichts Dir fremdes, was Du hier verstehst, Dein Gefühl und Dein grader Blick überfliegt nur Deine Erfahrung. Gewiß könntest Du, nun Du liebst, Freundin eines Freundes sein, und ich hoffe, Du wirst es auch noch: denn Dein schönes Talent dazu darf nicht verloren gehn. Die vollkommene Symmetrie des Eigenthümlichen, das beständige Zusammentreffen im Heiligsten und Schönsten von jedem Punkte aus, wirst Du bei keinem Andern finden und sollst es auch nicht; das bleibt mein Vorrecht, in so fern ich zugleich Dein vertrautester Freund bin. Als innige Theilnahme am Werden und Handeln eines Andern, als unbegrenzte Offenheit in Deinen Gedanken darüber, als zarten Einfluß auf Gefühl und Willen durch weise und freigebige Mittheilung, als beständiges Bestreben nicht eben das Wesen des Freundes durch das Deinige, sondern seinen Zustand seinem Wesen gemäß zu ergänzen - so denke ich mir die Freundschaft, | welche zwischen Dir und einem andern Manne mög-
20 nur] unr
5 - 8 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 167-178; KA 5,47-49. Hier schildert F.Schlegel seine eigene Beziehung zu Caroline Schlegel, geb. Michaelis, verw. Böhmer. 8-11 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 291 f ; KA 5,80 11 f Vgl. Briefe 3,189 11-13 Vgl. oben 205,18-21, außerdem 166,24-26 17f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 108f; KA 5,32f
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lieh wäre, und würde sie nicht diesen Namen verdienen? Ganz gleich könnte sie freilich nicht sein, wenn er nicht auch liebt, und ganz vollendet nicht, wenn ich ihn nicht auch an mich ziehe und Alles Eins wird. Möglich muß auch ein solches Glück sein: denn man kann es sich wirklieh denken. Auch das ist wol in der Ordnung, daß Du noch keine Freundin gehabt hast, ehe Du liebtest: aber wie liebenswürdig öfnet sich jezt Dein Gemüth diesem Gefühl, welches mir zur schönsten Vorbedeutung wird für unsere Z u k u n f t ! Das sollst Du mir aus der innersten Tiefe der Weiblichkeit entwickeln, sobald wir wieder mit M u ß e mit einander reden können. Das wußte ich, daß neben der Liebe auch die wahrhaftige und schöne Moral Dich entzücken, und daß Du große Freude haben würdest, so manches auch über das Leben Dir recht aus der Seele geschrieben zu finden. U n d trotz dieser Sittlichkeit habe ich doch schon o f t mit hören müssen, wie ganz rechtliche und hübsche Leute meinten, der Julius sei doch ein unbedeutender Mensch, und die Verwirrung, die seiner Voll-|endung voranging, schien ihnen nur Mangel an K r a f t und Thätig- 138 keit und sträfliche Vernachlässigung seiner selbst und des Berufs. Der Mensch soll eben nicht Zeit haben, etwas zu suchen, am wenigsten sich selbst, und wenn er sich gefunden hat, begreifen sie auch nicht, warum er so ein Freudenfest anstellt, als habe er eine nüzliche Entdeckung gemacht. So schreibet sich allerdings ein guter Theil des Hasses von der Moral her, und auch die Besten haben nicht so viel Respekt vor der Poesie, daß sie die Ideen ihrer Aufmerksamkeit würdigen sollten, wel- 499 che ein Kunstwerk darstellen will. Demnach denke ich, es soll auch von dieser Seite nicht ganz verloren sein. Wer nur wenigstens f ü r Eins von Beiden Sinn mitbringt, f ü r wahre Sittlichkeit oder wahre Liebe, dem kann nun in dieser Anschauung ihrer innigen und nothwendigen Verbindung der Sinn f ü r das Andere aufgehn. So sind wir natürlicher Weise in unsern Gedanken ganz zusammengetroffen; wirst Du das als eine Verschiedenheit ansehn, daß ich Dir zu Deinen schönen Fantasieen das Gegenstück bringe, und ihr Ende ausspreche, da Du | nur den Anfang angedeutet hast? Du vertiefst 139 Dich in die unendliche Wechselwirkung unserer Gefühle, die dadurch einander immer ähnlicher werden müssen, daß jedes der Stoff ist f ü r das Andere. Hier in der Mitte bleibst Du, und die ist der eigentliche Anfang, der Anfang der Wahrnehmung und der Reflexion; die beiden Enden lassen sich nicht ausdenken. Die innige Gemeinschaft wächst ununterbrochen, und der Stoff f ü r sie geht niemals aus. Aber eben weil die Liebe die Gemeinschaft unseres Wesens ausmacht, muß sie in Jedem 14f Und ... hören] im OD teilweise Und mit dieser ... o f t hören Vol-|lendung
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ihren Ursprung haben; ob man sie gleich nicht so weit verfolgen kann, weil, wie Du Eingeweihte ganz recht sagst, hier nichts mit einem sichtbaren Zeichen anfängt. Der Augenblik, da die Liebe zuerst ans Licht tritt, und Licht schafft aus dem innern Chaos, welches von nun an aufhört eines zu sein, ist eben so unerforschlich und unbegreiflich, als jedes andere Entstehen. Kennen wir doch beide den Zustand der Sehnsucht und des Liebenwollens, als das, was vor dem neuen Leben in uns war; und wie hast Du mir ihn geschildert, daß ich Dich noch immer daf ü r anbete! Aber wo hast Du das hergenommen in der Lucinde? gerade aus der geheimnißvollsten | und wunderbarsten Stelle, und im Grunde 140 aus dem, wovor Du selbst erschrikst. Sagt denn Julius, daß die Liebe Euch angeboren und ursprünglich wäre, und nur in Euch zur Vollendung käme? oder redet er nur von ihrem sinnlichen Element? ich meine so, wie man es ansehen muß, nicht roh und für sich, sondern wie es sich 500 durch Reflexion wieder ausscheiden läßt aus der Mischung des Ganzen, nicht ohne Spuren seiner Vereinigung mit dem Entgegengesezten. D a ß Ihr nun hier die Quelle seid, und wir aus Euch schöpfen müssen, gründet sich bloß auf die Voraussetzung, daß die Liebe in Euch zu einem innigeren Ganzen gedeiht, daß Euch hierin natürlich ist, was f ü r uns das höchste fast unerreichbare Ziel bleibt. Gott sei Dank, daß Du es läugnest, daß Du es trotz aller Erfahrungen, die man darüber haben mag, nicht auf unsere N a t u r zurükwirfst, und daß Du in mir diese Unvollendung nicht gefunden hast, deren sich Julius bewußt ist. Sei auch nicht bange, meine süße Freundin, ich sehe Dich immer ganz, und so kann nie Sinnlichkeit oder Leidenschaft allein in mir sein. - Denke nur wie viel geistige Erinnerungen bei uns an allem hängen, was die Liebe uns vergönnen kann, | und wie Du und ich der Erinnerung pflegen. Da- 141 mit Du Dich aber nicht auf unser Eigenthümliches zu verlassen brauchst, und aller zarten Sorge über mich enthoben werdest, will ich Dir sagen, wie ich über die ganze Sache denke, oder vielmehr, ich will unser gemeinschaftliches Denken ordentlich aussprechen. Die Liebe wächst ins Unendliche dem Grade nach, das erfahren wir, wie Du weißt, täglich; sie wächst ebenfalls ins Unendliche ihrem Wesen nach, indem ihre Bestandtheile sich immer inniger verbinden und eins werden, und das erfahren wir auch, liebe Eleonore, wenn gleich jezt nicht mehr so merklich, als in der Zeit, da Du erst zur Ruhe gebracht wardst. N u n giebt es also zwei Wege, in der Liebe zur Vollendung zu kommen, weil diese beiden Fortschritte doch nur selten oder nie gleichmäßig geschehen können. Einige haben von N a t u r einen hohen Grad von Sehn-
10 Vgl. vermutlich 62; KA 5,21
F.Schlegel:
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286f; KA 5,78
11-13
Vgl. F.Schlegel:
Lucinde
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s u c h t n a c h d i e s e m o d e r j e n e m T h e i l d e r Liebe, u n d s o ist d i e L i e b e a u c h g l e i c h s t a r k , s o b a l d sie w i r k l i c h w i r d : a b e r i h r e E l e m e n t e s i n d n i c h t a u c h in d e m s e l b e n G r a d e i n n i g m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n , sie s i n d s i c h n u r e i n e s o d e r d e s a n d e r n b e w u ß t , u n d d i e ü b r i g e n s c h l u m m e r n n o c h in 5 d u n k l e n A h n d u n g e n . J e d e s n e u e , w e l c h e s sie f i n d e n , w i r d a u c h | b a l d m ä c h t i g , a b e r j e s t ä r k e r j e d e s f ü r s i c h ist, d e s t o l a n g s a m e r v e r s c h m e l z e n sie in e i n a n d e r ; a l s o s t r e i t e n sie u m d i e H e r r s c h a f t u n d w e c h s e l n . S o w e r d e n o h n e U n t e r s c h i e d d e s G e s c h l e c h t s alle h e f t i g e N a t u r e n i h r e B a h n v o l l e n d e n , n i c h t o h n e g r o ß e E r s c h ü t t e r u n g e n . I s t sie d i e s e r E r 10 s c h ü t t e r u n g e n w e g e n d i e b e d e n k l i c h e r e , s o l a ß u n s d a f ü r g e s t e h e n , d a ß sie g e w i s s e r m a ß e n d i e n a t ü r l i c h e r e ist: d e n n d a s m e n s c h l i c h e G e s c h l e c h t s e l b s t ist sie g e g a n g e n . A n d e r e h a b e n v o n N a t u r m e h r e i n z a r t e s G e f ü h l f ü r d e n w a h r e n u n d h ö c h s t e n C h a r a k t e r d e r L i e b e ; w a s sie f ü h l e n , ist d a s B e d ü r f n i ß , d i e v e r s c h i e d e n e n G e f ü h l e , d i e n u r s c h w a c h 15 u n d als A h n d u n g in i h n e n v o r h a n d e n s i n d , a u f s i n n i g s t e z u v e r b i n d e n . S o w ä c h s t die A h n d u n g u n d die H o f n u n g m i t d e m M e n s c h e n selbst bis z u m F i n d e n d e s G e g e n s t a n d e s . D a n n ist d i e L i e b e , n i c h t i h r e r U n e n d lichkeit, a b e r d o c h i h r e m w a h r e n W e s e n n a c h , gleich g a n z d a , n i c h t als e t w a s w u n d e r b a r e s - m a n w e i ß , d a ß sie s i c h l a n g e g e r e g t h a t - a b e r a l s 20 e t w a s N e u e s , n i e g e s e h e n e s , a n b e t u n g s w ü r d i g e s . I h r e e i n z i g e U n r u h e ist n u r , o b a u c h A l l e s s o ist, w i e sie m e i n e n , u n d o b d a s G e f ü h l v o n d e r U e b e r e i n s t i m m u n g ihres Bewußtseins mit ihrer Idee nicht eine T ä u s c h u n g ist. | D a r u m s e h e n sie m a n c h m a l m i t s c h ü c h t e r n e m Z a g e n o d e r schwerfälliger Bedenklichkeit den einzelnen A e u ß e r u n g e n der Liebe zu, 25 b i s a u c h d a s A l l e s ü b e r w u n d e n ist. D a n n b l e i b t i h n e n n i c h t s ü b r i g , a l s im s c h ö n s t e n G e n u ß u n d im f r e i e s t e n Spiel ins U n e n d l i c h e w a c h s e n z u l a s s e n , w a s d i e G ö t t e r i h n e n g e g e b e n h a b e n . T r o k n e W o r t e s i n d es, in d e n e n ich d a s R e s u l t a t D e i n e r z a r t e n B e o b a c h t u n g e n ü b e r u n s b e i d e u n d m e i n e r G e d a n k e n D i r d a m i t t h e i l e , D u m u ß t sie v e r s t e h e n u n d 30 w ü r d i g a u s b i l d e n . D u w e i ß t n u n , w a s D u n i c h t z u b e s o r g e n h a s t , d e n n D u w e i ß t , w o h i n w i r g e h ö r e n . A b e r l i e b e G e l i e b t e , V o l l e n d u n g ist a u c h f ü r die Liebe n u r im T o d e , u n d so w e r d e n jenen i m m e r n o c h bisweilen d i e E l e m e n t e d e r L i e b e als W e c h s e l e r s c h e i n e n , u n d e i n e F r a u , d i e s e l b s t diesen W e g ging, o d e r den Geliebten ihn gehn sah, wird nicht d a v o r er35 s c h r e c k e n , s o n d e r n d u r c h s i c h s e l b s t d e n Z u s t a n d d e s A u g e n b l i k s e r g ä n z e n . U n d D u leises n a c h d e n k l i c h e s G e m ü t h , w i r s t n o c h l a n g e d e n Probirstein nicht aus d e r H a n d legen, u n d i m m e r streichen u n d vergleichen, w e n n v o n d e n u n e n d l i c h vielen E r s c h e i n u n g e n d e r Liebe eine n e u e in u n s a u f g e h t ; u n d i c h w e r d e d o c h i m m e r g l a u b e n u n d w i s s e n , 40 d a ß D u i m K l a r e n b i s t ü b e r | u n s u n d A l l e s . D a s ist d a s P r o g n o s t i k o n
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unserer Liebe; aber was f ü r eins stellst Du ihr nach außen, in der Begeisterung, in welche die Lucinde Dich gesezt hat! Wir sollten unsre Geschichte und unsere Anschauungen zu einem Gegenstück verarbeiten? Dein Gedächtniß wäre dazu vortreflich; aber wo ist mir die Kunst? Betrachte nur, wie reich daran dieses Werk ist, und laß ihr Gerechtigkeit wiederfahren, in Absicht auf den Antheil, den sie hat an der großen Wirkung auf Dich. Es ist eine schöne Fantasie, und ich will Dich nicht darin stören; ich will nur aussprechen, daß sie zu denen gehört, welche Fantasie bleiben müssen. Die Liebe ist selten; aber Werke wie dieses müssen noch seltner sein. Denn ihnen muß wirklich gefühlte Liebe zum Grunde liegen, sonst würde ihnen der lebendige Hauch, die zarte Beweglichkeit und die strenge Richtigkeit fehlen, wodurch dieses f ü r uns so reizend wird: aber nicht jeder Liebe folgt auch die Kunst, nicht jeder Pfeil, den der Sohn der Venus Urania abschießt, verwandelt sich in einen Griffel. Einen großen freien Stil des Denkens und Lebens haben wir uns selbst gebildet, und ein zartes bewegliches H e r z haben uns die Götter gegeben. So laß | uns handelnd, wie wir bisher thaten, die schöne Vereinigung der Selbstständigkeit und der Liebe darstellen. Was von Poesie in uns ist, ist doch wol nur die unmittheilbare der Natur und des Herzens, die f ü r uns immer die Quelle des Zartesten und Schönsten im Leben sein wird, aber sich doch weigert, in die Welt hinaus zu gehn. Pflege sie als mein liebstes Eigenthum in Dir, und wisse, daß ich bald wiederkomme, Momente mit Dir zu leben, welche verdienten, gedichtet zu werden.
1 unserer] im OD teilweise mehrerer lichkait
11 f Beweglichkeit] im OD teilweise Beweg-
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Zürne nur nicht, liebe Schwester, daß ich Dir so unendlich lange nicht geschrieben habe. Dafür schicke ich Dir jezt das neueste Stück des Athenäums mit, welches so eben die Presse verläßt, und worin Du gar herrliche Sachen finden wirst. Heute sage ich Dir nichts darüber, denn ich will nicht wieder Einleitungen zu Deiner Lektüre machen; das reizt Dich nur, wie ich bemerkt habe, zur Polemik und nimmt Dir Deine Unbefangenheit. Nur so viel, daß ich Dir die Stanzen an Heliodora, und die angestrichenen Stellen in den Ideen zur Beherzigung empfehle, um vorläufig inne zu werden, | wie unrecht Du in einer Dei- 147 ner Haupteinwendungen gegen die Lucinde, wenigstens dem Verfasser, gethan hast, wenn Du anders, wie es scheint auch an ihn dachtest. Du mußt aus den Stanzen - die Dir hoffentlich auch in anderer Rüksicht merkwürdig sein werden - ersehen, wie groß er sich die Wirkungen der Liebe denkt, und was kann stärker und eigenthümlicher über ihre Kraft gesagt werden, als daß sich um eine liebende Frau, und nur um sie, eine Familie bildet, in dem tieferen Sinne, wie das heilige Wort hier genommen ist? Aber Du hast doch auch dem Buche sehr Unrecht gethan, wenn Du meinst, es sei zu wenig äußere Welt darin als Objekt der Thätigkeit. Sobald vom Leben die Rede ist, gebe ich Dir unbedingt recht, daß ein Mann, dem sich eine Frau ergab, sich aus der bürgerlichen Welt, wie schlecht sie auch ist, nicht ausschließen darf, und es fortdau-
7 Deiner] deiner
9 Deine] deine
4 f Das erste Stück des dritten Bandes der von Friedrich und August Wilhelm Schlegel veranstalteten Zeitschrift „Athenaeum" erschien im April 1800 in Berlin. 9 f Vgl. F.Schlegel:An Heliodora, in: Athenaeum 3/1,1-3; ΚΑ 5,152f 10 Vgl. F. Schlegel: Ideen, in: Athenaeum 3/1,4-33; ΚΑ 2,256-272 I7i Vgl. F. Schlegel: Ideen, Nr. 126, in: Athenaeum 3/1,27; ΚΑ 2,269 1 9 - 2 1 Vgl. oben 162,23-164,14
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rend zu wollen, wäre allerdings eine wunderliche Gesinnung; aber diese ist ja nirgends weder angepriesen noch ausgedrükt. Es ist nur abstrahirt von der bürgerlichen Welt und ihren Verhältnissen, und das ist doch, weil sie so sehr schlecht sind, in einem der Liebe geheiligten Kunstwerk schlechterdings nothwendig. Bilde | Dir doch nicht ein, daß alle VerWicklungen, Gemüthsbewegungen und Thaten, welche daraus hervor gehen können, im Stande wären, die Liebe zu erläutern oder zu verherrlichen, und daß es deshalb der Mühe lohnen könne, das Gemeine und Unwürdige mit auf den Schauplatz zu bringen, und mache Dir den Unterschied zwischen einem Roman und einer Novelle recht klar, um bestimmt zu wissen, was Du von jedem fodern darfst. Fast wäre ich in Versuchung, um ihn recht schneidend aufzustellen, Dir etwas sehr starkes zu sagen, Du mögtest mich aber zu sehr verketzern, und ich will es lieber darauf ankommen lassen, ob Du es selbst findest. Viel zu geringschätzig aber sprichst Du von dem, was die Liebe auf Julius Kunst gewirkt hat, und hast das Beste darin gewiß übersehen. Du mußt Dir diesen Gegenstand mehr entfremden, so wirst Du sehen, daß mit wenigen Worten viel gesagt ist. Und ohne Dich etwas mit der Kunst zu befassen und das M a a ß Deines Sinnes d a f ü r überall zur H a n d zu haben kannst Du auch sonst gar vieles nicht verstehen. Es ist eine Eigenheit, die durch das ganze Buch hindurchgeht, daß der Verfasser in keiner Charakteristik, die mehr als angedeutet sein soll, zur Ruhe kommt, ohne zugleich die Werke, | die ein Jeder macht, von welcher Art sie auch sein mögen, zu schildern, und ist dies nicht eine ganze Seite eines Mensehen, die sonst mit Stillschweigen übergangen wird? Deshalb muß auch Lucinde eine Künstlerin sein. Ich mache Dich hierauf nur aufmerksam, es muß Dir nun, wenn Du es verfolgst, von selbst eine Menge von neuen Ansichten geben. Freilich ist Dir und mir und gewiß den meisten Lesern das Verstehen dieses Elementes dadurch nicht wenig erschwert, daß gerade die bildende Kunst gewählt ist, f ü r die es wenig Sinn unter uns giebt, und noch weniger Kenntnisse darin. Dies mag aber eine unumgängliche Nothwendigkeit gewesen sein, und wenigstens hat es große Vortheile gewährt. Bedenke nur das Eine, daß nun alle Poesie in Julius und alle Annäherung dazu schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist, und erwäge bei Dir selbst die Seltenheit dieser Vereinigung. Schon das wird Dich einsehen machen, daß er nicht füglieh schon vor der Liebe die Poesie haben durfte. Wolltest Du etwa lieber, daß ihm Musik oder Mimik zugetheilt worden wäre? Die erste wäre gewiß eben so schwierig zu behandeln gewesen, und die lezte ist ja in der Wirklichkeit, über welche doch nicht profetisch hinausgegan-
14-16 Vgl. oben
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gen wer-|den konnte, von Gemeinheit so dicht umgeben, daß auch ein 150 großer Meister sie nur parodisch hat behandeln können, und daß ihre Einführung noch ärger gewesen wäre als das Versenken des Ganzen in die gemeine bürgerliche Welt. Und auch die gesellige Wirkung der Liebe ist ja nicht übergangen. Siehst Du denn nicht die gute Gesellschaft im Begriff gemacht zu werden? Fasse Deine Seele nur ein wenig in Geduld. Und siehst Du nicht den Unterschied in der Art wie jezt die Menschen auf Julius wirken und er auf sie? Das ist nur eine wunderliche Verwöhnung, daß Du die äußeren Begebenheiten alle mit haben willst, um die Lücken in der Charakteristik daraus zu ergänzen, eine Verwöhnung die nur aus der Schlechtigkeit der bisherigen Romane entstanden ist, und zu unnützen Spizfindigkeiten und leeren Untersuchungen führt, weil Begebenheiten allemal vieldeutig und unendlich sind. Wenn Du nun wüßtest, wie so und warum Julius bald hier ist und bald da, würden Dir nicht störende Fragen entstehn über das Sollen, und über das, was er möglicher Weise hätte thun können? worauf doch gar nichts ankommt. Ist Dir nicht der zweite Brief unendlich mehr werth, als die tragischste Schilderung dieser gefährlichen Krank-|heit? 151 Hätte sich mit einer solchen dies reine aus einem Stück gegossene Gemälde des Eindrukes vereinigen lassen? und wäre es nicht ganz verkehrt, jene zu geben und dieses dem Leser zu überlassen? Es wäre U n recht, wenn ich darüber noch ein Wort verlöre. N u r darauf muß ich Dich führen, daß Du überhaupt die Wirkung der Liebe zu sehr aus dem weiblichen und zu wenig aus dem männlichen Standpunkt angesehen hast. Du mußt sie mehr nach innen zu suchen. D a ß die Verwirrung gelöst und in einem zerstörten Gemüth Harmonie und Ruhe hervorge- 506 bracht wird, das ist doch bei Gott das Größte und Würdigste, was die Liebe auf einen Mann wirken kann; das lies Dir doch ja recht heraus. Dies und das Werden der Poesie sind Haupt-Effekte, und Du wirst auch immer entsprechende Gegenstücke f ü r jedes finden, und daraus vielleicht am besten die nothwendige Anordnung des Ganzen und den innern Zusammenhang der Theile erkennen; so wenigstens scheint es mir.
Indeß läugne ich Dir nicht, daß auch ich Manches, was 35 nach innen zu geht, zu wenig angedeutet finde. Guido und stehn da, wie ein Paar Hieroglyphen in einer le-|serlichen Schrift: man sieht ihnen an, daß sie nicht Schnörkel sind, aber
gar sehr Antonio schönen 152 man ver-
2 Anspielung vermutlich auf Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, 4 Bde (auch: Neue Schriften, Bde 3-6), Berlin 1795-1796 17 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 249-262; KA 5,68-71 35 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 291; KA 5,80 35 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 108.272-28 5; KA 5,32.74- 78
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Vertraute
Briefe
steht sie nicht. Ich möchte es eine Unzüchtigkeit der Form nennen, die Fantasie so aufzuspannen und zu quälen. Auch sonst magst Du hie und da Recht haben, was zum Beispiel das Theoretisiren betrift. N u r gestehe doch ein, daß es so ist, wie es einem Künstler, dem alles Kunst werden muß, gar wohl ziemt, und daß sein Denken doch auch zu dem gehört, was dargestellt werden soll. Weißt Du das anders zu machen? Und nun laß in Gottes Namen diese polemischen Ansichten und Betrachtungen ruhen, die doch immer nur auf dieses und jenes gehen und die Ansicht des Ganzen verhindern. Es ist wohl immer besser, sie zuerst abzumachen, als bis zulezt zu versparen; aber abgemacht laß sie nun auch sein, und genieße nicht etwa noch einmal, sondern immer wieder die hohe Schönheit und Poesie des vortreflichen und einzigen Werkes. Ich habe mich allem Streiten darüber schon längst entzogen, und es dem stillen unerschöpflichen Genuß und der einsamen andächtigen Betrachtung geweiht, für die es gemacht ist.
15 gemacht ist.] folgt im OD auf S. 133 das Impressum Wesselhöft."
lf
Vgl. Gedanken
III, Nr. 60a (KGA
1/2,134,6-8)
„ J e n a , gedruckt bei Frommann und
Rezension von Friedrich Schlegel:
Lucinde
(Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 6, Teilband 2, Berlin 1800)
L u c i n d e . Ein R o m a n v o n F r i e d r i c h S c h l e g e l . Erster Theil. Frölich. Berlin 1799. 1 Wenn ehedem eine Unglückselige der schwarzen Kunst halber angeklagt wurde, war es höchst gefährlich, ihre Unschuld eher vindiciren zu wollen, als bis sie glücklich abgethan war. Von Büchern wird dies wohl immer gelten, und deßhalb ist, aus schuldiger Achtung gegen die öffentliche Meinung, von der Lucinde in diesen Blättern noch nicht die Rede gewesen. In der T h a t hat das Verfahren gegen dieses Buch - in der äußeren Erscheinung wenigstens - eine schneidende Aehnlichkeit mit jenen Prozessen, wo es doch die Bosheit war, welche die Anklage bildete, und die fromme Einfalt, die das Urtheil vollzog; Kräfte, die in der litterarischen Welt gar nicht existiren sollten. H a t man etwa, nachdem sich die fürchterlichen Anklagen von einzelnen, aller Sittlichkeit und aller O r d n u n g H o h n sprechenden Stellen, und von einem verderblichen Geiste des Ganzen erhoben hatten, das Buch gelesen? Eben so wenig, als man sich um die eigentlichen Facta bei jenen Prozessen zu bekümmern pflegte. Aber Einer spricht und deutet dem Andern nach; und nachdem das Publikum auf diese Art bearbeitet ist, bleibt den Richtern nichts | übrig, als - statt der K r i t i k - ihre gute Ermahnung noch zu v e r l i e r e n . Jetzt, nachdem das Buch vor einigen Wochen, wie man sagt, förmlich, unter allen, bei solchen Gelegenheiten üblichen, gottseligen Ceremonien, verbrannt ist, kann man eher versuchen, eine natürliche, nicht vom Aberglauben eingegebene Ansicht geltend zu machen, und durch Aufmunterung zum eigenen Lesen die Ergötzlichkeit vorzubereiten, die die Vergleichung des Buches mit der gemeinen Meinung davon einem Jeden gewähren muß. In der That, wenn ein Arzt seinem Kranken eine unschuldige Dosis Salpeter verschreibt, und dieser, anstatt das Mittel zu nehmen, es zerlegt, und ihn dann als einen Giftmi1
Eingesandt.
8 f Über die zeitgenössische Aufnahme des Schlegelschen Romans informieren Paul Ktuckhohn in seiner Untersuchung „Die Auffassung der Liebe im 18. Jahrhundert und in der Romantik" (3. Aufl., Tübingen 1966, S. 414-424.449f.505.i66f.578f.615f) und Hans Eichner in seiner Einleitung zur Kritischen Ausgabe der „Dichtungen" Friedrich Schlegels (vgl. KA 5,XLVILV). 13-15 Vgl. ζ. B. Drey Briefe an ein humanes Berliner Freudenmädchen über die Lucinde von Schlegel, Frankfurt/Leipzig 1800
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Rezension von Schlegel: Lucinde
scher anklagt, der Scheidewasser verordnet, so kann das kaum lustiger seyn. Es ist freilich etwas bekanntes, daß die Liebe unter diejenigen Erscheinungen des Gemüths gehört, welche von den Wenigsten, ihrem innern Wesen nach, begriffen werden, und auf welche schon der Hauch der Meisten eine zersetzende K r a f t äußert; aber doch, wenn nun nach dieser schönen Operation die doppelte Klage entsteht, der Verfasser habe ein verführerisches Buch schreiben wollen, es aber z u m G l ü c k selbst unschädlich gemacht durch die metaphysische Schwärmerei, von der er nun einmal nicht lassen könne; oder, er habe diesmal seinen wohlbekannten Unsinn über die Liebe ergießen wollen, sich aber dabei der Libertinage nicht entäußern können, von der sein verderbtes H e r z voll sey: so enthalte sich einer des Lachens über diese Weisheit, die weder in so schönen und klaren Widersprüchen ihren eigenen Unverstand wittert, noch durch den Anblick derselben zu einer Ahndung von der höheren Absicht des Werks geleitet wird. Erwartet hatten wir eine andere Klage, zu der aber wahrscheinlich, jener Mißverständnisse wegen, noch Niemand Raum gefunden hat, daß nämlich die Lucinde eher alles andere sey, als | ein Roman, da sie in Stoff und Form von allem abweicht, was f ü r wesentlich dazu gehalten wird. Wie sie dennoch durch Stoff und Form, die einander ganz vorzüglich angemessen sind, dieser Gattung angehöre, kann hier nur leise angedeutet werden. Schon die so gewöhnliche Vergleichung des Romantischen mit dem Dramatischen f ü h r t darauf, daß Jenes eine so viel möglich vollendete Anschauung des innern Menschen geben soll. Auch diese kann freilich nicht anders, als durch Darstellung des Handelns hervorgebracht werden; aber nur wer von dem Glauben ausgehet, daß dem Menschen sein Inneres lediglich von außen angebildet werde, kann das äußere Handeln dazu f ü r hinreichend halten; jeder Andere wird
6 - 9 Vgl. [Huber:] Rezension von F. Schlegels „Lucinde", in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1800, Bd 2, Nr. 130 (7.Mai 1800), Jena/Leipzig 1800, Sp. 297-300, hier: „[...] denn die Libertinage, deren sich der V f . befleißigt, ist durch seinen metaphysisch-poetischen Unsinn unschädlich gemacht, und bey dem tölpelhaften Enthusiasmus, (S. 30) der ihm ursprünglich und wesentlich in der Natur des Mannes, zu liegen scheint, der, wie er hinzusetzt, leicht bis zur Grobheit göttlich ist, heben sich, zum Glück für die Jugend, die an plumpen oder feurigen Schilderungen der Wollust ein schädliches Wohlgefallen finden könnte, die wirkliche Tölpeley, und der soi-disant Enthusiasmus, so ziemlich gegen einander auf. " (Sp. 297) 9-12 Anspielung vielleicht auf das satirische Drama „ Gigantomachia " das Theodor Heinrich August Bode 1800 anonym gegen die Frühromantiker veröffentlichte. Bode läßt den Giganten Enceladus (d. i. Johann Wolfgang Goethe) über den Zwillingsgiganten Felo rus (d. i. F. Schlegel), der als Autor der „Lucinde" (vgl. 44) und als Anhänger des Müßiggangs (vgl. 140. 152) charakterisiert wird, urteilen: „Denn was noch jener ausgeboten / Ist schwülstiger Schwall mit klaren Zoten." (55). Vielleicht aber auch überzeichnende Anspielung auf die anonyme Rezension von F.Schlegels „Lucinde" in: Litteratur-Zeitung, Jahrgang 1800, Bd 1, Nr. 28 (10. Februar 1800), Erlangen 1800, Sp. 217-224
Rezension von Schlegel:
Lucinde
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fordern, daß Gesinnungen und Ansichten unmittelbarer ausgesprochen werden, und Aeußerungen vorkommen sollen, bei denen die Beziehung auf einen Gegenstand gegen die Beziehung auf Ideen zurücktritt und verschwindet. Alsdann scheint die erzählende Form nur an den Enden des Romans zu liegen, da nämlich, wo der Mensch seine Freiheit und Eigenthümlichkeit noch nicht gefunden hat, und also noch durch den Zusammenhang des äußern Lebens äußerlich gebildet wird; oder da, wo er schon durch Freiheit sein äußeres Leben und seine Welt sich selbst bildet. Nach diesen Grundsätzen scheint die Lucinde construirt zu seyn, ob sie gleich am Ende dieses Theils noch nicht den letzteren Punkt erreicht hat, sondern in der Mitte, im Reflectiren über sich selbst und die Welt, und im organischen Ausbilden des eigenen Wesens stehen geblieben ist. Daher ist hier alles dem Helden selbst in die Feder gelegt, und nur die Zeit seines Suchens der Liebe in erzählender Form, und - um die Gränzen derselben desto besser halten zu können - in der dritten Person ausgesprochen, alles Uebrige aber unmittelbar an die Geliebte gerichtet als Brief, als Selbstgespräch, als Phantasie. Was | vor jenem historischen Theile hergeht, enthält - außer dem, was es für sich selbst ist - in mancherlei Gestalten eine Exposition des Stoffs und der Form, des Punktes von dem das Ganze ausgeht, des Geistes der darin weht, und der Welt von Lesern und Freunden, welche die Dichtung sich bilden möchte. Zu diesem Endzwecke ist alles nothwendig, was da ist, die Aufstellung der Liebe, der Freude und des Scherzes in der d i t h y r a m b i s c h e n P h a n t a s i e und dem Dialogen T r e u e und S c h e r z , die Forderung einer unbedingten Freiheit der Mittheilung, und die Constitution, nicht sowohl der Episode, als der lyrischen Form des Ganzen, die Classification der Romane, und die Würdigung desjenigen der der gewöhnlichste ist, die Persiflage der leeren Geschäftigkeit und des psychologischen Unwesens. In den L e h r j a h r e n der M ä n n l i c h k e i t werden wir nun in eine frühere Zeit zurückgeführt, wo Julius, durch das innere Bedürfniß getrieben, aber nichts ihm entsprechendes findend, was er sich zueignen könnte, sich in falschen Tendenzen und in innerer Verwirrung verzehret. Die Erscheinung Lucindens, durch welche wir wieder auf den eigentlichen Anfangspunkt des Ganzen hingeführt werden, beschließt dies historische Stück. Hier ruht die Dichtung gleich-
14-16 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 119-210; KA 5,35-58 23f Vgl. F.Schlegel: 16-29; KA 5,10-13 24 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 94-119; KA 5,29-35 25 F. Schlegel: Lucinde 29f. 38f; KA 5,13.15 25f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 12-15; 27 £ Vgl. F. Schlegel: Lucinde 40-59; KA 5,16-20 28 Vgl. F. Schlegels „Idylle Müssiggang" (Lucinde 77-94; KA 5,25-29) 28f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 5-12; 29 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 119-210; KA 5,35-58 33-35 Vgl. F. Schlegel: 189-210; KA 5,52-58
Lucinde Vgl. z.B. KA 5,8f über den KA 5,7f Lucinde
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Rezension
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sam noch einmal aus, und sieht von dem Individuellen in das Allgemeine zurück, indem Julius, als ein neuer Pausias, seiner Geliebten aus zarten und ganz eigen gedeuteten Mythen einen Kranz flicht, der sinnbildlich eine Geschichte des Strebens nach Liebe darstellt. Jetzt endlich nimmt das Ganze eine fortschreitende Richtung. Zwei Briefe schildern, der eine die reine Freude an der Liebe, die sich auch abwesend genießen läßt, und ihre süßesten H o f n u n g e n in einer begeisterten Ahndung der Vaterwürde, und des durch sie begründeten und nur durch sie recht verständlichen häuslichen Lebens, der andere den tiefsten | Schmerz bei der Lebensgefahr der Geliebten. Mit großer Weisheit sind hier Julius und Lucinde entfernt gehalten, damit die Darstellung des Inneren reiner sey, und der Eindruck davon nicht durch den des Aeußeren erdrückt werde. Zwei andere Briefe enthalten von der männlichen Freundschaft, die vor Entdeckung der Liebe f ü r Julius das höchste gewesen war, eine Ansicht aus seinem jetzigen Standpunkte. Indeß möchte es hier und an ein Paar andern Stellen zu tadeln seyn, daß äußere Verhältnisse, auf welche doch Bezug genommen wird, fast gar nicht angedeutet sind. Ueberhaupt fehlt den letzteren Abschnitten selbst jenes lose Band, das die Stücke vor den Lehrjahren zusammenhält, zwischen welchen ein Brief von Julius an Lucinde hindurchläuft, in dem Alles eingeschaltet ist. Diese hier stehn, ohne eine solche äußere Einheit, nur neben einander. Freilich sind sie durch die innere Bedeutung genau verbunden; aber wenn auch der, welcher im Stande ist, das Ganze von seinen Prinzipien aus völlig zu verstehen, ein äußeres Bindungsmittel nicht vermisset, so wird doch durch den Mangel desselben jeder niedere Grad des Verstehens und das Fortschreiten darin von einem andern Punkte aus gar sehr erschwert. Nach diesem Einzelnen sind S e h n s u c h t u n d R u h e und die T ä n d e l e i e n d e r P h a n t a s i e wieder Darstellungen des Ganzen, des höchsten stillen Genusses der Liebe und der durch sie vermittelten frühesten und freiesten Ansicht des Lebens. Wer von hier aus nicht alles übrige versteht, und mit dem Dichter eins wird, für den ist der Geist des Werks gewiß verlohren. Eben so eigen und neu, als die Oekonomie des Ganzen, ist auch die Auswahl und Behandlung des Einzelnen. So wird zum Beispiel das Verhältniß der Personen zur Kunst fast bei allen, von denen irgend die Rede ist, als ein Mittel der Cha-|rakterzeichnung gebraucht, und wirft auf die Figuren ein Licht, welches, wenn nicht andere Gesetze dieses
3£ Vgl. F.Schlegel: Lucinde 216-222; KA 5,59-61 5-9 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 222248; KA 5,61-68 9f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 249-262; KA 5,68-71 13-15 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 272-285; KA 5,74-78 19-21 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 9-16.29-31. 36-40.59-77; KA 5,8/13.15.20-25 28 Vgl. F. Schlegel: Lucinde 286-293; KA 5,78-80 28 Vgl F.Schlegel: Lucinde 293-300; KA 5,81/
Rezension von Schlegel: Lucinde
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Werks verletzt werden sollten, nirgend anders herkommen konnte. Dies ist eine der schwierigsten Eigenheiten: denn wer nicht selbst einen gewissen Grad von Kunstsinn und Kenntniß hat, wird den Eindruck, welcher gemacht werden soll, immer nur unbestimmt ahnden. Nächstdem stellt auch die Kunst des Buches selbst sich bisweilen als Prolog und Epilog hin, um über die Composition mit dem Leser freundlich zu reden, nicht nur vorne bei der etwas zu förmlichen Constitution der Form des Ganzen, sondern auch hie und da in Beziehung auf einzelne Theile, z.B. vor den M e t a m o r p h o s e n und nach der R e f l e x i o n . Wir wünschten, der Verfasser hätte bei einer solchen Gelegenheit auch Rechenschaft davon gegeben, warum die Vision und die Allegorie so sehr über alle andere Formen hervorragen, und unverhältnißmäßig o f t wiederkehren; dagegen die dialogische, die dem Romane wesentlicher zu seyn scheint, nur zweimal vorkommt. Aber freilich, wie sind auch diese zwei Gespräche! Treue und Scherz so höchst charakteristisch, daß es in dieser Rücksicht nicht leicht übertroffen werden kann, und Sehnsucht und Ruhe so poetisch, so erhaben und heilig, daß man nichts darüber mit Worten sagen darf. Ueberhaupt kann man die Klage über den Mangel an Poesie nicht ernstlich nehmen: nur den zweiten Brief an Lucinde braucht man zu lesen, um vom Gegentheile überzeugt zu seyn; und nun gar alles übrige! Wie könnte es auch an Poesie fehlen, wo so viel Liebe ist! Durch die Liebe eben wird das Werk nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch. Religiös, indem sie überall auf dem Standpunkte gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus ins Unendliche sieht; moralisch, indem sie von der Geliebten aus | sich über die ganze Welt verbreitet, und f ü r Alle, wie f ü r sich selbst, Freiheit von allen ungebührlichen Schranken und Vorurtheilen fordert. Wir gestehen, das Verhältniß der Poesie zur Moral nicht leicht anderswo so rein gefunden zu haben, als hier, wo keine von beiden der andern dient, aber jede in der andern lebt und sie verherrlicht.
8 Beziehung] Bieziehung
7 f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 12-15; KA 5,8f 9 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 211-216; KA 5,58/ 9 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 270-272; KA 5,74 15 Vgl. F.Schlegel: Lucinde 94-119; KA 5,29-35 1 6 f Vgl. F.Schlegel: Lucinde 286-293; KA 5,78-80 1 9 f Vgl. F. Schlegel: Lucinde 249-262; KA 5,68-71
Rezension von Johann Jakob Engel: Der Philosoph für die Band 3
Welt,
(Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel\ Band 3, Zweites Stück, Berlin 1800)
Wie, lieber Freund? Aus dem d r i t t e n T h e i l des P h i l o s o p h e n 243, 517 f ü r d i e W e l t soll ich ersehn, daß E n g e l gar wohl im Stande ist, auch jetzt noch etwas Gutes zu schreiben? Nun, das ist lustig! Ihre Widerlegung ist gewiß eben so a priori als meine Behauptung es damals noch 5 war: denn wenn Sie das Buch gelesen hätten, würden Sie die schönste Bestätigung meines Satzes darin gefunden haben. Das Lustigste ist, daß es auf das gut oder nicht gut gar nicht einmal ankommen darf; ich habe mich lediglich an das J e t z t zu halten. Sehen Sie die einzelnen Stücke nur flüchtig an, und es wird Ihnen gleich | einleuchten, daß man keine 244 10 günstigere Conjektur aufstellen kann, als die, daß fast alles ohne Veränderung aus alten Papieren genommen ist. D a ß der Malteserritter zu der n e u e n bayrischen Zunge gehört, die nun schon zum zweiten Male neu ist, daß über den Werth der Kritik Mendelssohn noch redend eingeführt wird, und daß das junge Frauenzimmer in der „ S p i n n e " gar in 15 das Sechszehnte Stück des Philosophen für die Welt zu Hause gehört gestehen Sie, antiquirter kan man unmöglich sein: - darauf will ich mich gar nicht einmal berufen. Glauben Sie indeß nicht, daß diese Verlegungen in alte Zeit etwa nur die Form constituiren, die doch jeder lf Engel: Der Philosoph für die Welt, Bd 3, Berlin 1800 2i Johann Jakob Engel (1741-1802), Gymnasialprofessor, Prinzenerzieher, Schauspieldirektor, Schriftsteller, hatte als führendes Mitglied des Kreises Berliner Popularaufklärer mehrere Schauspiele (ζ. B. Der dankbare Sohn, 3. Aufl., Leipzig 1786; Der Edelknabe, 2. Aufl., Leipzig 1776) sowie ethische und ästhetische Abhandlungen (z.B. Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, Berlin 1783; Ideen zu einer Mimik, 2 Bde, Berlin 1785-1786; Kleine Schriften, Berlin 1795; Fürstenspiegel, Berlin 1798) veröffentlicht. 11 f Vgl. den Anfangssatz der Reiseschilderung (28. Stück, Philosoph 3,1-38), die „Der Aetna" überschrieben ist: „Ein Malteser Ritter von der neuen Ordens-Zunge in Bayern, der Graf von S**, machte aus seiner Reise der Pflicht nach Valetta eine Reise des Unterrichts und Vergnügens, und nahm auf seinem Wege dahin die vornehmsten Merkwürdigkeiten Italiens und Siciliens in Augenschein." (Philosoph 3,1 f ) 13 f Vgl. Engel: Philosoph 3,77-87: Das Inhaltsverzeichnis macht zum 31. Stück die Angabe: „Zwei Gespräche, den Werth der Kritik betreffend ... Zweites Gespräch: Zwischen Moses Mendelssohn und einem jungen Dichter" (Philosoph 3,111). 14 f Im Anfangssatz des „Die Spinne. Ein Selbstgespräch" überschriebenen 33. Stücks (vgl. Engel: Philosoph 3,107-119) wird der Leser durch eine Anmerkung auf das 17. Stück („Proben Rabbinischer Weisheit", Philosoph 2,49-64) zurückverwiesen; das Druckfehlerverzeichnis (vgl. Philosoph 3,IV) korrigiert diese Angabe und verweist auf das 16. Stück (Philosoph 2,24-48), das „Der Habicht" überschrieben ist und zu dem das Inhaltsverzeichnis zusätzlich den Untertitel „Ein Gespräch über die Einführung der Raubthiere in die Natur" (Philosoph 2,111) anfuhrt. Doch auch dieser korrigierte Rückverweis ist falsch. Engel knüpft sein 33. Stück an das 15. Stück „Das Weihnachtsgeschenk" (Philosoph 2,18-23) an, weil dort von dem nun genutzten Papiergeschenk berichtet wird.
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von Engel: Philosoph, Bd 3
Schriftsteller frei wählen kann: nein, nein! es sind höchst wesentliche und nothwendige Decorationen, ohne die das Buch auch nicht einmal einen Inhalt haben würde. Wenn man nichts als alte abgemachte Sachen vorbringt, von denen heut zu Tage gar nicht mehr die Rede sein kann, so thut man freilich wohl, auch die Scene in alte Zeiten zu verlegen. Bis auf den Gipfel des Aetna sollen wir uns bemühen, um zu erfahren, daß menschliche Glückseligkeit nicht im Besitz, sondern im Streben und Erringen besteht; Graun, Euler und Mendelssohn werden aus der Unterwelt citirt, um uns zu sagen, daß die Kritik zwar nicht Kunst- 518 werke zu produciren lehre, aber doch an und f ü r sich einen Werth habe und nebenbei auch noch dem Künstler nützlich sei; in ein Irrenhaus müssen wir gehen, und dort bis an die Grenzen des Ekels aushalten, um zu lernen, daß das Laster - noch dazu nach | dem ganz gemeinen Begrif, 245 wo es endlich auf die Liederlichkeit hinausläuft - ein Wahnsinn sei; und f ü r ein Paar Stükchen Theodicee, daß nemlich am Ende auch der Unverstand das Gute befördere, und daß die Welt ohne T o d unmöglich bestehen könne, muß der gute Las Casas sich zum Deismus des achtzehnten Jahrhunderts bekennen, und hintennach noch eine ganze rührende Geschichte gedichtet werden! - W o in aller Welt mag die Welt liegen, f ü r die man noch jetzt über diese Dinge so philosophiren müßte, als wüßte nicht Jedermann längst, woran man damit ist? W o ist jetzt noch die Rede von der Herbeirufung der Franzosen zur Verbesserung unserer Litteratur? - Sie kennen die alte Legende von den Schläfern? Es ist doch nichts so toll ersonnen, was nicht endlich einmal wahr würde! Mir wenigstens hat das Buch gerade den Eindruck gegeben, als ob Engel, Gott weiß wieviel Jahre, geschlafen hätte, und nun, ohne sich erst 6-8 Vgl. Engel: „Denn eben das ist's, wovon der erstiegene Aetna mir eine so tiefe, lebendige Ueberzeugung gab: daß nicht Haben und nicht Besitzen des Menschen Seligkeit macht, sondern Streben, Erreichen." (Philosoph 3,18) 8-11 Vgl. Engel: Philosoph 3,69-87 11-14 Vgl. Engel: Philosoph 3,51-68, besonders 60-62 15f Vgl. Engels 36. Stück (Philosoph 3,148-164) „Entzückung des Las Casas. Oder: Quellen der Seelenruhe" (Philosoph 3,IV). Bartolome de Las Casas (1474-1566) hatte, um der Ausrottung der mittelamerikanischen Indianer entgegenzuwirken, 1542 bei Kaiser Karl V. Gesetze gegen die Versklavung und steuerliche Ungleichbehandlung der Indianer durchgesetzt und zu ihrer Durchführung den von ihm später bereuten Rat gegeben, durch die Einfuhr versklavter Schwarzafrikaner die Indianer zu entlasten. Engel stellt in der „Entzückung des Las Casas" in aufklärerischer Überzeugung die religiöse Rechtfertigung dieses üblen Ratschlags so dar, daß dieser Unverstand durch göttliche Vorsehung doch zum Guten gewendet werde (vgl. besonders Philosoph 3,155f. 159-162). 16f Vgl. Engels 39. Stück „Ueber den Tod. Zweite Unterredung" (Philosoph 3,215-236, besonders 220-230) 17f Vgl. Engel: Philosoph 3,162f 18f Vgl. Engel: Philosoph 3,232-236 21-23 Im 32. Stück, das einen als fingiert gekennzeichneten Brief „Mäcen an August" (Philosoph 3,88-106) enthält, worin zugunsten der römischen Literatur der Augusteischen Zeit deren Förderung statt der überlebten griechischen Literatur erbeten wird, äußert sich Engel in antikisierender Symbolisierung zugunsten der jungen deutschen anstelle der französischen Literatur.
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die Augen zu waschen, und sich in der Welt ein wenig umzusehen, gleich so weiter fortredete. Ich schwöre Ihnen, ich habe ordentlich darauf studirt, wie ich ihm auf die beste Art alle die kläglichen Ereignisse vorbringen wollte, von denen er doch f r ü h e r oder später hören muß. So böse ich aber auch bin, in Einer Rücksicht ist mir das Buch unendlich viel werth. Wenn nun wieder von der Arroganz der jüngeren Schriftstellergeneration die Rede ist, kann ich doch alle mühsamen und gründlichen Erörterungen zur Berichtigung der Begriffe sparen, und vermittelst dieses Buchs gleich zur Anschauung bringen, wie die wahre | Arro- 246 ganz aussieht, und wo sie anzutreffen ist. So viel Papier zu verschwenden, um so höchst triviale Dinge zu sagen, und dann noch die Prätension, daß man die alten Bände eines verlegenen Buches dazu bei der H a n d haben soll: gröber und arroganter und schlechter gegen das Pu- 519 blikum läßt sich nichts denken - das Eine etwa ausgenommen, wenn d i e s e Gedanken sich hätten unterstehn wollen, allein und ohne den großen Hofstaat von Redensarten, der sie umgiebt, aufzutreten, als ob sie für sich auch etwas sein könnten, das wäre freilich noch ärger gewesen. Wenn Sie beim Lesen auf den „ J o s e p h T i m m , " die „ S t a n d r e d e , " und das Gespräch „ ü b e r die F u r c h t v o r d e r R ü c k k e h r d e s A b e r g l a u b e n s " kommen: so werden Sie vielleicht sagen, daß Engel doch gar wohl wisse, was sich seit kurzem in der Welt zugetragen hat. Ja freilich! und es scheint wirklich, als habe er nicht die ganze Zeit geschlafen, auch nicht bloß gelebt, um zu lernen, „daß in der Welt nichts unmöglich, und nichts unausbleiblich ist;" sondern als habe er sich mit vielem Nutzen darauf gelegt, sein Talent zum Drolligen recht auszubilden. Die Specula auf der Pfarrwohnung, die gottselige Frau, und der Idealist machen sich im „Joseph Timm" recht hübsch zusammen, u n d
28 .Joseph Timm"] Joseph Timm
12 Vgl. Engels Anknüpfungen (Philosoph 3,107.1i2.215) an seine beiden ersten Bände „Der Philosophfür die Welt", die in l.Aufl. in Leipzig 1775-1777 und in l.Aufl. dort 1787 erschienen waren. 19 Engel: Philosoph 3,120-131 19f Engel: Philosoph 3,165-178 2 0 f Das 38. Stück (Engel: Philosoph 3,179-214) trägt die Überschrift „An Herrn G*z". Im Inhaltsverzeichnis ist der Untertitel „Ueber die Furcht vor der Rückkehr des Aberglaubens" (Philosoph 3,IV) hinzugesetzt. 24 f „ / . . . / der ich in der Welt genug erlebt zu haben glaube, um nichts für unmöglich, aber auch nichts fur unausbleiblich zu halten" (Engel: Philosoph 3,183). 27 Vgl. Engel: Philosoph 3,121; vgl. unten Anm. zu 230,8f 27 Vgl. Engel: „Dem Sohne ward's doch nur hier in Europa: der Mutter ward es im ganzen Erdenleben zu enge. Sie speculirte Ihnen, besonders die lezten Jahre über, so in die Ewigkeit hinein, daß fast mein Hauswesen darüber zu Grunde ging, und daß ich armer Mann in dieser Zeitlichkeit ihrer gar nicht mehr froh werden konnte. Der Geruch ihrer Heiligkeit war erstickend." (Philosoph 3,126) 2 7 f Vgl. Engel: Philosoph 3,127-131
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Sie werden Sich ordentlich freuen, daß der Verfasser die gemeinen dummen Redensarten über diese Philosophie - wie z.B. daß ein Mensch seinen eignen Vater macht, und daß Arme und Beine nicht Arme und Beine sind - doch auch schon gehört hat; so auch die alberne und ganz falsche | Ansicht des Kant, die in der „Standrede" verarbeitet 247 ist. Ist es aber nicht wunderlich, daß gerade d i e s e nicht einem andern untergelegt worden ist? Warlich, ein Philosoph f ü r die Welt sollte doch - wäre es auch nur der im „Joseph Timm" so hübsch ausgeführten etymologischen Einheit zu Liebe - von der Philosophie f ü r die Schule ein klein wenig mehr wissen; dagegen f ü r jeden Spaßmacher dieß gerade genug gewesen wäre. Doch das gilt nur, so lange man das acht und dreißigste Stück noch nicht gelesen hat. Dieses ist der Kern und Mittelpunkt des ganzen Buchs, es macht klar was es eigentlich mit der Philosophie f ü r die Welt zu sagen hat, und sichert den Verfasser besser als irgend eine Vor- oder Nachrede hätte thun können vor allen ungebühr- 520 liehen Ansprüchen. Die Philosophie besteht nemlich darin, daß es gar keine Philosophie geben soll, sondern nur eine Aufklärung; die Welt ist eine Versammlung gebildeter und unterrichteter Zuhörer, die jedoch hauptsächlich zu Tische sitzen und nur demnächst schöne Sachen hören wollen; und unser Philosoph will - wie einer der Unterredner Hr. J., nur auf eine weit uneigennützigere Art als dieser - die Ehre haben, eine solche Versammlung durch sophistische Klopffechtereyen zu unterhalten, in denen ganz offen und eingeständlich fütternde Bilder statt tüchtiger Gedanken, wie lustige Sprünge statt eines richtigen Ideenganges gelten, und ein schönes Wortgeklingel den Geist entbehrlich machen soll. Werden Sie sich nicht, wie ich, freuen, daß Ihnen nach dieser
8 „Joseph Timm"] Joseph Timm
2f Vgl. Engel: Philosoph 3,130 3f Vgl. Engel: Philosoph 3,129 5 Vgl. Engel: Philosoph 3,165-178, besonders 170-176 8f Vgl. Engel: „Herr Joseph Timm, ein ehemaliger Land-Eigenthümer, der jezt von seinen ansehnlichen Renten lebte, hegte in seinen lezten Jahren den unauslöschlichsten Haß gegen das Speculiren. Das bloße Wort mit allen verwandten Wörtern von gleicher Wurzel wirkte auf ihn mit der Kraft einer Zauberformel. Einem vieljährigen Freunde, in dessen Handlung er Capitalien hatte, sagte er Freundschaft und Capitalien auf, weil dieser in seiner Unschuld von Speculationen sprach, die er zu machen gedächte; von den Franzosen, deren Parthei er sonst eifrig hielt, sprang er zur Coalition über, weil er von jenen hörte, sie hätten eine Speculation auf Aegypten, und zum Bau der Pfarrwohnung in der St. Pauls-Gemeinde gab er nicht einen Heller, weil der Pfarrer, der ein schlechter Prediger aber ein guter Stemseher war, sich eine Specula darauf wünschte, die auch der Magistrat ihm bewilliget hatte." (Philosoph 3,120f) Das Spekulieren in Form von ökonomischen Risikounternehmungen, religiösen Jenseitserwartungen und idealistischen Philosophemen verfolgt Joseph Timm gleichfalls mit Haß und Abscheu (vgl. Engel: Philosoph 3,124f.126.127-131). l l f Vgl. Engel: Philosoph 3,179-214 23f Vgl. Engel: Philosoph 3,19if 24f Vgl. Engel: Philosoph 3,200f
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Entdeckung nichts mehr übrig bleibt, als | im letzten Stück - welches 248 auf eine höchst komische Art das ganze Buch mit einer Hochzeit beschließt - eine Erinnerung an die in solchen Fällen höchst tröstliche Lehre von der N o t w e n d i g k e i t alles Wirklichen? N u n sind wir freilich am Ende; aber ich kann Ihnen nicht helfen, Sie müssen noch einmal von vorne anfangen, und das zur gerechten Strafe. Haben Sie doch auch das Gerücht unterhalten, daß Engel ein Meister in der Composition kleiner Aufsätze wäre! Ich versichere, es soll Ihnen schwer werden, auch in dieser Rücksicht etwas schlechteres zu finden. Wenn Jemand Reisebeschreibungen oder philosophische Abhandlungen in Briefen schreibt, die nichts weiter von Briefen haben, als daß mein Herr, oder theuerster Freund darüber steht: so ist das unstreitig eine schlechte Manier; aber man weiß doch gleich, daß auf die Form weiter kein Werth gelegt werden soll, und läßt sichs zur N o t h gefallen. Eben so fordere wenigstens ich von einem Dialog weniger, wenn die 521 Personen Α und Β heißen, oder ohne weiteres nur mit einem Namen eingeführt werden. Sobald man aber diese Formen individualisirt, sobald offenbar Koketterie mit ihnen getrieben wird, und die Einbildung von ihrer Vortrefflichkeit so weit geht, daß der Verfasser glaubt, die Leser in besondern Anmerkungen benachrichtigen zu müssen, diese Formen seien nur fingirt: so müssen sie doch wenigstens mit einiger Consequenz ausgeführt werden, so muß doch Brief und Dialog so beschaffen sein, daß man die Möglichkeit sieht, solche Personen könnten in solchen Verhältnissen | so geredet oder geschrieben haben. Auch 249 diese geringe Forderung werden Sie nicht erfüllt finden! Wer in aller Welt wird sich in Catania hinsetzen, um an eine ganz artige Beschreibung einer Aetnareise so höchst gemeine, so Gott will philosophische, Betrachtungen anzuflicken? U n d nun gar ein Maltheserritter! Und wie sollte der sich nicht anders charakterisirt haben, als durch eine Anspielung auf die heiligen Wallfahrten, durch die Dummheit, daß er sich f ü r
1 Das 39. Stück ist „Ueber den Tod. Zweite Unterredung" (Philosoph 3,215-236) überschrieben und setzt das 13. Stück „ Ueber die Bestimmung zum Tode. Eine Unterredung" (Philosoph 1,146-180) fort. 2 f Der junge, in Trauer erstarrte Witwer Chevreau nimmt sich auf Bitten seines greisenhaften, Leben und Tod bejahenden Freundes Merville eines vaterlos gewordenen Knaben an. „Es war natürlich, daß die Bekanntschaft mit dem Kinde die mit der Mutter nach sich zog, die sich von ihrer Krankheit, oder eigentlicher von ihrem Grame, langsam erholte. Es war gleich natürlich, daß zwei Personen, die beide das zärtlichste Andenken an den Gegenstand ihrer Liebe im Herzen trugen, sich gegenseitig hochachteten, sich bald vertraulicher mittheilten, ihre Seufzer und ihre Thränen mit einander vermischten. Welche Folgen dieß endlich haben mußte, das darf man einem Leser wohl nicht erst sagen, der das Herz des Menschen kennt, weil ihm selbst ein Herz in der Brust schlägt." (Philosoph 3,236) 10 Vgl. Engel: Philosoph 3,1-38 lOf Vgl. Engel: Philosoph 3,88-106.179-214 1 9 - 2 1 Vgl. Engel: Philosoph 3,1.88 2 5 - 1 Vgl. Engel: Philosoph 3,1-38, besonders lf.37
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einen milden Stoiker nimmt, und - durch einige Sprachfehler? Gestehen Sie, daß das ungemein schlecht ist! Und dieses gänzliche Verfehlen der mit so vieler Prätension eingeleiteten Individualität werden Sie überall wiederfinden, beim Las Casas, bei dem jungen Frauenzimmer, beim Mäcen. Dieser aber ist bei weitem das ärgste. Einen so weitschweifigen, durch und durch modernen, unrömischen und unbrieflichen Brief soll Mäcen dem August geschrieben haben! Das Stück ist so unendlich langweilig, daß ich Ihnen gern ganz ersparen möchte es zu lesen. H ö r e n Sie also nur Einiges, ich will ganz treu referiren, und ich hoffe Sie sollen genug haben. Mäcen redet von „Meistern die dem herrlichen Instrument der reichsten, gebildetsten, wohltönendsten Sprache seine himmlischen Wohllaute, seine bezaubernden Harmonien entlockten;" von den „feineren und edleren Ergötzungen, die einst das Volk von Athen mit so schwärmerischer Anhänglichkeit liebte;" von der „Wonne, die dem Imperator bevorsteht von so überschwenglichen Schönheiten gerührt zu werden," von „ersten Musterwerken des reinen ächten Ge-|schmacks;" ja, in der Verlegenheit Horazens Satyren zu be- 250 schreiben nennt er sie „moralisch satyrische Versuche." Was sagen Sie dazu? Dabei versichert der Verfasser sehr ernsthaft: dies sei keineswe- 522 ges jene weichliche und getändelte Sprache die Mäcen gehabt haben soll. Ist das j e n e nicht sehr präcis? Die Gespräche sind wohl etwas besser, und das an sich unbedeutendste ist der Form nach das beste: aber auch diese! Wie wunderlich schließt das zweite von denen über den Werth der Kritik mit der Nachricht: daß ein Jude, Namens Abra-
14 liebte;"] liebte; 4 Vgl. Engel: Philosoph 3,148-164 4 Vgl. Engel: Philosoph 3,107-119 5 Vgl. Engel: Philosoph 3,88-106 10-13 „Das herrliche Instrument der reichsten, gebildetsten, wohltönendsten Sprache ist da, und ist von der Zeit unzerbrochen; aber die Hände, die es rühren sollen, sind ungeübt oder gelähmt: jene Meister, die ihm seine himmlischen Wohllaute, seine bezaubernde Harmonieen entlockten, sind hinab zu den Schatten gestiegen, und kein Herkules, wie götterähnlich auch seine Macht sey, wird sie von dort wieder auf die Oberwelt führen." (Philosoph 3,97f) 13 f „[•••] unsre Sitten werden sanfter und milder, und indem die Reichthümer, die aus jeder Weltgegend hieherströmen, uns Geschmack und Muße für jede Art von Ergötzungen geben, neigen wir uns immer sichtbarer zu jenen feinem und edlem hin, die einst das Volk von Athen mit so schwärmerischer Anhänglichkeit liebte." (Philosoph 3,99) 15 £ „ Wie wünsch' ich Dir Glück, Imperator, daß Dir die Wonne noch erst bevorsteht, die mir schon ward: von so vielen, so überschwenglichen Schönheiten gerührt zu werden!" (Philosoph 3,102f) \bi Engel: Philosoph 3,10$ η Engel: Philosoph 3,103 1 9 - 2 1 Vgl. Engels Anmerkung zum Brief „Mäcen an August": „Abgeschrieben im Vatican von dem Einbände eines alten Kirchenvaters. Die Echtheit ist schon wegen der Schreibart zweifelhaft, da sie ganz und gar nicht jene weichliche und getändelte ist, welche Mäcen gehabt haben soll." (Philosoph 3,88) 21 Engel: Philosoph 3,69-87.107-119 22 Vermutlich das 33. Stück „Die Spinne. Ein Selbstgespräch"(Engel: Philosoph 3,107-119) 24 Vgl. Engel: Philosoph 3,86f
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ham Wulff Lessingen zu seinem Al H a f i geseßen hat! Auf eine ungebührlichere Art hat wohl noch nie ein vornehmer Schriftsteller einen guten Freund unsterblich machen wollen. Was f ü r Reden kommen im „Irrenhaus" vor mit allen Amplifikationen, die man kaum der Kanzelberedtsamkeit verzeiht. Diese dominiren überhaupt sehr; Briefe und Gespräche müßen sich gefallen laßen, auf eine solche Art rhetorisirt zu werden. Wollen Sie das schön finden? Wollen Sie mich überreden, daß ein solcher Schriftsteller auch nur die ersten Anfangsgründe der C o m position inne habe? Doch, was rede ich länger? Sie haben mir gewiß schon längst in allem Recht gegeben, und werden es noch mehr, wenn Sie das Buch erst lesen. Also genug von Ihrem Engel. Vollkommen genug freilich f ü r den Freund, um ihn von einem alten Irrthum, von der Art die sich so leicht einsaugen, zurück zu bringen: aber vielleicht noch nicht genug f ü r Alle zur Würdigung des Buches. Man liest es doch nicht ohne ein gewisses Vergnü-|gen, wird man 251 sagen. Allerdings, und dies hat einen doppelten Grund. Erstlich ist alles darin sehr gut, was A n e k d o t e ist; sie sind pikant erzählt, und man kann gewissermaßen sagen, daß die Mimik des mündlichen Vortrags hier mit in Worte gesetzt ist, wie Lessing die Deklamation des Vorlesers in Worte setzte. Diese Kunst ist nicht zu verkennen, und sie wäre allen in einer ähnlichen Art erzählenden Schriftstellern zu wünschen. Möchte sich doch Engel dieser Gattung widmen! und warum sollte er gerade das nicht sein wollen, worin er wirklich ein Virtuose sein kann? Ueber den Unterschied zwischen dem was sich in dieser Gattung nur sagen, und dem was sich auch druken läßt, müßte er freilich noch nach- 523 denken. Er hat hier zweimal den Ansatz zu einem Gastmal genommen; will er uns wirklich eins geben, so sei es ein Gastmal von Anekdoten, es wird ein dankenswerthes Geschenk sein. N u r kein philosophisches, bis er von den Pythagoräern etwas merkwürdigeres weiß, als daß sie zuversichtlich auf das Wort ihres Meisters schworen, bis ihm Aristoteles aufhört ein hageres Geripp zu sein, und er andere Werke dieses Philosophen höher schätzt als die Poetik; ja wenn es möglich ist, bis er den Piaton etwas anders ansieht. - Zweitens haben die einzelnen Perioden eine für das O h r sehr angenehme Struktur, und der Wohlklang ist bis ins kleinste hinein sorgfältig herausgearbeitet. Dies findet sich in dem Grade noch nicht häufig in unserer Litteratur, und da es hier eben anzutreffen ist, so begnügen sich die Meisten damit. Wie viele lesen wohl | auch mehr in einem Buche als die einzelnen Perioden und ihre Theile? 252
4 Engel: Philosoph 3,51-68 18 f Vgl. Engel: Ideen zu einer Mimik, 2 Bde, Berlin 1785-1786 26 Vgl. Engel: Philosoph 3,39-50.179-214 29f Vgl. Engel: Philosoph 3,168 30£ Vgl. Engel: Philosoph 3,169 31 f Vgl. Engel: Philosoph 3,83 32f Vgl. Engel: Philosoph 3,174f
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Wer darüber hinausgeht, wer auch in der Art, wie verschiedene Perioden auf einander folgen und wechseln, eine gewisse Melodie, und in dem Ganzen einen T o n finden will, der dem Gegenstande und der Stimmung angemessen ist, der möchte freylich größtentheils leer aus5 gehn. Wenn uns also nicht einmal die Euphonie im größten Sinne dargeboten wird, und die kleine Kunst derselben mit jenem erzählenden Talent verbunden den ganzen Werth der Engeischen Schreibart ausmacht - denn, um an höhere Forderungen nicht zu denken, gegen die grammatische Correctheit möchte noch manches einzuwenden sein; 10 so ist wenigstens nicht zu wünschen, daß mehrere Schriftsteller sich diese Vorzüge mit ähnlicher Aufopferung der Kraft und des innern Gehaltes zu eigen machen möchten. S - r.
Rezension von Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Band 3, Zweites Stück, Berlin 1800)
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O b jede Philosophie, die sich als eine solche wirklich constituirt, 281; 524 früher oder später aus den Grenzen der Schule herauszugehen verbunden ist, und auch - sie wolle nun oder nicht - zu Folge des natürlichen Laufes der Dinge unfehlbar herausgehn wird; das kann wohl, selbst f ü r den, welcher Philosophie und Leben mehr als billig einander entgegensetzt, keine Frage sein. Nicht nur muß jedes neue System nothwendig die Moral und die Politik umgestalten, und also allen Menschen, wie tief sie auch ins Leben verwickelt seien, etwas zu sagen haben: sondern es ergreift auch die empirischen Wissenschaften, verändert ihre Pole und wirkt also auf ihren ganzen innern Zustand und alles was sie erzeugen; ja auch die Dichter müßen mit der Zeit Notiz davon nehmen, und den Widerschein des neuen Lichtes in ihrem Kreise verbreiten. Dies alles kann nicht geschehen, ohne daß die gemeinschaftliche Ursache dieser Erscheinungen genöthigt werde, aus ihrem Dunkel hervorzutreten, und diejenige Popularität, welche auf diesem Wege zwar nur | langsam entstehen, aber sich desto gleichförmiger verbreiten kann, ist 282 die wahre und gesunde. Allein gewöhnlich erzwingt man schneller eine andere, f ü r beide Theile, die Philosophie und die Welt weit weniger heilsame. Im Alterthum, wo die äußeren Verhältnisse in vieler Rücksieht weniger gebietend waren, bildete sich bald nach jedem neuen System nicht nur eine Moral, was doch auch immer nur Theorie ist, sondern ein wirkliches Leben, eine eigene Praxis, und die Maximen, die dieser zum Grunde lagen, oder daraus abstrahirt wurden, verbreiteten von dem Ganzen eine einseitige Kenntniß, und eine unrichtige Würdigung. Bei uns entsteht aus dem entgegengesetzten Verhältniß ein noch weit größeres Uebel, indem eben das Ausbleiben eines eigen gestalteten Lebens den Gegnern jeder Philosophie Raum läßt, nach ihrer Art zu fingiren, wie die Praxis derselben, wenn sie sich bilden könnte, beschaf- 525 fen sein müßte. Solche Insinuationen mit Stillschweigen zu übergehen, wäre ganz gegen den B e r u f , weil dadurch jeder mögliche künftige Einfluß der Theorie auf die Praxis im voraus vernichtet wird, und so wird leider jedes System durch die Polemik seiner Gegner genöthigt sich f r ü h e r zu popularisiren, als dies - ich will nicht sagen mit Nutzen f ü r die Welt, sondern auch nur ohne Schaden f ü r die Philosophie selbst geschehen kann, indem dadurch der Prozeß ihrer völligen Ausbildung alterirt, und die Kraft die innerlich thätig sein sollte zu f r ü h nach außen
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zerstreut wird. Es ist noch ein Glück, und das beste was dabei geschehen kann, wenn die Werke, die diese Lage der Dinge er-|zeugt so einge- 283 richtet sind, daß sie neben ihrer polemischen Zweckmäßigkeit auch noch den Keim oder die Vorbereitung zu der künftigen beßeren Popu5 larität enthalten. In diesem Geist hat F i c h t e gleich anfänglich seine Appellation geschrieben, und seine B e s t i m m u n g des M e n s c h e n ist unstreitig ein weiterer und glänzender Fortschritt auf dieser Bahn. Daß dies der einzige Gesichtspunkt sei, aus welchem das Buch angesehen sein will, leuchtet jedem Sachkundigen ein, und es ist höchst lächerlich, 10 wenn ein gelehrter Beurtheiler es wenigstens zur Hälfte als ein philosophisches Andachtsbuch ansieht, und ein anderer neugierig erwartet
6 Fichte: Appellation an das Publikum über die durch ein Kurf. Sachs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt, Jena/Leipzig u. Tübingen 1799; Ak 1/5,409-453 6 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, Berlin 1800; Ak 1/6,183-309 lOf Vgl. den Anfang der am 9. Juni 1800 im 92. Stück der Zeitschrift „Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen" (Göttingen 1800, Bdl, S. 916-920) erschienenen Rezension: „Die meisten unter den unparteyischen Lesern dieser Schrift des Hrn. Fichte möchten wohl, mit dem Ree., ein verschiedenes Urtheil darüber fällen, je nachdem sie die Schrift entweder aus dem Gesichtspuncte der practischen Betrachtung, oder aus dem der wissenschaftlichen Belehrung ansehen. Nach dem ersten Gesichtspuncte beurtheilt, enthält dieses Buch eine Menge trefflicher und herzerhebender Gedanken, mit Begeisterung gedacht, und mit Beredtsamkeit vorgetragen. Mag man auch noch so viel gegen das System einzuwenden haben, das aus dem Ganzen hervorblickt; mag man selbst manchen Sätzen, auf die der Verf. ein besonderes Gewicht legt, entschieden widersprechen; man wird dem Verf. das Verdienst zugestehen müssen, nach dem er, laut der Vorrede S. V, gestrebt hat, anzuziehen und zu erwärmen, und den Leser kräftig von der Sinnlichkeit zum Übersinnlichen fortzureißen.' Aber der Verf. wollte durch eben dieses Buch auch fur das Interesse der Wissenschaft, wenn gleich nicht der Schule, sorgen. Er wollte dem größeren Publicum mittheilen, ,was ausser der Schule brauchbar ist von der neueren Philosophie.' Von der neueren Philosophie? fragt man nun. Sind denn die Sätze, für die uns der Verf. mit sich zu begeistern weiß, neu f Und sind die Sätze, durch die sich diese Schrift von andern philosophischen Andachtsbüchem dieser Art unterscheidet, wahr? Und die unparteyische Beantwortung dieser Fragen fällt, nach der Überzeugung des Ree., ganz gegen das System und gegen den Zweck des Verf. aus." (916f) Im Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Signatur: 8° Eph. lit. 160/5; Handmagazin Ac 20) ist als Autor dieser anonymen Rezension Friedrich Bouterwek handschriftlich eingetragen. 11 f Vgl. den Anfang der am 24. März 1800 im 24. Stück der Zeitschrift „Tübingische gelehrte Anzeigen" (S. 185-192) anonym erschienenen Rezension: „Mit einer Erwartung, die kaum noch höher gespannt werden konnte, fielen wir, wir können uns nicht anders ausdrücken, über diese Schrift [Fichtes] her, nachdem wir in der Vorrede die Versicherung erhalten hatten, daß das, was ausser der Schule von der neuem Philosophie brauchbar seye, den Innhalt derselben ausmachen sollte, vorgetragen in derjenigen Ordnung, in der es sich dem kunstlosen Nachdenken entwickeln müßte, und verständlich für alle Leser, die überhaupt ein Buch zu verstehen vermöchten. - So wird doch nun hier wenigstens, dachten wir, der wunderbare Mann aus seinem Dunkel heraustreten, und uns seine Philosophie in einem Lichte zeigen, wie es unsere blöde Augen erfordern; so wird er die harte Schaale, an der schon so mancher vergebens sich abgearbeitet hat, endlich selbst durchbrechen, und jedem, der es annehmen will, den reinen Kern offen hinlegen." (185f)
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hatte, Fichte werde hier a u s s e i n e m D u n k e l herausgehn, das heißt wohl, er werde ihm das ganze System so populair in die O h r e n schreien, daß auch er es verstehen könnte. Diese können dann leicht darüber reden, darüber hinweg nemlich: dahingegen derjenige, welcher das Werk f ü r das nimmt was es ist, in welchem Verhältniß er auch zur Philosophie stehe, immer Ursach findet in sein Urtheil Mißtrauen zu setzen. D e r Dilettant pflegt gern die neuerworbenen oder nachgebildeten Ideen in den Gefäßen zu lassen, in denen er sie empfing, weil er sich nicht getraut zu beurtheilen, was für feine chemische Zersetzungen etwa eine andere Masse bewirken könnte, und fürchtet, es möchte ihm bei der Behandlung in fremden Worten ein Merkmal nach dem andern 526 unvermerkt verloren gehn. Wenn diesem die Freiheit im Gebrauch des Buchstabens, welche der G e i s t förmlich autorisirt, und welche hernach immer kühner wird, das Studium des Buches | so erschwert, daß er sich 284 oft fragen muß, ob nicht der Gedanke, den er vor sich hat ein Gedanke aus einem entgegengesetzten System sei; so muß ihm doch auf der andern Seite zweifelhaft bleiben, ob der unbefangene und unsystematische Leser, der nie an eine Terminologie gebunden war, dieselben Schwierigkeiten zu überwinden hat. Der Philosoph von Profession findet vieles an einem ganz andern Faden fortgehend, als an den er es anreihen würde, und ihm scheint jener verwickelter; er findet f ü r sein Interesse Spekulation und Postulate viel zu lang und o f t entgegengesetzt; er findet häufig Lücken, wo - f ü r ihn nemlich - Folgerungen aus andern Werken des Verfassers angereiht, oder Voraussetzungen ergänzt werden müßten; aber er bescheidet sich, daß gerade dies vielleicht f ü r den eigentlichen Zweck des Werkes, und f ü r die Leser, die es sucht, bedeutende Vorzüge sein können. Wie man unter diesen Umständen zu einer richtigen Ansicht des Buches gelangen könne, dazu giebt es selbst durch sein Vorbild die beste Anleitung. Fichte befand sich in der T h a t bei dem Schreiben desselben in einer ähnlichen Lage, er mußte fürchten von dem unaufhaltsam systematischen Geiste seiner Philosophie, die aus jedem Punkt der Peripherie immer gerade gegen den Mittelpunkt gezogen wird, und von diesem wiederum nach allen Seiten gleichförmig ausströmt weit über seinen Zweck fortgerißen zu werden. Deshalb setzte er sich ganz aus sich selbst heraus, und ließ ein anderes Wesen reden, welches sich das System seines Denkens über sich nur so eben aus den ersten Anfän-|gen und von einem besondern Gesichtspunkt aus 285 entwickeln will. So wird es auch wohl, um eine reine Ansicht des Buchs zu gewinnen, und nicht durch unzeitige Rücksicht auf die anderweitige Kenntniß des Systems irre geführt zu werden, am gerathensten sein, ein
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anderes Wesen, das weder Dilettant noch Philosoph sein will, und von 527 dem System sonst keine direkte Kenntniß hat, aber so beschaffen ist wie das Buch sich seine Leser wünscht, über dasselbe reden zu lassen, wie es wahrscheinlich reden müßte. I. So hätte ich also nicht etwa nur flüchtig, sondern mit aller Anstrengung das Buch, nach welchem ich so verlangte, gelesen und wieder gelesen, und frage mich nun billig, wie mir danach zu Muthe ist. Ich verehre es, das leidet keinen Zweifel, wegen des hohen Geistes ächter Sittlichkeit, der es nicht verhehlt, daß ohne sie die Speculation nur leer, ja daß alles in der Menschheit doch nur ein Werkzeug sei f ü r die Pflicht, und nichts achtungswerth als die Tugend. Ich liebe es wegen der schönen Absicht uns zum Uebersinnlichen zu erheben, und wegen der freundlichen Art, wie es diesen Zweck zu erreichen strebt. Liebreich kehrt es bald zum Anfang zurück, bald wiederholt es anders gestellt das Gesagte, um die Ideen, die es mittheilen will, recht anschaulich und lebendig zu machen; es entäußert sich jener kräftigen stolzeren Beredtsamkeit, die dem Verfasser sonst vorzüglich eigen ist, und die auch ich an ihm kenne, und läßt sich zu einem weicheren verbreitetem Vortrage herab, um auch die zu gewinnen, die jenem schwerlich würden folgen können. | U n d wie dankbar bin ich ihm für jede Befestigung meiner 286 Grundsätze, die es mich lehrt, f ü r alle neue Ansichten und Anwendungen, die es mir eröffnet hat! Weiß ich doch nun, so weit ich es zu wissen brauche im Allgemeinen - und auf das Einzelne, wo ich mir freilich o f t mit meinen eignen Gedanken nachhelfen mußte, lege ich eben keinen Werth - wie ich zur Sinnenwelt komme, und was sie mir ist, und wie alle Herrschaft, die sie über mich auszuüben und aller Widerstand den sie mir entgegenzusetzen scheint, eben nur ein Schein ist; ist mir doch alles, was ich von Gewißheit brauche f ü r mein Handeln und Leben, nun auf immer gesichert gegen alle Sophistereien, die ich mir selbst machen, oder die bis zu mir kommen könnten. Das ist mein Gewinn: wenn ich aber sagen wollte, daß ich den Zusammenhang alles Einzelnen, und die 528 Gesetze nach denen es hier entwickelt und dargestellt ist, kurz daß ich das Seyn und Gewordenseyn des Buches so ganz verstände, wie ich es wünsche, so würde ich mich selbst nur betrügen. Ich will mir meine Zweifel und Bedenklichkeiten noch einmal zurückrufen, vielleicht verschwinden sie mir, indem ich sie recht fest zu halten suche. - Noch kann ich immer nicht ganz von der Störung loskommen, welche die Ueberschrift mir gemacht hat, und mehr oder weniger schlingt sich diese in alles hinein, was mir sonst unklar und zweifelhaft ist. Wie kann doch einer, der an Freiheit und Selbstständigkeit glaubt, oder auch nur
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glauben will, nach einer B e s t i m m u n g des Menschen fragen? und was kann diese Frage noch | bedeuten, nachdem die andere vorangegangen 287 ist: was bin ich? Soll sie auf ein Machen gehn, w o z u ich da wäre, oder auf ein Werden? auf ein für mich zufälliges Werden, welches durch ein anderes Bestimmendes in mir gewirkt würde? Unmöglich! Also wenn alles Dasein nur um der Vernunft willen ist, auch ein Werden oder M a chen durch die Vernunft und für die Vernunft. Aber wie kann denn diese Frage von der, „was bin ich," getrennt werden? Wenn einmal auch von der geistigen Natur, der Freiheit zu Ehren, nur als von b l i n d e r Natur geredet werden, und man also in jenem Sinne nicht nach der N a t u r des Menschen fragen soll, so scheint mir für die Frage nach dem einigen nothwendigen, kein Ausdruck unbefangener als der der alten Schulen: „was ist das höchste Gut?" wenn man ihn nur recht versteht. Jeder andere kommt aus dem Innern irgend eines Systems heraus, das ich doch noch nicht haben soll, und dieser hier führt mich immer entweder auf die Natur, was er nicht will, oder auf ein Bestimmendes was ich nicht will. V o n vorne an bis in die schönen Irrgänge des dritten Buches begleitet mich diese Dissonanz, und wenn ich hier auf einmal durch jene neuen und unbekannten Wege in einer alten wohlbekannten Gegend angelangt zu sein scheine, wenn ich mit meinem gesunden 529 Auge hinter diesem Schein, der mich nicht blendet, das Unendliche, als das einzige Reelle erblicke, das ihm zum Grunde liegen kann, und mir dies unvermuthet als ein W i l l e n vorgestellt, und von seinen P l a n e n zu mir geredet wird, und ich zu | ihm reden soll: so weiß ich nicht, soll mir 288
1-3 Vgl. Fichte: „Aber, - was bin ich selbst, und was ist meine Bestimmung?" (Die Bestimmung des Menschen 4; Ak 1/6,191,16) 8 Fichte: Die Bestimmung des Menschen 4; Ak 1/ 6,191,16 8-10 Vgl. Fichte: „Die Urquelle alles meines übrigen Denkens und meines Lebens, dasjenige, aus dem alles, was in mir, und für mich und durch mich seyn kann, herfließt, der innerste Geist meines Geistes, ist nicht ein fremder Geist, sondern er ist schlechthin durch mich selbst im eigentlichsten Sinne hervorgebracht. Ich bin durchaus mein eignes Geschöpf. Ich hätte blind dem Zuge meiner geistigen Natur folgen können. Ich wollte nicht Natur, sondern mein eignes Werk seyn; und ich bin es geworden, dadurch daß ich es wollte. Ich hätte durch unbegrenzte Klügelei die natürliche Ansicht meines Geistes zweifelhaft machen und verdunkeln können. Ich habe mich ihr mit Freiheit hingegeben, weil ich mich ihr hingeben wollte." (Die Bestimmung des Menschen 199; Ak 1/6,259,18-26) 23 Vgl. besonders Fichte: Die Bestimmung des Menschen 289-294; Ak 1/6,291,21-293,11 23 Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen 307f.31l f . 319.322.325; Ak 1/6,298,5-10.299,12-26.302,14-18.303, 17-22.304,27-29 24 Fichte formuliert seine Überlegungen zweimal (vgl. Die Bestimmung des Menschen 304-308 u. 330-333; Ak 1/6,296,27-298,17 u. 306,10-307,19) als Anrede an das Unendliche. Vgl. besonders: „Erhabner lebendiger Wille, den kein Name nennt, und kein Begriff umfaßt, wohl darf ich mein Gemüth zu dir erheben; denn du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ertönt in mir, die meinige tönt in dir wieder; und alle meine Gedanken, wenn sie nur wahr und gut sind, sind in dir gedacht. - In dir, dem Unbegreiflichen, werde ich
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dies durch das Setzen des irdischen Zweckes, der hernach f ü r mich wie billig wieder aufgehoben wird, gekommen sein, oder soll ich es von Anfang an, als ich nach meiner Bestimmung fragte, schon gehabt haben? In dem festen und ruhigen Besitz jener Wahrheiten und Ansichten, die das letzte Resultat des Werkes sind, stört mich das nicht; es ist für diese nur ein schöner Ueberfluß: denn wenn ich nur weiß, die übersinnliche Welt von der sinnlichen, und meinen eigentlichen Zweck von dem, der mir als das Objektive dabei vorschwebt, zu unterscheiden, so habe ich zur Genüge f ü r mein Handeln, und bedarf nun des Uebrigen nicht. In einem Kantischen Buche würde es mir sogar Vergnügen machen, so zwischen dem, was sie die Bedürfnisse der praktischen Vernunft nennen, herumgeführt zu werden; nur hier wirft es mich aus der Einheit des Ganzen heraus. Wenn nun aber auch von der Frage nach der Bestimmung ausgegangen werden sollte, wie kann man um diese zu beantWorten von der äußeren N a t u r und ihrem Zusammenhange ausgehn? Geschieht dies, um, weil von dieser Ansicht aus keine befriedigende Beantwortung derselben möglich ist, den Idealismus herbeizuführen? Es scheint nicht: denn jene Frage wird ja auch nicht aus dem Idealismus beantwortet, sondern weil dieser f ü r sich eben so unzulänglich ist - aus der innern Stimme des Gewissens unmittelbar. Wozu also vorher jenes beides? Es scheint sogar dem angegebnen Zwecke des Buchs zu widersprechen: denn wenn der theoretische Idealis-|mus f ü r den, der sich au- 289 ßer der Schule befindet, nur dient, um die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche die realistische Spekulation seinem Gelangen zum Bewußtsein der Freiheit verursachen könnte: so ist er ihm warlich überall nicht brauchbar, weil ja jene Spekulation nur eine Verkünstelung des 530 Verstandes ist, und außer der Schule ebenfalls nicht vorkommen kann. Sollte aber nicht Fichte seiner theoretischen Philosophie Unrecht thun
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mir selbst, und wird mir die Welt vollkommen begreiflich, alle Räthsel meines Daseyns werden gelös't, und die vollendetste Harmonie entsteht in meinem Geiste." (303f; Ak 1/6, 296,28-34) 4 f Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen 316-338; Ak 1/6, 301,8-309,9 11 Vgl. z.B. Kant: KpV 255-259; Ak 5,142,2-143,31 1 3 - 1 5 Fichte erörtert den deterministisch konzipierten Naturbegriff im ersten, mit „Zweifel" überschriebenen und als Monolog stilisierten Buch (vgl. Die Bestimmung des Menschen 1-70; Ak IΊ6, 191-214) 16 f Fichte entfaltet die theoretische Ansicht des transzendentalen Idealismus im zweiten, mit „ Wissen" überschriebenen und als Dialog gestalteten Buch (vgl. Die Bestimmung des Menschen 71-178; Ak 1/6,215-252) 1 8 - 2 0 Fichte stellt im dritten mit „Glauben" überschriebenen Buch (vgl. Die Bestimmung des Menschen 179-338; Ak 1/6,253-309) den Gewissensbegriff in den Mittelpunkt der praktischen und religiösen Ansicht des transzendentalen Idealismus.
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unter uns Unphilosophen, oder Naturphilosophen, wenn er sie f ü r uns nur auf diesen Gesichtspunkt stellt? Sollte man nicht vom Moralismus aus, sobald man nur über ihn denken will, auch nothwendig auf den Idealismus kommen müßen? U n d sollte die Darstellung dieses Zusammenhanges, welchen ich ahnde, uns nicht brauchbar und dem übrigen Zwecke des Buches nicht angemessen gewesen seyn? - So stehen meine Zweifel noch immer und wollen sich unter einander nicht zerstören! II. „Was treibst Du denn da so nachdenklich sitzend und zwischendurch schreibend"? - Ich denke über Fichte's Bestimmung, die ich gern recht gründlich verstehen möchte, und schreibe was ich denke, weil man damit doch immer etwas weiter kommt. Da lies. - „Weißt D u woran es Dir fehlt? Du hast einen kleinen Punkt in der Vorrede übersehen, der aber f ü r das Verstehen wichtig ist, Du hast Dich nicht genug zu dem Ich des Buches gemacht." - Ei, scherze nicht mit diesem kleinen Punkt! dann könnte ich es ja gar nicht verstanden haben. Ich | weiß 290 aber sehr bestimmt, daß ich mich dazu gemacht habe: denn ich habe gethan, was Fichte fordert; ich habe durch eigne Arbeit und Nachdenken die Denkart, um die es zu thun ist in mir entwickelt. - „Nun ja, darum ist auch der Zweck des Schriftstellers an Dir erreicht. Aber um das Buch zu verstehen hättest Du auch den Charakter dieses Ichs auffassen müßen: denn darauf beruht der ganze Gang des Raisontiements." - So genau habe ich es mit der Form nicht genommen. Und was f ü r einen Charakter hat es denn, dieses Ich? - „Den, welchen es haben mußte. Du findest es von einer Revision seiner Naturkenntnisse mit vieler SelbstZufriedenheit zurückkommend, also mit der Weisheit dieser Welt gesättigt. So mußte es sein, wenn das Zeitalter zu dem Fichte redet, sich in ihm spiegeln sollte. Du findest das moralische Interesse in ihm erwacht, 53/ aber noch ganz neu, und so mußte es sein, um diese Untersuchungen anzustellen." - Und das soll der Schlüßel sein zu Allem, was mir unverständlich war? - „Zu allem, und zu noch mehrerem. Ein solches Ich, welches gewohnt gewesen ist, Sich selbst aus Einem Standpunkt mit den Dingen anzusehn, bei denen doch immer außer ihrem Wesen noch
8 „Was . . . sitzend] Was treibst du . . . siz-/zend
13 D u ] du
12 Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen III-VI; Ak I/6,189f 17f Vgl. Fichte: „Noch habe ich - für wenige zwar, zu erinnern, daß der Ich, welcher im Buche redet, keinesweges der Verfasser ist, sondern daß dieser wünscht, sein Leser möge es werden; - dieser möge nicht bloß historisch fassen, was hier gesagt wird, sondern wirklich und in der That während des Lesens mit sich selbst reden, hin und her überlegen, Resultate ziehen, Entschließungen fassen, wie sein Repräsentant im Buche, und durch eigne Arbeit und Nachdenken, rein aus sich selbst, diejenige Denkart entwickeln, und sie in sich aufbauen, deren bloßes Bild ihm im Buche vorgelegt wird." (Die Bestimmung des Menschen Vf; Ak 1/6,189,29-190,3)
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von einer B e s t i m m u n g die Rede ist, mußte allerdings nach der Bestimmung des Menschen fragen, und gerade diese Frage brauchte Fichte, weil sie am unmittelbarsten auf das Verhältniß des endlichen Vernunftwesens zum Unendlichen führt, auf dessen Auseinandersetzung es, wie Du wohl siehst, vorzüglich abgesehn war. Ein solches durfte auch die | unschulmäßige Flüchtigkeit haben, der schulmäßigen 291 Einheit im Erklären zu Liebe manches zuzugeben, was nicht zuzugeben war, und sich auch von manchen Einwürfen zurückschrecken zu lassen, die soviel nicht hinter sich haben. Dies ist Dir doch nicht entgangen?" Ich habe es öfters bemerkt, gleich im ersten Buch, w o das System der Naturnothwendigkeit von der Annahme eines Einflusses der äußern Gegenstände, wie mir scheint, zu bereitwillig befreit wird; dann im zweiten Buch, w o das Ich auf einmal wieder alles zurücknehmen will; zu Anfang des dritten, w o es aufs neue die Speculation mit der Praxis in Streit setzt, und dann noch einmal, w o es über der elegischen Ansicht des irdischen Vernunftzweckes dem Sittengesetz beinahe noch einmal den Gehorsam aufkündigt. Jetzt erst verstehe ich diese Umschweife ihrer Entstehung nach. Aber gestehe, es ist doch eine der schwierigsten Aufgaben, so aus einer ganz fremden Seele heraus zu monologisiren, und sie selbst in die Fehltritte zu begleiten, welche ihr natürlich sind! „Und das mit solcher Kunst zum Besten des Ganzen zu benutzen. Es ist warlich ein Unternehmen, an dem jeder andere gescheitert wäre, ein solcher spekulativer Monolog in dem Zustande, w o man erst mit sich einig werden will. D a f ü r sind diese Rückgänge und Rückfälle sehr mäßig, und die erstaunliche Gelehrigkeit und Agilität dieses Ich war ein sehr nothwendiges, und - wenn auch die Wahrheit der Fiction etwas 532 darunter leidet - sehr verzeihliches Gegengewicht gegen jene retardirende Tendenz der Form." - Du bist ein guter Apologet. | Kannst Du 292 mir aber auch begreiflich machen, warum diesem Ich nicht ohne Dialog in seinem Monolog zu helfen war, und warum der Helfer ein G e i s t sein mußte, ein so sonderbarer Geist, von dem nirgends steht, wer er ist, und der so sehr aus allem Kostüme herausgeht? - „Das letztere kann doch keine üble Wirkung auf Dich gemacht haben: denn die Empfindung, die dieser Contrast verursacht, mildert auf eine gar angenehme Art das Erstaunen über seine Erscheinung, und die scheue Ehrfurcht
5 Du] du 22 an] au 33 Dich] dich
28 Du] du
32 herausgeht? - „Das] herausgeht?" - Das
10-12 Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen 39-41; Ak 1/6,203,31-204,17 13 Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen 122f; Ak 1/6,233,17-19 14f Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen 184-193; Ak 1/6,254,7-2)7,26 15-17 Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen 248-252; Ak 1/6,2 77,2-278,15
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vor seiner Kraft. Uebrigens bedenke nur, wie denn ein solches Ich auf den theoretischen Idealismus, ja bei seinen anfangs noch ziemlich unbestimmten moralischen Gefühlen auch auf den praktischen hätte kommen können, wenn nicht der Geist der w a h r e n P h i l o s o p h i e , der es auf die innere Anschauung führt, auf eine außerordentliche Weise über dasselbe gekommen wäre? und wie dies nach alter Sitte auf eine bessere Art hätte versinnlicht werden können, als durch die Personificirung dieses Geistes? und wie er als das, was er ist, ohne sich zu nennen, besser hätte charakterisirt werden können, als durch die Sprache und die ganze Behandlung? Es liegt aber noch mehr darin. Die großen Fortschritte des Ich im dritten Buch werden nur dadurch erklärlich, daß man den Geist immer noch auf dem Ich ruhend denkt, wenn er schon nicht mehr gegenwärtig ist. Und der religiöse Anstrich dieses Buchs konnte wohl in diesem Ich nicht besser vorbereitet werden; denn ein seiner Natur nach so irreligiöses Wesen durfte sich wohl durch nichts geringeres | religiös stimmen laßen, als durch so etwas." - Ich verstehe 293 Dich; und ich sehe nun ein, daß dieser Dialog, gerade so wie er ist, dem Buch und dem Ich eben so nothwendig war, als mir unser jetziger Dialog, ohne den ich auf diese Ansicht der Form und ihrer Verwicklung mit dem Inhalt wohl nicht gekommen sein würde. - „Das ist mir lieb; und so wollen wir uns denn eben nicht sonderlich darum kümmern, wie 533 kunstgerecht wir ihn geführt haben. Hoffen will ich aber, daß wenn Du in Deinen Betrachtungen fortfährst, man auch eben so darin merken möge, was Du durch mich an Verständniß gewonnen hast."III. Allzubescheiden: Ich bin ja so vollkommen zur Ruhe gebracht, daß ich nicht nöthig habe fortzufahren. - Hätte ich ihn doch nur noch das Eine gefragt, ob denn das Ich wirklich am Ende die g a n z e Denkart und das ganze System des Geistes so umfaßt und erschöpft hat, als es von sich rühmt! Doch warum will ich mehr wissen als ich soll? Darin will ich mich jenem Ich nicht ähnlich machen, und das System sollte mir ja nicht gegeben werden. Aber in der Denkart, ja, da hat es allerdings unendlich gewonnen, mehr gewiß als es sich selbst deutlich bewußt ist. Dies begreife ich erst recht, wenn ich das Ende des Ganzen mit dem Ende des ersten Buchs vergleiche, und kann und muß dann erst die Philosophie recht lieben, die auch denjenigen, der es am 22-24 Du in Deinen ... Du] du in deinen ... du 27-29 Vgl. Fichte: „O, wohl habe ich die vergangenen Tage meines Lebens mich im Finstern befunden; wohl habe ich Irrthiimer auf Irrthümer aufgebaut, und mich fur weise gehalten. Jetzt erst verstehe ich ganz die Lehre, welche mich so sehr befremdete, aus deinem Munde, wunderbarer Geist, ohnerachtet mein Verstand ihr nichts entgegen zu setzen hatte; denn erst jetzt übersehe ich sie in ihrem ganzen Umfange, in ihrem tiefsten Grunde, und nach allen ihren Folgen. " (Die Bestimmung des Menschen 312f; Ak 1/6,300,1-6)
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wenigsten will, auf diese Höhe zu führen weiß, und auch jenen praktischen Schein aufhebt, an dem der Mensch am festesten hängt. Weshalb erschrak es denn so gewaltig | vor jenem System der allgemeinen Natur- 294 nothwendigkeit? Weil seine Liebe dabei verloren gehen mußte, sein In5 teresse an sich selbst, an seiner Persönlichkeit als endlichem Wesen; weil es schlechterdings nichts an einem andern und für ein anderes, sondern nur etwas an und für sich selbst sein wollte. Dann weil es Zurechnungen wollte, Verdienst und Schuld an seinem Werden und seinem einzelnen Handeln in der Welt. Dies wollte es eigentlich; und nun 10 - wie fern ist es davon, es noch zu wollen! wie sind ihm alle diese schwankenden Begriffe und kleinen Tendenzen wie unter den Händen verschwunden, seitdem es die unselige Vorstellung von einem Unendlichen als Natur in sich zerstört hat, und das Unendliche nun als das ursprünglich Geistige kennt. Jetzt weiß es, daß es überall nicht giebt Verls dienst und Schuld im Einzelnen, sondern nur daran, daß man ist, was 534
14-2 Vgl. Fichte: „Daß es freie, zur Vernunft und Sittlichkeit bestimmte Wesen sind, welche gegen die Vernunft streiten, und ihre Kräfte zur Beförderung der Unvernunft und des Lasters aufbieten, kann mich eben so wenig aus meiner Fassung bringen, und der Gewalt des Unwillens und der Entrüstung mich hingeben. Die Verkehrtheit, daß sie das Gute haßten, weil es gut ist, und das Böse beförderten, aus reiner Liebe zum Bösen als solchem, welche allein meinen gerechten Zorn reitzen könnte, - diese Verkehrtheit schreibe ich keinem zu, der menschliches Angesicht trägt; denn ich weiß, daß dieselbe nicht in der menschlichen Natur liegt. Ich weiß, daß es fur alle, die so handeln, inwiefern sie so handeln, überhaupt kein Böses oder Gutes, sondern lediglich ein Angenehmes oder Unangenehmes giebt; daß sie überhaupt nicht unter ihrer eignen Bothmäßigkeit, sondern unter der Gewalt der Natur stehen, und daß nicht sie selbst es sind sondern diese Natur in ihnen, die das erstere mit aller ihrer Macht sucht, und das letztere flieht, ohne Rücksicht, ob es übrigens gut oder böse sey. Ich weiß, daß sie, nachdem sie nun einmal sind, was sie sind, nicht um das Mindeste anders handeln können, als sie handeln; und ich bin weit entfernt, gegen die Nothwendigkeit mich zu entrüsten, oder mit der blinden und willenlosen Natur zu zürnen. Allerdings liegt darin eben ihre Schuld und ihre Unwürde, daß sie sind, was sie sind, und daß sie, anstatt frei, und etwas für sich zu seyn, sich dem Strome der blinden Natur hingeben. Dies allein könnte es seyn, das meinen Unwillen erregte; aber ich falle hier mitten in das absolut Unbegreifliche hinein. Ich kann ihnen ihren Mangel an Freiheit nicht zurechnen, ohne sie schon voraus zu setzen, als frei, um sich frei zu machen. Ich will mich über sie erzürnen, und finde keinen Gegenstand für meinen Zom. Was sie wirklich sind, verdient diesen Zorn nicht; was ihn verdiente, sind sie nicht, und sie würden ihn abermals nicht verdienen, wenn sie es wären. Mein Unwille träfe ein offenbares Nichts. - Zwar muß ich sie stets behandeln, und mit ihnen reden, als ob sie wären, wovon ich sehr wohl weiß, daß sie es nicht sind; ich muß ihnen gegenüber stets voraussetzen, wodurch allein ich ihnen gegenüber zu stehen kommen, und mit ihnen zu handeln haben kann. Die Pflicht gebietet mir einen Begriff von ihnen für das Handeln, dessen Gegentheil mir durch die Betrachtung gegeben wird. Und so kann es allerdings geschehen, daß ich mit einer edlen Entrüstung, als ob sie frei wären, gegen sie mich kehre, um sie selbst mit dieser Entrüstung gegen sich selbst zu entzünden; eine Entrüstung, die ich selbst in meinem Innern vernünftiger Weise nie empfinden kann. Nur der handelnde Mensch der Gesellschaft in mir ist es, der der Unvernunft und dem Laster zürnt, nicht der auf sich selbst ruhende, und in sich selbst vollendete, betrachtende Mensch. " (Die Bestimmung des Menschen 326-328; Ak U6, 304,30-305,30)
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man ist; es weiß, daß es auch mit dieser Anwendung dieses Begriffs in das absolut Unbegreifliche hineinfällt, und es beruhigt sich dabei. Jetzt weiß es, daß die Stimme des Gewissens, welche Jedem seinen besondern Beruf auflegt, und durch welche der unendliche Wille einfließt in das 5 Endliche, der Strahl ist, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehn, und als einzelne und besondere Wesen hingestellt werden; es weiß, daß das Unendliche das einzige mögliche Medium ist unserer Gemeinschaft und Wechselwirkung mit den andern Endlichen: es weiß dies, und will nun gern etwas an einem andern und für ein anderes sein; und alle Verio wirrung ist gelöst zwischen dem, | was es selbst, und dem was es am Unendlichen ist; beides weiß es jetzt zu vereinigen und zu genießen. Jetzt ist ihm seine gesammte Persönlichkeit schon längst verschwunden und untergegangen in der Anschauung des Ziels; jetzt betrachtet es sich 2-6 Vgl. Fichte: „Die Stimme des Gewissens, die jedem seine besondere Pflicht auflegt, ist der Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen, und als einzelne, und besondere Wesen hingestellt werden; sie zieht die Gränzen unsrer Persönlichkeit; sie also ist unser wahrer Urbestandtheil, der Grund und der Stoff alles Lebens, welches wir leben." (Die Bestimmung des Menschen 294f; Ak 1/6,293,20-24) 6 - 8 Vgl. Fichte: „Kurz, diese gegenseitige Erkenntniß und Wechselwirkung freier Wesen schon in dieser Welt, ist nach Natur- und Denkgesetzen völlig unbegreiflich, und läßt sich erklären lediglich durch das Eine, in dem sie zusammenhängen, nach dem sie fiir sich getrennt sind, durch den unendlichen Willen, der alle in seiner Sphäre hält und trägt. Nicht unmittelbar von dir zu mir, und von mir zu dir strömt die Erkenntniß, die wir von einander haben; wir Jur uns sind durch eine unübersteigliche Grenzscheidung abgesondert. Nur durch unsre gemeinschaftliche geistige Quelle wissen wir von einander; nur in ihr erkennen wir einander, und wirken wir auf einander." (Die Bestimmung des Menschen 298f; Ak 1/6,294,29-37) 8-11 Vgl. Fichtes Anrede ans Unendliche: „Aber rein und heilig, und deinem eignen Wesen so nahe, als im Auge des Sterblichen etwas ihm seyn kann, fließet dieses dein Leben hin als Band das Geister mit Geistern in Eins verschlingt, als Luft und Aether der Einen Vernunftwelt; undenkbar und unbegreiflich, und doch offenbar da liegend vor dem geistigen Auge. In diesem Lichtstrome fortgeleitet schwebt der Gedanke, unaufgehalten und derselbe bleibend von Seele zu Seele, und kommt reiner und verklärt zurück aus der verwandten Brust. Durch dieses Geheimniß findet der Einzelne sich selbst, und versteht, und liebt sich selbst nur in einem andern; und jeder Geist wickelt sich los nur von andern Geistern, und es giebt keinen Menschen, sondern nur eine Menschheit, kein einzelnes Denken, und Lieben, und Hassen, sondern nur ein Denken, und Lieben, und Hassen, in und durch einander. " (Die Bestimmung des Menschen 332f; Ak 1/6,306,37-307,10) 11-2 Vgl. Fichte: „Das Einige, woran mir gelegen seyn kann, ist der Fortgang der Vernunft und Sittlichkeit im Reiche der vernünftigen Wesen; und zwar lediglich um sein selbst, um des Fortgangs willen. Ob ich das Werkzeug dazu bin, oder ein anderer; ob es Meine That ist, die da gelingt, oder gehindert wird, oder, ob die eines andern, gilt mir ganz gleich. Ich betrachte mich überall nur als eins der Werkzeuge des Vernunftzwecks, und achte und liebe mich, und nehme Antheil an mir nur als solches, und wünsche das Gelingen meiner That nur, in wiefem sie auf diesen Zweck geht. Ich betrachte daher alle Weltbegebenheiten ganz auf die gleiche Weise nur in Rücksicht auf diesen einigen Zweck; ob sie nun von mir ausgehen, oder von andern, unmittelbar auf mich sich beziehen, oder auf andere. Für Verdruß über persönliche Beleidigungen und Kränkungen, für Erhebung auf persönliches Verdienst ist meine Brust verschlossen; denn meine gesammte Persönlichkeit ist mir schon längst in der Anschauung des Ziels verschwunden und untergegangen." (Die Bestimmung des Menschen 322f; Ak 1/6,303,23-36)
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Rez. von Fichte: Bestimmung des Menschen
nur, und achtet und liebt sich nur als eins der Werkzeuge des unendlichen Vernunftzwecks. In dieser Denkart allein können wir mit uns und dem Ganzen einig seyn und bleiben, und unser wahres Seyn und Wesen ergreifen, und unschätzbar ist das Verdienst auch nur Wenigen dazu 5 verholfen, oder sie darin befestigt zu haben. So das aufgestellte lesende und denkende Ich. Zu wünschen wäre, daß alle, welche das tiefe Werk gründlich verstehen wollen, eben so bescheiden darin forschten, und eben so sorgfältig jeder sich darbietenden Spur nachgingen; ja - um beim guten Wünschen zu bleiben - es 10 wäre auch nicht übel, wenn man - verhältnißmäßig - mit der hier aufgestellten Ansicht desselben, in der das Meiste nur hat angedeutet werden können, eben so verfahren wollte. S - r.
Materialien zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (.Australiens) (Vermutlich
1799-1800)
Karte von Neuholland (Australien) aus dem Jahr 1794
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P. 88. King beschrieb N o r f o l k als einen einzigen Wald oder viel mehr als einen Garten der mit den edelsten Fichten bewachsen ist die an edelm und hohem Wuchs alle die er bisher gesehen übertrafen. Nichts kann die Fruchtbarkeit des Bodens übertreffen. W o man ihn auch untersucht hat, überall fand man eine reiche schwarze GartenErde fünf bis sechs Fuß tief; und das Getreide und die Sämereien die man gesaet trieben mit der größten Ueppigkeit ausgenommen was unterwegens oder durch den Wurm beschädigt war. Hier alles zusammen obgleich Manches viel später ist als diese erste R ü k k e h r der Supply. N o r f o l k Island hat 7 Seemeilen im U m f a n g und muß wenn es nicht wie viele andre kleine Inseln ursprünglich durch vulkanische Eruption aus dem Grunde der See entstanden ist wenigstens unstreitig einen Vulkan gehabt haben. Dies erhellt aus der großen Menge Bimsstein der überall herumliegt und mit dem Boden vermischt ist. M a n wird den Crater oder wenigstens einige Spuren davon wahrscheinlich auf dem Gipfel eines kleinen Berges finden der sich in der Mitte der Insel erhebt und den der C o m m a n d a n t Pittsberg genannt hat. Die Insel ist sehr wol bewäßert. Auf oder beim Pittsberg entspringt ein starker und wasserreicher Strom der indem er durch ein sehr schönes Thal fließt sich in mehrere Arme theilt deren jeder stark genug ist um Mühlen zu treiben und in vielen Theilen der Insel hat man trefliche Quellen entdekt. Das Klima ist rein, gesund und angenehm durch Seelüfte vor drükender Hize geschüzt und im Winter von so milder Temperatur, daß die Vegetation ununterbrochen fortdauert und es im Akerbau keine Pause giebt. Erfrischende Regenschauer erhalten das Grün beständig, nicht des Grases, denn man hat bis jezt noch keins auf der Insel gefunden, sondern der Bäume, Sträucher und anderer Pflanzen die überall reichlich wachsen. Von ihren Blättern, besonders einiger Arten, leben nicht nur Schafe, Schweine und Ziegen, sondern sie nehmen auch zu und werden f d s t . Von der Gesundheit des Klima kann jedes Individuum dieser kleinen Kolonie Zeugniß geben durch die ununterbrochen gute Gesundheit die man im Allgemeinen genoßen hat. Als unsere Pflanzer landeten war kein Morgen Landes auf der Insel frei von Wald und die Bäume durch das kriechende Gesträuch das man supple jack nennt so ineinander verschlungen, daß es sehr schwer war durchzukommen. | So wenig Mannschaft der Commandant auch Anfangs hatte so gewann er doch 3v durch die unermüdlichste Thätigkeit bald Boden genug um seine W o h n u n g aufzuschlagen und eßbare Pflanzen aller Art in großen Mengen zu gewinnen. Als die lezten Nachrichten ankamen waren drei Aker Gerste in sehr gutem Zustande und der Boden war zurecht gemacht um Reis und Indisches Korn zu
1 4.a.] am Rand 3 einen Garten der] einen 23 ununterbrochen] korr. aus unleserlichem Wort 37 lezten Nachrichten] durch Unterstreichung mit einem auf dem Rand stehenden Frageleichen versehen 1 Gliederungsvermerk fiir Schleiermachers Materialsammlung zu Neuholland (Australien) 2-252,30 Ubersetzung von Phillip: The voyage of Governor Phillip to Botany Bay, London 1789, S. 88-93
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säen. Der Weizen war misrathen weil die Saat so sehr vom Wurm angefreßen war daß sie nicht aufgehn konnte. Aber die Leute wohnten alle in bequemen Häusern und nach Kings eigner Erklärung in seinen Briefen an den Governor war kein Zweifel daß diese Kolonie in weniger als 4 Jahren im Stande sein würde sich selbst zu erhalten und daß sie auch in der Zwischenzeit nur wenig Unterstüzung brauchen würde. Schon 2 Jahre würden hinreichen, meinte er, wenn man nur genug Schwarzvieh hinschiken könnte. Fische fängt man in großen Mengen und in der Jahreszeit auch sehr schöne Schildkröten. Die Wälder sind von unzähligen Familien von Vögeln bewohnt von denen einige ein sehr schönes Gefieder haben. Die nüzlichsten sind Tauben die sehr zahlreich sind, und ein dem Perlhuhn ähnlicher Vogel nur daß er Lganzl weiß ist. Beide sind so zahm daß man sie mit Händen greifen kann. Von eßbarem Gemüse ist das vornehmste die Kohlpalme, der wilde LPisanyl, der Farnunkrautbaum (fern tree) eine Art wilder Spinat, und ein Baum der eine kleine Frucht wie Johannisbeeren trägt, die sich vielleicht sehr werden veredeln laßen. Die Produkte aber, welche Norfolk die größte Wichtigkeit geben sind die Tanne und die Flachspflanze. Erstere erlangen eine Höhe und Vollkommenheit die man anderwärts nicht kennt und versprechen die treflichsten Masten und Stangen für unsere Flotte in Ostindien; und die andre ist nicht weniger schäzbar um Segeltuch Tauwerk, ja die feinsten Waaren daraus zu verfertigen. Sie wächst im großem Ueberfluß und so üppig daß sie acht Fuß hoch wird. Die Tanen haben 160-180 Fuß Höhe und unten oft 9-10 Fuß im Durchmeßer. 80 Fuß wachsen sie ohne Ast. Das Holz ist so leicht als die besten Norwegischen Mäste und das Terpentin außerordentlich weiß und klar. Der Fern-tree wird auch verhältnißmäßig sehr hoch nemlich 70-80 Fuß und giebt trefliches Futter f ü r Schafe und andres kleines Vieh. Eine Pfeffer tragende Pflanze, die man f ü r den wahren orientalischen Pfeffer hält hat man kürzlich entdekt und Proben nach England geschikt um diesen wichtigen Punkt zur Gewißheit zu bringen. Der Hauptfehler ist der Mangel eines guten Landungsplazes. Die Bay deren man sich bis jezt bedient hat ist von einem Coralenrief umgeben |
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4.b. Tench P. 75. Ihre Kähne in denen sie zum Fischen ausfahren bestehen aus einem großen Stük Baumrinde welches an beiden Enden durch einige Reben zusam35
[Am Rand neben Ζ 20:] Cooks Beschreibung steht hier in einer Anmerkung.
3 Governor] G. 32 Gliederungsvermerk für Schleiermachers Materialsammlung zu Neuholland (Australien) 32 Tench: Nachricht von der Expedizion nach Botany-Bay nebst Bemerkungen über Neu-Südwallis; dessen Produkte, Einwohner, Klima u.s.w. und einem Verzeichnis des Civilund Militair-Etats der neuen Kolonie von Port-Jakson, aus dem Englischen übersetzt, Frankfurt/Leipzig 1789 33-4 Gerafftes Zitat von S. 7}f
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mengebunden ist. Die Geschiklichkeit mit welcher sie diese Kähne regiren und die Schnelligkeit mit der sie rudern ist außerordentlich. Sie wagen sich mehrere Meilen weit in die See. Feuer ist mitten im Kahn um die Fische sogleich zuzurichten. 77. Die Anzahl der Weiber war im Vergleich mit den Männern immer nur sehr klein. Die Stimme der Weiber ist sehr sanft und abstechend gegen die hohle rauhe Gutturalsprache der Männer. 80. Außer den Spießen und hölzernen Schwerdtern haben sie auch ungeheure Keulen. White schildert die Keulen klein. 81. Kangaroo nennen sie alle vierfüßigen Thiere außer dem Hund. So die Schaafe. Ich wollte ihnen ebenfalls die Pferde und Ochsen zeigen. Unglüklicherweise erblikten sie aber in dem Augenblik einige dort herum arbeitende Weiber von denen sie nicht abzubringen waren und in einer Entfernung von einigen Schritten sehr ausdruksvoll bezeigten wie sehr ihnen der Anblik gefiel. Eine Art von Achtung welche die Jüngeren den Aelteren bezeugen ist alles was man von Unterwürfigkeit bisher bemerkt hat. 83. An der Nordwestlichen Seite von Botany Bay haben wir einen W o h n plaz von 12 Hütten und etwa 60 Einwohnern entdekt. Tench hält sie für zu verdrossen und gleichgültig um sich einzulaßen; auch sagt er sie seien von Natur nicht herzhaft. Hunter. D e r höchste Theil des Bootes geht kaum 6 Zoll überm Wasser [.] Darin fährt ein Weib mit 2 oder 3 Kindern und läßt sich von dem Saum einer Brandung bespülen der sich ein alter Seemann in einem guten Schiff nicht nähern würde.
10 vierfüßigen] 4füßg
17 Nordwestlichen] NW1
21-2 Hunter ... bleiben.] am Rand
5-7 Gerafftes Zitat von S. 77f 8 f Zusammenfassende Notiz von S. 80 9 White schildert zweimal Keulen der australischen Ureinwohner. Bei einer Begegnung am 1. Juni 1788 beobachtete er folgende Waffen: „a long spear, the short stick before described [p. 117], used in throwing it, a shield made of bark, and either a large club, pointed at one end, or a stone hatchet." (Journal of a voyage to New South Wales, London 1790, S. 164) Unter dem Datum des 29. Juli 1788 beschreibt White ausführlich die Bewaffnung der Aborigines. Dazu gehörte auch „a bludgeon, or club, about twenty inches long, with a large and pointed end" (Journal 189). 10-16 Gerafftes Zitat von S.81f 17 f Leicht umformuliertes Zitat von S. 83 19 f Vgl. Tench: „Alle Befehle, welche bis jezt von Seiten des Gouverneurs gegeben sind, haben die Absicht, unserm Betragen eine solche Richtung zu geben, daß die längst gewünschte Vereinigung dadurch befördert werde. Fragt man aber, warum alle von unsrer Seite bisher angewandten Mittel noch so wenig gewirkt, so antworte ich darauf, daß dies in der mißtrauischen, zum Theil auch leichtsinnigen Denkungsart dieses Volks zu suchen, das so, wie fast alle Wilden zu verdrossen und gleichgültig ist, um mit einer Menschengattung sich näher einzulassen, die so sehr in allem von ihnen abweicht." (Nachricht 85) 21-24 Vgl. Hunter: "In this necessary employment of fishing, we frequently saw a woman with two or three children in a miserable boat, the highest part of which was not six inches above the surface of the water, washing almost in the edge of a surf, which would frighten an old seaman to come near, in a good and manageable vessel." (An historical journal of the transactions at Port Jackson and Norfolk Island, London 1793, S.63)
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Die Männer tauchen unter um Muscheln zu fangen und wir sahen sie oft von Felsen in die Brandung springen und lange unten bleiben. |
5.d. Oekonomie Collins P. 10. Schon in den ersten Tagen wurden die Magazine bestohlen. 38. Man hatte sich in England eingebildet daß wir auf unsre eingeschifften Vorräthe vermittelst des Fischfangs beträchtliche oder wenigstens einige Ersparniße würden machen können - aber man hatte niemals soviel als eine Ration Lenthieltl gefangen. Der größte Fang reichte für 200 Personen hin. 41. September. Da die Weizensaat nicht gerieth, man an einigen Orten 10 das Land zweimal bestellte und Mangel an Saatkorn zu besorgen war so beschloß der Statthalter den Sirius nach dem Kap zu schiken um hinlänglich Korn zur Saat zu haben, zugleich Vorath auf 1 Jahr für seine Mannschaft und für die Kolonie soviel Mehl als außerdem Plaz haben würde. 43. October. Bei der Abreise des Sirius wurden von der vollen Ration 1 15 Pfund und von der kleinen - Pfund Mehl eingezogen. 5
White Ende May der Schaarbok sehr arg und keine H o f n u n g ihm ohne größern Vorrath von Vegetabilien Einhalt zu thun.
4 P. 10.] am Rand 5 38.] am Rand 9 41. September.] 41.Sept. am Rand 11 Statthalter] Statth. 14 43. October.] 43. Oct. am Rand 15 Pfund] Φ 15 Pfund] Pf.
1 f Vgl. Hunter: "The men also dive for shell-fish, which they take off from the rocks under water; we frequently saw them leap from a rock into the surf or broken water, and remain a surprising time under: when they rise to the surface, whatever they have gathered they throw on shore, where a person attends to receive it, and has a fire ready kindled for cooking." (Journal 63f) i Gliederungsvermerk für Schleiermachers Materialsammlung zu Neuholland (Australien) 4-15 Ubersetzung von Collins: An account of the English colony in New South Wales, Bd 1, London 1798 4 9f 16 White: Journal of a voyage to New South Wales, London 1790 17f Unter dem Datum des 25.Mai 1788 berichtet White: „The Supply arrived from Lord Howe's Island without a single turtle, the object for which she was sent: a dreadful disappointment to those who were languishing under the scurvy; many of whom are since dead, and there is great reason to fear that several others will soon share the same fate. This disorder has now risen to a most alarming height, without any possibility of checking it until some vegetables can be raised; which, from the season of the year, cannot take place for many months. " (Journal 157f)
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Alles V i e h scheint abzufallen besonders die Schafe. Auch aus M a n g e l an B o o t e n b e k o m m e n sie nicht Fische g e n u g . D e r S w e e t T e a ist eine kriechende Art v o n W e i n s t o k der sich sehr lang auf dem B o d e n hinzieht, nicht s o dik im Stengel als der dünste Fliederstrauch 5 ( h o n e y - s u c k l e ) an G e s c h m a k w i e Lakrizf.] Es giebt nur d e ß e n nicht g e n u g . Im A u g u s t n o c h immer Scorbut. Eine P f l a n z e gleich d e m g e m e i n e n Ginster trägt eine kleine Beere w i e J o hannisbeere [,] im G e s c h m a k wie eine sehr saure grüne Stachelbeere. Sie ist ein gut LAntiscorbutuml. 10 Es giebt viel leidliche G e m ü s e deren man sich h ä u f i g bedient. A m reichlichsten ist eine P f l a n z e , die an der Küste w ä c h s t und der Salbei gleicht. M a n findet auch M e e r f e n c h e l (samphire) eine Art w i l d e n Spinat und einen Strauch den wir d e n vegetable tree nennen weil man seine Blätter g u t e ß e n kann.
1 Zusammenfassende Notiz von White: Journal 158f 2 Leicht umgeformte Übersetzung von White: Journal 182 3-13 Unter dem Datum des 16. August 1788 schreibt White: „ That which we call the sweet tea, is a creeping kind of vine, running to a great extent along the ground; the stalk is not so thick as the smallest honey-suckle; nor is the leaf so large as the common bay leaf, though something similar to it; and the taste is sweet, exactly like the liquorice root of the shops. Of this the convicts and soldiers make an infusion which is tolerably pleasant, and serves as no bad succedaneum for tea. Indeed were it to be met with in greater abundance, it would be found very beneficial to those poor creatures, whose constant diet is salt provisions. In using it for medical purposes, I have found it to be a good pectoral, and, as I before observed, not at all unpleasant. [...] We have also a kind of shrub in this country resembling the common broom; which produces a small berry like a white currant, but, in taste, more similar to a very sour green gooseberry. This has proved a good antiscorbutic, but I am sorry to add, that the quantity to be met with is far from sufficient to remove the scurvy. That disorder still prevails with great violence, nor can we at present find any remedy against it, notwithstanding that the country produces several sorts of plants and shrubs, which, in this place, are considered as tolerable vegetables, and used in common. The most plentiful, is a plant growing on the sea shore, greatly resembling sage. Among it are often to be found samphire, and a kind of wild spinage, besides a small shrub which we distinguish by the name of the vegetable tree, and the leaves of which prove rather a pleasant substitute for vegetables." (Journal 195fj
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P. 140. Thursday February 3. ,Lord Beauchamp moved to address for papers relative to the steps taken in consequence o f an act f o r appointing places beyond the seas for the reception o f felons etc. - agreed to. 2. A List to be laid before the house o f felons on board the hulks. 3. List of persons under sentence o f imprisonment in the gaols and houses o f correction in London and the six adjoining counties. - Ordered.' P. 316. Wednesday April 6. ,The sessions began at the Old-Bailey when among other felons the noted G e o r g e Barrington was tried f o r larceny in stealing a gold watch in the pit passage o f Drury Lane the property of M r . Bagshaw. M r . B a g s h a w missed his watch saw Barrington behind him and charged him with it. „I your watch" said he and held up his hand with the palm downwards: that instant he heard a glass break and stooping picked up his watch and secured the prisoner. Another witness heard the watch drop, but could not tell from whom it fell but the prosecutor was positive it must be from the prisoner. This was the whole o f the evidence and the judge called upon the prisoner to make his defence, which he did in so masterly a manner as astonished the whole court. Baron Eyre in his charge to the jury could not help lamenting that a man o f such abilities should stand in such a situation and left it to the jury to judge by the evidence hoping only that if they did acquit him it would be the last time they should see him in that place.' P. 325. ,Mr. U r b a n ! T h e idea o f erecting the Penitentiary Houses which were proposed in 1779, originated in the purest benevolence and the truest public spirit. „If many offenders (says the Act of Parliament which was passed on the occasion) convicted of crimes f o r which transportation has been usually inflicted were ordered to solitary imprisonment accompanied by wellregulated labour and religious instruction it might be the means under Providence not only o f deterring others from the commission o f the like crimes but also of reforming the individuals and inuring them to habits o f industry." - By this act his Majesty was authorized to appoint three persons to be supervisors o f the buildings to be erected. T h e supervisors or any two o f them were to fix upon any common, heath or waste o r a n y o t h e r p i e c e o f g r o u n d in Middlesex Essex Kent or Surrey on which should be erected two plain strong edifices to be called P e n i t e n t i a r y h o u s e s one f o r the confinement and employment o f 600 males the other o f 300 females. In fixing upon the ground regard was to be had
2 Thursday February] Thurd. Febr. 2 address] adress 4 etc.] 8c 8 sessions] Sessions 8 Old-Bailey] old Bailey 20 by] über (of his) 22 idea] Idea 22 Houses] houses 24 offenders (says] offenders - says 24 Parliament] Pari. 27 be] by 29 individuals] Individuals 31 The] the
1 The Gentleman's Magazine and Historical Chronicle 55 (London Teilbdi 22 325f
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to health and the accomodation of water avoiding as much | as possible any lv place where any other buildings were or might be erected contiguous to or within a small distance of the outward fence of such houses or within a populous town. T h e situation and circumstances were to be approved by the Lord Chancellor, the Speaker of the House of Commons, the Judges of the Courts of King's Bench and Common Pleas, Barons of the Exchequer, and Lord Mayor of London or eight or more of them. After such approbation the supervisors were to contract for the purchase and if the owner would not agree to their price the value was to be ascertained by a jury and on payment or tender they were impowered to take possession. After the houses were built a committee to be appointed by his Majesty were to choose the officers named in the act and there are very good and wise regulations for the government of the house and management of the prisoners. That a plan which had been so much desired should in the very outset be made liable to become an engine of severe oppression and fair as it appeared in theory should be found impracticable to execute is greatly to be lamented; yet the former will appear by attending to the words printed above in Italicks and to the conduct of the supervisors in consequence of the powers thereby given and the latter appears by the scheme having been abandoned. T h e original intent of the proposers appears plainly to have been to build these houses on some common heath or waste remote from other houses; and for this there were many good reasons: the liberty of taking such ground would cost little; the injury to any man's property would be very trifling being only the loss of commoning on the ground enclosed, and no houses would be deserted from an apprehension of such neighbours [...]. But some words were inserted (I am convinced without being attended to by the house [...]) by which these supervisors were impowered to take any land whatever [...]. It will perhaps hereafter be hardly credited that the supervisors [...] should fix upon a piece of ground in the most fertile part of Wandsworth in Surrey let mostly to gardeners at high rents, situated between the populous villages of Wandsworth Battersea and Clapham where new buildings were erecting every day, when there were such uninclosed spots as Hounslow heath Finshley common and Enfield chace so near London yet so it was. It is also somewhat extraordinary that the gentlemen as if willing to show how dangerous it is to give such power, even to most respectable persons, should fix on the spot without condescending to I have any previous communication with the owners; yet it is the fact. Having 2r thus chosen their ground and secured the approbation of the proper number of those whose consent was necessary, they advertised for plans of the intended
5 House] house 5f Courts of King's Bench and Common Pleas,] courts of King-bench and Common-pleas 6 and Lord] Lord 9 price] prize 9 jury] Jury 13 had] has 20 heath] korr. aus health 25 inserted (I] inserted I
24 Statt neighbours Q : neighbours as these buildings would bring to a place much inhabited 25 Statt house Q : h o u s e - - t o o common a case! 26 Statt whatever Q: whatever, „Common, heath, or waste, o r a n y o t h e r p i e c e of g r o u n d " 27 Statt supervisors Q ; supervisors, invested with such powers,
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buildings with an o f f e r of different sums f o r that which should be thought the best, and f o r (I think) the second and thirst best. Plans were delivered, the price of the land was adjusted and here the business ended.' P. 448. March 16. - .There now being a short pause. Mr. Burke took the opportunity of saying a few words relative to the punishment of convicts under sentence of transportation. U n d e r colour of humanity he said we were guilty of the most aggravated cruelty; and by a commutation of punishment on the ground of mildness the poor wretches were doomed to sufferings compared with which the gibbet was gentle and the halter mercy. H e was about to make a motion in their favour when Lord Beauchamp rose and laid claim to the honour of having already made a similar motion. Alderman Newnham said, he did not doubt but the H o n . Gentleman meant well; but it would certainly be a great and serious cruelty if the villainous part were to be let loose on the honest part of the community. At present the gaols were full of the former and the latter could hardly walk the streets in safety. Surely he said the honest citizen had some claim to a share in the H o n . Gent.'s humanity as well as the villain. H e wished to know in what palace the H o n . Gent, would have them placed. Mr. Burke said that everybody knew that remission of punishment to criminals was in many cases inhumanity to the innocent: all he aimed at, was, that when we professed to be merciful we should not enthrone cruelty on the bosom of mercy. T h e island on the river Gambia where it was now proposed those wretches should be sent, he said, if there was a palace upon it, it must be the palace of pestilence where death and destruction reigned with never ceasing devastation. Some other members observed that the motions were ill-timed and wished them to be referred to a more vacant day.' | Gentlem. Mag. 85. B.
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P. 529. M o n d a y April 11. ,Lord Beauchamp then rose and called the attention of the H o u s e to the deplorable case of the felons now under sentence of transportation in the several gaols of the kingdom. H e reminded the Right H o n . Gentleman of an account that had been called f o r at the beginning of the session of the number of felons under sentence of transportation which had not yet been laid upon the table; in the meantime he had heard f r o m undoubted authority that a number of them had actually been put on board a ship in order to be landed on an island in the river Gambia; and as it was his intention to offer some motions upon the subject when that paper should be produced, he wished
8 wretches] wretched 12 H o n . Gentleman] H. G. 16 H o n . Gent.'s] H . G . 17 H o n . Gent.] H . G . 19 innocent] innocents 27 April] Apr. 27 Lord] Ld 28 H o u s e ] house 29£ Right H o n . Gentleman] R . H . G . 31 transportation] transp. 32 he] korr. aus unleserlichem Wort 34 island] Island
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exceedingly the Right H o n . Gent, would give the proper directions f o r the order of the H o u s e to be obeyed. Mr. Pitt wished he had known the N o b l e Lord's intentions of taking up the subject on that day he should then have been prepared to have given the H o u s e the necessary satisfaction; at present he could say no more; but if the Noble Lord would be so good as to state the nature of his intended motions he would at the same time take upon him to say how far they appeared right to be complied with. Lord Beauchamp said the nature of his propositions depended altogether on the nature of the paper moved for. When that was before the House, he should then be enabled to state his propositions. Mr. Burke then took up the matter and was enlarging on the cruelty of sending any human beings to linger out a miserable existence in Africa [ . . . ] when he was called to order by Mr. Pitt as there was no motion before the House.' P.530. April 12. ,Mr. Pitt presented to the H o u s e the papers [ . . . ] relative to convicts sentenced to be transported to parts beyond the seas and to America being conveyed to Africa. They were ordered to lie on the table.' P. 831. October 15. ,The Sheriffs of London waited on Ld. Sidney in obedience to his Lordship's appointement when they delivered to him the return of the prisoners in Newgate. As the numbers are double to what have been usual the Government are employed in concerting measures to suppress that growing evil.' P. 916. November 12. ,By a report f r o m Mr. Campbell the Superintendent of the convicts at Woolwichroad read in the C o u r t of Κ. B. there are now between 7-800 convicts on board the hulks there besides a great number sentenced f o r transportation that Newgate and the several gaols throughout the kingdom are full of convicts and felons who are ready to be discharged into the hulks, and that there is not work sufficient to employ those that are already there. | Lord Mansfield remarked on this information as being of the most alarming nature and recommended it to the consideration of the Attorney General who was in Court to take some steps to prevent the mischiefs likely to ensue from such a situation. H e promised to consult his Majestys Ministers accordingly.'
1 Right H o n . Gent.] R. H . G. 2 H o u s e ] house 2 f Noble Lord's] N. L. s 4 House] house 5 Noble Lord] N. L. 7 Lord Beauchamp] L. B. 9 H o u s e ] house 9 enabled] en mit Einfiigungszeichen über der Zeile 10 o n ] über (of) 13 H o u s e ] house 15 parts] places 16 lie] korr. aus lay 17 October] Octob. 17 Ld.] Abk. fiir Lord 19 Newgate] NewGate 22 November 12.] Nov. 11. 23 K.B.] Abk. für King's Bench 26 convicts and felons] felons and convicts 28 Lord] Ld. 30 Court] court 31 Ministers] ministers
12 Statt Africa Q : Africa (see p.448), for
14 Statt papers Q : papers which were called
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P. 77. January 13. LNewsl erwähnt daß in the quarter Sessions f o r the county o f Middlesex a prisoner f o r felony was sentenced to be transported to Africa. P. 102. , M r . U r b a n ! [ . . . ] It is a melancholy consideration that so many o f our fellow creatures should pay the heaviest penalty o f insulted justice without producing that reformation in the manners o f the people which is the great object o f public punishment. T h e legal massacres which are exhibited to a thoughtless multitude when „the prisons o f the metropolis are emptied into the grave" may melt the humane into compassion, but they deter not the wicked from guilt: it is therefore much to be regretted, that some other mode o f punishment is not adopted, which in chastifing the criminal might make some reparation to the state he has injured, and that none o f our great lawyers have thought an examination into the manifest injustice o f our criminal laws worthy their serious attention. Men who retire from the labours o f their profession or the intrigues o f politics' perge . . . ,If the hazard o f life could prevent the commission o f offences so many miserable wretches would not fall victims to trifling temptations' perge ,but I am convinced that at the time o f committing the offence, the offender reflects not upon the punishment annexed to his crime f o r he does not always nor indeed often take the most effectual means of concealing his guilt. T h e highwayman would not leave the person he has robbed to remain an evidence against him, if he recollected that by adding murder to robbery he would be exposed but to the same punishment and might probably escape detection' perge . . . ,We have lately had a melancholy instance where
2 January] Januar 5 Mr.Urban!] mit Einfügungszeichen über der 7.etle grave"] when the ... grave
9f when „the...
1 The Gentleman's Magazine and Historical Chronicle 36 (London 1786), ed. S. Urban, Teilbdl 5 102f 5 Statt Mr. Urban! Q; Mr. Urban, „A single gaol, in Alfred's golden reign, / Could half the nation's criminals contain. / Blest age! but, ah I how different from our own!" 16 Statt politics Q: politics, to an ample pension, would prove themselves really worthy their country's gratitude by performing this acceptable service. The penalty of death has been brought forward to meet such a variety of offences, to stop the hand of the murderer, or to prevent the commission of an easy fraud, that crimes very different in degree are held worthy of an equal severity of punishment. 18 Statt temptations Q ; temptations; temptations which bear no proportion to the consequences of detection: 24 Statt detection Q : detection; or if he were not restrained from committing accumulated guilt by some remaining sparks of virtue, which ought to plead in mitigation of the heaviest sentence which the severity of law pronounces on the most aggravated crime. But if it be politically impossible to adjust the exact proportion of punishment to the magnitude of the offence, I am sure it is not impossible to make the punishment beneficial to the offender and to the public. When no severity can restrain, and no admonition can improve a criminal, he must fall a sacrifice to the general welfare; and „whoso sheddeth man's blood, by man should his blood be shed:" but the wanton infliction of death can produce no advantage: the mind revolts at the cruelty of the sentence;
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malefactors have advanced in troops to death and where advancing with the spirit and apparantly with the piety of martyrs they have seemed objects of envy rather than spectacles of horror.' ...,There is no doubt when America belonged to this country that many convicts reformed and became profitable members of another state, they might then have been made good members of this. When criminals are sent to the hulks, they mix together to teach and to learn iniquity: when their sentence is expired they prey again upon the public for they have generally no other means for preserving existence.' f . . . ] ,When they are sent to Africa they go to mutiny and as a late instance has exemplified to provoke to murder' ... ,Public works and public roads would afford a sufficient employment' perge perge perge I P. 168. February 7. ,Mr.Bastard wished to be informed by any person in the confidence of administration whether the late act relative to the transportation of convicts to the coast of Africa was or was not to be carried into execution? Mr. Pitt replied that the question was under consideration and as it was a question which required great deliberation it must be proceeded in with caution. Mr. Mainwaring knew not what might be under consideration to elude the force of the act; but whatever it might be, he hoped it would not be such as to defeat the removal of those convicts who were the objects of it out of the kingdom. Mr. Pitt said that a variety of opinions had hitherto prevented the sentence of transportation from taking effect; but if it should happen that the
12 February] Feb.
13 late] last
19 objects] obiect
the anguish of the criminal is supposed to exceed his guilt; and pity for his sufferings usurps the place of resentment against his crimes. 3 Statt horror. Q: horror. In other punishments little good can be expected. 8 Statt existence. Q ; existence; they can find no employment, if they be really honest and industrious. 10 Statt murder Q : murder: there is no inducement to them to d o well. In two other instances, the political perhaps, rather than the legal establishment, is defective; when the guilty escapes f r o m the want of evidence against him, or some error in the proceedings, and when the innocent is acquitted. T h e former goes again into the world, to fill up the measure of his iniquities, and to return to the same tribunal with unquestionable guilt; the latter retires, overwhelmed with shame, to sink under the weight of suspected innocence, and is possibly compelled by the consequences of the suspicion to become really c r i m i n a l . - T h e o f f e r of a public employment would be useful to such men, that they might be secure of the advantages of labour, that there might be an asylum in which they could preserve or regain their integrity, and benefit the public as well as themselves by their industry. In criminal cases of an inferior nature, such punishments might be inflicted as would tend to reform the convict, and make his labour serviceable to his country. lOf Statt employment Q: employment, and such an establishment might be made as would induce the criminal to perform his duty f o r the charms and f o r the rewards of virtue. By such means many might be saved w h o now suffer an ignominious and an early death; and many might be so much purified in the furnace of punishment and adversity, as to become the ornaments of that society of which they had formerly been the bane. The vices of mankind must frequently require the severity of justice; but a wise state would direct that severity to the greatest moral and political good. AGRICOLA.
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mode prescribed by the act should not be thought literally practicable his M a jesty's servants would very soon substitute another mode of punishment instead of it. Mr. Mainwaring said that such a presumption had got abroad and had crowded the metropolis with a banditti that had come f r o m all parts of the country in high expectation that some mitigation was intended to be made in their favour.' P. 263. March 22. ,The Sheriffs of London accompanied by the City Remembrancer attended the Levee at St. Jame's and presented the felons petition to his Majesty. T o the King's Most Excellent Majesty T h e humble Petition of the Court of Lord M a y o r and Aldermen of the City of London Sheweth T h a t your Petitioners the Magistrates f o r the City of London have had an opportunity of observing with the most heart-felt concern the rapid and alarming increase of crimes and depredations in this city and its neighbourhood especially within the last three years. T h e fact of such increase is too publicly known and too severely felt by your Majesty's subjects to be doubted and if any direct proof of it were wanting, it will most evidently appear f r o m the number of days employed in the trial of felons at the Old Bailey which upon an average of the last three years have been upwards of 55 in the year whereas the highest average of any three years prior to the year 1776 was less than 46 and the general average of 20 years prior to that period less than 34 days in the year. T h a t the increase of the crime of burglary is become most alarming to your Majesty's subjects which increase your petitioners are inclined to ascribe to the great number of experienced and well practised thieves now in the kingdom I who commit this atrocious crime with such art that scarcely any precau- 4r tions are sufficient to guard against it. And the same experience that enables these offenders to perpetrate this offence with ease has probably convinced them that it is attended with less personal danger and hazard of detection than most other offences. T h a t in the years from January 1766 to December 1775 [ . . . ] above 3100 persons were transported f r o m London and Middlesex alone and having reason to believe that all the rest of the kingdom have furnished an equal number the whole amount of the transports in these 10 years has been above 6000. T h a t the number of prisoners tried and convicted of felony in the ten succeeding years [...] having greatly increased there is every reason to believe that if the execu-
6 favour.] folgt (Mr. Pitt) 7f City Remembrancer] Citys remembrancer 10 King's Most Excellent] King Most excellent 11 and] & 14 heart-felt] heartfelt 14f alarming] allarming 18 your] Your 25 your ... subjects] Your ... Subjects 25 inclined to ascribe] inclined 32 January ... 1775] Jan 66 to Dec 75
7 263f 32 Statt 1775 Q ; 1775, b o t h inclusive, (which time immediately preceded t h e stop t h a t was p u t t o t r a n s p o r t a t i o n ) 35 Statt years Q : years, f r o m t h e beginning of 1776 t o 1786,
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tive justice had remained the same the transports in those years would have much exceeded the number of the ten preceding but the regular course of transportation having been interrupted during that period and few opportunities found by Government of sending convicts abroad and those only in small numbers, your Petitioners humbly submit to your Majesty that it necessarily follows, that after making an allowance for the small number sent abroad and for the convicts who may have died during that period, there must now remain within the kingdom either at large or in the different prisons at least 4000 persons who in the judgment of the law were proper to have been sent out of it. That your Petitioners humbly conceive that this dreadful accumulation is alone sufficient to account for all the evils that are so heavily felt and so justly complained of both as to the overcrowded state of the gaols and the increase of crimes and of offenders. T o what extent the mischiefs that are so severely felt already and the fatal consequences so justly apprehended, may be carried by a longer continuance of so rapid and alarming an accumulation of convicts within the kingdom no human wisdom can foresee. When facts so important as these and which so materially affect the peace and security of your Majesty's subjects in general and especially of this great city have come within the knowledge of your Petitioners they would ill discharge their duty to your Majesty or the Public if they neglected most humbly to lay them at the foot of the Throne earnestly beseeching your Majesty to direct such measures to be taken as to your Royal wisdom shall seem best for providing a speedy and due execution of the law both as to capital punishment and transportation without which all other re-|gulations must prove nugatory 4v and abortive and the mischiefs complained of must daily and rapidly increase.' P. 574. March 7. ,Mr. Bastard moved that there be laid before the House an account of all the monies paid either by his Majesty or the public for those convicted of felony or misdemeanour from the 1st of Jan. 1775 specifying the sums disbursed each year. After a short conversation the motion was put and carried. Mr. Bastard then moved that an account be laid before the House of all persons convicted and sent on board the hulks and tenders from Jan. 1, 1775 specifying the times when discharged together with their different offences.' P. 614. June 24. ,The felons in the hulks near Woolwich refused to obey their keepers and barricaded themselves so as to prevent all access to them. Capt. Erskine to whom the charge of them was entrusted immediateley came on board and remonstrated on the absurdity of their conduct but in vain. One man among the rioters who seemed to relent they instantly hung up on which the Captain found himself under the disagreeable necessity of ordering his men to fire upon them by which nine or ten of them were wounded [...].'
1 had] has J during] at 4 f o u n d ] found out S y o u r ] Your S y o u r ] Your 7 that] this 15 alarming] allarming 20 Public] public 22 Royal] royal 28 the 1st of Jan. 1775] Jan 1 75 31 Jan. 1,] Jan 1 32 discharged] folgt (and) 32 offences] korr. aus offices 33 June] Jun
39 Statt w o u n d e d . Q ; w o u n d e d , t h r e e of w h o m are since d e a d .
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P. 675. April 2 7 . , M r . L a m b e r t under-sheriff of Yorkshire presented an account of the n u m b e r of convicts that have suffered death and of those that have been sent to hard labour etc. within a certain period. O r d e r e d to lie on the table.' P. 806. September 30. ,It has been said in the public prints that a plan f o r f o r m i n g a settlement at Botany-Bay f o r the restriction of felons sentenced f o r transportation is actually to be carried into execution; but this plan is so wild and extravagant that we can hardly believe it could be countenanced by any professional man a f t e r a moment's reflection. N o t the distance only but the almost impracticability of crossing the line with a n u m b e r of male and female felons w h o in their cleanliest state and as much at large as can with safety be allowed them in gaol and with f r o s t scarcely to be kept f r o m putrid disorders must f o r ever r e n d e r such a plan abortive. T h e rains t o r n a d o s and heats that accompany these tempests near and u n d e r the line are o f t e n fatal to the hardest navigators besides the m o u n t a i n o u s seas that are almost always to be e n c o u n tered in passing the Cape and in the latitudes in which the transports must pursue their course to Botany-Bay n o man surely w h o had a life to lose o r a relation o r friend that he wished ever again to see w o u l d engage in so h a z a r d ous an u n d e r t a k i n g . W e may t h e r e f o r e venture to foretell that if any such desp e r a d o should be f o u n d his fate [ . . . ] will f o r ever deter a second repetition. It is n o t o r i o u s that the Dutch East India ships lose m o r e than half the recruits they take o n b o a r d f o r their settlements in India in crossing the line and b e f o r e they reach the places f o r which they are b o u n d ; yet the course to India is n o t near so dange-|'
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1 under-sheriff] UnderSheriff 2 have] had 3 etc.] & 5 September] Aug 6 Botany-Bay] Botany bay 9 moment's] moment 16 Cape] cape 17 Botany-Bay] Botanybay 21 Dutch East India ships] dutch Eastindiaships 5 806f 20 Statt fate Q: fate, like that of Lunardi's late exhibition, 24 Statt dange- Q : dangerous as the course to Botany-Bay. Add to these objections, that the natives are the most savage and ferocious of any that Capt. Cook met with in exploring the Eastern coast of New Holland.
Zur Siedlungsgeschichte Neuhollands (Australiens) (1800)
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Manuskript „Gedanken
V":
Teilfaksimile der Seite 10
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Zum Piaton (Vermutlich
1801-1803)
Zum Piaton
[1.] Lysis muß doch aus der ersten Periode seyn. Zeugniß daß Socrates ihn gelesen ist nicht ganz zu verachten. Laertius führt jedoch dabei keinen Gewährsmann an. Wenn Parmenides noch bei Socrates Lebzeit geschrieben wäre würde er sich noch mehr gewundert haben. Auch streitet dagegen die Nachricht des Laertius, daß Plato den Hermogenes erst nach dem Tode des Socrates gehört habe.
[2.] Sollte man nicht eine eigene Untersuchung über die im Plato vorkommenden πρόσωπα anstellen? Es müßen sich doch allgemeine Gesichtspunkte darüber finden laßen.
[3.] Ueber die νομούς sagt Laertius in der vita: ενιοι δε φασιν οτι Φίλιππος ο Οπουντιος τους νομούς αυτου Ι,ανεγραψενΊ οντάς εν κηρφ. τουτου δε και την Επινομιδα φασιν είναι.
[4.] Sollte nicht die geringe Anzahl der Personen ein Kennzeichen früherer Stüke seyn? Analoga sind Phaedrus Euthyphro Criton, und eben so die spätesten Republik Timaeus perge.
3f Laertius . . . an.] mit Einßigungszeichen drei Zeilen tiefer hinter gehört habe. hört] korr. aus gelesen 15 Euthyphro] Euthyphr. 16 Republik] Republ.
7 ge-
2 Piaton: Lysis 203a-223b, Opera 1,211-252; Werke 1,400-450 3f Vgl. Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 3,35, ed. Meibom 185; ed. Long 136 (auch Piaton: Opera Ι,ΧΧΙΙ) 4 Piaton: Parmenides 126a-166c; Opera 10,69-160; Werke 5,196-318 6f Vgl. Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 3,6, ed. Meibom 167f; ed. Long 123 (auch Piaton: Opera 1,V) 11-13 Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 3,37, ed. Meibom 186; ed. Long 137 (auch Piaton: Opera 1,XXIII). Vgl. auch Briefe 3,252.256.259 12 Statt Lανεγραψεν I Q : μετεγραψεν
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Zum Piatön
[5.] Die Stelle im Phaedrus 257d. Bip. X,344.45. scheint auf eine Zeit zu deuten wo die Sophisten schon ziemlich verachtet gewesen; kann dies in die Jugend des Plato fallen?
[6.] Gorgias Thrasymachus und Theodorus sind auch Zeitbestimmungen f ü r den Phaedrus.
[7.] Palamedes Eleaticus Suidas Γραμματικός, κωμικην και τραγικην λεξιν. ονοματολογον υπόμνημα εις Πινδαρον ποιητην.
[8.] In die Vorrede muß etwas kommen über den Grundsaz der Uebertragung einzelner Wörter und den Unterschied den es macht ob sie Hauptwörter sind und in einer bestimmten Terminologie stehn oder nicht.
[9.] Im Aristophanes soll eine Stelle sein: έφριξα ερωτι. Da nun φρίσσω von freudigen Bewegungen nicht gewöhnlich ist so kann dies leicht eine Parodie sein auf Piatons Phaedrus P.330 und dies vielleicht auf eine Zeitbestimmung führen. Schneider f ü h r t die Stelle an aber ohne Citation.
6 Suidas] Suid. Phaedr.
9 ob] korr. aus unleserlichem
Wort
14 Piatons Phaedrus] Plat.
1 Piaton: Phaedrus 257d, Opera 10,344f; Werke 5,112 5 Piaton: Phaedrus 227a-279c, Opera 10,279-390; Werke 5,2-192 6f Suidas: Lexicon, ed. Küster, Bd 3, Cambridge 1705, S. 5; ed. Adler, Bd 4, Stuttgart 1935 (Nachdruck Stuttgart 1971), S. 5 7 Statt ποιητην Q : τον ποιητην 12 Diese Wendung stammt nicht aus Aristophanes, sondern findet sich bei Sophokles: Aiax 693. 14 Piaton: Phaedrus 251a, Opera 10,330; Werke 5,88.90 15 Vgl. Schneider unter dem Stichwort φρίσσω: „Als Ausdruck der Freude steht έφριξα ερωτι, Aristoph." (Kritisches Griechisch-Deutsches Handwörterbuch beym Lesen der griechischen profanen Scribenten zu gebrauchen, Bd 2, Jena/Leipzig 1798, S. 810a)
Zum Piaton
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[10.] Es ist sehr unwahrscheinlich daß Phaedrus ein Anachronism ist, weil seine Persönlichkeit gar nichts dazu thut. An einem Bewunderer des Lysias für diesen Dialog konnte es dem Piaton nicht fehlen, so wenig als an einem der die Rede im Symposion hielte.
5
[11.] Aristoteles sagt die πίστεις seien das einzige εντεχνον. Das übrige nennt er προσθηκαι τα εξω του πραγματος. Dahin rechnet er noch τον δικαστην ποιον τινα κατασκευαζειν. - Das λογον βοηθειν εαυτω kommt auch vor - εστω δη ρητορικη δυναμις του θεωρησαι περι εκαστον το ενδεχομενον πιθανόν.
ίο
[12.] Zu der Anmerkung Lüberl δοξα und επιθυμία: Aristoteles Rhetor. 1,10 meint genau dasselbe λογιστική ορεξις (εστι δε η μεν βουλησις μετα λογού ορεξις αγαθού) und ορεξις άλογοι (άλογοι δε ορεξεις οργη και επιθυμία).
[13.] παν γαρ αναγκαιον πραγμ' άνιαρον εφυ. Vom Εύηνος schon 15 Μ. δ angeführt.
4 Symposion] Sympos.
8 ρητορικη] ρητορ.
5f Vgl. Aristoteles: αί γάρ πίστεις εντεχνόν έστι μόνον τά δ'άλλα προσϋήκαι. οί δέ περι μεν ενθυμημάτων ουδέν λέγουσιν, απερ έστί σώμα της πίστεως- περί δέ των εξω τοϋ πράγματος τά πλείστα πραγματεύονται. (Rhetorica 1354α, 13-16, Opera omnia 4,28f; ed. Ross 1) 7 Vgl. Aristoteles: Διαβολή γάρ, και ελεος, και οργή, καϊ τά τοιαΰτα πάθη τής ψυχής, ού περί τοϋ πράγματος έστιν, άλλα προς τον δικαστην. (Rhetorica 1354α,16-18, Opera omnia 4,29; ed. Ross 1) 7 f Vgl. Aristoteles: προς δέ τούτοις άτοπον, εϊ τω σώματι μεν αισχρό ν μη δύνασ&αι βοηϋεϊν έαυτφ, λόγω δ' ούκ αΐσχρόν (Rhetorica 1355α,38-1355b,l, Opera omnia 4,35; ed. Ross 4) 8f Aristoteles: Rhetorica 1355b,26f, Opera omnia 4,37; ed. Ross 5 11-13 Vgl. Aristoteles: δσα δέ δι' αύτούς, καϊ ών αυτοί αίτιοι, τά μέν δΐ ίθος· τά δέ δι' δρεξιν και τά μέν διά λογιστικήν δρεξιν τά δέ δι' άλόγιστον. "Εστι δέ ή μεν βούλησις μετά λόγου ορεξις άγαΟοΰ- ουδείς γάρ βούλεται, άλλ' ή δ, τ' αν οίηθείη είναι αγαθόν άλογοι δ'ορέξεις, οργή και επιθυμία, ώστε πάντα, δσα πράττουσιν, ανάγκη πράττειν δι' αιτίας έπτά, διά τύχην, διά βι\αν, διά ψύσιν, δι' εθος, διά λογισμόν, διά βυμόν, δι' έπιθυμίαν. (Rhetorica 1368b,37-1369a,7, Opera omnia 4,112f; ed. Ross 44) 14£ Aristoteles: Metaphysica 1015a,29f, Opera 2,511C; ed. Jaeger 93 - auch Rhetorica 1370a,lOf, Opera omnia 4,119; ed. Ross 47
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Zum
Piaton
[14.] Wahrscheinlich liegt ein Vorwurf gegen die Megarische Schule darin daß Euclides den Theaetetus erzählen muß. Oder soll man denken Piaton sei damals noch dort gewesen und es für eine Ehrenbezeugung halten? Was Euclides im Theätet von der Art den Dialog zu verfassen sagt ist zugleich ein Wink wie man sich die indirekten Gespräche denken soll.
[15.] Den Verfasser des Alkibiades I. möchte ich gern für einen aus der Xenophontischen Schule halten oder wenigstens von solchem Geist. Auf jeden Fall aber hatte er Platonische Fragmente vor sich denn das αυτο το αυτο wiewol glaube ich der Terminus weiter nicht vorkommt muß vom Plato sein. Auch sind Spuren darin von Ideen die etwa kurz vor dem Phaedon in Plato können gewesen sein und Alles was für Platonisch zu halten ist zeigt auf die erste Periode hin aber auf das Ende derselben. Ich denke mir daher, daß Plato dies Gespräch entworfen gehabt als Erläuterung und Nachtrag zum Protagoras kurz vor dem Tode des Sokrates und daß es dieser Begebenheit halber unvollendet geblieben auch ακέφαλος. Der Anfang ist ganz schlecht das Ende ist nach dem Charmides gearbeitet; auch möchte ich wegen der oft harten Demüthigung des Geliebten behaupten er habe den Lysis vor sich gehabt. Die Uebergänge mögen auch noch nicht ausgearbeitet gewesen sein, daher die Härte. Das Anpreisen der Lakedaimonier und Perser möchte ich erst recht verstehn wenn ich die Cyropaedie verglichen. Die Stelle von dem erscheinenden Gott scheint eher aus dem zweiten Alkibiades genommen zu sein als Ldieser aus jener!.
8 Verfasser] Vf. 2 Piaton: Theaetetus 142a-210d, Opera 2,47-195; Werke 6,2-216 5 Vgl. Piaton: Theaetetus 143b-c, Opera 2,50; Werke 6,4.6 8 Piaton: Alcibiades I. 103a-135e, Opera 5,3-71; Werke 1,528-636 16 Piaton: Protagoras 309a-362a, Opera 3,83-193; Werke 1,84-216 19 Piaton: Charmides 153a-176d, Opera 5,105-156; Werke 1,288-348 20 Piaton: Lysis 203a-223b, Opera 5,211-252; Werke 1,400-450 22f Vgl. Piaton: Alcibiades I. 120e-124b, Opera 5,40-47; Werke 1,584-594 23 Xenophon: Κυρου παιδεία. Institutio Cyri, Opera, edd. Wells/Thieme, Bdl, Leipzig 1763; Opera omnia, ed. Marchant, Bd 4, Oxford 1910 24 Vgl. Piaton: Alcibiades I. 124c, Opera 5,47; Werke 1,594 25 Vgl. Piaton: Alcibiades II. 141 a.147e-148a, Opera 5,82.95
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[16.] Im 2. Alkibiades komt unter anderm eine Redensart die ich sonst im Plato nicht gefunden zweimal vor α τί δει κ α θ έκαστα λεγειν. Dann zeigt es auf einen späten, daß Sokrates von den Kriegen der Athener und Spartaner die er alle selbst erlebt hatte von einigen älteren will gehört haben. Wie es mit dem Archelaos von Macedonien steht muß ich nachsehn. Verdächtig ist das πας άφρων μαίνεται.
[17.] Im Charmides ist offenbar die σωφροσύνη nur sehr indirekt die Hauptsache. Eigentlich immer noch das Unterscheiden des theoretischen und praktischen und Hinweisen auf das Wesen des ethischen. Auch daß I die Tugend in dem gewöhnlichen Sinn keine επιστημη sein könne. Wie die Polemik gegen jede επιστημη επιστημης zu nehmen, und wie es zu verstehn daß ein solcher Accent darauf gelegt wird die Definition τα αύτου πραττειν komme vom Kritias her dies weiß ich noch nicht. Der eigentliche direkte Wink liegt in der Aeußerung des Kritias (die offenbar in seinen eignen übrigen Gedankengang nicht paßt) daß das σωφρονειν eigentlich ein höheres χαιρειν, das Princip des bessern ethischen Lebens ist, und Piaton scheint damals noch geschwankt zu haben ob er die σωφροσύνη oder die δικαιοσύνη zum Schema der ganzen Tugend machen solle.
[18.] Im Laches sind offenbare Beziehungen auf den Charmides und Protagoras. Zu diesem ist er ein Anhang wie jener. Die Hauptsache ist 1.) Ausdehnung des Begrifs der ανδρια auf Alles was der moralischen Handlungsweise in der Ausführung entgegensteht. 2.) Erläuterungen über den Saz daß die Tapferkeit auch eine επιστημη wäre aber eine die nicht auf das nüzliche geht. Daher Lebenl die Beziehung auf die μαντεία, das Vorherwissen der Zukunft wie im Charmides. Man ver-
3 späten] zu ergänzen wohl Zeitpunkt 3 Sokrates] Sokr. 6 πας] παν sache] HSache 10 Auch] folgt (noch) 21 Hauptsache] Hsache
8 Haupt-
1 Piaton: Alcibiades II. 138a- 151c, Opera 5,75-102 2 Piaton: Alcibiades II. 138c. 140b, Opera 5,77.80 5 Vgl. Piaton: Alcibiades II. 141 d, Opera 5,83 6 Vgl. Piaton: Alcibiades II. 139c, Opera 5,78 7 Piaton: Charmides 153a-176d, Opera 5,105-156; Werke 1,288-348 13 Piaton: Charmides 161b, Opera 5,123; Werke 1,308 14-16 Vgl. Piaton: Charmides 164d-e, Opera 5,130; Werke 1,316 20 Piaton: Laches 178a-201c, Opera 5,159-208; Werke 1,220-284
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gleiche Laches P. 196 und Charmides P. 151 Bip. Laches hat ganz die gemeine Ansicht und den gemeinen Sprachgebrauch zu vertheidigen z.E. daß die Thiere tapfer sind. Nach P.200 scheint doch Nicias der Feldherr die Person zu sein. Der Begriff von Theilen der Tugend wird auch aus dem Protagoras genommen, und macht die lezte Verwikelung welches sehr bedeutend ist. Was der Damon soll in Verbindung mit dem Prodicus weiß ich nicht. Damon kommt auch Alcibiades I vor. Plato will wol den Unterschied der L Worte einführen! aber es nicht auf sich sizen lassen.
[19.] Ich bin noch immer sehr dafür den Hipparch für Platonisch zu halten. Die Stelle im Aelian kann vielleicht auf den Namen gehen. Er ist ακέφαλος und ατελής. Die Tendenz ist aus dem Begrif des κέρδος den Unterschied | zwischen dem Guten und Nüzlichen zu entwikeln; also Gegenstük zu Alkibiades I und vielleicht zu derselben Zeit und unter denselben Umständen. Die Worte am Anfang μη μοι ούτως εικη beziehn sich offenbar auf das κεφαλον was Piaton im Sinn hatte. Auch war der Antwortende noch nicht bestimmt denn er wird ganz gegen Piatons Gewohnheit gar nicht genannt und Hipparch hat er gewiß nicht heißen sollen sonst würde da wo der Peisistratide gleiches Namens genannt wird das σοι δι όμωνυμον gewiß nicht fehlen. Wahrscheinlich hat man um dieser Geschichte willen den Namen gewählt da man keinen fand. Diese Geschichte ist übrigens wenn man bedenkt daß der Dialog bei weitem nicht zu Ende ist auch nicht zu lang. Vielleicht sollte sie noch gebraucht werden. Wenigstens enthält sie eben solche Winke wie im Charmides die Analyse des γνώθι σαυτον. Nemlich hier ist das wahre κέρδος. In der Sprache finde ich nichts unplatonisches, im
5 genommen,] korr. aus genommen. 7 Damon . . . vor.] am Rand Ale. 11 Die Stelle . . . gehen.] am Rand
7 Alcibiades]
1 Piaton: Laches 195e, Opera 5,196; Werke 1,268 1 Piaton: Charmides 173e- 174b, Opera 5,150f; Werke 1,340.342 3 Vgl. Piaton: Laches 196d-197c, Opera 5,198-200; Werke 1,272 3f Platon: Laches 197d-e, Opera 5,200; Werke 1,274 4f Vgl. z.B. Piaton: Protagoras 329c, Opera 3,125; Werke 1,134 6f Vgl. Platon: Laches 197d, Opera 5,200; Werke 1,274 7 Vgl. Platon: Alcibiades I 118c, Opera 5,35; Werke 1,578 10 Platon: Hipparchus 225a-232c, Opera 5,255-270 11 Vgl. Aelianus: Varia historia 8,2, edd. Scheffer/Kühn, Straßburg 1685, S.396/; ed. Dilts, Leipzig 1974, S. 93,6-20 15 Platon: Hipparchus 225b, Opera 5,256 19f Vgl. Platon: Hipparchus 228b, Opera 5,261 25 Vgl. Platon: Charmides 164c-175d, Opera 5,130-154; Werke 1,316-346
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G e g e n t h e i l viel ίαυτονί ζ . Ε . in dem ω ς π ε τ τ ε υ ω ν und die H ä u f u n g e n sind nicht ärger als sie in allen kleinen D i a l o g e n sind.
[ 2 0 . ] Schlegel hat Alles dieses vorzüglich darum nicht sehen k ö n nen weil er P i a t o n s M e i n u n g von dem οτι η α ρ ε τ ή ε π ι σ τ η μ η nicht r e c h t g e f a ß t zu haben scheint.
[ 2 1 . ] V o m M e n e x e n u s kann ich nichts sagen bis ich das historische vollständig verglichen. U n p l a t o n i s c h ist mir eigentlich nichts v o r g e k o m m e n als die eine R e d e n s a r t α λ λ α παν π λ ή θ ο ς και πας π λ ο ύ τ ο ς α ρ ε τ ή ύπεικει. P l a t o würde wol glaube ich ο π ο σ ο ν ουν gesagt h a b e n . D o c h ist darüber nichts zu entscheiden. D i e Aspasia ist w o h l ein o f f e n b a r e r und absichtlicher A n a c h r o n i s m . E i n e r andern in den Lfactisl erw ä h n t W o l f . V o m Antisthenes gab es Lein! Aspasia und Lein! M e n e x e n o s η π ε ρ ι τ ο υ ά ρ χ ε ι ν und auch Lwiel Aspasia. H i e r ist gewiß irgend eine B e z i e h u n g . D i e R e d e hat sonst viel A e h n l i c h k e i t mit der im P h a i dros. Vielleicht ist ein V e r h ä l t n i ß zum I s o k r a t e s im Spiel. O f f e n b a r hat P i a t o n wenn der D i a l o g ächt ist eine R e i h e s o l c h e r R e d e n m a c h e n w o l len. D i e A b s i c h t scheint | m e h r seinen eignen Bürgersinn zu r e c h t f e r t i gen als den des S o k r a t e s .
[ 2 2 . ] D e r I o n hat seine Aechtheit vorausgesezt eine o f f e n b a r e B e ziehung auf den Phaidros, Anwendung des B e g r i f s der μανία. E i n z e l heiten in der Sprache. D a s Indirekte müßte sein durch die U n g e r e i m t heit welche h e r a u s k o m m t wenn man bei der P o e s i e auf die G e g e n stände sieht hinzuweisen auf das eigentliche W e s e n der poetischen
2 in] korr. aus im
12-14 Vom . . . Beziehung.] am Rand
16 Piaton] PI.
1 Piaton: Hipparchus 229e, Opera 5,264 6 Piaton: Menexenus 234a-249e, Opera 5,273-306; Werke 2,222-266 8 f Piaton: Menexenus 240d, Opera 5,287; Werke 2,240 10 Vgl. Piaton:Menexenus 236a-c, Opera 5,278; Werke 2,228 12f Vgl. Diogenes Laertius: De vitis philosophorutn 6,16.18, ed. Meibom 324; ed. Long 253.255 14 Vgl. Piaton: Menexenus 236d-249c, Opera 5,279-305; Werke 2,230-266 14 Schleiermacher denkt vermutlich an die zweite Rede des Sokrates; vgl. Piaton: Phaedrus 244 a257b, Opera 10,315-344; Werke 5,62-112 19 Piaton: Io 530a-542b, Opera 4,177203; Werke 1,2-38
350 Kunst und daß diese nicht mit begriffen sei unter die Dialektik. Doch ist der Dialog gar zu klein und mager.
[23.] Wenn die ad Diogenem Laertium VI, 18 citirten Worte des Athenaeus so zu verstehen sind daß der dem Antisthenes zugeschriebene Archelaos vielmehr dem Gorgias angehöre oder auch mit Is. Casaubonus Interpretation daß der Archelaos des Antisthenes eine καταδρομή des Gorgias enthalte so sieht man worauf sich der Archelaos im Gorgias bezieht.
[24.] Ueber die Verwandschaft des Piaton bin ich noch nicht ganz im reinen. Sind die im Parmenides vorkommenden Glaueon und Adeimantos die Brüder des Piaton so wäre Antiphon der Sohn des Pyrilampes (auf den auch im Gorgias P. 76. 143 und zwar wie es scheint nicht vortheilhaft angespielt wird) Piatons Halbbruder offenbar aus der 2. Ehe. Konnte aber der Vater des Lysias mit diesem zusammengekomen sein? (Hierüber muß jedoch noch die Republik nachgesehen werden) und zwar zu einer Zeit wo Cephalus noch Fremdling in Athen war? Ist dieser Glaueon der ältere und also Adeimantos noch ein Bruder des Callaeschros und der Perictione: so wäre Antiphon ein Stiefbruder des Critias, und die gemeinschaftliche Mutter von diesen allen müßte zur 2. Ehe den Pyrilampes gehabt haben dessen oder ihr Vater ebenfalls Antiphon geheißen.
3 Diogenem Laertium VI] Diog. Laert. VII 4 Antisthenes] über (Archelaos) 5 mit] folgt (Kühns) 6 Antisthenes] Athenäus 12 P. 76.143] mit Einfügungszeichen am Rand 13 wird)] wird 13f offenbar ... Ehe] mit EinfSigungszeichen am Rand 17 Ist] folgt (also der) 3-7 Vgl. Athenaeus zu Antisthenes: ό δέ πολιτικός αύτοΟ διάλογος απάντων καταδρομήν περιέχει των Ά&ήνησιν δημαγωγών, ό δ' 'Αρχέλαος Γοργίου τον ρήτορος, ή δ' Ασπασία των Περικλέους υιών Ξανθίππου και Παράλου διαβολήν. (Deipnosophistae 220d, ed. Schweighäuser 2,347; ed. Kaibel 1,487). Schleiermacher bezieht sich auf die Isaac Casaubon referierende Anm.39 zu Diogenes Laertius 6,18: „Athenaeus de hoc libro; Ό δέ 'Αρχέλαος Γοργίου τοϋ ρήτορος. repete ex superioribus, περιέχει καταδρομήν." (De vitis philosophorum, ed. Meibom 324) 7f Vgl. Piaton: Gorgias 470d-471d, Opera 4,53-55; Werke 2, 338-342 10-12 Vgl. Piaton: Parmenides 26a-b, Opera 10,70f; Werke 5,196 12 Vgl. Piaton: Gorgias 48ld.513b, Opera 4,76.143; Werke 2,374.464 14-21 Vgl. Piatons Werke von F. Schleiermacher, Ersten Theiles zweiter Band, Berlin 1805, S. 101-103.401-403
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Ich bin überzeugt daß die in der Republik seine Brüder sind (dort ist auch Cephalus ganz alt) die aber im Parmenides seine O h m e . Der Rhamnusische Antiphon heißt im Suidas: σωφιλου.
[25.] Die indirekte Vertheidigung des Lakonisirens im Gorgias kann wohl eben so gut auf den Protagoras gehn als auf das krasse von mir nicht f ü r Platonisch gehaltene im ersten Alcibiades. Es scheint auch eine besondere politische Beziehung darin zu sein durch Hindeutung auf die zwei Partheien | des Alcibiades und Antiphon. Sonst ist aber die Beziehung des Gorgias auf den Alcibiades I gar nicht zu verkennen. Ja man kann sagen der Gorgias ist eine verbesserte und erweiterte Ausführung des in jenem abgehandelten Themas vom Unterschiede des καλόν αγαθόν und ήδυ, und der wahren und falschen Politik so daß wenn nichts dagegen ist ich ihn dem Geiste nach gleich auf jenen möchte folgen lassen. Bei der Bestimmung wann Gorgias gesezt wird komen vorläufig folgende Umstände in Betracht: Olympiade 88,1 hielt Gorgias seine Rede von der Eintracht in Athen (kann aber wohl hernach Lwiederl in Athen gewesen sein.) Olympiade 92,1 war die Revolution des Antiphon. Doch kann die Partei sich vorher schon oder erst nachher gebildet haben. Olympiade 93,3 das T r e f f e n bei den Inseln, wenn anders das επιψηφιζειν des Socrates sich auf diese Begebenheit bezieht, wie Athenaeus und Casaubonus meinen. Olympiade 91,4 kommt Archelaus zur Regierung. Nach andern Olympiade 93,3.
1 - 3 Ich . . . σωφιλου.] am Rand 1 Republik] Rep. 1 d o r t ] korr. aus die 9 Alcibiades] Alcib. 15-23 Bei . . . 93,3.] am Rand auf Bl. 4r 23 Olympiade] Olymp. 1 Vgl. Piaton: Respublica 327a-c, Opera 6,146f; Werke 4,2 lf Vgl. Piaton: Respublica 328 b-329d, Opera 6,148-151; Werke 4,4-8 3 Vgl. Suidas: Lexicon, ed. Küster, Bd 1, Cambridge 1705, S.231; ed. Adler, Bd 1, Stuttgart 1928 (Nachdruck Stuttgart 1971), S. 245 4 Vgl. Piaton: Gorgias 455d-457c, Opera 4,22-26; Werke 2,296-300 5 Vgl. Piaton: Protagoras 319a-324d, Opera 3,104-115; Werke 1,110-122 6 Vgl. Piaton:Alcibiades 1106c-107e, Opera 5,10-13; Werke 1,534-540 16-23 Olympiade 88,1 ist 428 v. Chr.; Olympiade 92,1 ist 412 v. Chr.; Olympiade 93,3 ist 406 v. Chr.; Olympiade 91,4 ist 413 v. Chr. 21 Vgl. Piaton: Gorgias 474a, Opera 4,60; Werke 2,348 21 f Vgl. Athenaeus: Deipnosophistae, Leiden 1657, S.217F-218A; ed. Schweighäuser, Bd 2, Straßburg 1802, S. 337-339; ed. Kaibel 1,482 22 Vgl. Casaubon: „Olympias XCII1. [...] γ. [...] Navali pugna ad Arginusas vincunt Athenienses Lacedaemonios." (Animadversiones in Athenaei Deipnosophistas, Leiden 1664, Sp.380; Schweighäuser: Animadversiones in Athenaei Deipnosophistas post Isaacum Casaubonum, Bd 3, Straßburg 1802, S. 222)
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[26.] Menon scheint mir unmmittelbar nach Gorgias zu kommen, und zum Theil Ausführung des dort fallen gelassenen Themas vom Verhältniß der επιστημη zu αρετή und αγαθόν zu sein. Außerdem beziehn sich mehrere Stellen offenbar auf den Gorgias; auch die Art wie Gorgias selbst erwähnt wird. Nach 2 Ideen muß man diese Gespräche ordnen. Erstlich das ζητειν dessen was man nicht weiß. Diese ist im Theaetet LrechtT dialektisch aufgedekt und im Sophista gelöst, im Menon nur praktisch zerhauen, welches sowohl vor als nach dem Theaetet geschehn sein kann. Zweitens die Idee von der Unsterblichkeit; diese ist im Gorgias nur mythisch [.angewendet! im Menon motivirt, im Phaedon deducirt. Hiezu kommt noch die Berufung auf den Menon im Phaedon so daß dieser auf jeden Fall hinter Menon kommt. Die Frage bleibt nur noch ob Theaetet zwischen diese beiden kommt oder vor den Gorgias. Ich bin für das leztere da er früher scheint als Menon indem der Saz daß zur Tugend auch η ο ρ θ η δοξα hinreiche darauf zu deuten scheint daß die απορία wegen der επιστημη schon aufgeworfen aber noch nicht gelöst worden. Vielleicht weiset auch das Ende des Theaetet auf die Idee des Menon hin die ihm schon vorschwebte und daß er damals die Idee hatte denTheodoros Lzul dem Mathematischen zu gebrauchen. Also Theaetet Gorgias Meno, Phaedon Sophista. Das Apologetische im Gorgias, und die Anspielungen auf Sokrates Gestalt im Theaetet und Meno bestimmen einen Zeitpunkt nicht lange nach Socrates Tode. Die Art wie Protagoras im Menon wiederholt wird zeigt eine ziemlich weite Entfernung an. Doch ist gewißermaaßen Menon der Schlußstein zu diesem, indem er zugleich darauf angelegt ist den scherzhaften Streit zu lösen, den Piaton erregt hatte über die Unfähigkeit der Politiker Andere zu bilden. Daher muß man auch die αναμνησις nicht so buchstäblich im engsten Sinn nehmen, wie er ja auch selbst andeutet, sondern nur um zu zeigen in wie fern eine ο ρ θ η δοξα im Menschen sein könne ohne daß Lerl fähig ist sie von sich zu geben. Ich habe gemeint der Menon seze gewißermaßen den Ion voraus, weiß aber in diesem Augenblik nicht, worauf dies geht.
2 Themas] Thema 20 Theaetet] mit Einfügungszeichen über der Zeile tes] Socr. 27 muß man] muß
23 Socra-
1 Piaton: Meno 70a-100c, Opera 4,327-390; Werke 2,506-198 4 f Vgl. Piaton: Meno 70b.71c.76b, Opera 4,328.330.340; Werke 2,506.508.522 11 f Vgl. Piaton: Phaedo 73a-b, Opera l,165f; Werke 3,54, wo Piaton unausdrücklich Bezug nimmt auf Meno 82b84a, Opera 4,352-356; Werke 2,540-548
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Piaton
Menon ist ein rechter Beweis daß die harten Uebergänge im Alcibiades I nicht platonisch sein können. Dergleichen legt er hier und anderwärts seinen Mitunterrednern in den Mund, und macht sich dann deshalb über sie lustig. Weder im Meno noch im Gorgias muß man die ganze Sittlichkeit des Piaton suchen; es ist ausdrüklich nur von der politischen die Rede und Piaton spricht deutlich genug aus daß er dies als eine Beschränkung ansieht.
[27.] Olympiade 96,3 brach der Korinthische Krieg aus. Um diese Zeit ist also wohl der Theaetet Lgeseztl und auch geschrieben.
[28.] Vom Euthydem habe ich alles vergessen oder verlegt von der ersten Lesung. N u r weiß ich noch 1.) daß ich darin den Aufschluß fand zu der Stelle von der φθειριστικη im Sophista und er also offenbar vor diesen gehört, auch durch jene Stelle allein seine Aechtheit bewiesen ist 2.) daß mir eben so deutlich seine Aechtheit bewies das kleine Gespräch des Sokrates mit dem Kleinias 3.) daß ich noch allerlei Vordeutungen darin fand auf die zweite Hälfte des Sophista und den Philebus. Seine genaue Stelle zwischen dem Theaetet und Sophista ist mir noch unbestimmt. Sehr wichtig ist er wohl nicht. 1.) Dieser Zusammenhang ist nicht so schlagend als er mir geschienen hatte[.] LMit 2.) und 3.) aber hat es seine Richtigkeit. Personal Satyre ist er auf jeden Fall; ob aber recht platonisch und organisch?! Freilich komt Euthydemos Lmit einer ähnlichen Frage! im Cratylos vor.
[29.] Der Minos hat in der ganzen Anordnung, auch in der Beziehung des Minos auf den Dialog eine sehr genaue Aehnlichkeit mit dem
l f Alcibiades] Ale. 2 Dergleichen] Dergl. 21 Richtigkeit] folgt (gehabt) 22 platonisch] pl.
20-23 1.) . . . vor.] am 23 einer] e.
Rand
9 Olympiade 96,3 ist 394 v.Chr. 11 Piaton: Euthydemus 271a-307c, Opera 3,3-79; Werke 2,110-218 13 Vgl. Piaton: Sophista 227b, Opera 2,221; Werke 6,256 17 Piaton: Philebus 11 a-67c, Opera 4,207-323; Werke 7,256-442 18 Piaton: Sophista 216a268d, Opera 2,199-306; Werke 6,220-400 24 Piaton: Minos 313a-321d, Opera 6,123-142; Werke 812,522-552
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Hipparch, und da der Minos wol nicht Platonisch sein kann indem man auch wenn man ihn als Fragment ansehn wollte gar nicht sehn kann worauf er weiter angelegt wäre, und die reine Negativität doch ganz unplatonisch ist so möchte ich auch den Hipparch nicht f ü r Platonisch halten, sondern beide einem Verfasser zuschreiben. O h n e Vermuthung wer.
[30.] Im Cratylus ist doch im ersten Abschnitt die Ironie so klar, daß nicht zu begreifen ist wie man sie verfehlen kann. In der Mitte ist wohl die Synthesis des Princips der Bedeutsamkeit und der Convenienz in der Sprachbildung allerdings Ernst. Die Hauptsache ist aber doch das lezte, der Unterschied zwischen einer formular und reellen Philosophie. Ich möchte daher den Dialog als Anhang zum Sophista und Uebergang zur physischen Periode ansehn. Die Beziehung auf den Heraclit verstehe ich jezt noch nicht ganz. Vielleicht ist aber grade hier eine Lüke in den Dialogen.
[31.] E i n l e i t u n g f : ] 1.) Historischer Zustand der Philosophief.] 2.) Kritisch, a. über die Aechtheit und ihre Kennzeichen[.] b. Ueber die Anordnung. Zu a. Wieweit geht die Autorität der Citationen. Skeptisch auch vom Aristoteles. Ueber das Gewicht f r ü h e r Bezweiflungen über die Sammlung. Zu b. erstlich äußere Merkmale Zeugnisse. Anekdoten die darüber erzählt Lwerdenl schlechte Autoritäten, b. innere erstlich Facta die im Dialog vorkommen. Hiebei sind erstlich die doppelten Zeiten zu unterscheiden. Zweitens die Grundsätze zu erwägen. Zweitens philosophisch.
[32.] Sollte nicht der Euclidische Saz, daß das Eine gut ist, und der Philebus des Plato eine gegenseitige Beziehung haben[?]
5 Verfasser] Vf. 20 Anekdoten] davor