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German Pages 161 [162] Year 1989
VALENTIN PETEV
Kritik der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp
Band 37
Kritik der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie
Von
Prof. Dr. Valentin Petev
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Petev, Valentin: Kritik der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie I von Valentin Petev.- Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd. 37) ISBN 3-428-06561-1 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-06561-1
Für Birgit
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erstes Kapitel Recht, Staat und die ökonomischen Strukturen der GeseUschaft I. Die klassische marxistische Lehre von der "Basis" und dem "Überbau" der
Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Marxistische Geschichtsdeutung. Die Kategorie "historische Gesellschaftsformation"
15 15
2. "Basis" und "Überbau" der Gesellschaft ..
16
3. Das "dialektische" Verhältnis von Basis und Überbau. Kritik
17
li. Staat und Recht als "Überbauphänomene"
22
1. Die Bestimmung des Überbaus durch die Basis "in letzter Instanz" . . . .
22
2. Die aktive Rolle des "politisch-juristischen" Überbaus. Primat der Politik
24
3. Neomarxistische Erklärungsversuche
27
Zweites Kapitel Der Staat und die Klassenstruktur der GeseUschaft I. Ursprung und Notwendigkeit des Staates . . . . . . . . . ... .
30
1. Entstehung des Staates I Staatstypologie
30
2. Die "Notwendigkeit" des Staates im Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . .
32
li. Bestimmungskriterien des Staates
35
1. Staat und Gesellschaft .. . . .
35
2. Staat und soziale Gruppen. Diktatur des Proletariats . . .
40
3. Staat und soziale Gruppen. D er "Volksstaat" ...... . . . .. .
57
8
Inhaltsverzeichnis
III. Legitimation des sozialistischen Staates. Die sogenannte sozialistische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
i. Das Legitimationsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
2. Aspekte der Demokratie
70
3. Denaturierung der Demokratie- sozialistische Demokratie . . . . . . . . .
76
Drittes Kapitel Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
I. Positivität des Rechts
81
1. Rechtsnormen und andere soziale Verhaltensnormen . . . . . . . . . . . . .
81
2. "Positivierung" der sozialen Verhaltensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
3. Rechtsquellen
89
4. Rechtsquellen. Bedeutung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
II. Der allgemeine soziale Gehalt des Rechts
95
1. Begriffliche Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
2. Das Recht im Geschichtsprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
3. Das Recht als Machtinstrument der herrschenden Klasse in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .
97
III. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 101 1. Allgemeine Charakteristik des Rechts des ganzen Volkes . . . . . . . . . . 101 2. Das Recht des ganzen Volkes und die Strukturen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Die historische Bedingtheit von Gerechtigkeitskonzeptionen . . . . . . . . 114 3. Wert- und Gerechtigkeitsdiskussion in der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Realisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen im sozialistischen Recht. Kritik . ... ... .. .. . ... . ..... . . ·. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Inhaltsverzeichnis
9
Viertes Kapitel
Steuerung sozialer Prozesse durch Recht I. Entwicklungstrends und bewußte soziale Steuerung durch Recht
125
1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
2. Die marxistische Auffassung von den sogenannten objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Il. Politik, Ideologie und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Politische Theorie als Erkenntnismodell und sozialer Gestaltungsentwurf 130
2. Die marxistisch-sozialistische Gesellschaftstheorie als Ideologie . . . . . . 132 3. Politik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Recht, Macht und Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Natur der Macht und die Akzeptanz rechtlicher Normen. Problemstellung 136
2. Autonomie des Individuums und verordnetes Menschenbild. Erziehungsfunktion des sozialistischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Sozialistisches Rechtsbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Fünftes Kapitel
Das Recht und die Nonnen des sozialen Lebens in der kommunistischen GeseUschaft der Zukunft I. Die Zukunftsgesellschaft
144
1. Der utopische Charakter des gesellschaftlichen Modells des Kommunismus . .............. .. .......... . ............. . ... 144
2. Ökonomische, politische und ethische Strukturen der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Il. Zukunft des Rechts. Die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens . . . 150 1. Das "Absterben" des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
2. Die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Kommunismus Literaturverzeichnis Sachverzeichnis
151
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Einleitung Die Klassiker des Marxismus, Marx und Engels, haben bereits im vergangenen Jahrhundert innerhalb ihrer Sozialphilosophie, des Historischen Materialismus, ihre grundsätzlichen Auffassungen von Staat und Recht dargelegt. Danach sind Staat und Recht Phänomene der in antagonistische Klassen geteilten Gesellschaft und dienen der Sicherung ihrer Herrschaftsstruktur, namentlich der Macht der jeweils ökonomisch dominierenden Klasse der Eigentümer der gesellschaftlichen Produktionsmittel. Marx und Engels haben ein neues "historisch-materialistisches" Verständnis von Staat und Recht begründet, das eine klare Absage an jegliches, wie auch immer bestimmtes Naturrecht und Vernunftsrecht erteilt. Sie waren der Überzeugung, die bürgerlichen barmonistischen Erklärungsmodelle des Rechts als Garanten eines "Gemeinwohls" als methaphysische Spekulationen, die die soziale Realität im Interesse der herrschenden kapitalistischen Klasse verschleiern, entlarvt zu haben. Ihre Aussagen über das Klassenwesen von Staat und Recht als Machtinstrumente der jeweils ökonomisch herrschenden Klasse in der Gesellschaft fügten sich in die von ihnen konzipierte Konfliktstheorie der Gesellschaft und ergänzten sie durch eine ebenfalls konfliktorientierte Konzeption von Staat und Recht. Die philosophischen Prämissen dieser Konzeption rühren von einem materialistisch-ökonomischen Monismus her, nach dem alle Ideen und Institutionen der Gesellschaft zum "Überbau" gehören und bedingt sind durch die ökonomische "Basis" der Gesellschaft in der Gestalt ihrer Produktionsverhältnisse, insbesondere ihrer Eigentumsverhältnisse. Marx und Engels meinten, den idealistischen Charakter aller vorangegangenen Konzeptionen von Staat und Recht, die die Erklärung dieser sozialen Phänomene in der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes gesucht hätten, überwunden und das eigene theoretische Verständnis aus den "materiellen Bedingungen" der Gesellschaft abgeleitet zu haben. Die marxistische Staats- und Rechtskonzeption war in eine Sozialontologie eingebunden, die von der Annahme der Wirkung objektiver Entwicklungsgesetze der Gesellschaft beherrscht war. So waren auch die Rechtsetzung und die Steuerung der sozialen Prozesse durch Recht, wie Marx und Engels behaupteten, jedem Voluntarismus entzogen und folgten einer- wissenschaftlich exakten - Analyse objektiver sozialer Gesetzmäßigkeiten. Marx und Engels waren im übrigen der Auffassung, daß alle bis dahin herrschenden ausbeuterisehen Klassen (Sklavenhalter, Feudalherren und Kapitalisten) die Wir-
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Einleitung
kung dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten nur insofern genutzt haben, als dies zur Sicherung ihrer Interessen und zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Ausbeutung und politischen Unterdrückung der jeweils beherrschten Klassen erforderlich war. Allein das Proletariat sollte zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit seine Macht und sein Recht zur Aufhebung der Ausbeutung benutzen und somit auch die Aufhebung von Staat und Recht als Herrschaftsinstrumente der klassengeteilten Gesellschaft herbeiführen. Dies sei aber nicht vom guten Willen des Proletariats abhängig, sondern sei seine "historische Mission". Die neue sozialistische Gesellschaft mit ihrem Staat und Recht werde als gesetzmäßiges Ergebnis einer Geschichtslogik eintreten; nach ihr werde die in der durch Krisen erschütterten bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr gewährleistete Übereinstimmung von gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch die proletarische Revolution wiederhergestellt ("Grundgesetz" der gesellschaftlichen Entwicklung), indem eine neue gesellschaftliche Produktionsweise und die neue soziale Epoche ("Gesellschaftsformation") des Sozialismus eingeleitet werden. So erscheint auch die von den Klassikern des Marxismus konzipierte künftige Gesellschaft des Kommunismus als das "Reich der Freiheit" als eine reale Entwicklungsstufe in der Menschheitsgeschichte und nicht als ein utopisches Endziel. Die Klassiker des Marxismus haben somit die Grundelemente einer Philosophie des Staates und des Rechts, die eine enorme suggestive Kraft entfaltete, dargelegt. Sie war dennoch nur ein theoretisches Modell, das seinerzeit mit vielen anderen Modellen der bürgerlichen Wissenschaft zu konkurrieren hatte. Es zeichnete sich durch seine Geschlossenheit aus und hatte den Vorteil, in eine umfassende Geschichtsphilosophie eingebettet zu sein. Allein aus diesem Grunde war es immer wieder reizvoll, sich wissenschaftlich mit der marxistischen Theorie auseinanderzusetzen; und dies ist im Verlauf der Zeit von verschiedener Seite wiederholt geschehen. In diesem Jahrhundert ist der Sozialismus für Millionen von Menschen schicksalhafte soziale Realität geworden. Die nach der Oktoberrevolution in Rußland errichtete gesellschaftliche Ordnung und die soziale Verfassung der Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, die im Verlauf des 2. Weltkrieges in die Machtsphäre der UdSSR gerieten, sind mit dem Anspruch angetreten, im Sinne der marxistischen Gesellschaftstheorie eine sozialistische Gesellschaftsordnung darzustellen. Der auf diese Weise, durch Verschiebungen internationaler Machtkonstellationen und nicht als gesetzmäßiges Ergebnis einer "geschichtlich notwendig" gewordenen sozialen Revolution entstandene "reale" Sozialismus hat die marxistische Staats- und Rechtskonzeption zu seiner staatstragenden Ideologie gemacht. Diese Realitätsdimension macht es erforderlich, die marxistisch-sozialistische Staats- und Rechtsphilosophie, die sich inzwischen zu einer umfassenden
Einleitung
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Theorie der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Gegenwart entwickelt hat, einer kritischen Analyse zu unterziehen. Denn sie beansprucht zweierlei: 1) die einzige wissenschaftlich fundierte Analyse der Gesellschaft, des Staates und des Rechts zu liefern; 2) die klassischen marxistischen Lehren bezüglich des Staates und des Rechts weiterentwickelt zu haben, jedoch ihrer Grundkonzeptiontreu geblieben zu sein. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, daß diese Ansprüche unerfüllt geblieben sind. Denn die Konzeption der gegenwärtigen, "entwickelten" sozialistischen Gesellschaft mit ihrem Staat und Recht des "ganzen Volkes" ist selbst voller Antinomien und unvereinbar mit der klassischen marxistischen Konzeption, nach der die staatliche Ordnung im Interesse der ökonomisch und politisch herrschenden Klasse in der Gesellschaft installiert wird und das Recht das effiziente Machtinstrument allein dieser Klasse darstellt. Die Analyse der gesellschaftstheoretischen Prämissen der marxistischen Rechts- und Staatsphilosophie wird aber auch die Mängel der klassischen marxistischen Konzeption selbst deutlich machen, insbesondere die Unhaltbarkeit der These vom "Überbaucharakter" von Staat und Recht und deren Determination durch die angeblich objektiven Produktionsverhältnisse als die "Basis" der Gesellschaft. Auch werden die Einseitigkeit der marxistischen Klassentheorie und somit die Schwächen einer Rechts- und Staatskonzeption offengelegt, die auf den Begriff der durch ihre ökonomische Stellung bestimmten sozialen Klassen abstellt. Die Reformen, die gegenwärtig in den sozialistischen Staaten, und in erster Linie in der UdSSR, durchgeführt und als "Perestrojka" (d. h. Umgestaltung) bezeichnet werden, sind geeignet, den Eindruck zu erwecken, als ob der Sozialismus sich von Grund auf reformiere. Diese Reformen betreffen zwar die praktische Politik und streben Änderungen in einem nicht unerheblichen Maße an, die für die Einzelnen im täglichen Leben - in privaten und politischen Äußerungen- bedeutsam sind. Sie stellen, was Umfang und Qualität angeht, zwar ein Novum in der Landschaft marxistisch-sozialistischer Reformpolitik dar. Die "Perestrojka" ist aber nach der Konzeption ihrer Urheber ein Komplex von Ideen und organisatorischen Maßnahmen nicht zur Änderung des gesellschaftlichen Modells des Sozialismus, sondern nur zu einer besseren Realisierung, und das heißt Umsetzung in praktische Politik, gerade der Ideen des Sozialismus als eines an sich "höheren" Gesellschaftstypus. Die "Perestrojka" gibt nur offener die Mängel der praktischen Politik zu und geißelt offener die entstandenen sozialen Mißstände. Es wäre aber ein fataler Irrtum, anzunehmen, daß eine neue Gesellschaftsordnung im Entstehen begriffen ist, die etwas anderes als das Ideal des Sozialismus anstrebt und insofern eine neue Offenheit, neue Geistigkeit und neue Demokratie darstellt. Zu solchen Fehleinschätzungen neigt man jedoch des öfteren in der westlichen Welt. Insofern ist es gegenwärtig wichtiger denn je, eine Auseinandersetzung mit dem theo-
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Einleitung
retischen Modell des Sozialismus in seiner klassischen Prägung wie in seinen späteren konzeptionellen Varianten zu führen. Im folgenden werden in einem breiten soziologisch-axiologischen Rahmen Fragestellungen des allgemeinen sozialen Gehalts des Rechts, der marxistischen Gerechtigkeitskonzeption, der Steuerung sozialer Prozesse durch Recht und die Wirkung "objektiver" Entwicklungsgesetze der Gesellschaft diskutiert, wobei sich die positivistisch-szientistische Position der marxistischen Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart zeigen wird. Das wissenschaftstheoretische Verständnis dieser Philosophie, das von dem Dogma des Erkenntnismonopols der Kommunistischen Partei bezüglich der objektiven Entwicklungsgesetze der Gesellschaft und der sogenannten Parteilichkeit der Wissenschaft beherrscht ist, offenbart ihren ideologischen Charakter, der sich insbesondere in ihrem ausschließlichen Wahrheitsanspruch und ihrer Unduldsamkeit gegenüber anderen theoretischen Positionen, denen sie jede Möglichkeit der wissenschaftlichen Begründetheit abspricht, äußert. Die vorliegende Untersuchung der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie, die, wie gezeigt wurde, durch soziologisch-axiologische Fragestellungen konturiert ist, läßt naturgemäß viele Fragen, die zu einer allgemeinen Strukturtheorie des Rechts gehören, wie die der Normsetzung, der Geltung der Rechtsnormen sowie ihrer Interpretation und Anwendung, außer Betracht. Für ihre wertvolle Unterstützung in allen Phasen der Entstehung dieses Buches danke ich meinen Mitarbeitern Herrn Dr. Andreas Trupp, Herrn Dr. Michael von Glahn und Herrn Marcus Galdia.
Erstes Kapitel
Recht, Staat und die ökonomischen Strukturen der Gesellschaft I. Die klassische marxistische Lehre von der "Basis" und dem "Überbau" der Gesellschaft
1. Marxistische Geschichtsdeutung. Die Kategorie "historische Gesellschaftsformation"
Der Marxismus hat allen vorangegangenen sozialphilosophischen Schulen und Theorien vorgehalten, die gesellschaftlichen Phänomene, die ganze Entwicklung der menschlichen Gesellschaft falsch interpretiert zu haben, indem sie willens- und bewußtseinsmäßigen Momenten bei der Erklärung dieser Entwicklung den Vorrang gegeben haben. Diese von ihm als idealistisch und subjektivistisch qualifizierte Betrachtungsweise habe die Gesellschaft atomisiert und das Individuum mit seinen "Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen" in den Vordergrund gestellt. Man habe nur Einzelerscheinungen im komplizierten sozialen Geschehen beschrieben, die eigentlichen Bewegungsgesetze der Geschichte seien jedoch unerkannt geblieben. Denn Ideen und Vorstellungen der Einzelnen seien nie primäre Handlungsgründe, vielmehr seien sie geschaffen und gestaltet durch die "ganze" jeweilige soziale Klasse "aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen" 1. Dies sei eine materialistische Geschichtsdeutung, die an Faktoren anknüpfe, die außerhalb des individuellen Bewußtseins entstehen und insofern "objektiv" sind. Solche Faktoren seien die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, d. h. die Verhältnisse, die bei der Produktion materieller Güter in der Gesellschaft entstehen und charakteristisch für eine relativ lange und stabile historische Epoche, eine historische Gesellschaftsformation (z. B. Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus) sind. So betrachtet, sei die menschliche 1 Marx hebt hervor, daß der "Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen" keine primäre Bedeutung für das gesellschaftliche Handeln habe. Das einzelne Individuum, dem diese Empfindungen (Illusionen .. .) durch Tradition und Erziehung zufließen, könne sich einbilden, daß sie "die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handeins bilden". (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte), Marx-Engels-Werke (MEW) , Bd. 8, S. 139.
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I. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
Geschichte kein Aneinanderreihen von Ereignissen und Vorgängen, die auf den Willen und die Vorstellung einzelner Personen oder auf das Wirken übernatürlicher Kräfte zurückzuführen sind, sondern eine Abfolge von Gesellschaftsformationen, in deren Rahmen typische objektive Gesetzmäßigkeiten wirken. Die Kategorie "Gesellschaftsformation" erlaube erst eine wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung2.
2. "Basis" und "Überbau" der Gesellschaft Jede historische Gesellschaftsformation zeichnet sich nach marxistischem Gesellschaftsverständnis durch ihre spezifische Basis und den ihr entsprechenden Überbau aus. Marx glaubte, durch die Konstruktion von Basis und Überbau die primären Strukturen der Gesellschaft offengelegt und somit die Geschichtsphilosophie von ihren idealistischen Zügen befreit und sie zu einer Wissenschaft - in der Gestalt des Historischen Materialismus - erhoben zu haben. In seinem berühmten Vorwort der Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" schreibt Marx: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welchem bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt"3. Die grundlegende Struktur, die "Basis" der Gesellschaft bilden daher die ökonomischen Verhältnisse - hier als Produktionsverhältnisse qualifiziert eine Kategorie, die, wie unten noch zu zeigen ist, viele Einwände hervorruft4. Zum "Überbau" gehören demgegenüber die übrigen sozialen Beziehungen: politische, rechtliche, religiöse , kulturelle u. a. sowie die entsprechenden organisatorischen Einrichtungen, wie Staat, politische Parteien, Kirche, wis2 Für eine Analyse sogenannter objektiver Entwicklungsgesetze der Geschichte, deren Existenz vom Marxismus behauptet wird, vgl. H. Fleicher, Marxismus und Geschichte, Frankfurt a. M., 3. Auf!. 1970, S. 35, 39 passim, insbes. S. 144 ff., 149. 3 MEW Bd. 13, S. 8 f. 4 Eine vom marxistischen Standpunkt klärende Darstellung der Basis-ÜberbauLehre findet sich in der Baseler Dissertation aus dem Jahre 1935 von F. Jakubowski, Der ideologische Überbau in der materialistischen Geschichtsauffassung, Frankfurt a. M., 3. Auf!. 1971, S. 22 ff.; neomarxistisch F. Tomberg, Basis und Überbau , Darmstadt/Neuwied 1974, S. 9 ff.
I. Die marxistische Basis-Überbau-Lehre
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senschaftliehe Institutionen. Auch gehören zum Überbau die Vorstellungen, Ideen, Anschauungen und Theorien der jeweiligen Gesellschaft, also die "gesellschaftlichen Bewußtseinsformen", die jeweils das "gesellschaftliche Sein" widerspiegelns. 3. Das "dialektische" Verhältnis von Basis und Überbau. Kritik
Die marxistische Basis-Überbau-Lehre will zeigen, daß Ideen und Theorien nicht aus sich heraus, als Zufallsprodukte des individuellen Bewußtseins entstehen und insofern das gesellschaftlich relevante Handeln und den Gang der Geschichte in beliebiger Richtung gestalten, sondern daß diese Ideen und Theorien vielmehr eine objektive Grundlage haben, nämlich die ökonomische Basis der Gesellschaft, die Produktionsverhältnisse, von denen sie abhängen und durch die sie bestimmt werden. Gerade diese Abhängigkeitsbeziehung zwischen Basis und Überbau vermag jedoch die Lehre nicht hinreichend zu erklären. Weder der klassischen Theorie noch späteren Erklärungsversuchen ist es gelungen, darzustellen, inwieweit Phänomene des gesellschaftlichen Überbaus von der ökonomischen Basis abhängen. Neuere Analysen haben die Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten der Relation von Basis und Überbau als "ableiten aus, sich entwickeln zu, entspringen aus, abhängen von, entsprechen, zum Resultat haben, widerspiegeln, begründen" usw. beschrieben6. Ein Rekurs auf Kategorien, wie Wesen und Erscheinung, Inhalt und Form, Subjekt und Prädikat, rufen nur alte philosophische (phänomenologische, logisch-positivistische) Streitfragen auf den Plan. Andererseits bleiben kausale Erklärungsmodelle in Sozialwissenschaften unfruchtbar, solange die Bedingungen, unter denen bestimmte soziale Erscheinungen als Wirkungen eintreten, nicht präzise angegeben werden können; von Kausalität in einem "weiten" Sinne zu reden, ergibt wiederum wenig Sinn, da es zwar verschiedene Bestimmungsrelationen, jedoch nur die eine Kausalität gibt. Wenn das Verhältnis von Basis und Überbau als ein "dialektisches" qualifiziert wird, zeugt dies von einer ziemlichen Unschärfe der Qualifikation. Gut gemeint ist die Empfehlung von Rottleuthner, "empirisch prüfbare Aussagen zu formulieren", indem die "allgemeinen Gesetzmäßigkeiten" als Orientierungshypothesen gedeutet und Hinweise auf Arten möglicher Relationen zwischen ökonomischen Faktoren 5 Umfassend und kritisch zur Basis-Überbau-Lehre vgl. G. A. Wetter, Sowjetideologie heute, Bd. 1: Dialektischer und historischer Materialismus, Frankfurt a. M. 1962, S. 167 ff. ; J. Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976. 6 Vgl. H . Rottleuthner, Marxistische und analytische Rechtstheorie, in: H. Rottleuthner (Hrsg.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1975, s. 215 ff.
2 Petev
1. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
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einerseits, Staat und Recht andererseits gegeben werden7 ; mit der Basis-Überbau-Theorie hat dies jedoch wenig zu tun. Die zentrale These dieser Theorie, nach der die ökonomischen Verhältnisse (Produktionsverhältnisse) das bestimmende Moment der gesellschaftlichen Entwicklung sind, wird argumentativ nicht weiter gesichert. Die Unterschiede zwischen den ökonomischen Verhältnissen, die die Basis der Gesellschaft ausmachen, und den übrigen gesellschaftlichen Verhältnissen, z. B. den politischen oder rechtlichen, die zum Überbau zählen und ersteren entgegengesetzt werden, sind nicht hinreichend ausgearbeitet. Das charakteristische Merkmal der ökonomischen Verhältnisse sei, daß sie objektiver Natur, d. h.- wie Marx es formuliert hat- notwendige, vom Willen der Menschen unabhängige Verhältnisse sind, die einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte entsprechen. Diese Bestimmung wird von allen marxistischen Autoren bis heute noch kritiklos übernommen. Bei einer näheren Betrachtung erweisen sich jedoch die ökonomischen Verhältnisse nur insofern als objektiv, als sie den Individuen, die sich am gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß beteiligen, bereits in einer bestimmten Beschaffenheit, als ein Typus von Produktionsverhältnissen, z. B. als kapitalistische oder sozialistische, während einer relativ langen Periode entgegentreten. Die einzelnen können kurzfristig auf den Typus dieser Verhältnisse keinen Einfluß nehmen, sie müssen sich vielmehr nach ihnen als einer objektiven Realität richten. Dies trifft allerdings nur auf die jeweiligen Eigentumsverhältnisse als den Kern der Produktionsverhältnisse zu. In ihrer Organisationsstruktur, d. h. als Verhältnisse der Arbeitsorganisation und des Austauschprozesses, unterliegen die Produktionsverhältnisse jedoch andauernden Änderungen. Aber auch die Eigentumsverhältnisse selbst werden durch Rechtsverhältnisse vermittelt und obwohl relativ stabil sind sie durchaus einer rechtlichen Steuerung zugänglich. Regulierende Einwirkungen werden auf die Eigentumsverhältnisse, insbesondere auf die Befugnisse der Subjekte des Eigentumsrechts, im kapitalistischen wie im sozialistischen System vorgenommen. Im letzteren bezieht sich diese Einflußnahme hauptsächlich auf die sog. Fondbefugnisse der staatlichen Wirtschaftsunternehmen, die vom theoretisch allein dem sozialistischen Staat zustehenden Eigentumsrecht an Produktionsmitteln abgegrenzt und mit jeweils unterschiedlichem Inhalt den staatlichen Wirtschaftsunternehmen zugebilligt werden. I.n westlichen Wirtschaftssystemen sind wiederum Gestaltungen des privaten Eigentumsrechts am Produktiveigentum zu verzeichnen, die sich insbesondere im Prinzip der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, 7
s. 262.
I. Die marxistische Basis-Überbau-Lehre
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aber auch in der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in privaten Unternehmen äußern. Daraus folgt aber, daß die Produktionsverhältnisse nicht den Charakter objektiver, nicht bewußt zu beeinflussender Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung haben und sich insofern nicht wesentlich von den politischen und den sonstigen gesellschaftlichen Beziehungen unterscheiden. Dann ist aber die These, daß die Produktionsverhältnisse die "Basis" der Gesellschaft ausmachen und die übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen, nicht ohne weiteres haltbar. Wenn anerkannt wird, daß die Produktionsverhältnisse wie alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der bewußten Gestaltung durch die Gesellschaft unterliegen, wird der Mythos von der Objektivität des gesellschaftlichen ökonomischen Geschehens, von der Wirkung angeblich objektiver Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zerstört, Gesetze, die die politische Führung in den sozialistischen Staaten erkennt und deren Wirkungen sie voll nutzt. Die marxistische Geschichtsdeutung und die politisch-philosophische Konzeption einer allein durch die marxistische Lehre genau zu erschließenden sozialen Wirklichkeit verlieren ihre suggestive Kraft, und der Marxismus wird als das gesehen, was er tatsächlich ist, nämlich eine der vielen philosophischen Schulen in der Geschichte der sozialen Ideen. Die Basis-Überbau-Lehre gibt auch auf viele andere Fragen keine überzeugende Antwort. So z. B. bleibt die Rolle der Ideen und Anschauungen der Individuen und Gruppen in der Gesellschaft mit dem alleinigen Hinweis darauf, daß sie durch die ökonomische Basis bedingt werden, unzulänglich erklärt. Wenn die politischen, philosophischen und juristischen Ideen zum Überbau gehören und somit die Basis nicht wesentlich verändern können, da sie von ihr hervorgebracht werden, so wäre hier gesondert nach dem Stellenwert der ökonomischen Ideen zu fragen: gehören sie auch zum Überbau, sind sie einfach Derivate, oder vermögen sie etwas mehr auszurichten als die anderen Ideen und Anschauungen, da sie nicht den Überbau, sondern die Basisrealität widerspiegeln? Oder sind sie als untrennbar von den "realen" ökonomischen Verhältnissen zu denken und bilden somit einen Bestandteil der Basis? Ungenügend geklärt ist auch das Verhältnis vom gesellschaftlichen Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein. Marx sagt apodiktisch, daß nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewußtsein bestimmt. Wenn man diese Aussage in Beziehung zur BasisÜberbau-Theorie setzt, drängt sich die Frage nach den sozialen Gegebenheiten auf, die das sog. gesellschaftliche Sein ausmachen. Insbesondere ist zu fragen, ob allein die ökonomischen Verhältnisse, die Produktionsverhältnisse das gesellschaftliche Sein ausmachen. Dies ist sicherlich zu verneinen. Denn es wäre nicht erklärlich, warum die politisch-rechtliche Verfassung der Gesellschaft einer Seinsrealität entbehrt. Wenn aber die Gesamtheit der gesell2*
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l. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
schaftliehen Verhältnisse und nicht allein die ökonomischen Verhältnisse das gesellschaftliche Sein ausmachen, wird man folgern müssen, daß sich der Überbau, wenigstens zum Teil, selbst bestimmt: die politischen und juristischen Verhältnisse, die zum Überbau zählen und die einen Teil des gesellschaftlichen Seins ausmachen, bestimmen den jeweiligen politisch-juristischen Teil des gesellschaftlichen Bewußtseins, also die Ideen, die ebenfalls zum Überbau gehören. Zur marxistischen Basis-Überbau-Theorie gehört auch das sogenannte Gesetz der notwendigen Übereinstimmung des Typus der Produktionsverhältnisse mit dem jeweiligen Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Es wird als das "Grundgesetz" der gesellschaftlichen Entwicklung bezeichnet. Die Produktionsverhältnisse, die die "reale" gesellschaftliche Basis ausmachen, sind danach selbst in eine Abhängigkeitsrelation eingebunden: sie treten in einem bestimmten Typus (als feudalistische, kapitalistische oder sozialistische Produktionsverhältnisse) auf, der einer bestimmten Entwickungsstufe der gesellschaftlichen Produktivkräfte entspricht. Produktionsverhältnisse sind, wie Marx sagt, entweder "Entwicklungsformen der Produktivkräfte" oder sie schlagen, wenn die Produktivkräfte sich weiterentwickelt haben, in "Fesseln" derselben um. Die nicht mehr gegebene Übereinstimmung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zeigt die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Umwälzung der sozialen Ordnung an: es tritt dann eine Epoche "sozialer Revolution" ein. Die marxistische Theorie unterlegt der gesellschaftlichen Entwicklung eine zwingende Gesetzlichkeit, die in der Übereinstimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ihren Ausdruck findet. Diese Übereinstimmung kann jedoch nicht immer durch allmähliche Veränderungen hergestellt werden; vielmehr gehört der qualitative Bruch mit der alten sozialen Ordnung, den alten Produktionsverhältnissen wesentlich dazu. Die soziale Entwicklung ist somit immer die Herstellung eines neuen Typus von gesellschaftlichen Verhältnissen, ist zwangsläufig eine - wenn auch "friedliche" - Revolution. So wird der revolutionären proletarischen Bewegung unter der Führung der Kommunistischen Partei ein sozial-revolutionärer Optimismus zur Seite gestellt, der die Zuversicht gibt, daß die bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse sich überlebt haben, zur Hemmnis der gesellschaftlichen Entwicklung geworden sind und deshalb in der Revolution durch neue, fortschrittlichere, sozialistische Verhältnisse ersetzt werden müssen. Die Zwangsläufigkeit der sozialen Revolution wird somit herausgestellt, zugleich wird aber auch ihre bewußte Durchführung in einer bestimmten Richtung hervorgehoben. Die Rolle des "subjektiven Faktors", der gesteuerten revolutionären Bewegung, wird dadurch bereits indiziert. Das als größte Entdeckung der marxistischen Gesellschaftstheorie gepriesene "Grundgesetz" der gesellschaftlichen Entwicklung, namentlich die "not-
I. Die marxistische Basis-Überbau-Lehre
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wendige" Übereinstimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, ist in der Theorie noch nie hinlänglich geklärt worden. Was bedeutet diese Übereinstimmung, und welche sind ihre konkreten Merkmale, auf die die politische Macht ihr Augenmerk richten soll, um die genannte Übereinstimmung jeweils herstellen zu können. Auch sind niemals die "Bewegungsund Entwicklungserfordernisse" der Produktivkräfte genau definiert worden, so daß man die Produktionsverhältnisse in Einklang mit ihnen bringen könnte. So ist das angebliche Gesetz der Übereinstimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen eine bloße Metapher für einen zeitweiligen harmonischen Verlauf ökonomischer Vorgänge geblieben. Dieses "Grundgesetz" hat auch keine empirische Bestätigung gefunden. Die Entwicklung der bürgerlichen wie der sozialistischen Gesellschaft ist nicht im Sinne seiner Aussagen verlaufen; sie hat sie vielmehr widerlegt. Die erste sozialistische Revolution, die Oktoberrevolution in Rußland, hat in einer Gesellschaft stattgefunden, die nicht alle Potenzen der Entwicklung ihrer Produktivkräfte ausgeschöpft hatte. Sie war keine entwickelte, "überreife" bürgerliche Gesellschaft, deren Produktionsverhältnisse nunmehr die Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft nicht fördern konnten und daher durch neue, sozialistische Produktionsverhältnisse ersetzt werden mußtens. Die Leninsche Formel vom "schwächsten Glied" in der Kette, nach der die Revolution sich dort ereignen muß, wo die sozialen Widersprüche unter den halb feudalistischen, halb bürgerlichen sozialen Verhältnissen, wie im damaligen zaristischen Rußland, am schärfsten waren, nimmt sich als taktisch kluge revolutionstheoretische Variante aus, ist in der Tat jedoch nichts als eine prinzipwidrige Rechtfertigung. Die Oktoberrevolution wurde unabhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in Rußland durch die Partei der Bolschewiki zielbewußt vorbereitet und unter den politisch günstigen Bedingungen des 1. Weltkrieges durchgeführt. Und sie gelang, obwohl der angeblich entscheidende Widerspruch zwischen dem Stand der Produktivkräfte und dem Charakter der Produktionsverhältnisse nicht vorhanden war. Die sog. sozialistische Revolution in den mittel- und südosteuropäischen Ländern zum Ende des 2. Weltkrieges war ebenfalls nicht das Ergebnis einer "notwendigen" ökonomischen Entwicklung, die unerträglich gewordene Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen der Gesellschaft lösen sollte, sondern vielmehr das Zufallsprodukt militärischer s Vgl. über die Leninsche These vom Sieg der proletarischen Revolution in einem Land ("das schwächste Glied im Weltsystem des Imperialismus") V. F. Kotok!N. P. Farberov, 0 proletarskoj revoljucii i socialisticeskom gosudarstve (Über die proletarische Revolution und den sozialistischen Staat) in: V. M. Cchikvadze (Hrsg.), Karl Marks o gosudarstve i prave (Karl Marx über den Staat und das Recht), Moskau 1968, s. 27 f.
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l. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
Konstellationen zugunsten der Roten Armee auf dem Kriegsschauplatz der dortigen Länder. Ebenso wie hinsichtlich der sozialen Revolution ist die These von der notwendigen Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit den Produktivkräften auch in einer anderen Hinsicht durch die historische Entwicklung widerlegt worden: die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die nach der Marxschen Analyse schon vor über hundert Jahren als zu eng für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte qualifiziert wurden, haben seit . dieser Zeit immer wieder ihre Elastizität und positive Wirkung auf die Entwicklung der Produktivkräfte gezeigt. Es muß hervorgehoben werden, daß der enorme Aufschwung von Wissenschaft und Technik, insbesondere der letzten Jahrzehnte, der zu Recht als wissenschaftlich-technische Revolution qualifiziert wird, vor allem unter der westlichen, bürgerlichen Gesellschaftsordnung stattgefunden hat. Die Produktionsverhältnisse in den sozialistischen Staaten, die einen neuen, höheren Typus von gesellschaftlichen Verhältnissen darstellen sollten, haben sich als weitgehend ineffizient, was die Förderung der gesellschaftlichen Produktivkräfte angeht, erwiesen. II. Staat und Recht als "Überbauphänomene"
1. Die Bestimmung des Überbaus durch die Basis "in letzter Instanz" Die Kritik am ökonomischen Monismus9, der die marxistische Gesellschaftstheorie prägt, hat bekanntlich schon sehr zeitig eingesetzt. Engels ist dieser Kritik entgegengetreten, indem er wiederholt die These von der Bestimmung des Überbaus der Gesellschaft durch die ökonomische Basis interpretiert und auf einen Gehalt, der nicht mechanistisch-fatalistisch, wie die ursprüngliche Version von Marx, anmutet, zu reduzieren versucht hat. Engels will der Ökonomie eine nur letztlich bestimmende Wirkung auf das politische und geistige Leben der Gesellschaft zugestehen. Engels schreibt: "Nach materialistischer Geschiehtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet . . . Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus ... üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwir9 J. Habermas, (Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971, S. 265 f.) kritisiert diese Einseitigkeit der marxistischen Theorie, die "alle ökonomischen Erscheinungen ohne irgend auf Erscheinungen außerhalb ihrer Sphäre zu rekurrieren, aus dem Verwertungsprozeß des Kapitals ableitet" . Er weist auf die schon für den bürgerlichen Staat charakteristische Politik als selbständigen Ordnungsfaktor hin.
II. Staat und Recht als "Überbauphänomene"
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kung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten . . . als Nbtwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt"lO, An anderer Stelle wird dieser Gedanke wieder aufgenommen und auf die Einwirkungsmöglichkeiten des Staates in Bezug auf die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft spezifiziert: "Es ist Wechselwirkungzweier ungleicher Kräfte, der ökonomischen Bewegung auf der einen, der nach möglichster Selbständigkeit strebenden und, weil einmal eingesetzten, auch mit einer Eigenbewegung begabten neuen politischen Macht; die ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, aber sie muß auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten und mit relativer Selbständigkeit begabten politischen Bewegung ... Die Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung kann dreierlei sein: sie kann in derselben Richtung vorgehen, dann geht's rascher, sie kann dagegen angehn , dann geht sie heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volk kaputt, oder sie kann der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andere vorschreiben"ll. Die These von der bestimmenden Wirkung der Ökonomie in letzter Instanz, in der alle Marxisten einen heilsamen Ausweg aus den Wirrungen der Basis-Überbau-Lehre sehen, ist selbst unscharf. Sie stellt eine auf unbestimmte Zeit bezogene, durch einzelne historische Tatsachen nicht explizierte und daher empirisch nicht nachprüfbare Prognose auf12, nach der die Überbauphänomene, und hier insbesondere der Staat, in seiner ordnenden und leitenden Funktion in einer von der Ökonomie bestimmten Richtung festgelegt ist. Theoretisch ist diese These auch nicht beweisbar, soweit man nicht angeben kann, was das "ökonomisch Notwendige" inhaltlich darstellt. Sie muß zu der absurden Vorstellung führen, daß der Staat, wie auch immer er handelt, letztlich doch in Einklang mit den Erfordernissen der ökonomischen Entwicklung gerät, also doch "richtig" handelt. Es wäre dies die Vorstellung von einem irgendwie in der Geschichte eingebauten Schutzmechanismus vor Fehlentwicklungen auf Dauer, die empirisch-historisch nicht belegbar ist. Die Konzession, die Engels der Staatsgewalt macht, indem er ihr relative Selbständigkeit und Rückwirkung auf die ökonomische Entwicklung bescheinigt, ist in ihrer Tragweite nicht genau definiert. Denn Engels ist dennoch der Ansicht, daß sich die ökonomische Bewegung im ganzen und großen durchsetzt, daß jede Staatsmacht, die gegen die ökonomische Notwendigkeit handelt "heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volk kaputt (geht)" . Marxistische Autoren der Gegenwart, die die Äußerungen von Marx und Engels über die Bedingtheit von Staat und Recht durch die ökonomische Basis der F. Engels, Brief an Josef Bloch vom 21. 9. 1870, MEW, Bd. 37, S. 763. F. Engels, Brief an Conrad Schmidt vom 27. 10. 1870, MEW, Bd. 37, S. 490. 12 Wetter (Anm. 5, S. 187 f.) sieht darin erneut ein Zeichen für den spekulativen Charakter der marxistischen Geschichtsphilosophie. 10 11
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1. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
Gesellschaft interpretieren, heben hervor, daß die Klassiker des Marxismus immer am Primat der Ökonomie gegenüber der Politik festgehalten haben13. 2. Die aktive Rolle des "politisch-juristischen" Überbaus. Primat der Politik
Die große Korrektur an der marxistischen Basis-Überbau-Theorie wurde erst in diesem Jahrhundert, mit der russischen proletarischen Oktoberrevolution vorgenommen, zu einer Zeit also, in der der Marxismus sein Dasein einer sozial-utopischen Lehre aufgeben und als Theorie praktisch-politischen Handeins auftreten mußte. Lenin und Stalin, Urheber der "großen Oktoberrevolution" und Pragmatiker der neu errichteten proletarischen Sowjetmacht, konnten mit der Theorie der Bedingtheit der Politik durch die ökonomische Basis verständlicherweise wenig anfangen. Sozialistische Produktionsverhältnisse als "Basis der Gesellschaft" existierten noch nicht, mußten erst durch langwierige Bemühungen um eine neue ökonomische und soziale Ordnung unter der Führung der Kommunistischen Partei errichtet werden. Lenin hat schon vor der Revolution diese These dargelegt und später in verschiedenen Varianten die besondere Bedeutung des "subjektiven Faktors", der bewußten Gestaltung der sozialen Verhältnisse durch die Menschen- hier durch die parteipolitische Führung- bekräftigti4. Diese Korrektur an der klassischen Lehre mußte er zwangsläufig vornehmen, denn ihm oblag die Lösung schwieriger Aufgaben in der praktischen Politik der Revolutions- und Aufbauzeit. Mit seinem wachen politischen Instinkt hat Lenin die Nutzlosigkeit der klassischen Lehre von der Bedingtheit der Politik durch die Ökonomie erkannt. Er konnte zwar nach eigener politischer Ansicht handeln und die Macht handhaben, ohne die Richtigkeit der Entscheidungen begründen zu müssen. Ihm war aber daran gelegen, letzteres zu tun, um die Massen zu mobilisieren und sie für den Sozialismus zu gewinnen - eine Aufgabe, die später Stalin nicht mehr als erstrebenswert ansah. Stalin hat die aktive, "dienende" Rolle des Überbaus in Bezug auf die ökonomische Basis hervorgehobenl5, eigentlich ohne ersichtlichen Grund, denn die politische Macht wurde unter ihm völlig ungebunden, willkürlich aus13 Vgl. darüber z. B. R. 0. Chalfina, Das Verhältnis von Recht und Ökonomik, in: N. Reich (Hrsg.), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1972, S. 155 ff.; über die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Auffassung für die Regelungsfunktion des Rechts bezüglich der ökonomischen gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben, vgl. meine Rezension zu V. P. Skredov, Ökonomie und Recht, Rechtstheorie 1972, s. 104 ff. 14 W. I. Lenin, Was tun? Lenin-Werke, Bd. 5, S. 408. 15 J. W. Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, StalinWerke, Bd. 15, S. 194 f.; vgl. dazu K. Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, Lindau/Konstanz 1959, S. 85 ff.
II. Staat und Recht als "Überbauphänomene"
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geübt, mit unzähligen Experimenten und Fehlentscheidungen, deren Folgen u. a. die in starren Plänen eingezwängte Wirtschaft erleiden mußte. Lenin hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß er die Politik als eine umfassende Führungstätigkeit des neuen sowjetischen Staates begreift, die alle nur denkbaren Machtbefugnisse beinhaltet und sich durch keine höhere Instanz beschränken läßt. Die ganze Macht gehörte dem Prinzip nach dem Proletariat in der Gestalt der Sowjets, war jedoch konzipiert von der Führung der Kommunistischen Partei, letztlich von Lenin selbst. Die Macht der Sowjets sollte die neuen politischen Verhältnisse als Voraussetzung für die Bewältigung der Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus konsolidieren. Die ökonomische Entwicklung sollte die Verwirklichung von Wirtschaftspolitik sein und nicht der Spontaneität wirtschaftlicher Kräfte überlassen werden; kein "blinder Ökonomismus" also und keine Unterordnung unter eine fatalistische ökonomische Notwendigkeit. So ist die Leninsche Formel vom Primat der Politik gegenüber der Ökonomie zu verstehen16. Sie hat Anlaß zu verschiedenen Mißverständnissen, aber auch zu bewußten Fehlinterpretationen gegeben. Die marxistischen Autoren haben darin jedenfalls keine Korrektur an der These von der bestimmenden Rolle der Basis sehen wollen. Cchikvadze meint, daß Lenin keineswegs der Politik eine primäre Bedeutung habe zuschreiben wollen, denn dies liefe grundlegenden Thesen des MarxismusLeninismus zuwider17 . Cchikvadze weist auf Äußerungen von Lenin über die Bedeutung der ökonomischen Aufgaben der Sowjetmacht hints, so z. B. daß nach der Ergreifung der Macht durch die Arbeiterklasse "vorrangige Bedeutung nicht die Politik, sondern die Ökonomie erlangt"t9, oder daß die Klasse, die keine richtige politische Methode hat, "ihre Herrschaft nicht beibehalten und folglich ihre Produktionsaufgabe nicht lösen kann"20. Die von Cchikvadze angeführten Zitate Lenins hinterlassen keineswegs den Eindruck, daß bei Lenin widersprüchliche Ansichten vorgelegen haben. Es bleibt dabei, daß Lenin mit der These vom Primat der Politik nichts anderes gemeint hat, als das, was aus dieser These hervorgeht, namentlich daß alle ökonomischen Aufgaben von einer politischen Gesamtkonzeption hergeleitet werden, und daß ihre Lösung der stabilen politischen Macht bedarf und nicht das Ergebnis einer blinden ökonomischen Notwendigkeit sein kann. Unkritisch und mit einem Hang zum Fetischisieren übernimmt die marxistische Theorie der Gegenwart die These von der bestimmenden Rolle der Basis 16 "Die Politik hat notwendigerweise das Primat gegenüber der Ökonomik", LeninWerke, Bd. 32, S. 73. 17 V. M. Cchikvadze, Gosudarstvo, demokratija, zakonnost' (Staat, Demokratie, Gesetzlichkeit) , Moskau 1967, S. 46. 18 s. 45 ff. . 19 s. 45. 20 s. 50.
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1. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
gegenüber dem Überbau der Gesellschaft. Sie formuliert meistens das Problem als das des Verhältnisses von Ökonomie, Staat und Recht, indem sie einen neuen Aspekt hereinnimmt: sie faßt die Bestimmungsrelation von Basis und Überbau und dessen Rückwirkungen auf die erstere in der Formel ökonomischer Gesetzmäßigkeilen zusammen und glaubt, auf diese Weise den gegen die klassische Formulierung der These vorgebrachten Einwänden zu entgehen. Cchikvadze schreibt, daß die Politik organisch und untrennbar mit der "Ökonomie und ihren Gesetzen" verbunden ist, daß die Politik der Kommunistischen Partei und des sowjetischen Staates die Erfordernisse der ökonomischen Gesetze widerspiegelt, daß die Politik die "Vollendung der Ökonomie" ist, daß die Politik die Bedingungen bestimmt, unter denen die Aufgaben der "Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft" gelöst werden können21. Andere Autoren heben hervor, daß eine wesentliche Besonderheit des sozialistischen Staates darin besteht, daß er sich in seiner Tätigkeit "von den von ihm erkannten Gesetzen der wirtschaftlichen Entwicklung, des Verhältnisses zwischen ökonomischer Basis und politischem sowie rechtlichem Überbau leiten läßt"22. Durch den Rekurs auf die sog. ökonomischen Entwicklungsgesetze soll gezeigt werden, daß die alten Kategorien "Basis" und "Überbau" noch unvermindert gelten23, daß von geheiligten Positionen des klassischen Marxismus nicht abgerückt worden ist; zugleich soll aber der Eindruck erweckt werden, daß der Politik des sozialistischen Staates etwas Objektives, Wissenschaftliches naturgemäß anhaftet, daß ihr jeder Voluntarismus fremd ist. Die angeblichen ökonomischen Gesetzmäßigkeilen wurden aber von der politischen Führung weder in der Praxis konkret benannt noch sind sie in der Theorie definiert und überprüfbar gemacht worden; andererseits bietet die ökonomische Politik des sozialistischen Staates in seiner ganzen bisherigen Entwicklung ein Bild der Unstetigkeit und des Mangels begründeter Konzeptionen. Wirtschaftsreformen mit gegensätzlichem Inhalt (z. B. Förderung von Zentralisation oder Dezentralisation staatlicher Wirtschaftsleitung, abwechselnde Entwicklung der Schwer- oder der Leichtindustrie) wurden wiederholt durchgeführt, ohne daß zwingende ökonomische Gründe, die auf die Wirkung ökonomischer Entwicklungstrends hindeuteten, angegeben werden konnten. Allein Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte haben dabei immer den Ausschlag gegeben. So widerlegt die Praxis des sozialistischen Staates die These von der Gebundenheit der Politik an objektive ökonomische Gesetzmäßigkeiten. 21
s. 48 f.
Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1: Grundlegende Institute und . Begriffe, dt. Ausg., Köln 1974, S. 317. 23 Gelegentlich wird aber auch ausdrücklich darauf hingewiesen: "Der grundlegende Leitsatz des Marxismus-Leninismus, daß das Recht ein Bestandteil des Überbaus über der ökonomischen Basis ist, gilt auch für die sozialistische Gesellschaft in allen ihren Entwicklungsetappen", so Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1, S. 328. 22
li. Staat und Recht als "Überbauphänomene"
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3. Neomarxistische Erklärungsversuche
Von der marxistischen Basis-Überbau-Lehre geht offenbar für viele eine Faszination aus. Westliche Autoren versuchen immer wieder, dieser Lehre etwas Positives abzugewinnen. Die breit angelegte und durchaus kritische Analyse z. B. von Rottleuthner hält daran fest, daß Staat und Recht von der ökonomischen Basis hervorgebracht werden: von der Ökonomie verspricht man sich Aufschlüsse über Qualität und Wirkungsweise von Staat und Recht. Rottleuthner sieht zwar, daß die Elemente der Basis und des Überbaus in der marxistischen Theorie bislang nicht hinreichend definiert worden sind. Er geht aber offensichtlich dennoch davon aus, daß eine solche Einteilung der sozialen Phänomene sinnvoll ist, wenn er versucht, die Relation zwischen Basis und Überbau näher zu bestimmen. Er sieht es als unzureichend an, diese Relation für eine kausale zu erklären; sie ließe sich als solche nur in einem "unexplizierten Sinne" verstehen. Die Analyse von Rottleuthner verläuft ausschließlich auf begrifflicher Ebene (z. B. Funktionsbegriff, Begriff der dispositioneilen Erklärung, Relationsbegriff) und trägt dazu bei, die Basis-Überbau-Lehre schon im Formellen stark zu relativieren24. Seine Bemühungen um die Bestimmung von Relationen zwischen verschiedenen sozialen Phänomenen, so auch von Staat und Recht, werden jedoch durch das Festhalten am Schema von Basis und Überbau erschwert. Die Ausführungen zeigen allerdings, wie wenig ergiebig das Erklärungsmodell der Basis-Überbau-Theorie ist, wieviele Fragen sie unbeantwortet läßt, und wie wenig überzeugend ihre pauschalen Antworten sind. In seinen Untersuchungen läßt Rottleuthner die empirische Dimension außer Betracht: er beschreibt nicht und versucht nicht, politisch-juristische Phänomene der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft oder der sozialistischen Gesellschaft zu deuten und verzichtet auf diese Weise darauf, die BasisÜberbau-Theorie an beobachtbaren sozialen Realitäten zu prüfen. Die Einbeziehung empirischer Gesichtspunkte hätte aber gezeigt, daß diese Theorie der sozialen Wirklichkeit nicht standhält, daß sie Wesen und Wirkungsweise weder des bürgerlichen noch des sozialistischen Rechts erklären kann, und auch nicht die komplexe Struktur kultureller Phänomene. Die Ergebnisse der so anspruchsvoll angelegten Analyse erschöpfen sich in Deutungsvorschlägen für einige Begriffe der Basis-Überbau-Theorie. Rottleuthner hofft, daß seine begrifflichen Präzisierungen "den zentralen Teil der marxistischen Rechtstheorie einer empirischen Prüfung näher bringen können", gibt jedoch zu, daß seine Aussagen noch nicht "prüfbare Hypothesen" darstellen25. Bei manchen Autoren, die eine strukturalistische Theorie der Gesellschaft vertreten (Althusser, Poulantzas), sind Bemühungen festzustellen, durch spe24
25
Rottleuthner, (Anm. 6), z. B. S. 204 ff. ; 236 ff.; 250 ff.
s. 262.
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I. Kap.: Recht, Staat und ökonomische Basis der Gesellschaft
zifische Deutungsversuche die marxistische Basis-Überbau-Lehre aufzuwerten. Sie zeichnen ein Bild von der Gesellschaft, in dem Basis und Überbau nicht starr sich gegenüberstehen, sprechen von der "Einheit eines strukturierten Ganzen", das verschiedene, relativ autonome Ebenen oder Instanzen aufweist. Aber auch in dieser Sicht genießt die ökonomische Ebene einen Primat: die anderen Ebenen in der strukturellen Einheit fügten sich ineinander "gemäß den spezifischen, letztlich durch die ökonomische Ebene oder Instanz festgelegten Determinierungsweisen"26. Poulantzas geht noch einen Schritt weiter in der Bestimmung der Rolle der ökonomischen Basis als "Strukturschicht". Die ökonomische Basis sei dominierend, das bedeute jedoch nicht, "daß die ökonomische Basis immer den beherrschenden Rang einnimmt, sondern, daß in einer gegebenen Produktionsweise in letzter Instanz die ökonomische Basis die Schicht bestimmt, die die dominante Rolle innehat und damit eine dominierende Einheit konstituiert"27 . Dies ist eine gewagte Uminterpretation der Engelssehen Formel von der bestimmenden Rolle der Ökonomie in letzter Instanz, für die es keine Anhaltspunkte in der klassischen Lehre gibt, die aber von der marxistisch-strukturalistischen Theorie als eigener Beitrag angesehen wird. Diese Auffassung überzeugt jedoch wenig: sie gibt nicht an, warum gerade die ökonomische Struktur die dominierende ist; in der klassischen Lehre war immerhin ihre besondere Qualität in der Gestalt objektiv existierender Produktionsverhältnisse ausgewiesen. Da die strukturalistische Theorie aber nicht aufzeigt, weshalb die eine und nicht die andere Struktur durch die Ökonomie als jeweils herrschend bestimmt wird, muß hier eher eine Zufallswirkung angenommen werden. Reich übernimmt die Thesen der strukturalistischen Theorie und expliziert ihre Konsequenzen. So sei es möglich, "daß die in letzter Instanz dominierende Ökonomik die Politik zur dominierenden Schicht beruft". Es sei aber auch denkbar, "daß das Recht die dominierende Schicht wird, z. B. in der rechtsstaatliehen Ideologie des 19. Jahrhunderts oder in Vorstellungen einer "verrechtlichen Politik"28, Auch Reich wiederholt die nicht gesicherte Annahme -letztlich ein Dogma der klassischen marxistischen Lehre-, daß die Ökonomie die anderen Schichten bestimmt und zwar in der strukturalistischen Variante, nach der diese Schichten dann zu dominierenden erhoben werden. Die Vorstellung, daß in der Gesellschaft einmal die Politik, dann aber das Recht dominiert, ist für die Analyse nicht besonders hilfreich. Es wäre auch zu fragen, was es eigentlich bedeutet, daß das Recht dominiert. Kann das Recht 26 Angaben nach N. Reich, Marxistische Rechtstheorie, Tübingen 1973 (Recht und Staat, Heft 420/421), S. 20. 27 N. Pou/antzas, Aus Anlaß der marxistischen Rechtstheorie, in: N. Reich (Hrsg.), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1972, S. 186-188. 28 Reich, (Anm. 26), S. 21.
II. Staat und Recht als "Überbauphänomene"
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unabhängig von ökonomischen und politischen Interessen und von Wertvorstellungen, deren Träger es ist, zu einer dominierenden Struktur der Gesellschaft werden, ohne daß zugleich die jeweiligen politischen und ökonomischen Komponenten den gleichen Rang einnehmen? Eigenständigkeit des Rechts kann nicht etwa Emanzipation von Politik und Ökonomie bedeuten. In Widerspruch zu seiner ursprünglichen These von der bestimmenden Rolle der ökonomischen Basis nimmt Reich letztlich an, daß es eigentlich eine allgemeine Aussage über das Verhältnis von Basis und Überbau, über eine spezifische Gesetzlichkeit dieses Verhältnisses überhaupt nicht gibt, daß sie vielmehr im historischen Prozeß jeweils gefunden werden muß. Durch den Hinweis darauf, daß es Perioden gäbe, in denen der Überbau die Basis determiniert und auch historisch "überholte" Verhältnisse relativ stabil hält29, gibt Reich den Anlaß zu fragen, ob auch für eine "konsequent materialistisch-historische Rechtstheorie" es noch einen Sinn hat, die Konstruktion von Basis und Überbau der Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
29
s. 26 f .
Zweites Kapitel
Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft I. Ursprung und Notwendigkeit des Staates 1. Entstehung des Staates. Staatstypologie
Die marxistische Rechtstheorie betrachtet Staat und Recht als Produkte der Klassengesellschaft. Sie geht dabei von Konzeptionen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aus, die bereits gegen Ende des vergangeneo Jahrhunderts entwickelt worden sind. Hier genießt immer noch das Erklärungsmodell absolute Gültigkeit, das Engels in seiner für die damalige Zeit beachtenswerten Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (1884) entworfen hat. Das Engelssehe Erklärungsmodell zeichnet sich durch einen ökonomischen Monismus aus. Die ausschlaggebende Rolle für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft wird hier allein der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, der Arbeitsteilung und der Bildung von Privateigentum zugeschrieben. Das Privateigentum an Produktionsmitteln dient danach als Grundlage für die Entstehung der Klassenstruktur der Gesellschaft, und das heißt von ungleichen sozialen Gruppen (Klassen) und mithin auch von Staat und Recht, die als Garanten für die Aufrechterhaltung der jeweiligen Klassenstruktur dienen. Der Kampf zwischen den jeweils antagonistischen Klassen ist der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. An dieser Erklärung hält die marxistische Theorie bis heute festt. Sie nimmt die verschiedenen Ansätze, die in der modernen Kulturanthropologie und der sozialen Evolutionstheorie der Gegenwart entwickelt worden sind, nicht ernsthaft zur Kenntnis2. Die Konzeption von Staat und Recht als Machtinstrumente der jeweils in der Gesellschaft ökonomisch herrschenden sozialen Gruppen geht allein auf t Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 2: Historische Typen des Staates und des Rechts, dt. Ausg., Köln 1974, 2. Kap.; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, 3. Aufl., Berlin (Ost) 1980, 3. Kap. 2 Auf die vielschichtige Problematik der Entstehung von Staat und Recht kann hier nicht näher eingegangen werden; sie fordert Untersuchungen, die weit in die Ethnologie, Anthropologie und die Sprachwissenschaft hineinreichen; vgl. darüber J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 144 ff; K. Eder, Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1976; R . Schott, More on Marx and Morgan, Current Anthropology, Bd. 17 (1976), Nr. 4, S. 731-734; L. Krader, Formation of the State, Englewood Cliffs 1968.
I. Ursprung und Notwendigkeit des Staates
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die Klassiker des Marxismus, Marx und Engels, zurück. Sie ist von Lenin und Stalin übernommen und nicht weiterentwickelt, sondern in wesentlichen Punkten modifiziert worden, insbesondere um die wachsende Rolle des Staates im Sozialismus zu rechtfertigen. Mit der Konzeption des Klassenstaates hängt auch die marxistische Staatstypologie zusammen, nach der eine jede Epoche in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft, eine jede "historische Gesellschaftsformation" den ihr entsprechenden Typus von Staat und Recht hervorbringt. Danach sind die Sklavenhaltergesellschaft, die feudalistische und die bürgerliche Gesellschaft Klassengesellschaften mit antagonistischen sozialen Gruppen (Klassen) und mit einem Staat als Unterdrückungsinstrument ("Ausbeuterstaat") in den Händen der jeweils ökonomisch und politisch herrschenden Klasse. Die sozialistische Gesellschaft zeichne sich dagegen durch eine Klassenstruktur aus, in der der Interessenantagonismus zwischen den hauptsächlichen sozialen Klassen fehle . Das Proletariat als herrschende Klasse betreibe hier keine Ausbeutung, sondern verwalte das vergesellschaftete Produktiveigentum im Interesse aller werktätigen Klassen. Der Urgesellschaft demgegenüber fehle ein ausgebildeter Staat, der als Unterdrückungsinstrument einer ökonomisch mächtigen Gruppe, der Eigentümer von Produktionsmitteln, gegenüber den anderen sozialen Klassen fungiert. Denn dieser Gesellschaft seien privates Eigentum an Produktionsmitteln und Aneignung der Produkte fremder Arbeit, d. h. Ausbeutung, unbekannt. Diese Überbetonung der Eigentumsbildung und der Stabilisierung von Eigentumsverhältnissen in der Gesellschaft als hauptsächliches Merkmal der Staatsentstehung führt dazu, daß die marxistische Theorie den komplizierten Gesamtprozeß der ökonomischen Entwicklung, der sozialen Integration über Familie, Stamm, Volk und Siedlungsgemeinschaft, der Veränderung der Weltbilder und der sprachlichen Kommunikation in der Gesellschaft3 aus dem Blickfeld verliert. Nicht genügend gewürdigt werden in ihrer Bedeutung für die Bildung des Staates als einer differenzierten, auf Dauer angelegten politischen Institution solche Faktoren wie die zentralisierte Macht nach innen, die Verteidigungsfähigkeit nach außen und die integrierende Wirkung einer für die ganze Gemeinschaft verbindlichen Normsetzung und Kontrolle4 • Sie werden letztlich zu bloßen Konsequenzen von Eigentumsverteilung und Klassenbildung in der Gesellschaft degradierts. Habermas (Anm. 2), S. 167-173. Krader (Anm. 2), S. 13 ff. s Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 2 (Anm. 1), 2. Kap.,§ 5. Neue ethnologische Forschungen haben gezeigt, daß die Eigentumsformen in der Urgesellschaft vielfältig gewesen sind, so daß sie unmöglich durch die allgemeine und sehr vereinfachende marxistische Kategorie des Gemeinschaftseigentums erfaßt werden könnten. Darüber hinaus ist deutlich gezeigt worden, daß in der Urgesellschaft Eigentumsformen 3 4
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
Die Bedeutung des Rechts für die Gesellschaft ist in diesem Erklärungsmodell auf die Durchsetzung von gruppenspezifischen Interessen reduziert; das Recht ist danach aus der Spaltung der Gesellschaft in Klassen entstanden und bleibt ein Mittel der Herrschaft und Unterdrückung. Es wird nicht differenziert genug von anderen Normsystemen sozialen Verhaltens unterschieden. Auch wurde ursprünglich nicht anerkannt, daß das Recht durchaus auch positive sozialintegrierende und regulative Funktionen im Interesse der ganzen Gesellschaft hat. Die Erklärung, die die marxistische Theorie für die Entstehung von Staat und Recht im gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungszusammenhang gibt, wird in das Schema einer Geschichtsphilosophie eingebettet, die dem Faktor "gesellschaftliche Produktionsweise", und d. h . vor allem dem Eigentumstypus an gesellschaftlichen Produktionsmitteln, absoluten Vorrang gibt. Von daher läßt sich eine Reihe von Staatstypen konstruieren6, die, wie der Sklavenhalterstaat, der Feudalstaat und der bürgerliche (kapitalistische) Staat, Herrschaftsorganisationen der jeweiligen Eigentümer von Produktionsmitteln sind. Die jeweils beherrschten, "ausgebeuteten" Klassen, die in diesem Schema als Träger neuer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse erscheinen, sprengen die alten Produktionsverhältnisse und leiten eine neue Produktionsweise auf einer höheren Entwicklungsstufe ein, wobei sie sich selbst als jeweils herrschende Klasse etablieren. So wird die Ideologie der Klassengesellschaft und des Klassenkampfes zum eigentlichen "Entwicklungsgesetz" der menschlichen Gesellschaft und zur Grundlage eines jeden Staatsverständnisses erklärt. Der entscheidende Bruch in dieser vermeintlich entwicklungslogisch konsistenten Konzeption wird jedoch in dem Versuch vollzogen, den Platz und die Bestimmung des letzten Staatstypus, namentlich des sozialistischen Staates, in dieser Abfolge zu definieren. 2. Die "Notwendigkeit" des Staates im Sozialismus
Die marxistische Staatskonzeption knüpft, wie bereits dargestellt wurde, an eine Struktur der Gesellschaft an, die sich durch soziale Gruppen (Klassen) mit gegensätzlichen Interessen - also herrschende und beherrschte Klassen existiert haben, die man heute durchaus als Privateigentum an Produktionsmitteln qualifizieren würde; letztlich scheint nachgewiesen zu sein, daß Unterschiede in den Eigentumsverhältnissen einzelner sozialer Gruppen nur einen der vielen Faktoren zur Stabilisierung von Herrschaft dargestellt haben, vgl. darüber R. Schott, Stichwort: Eigentum (in ethnologischer Sicht) in der Vergleichenden Enzyklopädie "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft", Bd. II 1968, Sp. 41-55, 53 f. 6 Bedenken aus moderner ethnologischer Sicht gegen diese Einteilung der menschlichen Gesellschaft in fünf Entwicklungsphasen ("Gesellschaftsformationen") meldet R. Schott (Anm. 2, S. 733) an.
I. Ursprung und Notwendigkeit des Staates
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auszeichnet. So fungiere in den Gesellschaften mit herrschender "Ausbeuterklasse" (Sklavenhalter, Feudalherren, Kapitalisten) der Staat notwendigerweise als Garant für die Aufrechterhaltung von Klassenhierarchie und Ausbeutung. Nach der sozialistischen Revolution, unter der Herrschaft des Proletariats, das keine Ausbeutung, sondern eine soziale Führung mit ausgesprochen konstruktiven Aufgaben betreibe, stellt sich daher die Frage nach der Qualifikation des neuen Staates, des Staatstypus der Diktatur des Proletariats. Die marxistischen Staatstheoretiker der Gegenwart sind besonders bemüht, den sozialistischen Staat in all seinen Erscheinungsformen, die er unter den realen Bedingungen der sozialistischen Gesellschaftsordnung seit sieben Jahrzehnten angenommen hat, als eine historische Notwendigkeit1 hinzustellen, die die Klassiker des Marxismus erkannt und beschrieben haben sollen. Dabei wird behauptet, daß die Beiträge der gegenwärtigen marxistisch-sozialistischen Staats- und Rechtstheorie eine weitere Entwicklung der Ansätze und Konzeptionen bezüglich der Diktatur des Proletariats, die Marx und Engels entwickelt haben, darstellen. Auf die bis heute noch behauptete Kontinuität der Lehre von Marx, Engels und Lenin - hier wird Stalin hauptsächlich nur noch von den neomarxistischen Schulen in der westlichen Welt erwähnt- wird besonderer Wert gelegts. Marx und Engels haben die Diktatur des Proletariats immer als eine Herrschaftsfarm aufgefaßt, die sich zwar von den vorangegangenen Herrschaftsformen dadurch unterscheidet, daß zum ersten Mal die Staatsgewalt von der Mehrheit und im Interesse der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder ausgeübt wird, die aber zugleich ein Machtinstrument zur Unterdrückung einer sozialen Klasse, nämlich der gestürzten Klasse der Bourgeoisie, darstellt. Die Existenz der Diktatur des Proletariats setzt unbedingt eine solche Klassenschichtung in der Gesellschaft voraus, die soziale Gruppen mit gegensätzlichen Interessen aufweist. Dieser Gedanke ist in den Schriften der Klassiker des Marxismus leicht zu verfolgen. Schon der "Deutschen Ideologie" ist deutlich zu entnehmen, daß die Existenz einer Diktatur des Proletariats, einer staatlichen (politischen) Macht der Arbeiterklasse an eine Gesellschaft mit Klassengegensätzen gebunden ist. Deshalb wird hier die neue Gesellschaft - und das ist die kommunistische, klassenlose Gesellschaft -, die die Arbeiterklasse an Stelle der bürgerlichen Gesellschaft errichten wird, als eine "Assoziation" , und die Macht der Arbeiterklasse in dieser Gesellschaft als eine "nicht eigentliche politische Macht" qualifiziert9. 7 G. N. Manov, Diktatura proletariata i socialisticeskoe gosudarstvo (Diktatur des Proletariats und sozialistischer Staat), in: N. V. Vitruk u. a. (Hrsg.), Ucenie K. Marksa, F. Engelsa, V. I. Lenina o socialisticeskom gosudarstve i prave (Die Lehre von K. Marx, F. Engels und V. I. Lenin über den sozialistischen Staat und das Recht), Moskau 1978, S. 5 ff. s Manov (Anm. 7), S. 16 ff. 9 Vgl. Nachweise bei Manov (Anm. 7), S. 6.
3 Petev
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
Im "Gothaer Programm" wird die Diktatur des Proletariats als ein Staat der "Übergangsperiode"lO zwischen Kapitalismus und Kommunismus bezeichnet. In dieser Übergangsperiode bis zu der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft werde sich der proletarische Staat aber mit einem Interessenantagonismus zwischen den sozialen Klassen auseinandersetzen müssen. Auch Lenin hat die Diktatur des Proletariats immer als eine Machtorganisation der Arbeiterklasse aufgefaßt, die neben ihren konstruktiven Aufgaben in Bezug auf die Errichtung der neuen Gesellschaft zu jeder Zeit auch eine Unterdrückungsfunktion hinsichtlich der gestürzten ausbeuterischen Klasse auszuüben hat. Wenn er den sozialistischen Staat (die Diktatur des Proletariats) als "Halbstaat", "Übergangsstaat", "kein Staat im eigentlichen Sinne" bezeichnetn, so will er damit lediglich auf die Tatsache hinweisen, daß die Unterdrückung der gestürzten kapitalistischen Klasse durch das Proletariat nunmehr von der Mehrheit der Bevölkerung ausgeübt wird, und keineswegs, daß die Klassengegensätze in der Gesellschaft der Übergangsperiode so abgeschwächt sind, daß sie nur eines Staates mit sozusagen halber Potenz zu ihrer Kanalisierung bedürften. Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie sieht sich vor die unüberwindbare Schwierigkeit gestellt, die klassische Lehre der Diktatur des Proletariats als dem höheren sozialistischen Staatstypus mit den neuen, aus der Realität der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft erwachsenden Vorstellungen und Rechtfertigungen des Staates in Einklang zu bringen. Denn die Diktatur des Proletariats war in der marxistischen Theorie immer auch durch ihre Unterdrückungsfunktion in Bezug auf die Überreste der gestürzten kapitalistischen Klasse, also durch das Bestehen von Klassengegensätzen, gekennzeichnet worden. Darauf wiesen, wie bereits gezeigt wurde, die Klassiker des Marxismus ausdrücklich hin; für sie war zwingend, daß mit dem Wegfall der Notwendigkeit zur Unterdrückung der Ausbeuter auch die Geschichte des Staates als Instrument der Klassenherrschaft im wesentlichen endet; deshalb war in der Vorstellung von Marx "der historische Rahmen dieser Herrschaft mit der Aufhebung der Klassengegensätze" verbunden12. Im krassen Gegensatz dazu behaupten die marxistischen Staatstheoretiker der Gegenwart, daß für eine relativ lange Entwicklungsperiode der sozialistischen Gesellschaft, in der es keine Klassen mit ökonomischen und politischen Interessengegensätze mehr gäbe, der sozialistische Staat dennoch eine Diktatur des Proletariats bleibe. So wird für die UdSSR behauptet, daß bereits die Verfassung von 1936 "den politischen und rechtlichen Überbau mit der errichteten ökonomischen Basis des Sozialismus in Einklang" gebracht hat, daß bis zur "Vollendung des Aufbaus Vgl. auch Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 241 ff. Manov (Anm. 7), S. 16 ff., insbes. S. 19; Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3: Der sozialistische Staat, dt. Ausg., Köln 1975, S. 43 f. mit Nachweisen. 12 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 50. 10
11
II. Bestimmungskriterien des Staates
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des Sozialismus, d. h. bis zur Errichtung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ... der Sowjetstaat jedoch nach wie vor ein Staat der Diktatur des Proletariats" geblieben ist13 • Hier wie in den anderen sozialistischen Ländern wird die Diktatur des Proletariats also nicht mehr mit immanenten Klassengegensätzen, die in den objektiven ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft wurzeln, gerechtfertigt; es wird vielmehr auf andere Momente, wie die "Bedrohung" des politischen Regimes der Kommunistischen Partei von außen (Ungarn 1956, CSSR 1968), die Verhinderung der Demokratisierung durch den Personenkult (UdSSR) und den Kampf gegen Überreste bürgerlicher Ideologie, rekurriertl4, Die marxistischen Staatstheoretiker der Gegenwart können freilich nicht zugeben, daß unter den Bedingungen der sozialistischen gesellschaftlichen Wirklichkeit - anders als in der Blütezeit spekulativer marxistischer Theorie des vergangeneo Jahrhunderts- der sozialistische Staat eine Machtorganisation der Kommunistischen Partei, insbesondere ihrer Führungselite, geworden ist, die auf Machtstabilisierung ausgerichtet ist. Sie versuchen vielmehr eine Legitimation für den sozialistischen Staat dadurch zu erreichen, indem sie sich auf das "klassische Erbe" des Marxismus, auf die Diktatur des Proletariats, berufen.
II. Bestimmungskriterien des Staates 1. Staat und Gesellschaft
Wie bereits dargelegt wurde, versucht die marxistisch-sozialistische Staatstheorie das vielschichtige Phänomen Staat von den ökonomischen und den Klassenstrukturen der Gesellschaft her zu erklären. Dieser Zugang zur Problematik des Staates, den man als klassisch-marxistisch bezeichnen kann, ist in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich erweitert worden. Die marxistischsozialistische Staatstheorie der Gegenwart wählt einen viel komplexeren Ausgangspunkt, der das ganze Gefüge der sozialen Beziehungen und Institutionen, namentlich das sog. politische System der Gesellschaft, in die Analyse des Staates einbezieht. Dieser Trend nimmt für sich in Anspruch, auf die Ursprünge der marxistischen Staatsauffassung zurückzugehen. Tatsächlich ist dies jedoch ein neuzeitiger Versuch, den Staat unter den gegenwärtigen Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft, die unerwartete Entwicklungen durchmacht, zu legitimieren. 13
s. 55.
Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 41 f.; / . Ceterchi, L'Etat socialiste roumain a l'etape de l'edification de Ia societe soeialiste multilateralement developpee, Revue roumaine des seiences soeiales, Seiences juridiques (22) 1978, Nr. 1, S. 20 f. ; K. Fabian, Theoreticke otazky periodizace vyvoje soeialistickeho statu {Theoretische Fragen der Periodisierung der Entwicklung des sozialistischen Staates), Prävnik 1978, S. 719 f. 14
3*
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
Es trifft sicher zu, daß die Klassiker des Marxismus in ihren Werken Hinweise dafür gegeben haben, daß der Staat im gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet werden soll, daß er eine Form der Organisation der Gesellschaft, ein "öffentliches Gemeinwesen", ein "öffentlicher Zustand", ein "politischer Staat" oder ein Symbol der "allgemeinen Gesamtheit" usw. istls. Diese Begrifflichkeit, mit der der Staat theoretisch erfaßt werden soll, ist weder geklärt noch feststehend. Man kann daher die gegebenen Qualifikationen nur aus dem jeweiligen Zusammenhang verstehen und soll sie nicht als geschlossene Argumentation für eine bestimmte These benutzen. Da im marxistischen Verständnis der Staat als Produkt der Klassengesellschaft entsteht und auch später eine besondere Organisationsform der Gesellschaft darstellt, wird hier die Frage nach einer möglichen oder gar erstrebenswerten Trennung von Staat und Gesellschaft sicher fehl am Platze sein. Der Trennungsgedanke ist vielmehr charakteristisch für die frühbürgerliche Gesellschafts- und Staatstheorie und hatte den Sinn, die Emanzipation der Gesellschaft von einer obrigkeitlichen Bevormundung, die Überwindung der feudalistischen und anderen die spontane gesellschaftliche Entwicklung hemmenden Strukturen herzustellen. In seiner Schrift "Zur Judenfrage" schreibt Marx: "Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur in Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist"16. Diese Äußerung von Marx ist des öfteren dahin interpretiert worden, daß die marxistische Theorie ebenfalls eine Trennung von Staat und Gesellschaft akzeptiere. Eine solche Interpretation widerspricht jedoch der Grundauffassung des Marxismus vom Staat als Produkt der Klassengesellschaft, die gerade durch den Staat in ihren wesentlichen Strukturen aufrechterhalten wird. In der oben zitierten Äußerung weist Marx nur auf die doppelte Rolle des Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft hin, die ihm eine vermeintliche Freiheit als Privatperson gibt, in Wahrheit aber ihn entsprechend seiner Zugehörigkeit zur Klasse der Ausbeuter oder der Ausgebeuteten an den Staat als den Garanten gegensätzlicher Klassenstrukturen bindet. Indem sie davon ausgeht, daß Staat und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden sind, daß der Staat nicht nur ein Glied dieser Relation StaatGesellschaft ist, sondern vielmehr als die "organisierende Form" der Gesellschaft!? auftritt, hat die marxistische Staatstheorie zu keinem Zeitpunkt die 15 Vgl. für zahlreiche solche Hinweise L. Mamut, Fragen der Staatstheorie im ideologischen Widerstreit, Moskau 1979, S. 38 ff. 16 MEW, Bd. l,S. 354 f. 17 In der "Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" schreibt Marx: "Das Eigentum, der Vertrag, die Ehe, die bürgerliche Gesellschaft erscheinen hier .. . als besondere
li. Bestimmungskriterien des Staates
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Gesellschaft als ein homogenes oder gar amorphes Gebilde angesehen. Die Gesellschaft ist danach nicht eine Mehrzahl von Individuen oder von zufällig gebildeten sozialen Gruppen. Sie ist vielmehr nach einem notwendigen Muster strukturiert, und zwar so, daß bestimmte soziale Gruppen mittels des Staates ihre Klasseninteressen durchsetzen und andere Klassen in der Gesellschaft unterdrücken. Deutliche Hinweise dafür, daß die Gesellschaft nicht als homogenes Ganzes aufgefaßt werden darf, geben die Klassiker des Marxismus selbst. So heißt es bei Marx in der "Deutschen Ideologie": "Alle Kämpfe innerhalb des Staates, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokratie und Monarchie, der Kampf um das wahre Recht etc. etc., (sind) nichts als die illusorischen Formen ... , in denen die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen untereinander geführt werden"18. Engels schreibt in dem "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates": "Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neuentwickelten gesellschaftlichen Klassen: an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefaßt im Staat"19. Die marxistischen Autoren der Gegenwart heben ebenfalls hervor, daß die Gesellschaft in allen Stadien ihrer Entwicklung, in denen sie staatlich organisiert ist, eine nach sozialen Klassen gegliederte Gesellschaft ist. Mamut schreibt, daß Marx eine "Identifizierung des Staates mit der Gesellschaft und ihrer ökonomischen Struktur ablehnt", daß die richtige Anschauung über den Staat diejenige ist, die ihn "als spezifischen Aufbau der Klassengesellschaft"20 darstellt. Dies ist zunächst ein unmißverständliches Votum für die Klassengesellschaft. Im Trend der Zeit ist Mamut jedoch bemüht, der "Marx'schen Analyse der Staatlichkeit als besondere Einrichtung, als Aufbau der Klassengesellschaft" noch mehr abzugewinnen. Man solle die Aufmerksamkeit auf die "wesentlichen Momente des Funktionierens und der Entwicklung des Staates" konzentrieren, so daß man zu einer umfassenden Charakteristik des Staates gelangen kann, die unvollständig bleiben muß, wenn der Staat - wie die Gegner Marx vorwerfen - nur als Regierungsmaschinerie oder als Apparat der öffentlichen Gewalt ausgegeben wird21. Aus diesen Ausführungen von Mamut geht zwar hervor, daß der Staat Klassencharakter hat, daß er tatsächlich eine Maschine zum Regieren ist und daß er auch als eine öffentliche Gewalt aufzufassen ist, allerdings nicht als eine allgemeine, sondern als die Gewalt der jeweils herrschenden Klasse. Der Autor Daseinsweisen neben dem politischen Staat, als der Inhalt, zu dem sich der politische Staat als die organisierende Form verhält", MEW, Bd. 1, S. 232. 1s 19 20
21
MEW, Bd. 3, S. 33. MEW, Bd. 21 , S. 28. Mamut (Anm. 15), S. 48.
s.
49.
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
legt jedoch Wert darauf hinzuweisen, daß diese konstitutiven Merkmale, die die bisherige Staatstheorie in ihren Definitionen des Staates immer benutzt hat, nicht hinreichend charakteristisch seien. Im Zuge einer Erweiterung der staatstheoretischen Auffassung will Mamut nachweisen, daß schon bei den Klassikern des Marxismus Ansätze für eine umfassendere Staatstheorie, die sich nicht auf die genannten Merkmale der Klassenstruktur und des Gewaltinstruments beschränkt, sondern den Staat im Gesamtkontext des politischen Systems untersucht, enthalten sind. Es bleibt dennoch festzuhalten, daß genauso wie die Gesellschaft in marxistischer Sicht nicht ein einheitliches Gemeinwesen, sondern ein besonders strukturiertes, in Klassen mit gegensätzlichen Interessen geteiltes soziales Ganzes ist, auch der Staat keine Organisation der Gesellschaft schlechthin ist, die das Gemeinwohl sichert. Der Staat ist vielmehr Produkt der Klassengesellschaft, und seine Hauptfunktion bleibt für längere Zeit - im orthodoxen marxistischen Staatsverständnis bis zu einem späteren Stadium in der Entwicklung des sozialistischen Staates ("Volksstaat")22 - die Aufrechterhaltung dieser Spaltung der Gesellschaft mit der Folge, daß hauptsächlich die Interessen der jeweils herrschenden Klasse gesichert werden. Erst vor diesem Hintergrund können die späteren Entwicklungen in der marxistisch-sozialistischen Staatsauffassung richtig gedeutet werden. Denn, wenn man dem Staat nunmehr bescheinigt, daß er auch gesamtgesellschaftliche Aufgaben wahrnimmt oder gar den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert, geschieht dies nur mit Bezug auf seine genuin klassenmäßige Natur, und nicht, indem man ihn für eine über den sozialen Klassen stehende Organisation hält23. Diese Charakteristik wird in Bezug auf jeden Staatstypus gegeben. Im Falle des sozialistischen Staates in der Gestalt des sog. Staates des ganzen Volkes führt sie mit Rekurs auf die sich angeblich gewandelte Klassenstruktur der sozialistischen Gesellschaft der Gegenwart zu unüberbrückbaren konzeptionellen Widersprüchen, wie unten noch zu zeigen sein wird. Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie lehnt aus grundsätzlichen Erwägungen heraus das methodische Herangehen und die Ergebnisse, die die bürgerlichen Staatstheorien hervorgebracht haben, ab. Der Haupteinwand ist, daß diese Theorien gerade den Klassencharakter des Staates überhaupt nicht sehen oder sehen wollen. So schreibt z. B. Mamut: "Das Unglück (und die 22 Vgl. allgemein zur Frage der Entwicklungsphasen des sozialistischen Staates mit seinen jeweils spezifischen Funktionen, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 234 f., 308 ff., 89 ff. 23 F. Chr. Schroeder (Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, München 1979) hat diese Entwicklungen eingehend untersucht und die neuen Momente in der Staatsauffassung herausgearbeitet. Es sei angemerkt, daß diese Entwicklungen zwar die Forschungsperspektive der marxistisch-sozialistischen Staatstheorie erweitern, jedoch nicht von grundsätzlichen Positionen des Klassencharakters von Staat und Gesellschaft abrücken.
II. Bestimmungskriterien des Staates
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Schuld) der bürgerlichen Theoretiker besteht darin, daß sie der Staatlichkeil ihren sozialen und klassenmäßigen Inhalt nehmen wollen. Irgendeinen Aspekt (den sie vorher schon von der Bürde der sozialen und klassenmäßigen "Materie" "befreit haben") isolieren sie von den anderen Aspekten, verabsolutieren diesen Aspekt und stellen ihn als die ganze und einzige Wahrheit des Staates hin. Deswegen sind die von den bürgerlichen Staatskundlern vorgeschlagenen allgemeinen Definitionen des Staates als Komposition aus staatlichem Territorium, Staatsbevölkerung und Staatsmacht nicht annehmbar"24. Die marxistische Theorie selbst benutzt jedoch diese Merkmale bei der Charakteristik des Staates. Der Staat sei ein "bestimmter Gemeinschaftstyp", eine besondere "Menschengesamtheit", die alle Individuen der vorliegenden bürgerlichen Gesellschaft umfaßt und deshalb mit ihr vergleichar, ebenso groß wie diese Gesellschaft ist. Die Staatlichkeit sei eine "Kollektivität besonderer Art", "universelle Organisation ... , die die ganze Landesbevölkerung der Klassengesellschaft integriert"25. Auch der öffentlichen Gewalt als konstitutivem Element des Staates wird neuerdings größere Aufmerksamkeit geschenkt. Verschiedene Aspekte dieser Gewalt, ihr Verhältnis zum Staat und zur Leitung der Gesellschaft werden in der neueren marxistischen Literatur umfassenden Untersuchungen unterzogeo26. Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie der Gegenwart bemüht sich, aus ihrer traditionellen Enge herauszukommen, indem sie sich Fragestellungen zuwendet, die in westlichen Theorien zuerst erarbeitet worden sind, so z. B. im Bereich der Rechtsphilosophie den analytischen und im Bereich der Staatsphilosophie den systemtheoretischen Konzeptionen. Dabei suchen die Autoren nachzuweisen, daß die neueren theoretischen Ansätze schon längst von den Klassikern des Marxismus gesehen worden seien27. In der Analyse und Erfassung des Relationskomplexes Staat-Gesellschaft kann der marxistisch-sozialistischen Staatstheorie kein besonderer Erfolg bescheinigt werden. Ihre ideologische Fixierung, d. h. ihr ausschließlicher Wahrheitsanspruch, die Nichtanerkennung anderer, konkurrierender staatstheoretischer Modelle hindert sie daran, zu adäquaten Ergebnissen zu gelangen. Trotz eines gewissen neu gewonnenen methodischen Bewußtseins28 ist 24
25
Mamut (Anm. 15), S. 45 f.
s. 40 ff.
26 Mamut (Anm. 15), S. 51 ff.; ders., Karl Marks kak teoretik gosudarstva (Karl Marx als Staatstheoretiker), Moskau 1979, S. 164 ff. 27 Mamut (Anm. 26, S. 135 ff.) legt dar, daß Marx u. a. systemtheoretisch an die Problematik des Staates herangegangen sei. Seine Ausführungen zeigen jedoch, daß hier nur umgangssprachlich und nicht differenziert auf dem Niveau moderner Systemtheorie der Begriff System verwendet wird. Auch fehlen gänzlich andere Begriffe, Kategorien und Konzeptionen, mit denen die Systemtheorie arbeitet. 28 Eine verstärkte Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Problemen des Rechts kommt deutlich in der Arbeit von D. A. Kerimow, Philosophische Probleme des
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
es ihr nicht gelungen, einen neuen Zugang zum Phänomen Staat zu finden. Die Aufnahme der Aspekte wie "politische Organisation der Gesellschaft", "gesamtgesellschaftliche Belange" u. a. ändert- wie unten noch zu zeigen sein wird (siehe Kap. IV)- an dieser Feststellung nicht viel. So gesehen, ist in der marxistisch-sozialistischen Staatstheorie die Erforschung des Problems der Wechselwirkungen von Staat und Gesellschaft hinter den westlichen Versuchen und theoretischen Ergebnissen geblieben. Die moderne westliche Staatsforschung ist viel differenzierter. Sie hat Impulse vieler neuer Theorien in der Soziologie, Politologie, Sozialpsychologie und Kulturanthropologie in sich aufgenommen und für ihren spezifischen Gegenstand fruchtbar gemacht29. 2. Staat und soziale Gruppen. Diktatur des Proletariats
a)- Die Diktatur des Proletariats ist nach marxistischer Theorie eine Form der Klassenherrschaft in der Gesellschaft und zugleich ein neuer Staatstypus. Durch die Diktatur des Proletariats wird die letzte Herrschaftsform in der Gesellschaft errichtet, die in der Zukunft die Klassenstrukturen überwindet und eine neue, klassenlose Gesellschaft ins Leben ruft. Die Diktatur des Proletariats ist die staatliche Organisationsform, die nach der erfolgreich durchgeführten sozialistischen Revolution installiert wird. Sie ist die staatliche Organisation der Klasse des Proletariats, das die bisher herrschende Klasse der Kapitalisten entmachtet und sie in der staatlichen Führung der Gesellschaft ersetzt. Dieses theoretische Modell eines Staates als Klassenorganisation, als die durch die sozialistische Oktoberrevolution in Rußland und durch die Ereignisse der Machtübernahme in den anderen, im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstandenen sozialistischen Staaten effektiv gewordene Herrschaftsstruktur ist nur vor dem Hintergrund der marxistischen Klassentheorie begreiflich. Ihm haften aber auch alle Mängel der Klassentheorie an. Die marxistische Klassentheorie geht noch heute von einem Begriff der sozialen Klasse aus, der bereits von den Klassikern des Marxismus verwendet worden ist. Er zeichnet sich- und dies in Übereinstimmung mit der gesamten marxistischen Gesellschaftskonzeption - durch eine Überbetonung der ökonomischen Komponente aus. Lenin hat ihn genauer definiert. Die Klassentheorie schließt die Konzeption der sozialen Revolution ein, indiziert die vermeintliche Notwendigkeit der politischen Macht des ProletaRechts, Berlin (Ost) 1977, zum Ausdruck (s. Kap. 1, "Der allgemeine Weg der Erkenntnis"), obwohl sie letztlich im Dogmensystem des Dialektischen Materialismus verhaftet bleibt; vgl. auch A. M. Vasilev u. a. (Hrsg.), Metodologiceskie problemy sovetskoj jurideceskoj nauki (Methodische Probleme der sowjetischen Rechtswissenschaft), Moskau 1980. 29 Für solche Ansätze vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 7. Auf!., München 1980, Kap. I.
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riats und dient als Grundlage für die Erklärung des Wesens von Staat und Recht schlechthin. In seiner Schrift "Die große Initiative" hat Lenin eine Begriffsbestimmung der sozialen Klasse vorgenommen3o. Die Definition enthält folgende Elemente: 1) Die sozialen Gruppen werden als Klassen wesentlich durch ihre ökonomische Stellung in der jeweiligen Gesellschaft bestimmt, d. h. durch ihren Platz im gesellschaftlichen Produktionsprozeß materieller Güter und hier insbesondere durch ihre Beziehung zu den jeweiligen Produktionsmitteln (durch das Eigentum an den Produktionsmitteln); 2) diejenige soziale Klasse, die das Eigentumsrecht an den wichtigsten gesellschaftlichen Produktionsmitteln innehat, etabliert sich als herrschende soziale Klasse, der allein die Befugnisse, den gesellschaftlichen Produktionsprozeß zu organisieren und die Verteilung des Sozialprodukts zu bestimmen, zustehen; 3) in den Befugnissen der Verteilung des Sozialprodukts nach Maßgabe des eigenen Klasseninteresses liegt die Möglichkeit der ökonomischen Ausbeutung der anderen sozialen Klassen durch die herrschende Klasse begründet; 4) die sozialen Klassen zeichnen sich auch durch ein ihren materiellen Bedingungen (Arbeits- und Lebensbedingungen) entsprechendes Klassenbewußtsein aus. Die Bestimmung der sozialen Gruppen als Klassen durch ihre Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozeß materieller Güter ist für die marxistische Gesellschaftstheorie charakteristisch. Dadurch, daß der gesellschaftliche Pro. duktionsprozeß ein objektiv feststellbares Phänomen ist, gewinnt die marxistische Klassenkonzeption zunächst an Plausibilität. Sie führt nach ihrem eigenen Anspruch aus dem "Subjektivismus" der Anschauungen über die sozialen Gruppen und ihre Rolle im gesellschaftlichen Geschehen, das sich im marxistischen Verständnis hauptsächlich als Klassenkampf zwischen sozialen Klassen mit antagonistischen Interessen darstellt, aus metaphysischen Spekulationen, Emotionen und Glaubensbekenntnissen heraus und ermöglicht, die Klassen durch objektiv bestimmbare und steuerbare Faktoren des sozialen Prozesses, d. h. durch die ökonomischen Bedingungen einer jeden Gesellschaftsepoche, zu erfassen. Diese soziale Stellung, die die Klassen tatsächlich prägt, unterscheidet nicht nach rein materiellen Lebensverhältnissen, d. h. nach arm und reich. Es ist vielmehr die Stellung im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß generell, es sind die eigentumsrechtlichen Beziehungen zu den Produktionsmitteln, die Bestim30 V. I. Lenin, Die große Initiative, Lenin-Werke, Bd. 29, S. 410: "Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnissen zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft".
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
mung der Arbeitsaufgaben und die Auswirkungen auf die Verteilungsbefugnisse (Aneignung größerer materieller Werte, d . h. "Ausbeutung"), die den Ausschlag für die Stellung und Funktionen des Einzelnen und der sozialen Gruppen geben. Der gesellschaftliche Produktionsprozeß ist gewiß von eminenter Bedeutung für das Individuum wie für den Zusammenhalt der sozialen Gemeinschaft. Hier werden jedoch nicht nur materielle Güter für die Erhaltung menschlicher Existenz hergestellt, sondern auch Ideen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz produziert. Sicher ist der gesellschaftliche Produktionsprozeß materieller Güter nicht der einzige Ort und nicht die einzige Veranlassung für die Entstehung von Ideen und Theorien. In diesem Prozeß werden dennoch wesentlich das individuelle Bewußtsein und das gesellschaftliche Bewußtsein, und d. h. die jeweils übereinstimmenden und überwiegenden Bewußtseinsinhalte von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft, geprägt. Die Beziehung zwischen den materiellen gesellschaftlichen Bedingungen und den Bewußtseinsinhalten von Individuen und sozialen Gruppen, die unter diesen Bedingungen leben, ist komplex und im einzelnen nicht genau angehbar. Auf jeden Fall verhält es sich nicht so, wie die marxistische Theorie annimmt, nämlich daß bestimmte soziale Bedingungen, insbesondere eine bestimmte gesellschaftliche Produktionsweise, einen ganz bestimmten Typus von politischen und ethischen Ideen und Vorstellungen bei den Individuen und sozialen Gruppen hervorrufen. Die soziale Realität, zu der nicht nur die "schlichten" materiellen Bedingungen, sondern auch Ideen und Institutionen gehören, wird vom individuellen Bewußtsein unterschiedlich bewertet. Warum dies so ist, kann man nicht sagen. Wahrscheinlich macht dies die Vielfalt und die Einmaligkeit menschlicher Individualität aus. Das Ergebnis ist auf jeden Fall eine Pluralität, ein Reichtum gesellschaftlicher Ansichten und Ideen, die die Entwicklung freier Gesellschaften fördern und die Entfaltung der Persönlichkeit allein ermöglichen. Das bedeutet keineswegs, daß sich die Gesellschaft durch eine Partikularität von Ideen und Ansichten auszeichnet, daß es keine übereinstimmenden Bewußtseinsinhalte bei den Individuen und den sozialen Gruppen und jeweils dominierenden Anschauungen gibt. Das Gegenteil ist in jeder Gesellschaft auch wenn sie nicht als eine "offene" verfaßt ist und es deshalb an Möglichkeiten der Artikulierung divergierender Anschauungen fehlt - der Fall. All diese verschiedenen Ideen, Anschauungen und Theorien in der Gesellschaft "widerspiegeln" die soziale Realität und konstituieren sie zugleich. Sie geben eine Bewertung der bestehenden sozialen Beziehungen und prognostizieren künftige, zu erwartende oder erstrebenswerte Entwicklungen. Insofern gibt es kein "richtiges" oder "falsches" Bewußtsein, sondern eine Pluralität von Ideen, Anschauungen und Theorien, die versuchen, sich im politischen Willensbildungsprozeß zu artikulieren und eine Verbreitung anstreben. In dem
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Maße, in dem sie von vielen Individuen und sozialen Gruppen geteilt werden, erhalten sie soziale Relevanz und verdichten sich zu politischen Programmen und münden letztlich in rechtlich verbindliche Normierungen31, Dadurch werden diese Anschauungen und Theorien nicht "richtig", sondern nur von Mehrheiten anerkannt und zur Grundlage politischer und rechtlicher Entscheidungen gemacht. Inwiefern sie im Trend sozialer Entwicklungen liegen oder diese sogar beeinflussen, zeigt sich erst im nachhinein. Die marxistische Klassentheorie, die das Klassenbewußtsein als konstitutives Element der sozialen Klasse hervorhebt, zeigt hierin eine signifikante Inkonsequenz. Einerseits postuliert sie in Übereinstimmung mit Grundprämissen der marxistischen Erkenntnistheorie eine sozusagen genetische Beziehung zwischen materiellen gesellschaftlichen Bedingungen und Bewußtsein der sozialen Klassen insofern, als sie behauptet, daß die Stellung der herrschenden (ausbeuterischen) Klasse und der ausgebeuteten Klassen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß ein für diese Klassen entsprechendes, typisches Klassenbewußtsein erzeugt. Andererseits hebt diese Theorie die Notwendigkeit hervor, die Konzeption eines richtigen Klassenbewußtseins zu erarbeiten, d. h. eines solchen, das der objektiven gesellschaftlichen Stellung und der historischen Bestimmung der jeweiligen sozialen Klasse adäquat ist32. Die jeweils herrschende Klasse in der Gesellschaft entwickele ein Bewußtsein, das den objektiven Lebensbedingungen Rechnung trägt. Gerade dieses Bewußtsein und nicht die schlichte "Bosheit" oder Gier nach MachtJ3 stütze ihre Herrschaft. Das Klassenbewußtsein sei nicht zu jedem Zeitpunkt im geschichtlichen Prozeß gegeben, es entwickele sich allmählich. Dabei könne es aber nicht weitergehen, als die historische Bestimmung der jeweiligen sozialen Klasse reicht. Die Bourgeoisie z. B. werde, was sie auch denken und tun mag, einmal zusammen mit dem kapitalistischen System aufgrund seiner unlösbaren Widersprüche untergehen, während das Proletariat entsprechend 3t Über die Konstituierung relevanter sozialer Gruppen und den politischen Willensbildungsprozeß in demokratisch organisierten Gesellschaften vgl. V. Petev, Zum Begriff des Rechts in bürgerlicher und marxistischer Sicht, Rechtstheorie 7 (1976), s. 56 ff. 32 Vgl. Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, hrsg. von W. Eichhorn I u. a. , Berlin (Ost) 1969, S. 237 ff., Stichwort: Klasse, soziale; V. lvanov, Klasova struktura i socialno edinstvo (Klassenstruktur und soziale Einheit), Sofia 1971, S. 56 ff. ; G. A . Wetter, Sowjetideologie heute, Bd. 1: Dialektischer und Historischer Materialismus, Frankfurt a. M. 1962, S. 211-214, 221 f.; K. Stoyanovitch, Marxisme et Droit, Paris 1964, S. 217 ff. 33 Die Bedingtheit der Ansichten (Ideologie) der verschiedenen Klassen durch ihre materiellen Interessen haben Marx und Engels prägnant formuliert: "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken . . . die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft" (Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 46); vgl. auch Stoyanovitch (Anm. 32), S. 218.
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seiner historischen Mission (das, was das Proletariat "geschichtlich gezwungen ist zu tun") als Träger neuer sozialer Beziehungen in einem gesellschaftlichen Produktionstypus, dem sozialistischen, als fortschrittlichste Klasse die soziale (sozialistische) Revolution erfolgreich durchführen und sich als herrschende (nicht ausbeuterische) Klasse in der Gesellschaft etablieren wird34. Das Klassenbewußtsein sei also durch die soziale Stellung und Bestimmung der jeweiligen sozialen Klasse objektiv bedingt. Es stelle sich jedoch nicht automatisch ein. Einigen Mitgliedern der sozialen Klasse, ja der Klasse insgesamt könne für längere Zeit das Klassenbewußtsein, und das heißt das "richtige" Bewußtsein, fehlen . Es könne und müsse aber erzeugt werden, damit die soziale Klasse ihre Bestimmung erfüllt. Hier muß jedoch hervorgehoben werden, daß dies nicht geschieht in einem inneren Prozeß der Bewußtwerdung der Klasseninteressen durch die Einzelnen, die zur betreffenden Klasse gehören und sich frei je nach Bewertung ihrer sozialen Interessen organisieren. Das Klassenbewußtsein wird vielmehr von den Ideologen gemacht, die herkunftsmäßig nicht einmal dazugehören müssen und die im Falle der etablierten sozialistischen Gesellschaft einem Machtzentrum, der Kommunistischen Partei, die Legitimation liefern. In dem sowjetischen Standardwerk der Staats- und Rechtsphilosophie heißt es dazu: "Die ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse werden von den Ideologen der gegebenen Klasse erkannt, und danach breitet sich schließlich die Erkenntnis dieser Interessen nach und nach auf die anderen Vertreter der gegebenen Klasse aus"35. Hier verkehrt sich die Konzeption in ihr Gegenteil: Das Klassenbewußtsein ist also nicht objektiv bedingt, denn dann müßte es sich bei den Mitgliedern der betreffenden sozialen Klasse unter den spezifischen Bedingungen ihrer Klassensituation einstellen; das Klassenbewußtsein , wie man sieht, hängt vielmehr von der Erkenntnisfähigkeit nur bestimmter Subjekte, der Ideologen, ab. Dafür aber, daß nur diese Subjekte erkenntnisfähig sind und daher nur deren Bewußtsein richtig, d. h. den materiellen Lebensbedingungen und Interessen der jeweiligen Klasse adäquat ist, enthält die Konzeption keine Argumente. 34 Viele Kritiker des Marxismus haben die Prämissen und Prognosen seiner Klassentheorie untersucht. Sie haben dabei herausgestellt, daß die Kategorien "ausgebeutete Klasse", "fortschrittliche Klassen" als Träger neuer Produktionsweisen, "Entfremdung" , "Ausbeutung", "revolutionäre Situation", "Verelendung der Massen" u. a. nicht auf alle sozialen Epochen zutreffen, daß sie nicht einmal das kapitalistische gesellschaftliche System, zumal in seiner modernen Gestalt, und schon gar nicht den realen Sozialismus adäquat erfassen, vgl. schon J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, dt. Ausg., 4. Auf!. , München 1975, S. 24 ff.; H. Fleischer, Marxismus und Geschichte, 3. Auf!., Frankfurt a. M. 1970, S. 45 ff.; S. Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, Frankfurt a. M. 1972, S. 19 ff. ; Wetter (Anm. 32), S. 205 ff., 212 f., 216 ff.; Stoyanovitch (Anm. 32), S. 377 ff. 35 Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1: Grundlegende Institute und Begriffe, dt. Ausg., Köln 1974, S. 269.
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Für die sozialistische Gesellschaft ergibt sich daraus eine weitere Konsequenz. Die Ideologen formulieren hier die Bewußtseinsinhalte in Bezug auf das politische System und erheben sie zur Staatsideologie. Diese ist dann nicht eine unter vielen politischen Anschauungen und Theorien, sondern beansprucht einen ausschließlichen Wahrheitsgehalt und ist anderen politischen Anschauungen und Theorien gegenüber intolerant. Ihr totalitärer Anspruch tut alle divergierenden Anschauungen und Konzeptionen in der Gesellschaft als "falsches" Bewußtsein ab und führt zu einer politischen Entmündigung des Einzelnen und der sozialen Gruppen, die sich sonst spontan nach einheitlicher Überzeugung organisieren würden. Die Konzeption eines so formierten Bewußtseins gibt nicht adäquat den Prozeß der Bewußtseinsbildung in der sozialistischen Gesellschaft wieder. Hier, wie in jeder anderen Gesellschaft, bewerten die einzelnen selbst ihre materiellen und außerökonomischen Interessen, bilden sich Vorstellungen und Überzeugungen, die sie durch die jeweiligen Organisationen in der Gesellschaft verwirklicht sehen möchten. Ihnen fehlt in der sozialistischen Gesellschaft jedoch die Möglichkeit, solche Organisationsformen entsprechend ihren politischen Anschauungen zu bilden und sie in einem offenen politischen Willensbildungsprozeß einzusetzen. Die regierenden Kommunistischen Parteien benutzen jedoch die marxistische Klassenkonzeption gerade wegen ihrer ideellen Komponente, d. h. wegen der vermeintlichen Notwendigkeit, das Klassenbewußtsein von außen, von den Ideologen der Kommunistischen Partei, in die Gesellschaft hineinzutragen, um ihre machtpolitischen Ziele zu realisieren. Sie versuchen insbesondere mit einem organisatorisch verfeinerten Propagandaapparat ein uniformiertes politisches Bewußtsein, ein einheitliches Weltbild, bei den Einzelnen zu erzeugen. Dabei berufen sie sich auf das Konzept einer prinzipiell erkennbaren sozialen Realität, auf das Erkenntnismonopol der Kommunistischen Partei und die angebliche Objektivität des so herausgearbeiteten, in Wirklichkeit jedoch nur postulierten gesellschaftlichen Bewußtseins. Den Bemühungen der Parteiideologen bei der Bewußtseinsformung in der sozialistischen Gesellschaft ist offensichtlich nicht viel Erfolg beschieden worden. Denn die führenden Kommunistischen Parteien selbst beklagen oft, daß das Bewußtsein der Arbeiterklasse, aber auch anderer sozialer Schichten, stets hinter den Erwartungen der politischen Führung bleibt. In Berichten auf Parteikongressen und Plenartagungen der Zentralkommitees der jeweiligen Kommunistischen Parteien sowie aus anderen Anlässen wird zugegeben, daß insbesondere die Arbeitsdisziplin, die ideologische Standfestigkeit gegenüber sog. westlichen Einflüssen sowie die Identifizierung der Einzelnen mit den Anliegen der Kommunistischen Partei und des Staates erhebliche Insuffizienz aufweisen.
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Die marxistische Klassenkonzeption beschreibt auch nicht zutreffend die Stellung der Arbeiterklasse in der sozialistischen Gesellschaft als eine angeblich herrschende und führende soziale Klasse. Die einzelnen Bestimmungsmerk· male dieser Konzeption finden sich in der Analyse der Arbeiterklasse nicht wieder, auch wenn man davon absieht, daß eine homogene soziale Gruppe als führende Arbeiterklasse in der sozialistischen Gesellschaft überhaupt nicht identifizierbar ist. Die soziale Stellung der Arbeiterklasse ist in der sozialistischen Gesellschaft nicht durch eine besondere Beziehung zu den Produktionsmitteln gekennzeichnet. Eine solche Beziehung wäre jedoch nach der marxistischen Klassenkonzeption für die Konstituierung und die Identifizierung einer sozialen Klasse, zumal einer zum ersten Mal in der Geschichte entstandenen nichtausbeuterischen herrschenden Klasse, erforderlich. Der Prozeß der Verstaatlichung der wichtigsten Produktionsmittel hat in den sozialistischen Staaten eine Eigentumsform hervorgebracht, namentlich das Staatseigentum ("Volkseigentum"), dessen Träger ein nicht näher abgrenzbares Gesamtsubjekt in der Gestalt des sozialistischen Staates bzw.- in der jugoslawischen Konzeptionder ganzen sozialistischen Gesellschaft ist. In dieses Gesamtsubjekt des Eigentumsrechts gehen sowohl die Arbeiterklasse und die Klasse der Bauern wie auch die anderen sozialen Gruppen ein. Ihre Beziehung zum Staatseigentum an den Produktionsmitteln ist insofern gleich, und man kann daher nicht sagen, daß eine soziale Klasse, hier insbesondere die Arbeiterklasse, sich in einer besonderen Position gegenüber den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, die sie als herrschende Klasse qualifizieren würde, befindet. Auch die weiteren Merkmale, die eine herrschende Klasse nach marxistischer Auffassung auszeichnen, fehlen bei der Arbeiterklasse in der sozialistischen Gesellschaft. Die Verfügungsbefugnis, und das bedeutet, das Recht, Investitionsentscheidungen zu treffen, sowie die Befugnis hinsichtlich der Organisation des Arbeitsprozesses, liegen nicht in der Hand der Arbeiterklasse. Gegenteilige Behauptungen seitens der sozialistischen Staatsideologie haben keine Stütze im geltenden Recht der sozialistischen Staaten. Diese Feststellung trifft allerdings nur auf diejenigen sozialistischen Staaten zu, deren politisches und Wirtschaftssystem dem sowjetischen Modell gefolgt sind. Das jugoslawische Wirtschafts- und Sozialsystem sieht Verfügungs- und Organisationsbefugnisse vor, die den Kollektiven der vergesellschafteten Arbeit als den Selbstverwaltungseinheiten zustehen. Man muß jedoch auch hier differenzieren und hervorheben, daß nicht eine homogene Arbeiterklasse im marxistischen Sinne diese Befugnisse ausübt, sondern diese den genannten Kollektiven der vergesellschafteten Arbeit als Ganzes zustehen. Diese Kollektive umfassen aber nicht nur Arbeiter, sondern auch technisches und Verwaltungspersonal.
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Im sozialistischen politischen System und Wirtschaftssystem sowjetischer Prägung besitzt die "Arbeiterklasse" auch keine Befugnisse hinsichtlich der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Ihre Berufsorganisation, die Gewerkschaft, hat entgegen aller Tradition im Kampf um bessere Entlohnung gerade im Sozialismus kein Mitspracherecht bei der Festsetzung von Arbeits- und Lohnnormen erhalten. Der Einwand, den die offizielle Doktrin vorbringt, es fehle in der sozialistischen Gesellschaft an einem ausbeutenden Arbeitgeber, gegen den Lohnforderungen durchgesetzt werden müssen, ist angesichts der im Sozialismus nicht eingetretenen "Emanzipation der Produzenten" leicht als eine Schutzbehauptung zu identifizieren. Denn der sozialistische Staat als eine Art Generalarbeitgeber hat die Wirtschaftsprozesse unter den Bedingungen einer Güterknappheit zu organisieren. Er kann die materiellen Bedürfnisse der Arbeiter nur unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Leistungskriterien befriedigen und muß abwägen, wieviel er zur Entlohnung der Arbeit vom gesellschaftlichen Gesamtprodukt verwenden kann. Es besteht also durchaus eine Gegensätzlichkeit unter diesen Bedingungen zwischen den Arbeitern und dem sozialistischen Staat als Generalarbeitgeber, bei der der sozialistische Staat Willkür betreiben kann, wenn und weil er bei der Festsetzung von Arbeits- und Lohnnormen nicht darauf angewiesen ist, auf Forderungen gewerkschaftlicher Organisationen der Arbeitnehmer, die notfalls mit gesetzlich fixierten Mitteln des Arbeitskampfes durchgesetzt werden können, Rücksicht zu nehmen. Für das jugoslawische System muß festgehalten werden, daß auch hier eine Arbeiterklasse als herrschende Klasse nach der marxistischen Klassenkonzeption nicht identifizierbar ist, daß den Kollektiven der vergesellschafteten Arbeit zwar verschiedene Befugnisse der Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses zustehen, die für die ökonomischen Belange der Einzelnen durchaus wichtig sind, die jedoch die Arbeitnehmer nicht zu einer "herrschenden" Klasse mit politischem Führungsanspruch machen. Hier, wie im sowjetischen System, ist die Kommunistische Partei kein Repräsentant der Arbeiterklasse, sondern eine oligarchisch-etatistische Machtgruppe36, in deren Händen das Regierungsmonopol ohne politische Legitimation konzentriert ist. Die marxistische Klassentheorie vermag auch nicht die sozialen Strukturen und den politischen Willensbildungsprozeß in den gegenwärtigen demokra36 Vgl. Stojanovic (Anm. 34, S. 43), der die Klassenstruktur der sozialistischen Gesellschaft kritisch analysiert und herausstellt, daß die Arbeiterklasse hier keine führende oder herrschende Klasse ist. Er schreibt: "Von der Arbeiterklasse im stalinistischen System kann man nicht auch im liberalen Sinne des Wortes . .. sagen, sie sei herrschend. Sie ist vollständig untergeordnet und stark ausgebeutet. Sie verwaltet weder (unmittelbar noch mittelbar) die Produktion noch entscheidet sie über die Verteilung des Mehrwertes. Sie ist nicht einmal im Besitz verschiedener Rechte, die sie im Kapitalismus praktiziert .. ."; die Kommunistische Partei sei zur "oligaristisch-etatistischen Partei" entartet (S. 67 ff.).
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
tischverfaßten westlichen Gesellschaften zu erfassen. Die Überbetonung der ökonomischen Faktoren bei der Bestimmung der sozialen Stellung der Klassen sowie die autoritäre Konzeption der Bewußtseinsbildung setzen sie außerstande, die Komplexität der sozialen Beziehungen in der demokratischen Gesellschaft zu erkennen und neue Entwicklungen zu beurteilen. Die marxistische Klassentheorie besitzt insbesondere kein Erklärungspotential für die konstituierende und integrierende Kraft außerökonomischer Faktoren, wie ethische, religiöse, ordnungspolitische Ideen und Anschauungen, die in einer politischen Demokratie zur Ausdifferenzierung der Interessengruppen, zur Bildung von Parteien und anderen Organisationen politischer Repräsentanz und zu einer Diskussion von Ideen und Programmen führen und das Wesen pluralistisch-demokratischer Gesellschaften ausmachen. Die marxistisch-sozialistische Theorie der sozialen Klassen läßt nicht gelten, daß hier die Bewertung der ökonomischen und außerökonomischen Interessen der Individuen primär durch diese selbst erfolgt und das wichtigste Moment bei der Wahl der Repräsentanten in politischen Parteien und sonstigen Organisationen, die die Interessen der einzelnen wahrnehmen, bildet. Sie kann die Erkenntnis, daß in den westlichen demokratischen Gesellschaften, eine Instanz, die die "richtige" politische Anschauung, das "Klassenbewußtsein" verordnet, nicht existiert, in ihr Dogmenschema nicht unterbringen. Sie verkennt damit die tatsächlich bestehende Pluralität an politischen Ideen und Anschauungen in diesen Gesellschaften, unterschätzt ihre innovatorischen Kräfte und Stabilität und unterliegt letztlich der Selbsttäuschung hinsichtlich der prognostizierten Krisen und des "notwendigen Untergangs" dieser Gesellschaften. b) - Das hauptsächliche Ergebnis der Klassenanalyse der Gesellschaft, die Marx und Engels unternommen haben und von der sie meinten, daß sie auf einer "realen" Basis, der Basis der materiellen Produktionsverhältnisse der Gesellschaft beruht und vom einzig richtigen, zukunftsweisenden Standpunkt des Proletariats vorgenommen worden istJ7, besteht darin, daß der Klassenkampf unweigerlich zum Sieg des Proletariats und zur Errichtung seiner Herrschaft, der Diktatur des Proletariats führt. Marx hat dies selber als den eigentlichen Beitrag, den er zur Gesellschaftstheorie geleistet hat, bezeichnet38. So stellt sich die Lehre von der Diktatur des Proletariats als Grundpfeiler des marxistischen gesellschafts- und staatstheoretischen Gebäudes dar, dem die Klassiker des Marxismus, später Lenin und Stalin und seit dieser Zeit alle Theoretiker höchste Aufmerksamkeit gewidmet haben, und zwar in dem Maße, in dem die soziale Praxis sich vom theoretischen Modell und dem poli37 Vgl. zur Klassenanalyse bei Marx L. Mamut, Kar! Marks kak teoretik gosudarstva (Kar! Marx als Staatstheoretiker), Moskau 1979, S. 108 ff., 110. 38 Vgl. den Brief an Weydemeyer vom 5. 3. 1882, dazu im einzelnen Manov (Anm. 7), s. 5,11.
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tischen Ideal zusehends entfernt hatte und seine Realisierung immer zweifelhafter wurde39 • Die Diktatur des Proletariats mußte erfunden werden, um den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse in einen geschichtlichen Sinnzusammenhang einzubinden. Nur dann, wenn diesem Kampf ein exklusiver Platz in der Geschichte durch die behauptete Notwendigkeit seiner Durchführung und der Unvermeidbarkeit des Sieges eingeräumt wird, gewinnt er an geschichtlicher Plausibilität, die ihn legitimiert. Der Klassenkampf des Proletariats führt nach diesem Modell in eine neue geschichtliche Entwicklungsphase, den Sozialismus. Die Lehre von der Diktatur des Proletariats hat auch den Sinn, der neuen herrschenden Klasse, dem Proletariat, das als Sieger aus dem Klassenkampf mit der Bourgeoisie hervorgeht, eine Theorie seiner Herrschaft zu liefern. Sie soll glaubhaft machen, daß diese Herrschaft von neuer Qualität ist, d. h. nicht errichtet wird, um Unterdrückung und Ausbeutung zu produzieren, sondern mit dem Ziel, eine neue humane Gesellschaft aufzubauen. Dennoch haben die Theoretiker des Marxismus keinen Zweifel daran gelassen, daß der Sieg der sozialistischen Revolution die Gestalt einer echten politischen und staatlichen Gewalt, einer Diktatur des Proletariats annimmt und nicht gleich nach der Machtübernahme zur Auflösung staatlicher hierarchischen Strukturen führen wird40 • Sowohl Marx und Engels in Bezug auf die Pariser Kommune wie auch Lenin im Hinblick auf die Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die im Verlauf der Oktoberrevolution von 1917 entstanden waren, haben auf die mögliche Vielfalt und Formen hingewiesen, die die Diktatur des Proletariats annehmen kann und je nach konkreten Umständen der revolutionären Umwandlung annehmen wird. So haben die im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstandenen sozialistischen Staaten die sog. Volksdemokratie als eine weitere Form der Diktatur des Proletariats hervorgebracht41. Diese Erscheinungsformen aber seien ihrem Wesen nach alle prbletarische Staatsmacht, Diktatur des Proletariats42. So gilt nach wie vor der von Marx aufgestellte Satz aus der "Kritik des Gothaer Programms", nach dem der Staat der Übergangszeit vom 39 Zu den einzelnen Stadien in der Erarbeitung der Lehre von der Diktatur des Proletariats vgl. Manov (Anm. 7), S. 8 ff.; Mamut (Anm. 37), S. 197. 40 In vielen Werken der Klassiker des Marxismus finden sich Hinweise darauf. So heißt es im "Manifest der Kommunistischen Partei", daß die erste Aufgabe des Proletariats in der Revolution seine "Verwandlung" in eine "herrschende Klasse" sei; in der "Deutschen Ideologie" wird die Forderung erhoben- das Proletariat sei "verpflichtet, vor allem die politische Macht zu erobern" , vgl. darüber Mamut (Anm. 37), S. 209; Manov (Anm. 7), S. 35. 41 Vgl. Manov (Anm. 7), S. 29 f. 42 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 26 f. , 36 ff.; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 242 ff.
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Kapitalismus zum Kommunismus nur eine Diktatur des Proletariats sein kann43 • Die These von der historischen Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats hat als Prämissen die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die Verschärfung der Klassenwidersprüche durch die wachsende Ausbeutung des Proletariats, dessen bewußte revolutionäre Haltung sowie das Fehlen inhaltlicher Alternativen zu dieser Entwicklung trotz der Vielfalt der konkreten historischen Formen des Übergangs zum Sozialismus. Die geschichtliche Entwicklung nach Marx hat jedoch gezeigt, wie wenig diese Prognosen sich bewahrheitet haben. Es sind vielmehr gesellschaftliche Konstellationen entstanclen, in denen die politischen Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Gruppen sich in neuen, von der marxistischen Theorie nicht vorausgesagten und auch nicht erfaßbaren Formen vollzogen haben. Die Oktoberrevolution hat unter Bedingungen stattgefunden, die stark von den Erfordernissen der marxistischen Revolutionstheorie abwichen. Im zaristischen Rußland des Jahres 1917 war kein Massenproletariat mit ausgeprägtem revolutionärem Bewußtsein vorhanden. Auch der andauernde Krieg hat die Revolutionsbedingungen wesentlich verändert. Lenin wollte und konnte nicht zugeben, daß der politische Umsturz, den die revolutionäre Elitepartei der Bolschewiki gegen alle Voraussetzungen der Revolutionstheorie durchzuführen versuchte, eher eine politische Aventure, denn der Vollzug geschichtlicher Notwendigkeit darstellte. Theoretisch wollte Lenin die Irregularität der Oktoberrevolution mit der These rechtfertigen, daß die sozialistische Revolution nicht nur dort, wo alle Bedingungen vorhanden sind, stattfinden wird, sondern gerade in Ländern und unter Umständen, in denen die sozialen Widersprüche- der kapitalistischen wie der noch nicht überwundenen feudalistischen sozialen Beziehungen - am stärksten waren. Und dies sei das zaristische Rußland seinerzeit gewesen (Theorie des "schwächsten Gliedes in der Kette"). Lenin hat auf diese Weise die klassische Revolutionstheorie nicht weiterentwickelt, wie dies von seiten der marxistischen Orthodoxie behauptet wird, sondern sie schlicht durch Aufhebung ihrer wichtigen Prämissen außer Kraft gesetzt und an ihrer Stelle eine neue Lehre zur Rechtfertigung der aktuellen politischen Ereignisse aufgestellt. Die politische und staatliche Gewalt, die im Ergebnis der Oktoberrevolution entstand, war auch nicht eine von der klassischen Theorie konzipierte Diktatur des Proletariats. Sie war die Gewalt einer revolutionären Elitegruppe, die sich von denjenigen, in deren Namen sie auftrat, namentlich vom 43 Der betreffene Passus lautet: "Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats", MEW, Bd. 19, S. 28.
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Proletariat, nie hat durch ein politisches Votum legitimieren lassen. Sie war eine kontingente Eroberung von Staatsgewalt. Die sog. revolutionären Umwälzungen nach dem zweiten Weltkrieg in den Ländern Mittel- und Südosteuropas sind ebenfalls unter äußerst atypischen Bedingungen verlaufen. Hier fehlten die großen sozialen Widersprüche, die zur Revolution führen sollten. Denn das Proletariat war nicht zügellos ausgebeutet, lebte nicht in Elend und war daher nicht zu einer revolutionären Masse geworden, die aus sich heraus den Kampf der Bourgeoisie ansagte. Es fehlte aber auch an einer revolutionären Situation. So war die Machtübernahme nicht das Ergebnis einer Revolution, sondern wurde allein unter dem Druck der Kriegsereignisse vollzogen, die eine übermächtige Armee auf den Plan brachte. Auch die alten Regierungen wurden nicht in einer Revolution von innen gestürzt. Nirgendwo in der Welt hat in der darauffolgenden Zeit eine im Sinne des theoretischen Konzepts sozialistische Revolution stattgefunden, und keine neuerrichtete politisch-staatliche Macht war eine Diktatur des Proletarias. So kann mit zureichendem Grund gesagt werden, daß im Verlauf der Geschichte die "historische Notwendigkeit" der Diktatur des Proletariats sich nicht gezeigt hat, daß eine "objektive Gesetzmäßigkeit" revolutionärer Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine neue Gesellschaftsform, die den Staatstypus der Diktatur des Proletariats mit sich bringt, nicht identifizierbar ist. Eine von der orthodoxen marxistischen Doktrin konzipierte sozialistische Revolution und eine Diktatur des Proletariats sind deshalb nicht eingetreten, weil ihre Voraussetzungen, die zu Marxens Zeiten noch möglich erschienen, sich bislang nirgendwo verwirklicht haben und wahrscheinlich auch in der Zukunft sich nicht verwirklichen werden. Das kapitalistische Gesellschaftssystem hat eine Fülle von immanenten Entwickungsmöglichkeiten hervorgebracht und verwirklicht; soziale Widersprüche sind hier in neuer, spezifischer, von der marxistischen Theorie nicht erfaßten Gestalt entstanden. Die politischen Regime der westlich-demokratischen Staaten zeichnen sich nicht durch eine Abkehr von der eigenen Gesetzlichkeit und auch nicht durch Abbau persönlicher Freiheitsrechte aus, wie dies von marxistischer Seite behauptet wird. Vielmehr haben diese Regime Verfahren und Institutionen ausgebildet, durch die politische Auseinandersetzungen nach demokratischen Spielregeln ausgetragen werden, so daß die Konfliktbewältigung zur Stabilisierung des demokratischen Systems geführt hat. c)- Die Diktatur des Proletariats ist als eine besondere Form von Klassenherrschaft konzipiert worden . Als solche wäre sie ohne weiteres mit allen anderen politischen Klassenorganisationen der Vergangenheit vergleichbar. Sie wäre als die Diktatur der in der sozialistischen Gesellschaft herrschenden Arbeiterklasse zu qualifizieren. Dies will die marxistische Lehre jedoch ver4*
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meiden, indem sie herauszustellen sucht, daß die Herrschafts- insbesondere die Unterdrückungsfunktion der Diktatur des Proletariats nicht ihr ganzes Wesen ausmacht, daß letztere vielmehr konstruktive Aufgaben des Aufbaus einer neuen Gesellschaft zu erfüllen hat. Die Unterdrückung der gestürzten Klasse der Kapitalisten sei vorübergehend, solange diese eine erhebliche politische Kraft darstellt und Widerstand leistet. Aber auch die Unterdrückung selbst sei von "neuer Qualität": sie richte sich zum ersten Mal in der Geschichte nicht gegen die Mehrheit, sondern gegen eine Minderheit in der Gesellschaft. Marx und Engels haben schon sehr früh die Frage nach dem Verhältnis der Diktatur des Proletariats zur Demokratie aufgeworfen44. Das Proletariat errichte nicht nur seine Diktatur, es verwirkliche zugleich die "wahre" Demokratie45. Lenin hat diesen Gedanken weiterentwickelt. Nach seiner markanten Formel ist die Diktatur des Proletariats auf neue Weise demokratisch, d. h. für die Masse des Volkes, für die Werktätigen schlechthin, und auf neue Weise diktatorisch- gegenüber der Bourgeoisie und allen anderen Ausbeutern46. In seinen politischen Schriften gibt Lenin Anweisungen für die Handhabung der Macht, für die "notwendigen Maßnahmen" der Unterdrückung der Bourgeoisie. Hier ist die Rede von den verschiedensten offenen und verfeinerten Formen dieser Unterdrückung, aber auch von der "Neutralisierung" des Kleinbürgertums und von der "Überwindung der schwankenden Haltung" der Bauern47 . All dies verrät ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie. Eine politische Macht, die angeblich die Mehrheit repräsentiert, hält sich für demokratisch, obwohl sie Minderheiten systematisch unterdrückt und versucht, ihnen ihr eigenes Konzept aufzuzwingen. Auch wenn behauptet wird, daß das Proletariat die Bourgeoisie, die herrschende ausbeuterische Klasse war, unterdrückt, und dies im Namen eines Ideals, namentlich des Aufbaus einer humanen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung geschieht, verträgt sich diese These mit keiner wie auch immer gearteten Demokratiekonzeption. Denn eine politisch-staatliche Macht ist nicht demokratisch, wenn sie nicht durch das politische Votum der Repräsentierten regelmäßig legitimiert wird und wenn sie eine ihrer wesentlichen Aufgaben darin sieht, Gruppen in der Gesellschaft zu unterdrücken oder sogar zu "liquidieren", wie dies der Fall mit der Bourgeoisie unter der Herrschaft des Proletariats ist. 44 Schon im "Manifest der Kornmunistischen Partei" wird darauf hingewiesen: es sei erste Aufgabe dieser Partei, herrschende Klasse zu werden und "die Demokratie zu erobern", vgl. dazu Mamut (Anrn. 37), S. 197. 45 Vgl. Manov (Anrn. 7), S. 7 f. 46 Die verschiedenen Aufgaben der Diktatur des Proletariats sowie die Formen des Klassenkampfes mit der gestürzten Klasse der Bourgeoisie sind bei Manov (Anrn. 7, S. 17 ff.) dargestellt. 47 Vgl. Manov (Anrn. 7), S. 19.
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Die Theorie der Diktatur des Proletariats versucht, die eigene Unzulänglichkeit in der Demokratiekonzeption zu überwinden, indem sie die Frage nach dem Bündnispartner des Proletariats in der sozialistischen Revolution und später bei der Errichtung und Handhabung der proletarischen Macht aufwirft. Das Proletariat wird zwar konzeptionell immer als eine sehr große soziale Gruppe hingestellt, dennoch sucht man die soziale Basis der Diktatur des Proletariats durch die Aufnahme insbesondere der breiten Bauernschicht zu erweitern. Dies mußte Lenin allein aus praktisch-politischen Gründen tun, da das Proletariat im Rußland der Revolutionszeit eine Minderheit darstellte. Dies haben schon Marx und Engels theoretisch- vielleicht aus dem Unbehagen an der eigenen Demokratiekonzeption heraus- versucht, und auch später haben alle marxistischen Theoretiker viel Mühe darauf verwendet, diese Einbruchstelle in der Demokratiekonzeption der Diktatur des Proletariats zu erklären, ja sogar als ihre positive Charakteristik zu verteidigen. Die Analyse der sogenannten Bündnisfrage des Proletariats mit den Bauern und anderen nicht proletarischen Schichten braucht sich nicht unbedingt mit dem Problem der "Reinheit" der Konzeption der Herrschaft des Proletariats auseinanderzusetzen. Sie muß jedoch zeigen, wie sich dieses Bündnis des Proletariats, insbesondere mit der Bauernschaft, theoretisch darstellt und wie der politische Führungsanspruch der "Arbeiter- und Bauernmacht" in den sozialistischen Staaten der Gegenwart diesbezüglich konzipiert werden muß. Die Theorie hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß das Proletariat die staatliche Macht nicht- mit wem auch immer- zu teilen beabsichtigt. Deshalb wird die Konzeption eines Bündnisses und nicht die einer gemeinsamen politisch-staatlichen Macht vom Proletariat und anderen sozialen Schichten aufgestellt. Dieses Bündnis besteht nicht zwischen gleichberechtigten Partnern. Es sei eine "besondere Form des Klassenbündnisses, weil dies nicht ein Bündnis absolut gleichbedeutender gesellschaftlicher Kräfte ist, sondern ein Bündnis, in dem das Proletariat die leitende, die führende Rolle besitzt. Ohne diese Führung könne das Endziel, der Aufbau der neuen Gesellschaft, nicht erreicht werden"48, Das Proletariat beansprucht für sich diese führende Rolle aus einer vermeintlich besonderen historischen Mission im Kapitalismus heraus, aus der Position der am stärksten ausgebeuteten Klasse, die einen hohen Grad an Klassenbewußtsein erreicht habe. Nach Lenin ist das Proletariat die Klasse, die "vom Kapitalismus für die Großproduktion geschult und als einzige von den Interessen der Kleineigentümer losgelöst" ist49. Diese These ist geschichtlich weder für das damalige zaristische Rußland noch für die anderen sozialistischen Staaten belegbar. Die behauptete hohe Bewußtheit des Proletariats läßt sich nicht aus seiner materiellen Stellung her48 49
Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 45 f. Zitat von Lenin, a. a. 0 . (Anm. 48), S. 46.
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aus ableiten. Vielmehr wird sie als Ideologie der Kommunistischen Partei zur Durchsetzung ihres Führungsanspruchs in die Masse des Proletariats hineingetragen. Die Kommunistische Partei hat sich auch immer angemaßt, zu bestimmen, welche soziale Klasse ihre Interessen richtig erkennt, und hat im Zusammenhang mit der Bündnisfrage den Standpunkt vertreten, daß die Bauernschaft nicht immer und nicht unmittelbar ihre "objektiven" Interessen erkennt und sich nicht in ihrem sozialen Handeln danach richtet. Daher müsse das Proletariat die führende Rolle übernehmenso. In der politischen Praxis der sozialistischen Staaten ist dieses Bündnis allein als die staatliche Macht der im Namen der Arbeiterklasse sprechenden Kommunistischen Partei gehandhabt worden. In der Sowjetunion hat es anfangs auch rechtlich fixierte Benachteiligungen für die nichtproletarischen Schichten - z. B. im Wahlrecht- gegeben. Dort, und später auch in den anderen sozialistischen Staaten, in denen solche Ungleichheiten formal nicht bestanden haben, hat die Kommunistische Partei immer ungeteilte Machtausübung praktiziert, zugleich jedoch versucht, die Bauernschaft und die Intelligenz als ihre Bündnispartner hinzustellen. d) - Die Diktatur des Proletariats ist nicht nur eine revolutionäre und politische Bewegung, sondern zugleich und vor allem eine neue Staatsform. Die marxistische Staatstheorie sieht in ihr, genauer genommen, einen neuen Staatstypus, der nicht mehr eine ausbeutecisehe Herrschaftsorganisation darstellt und somit dem bürgerlichen Staat, den er geschichtlich ablöst, entgegengesetzt ist. Das bedeutet jedoch nicht, wie bereits dargestellt wurde, daß der proletarische (sozialistische) Staat keine Gewalt mehr ausübt. Im Gegenteil, die Diktatur des Proletariats ist die staatliche Organisation des Proletariats und als solche berufen, die Herrschaftsgewalt der Bourgeois zu brechen, eine eigene Staatsgewalt zu errichten und die ganze Gesellschaft einerneuen Organisation zu unterstellen. Sie wird daher als politische Organisation, politische Macht, Staatsgewalt, zentralistische Leitung und Kontrolle der Gesellschaft bezeichnet. Lenin hat aus den besonderen wirtschaftlichen und politischen Umständen der Oktoberrevolution heraus den gewaltanwendenden und organisierenden Charakter der proletarischen Macht, die als Initiator und Garant aller revolutionären Umwälzung fungiert, hervorgehoben. Die marxistische Staatstheorie hat im Zusammenhang mit der Diktatur des Proletariats Auffassungen über die Aufgabenstellung dieses sozialistischen Staatstypus entwickelt, die weit über die traditionellen Vorstellungen von der Staatsgewalt als Garant der etablierten Rechtsordnung hinausgehen. Es handelt sich hier um neue, konstruktive Funktionen, die der Staat bezüglich der Wirtschaft wahrnimmt, indem er alle Wirtschaftsprozesse einer Planung, Leitung und Kontrolle unterzieht. Solche Funktionen des Staates zu konstruieren so Vgl. Manov (Anm. 7), S. 21 f .
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ist nur folgerichtig, wenn man berücksichtigt, daß die wichtigste Prämisse der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft die Verstaatlichung des produktiven Eigentums ist. Dieses Eigentum, das nicht mehr in privater Hand ist, muß bewirtschaftet und verwaltet werden, was durch staatliche Wirtschaftsunternehmen und staatliche Verwaltungsorgane geschieht. Das Zusammenfallen von politischer und wirtschaftlicher Macht ist, so gesehen, eine der tragenden Ideen jeder marxistischen Gesellschaftstheorie51. Die weiteren Funktionen, die dem sozialistischen Staat als Diktatur des Proletariats zugewiesen werden, so insbesondere im Bereich des geistig-kulturellen Lebens oder bei der Umerziehung des Individuums, und die ihn als eine neue totalitäre Herrschaftsform charakterisieren, werden im einzelnen im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit und den Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse durch Staat und Recht erörtert (s. unten Kap. IV). Hier soll nur hervorgehoben werden, daß die marxistische Staatstheorie all diese Funktionen der Diktatur des Proletariats als besondere Eigenschaften dieser Herrschaftsform hervorhebt und letztere im Vergleich zu allen vorangegangenen Staatsformen, die sich angeblich nur auf die Stabilisierung der Klassenherrschaft beschränken, als eine vollkommenere und geschichtlich höhere hinstellt52. Trotz ihrer konstruktiven Aufgaben ist die Diktatur des Proletariats dennoch eine Form der Klassenherrschaft. Als solche ist sie mit allen vorangegangenen Herrschaftsformen prinzipiell vergleichbar. Damit sie dadurch nicht disqualifiziert wird, hebt die marxistische Theorie hervor, daß die Diktatur des Proletariats nicht auf eine Perpetuierung ihrer Herrschaft, sondern vielmehr auf ihre Beendigung hinziele. Und gerade dieses Element haben auch die Klassiker des Marxismus in die Konzeption der Diktatur des Proletariats als einer besonderen Herrschaftsform aufgenommen. Immer wieder haben sie in ihren Schriften (z. B. "Deutsche Ideologie", "Elend der Philosophie", "Manifest der Kommunistischen Partei") darauf hingewiesen, daß der Klassenantagonismus, der daraus resultierende Klassenkampf und die ungleiche Klassenstruktur der Gesellschaft beseitigt werden müssen, und daß dies nur durch die Herrschaft des Proletariats geschehen kann und wird53. Die Vorstellung von der Beendigung der Klassengegensätze, ja jeglicher hierarchischer Strukturen in der Gesellschaft ist nur folgerichtig, wenn man sie im Zusammenhang mit der Lehre von den sogenannten historischen Gesellschaftsformationen betrachtet, nach der jede solche Gesellschaftsformation durch die jeweils höhere "geschichtlich notwendig" abgelöst wird, und so die 51 Zur Frage des Verhältnisses von Ökonomie und Politik sowie zur "Einheit" der politischen und wirtschaftlichen Leitung der sozialistischen Gesellschaft Manov (Anm. 7), S. 32 f. , 43. 52 Vgl. im einzelnen zu diesen Funktionen Manov (Anm. 7), S. 33, 44 ff. 53 Vgl. Mamut (Anm. 37), S. 197 f.
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Entwicklung zu einer kommunistischen Gesellschaft führt, die frei von der Herrschaft einer bestimmten Klasse sein werde. Bei Marx und Engels war diese Vorstellung eher visionär als programmatisch. Sie stimmte mit dem Charakter ihrer Gesellschaftstheorie überein. Deshalb war durchaus verständlich, wenn sie die näheren Bedingungen, unter denen sich die Auflösung der Diktatur des Proletariats vollziehen sollte, nie näher angegeben und nur auf die lange Zeitdauer des historischen Prozesses hingewiesen haben. Lenin, der sonst seine politischen Ideen immer an konkreten, praktisch-politischen Aufgaben fixiert hat, ist hierin gleichermaßen visionär geblieben. Er nennt nicht die Bedingungen, unter denen die Diktatur des Proletariats ihre Existenz beendigen wird, spricht in diesem Zusammenhang nur von einem Wegfall "jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" und von "endgültigem Aufbau und Festigung des Sozialismus"54. Die These von der Auflösung der Diktatur des Proletariats hat keine weitere theoretische Präzisierung erfahren, und dennoch hat sie in der marxistischen Theorie über ein Jahrhundert lang ihre Gültigkeit behalten. Auf sie wird immer Bezug genommen, um herauszustellen, daß die Diktatur des Proletariats ein wirklich neuartiges Phänomen politischer und staatlicher Macht darstellt, fortschrittlich und zukunftsweisend. Zu Zeiten von Marx und Engels war die sozial-utopische, werbende Wirkung dieser These noch groß. Schwer zu vereinbaren war jedoch die These mit dem ausgesprochenen etatistischen Charakter der Leuinsehen Vorstellungen, die in einer problemgeladenen sozialen Wirklichkeit zu bestehen hatten und unmittelbare Entscheidungsstützen für die praktisch-politische Tätigkeit bei der Errichtung und Konsolidierung der Sowjetmacht geben sollten. Unter diesen Umständen war ernsthaft an eine Aufhebung der staatlichen Gewalt aus sich heraus nicht zu denken. Und Lenin hat immer gegen alle Versuche der Schwächung der Sowjetmacht, als was sich ihm die Vorstellungen einer Dezentralisierung und Liberalisierung der Staatsmacht darstellten, angekämpft. Die Stalin-Ära war später ohnehin durch eine völlige Etatisierung der Gesellschaft, die keinen Platz für liberalistische, die staatliche Macht einschränkende Ideen zuließ, gekennzeichnet. Aber auch in der darauf folgenden Zeit war seitens der regierenden Kommunistischen Parteien nie ein Versuch unternommen worden, im Sinne der ursprünglichen Doktrin die Diktatur des Proletariats als Herrschaftsform in dem Maße, in dem die sozialistischen sozialen Beziehungen sich entwickelt haben, abzubauen. Im Gegenteil: vor allem auf Machtstabilisierung bedacht, haben die Kommunistischen Parteien und Regierungen in den sozialistischen Staaten ihre ungeteilte Machtposition ständig erweitert und versucht, sie theoretisch zu begründen. Es war zunächst der noch angeblich andauernde Klassenkampf, der es verhinderte, die Staatsgewalt zu beschränken. Dann war die 54
Vgl. die Stellennachweise bei Mamut (Anm. 37), S. 214.
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feindliche kapitalistische Umgebung der Grund für die Fortdauer und Festigung der Diktatur des Proletariats. Noch merkwürdiger jedoch nehmen sich die Erklärungsversuche der Gegenwart aus. In den letzten Jahrzehnten wurde die Konzeption der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die sich in den sozialistischen Staaten allmählich etabliere, aufgestellt. Diese Gesellschaft kenne keine sozialen Klassen mit antagonistischen Interessen. Auch herrschten hier angeblich einheitliche ethische und politische Anschauungen. Unter diesen Umständen müßte die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats entfallen. Dieses folgerichtige Ergebnis ist nicht eingetreten. Es wurde zunichte gemacht durch die Behauptung - und dies sei das Kennzeichnende der neuen sozialen Epoche-, daß die Diktatur des Proletariats als die letzte Staatsgewalt sich nicht auflöst, sondern Platz für eine neue Staatsform, den sogenannten Staat des ganzen Volkes (Volksstaat), macht. Es vollzog sich also nicht eine Einschränkung oder gar Beseitigung staatlich-hierarchischer Strukturen, wie die marxistische Theorie es vorausgesagt hatte. Der Staat bleibt im neuen Gewand bestehen, und alle sozialen Aufgaben werden weiterhin durch seine Vermittlung realisiert. Die These von der Aufhebung der Diktatur des Proletariats wird theoretisch ad absurdum geführt. Aufrechterhalten bleibt nur noch die Vision der Aufhebung (des Absterbens) des Staates in weiterer Zukunft, in der "kommunistischen Gesellschaft". Aber diese These ist, wie unten noch darzustellen sein wird, voller Widersprüche (s. Kap. V .).
3. Staat und soziale Gruppen. Der "Volksstaat" a) -In der Gegenwart hat sich eine tiefgreifende Wandlung in der Staatskonzeption der marxistisch-sozialistischen Staatstheorie vollzogen. Der sozialistische Staat wird nunmehr nicht als politische Organisation einer sozialen Klasse, der Arbeiterklasse, angesehen, sondern als die des ganzen (werktätigen) Volkes. Staat des ganzen Volkes oder auch "Volksstaat" lautet die Formel. Sie bezieht sich naturgemäß nur auf den sozialistischen Staat in der entwickelten Gesellschaft des Sozialismus. Dadurch bleibt die allgemeine Auffassung vom Staat als der Organisation der jeweils in der Gesellschaft herrschenden Klasse unberührt. In der Theorie der letzten 20 Jahre sind die Bemühungen, diese These zu fundieren, auf allen Gebieten weit gediehen. Man kann sagen, daß es heute eine Theorie des Volksstaates neben der Theorie der Diktatur des Proletariats gibt und daß erstere erneut zur Auseinandersetzung herausfordert. Dadurch kann und wird die Theorie der Diktatur des Proletariats nicht in Vergessenheit geraten, weil sie den eigentlichen staatstheoretischen Beitrag des Marxismus darstellt. Sie wird weiterhin als Modell einer Konflikttheorie der Gesellschaft und ihrer staatlichen Organisation fungieren. Von den marxistischen Theore-
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tikern wird auch nicht behauptet, daß die Theorie des Volksstaates die der Diktatur des Proletariats als Erklärungsmodell für staatlich organisierte Gesellschaften ersetzen soll. Sie sei vielmehr eine Weiterentwicklung der letzteren und sei bestimmt, die Strukturen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu erklären und unter staatstheoretischem Aspekt zu definieren. Die neue Theorie läßt sich jedoch schwerlich als Weiterentwicklung der Theorie der Diktatur des Proletariats präsentieren, weil sie von ganz anderen Prämissen ausgeht, namentlich von einer Gesellschaft, die nicht in Klassen mit antagonistischen Interessen geteilt ist. Die Klassenteilung und die Klassengegensätzlichkeit waren aber die wichtigsten Prämissen der marxistischen Staatstheorie, die die ganze Konzeption vom Staat als einem Instrument zur Ausübung von Klassenherrschaft stützte. Man kann nicht die Prämissen einer Theorie wegfallen lassen und behaupten, die neue Theorie, die von ganz anderen Prämissen ausgeht, sei eine Weiterentwicklung der früheren. Die Theorie des Volksstaates paßt aber nicht in den großen funktionellen Rahmen hinein, den der Marxismus für die Entwicklung der Staatlichkeil schlechthin aufgezeichnet hat. Denn der kapitalistische Staat sollte durch einen neuen Staatstypus, die Diktatur des Proletariats, abgelöst werden, und dieser Staatstypus sollte für die ganze "Übergangsperiode" zwischen Kapitalismus und Kommunismus bestehen bleiben55. Die marxistischen Staatstheoretiker der Gegenwart greifen hier eine "korrigierende" Äußerung von Lenin auf, nach der diese Übergangsperiode nicht bis zum Kommunismus, sondern nur bis zum Aufbau des Sozialismus reiche56. Aber auch diese Erklärung ist nicht tragfähig, weil es bei Lenin an einer Staatstheorie, die nicht Diktatur des Proletariats ist, gänzlich fehlt, und die gelegentlichen Hinweise auf die Zeit nach der Diktatur des Proletariats, die mit dem Aufbau neuer gesellschaftlicher Beziehungen endet, beziehen sich auf die sogenannte kommunistische gesellschaftliche Selbstverwaltung, die den Staat ablöst, und nicht auf die neue Qualität eines seine typischen Merkmale im wesentlichen bewahrenden Staates. Die Konstruktion eines sozialistischen Volksstaates ist zum ersten Mal im Programm der KPdSU verankert. Dort heißt es: "Die Partei geht davon aus, daß die Diktatur der Arbeiterklasse früher aufhört, notwendig zu sein, als der 55 Diese Prognose ist in dem berühmten Satz aus der "Kritik des Gothaer Programms" enthalten, in dem der Staat dieser Übergangsperiode "nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats", MEW, Bd. 19, S. 28. 56 Lenin schreibt: "Der Staat der sozialistischen Gesellschaft stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten ... mehr gibt und man daher auch keine Klasse mehr unterdrücken kann ... Der Staat ist aber noch nicht ganz abgestorben ... Zum vollständigen Absterben des Staates bedarf es des vollständigen Kommunismus". Diese und andere Äußerungen lassen nicht erkennen, wo der Platz für einen Staat ist, der als Volksstaat unter "nichtantagonistischen" Klassenstrukturen fungiert; vgl. für eine gegenteilige Auslegung dieser Leninschen Äußerungen Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 63.
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Staat abstirbt. Der Staat, der eine Organisation des gesamten Volkes ist, wird bis zum völligen Sieg des Kommunismus fortbestehen". Die Autoren des sowjetischen Standardwerkes über Staats- und Rechtstheorie kommentieren diesen Passus folgendermaßen: "Hier wird hervorgehoben, daß es unzulässig ist, die Diktatur des Proletariats und den sozialistischen Staat miteinander gleichzusetzen. Letzterer ist das Hauptinstrument der Diktatur der Arbeiterklasse in der Periode bis zum vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus; unter den Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft hingegen ist er Ausdruck der Macht des gesamtes Volkes. Der Terminus, Staat des gesamten Volkes, den das Programm der KPdSU verwendet, bringt das Wesen des Staates der Periode der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zum Ausdruck"57. b) - Die Theorie des Volksstaates soll jedoch nicht als ein willkürliches Konstrukt erscheinen:. Sie legt daher die Bedingungen dar, die auf wirtschaftlichem, politischem und ideologischem Gebiet erfüllt sein müssen, damit der Staat der Diktatur des Proletariats die neue Qualität eines Volksstaates erhält. Auf ökonomischem Gebiet zeichne sich die Entwicklung durch die vollständige Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, den Ausbau des sozialistischen Wirtschaftssystems, durch die Planung und Leitung der gesamten Volkswirtschaft aus. Dieser Befund wird qualifiziert als der vollständige Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Er führe zur Aufhebung der Grundlagen jeglicher Art ökonomischer Ausbeutung. Damit gehe eine Veränderung der Klassenstruktur der Gesellschaft einher: es bestehen keine Ausbeuterklassen mehr, und die Teilung der Gesellschaft in Klassen mit entgegengesetzten Interessen ist beseitigt. Es wird behauptet, daß eine neue "sozialökonomische Gemeinschaft", die die Arbeiter, Bauern und die Schicht der Intelligenz umfaßt, entstanden ist. In der Sowjetunion haben sich diese sozialen Änderungen bereits in den 30iger Jahren vollzogen und seien in der Verfassung von 1936 rechtlich fixiert worden. Die anderen sozialistischen Länder befinden sich seit den 60iger Jahren in der Phase des Aufbaus einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft58. In den sozialistischen Staaten wurde ziemlich früh die herrschende Klasse der Bourgeoisie beseitigt und den noch verbliebenen Vertretern dieser Klasse jede politische Potenz genommen. Die ganze Wirtschaft war vom sozialistischen Staat beherrscht, der auch dafür gesorgt hatte, daß die Bauern, die Handwerker und sonstige kleine Gewerbetreibende in das sozialistische Wirtschaftssystem integriert wurden. Der bewußte "Klassenantagonismus" zwischen Bourgeoisie und Proletariat war entfallen und somit auch die wichtigste Voraussetzung für die Erhaltung der Diktatur des Proletariats. Dennoch 57 58
Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 64. S. 52 ff.; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 259 ff.
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wurde in dieser Zeit weder in der Sowjetunion noch in den anderen sozialistischen Ländern die Diktatur des Proletariats für überwunden erklärt. Und während für die Sowjetunion die Erklärung dafür in den durch den Krieg geschaffenen schwierigen politischen Bedingungen gesucht werden konnte, so bestand in den anderen sozialistischen Staaten dafür kein ersichtlicher Grund. Dieses Phänomen durch den Stand des Klassenbewußtseins und insbesondere dadurch erklären zu wollen, daß einzelne Schichten und Klassen in der Gesellschaft nicht das entsprechende sozialistische Bewußtsein nach Vorbild der Arbeiterklasse erreicht haben, erscheint fragwürdig. In einigen Ländern (z. B. DDR, CSSR) kam es zu der merkwürdigen Erscheinung, daß in den 60iger Jahren die sozialistische Gesellschaft für entwickelt und der Staat- bislang als Diktatur des Proletariats qualifiziert- zu einem "Volksstaat" erklärt wurde; später jedoch kehrte man zu der alten Auffassung zurück, nach der der Staat nach wie vor und für längere Zeit noch eine Diktatur des Proletariats bleibt59. Ein weiteres grundlegendes Merkmal der entwickelten sozialistischen Gesellschaft stelle die Vervollkommnung ihres politischen Systems dar. Es zeige sich in folgendem: "Es verfestigt sich die sozialistische Gesellschafts- und Staatsordnung; wird die Demokratie entwickelt, vertieft und vervollkommnet, vor allem im Sinne einer wachsenden Beteiligung der Bevölkerung an der Leitung der staatlichen Angelegenheiten; die Rechte und Freiheiten der Bürger erhalten einen immer tieferen Inhalt; die wirtschaftlich-organisatorische und die kulturell-erzieherische Funktion des sozialistischen Staates werden allseitig entwickelt"60. So allgemein wird der Zustand des politischen Systems beschrieben, an dem keine neuen Elemente zu erkennen sind. Denn schon immer hat man von der Festigung der politischen Ordnung, von der Erweiterung der sozialistischen Demokratie, von der Stärkung der Rechte der einzelnen usw. -auch in der Blütezeit der Diktatur des Proletariats - gesprochen. Die durchgeführten Reformen, z. B. die Schaffung von neuen Organen des Staates und der Kommunistischen Parteien, wie in Rumänien und Bulgarien, denen Koordinierungs- und Kontrollfunktionen zugewiesen werden61, ändern nichts an diesem Befund. Denn es handelt sich hier nicht um neue Elemente des politischen Systems, die die Qualität des Systems verändern, sondern lediglich um Maßnahmen zur Erhöhung der Effektivität der Ausübung der ungeteilten politischen Macht durch die Kommunistische Partei. Auch wurden keine wesentlich 59 Vgl. hierüber und für weitere Einzelheiten L. Schultz, Die entwickelte sozialistische Gesellschaft als neue Phase in der Entwicklung der sozialistischen Staaten, Recht in Ost und West 1975, S. 150 ff., insbes. S. 155; P. Dojcak (Hrsg.), Te6ria stätu a pniva (Staats- und Rechtstheorie), Bratislava 1977, S. 386 ff. 60 Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 52. 61 Vgl. Schultz (Anm. 59), S. 155.
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neuen Institutionen und Verfahren geschaffen, die die politischen Entscheidungen auf eine breitere demokratische Basis gestellt hätten. Die politischen Rechte der Bürger waren und sind in keiner Weise verstärkt worden. Die sogenannte Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten an der staatlichen Leitungstätigkeit geht nicht über den üblichen vordergründig legitimatorischakklamatorischen Effekt hinaus. Verfassungsbeschwerden bei Verletzung subjektiver Rechte durch den Gesetzgeber blieben unzulässig, und nicht einmal der Weg zu den ordentlichen Gerichten bei belastenden fehlerhaften Verwaltungsakten war hier über den früher bekannten minimalen Maßstab hinaus in der Zeit der sogenannten entwickelten sozialistischen Gesellschaft eröffnet worden. Und wenn man bedenkt, daß die allseitige Stärkung des sozialistischen Staates- auch in der Form des Volksstaates- sowie die führenden Rolle der Kommunistischen Partei als Merkmale und unverzichtbare Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft hervorgehoben werden62, rundet sich das Bild einer im Grunde totalitär gebliebenen Gesellschaft ab. Als letztes Erfordernis und zugleich Charakteristik der entwickelten sozialistischen Gesellschaft wird die Erreichung eines entsprechenden Bewußtseinsstandes angegeben. Es vollziehe sich ein "ständiges Wachsen des Niveaus der Bewußtheit und Kultur der werktätigen Klassen, es verstärkt sich der Einfluß der in der Gesellschaft herrschenden sozialistischen Ideologie auf die Bauern und auf die Intelligenz, die allmählich zur Ideologie des gesamten Volkes wird"63. Auf dem Gebiet der Bewußtseinsbildung ist es jedoch sehr problematisch, Änderungen und Entwicklungen genau festzustellen. Man kann zwar behaupten, daß sich Wissenschaft und Bildung entwickeln, daß die Kultur aufblüht, daß "die gesellschaftlichen Möglichkeiten für die allseitige Entwicklung der Fähigkeiten und der schöpferischen Aktivität der Werktätigen"64 größer werden, inwiefern aber eine "sozialistische Ideologie", die marxistisch-leninistischen Ideen und Ideale des Kommunismus ins Bewußtsein der Menschen eindringen und von ihnen zur eigenen politischen und ethischen Anschauung gemacht werden, läßt sich nur sagen, wenn politische Meinungsäußerungen ungehindert möglich wären, wenn unvoreingenommene Umfragen durchgeführt würden. Dies war aber in den sozialistischen Staaten noch nie der Fall. Die herrschenden Kommunistischen Parteien errichten hier ein Ideologiemonopol: Die Ideologie der Partei wird zunächst zur Ideologie der Arbeiterklasse erklärt, ohne daß man jemals versucht hätte, die tatsächlich existierenden Vorstellungen und Anschauungen innerhalb dieser Klasse zu ermitteln. In der sogenannten entwickelten sozialistischen Gesellschaft wird dann behauptet, daß diese Ideologie der Arbeiterklasse auch die anderen sozialen Gruppen und Schichten erfasse, so daß daraus eine "moralisch-politische Einheit" der 62
63
Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 74 ff.
s. 52.
64 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie {Anm. 1), S. 269.
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gesamten Bevölkerung entstehe65. Die Kommunistischen Parteien haben aber nie geprüft, welche politischen Ansichten in den anderen sozialen Gruppen und Schichten der Gesellschaft vertreten werden und waren auch nie ernsthaft daran interessiert. Sie haben es auch nicht zugelassen, daß politische Alternativprogramme zu dem Programm der Kommunistischen Partei aufgestellt werden. Insofern besteht kein Unterschied zwischen dem Einparteiensystem der Sowjetunion und den Mehrparteiensystemen in den anderen sozialistischen Staaten. Denn die sogenannten Blockparteien haben hier nicht eine effektive Rolle bei der Formulierung und Durchsetzung einer politischen Plattform zu spielen und haben auch nicht die Stellung einer politischen Opposition. Sie sind vielmehr zu Ausführungsorganen der herrschenden Kommunistischen Partei degradiert und halten nur einen Schein von Selbständigkeit aufrecht. Gerade auf dem "ideologischen" Gebiet ist es aber leicht für die politische Führung zu behaupten, daß der jeweils angestrebte Bewußtseinszustand noch nicht oder schon erreicht worden ist, und daraus die Konsequenz zu ziehen, man sei bereits in die Phase der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" eingetreten. Zuerst hat die Sowjetunion für sich diese Entwicklungsstufe in Anspruch genommen, und nachher haben auch andere sozialistische Staaten dies getan, indem hier allerdings immer eine Distanz zur fortgeschritteneren Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft gewahrt blieb. Die Schwierigkeiten im Prozeß der Bewußtseinsbildung werden oft im Zusammenhang mit Einwirkungen der "imperialistischen" Ideologie gebracht: "Das sozialistische Bewußtsein der Arbeiterklasse, der Klasse der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und mehr noch der Handwerker und Gewerbetreibenden entwikkelt sich auch nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse in unterschiedlichem Tempo und auf unterschiedliche Weise. Neben den zwischen diesen werktätigen Klassen und Schichten noch vorhandenen sozialökonomischen Unterschieden beeinflussen auch Tradition und andere Faktoren die Bewußtseinsentwicklung. Vor allem aber versuchen die imperialistischen Kräfte, in vielfältiger Weise und unter Ausnutzung der modernen Wissenschaft und Technik auf diesen komplizierten Prozeß von außen einzuwirken und ihn für ihre antikommunistischen politischen Ziele zu nutzen"66. c)- Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie hat eine Periodisierung der Entwicklung des sozialistischen Staates erarbeitet, die an die Entwicklungs65 In der Sowjetunion ist im Ergebnis der neu vorgenommenen Qualifikationen der sozialen Strukturen der Begriff "Sowjetvolk" geprägt worden. Im Rechenschaftsbericht des XXV. Parteitages der KPdSU heißt es: "Wir gingen und gehen davon aus, daß bei uns eine neue historische Gemeinschaft, das Sowjetvolk, entstanden ist, das auf dem unverbrüchlichen Bündnis der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Intelligenz bei führender Rolle der Arbeiterklasse sowie der Freundschaft aller Nationen und Völkerschaften des Landes beruht", XXV. Parteitag der KPdSU. Rechenschaftsbericht, Berlin (Ost) 1976, S. 99; vgl. auch A. Bilinsky, Die "neue historische Kategorie" - Sowjetvolk, Recht in Ost und West 1977, S. 123 ff. 66 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1}, S. 264 f.
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etappen der sozialistischen Gesellschaft anknüpft. Danach ist die Diktatur des Proletariats der Staat der Übergangsphase von Kapitalismus zum Sozialismus, der solange als Herrschaftsorganisation einer Klasse (des Proletariats) verbleibt, wie die sozialistische Gesellschaft ihrer sozialen Struktur und ihrer Ideologie nach nicht voll entwickelt ist. Die oben bereits dargestellten charakteristischen Merkmale auf ökonomischem, politischem und ideologischem Gebiet zeigen, daß ihre Verwirklichung auf eine voll entwickelte sozialistische Gesellschaft hindeutet. Der entwickelten sozialistischen Gesellschaft entspricht nunmehr der Staat des ganzen Volkes. Dieser Staat geht später- in einer nicht genau bestimmten Zukunft - in die Selbstverwaltung der kommunistischen Gesellschaft über67. Es wird darauf hingewiesen, daß "die Periode des Hinüberwachsens des proletarischen Staates in den Staat des gesamten Volkes, die chronologisch der Periode des Aufbauens der entwickelten sozialistischen Gesellschaft entspricht, für alle sozialistischen Staaten unabdingbar (ist) und unabhängig von ihrer Dauer für alle Staaten eine allgemeine Gesetzmäßigkeit ( darstellt)"68. Das bedeutet, daß die zeitliche Spanne unwesentlich ist, daß die konkreten, ökonomischen und politischen Bedingungen eines jeden Landes den Ausschlag für diese letztlich notwendige Umwandlung des Staates geben. Diese Konzeption, die auf den ersten Blick dynamisch und flexibel erscheint, so als ob sie entwicklungsimmanenten Besonderheiten der jeweiligen sozialistischen Gesellschaft Rechnung trüge, eröffnet in Wirklichkeit Möglichkeiten zu Spekulationen und stellt das Urteil über den erreichten Entwicklungsstand der Gesellschaft in das Belieben der herrschenden Kommunistischen Parteien. Diese haben davon auch reichlich Gebrauch gemacht. So wird mehr oder weniger willkürlich behauptet, daß sich bereits die jeweilige Gesellschaft in der Phase der entwickelten sozialistischen Gesellschaft befinde oder daß sie auf dem Wege dahin sei. Die DDR z. B. hat innerhalb weniger Jahre für sich erklärt, daß die Diktatur des Proletariats in eine neue Phase eingetreten sei, nämlich in einen Staat des gesamten Volkes; später jedoch behauptet, daß der Staat weiterhin als Diktatur des Proletariats fungieren muß. Wie bereits oben gezeigt wurde, sind die einzelnen Merkmale der sogenannten entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu pauschal formuliert (z. B. die behauptete moralisch-politische Einheit des Volkes) , so daß ihr Vorhandensein unschwer behauptet werden kann. Die regierenden Kommunistischen Parteien haben außerdem kein Interesse, durch Umfragen und sonstige empirisch-soziologische Methoden festzustellen, ob diese konstitutiven Merkmale tatsächlich gegeben sind (z. B. die Nivellierung der Klassenunterschiede bei 67 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 59 ff.; Dojcak (Anm. 59), S. 381 ff. 68 Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 61.
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Anerkennung der führenden Rolle der Arbeiterklasse bzw. der Kommunistischen Partei). Aber nicht nur die Kategorie der entwickelten sozialistischen Gesellschaft leidet an begrifflichen Unzulänglichkeiten. Für die anderen Entwicklungsphasen der sozialistischen Gesellschaft werden ebenfalls undifferenzierte Formulierungen gebraucht. So wird die erste Periode als die des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus bezeichnet, in der nach allgemeiner Auffassung der sozialistische Staat die Form der Diktatur des Proletariats annimmt; dann wird der "Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse", mit dem diese erste Periode endet, diagnostiziert. Trotz dieses "Sieges" bleibt aber der Staat noch Diktatur des Proletariats. Obwohl die sozialistischen Produktionsverhältnisse sich durchgesetzt haben und die Grundlagen des Sozialismus gelegt worden sind- was zu der Schlußfolgerung führen sollte, daß nunmehr die sozialistische Gesellschaft aufgebaut ist-, sei letzteres nicht der Fall. Denn erst jetzt trete man in die Periode der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in der der Staat weiterhin eine Diktatur des Proletariats bleibe. In unbestimmt langen Zeiten wird diese entwickelte Gesellschaft dann aufgebaut, bis eines Tages proklamiert wird, daß sie aufgebaut ist und daß der Staat, der der entwickelten sozialistischen Gesellschaft entspricht, nunmehr ein Volksstaat ist. Und nun beginne eine neue Phase, namentlich die des Aufbaus der Grundlagen des Kommunismus, in der der Staat für längere Zeit ein Volksstaat ist, dann aber allmählich sich in eine kommunistische Selbstverwaltung umwandelt. Diese Thesen werden in der gegenwärtigen marxistisch-sozialistischen staatstheoretischen Literatur im wesentlichen geteilt69. Mitunter wird auch die Nuancierung zwischen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus, Eintreten in den Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und dieser Gesellschaft selbst durchgeführt, die rechtfertigen sollte, daß der Staat z. B. in der DDR noch nicht als Volksstaat zu qualifizieren ist, weil die sozialistische Gesellschaft noch nicht vollständig aufgebaut sei70. In der Sowjetunion ist vereinzelt die These vertreten worden, daß es eine Zwischenform des Staates geben soll, zwischen der Diktatur des Proletariats und dem Volksstaat, die der noch nicht voll entwickelten sozialistischen Gesellschaft entspricht71. Die These vom Staat des ganzen Volkes ist nicht nur in Bezug auf ihre Prämissen inkonsistent, sie ist auch in ihrer Substanz unstimmig. Dies betrifft in erster Linie die Aussage, daß der Staat des ganzen Volkes ein Klassenstaat sei oder, was auf dasselbe hinausläuft, daß er Klassencharakter trüge.
69 70
71
s. 59 ff. ' 63 ff. Vgl. Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 258 ff. Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie , Bd. 3 (Anm. 11), S. 60 mit Nachw.
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Der Klassencharakter war aber die wesentliche Eigenschaft der Diktatur des Proletariats, die als Herrschaftsorganisation gerade des Proletariats die revolutionäre Aufgabe hatte, die Klasse der Bourgeoisie aus allen Machtpositionen- politischen wie ökonomischen- zu verdrängen, und sie in der Leitung der Gesellschaft zu ersetzen. Die Diktatur des Proletariats war verankert in der antagonistischen Klassengesellschaft. Sie sollte u. a. Unterdrückung und Ausbeutung des Proletariats beseitigen, die gestürzte Klasse der Bourgeoisie, solange dies nötig war, unterdrücken, letztlich aber die eigene Unterdrükkungsfunktion überwinden. Wenn aber die Bourgeoisie ihre politische wie wirtschaftliche Macht verloren hat, wenn die sozialistischen politischen Verhältnisse und Produktionsverhältnisse "gesiegt" haben, wenn die bürgerliche Klasse als herrschende Klasse nicht mehr existiert, dann entfällt auch die spezifische Unterdrückungsfunktion der Diktatur des Proletariats, und sie ist nicht mehr in dem ursprünglichen Sinne eine Organisation und ein Instrument der Klassenherrschaft (des Proletariats). So ist es in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in der nach herrschender Auffassung zwar soziale Klassen bestehen, diese jedoch keine antagonistischen Interessen und entgegengesetzten politischen Ziele haben, nicht mehr begründet, von einem Klassenwesen des sozialistischen Staates (Volksstaates) zu sprechen72. Diese fehlende Prämisse des neuen sozialistischen Staates müßten auch die sozialistischen Staatstheoretiker sehen. Weichelt schreibt in dem Standard-Lehrbuch für Staats- und Rechtstheorie der DDR dazu: "Ein entscheidendes Merkmal des Staates der Diktatur des Proletariats verschwindet nunmehr endgültig: Die Ausübung der politischen und ökonomischen Klassendiktatur gegenüber der gestürzten, aber noch nicht vollständig beseitigten Ausbeuterklasse. Der sozialistische Staat des ganzen Volkes ist daher hinsichtlich der Innenstruktur der sozialistischen Gesellschaft kein Instrument der Klassenherrschaft mehr. Seine soziale Basis ist das gesamte Volk, das aus befreundeten werktätigen Klassen und Schichten besteht, die unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei immer bewußter und enger zusammenarbeiten"73. Wenn dies aber wahr ist, müßte die Konsequenz daraus sein, daß der Staat n Diese Konsequenz scheint Janev zu sehen und bezeichnet daher den Volksstaat als Mehrklassenstaat der Arbeiter, Bauern und der Intelligenz, der sich zur kommunistischen gesellschaftlichen Selbstverwaltung hin entwickelt (vgl. J. Janev, Rezension des Buches von M. Batin "Wege und Funktionen des sozialistischen Staates", Pravna misül 1980, Nr. 3, S. 14). 73 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anni. 1), S. 269; Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 67: "Mit anderen Worten, wenn wir vom Staat des gesamten Volkes sprechen, so handelt es sich nicht um einen neuen Staatstypus, sondern um eine neue Etappe in der Entwicklung des sozialistischen Staates in der Periode des Aufbaus des Kommunismus. Diese neue Etappe ist dadurch gekennzeichnet, daß im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Klassenantagonismen in der Gesellschaft der Staat kein Instrument der Klassenherrschaft mehr ist". 5 Petev
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seinen Klassencharakter, der durch die Gegensätzlichkeit der sozialen Klassen und den Kampf zwischen ihnen begründet war, verliert. Die herrschende Lehre vertritt jedoch nach wie vor die Auffassung, daß der Staat auch in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft Klassencharakter trägt. Sie verfälscht somit die ursprüngliche Konzeption des Staates als Klassenorganisation der jeweils herrschenden Klasse in der Gesellschaft. Denn diese Konzeption erhält nur Sinn durch die Gegensätzlichkeit der Interessen der sozialen Klassen. Aber in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft haben nach übereinstimmender Auffassung die sozialen Gruppen und Klassen gerade keine gegensätzlichen Interessen. Diese Lehre versucht, für den Klassencharakter des Volksstaats eine neue Begründung zu geben. Sie hebt hervor, daß die entwickelte sozialistische Gesellschaft keine klassenlose Gesellschaft sei, was in der Tat zutrifft. Nach ihr sind die sozialen Klassen und Schichten voneinander durch die Bedingungen ihrer Arbeit (lndustriearbeit, Arbeit in der Landwirtschaft, körperliche und geistige Arbeit), durch die Art ihres Lebens (Stadt, Land) sowie den unterschiedlichen Stand des Klassenbewußtseins voneinander zu unterscheiden. In ihrer Entwicklung näherten sich die einzelnen Klassen einander an, indem sie dem Vorbild der Arbeiterklasse folgten . Die Arbeiterklasse erhalte dabei ihre führende Stellung und Rolle in der Gesellschaft, weil sie Träger der Entwicklung neuer Formen der Arbeit, einer hohen Produktionskultur und Arbeitsmoral sowie kommunistischer Lebens- und Verhaltensweisen sei. Im Rechenschaftsbericht des XXV. Parteitages der KPdSU heißt es dazu: "Die führende Rolle der Arbeiterklasse als des Erbauers des Kommunismus festigt sich in dem Maße, wie ihre allgemeine Kultur, ihr Bildungsstand und ihre politische Aktivität zunehmen" 74 • So bleibe der Staat, solange es Klassenunterschiede gäbe, ein Klassenstaat, obwohl er als Staat des gesamten Volkes qualifiziert wird. Diese Begründung ist in sich widersprüchlich und reicht keineswegs aus, den Volksstaat auch in diesem neuen Sinne als Klassenorganisation zu qualifizieren. Eine "führende" Rolle der Arbeiterklasse, die als das "wichtigste Merkmal für den Klassencharakter des sozialistischen Staates des ganzen Volkes" angesehen wird75, kann diesen Klassencharakter nicht begründen, wenn der Staat andererseits als Staat auch der anderen sozialen Klassen und Schichten, die das Sowjetvolk ausmachen, fungieren soll. Die bestehenden Klassenunterschiede begründen eher eine vermittelnde Rolle des Staates, die in der marxistisch-sozialistiscben Staatstheorie nicht akzeptiert wird. Es wird hier zugleich behauptet, daß der Volksstaat wegen der bestehenden Unterschiede zwischen den sozialen Klassen eben Klassencharakter trägt, daß er aber zugleich keine Organisation zur Ausübung von Klassenherrschaft sei und daß 74 75
XXV. Pinteitag er KPdSU, Rechenschaftsbericht (Anm. 65), S. 99. Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 273.
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zuletzt "vom Standpunkt seines Klassenwesens aus der Staat aller Werktätigen und zugleich auch der Staat des gesamten Volkes" seF6 . Diese Antinomien bleiben unauflösbar und zeigen, wie wenig die staatstheoretische Analyse gegenwärtig zur Klärung des wahren Wesens des sozialistischen Staates beizutragen vermag. Die Theorie des Volksstaates ist aus dem Bedürfnis heraus entwickelt worden, dem sozialistischen Staat eine überzeugende Legitimationsgrundlage zu geben. Denn jede Staatsgewalt ist bemüht, sich als die einer breiten Bevölkerungsmasse, ja des ganzen Volkes auszugeben und nicht als Klassendiktatur zu erscheinen, zumal eine solche, die sich zum Ziel gesetzt hat, eine soziale Gruppe, namentlich die Klasse der Bourgeoisie, zu vernichten. Hinzu kommt, daß der sozialistische Staat nicht die Erfolge aufzuweisen hatte, die er beim Aufbau der "neuen" Gesellschaft reklamiert hatte. Die neue Gesellschaft des Sozialismus blieb letztlich im wirtschaftlichen wie im sozialen Bereich weit hinter den entwickelten und anpassungsfähigen westlich-demokratischen Gesellschaften zurück. Auch wurde - und dies war vielleicht der größte Mißerfolg - das Ideal der Erziehung eines neuen, sozialistischen Menschen verfehlt. Trotz aller Erziehungstheorie und der enormen politischen Anstrengungen ist der sozialistische Staat der Gegenwart unverändert geblieben: diktatorisch und repressiv, Herrschaftsinstrument in den Händen einer kleinen Machtgruppe innerhalb der Kommunistischen Partei. Eine Diktatur des Proletariats war er freilich niemals gewesen. Zuletzt sei noch auf eine weitere Antinomie in der Konzeption des Volksstaates selbst hingewiesen. Dieser Staat soll das Verbindungsglied zur nichtstaatlichen, gesellschaftlichen Selbstverwaltung einer künftigen kommunistischen Gesellschaft darstellen. Dabei solle er aber seine Potenz nicht mindern und Funktionen der Staatsgewalt auf gesellschaftliche Institutionen übertragen, wie dies zu erwarten wäre, wenn die Entwicklung auf eine solche gesellschaftliche Selbstverwaltung hinzielte. Vielmehr solle der Volksstaat seine Funktionen erweitern, die ganze Gesellschaft "leiten" und den Einzelnen zu einem kommunistischen Bewußtsein verhelfen und so immer stärker und in seinen Äußerungen immer umfassender werden. Erst aus dieser sozusagen potenzierten Stellung heraus solle er - allerdings in unbestimmter Zukunft einmal in eine gesellschaftliche Selbstverwaltung umschlagen. Warum der Weg der Entwicklung der sozialistischen Staatlichkeit einem "Entwicklungssprung" nach vorn gleichen muß, bleibt unerklärlich. Die politische Notwendigkeit für die tatsächliche Erhaltung und Stärkung des diktatorischen Staates, in dem die herrschende Machtgruppe in der Kommunistischen Partei ihre Macht mit keiner anderen sozialen Gruppe zu teilen gedenkt, ist als charakteristisches Merkmal einer Diktatur allerdings einleuchtend. 76
s•
Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 71 ff., insbes. S. 75.
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Die klassische marxistische Auffassung vom Staat als der Diktatur einer ökonomisch und daher auch politisch herrschenden Klasse in der Gesellschaft ist schon immer in ihrem theoretischen Gehalt fragwürdig gewesen. Denn sie vermochte nicht die Komplexität der sozialen Strukturen zu erfassen. Insbesondere lieferte sie eine vereinfachende Erklärung für die Bildung von sozialen Klassen und die Beziehungen zwischen ihnen, die sie schlicht als Klassenkampf qualifizierte. Der verfehlte ontologische Bezug hatte jedoch keine weiteren Auswirkungen auf die Konsistenz der Theorie: das System von Aussagen war in sich stimmig. Die These vom Volksstaat bewirkt hier jedoch einen tiefen Bruch. Sie kann nicht in die bisherige Theorie integriert werden. Nunmehr muß der allgemeine Staatsbegriff neu formuliert werden, wenn er wie bisher auch den sozialistischen Staat in allen seinen Entwicklungsformen umfassen soll. Die Theorie steht vor dem Dilemma, entweder einen neuen Ansatz für die Erfassung des sozialen Gehalts des Staates zu finden , indem sie ihre Grundprämisse der klassengeteilten und konfliktträchtigen Gesellschaft aufgibt, oder des zweifelhaften legitimatorischen Effekts wegen eine ihre Grundlagen in Frage stellende Inkonsistenz in Kauf zu nehmen. Denn die behauptete Homogenität der sozialen Klassen in der sozialistischen Gesellschaft, die Gleichartigkeit ihrer Handlungsziele und ihre geistig-politische Einheitlichkeit sind undifferenzierte Kategorien ohne erkenntnistheoretischen Wert, tragen postulatorischen Charakter und nehmen der marxistischen Gesellschafts- und Staatstheorie als spezifische soziale Konfliktstheorie ihre ursprüngliche Schärfe und Prägnanz. 111. Legitimation des sozialistischen Staates. Die sogenannte sozialistische Demokratie I. Das Legitimationsproblem Jede Staatstheorie ist bemüht, das Staatsphänomen oder den Staatstypus, den sie zu erklären sucht, durch eine plausible Argumentation in seiner jeweiligen realen Existenz zu rechtfertigen. Dieses Bedürfnis entspringt dem Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Theorie, die keinen ideologischen Charakter trägt und nicht letzte Wahrheiten zu entdecken glaubt. In ihr ist die Möglichkeit intendiert, Irrtümer zu begehen. Deshalb ist sie bereit und bemüht, alle Argumente, über die sie verfügt, in die Diskussion- hier über die Gründung und Rechtfertigung gerade dieses Staatsmodells, das sie untersucht bzw. entwickelt hat - zu bringen. Die Legitimationskonzepte des Staates gehören zu den Grundaussagen einer jeden offenen Staatstheorie. Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie befaßt sich hingegen kaum mit dieser Problematik. Dies ist in erster Linie auf ihren ideologischen Gehalt zurückzuführen. Ihr Grundverständnis, namentlich daß nur sie objektiv wahre Aussagen treffe, enthebt sie der Aufgabe, die eigenen Grundprämissen in
III. Legitimation des sozialistischen Staates
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Frage zu stellen und sich gegenüber konkurrierenden Theorien argumentativ abzusichern. Die marxistische Staatstheorie ist selbstreflexiv. Sie entwickelt ihre Thesen und Behauptungen nur immanent, aus dem eigenen System heraus, und glaubt, gerade in sehr strittigen Fragen sich auf ihre notorische "Wissenschaftlichkeit" zurückziehen zu können. Das methodische Postulat einer jeden kritischen Wissenschaft, die eigenen Thesen und Prämissen stets auf ihre Begründetheit zu befragen, akzeptiert sie nicht. Sie nimmt für sich in Anspruch, durch eine "dialektisch-materialistische" Methode und durch die klassenmäßig bedingte theoretische Grundkonzeption allein in der Lage zu sein, das jeweilige soziale Phänomen adäquat zu erfassen. Anderen, nicht marxistischen Theorien spricht sie diese Fähigkeit ab. Diese wissenschaftstheoretische Grundeinstellung führt dazu, daß die marxistisch-sozialistische Staatstheorie die Legitimationsproblematik aus ihrem Blickfeld verdrängt. Die Frage nach der Legitimität des sozialistischen Staates wird aber auch aus staatstheoretischen Erwägungen heraus nicht einmal aufgeworfen. Bekanntlich folgt die marxistisch-sozialistische Staatstheorie in diesem Zusammenhang den "unabdingbaren" Prämissen des sogenannten Historischen Materialismus, der für sich in Anspruch nimmt, das Grundgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung erkannt und herausgearbeitet zu haben, nach dem eine jede soziale Epoche (gesellschaftliches Entwicklungsstadium, "Gesellschaftsformation") notwendigerweise durch die jeweils entwicklungsgeschichtlich "qualitativ" höhere abgelöst wird. Diese Entwicklung beginnt mit der Urgesellschaft und endet mit der Gesellschaftsformation des Kommunismus, zu dem der Sozialismus als eine "erste Phase" einleitet. So wird der sozialistische Staat als die politische Organisationsform der sozialistischen Gesellschaft, die die kapitalistische sozialökonomische Entwicklungsform ablöst, als geschichtlich notwendige Stufe in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft qualifiziert. Eine solche Auffassung macht in der Tat den Nachweis der Legitimität des sozialistischen Staates, der als Organisationsform einer geschichtlich notwendigen Entwicklungsphase der Gesellschaft erscheint, überflüssig. Man könnte allerdings den Argumentationsvorgang nach hinten verlegen und fragen , ob der Sozialismus tatsächlich eine solche notwendige Entwicklungsphase ist. Dies ist in der nicht-marxistischen Literatur auch getan worden, und die Untersuchungen haben gezeigt, daß weder die davorliegende Geschichte noch die Entwicklungen nach der Erarbeitung der marxistischen Theorie über die "Gesellschaftsformationen" die These von der Notwendigkeit des Sozialismus und des Kommunismus stützen. Die Ergebnisse dieser Kritik betreffen insbesondere das Verhältnis von Staat, Recht und den ökonomischen Strukturen der Gesellschaft, wie oben bereits gezeigt wurde (siehe Kap. 1, I). Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie entwickelt offensichtlich selbst ein Unbehagen an der schlichten Behauptung der Notwendigkeit des soziali-
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stischen Staates zunächst in der Gestalt der Diktatur des Proletariats, die diesen Staat sozusagen automatisch als legitim erscheinen läßt. Denn von Anfang an hat die Theorie der Diktatur des Proletariats als des Staatstypus des Sozialismus auch auf das Prinzip der Demokratie rekurriert und diese genauer als Demokratie für das Proletariat und die anderen früher ausgebeuteten Klassen qualifiziert (siehe oben II, 2, c). Für den Staat des ganzen Volkes hat man wiederum seine breite soziale Basis, d. h. seinen Charakter als Organisationsform nicht mehr einer bestimmten herrschenden Klasse, sondern der ganzen sozialistischen Gesellschaft, herausgestellt (siehe oben II, 3). Das Bedürfnis, den sozialistischen Staat als eine neue Qualität von Staatlichkeit darzustellen, und das bedeutet, ihn zu rechtfertigen, insbesondere in Anbetracht des von den Klassikern des Marxismus prognostizierten, jedoch nicht eingetretenen Übergangs zu nichtstaatlichen Formen der Leitung der sozialistischen Gesellschaft, zu der sogenannten gesellschaftlichen Selbstverwaltung, kommt unverkennbar in der Theorie der sozialistischen Demokratie zum Ausdruck. Die sozialistische Demokratie wird als Organisations- und Funktionsprinzip der sozialistischen Staatsgewalt aufgefaßt. Sie dient zugleich als Rechtfertigung des sozialistischen Staatstypus selbst. 2. Aspekte der Demokratie
Die marxistisch-sozialistische Staats- und Gesellschaftstheorie befaßt sich mit verschiedenen Seiten und Aspekten der Demokratie und behauptet, daß allein im politischen System des Sozialismus das Prinzip der Demokratie verwirklicht werden kann und tatsächlich auch voll verwirklicht worden ist. Diese Demokratie trage eine neue Qualität, sei "sozialistische" Demokratie, die sich von der bürgerlichen Demokratie wesentlich unterscheidet77. Im bürgerlichen Parlamentarismus sah Marx ohnehin nur Negatives, eine etwas flexiblere Form der Unterdrückung der Volksmassen. Nach seinen Worten wird den Unterdrückten durch die Wahlen einmal in mehreren Jahren gestattet, darüber zu entscheiden, welcher Vertreter der unterdrückenden Klasse sie "ver- und zertreten" solFB. Die Kritik des bürgerlichen Parlamenta77 Des öfteren wird beklagt, daß in Fragen der Demokratie die sog. bürgerliche Demokratie als Maßstab genommen würde. So schreibt Weichelt: "Es kann auf Dauer nicht so sein, daß das traditionelle bürgerliche Demokratieverständnis als Maßstab dafür genommen wird, was man unter Demokratie zu verstehen hat und daß wir meist nachweisen, daß der Sozialismus selbst in diesem Sinne demokratischer ist. Vielmehr sollte es uns darum gehen, das qualitativ Neue herauszuarbeiten, das der Sozialismus dem Demokratieverständnis aus seiner Realität hinzufügt und wo er daher Bisheriges auch im Denken zu überwinden hat" (W. Weichelt, Politische Macht und Demokratie im Sozialismus, Neue Justiz 1978, S. 96); vgl. allgemein G. Quilitzsch, Zum Verhältnis von Staat und Demokratie im Sozialismus, Staat und Recht 1985, S. 867 ff. 78 Dieses Verständnis des Parlamentarismus findet sich auch bei Lenin, der in seiner berühmten und klassisch für die marxistische Staatstheorie gewordenen Schrift "Staat
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rismus hat seit dieser Zeit nicht aufgehört, jedoch an Schärfe verloren, da westliche parlamentarische Demokratien auch in den Augen ihrer Gegner nicht mehr als schlichte politische Unterdrückung erscheinen können. Denn niemand kann ernsthaft bezweifeln, daß in diesen Demokratien politische Wahlen zu frei aufgestellten politischen Programmen auch frei durchgeführt werden und daß die so gewählten Vertreter der "arbeitenden" Bevölkerung im Parlament nicht die Funktion politischer Unterdrückung im Interesse der Bourgeoisie erfüllen. Andererseits macht allein die Optik der Beteiligung von Kommunistischen Parteien an bürgerlichen Regierungen es unmöglich, die Kritik des bürgerlichen Parlamentarismus in der früheren kompromißlosen Form aufrechtzuerhalten. Diese Kritik, nach der die bürgerliche Demokratie letztlich nur den Interessen des Kapitals Rechnung trägt, wird aufgeweicht, und von marxistischer Seite wird auch zugegeben, daß "unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Grenzen es auch möglich (ist), im Rahmen der bürgerlichen Demokratie eine Politik im Interesse des Volkes zu machen" 79. Wie unten noch zu zeigen sein wird, hat die marxistisch-sozialistische Staatsund Gesellschaftstheorie weder einen neuen Begriff noch eine geschlossene Theorie der Demokratie entwickelt. Das, was sie als sozialistische Demokratie bezeichnet, ist eine schlichte Inanspruchnahme des traditionellen Demokratiebegriffes, indem behauptet wird, daß in der sozialistischen Gesellschaft und ihrem politischen System alle Aspekte der Demokratie zu einer vollen Entfaltung gelangt sind. Auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, in allen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen der Gesellschaft sei die sozialistische Demokratie tragendes Organisations- und Funktionsprinzip: "In den sozialistischen Ländern gehört alle Macht den Werktätigen in Stadt und Land. Sie üben diese ihre Macht unter Führung der Arbeiterklasse über die gesamte politische Organisation des Sozialismus in vielfältigen staatlichen und nichtstaatlichen Formen, direkt oder über ihre Organe, Organisationen und Einrichtungen selbst aus. Diese politische Organisation, in der unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse der sozialistische Staat, andere politische Parteien, die gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen, Bewegungen und Kollektive der Werktätigen in engen Wechselbeziehungen koordiniert zusammenwirken, bildet in ihrer Gesamtheit das System der Macht der Werktätigen, das System der sozialistischen Demokratie"BO. Das so organisierte politische System des Sozialismus entwickelt sich jedoch nicht weitgehend, wie anzunehmen wäre, spontan, entsprechend den Interund Revolution" u. a. schreibt: "Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll - das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus" (W. I. Lenin, Staat und Revolution, Peking 1976, S. 56). 79 Vgl. M. Schumann, Demokratie und Sozialismus, Staat und Recht 1981, S. 869. so Marxistisch-leninistische Staats- und Rechstheorie (Anm. 1), S. 295 f .
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
essen und den Machtkonstellationen zwischen den einzelnen sozialen Gruppen, sondern wird von der Staatsmacht dominiert. Der Staat ist allmächtig und allgegenwärtig, und die angeblich umfassende politische Macht der Werktätigen ist nicht identifizierbar. Es wird eine vermeintliche Übereinstimmung, ja sogar Identität zwischen der politischen Macht des Volkes und der Staatsmacht, die tatsächlich von der Kommunistischen Partei begründet und ausgeübt wird, hergestellt: "Aber die Autorität der Macht des werktätigen Volkes gründet sich zugleich auf die vor allem in der Staatsmacht konzentrierte und auf dem gesellschaftlichen Eigentum aufbauende gewaltige und ständig durch die Anstrengungen der Werktätigen wachsende Macht ihres ökonomischen, geistig-kulturellen und nicht zuletzt auch militärischen Potentials. Durch die in ihr konzentrierte Einheit aller politischen, staatlichen, ökonomischen, sozialen und geistig-kulturellen Komponenten ist die politische Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten auch das vereinigende und integrierende Zentrum der Organisation und Leitung der gesamten Gesellschaft und aller gesellschaftlichen Prozesse"8t . Allein die staatliche Macht ist jedoch mit Befugnissen ausgestattet, verbindliche Entscheidungen für die gesamte Gesellschaft zu treffen82. "Die gesellschaftlichen Organisationen üben ebenfalls Macht aus, aber diese Macht trägt nichtstaatlichen Charakter. Im Unterschied zur staatlichen Macht erstreckt sie sich nur auf einen Teil der Gesellschaft ... "83 • Als Kernstück der Staatsmacht werden die Vertretungsorgane (Volksvertretungen) auf lokaler wie zentraler Ebene, vom örtlichen Volksrat bis zum Parlament betrachtet. Es wird hervorgehoben, daß sie gewählte Organe sind und die Befugnis haben, alle nicht gewählten staatlichen Organe zu kontrollieren. Den Wählern gegenüber sind die gewählten Organe wiederum rechenschaftspflichtig. Darin finden die Einheit und der demokratische Charakter der sozialistischen Staatsmacht ihre Verkörperung. Die Volksvertretungen seien nicht nur selbst gewählt, sondern stünden auch in ihrer gesamten Tätigkeit ständig unter der Kontrolle des Volkes. "Mit den sozialistischen Volksvertretungen entstand ein System völlig neuartiger politischer, rechtlicher und organisatorischer Beziehungen zwischen dem werktätigen Volk, den Bürgern und den gewählten Vertretungskörperschaften und damit auch dem gesamten System der Staatsorgane. Die Volksvertretungen werden nicht nur in demokratischen, von den Bürgern selbst organisierten Wahlen frei gewählt- ihre
s. 296 f . Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 171: ,.Die Staatsmacht ist die einzige souveräne Kraft, die mit spezifischen Methoden die Leitung der Gesellschaft verwirklicht. Die Besonderheit der Staatsmacht besteht darin, daß sie, gestützt auf den Staatsapparat, erforderlichenfalls Zwangsmaßnahmen anwendet ... Die sozialistische Staatsmacht benutzt den Zwang auf der Grundlage der Überzeugung der Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft von der Notwendigkeit und Gerechtigkeit der staatlichen Maßnahmen". 83 s. 141. 8!
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III. Legitimation des sozialistischen Staates
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soziale und politische Zusammensetzung aus den besten Vertretern aller Klassen, Schichten und sozialen Gruppen der Werktätigen, vor allem auch der Frauen und der Jugend, gewährleistet damit tatsächlich eine Vertretung des gesamten werktätigen Volkes; sie stehen auch in ihrer gesamten Tätigkeit ständig unter der Kontrolle des Volkes. Entscheidend aber ist, daß die Werktätigen selbst in den vielfältigsten Formen an der Lösung der Aufgaben der Volksvertretungen und ihrer Organe teilnehmen. Das Zusammenwirken der Bürger, ihrer Kollektive und Organisationen mit der Volksvertretung wie auch mit den Organen des staatlichen Leitungsapparates läßt das System der Volksvertretungen zur umfassendsten, alle Bürger erfassenden und zur Mitarbeit aktivierendelf Massenorganisationen des Sozialismus werden"84. Eine solche Konzeption der Volksvertretungen, die als die allerdemokratischste ausgegeben wird, steht und fällt mit der Auffassung von freien politischen Wahlen. Wie unten noch zu zeigen sein wird (s. unten 3), sind politische Wahlen in den sozialistischen Staaten eine Institution, die dem Wahlprinzip, d. h. der garantierten Möglichkeit und Freiheit, verschiedene Kandidaten und alternative politische Programme aufzustellen und sie zu verbindlichen Handlungskonzeptionen staatlicher Gewalt zu machen, direkt zuwiderlaufen. Ein weiterer Aspekt der sozialistischen Demokratie sei ihre Verbindung mit der ökonomischen Basis der sozialistischen Gesellschaft. Nur auf der Grundlage des vergesellschafteten produktiven Eigentums sei es möglich, den Einzelnen und die Volksmassen für die Entwicklung einer prosperierenden Wirtschaft zu interessieren. Die Planung und Leitung der Wirtschaft sei mit der Aktivität der Werktätigen untrennbar verbunden: Das bewußte und organisierte gesellschaftliche Handeln der Werktätigen sei eine unerläßliche Bedingung für die Wirkung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus. Deshalb sei "die schöpferische Aktivität der Werktätigen in der materiellen Produktion und bei ihrer Leitung und Planung, bei der Intensivierung und der Erhöhung ihrer Effektivität, insbesondere durch Verwirklichung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts, im Mittelpunkt der Entwicklung der sozial\sti~chen Demokratie. Die planmäßige Verwirklichung der wirtschafts-und sozialpolitischen Ziele der sozialistischen Gesellschaft in ihrer Einheit ist das Hauptfeld der demokratischen Massenaktivität im Sozialismus"85. Hier wird immer wieder auf die angeblich fehlende ökonomische Ausbeutung der Werktätigen im Sozialismus und auch darauf hingewiesen, daß das Ziel der gesellschaftlichen Produktion materieller Güter die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse 84 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 299; Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 144 ff.; vgl. über die Aufgaben- allerdings auch über die auffällig engen Grenzen der gesellschaftlichen Spontaneität - der gesellschaftlichen Organisation im Sozialismus Z. A. Jampol'skaja u. a. (Hrsg.), Obscestvennye organizacii, pravo i licnost' (Gesellschaftliche Organisation, Recht und Persönlichkeit), Moskau 1981. ss Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 1), S. 288.
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
nicht nur einer kleinen sozialen Gruppe, sondern aller Mitglieder der Gesellschaft ist86. In diesem Rahmen können die vielschichtigen Probleme, die mit der sozialistischen Wirtschaftsführung zusammenhängen, nicht erörtert werden. Auf zwei Probleme, die in untrennbarer Beziehung mit einer Demokratisierung der gesellschaftlichen Produktion stehen, sei hier dennoch hingewiesen. Die allgemein bekannte niedrige Effektivität der sozialistischen Wirtschaft steht der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten entgegen; die beschränkten Möglichkeiten für die Entfaltung individueller Initiative, die Einschränkung und der Druck, der von zentral verabschiedeten rigiden Wirtschaftsplänen ausgeht, und die fehlende Möglichkeit einer innerbetrieblichen eigenverantwortlichen Arbeitsorganisation lassen die Mitwirkung der Arbeiter und ihrer Kollektive nicht als demokratische Bewegung, sondern vielmehr als schlichten Vollzug zentraler Wirtschaftsbefehle erscheinen. Die gegenteiligen Behauptungen einer aktiven, gestaltenden Mitwirkung der arbeitenden Menschen haben keine hinreichende Stütze in geltenden rechtlichen Regelungen. Die Analyse der gesellschaftlichen Praxis ergibt den gleichen Befund und macht die Konzeption einer neuen, sozialistischen Demokratie im Wirtschaftsleben nicht überzeugender. Neben dem politischen und dem ökonomischen wird auch der personale Aspekt der Demokratie hervorgehoben. Allein ein nach dem Prinzip der sozialistischen Demokratie aufgebautes gesellschaftliches und politisches System garantiere eine menschenwürdige Existenz des einzelnen und ermögliche die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit. "In einer jeden ihrer Entwicklungsetappen dient die sozialistische Demokratie dem werktätigen Volk, bringt sie die Sorge um das Wohl der Werktätigen als der Schöpfer aller materiellen und kulturellen Werte zum Ausdruck, ist es ihr Anliegen, ihnen eine würdige Existenz zu bieten, fördert sie die allseitige Entwicklung und Ausbildung ihrer Persönlichkeit"87. Der Einzelne lebe im Sozialismus aber auch in einer Gesellschaft, die sich durch ihre soziale Gerechtigkeit auszeichnet: "In der marxistischen Ethik verbindet sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit mit der Idee der Befreiung der Gesellschaft von Ausbeutung und Unterdrükkung. Erst der Sozialismus schafft wirklich gerechte soziale Verhältnisse. Die Entstehung und Entwicklung der sozialistischen Demokratie, ihre historische Zielsetzung und ihr Inhalt werden vom Kampf um die Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit sowohl in der Außen- wie auch in der Innenpolitik bestimmt"88. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3 (Anm. 11), S. 133. s. 131. 88 S. 139: "Unter sozialer Gerechtigkeit ist eine bestimmte Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Übereinstimmung mit den herangereiften Erfordernissen der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft zu verstehen". Die Gerechtigkeitskriterien werden also nicht durch allgemeine Akzeptanz 86 87
III. Legitimation des sozialistischen Staates
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Dieser absolute Anspruch auf Realisierung menschlicher Existenz sieht sich durch die theoretische Konzeption der sozialistischen Demokratie selbst widerlegt. Denn diese Konzeption stellt nicht, wie unten noch zu zeigen sein wird (unten 3), auf die Autonomie des Einzelnen und die Konsensbildung unter den Einzelnen bei der Erarbeitung gesellschaftlicher Aufgabenstellungen und konkreter politischer Programme ab. Die sozialistische Demokratie geht von einem autoritativen Gesellschaftskonzept aus, das die Kommunistische Partei aufstellt; und die Einzelnen sind aufgerufen, es zu unterstützen. So entfaltet der Einzelne nicht eine reale Existenz als politisches und wirtschaftliches Subjekt, das nach autonomer Beurteilung sozialer Tatbestände handelt. Er wird vielmehr vereinnahmt für eine soziale Rolle des völlig Abhängigen, des sozial und politisch Entmündigten. Er erscheint nicht als aktives soziales Subjekt, sondern als Erfüllungsgehilfe, der auch noch eine Politik aklamieren muß, die er weder bestimmt noch zu verantworten hat. Da sich der Einzelne nicht nur als Subjekt im politischen Geschehen verwirklicht und auch nicht allein als Subjekt produktiver ökonomischer Tätigkeit, sei es in leitender Funktion oder aber nur als Produzent, auftritt, muß man zum weiten Bereich menschlicher Existenz auch die schlichten materiellen Bedingungen (der Konsumtion) des Alltags rechnen. Diesen Zusammenhang sieht auch die marxistische Theorie und hebt deshalb auch diese Seite der Demokratieproblematik hervor. Im sowjetischen Standardwerk über Staatsund Rechtstheorie heißt es dazu: "Die Volksmassen beurteilen den Demokratismus dieser oder jener sozialpolitischen Ordnung nicht danach, was über ihn in den Gesetzen geschrieben steht, sondern danach , was er ihnen wirklich gibt - in der ökonomischen Tätigkeit und im sozial-kulturellen Leben. Für die Werktätigen ist es von erstrangiger Bedeutung, wie die Demokratie auf materiellem und geistigem Gebiet zum Ausdruck kommt: Gewährleistet die Demokratie jedem die Möglichkeit zu arbeiten und für die geleistete Arbeit eine gerechte und garantierte Entlohnung zu erhalten; besitzen die arbeitenden Menschen gut eingerichtete Wohnungen; sorgt der Staat für den Schutz der Gesundheit, für die Erholung, die materielle Sicherstellung im Krankheitsfall und im Alter usw. "89. Auf dem Gebiet des materiellen Lebensstandards hat allerdings der Sozialismus sehr bescheidene Erfolge gebracht, die im Verhältnis zu den materiellen Leistungen der bürgerlichen Industriegesellschaften noch weniger beeindrucken können. Von einer Befreiung des Menschen von der Bürde einer ihm entfremdeten Arbeit wie auch von einer gerechten Entlohnung kann - bei Kenntnis der sozialen Verhältnisse des Sozialismus und und durch Konsens zwischen Individuen und sozialen Gruppen aufgestellt, sondern führen eine von diesen gleichsam unabhängige "reale" Existenz und können nur "erkannt" werden - eine wahrlich gefährliche Spekulation, die sich jeglicher empirischen Überprüfung entzieht, sobald man einer bestimmten Instanz, wie der Kommunistischen Partei, ein diesbezügliches Erkenntnismonopol zugesteht. 89 s. 140 f.
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
wenn man seiner Propaganda nicht folgt- ernsthaft nicht die Rede sein. Wenn danach Demokratie gemessen wird, muß sich der Sozialismus selbst eingestehen, daß er nicht demokratisch ist. 3. Denaturierung der Demokratie- sozialistische Demokratie Der Begriff der Demokratie ist nicht beliebig besetzbar. Tatbestände des politischen Systems, die auf eine zentralistische und totalitäre Macht abstellen, können nicht als Aspekte eines demokratischen politischen Systems ausgegeben werden, auch dann nicht, wenn man sie mit einem neuen Qualifikativ, z. B. "sozialistisch", versieht. Nichtdemokratische, zentral und total errichtete Machtstrukturen bleiben undemokratisch und müssen auch als solche bezeichnet werden. Die Demokratie ist eine politische Machtstruktur, die wesentlich vom Votum und anderen sozial-relevanten Handlungen der Einzelnen und ihrer organisierten Gruppen geprägt ist. Zu ihren Essentialien gehört auch, daß dieses Votum zu gesellschaftlichen Fragestellungen gegeben wird, die nach dem Konsensprinzip erarbeitet und entschieden werden. Diese Elemente des Demokratieprinzips haben sich im Laufe der politischen Emanzipationsbewegungen in der menschlichen Gesellschaft allmählich herauskristallisiert. Hier ist ein konzeptioneller und praktisch-politischer Entwicklungsstand erreicht worden, hinter den man ohne Verlust an demokratischer Substanz nicht zurückgehen kann. An diesem Entwicklungsstand muß auch jede gegenwärtige Demokratie, auch die sogenannte sozialistische, gemessen werden. Die sozialistische Gesellschaft der Gegenwart erhebt den Anspruch, vollends demokratisch zu sein, d. h. das Demokratieprinzip in Struktur und Funktionen politischer Einrichtungen voll verwirklicht zu haben. Und die Theorie der sozialistischen Demokratie hat, wie bereits gezeigt wurde, die einzelnen Aspekte des Demokratieprinzips- Macht des Volkes im politischen und ökonomischen Bereich, Verwirklichung des Einzelnen in einer demokratisch organisierten Gesellschaft - dargelegt. Diese Theorie hebt hervor, daß die politische Macht in der sozialistischen Gesellschaft auf allen Ebenen auf den Willen des Volkes aufbaut und im Bereich der Ökonomie durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Beteiligung der Werktätigen an der Leitung der Wirtschaft zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit demokratische Strukturen etabliert wurden. Damit wird aber nichts anderes behauptet - auch wenn man von einerneuen Qualität der Demokratie spricht-, als daß die schon von der klassischen Demokratietheorie erarbeiteten Merkmale der Demokratie hier, in der sozialistischen Gesellschaft, volle Anwendung gefunden haben. Historisch bedingt ist die Demokratie insofern, als sie als Struktur- und Funktionsprinzip politischer Systeme unter verschiedenen gesellschaftlichen
111. Legitimation des sozialistischen Staates
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Bedingungen unterschiedliche Entfaltung gefunden hat. So ist auch der Anspruch der sozialistischen Demokratie, eine "wahre" Demokratie zu sein, zu verstehen: sie wirft der bürgerlichen Demokratie nicht so sehr eine begriffliche Unzulänglichkeit vor, sondern allein eine mangelnde Realisierung demokratischer Elemente unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. In demokratisch organisierten Gesellschaften geben die Einzelnen ihr Votum zu politischen Programmen, die sie billigen, und zu Personen, die sie für geeignet halten, diese Programme zu verwirklichen. Sie haben aber auch die Möglichkeit, die zur Debatte stehenden politischen Programme abzulehnen und durch andere zu ersetzen. Dies ist ein wesentliches Element demokratischer Entscheidungen. Dazu gehört aber noch eine weitere Komponente: Die politisch tätigen Individuen tragen unter den Bedingungen einer echten Demokratie zur Erarbeitung der gesellschaftlichen Konzepte und politischen Programme, die zur Diskussion stehen, bei. In den politischen Parteien und den sonstigen Interessenverbänden, die ebenfalls nach dem Demokratieprinzip ihre Entscheidungen treffen, werden die Fragestellungen erarbeitet, die für die jeweils aktuelle politische Entscheidung von Bedeutung sind. Diese Fragenkomplexe, die Entscheidungskonzepte und die dazu getroffenen Entscheidungen werden durch das Votum der Mitglieder getragen. Für sie wird aber auch eine Zustimmung in breiten gesellschaftlichen Kreisen - unter den potentiellen Wählern - gesucht. Einmal sind alle aufgerufen, sich zu den gesellschaftlichen Konzepten zumindest in der Form einer allgemeinen Wahl zu äußern. So wird der Operationskreis demokratischer politischer Handlungen weit abgesteckt: Er umfaßt nicht nur eine Zustimmung zu bereits getroffenen Entscheidungen, sondern auch die Beteiligung an ihrer Erarbeitung oder zumindest das Akzeptieren von Konzepten und Entwürfen, aus denen letztlich die Entscheidungen hervorgehen. Gerade dieses Element fehlt aber in der Konzeption der sozialistischen Demokratie. Dort wird leichtfertig mit der Form der Zustimmung zu gesellschaftlichen Fragestellungen und Programmen operiert. Diese werden aber vom Operationsbereich demokratischer Entscheidungsbildung ausgenommen: die Einzelnen und ihre organisierten Gruppen sind nicht an der Erarbeitung der gesellschaftlichen Fragestellungen und Programmentwürfe beteiligt; von ihnen wird nur eine Zustimmung zu Entscheidungsentwürfen erwartet, die bereits von einer zentralen Entscheidungsinstanz erarbeitet worden sind. Hinzu kommt, daß hier nicht einmal eine Ablehnung möglich ist, die sinnvollerweise mit gegenteiligen Vorschlägen verbunden ist. Und gerade die Möglichkeit, alternative Vorschläge personeller Art wie auch alternative sachliche Entscheidungsentwürfe zu erarbeiten, die in Wettstreit mit den von der Kommunistischen Partei offiziell aufgestellten treten, ist nicht gegeben. So ist auch praktisch nie beobachtet worden, daß in politischen Wahlen auf zentraler oder lokaler Ebene die Kandidaten der Kommunistischen Partei nicht gewählt worden sind. Hier schon entsteht die Denaturierung demokratischer Strukturen.
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
Die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen, über die im Zuge der Gestaltung sozialer Verhältnisse nach einem bestimmten Konzept zu entscheiden ist, bilden in der Konzeption der sozialistischen Demokratie keinen konsensfähigen Gegenstand, an denen demokratische Voten festzumachen sind. Es wird hier nicht über zu akzeptierende oder zu verwerfende Konzeptionen und Entwürfe diskutiert- mit der Möglichkeit des Irrtums und der Korrektur-, sondern es wird erwartet, daß gesellschaftliche Programme schlicht akzeptiert werden, weil sich diese aus angeblich erkannten objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen ergeben sollen. Es wird hier mit dem Konzept einer geschichtlichen Notwendigkeit (Gesetzmäßigkeit) der gesellschaftlichen Entwicklung spekuliert, die in der Gestalt zwingender Erfordernisse auftrete. Diesen gesellschaftlichen Erfordernissen trüge allein die Kommunistische Partei Rechnung, indem sie ihre Konzepte und Programme erarbeitet. So werden die gesellschaftlichen Fragestellungen, zu denen das Votum der einzelnen gefordert werden sollte, zu unverrückbaren Größen, die man zu akzeptieren hat, was jegliches Demokratiekonzept, das eine echte Wahl zwischen zumindest zwei Möglichkeiten intendiert, in sein Gegenteil verkehrt. Mit dieser Auffassung hängt untrennbar zusammen, daß es auch ein diese objektiven gesellschaftlichen Erfordernisse erkennendes Subjekt gibt, und dies sind nicht die Einzelnen und ihre organisierten Gruppen, sondern ist eine zentrale Instanz, nämlich die Kommunistische Partei. So wird auch verständlich, warum "die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei . . . als entscheidender Faktor der sozialistischen Demokratie begriffen werden (muß)"90, Diese "führende Rolle" wird in dem hier erörterten Zusammenhang der Demokratie dahingehend interpretiert, daß die Kommunistische Partei ein Erkenntnismonopol in Bezug auf die objektiven Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung besitzt. Loose und Schumann schreiben dazu: "Als Träger der wissenschaftlichen Weltanschauung ist die marxistisch-leninistische Partei als einzige gesellschaftliche Kraft fähig , die Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu erkennen und die Aktivität der Arbeiterklasse und ihre Verbündeten so zu lenken, daß die entscheidenden Aufgaben des sozialistischen Aufbaus komplex gelöst werden. Daher ist es nur durch ihr Wirken möglich, die sozialistische Gesellschaft bewußt, d. h . in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der objektiven gesellschaftlichen Gesetze und den Interessen der gesamten Gesellschaft zu gestalten "9 1. Diese "Erkenntnisinstanz" formuliert nicht nur die sogenannten objektiven gesellschaftlichen Erfordernisse, nach denen sich der politische Wille orientieren soll. Die Kommunistische Partei sieht sich als Machtzentrum ausschließ90
s.
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Schumann (Anm. 79), S. 870. W. Loose/M. Schumann, Erkenntnis und Demokratie, Staat und Recht 1979,
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lieh befugt, auch den qualifizierten "Gesamtwillen", der den objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen und den richtig erkannten Interessen der Werktätigen entspräche, verbindlich festzulegen. So heißt es bei Loose und Schumann: "Das bewußte Handeln der Volksmassen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei, ihr Handeln nach einem Gesamtwillen und Gesamtplan, ist unmöglich ohne straffe einheitliche Leitung, ohne Vorhandensein eines leitenden Zentrums, das den Willen des Volkes ausdrückt und daher demokratisch legitimiert ist, das die Tätigkeit aller Glieder des gesellschaftlichen Organismus einem einheitlichen Willen unterordqet und über die entsprechenden Instrumentarien verfügt, diesen aus der Übereinstimmung der Interessen der Arbeiterklasse mit den grundlegenden Interessen aller Werktätigen resultierenden und durch die objektiven gesellschaftlichen Gesetze determinierten einheitlichen Willen durchzusetzen"92. Diese Auffassung führt zwangsläufig dazu, einen weiteren Grundsatz aufzustellen, der die zentralistische Leitung demokratisch legitimieren soll. Hier hat die marxistische Demokratietheorie den Grundsatz des sogenannten demokratischen Zentralismus entwickelt. Die Legitimation der zentralen Entscheidungen erfolgt nicht, wie anzunehmen wäre, durch das Votum der Einzelnen, auf deren Handlungen sich die Entscheidungen beziehen, sondern wieder durch einen Rekurs auf die objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und einen durch sie "objektiv determinierten", in Wahrheit jedoch fingierten Willen der Arbeiterklasse, d. h. durch einen Willen, der von ihr nie gebildet worden ist. "Indem die Leitung der sozialistischen Gesellschaft insbesondere in den Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Produktionsverhältnisse und den daraus resultierenden Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Sozialstruktur wurzelt, ist sie als zentralisierte Leitung zugleich Ausdruck des durch diese Gesetzmäßigkeit objektiv determinierten Willens der herrschenden Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten. Der Zentralismus ist unter sozialistischen Bedingungen daher seinem Wesen nach demokratisch, wie der Demokratismus unter diesen Bedingungen ohne Zentralismus nicht zu verwirklichen ist"93. Die ganze Konstruktion der sozialistischen Demokratie gipfelt in der Behauptung, daß eigentlich Demokratie nur das Handeln gemäß den erkannten objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung bedeuten kann: "Der Demokratismus als Korrelat des sozialistischen Zentralismus wird verwirklicht, indem die Volksmassen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei und mittels des sozialistischen Staates durch ihr assoziiertes Handeln immer mehr zum bewußten Subjekt des gesellschaftlichen Prozesses werden. In dem Maße, wie sie in ihrem Handeln bewußt von den objektiven 92 W. Loose!M. Schumann, Demokratischer Sozialismus und gesellschaftliche Bewußtheit, Staat und Recht 1980, S. 99. 93 s. 100.
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2. Kap.: Der Staat und die Klassenstrukturen der Gesellschaft
gesellschaftlichen Notwendigkeiten und Bedingungen ausgehen und damit ihre objektiv determinierten Interessen organisiert realisieren, vertiefen sie den demokratischen Charakter der ihr Handeln lenkenden zentralisierten, sich auf die Erkenntnis objektiver gesellschaftlicher Gesetze begründenden Leitung"94. Hier wird auch deutlich, wie die Prioritäten gesetzt sind: Demokratie wird nicht auf das unmittelbare politische Handeln der Einzelnen und ihrer Organisationen bezogen, sondern der "ihr Handeln lenkenden zentralisierten Leitung" zugeschrieben. So schließt sich der Kreis: Das politische Handeln der Einzelnen- und ihrer frei zu bildenden Organisationen- erfolgt nicht nach der autonomen Beurteilung, die diese den gesellschaftlichen Beziehungen geben. Dieses Handeln muß sich vielmehr nach den "objektiven gesetzlichen Erfordernissen" richten; diese werden aber allein von einer zentralen Instanz, der Kommunistischen Partei, erkannt und für alle verbindlich formuliert. Dieses Machtzentrum, die Kommunistische Partei, formuliert aber auch den "Gesamtwillen" der Gesellschaft und setzt diesen in verbindliche Entscheidungen um. Die Einzelnen haben letztlich diese Entscheidungen zu akzeptieren, sie müssen sie aber auch durch ihr Votum zu ihren eigenen erklären. Die ganze Konstruktion ist durchsichtig; sie hängt an der Prämisse der objektiven gesellschaftlichen Erfordernisse: wenn man diese in Frage stellt, fällt die Konstruktion in sich zusammen; wenn man sie anerkennt, aber nicht akzeptiert, daß allein die Kommunistische Partei in der Lage ist, sie zu identifizieren und zu formulieren, muß anderen gesellschaftlichen Organisationen, Gruppen und Individuen diese Erkenntnisfähigkeit zuerkannt werden. Das Ergebnis wäre dann, daß womöglich mehrere Konzeptionen dieser gesellschaftlichen Erfordernisse entwickelt werden, für die votiert und mehrheitlich entschieden werden muß. Dann müßte man zwangsläufig Demokratie zulassen und tatsächlich praktizieren. Solange die regierende Kommunistische Partei aber allein darauf bedacht ist, ihre Macht zu erhalten und zu potenzieren, muß sie an der dargelegten Konstruktion der sozialistischen Demokratie festhalten. Dies kann aber darüber nicht hinwegtäuschen, daß es sich in Wirklichkeit um perfekte totalitäre Machtstrukturen handelt, die sich als solche leicht identifizieren lassen - die Demokratie ist aber für immer verabschiedet.
94 S. 103. In der sowjetischen Literatur wird in letzter Zeit oft auf die "öffentliche Meinung" bei der Erarbeitung politischer Entscheidungen hingewiesen. Die Problematik wird jedoch nur rudimentär behandelt. Man ist weit davon entfernt, die öffentliche Meinung als entscheidenden politischen Faktor, wie dies in westlichen Demokratien der Fall ist, anzusehen, vgl. darüber 0. E. Kutafi, Dalnejsee soversenstvovanie socialisticeskoj demokratii - glavnoe napravlenie razvitija politiceskoj sistemy sovetskogo obscestva (Die weitere Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie- Hauptentwicklungsrichtung des politischen Systems der sowjetischen Gesellschaft), Vestnik Moskovskogo Universiteta 1981, H 1, S. 11.
Drittes Kapitel
Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts I. Positivität des Rechts 1. Rechtsnormen und andere soziale Verhaltensnormen
Die marxistisch-sozialistische Rechtstheorie geht von der These aus, daß das Recht eine normative Verhaltensordnung darstellt, die zusammen mit anderen sozialen Normen das Verhalten von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft regelt!. Der historische Ansatz bei der Erklärung des Entstehungsprozesses von Staat und Recht, dem die marxistische Rechts- und Staatstheorie folgt, stützt diese These. Denn er zeigt, daß das Recht nicht nur eine von der herrschenden Klasse völlig neugeschaffene Regelung der sozialen Verhältnisse darstellt, sondern, zumal in den Anfängen staatlich organisierter Rechtssysteme, weitgehend aus Normen des sozialen Brauches, der gesellschaftlichen Praxis hervorgegangen ist (siehe oben Kap. 2, I, 1). Auf die Frage nach dem Verhältnis solcher Gewohnheitsnormen, die in das organisierte System des positiven Rechts eingegangen sind, und denjenigen, die von der staatlichen Macht als Rechtsnormen gesetzt werden, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Festzuhalten ist jedoch, daß das Recht von Anfang an mit anderen Normen sozialen Verhaltens koexistiert, und dieser Zustand setzt sich auch später fort. Die marxistische Theorie registriert - auch wenn sie das Problem nicht weiter thematisiert hat -, daß normative Verhaltensordnungen eine konstitutive Wirkung für soziale Gemeinschaften entfalten und für den Bestand der Gesellschaft auf Dauer notwendig sind2. Die Normen des sozialen Verhaltens entstehen aus der Gesellschaft heraus, aus der Interaktion der Individuen im Arbeitsprozeß und im sonstigen Umgang miteinander. Diese Normen sind Arbeitsregeln, Austauschregeln, aber auch Konventionen der Sitte und des Sprachgebrauchs. Sie tragen insofern gewohnheitsmäßigen Charakter, als sie spontan entstehen, in langer Übung verfestigt und durch Tradition übertragen werden3. 1 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4: Das sozialistische Recht, dt. Ausg., Köln 1976, S. 130 ff. 2 S. 130: "Die sozialen Normen sind eine Form der Organisation der Gesellschaft. Sie verleihen den gesellschaftlichen Beziehungen Bestimmtheit und Stabilität" .
6 Petev
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
Nach marxistischem Verständnis zeichnen sich die sozialen Normen dadurch aus, daß sie in der Gesellschaft von allen Mitgliedern voll akzeptiert und zur Grundlage allen sozialen Verhaltens gemacht werden. Sie tragen also "gesamtgesellschaftlichen" Charakter. Demgegenüber erfolge in der nach sozialen Klassen geteilten Gesellschaft eine Ausdifferenzierung der sozialen Normen entsprechend dieser Klassenstruktur. Die Spaltung der Gesellschaft nach Klassen, indem eine bestimmte soziale Klasse Eigentümer der gesellschaftlichen Produktionsmittel wird und dadurch die materielle Produktion wie die Güterverteilung bestimmt, bringe mit sich, daß die sozialen Klassen sich nunmehr von unterschiedlichen sozialen Normen- entsprechend ihren ökonomischen Interessen und dem von den letzten beeinflußten Bewußtsein -leiten lassen4. Die jeweils ökonomisch herrschende Klasse versuche, ihren eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen und sozialen Gestaltungsentwürfen Verbindlichkeit für die gesamte Gesellschaft zu verleihen, indem sie sie zu positivrechtlichen Normen mittels institutionalisierter Verfahren erhebt. So erscheint das Recht ebenfalls als ein System von sozialen Verhaltensnormen, das allgemein Verbindlichkeit genießt, weil es organisiert und gesichert ist durch die staatliche Gestaltungs- und Vollzugsgewalt. Wie der Staat die Klassenorganisation der jeweils herrschenden sozialen Klasse ist, ist in diesem Verständnis das Recht die verbindliche normative Verhaltensordnung, die diese Klasse installiert. Die so skizzierte Auffassung von Recht und den anderen sozialen Normen ist durch das Merkmal des sozialen Konflikts gekennzeichnet. Wie wir bereits für den sozialistischen Staat gesehen haben (oben Kap. 2, II, 3), wird diese Charakteristik in der sog. entwickelten sozialistischen Gesellschaft jedoch nicht mehr durchgehalten: Der sozialistische Staat präsentiert sich hier als eine allgemeine Organisation, ein Staat des "ganzen Volkes". Dementsprechend wird auch das sozialistische Recht dieser Epoche nicht mehr als Instrument der Klassenherrschaft, sondern als eine Verhaltensordnung nach Maßgabe der gemeinsamen Interessen aller sozialen Gruppen in der Gesellschaft qualifiziert (siehe unten III). Die allgemeine Verbindlichkeit des Rechts ist ein Merkmal aller staatlich organisierten Rechtssysteme. Sie bringt seine positive, formale Geltung zum Ausdruck. Inwiefern das Recht aber tatsächliche Wirksamkeit besitzt, d. h. in den jeweiligen sozialen Verhältnissen Verwirklichung findet, hängt wesentlich von seiner sozialen Akzeptanz ab. Wenn man von den Fällen der Verwirklichung des Rechts durch die staatliche Vollzugsgewalt absieht, sind es die 3 Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1: Grundlegende Institute und Begriff, dt. Ausg., Köln 1974, S. 252. 4 Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 131: "Die sozialen Normen der Klassengesellschaft sind ihrem Wesen und ihrem Auftrag nach klassengebunden".
I. Positivität des Rechts
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sozialen und politischen Überzeugungen (Rechtsüberzeugungen) der Individuen und sozialen Gruppen, die die Akzeptanz und die Verwirklichung der Rechtsanordnung garantieren. Im Falle des sozialistischen Rechts stellen wir hierbei eine große Diskrepanz fest. Die regierenden Kommunistischen Parteien geben offen zu, daß die Internalisierung der Rechtsvorschriften durch ihre Adressaten bei weitem hinter den Erwartungen der politischen Führung bleibt. Der wahre Grund für diese Diskrepanz wird jedoch nicht erkannt oder aber nicht zugegeben: Man weist darauf hin, daß die Adressaten des Rechts nicht den gewünschten Stand der Bewußtseinsentwicklung erreicht haben, um aus voller Überzeugung den Direktiven der Kommunistischen Partei und den Anordnungen des Rechts folgen zu können; es wird jedoch verkannt, daß der eigentliche Grund für diese Diskrepanz darin liegt, daß das sozialistische Recht sozusagen auf künstliche Weise erzeugt wird, d. h. allein nach den politischen Vorstellungen und ethischen Überzeugungen der führenden Schicht der Kommunistischen Partei und weitestgehend ohne Berücksichtigung der Rechtsüberzeugungen der breiten Masse der Mitglieder der Gesellschaft. Das Problem der Wirksamkeit rechtlicher Normen steht im Zusammenhang mit der Frage nach den anderen sozialen Verhaltensnormen, die in den verschiedensten Bereichen gesellschaftlicher Verhältnisse eine steuernde Funktion ausüben. Die Ausdehnung rechtlicher Normierungen erfolgt in der Regel auf Kosten konventionaler sozialer Regelungen. Nur kann die Grenze zwischen den beiden Regelungsgebieten nicht allgemein angegeben werden. Auf jeden Fall ist in der modernen Industriegesellschaft ein Trend zur Ausdehnung staatlicher Normregelungen, eine "Überetatisierung" der Verhaltenssteuerung festzustellen, die die gewohnheitsmäßigen Verhaltensnormen immer mehr verdrängt. Während aber in den westlichen politischen Systemen dies bedauert wird und man versucht - mit mehr oder weniger Erfolg - , den Umfang staatlicher Regelungen einzuschränken, findet in sozialistischen politischen Systemen nahezu eine Verherrlichung etatistischer Tendenzen bei der Steuerung der sozialen Prozesse statt. Dieses Phänomen wird dort nicht negativ bewertet, weil man von vornherein eine Übereinstimmung von nichtstaatlichen sozialen Verhaltensnormen mit den staatlichen Rechtsregelungen postuliert. Außerdem geht die offizielle Doktrin davon aus, daß gewohnheitsmäßige Verhaltensnormen wie sozialistische Rechtsnormen eine gemeinsame ethische Grundlage in der sog. kommunistischen Moral haben, von der behauptet wird, daß sie allgemeine Anerkennung genießt5. 5 So heißt es im rechtstheoretischen Standardwerk der UdSSR dazu: "Die kommunistische Moral verkörpert den historisch höchsten Typ der Moral. Sie ist eine neue Etappe der moralischen Entwicklung der Menschheit, die Moral der Arbeit, die Moral der Befreiung der gesamten Gesellschaft von Ausbeutung und Klassenschranken. Ihr wichtigster Auftrag ist der Kampf für den Kommunismus, und darin beruht ihr allgemeinmenschlicher Sinn", Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd.4 (Anm. 1), s. 136.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
Eine Analyse der sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen zeigt, daß dort kaum noch soziale, nichtrechtliche Verhaltensnormen, die von Belang sind, gelten. Vielmehr hat eine totale Etatisierung der sozialistischen Gesellschaft stattgefunden. Im Bereich der Wirtschaft gelten keine Gewohnheitsnormen, Handels- oder sonstige Bräuche. Sie alle sind zurückgedrängt worden, weil sie nicht sozialistischer Herkunft waren. Sie wurden durch eine bis ins Detail gehende staatliche Normierung der Wirtschaftsbeziehungen ersetzt. Da die Wirtschaftstätigkeit zum größten Teil durch staatliche Unternehmen ausgeübt wird und der sozialistische Staat im übrigen die gesamte Wirtschaft unter seiner Kontrolle hält, ist es auch in Zukunft nicht zu erwarten, daß in diesem wichtigen sozialen Bereich sich gewohnheitsmäßige Verhaltensnormen, die nichtstaatlichen Charakter tragen, herausbilden. Auch solche empfindliche soziale Bereiche wie die persönliche Sphäre und die Familienbeziehungen sind in der sozialistischen Gesellschaft der Intervention des sozialistischen Staates ausgesetzt. Noch mehr: Der sozialistische Staat beansprucht hier einen moralischen Auftrag und eine Kompetenz, z. B. bei der Erziehung der Kinder im Geiste des Kommunismus, die mit den elterlichen Erziehungsbefugnissen nicht einmal konkurriert, sondern diese überschattet; dort, wo der Staat nicht direkte rechtliche Regelungen erläßt, behält er einen entscheidenden Einfluß bei der Gestaltung persönlicher Beziehungen in Ausführung seiner allgemein beanspruchten Erziehungsfunktion. Insbesondere wird durch die Ideologen der Kommunistischen Partei ein "Moralkodex" aufgestellt, der angeblich den ethischen Überzeugungen der Arbeiterklasse entspricht, in der Tat aber ein subtiles Instrument zur Stabilisierung der Macht der Kommunistischen Partei darstellt, indem er Verhaltensweisen für sozial wertvoll erklärt, die auf Übereinstimmung mit den Vorhaben der regierenden Kommunistischen Partei hinauslaufen. Durch eine Vereinnahmung allgemeinzivilisatorischer Werte erreicht die Kommunistische Partei einen doppelten Effekt: sie kann sich nach außen hin für eine politische Macht ausgeben, die sich hohen ethischen Werten verpflichtet fühlt, und durch eine eigenwillige Interpretation solcher Werte wie Freiheit, Humanismus oder Gemeinschaftsgeist und Arbeitsdisziplin erzwingt sie die Erfüllung von Pflichten gegenüber der Staatsgewalt. So kommt es, daß durch eine strenge dogmatische Beurteilung von ganz persönlichen Verhaltensweisen Verstöße gegen politische- und indirekt auch rechtliche - Maximen und Prinzipien abgeleitet werden, die dann mit Sanktionen staatlicherseits belegt werden können. Vor dem Hintergrund der totalen kommunistischen Ideologie verblaßt die Bedeutung der sozialen Normen, die vom sozialistischen Staat nicht erlassen oder sanktioniert werden. So ist es wenig überzeugend und entbehrt der theoretischen Begründung, wenn manche Autoren sich bemühen, das Verhältnis von Recht und Normen der Moral in der sozialistischen Gesellschaft so
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darzustellen, als ob die moralischen Normen eine Autonomie besäßen, was Herkunft und Regelungsfunktion angeht. Karewa legt besonderen Wert darauf, die Bedeutung der Moralnormen in der sozialistischen Gesellschaft herauszustellen und schreibt in diesem Zusammenhang, daß der Staat "nicht ausnahmslos alle Handlungen und Wechselbeziehungen der Menschen rechtlich regeln kann und dies auch nicht anstrebt; in vielen Fällen überläßt er ganz bewußt der Öffentlichkeit und den von ihr geschaffenen Normen der sozialistischen Moral die Aufgabe, das Verhalten der Menschen zu regeln"6. Wenig aufschlußreich für das sozialistische Recht sind dann allgemeine Behauptungen darüber, daß Recht und Moral sich bezüglich Herkunft und Durchsetzung verschiedener Mechanismen und Methoden bedienen, daß der Grad der Internalisierung beider Normenkomplexe unterschiedlich sei oder daß die Moral wirksamen Einfluß auf das Recht und seine Vervollkommnung nehme7. Wenn letztlich darauf hingewiesen wird, daß ethische Kriterien bei der Begründung und Ausübung subjektiver Rechte, bei Vertragsgestaltungen oder bei der Realisierung rechtlicher Haftung herangezogen werdens, so ist dies nur eine Selbstverständlichkeit für jede ausdifferenzierte Rechtsordnung und stellt keine Besonderheit des sozialistischen Rechts dar. Das Spezifische hier ist, daß die Moralnormen von der staatlichen kommunistischen Ideologie dominiert werden. In letzter Zeit macht sich ein Trend bemerkbar, allgemeinmenschliche Werte wie "Korrektheit im sozialen Umgang, Ehrlichkeit und persönliche Zuneigung in familiären Beziehungen", in das System propagierter Moralnormen der sozialistischen Gesellschaft einzubeziehen. Sie koexistieren mit den Postulaten kommunistischer Moral wie Vorrang der kollektiven Interessen, die Pflicht zur Zusammenarbeit und eine ausgesprochen antiindividualistische Lebenshaltung9. Dies darf jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, daß nunmehr in der sozialistischen Gesellschaft breiter Raum für spontane Entwicklung ethischer Vorstellungen und Normen gegeben wird. Einige überkommene ethische Werte werden vielmehr in den kommunistischen Moralkodex einbezogen und in seinem Geiste ausgelegt und angewandt, was mitunter zur völligen Verkehrung ihres ursprünglichen Inhalts führt.
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s. 138.
Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 141 ff.; P. Dojcac (Hrsg.), Te6ria stätu a pniva (Staats- und Rechtstheorie), Bratislava 1977, S. 210 ff. s Vgl. C. Statescu, Le röle des normes non-juridiques dans le droit, in: Rapports nationaux roumains au XI Congres International de Droit Compare, Seiences juridiques 26 (1982), S. 17 ff. 9 s. 16 f. 7
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
2. "Positivierung" der sozialen Verhaltensnormen
Das Recht ist im marxistisch-sozialistischen Rechtsverständnis, worauf bereits wiederholt hingewiesen wurde, ein Produkt der Klassenges,ellschaft. In der Gentilordnung der Urgesellschaft stellten die gesellschaftlichen Verhaltensnormen zwar eine normative Ordnung, jedoch kein Recht mit spezifischer Qualität dar. Der Anlaß zur Positivierung der bestehenden sozialen Verhaltensnormen, d. h. ihre Verbindung mit einer konsistenten staatlichen Macht, erwachse aus der Notwendigkeit, die Interessen einer sich ökonomisch als herrschend etablierten sozialen Gruppe, die ihre Interessen über die der anderen sozialen Gruppen stellt, zu gewährleisten. Weder die klassische marxistische Theorie noch die marxistisch-sozialistische Rechts- und Staatstheorie der Gegenwart haben dabei die Frage nach der Konfliktträchtigkeit aller Gesellschaften thematisiert, aus der sich die weiteren Fragen nach dem Charakter der sozialen Normen und ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft ableiten lassen. Diese Theorie hält an der These fest, daß die sozialen Verhaltensnormen in Gesellschaften, die nicht in Klassen- entsprechend dem marxistischen Klassenbegriff-geteilt sind, keinen konfliktschlichtenden Charakter tragen, im Interesse aller entstehen und auch von allen Mitgliedern der Gesellschaft ohne weiteres akzeptiert und befolgt werden. Diese sozialen Normen werden in der Klassengesellschaft in staatlich gesetztes, positive§ Recht umgewandeltlO, das der Konfliktträchtigkeit dieser Gesellschaft Rechnung trägt und die Interessen der jeweils herrschenden sozialen Klasse bevorzugt berücksichtigt. Genau genommen, vertritt die marxistische Theorie die Auffassung, daß das positive Recht neue Verhaltensnormen hervorbringt, weil die alten gewohnheitsmäßigen Verhaltensregeln nicht immer auf die Interessen der nunmehr herrschenden Klasse , deren Herrschaftsinstrument das Recht sein soll, ausgerichtet sind. Das sozialistische Recht selbst entsteht im Prozeß staatlicher Setzung als inhaltlich neue Verhaltensordnung im Interesse des Proletariats und wandelt sich später - wie dies die offizielle Doktrin behauptet - zu einem Recht des ganzen Volkes. Obwohl in der Theorie immer wieder behauptet wird, daß der sozialistische Staat auch vorexistente, gewohnheitsmäßige Verhaltensnormen sanktioniert und sie zum Bestandteil des geltenden Rechts macht, sind dies naturgemäß nur seltene Ausnahmen. Denn die neue, zu errichtende sozialistische Gesellschaftsordnung braucht Normen mit neuem sozialen Gehalt, die sich in der vorangegangenen kapitalistischen Gesellschaft durch spontane soziale Übung nicht haben entwickeln können. Auf diese Fragestellungen geht in letzter Zeit zunehmend die sowjetische Rechtstheorie ein. Es wird insbesondere die Frage nach den sozialen Fakto10 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1 (Anm. 3), S. 252; gegen diese Annahme H. Levy-Bruhl, Sociologie du Droit, Paris 1967, S. 19 ff.
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ren, die bei der Positivierung des Rechts eine wesentliche Rolle spielen, diskutiert. Alekseev hat die These eines "Rechts in unmittelbar sozialem Sinne" entwickelt. Er hebt hervor, daß dieses Recht aus der "tiefen Schicht des sozialen Lebens" hervorgehtll. Als Beispiele für soziale Verhaltensnormen, die in langer Übung entstanden sind und von den Beteiligten an den jeweiligen gesellschaftlichen Beziehungen als notwendig und wertvoll akzeptiert worden sind, gibt Alekseev die Regelung an, die sich die verschiedenen Vereinigungen der Einzelnen geben, aber auch die Moralnormen. Sie alle stellten ein Recht dar, das "nicht juristisch" ist. Zugleich zeichneten sich diese Normen dadurch aus, daß sie die "Wirkung der objektiven sozialen Gesetzmäßigkeit" vermitteln. Darin sei ihre zutiefst soziale Kraft begründet. Als Verhaltensorientierungen seien diese Normen zwar normativ, ihre Narrnativität zeige jedoch nicht die Qualität des positiven Rechts mit seinem allgemeinverbindlichen Verhaltensmaßstab. Die Narrnativität der "unmittelbar sozialen" Normen solle man im Sinne von Richtigkeit, von "sozialer Begründetheit" auffassenl2. Was Alekseev nicht sagt, ist, daß gerade die Schöpfung normativer VerhaltensregeJungen durch das spontane Wirken von Individuen in der sozialistischen Gesellschaft wegen der praktisch fehlenden Koalitionsfreiheit und der totalen staatlichen Kontrolle über alle Vereine zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken ist. Was die Normen der Moral angeht, muß man nocheinmal hervorheben, daß sie durch massive ideologisch-erzieherische Eingriffe der Kommunistischen Partei weitgehend oktroyiert und dadurch einer spontanen Entwicklung entzogen sind. Eine weitere Charakteristik dieses nicht positiven, sog. allgemeinsozialen Rechts sei, daß es als Forderung des gesellschaftlichen Bewußtseins in einer bestimmten sozialen Epoche auftritt. Alekseev sieht hier Forderungen nach "allgemeinen Menschenrechten" und anderen sozialen emanzipatorischen Tendenzen und hebt ihren Einfluß auf die Herausbildung des positiven Rechts hervor. Er erkennt ihnen jedoch nicht die Qualität von Recht (Gewohnheitsrecht) zu, auch wenn sie sich zu Handlungsanweisungen verdichtet haben. Für ihn konstituiert sich Recht nur als "objektives Recht", als "institutionelles Gebilde"l3. Somit bleibt der Autor inkonsequent, indem er zwar auf die Bedeutung der sozialen Faktoren für die Herausbildung des Rechts hinweist, jedoch nicht zeigt, welche konkreten Formen dieser Einfluß der sozialen Faktoren bei der Entstehung von Recht annimmt. Der theoretische Ertrag der hier diskutierten These ist nicht sehr hoch zu veranschlagen. Denn die These von den Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Faktoren und normativer Rechtsordnung gehört - in dieser allge11 S. S. Alekseev, Pravo i pravovaja sistema (Recht und Rechtssystem), Pravovedenie 1980, H 1, S. 27. 12 s. 28. 13 s. 29.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
mein gefaßten Form - zu den Elementardaten einer jeden zeitgemäßen Rechts- und Staatstheorie. Viel wichtiger ist die wissenschaftsstrategische Absicht, die dahinter steht: Die marxistisch-sozialistische Staats- und Rechtstheorie will dem sozialistischen Recht das Odium nehmen, ein zu allen Zwekken einsetzbares Instrument zu sein und es als im Trend des gesellschaftlichen Fortschritts liegendes Gestaltungsmittel hinstellen. Die Theorie rückt dabei nicht von ihrer grundsätzlichen Position ab, namentlich, daß das Recht jeweils im Interesse der herrschenden Klasse institutionalisiert wird. Dies soll aber nunmehr die Charakteristik vorsozialistischer Rechtstypen darstellen, die alle, und im besonderen das kapitalistische Recht, sich allein an das eng gefaßte Klasseninteresse orientierten. Das kapitalistische Recht gäbe nur vor, allgemeinmenschliche Werte zu realisieren, während es in Wirklichkeit allein ein Instrument der Klassenherrschaft der Bourgeoisie sei. Das sozialistische Recht hingegen zeige durch die Berücksichtigung der "allgemein-soziologischen" und der "moralisch-politischen" Forderungen, daß es die Impulse der fortschreitenden sozialen Entwicklung in sich aufnimmt und dadurch seine "grundsätzliche Überlegenheit" als ein Recht "höheren historischen Typus" unter Beweis stellt14, Auf diese Hereinnahme neuer Elemente in den sozialen Gehalt des sozialistischen Rechts wird unten noch im einzelnen einzugehen sein (siehe unten II). In dem hier erörterten Zusammenhang ist es jedoch wichtig hervorzuheben, daß die marxistisch-sozialistische Rechtstheorie der Gegenwart trotz der erheblichen Erweiterung ihrer Forschungsperspektive, in der die Untersuchung des sozialen Umfeldes des Rechts ein wichtiges Thema darstellt, in der Frage der Positivität des Rechts letztlich keine neuen Momente zeitigt, die auf eine Überwindung ihrer dogmatischen Prämissen hindeuteten. Rabinovic berichtet über verschiedene Versuche in der sowjetischen Rechtslehre, zu einer umfassenderen Begriffsbestimmung des Rechts zu gelangen. Er weist darauf hin, daß in den letzten Jahren dort auch Ansichten vertreten worden sind, nach denen das Recht auch unabhängig von der staatlichen Organisation entstehen kann's. Rabinovic selbst kritisiert diese Auffas.sung. Er verneint die Möglichkeit, ein vor- oder außerpositives Recht zu akzeptieren. Zur Begründung dieser Ansicht führt er vor allem erkenntnistheoretische Argumente an: nach ihm ist die Einheit des untersuchten Phänomens trotz seiner Vielfalt, die durch verschiedene Begriffe wiedergegeben werden kann, nur durch einen "wesentlich-substantiellen" Begriff zu erfassen. Jeder Begriff des Rechts müsse auf zwei Fragen Antwort geben: 1. Welches reale Phänomen, welche "Substanz" steckt hinter diesem Begriff und wird durch ihn wiedergegeben und 2. welches ist die objekive Funktion, die dieses 14 Vgl. P. M. Rabinovit, 0 ponimanii i opredelenijach prava (Über das Verständnis und die Bestimmungen des Rechts), Pravovedenie 1981, H . 4, S. 55 f. ts S. 54 mit Nachw.
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Phänomen (Recht) zu erfüllen hat. Das Recht befinde sich zwar in Wechselwirkung mit vielen sozialen Faktoren, jedoch allein das Recht habe die Funktion, eine "formelle, allgemeinverbindliche Klassenregelung der sozialen Beziehungen" zu geben. Und dies erfolge allein durch "staatlich gesetzte Verhaltensnormen"l6. Daher müsse der Begriff des Rechts dieses wesentliche Moment zum Ausdruck bringen und dürfe nicht verwässert werden mit Hinweisen auf andere, zwar existierende, jedoch nebensächliche Charakteristika des Rechtsphänomens. Für solche sozialen Erscheinungen, die mit dem Recht verbunden sind, habe die marxistische Sozialphilosophie eigene Begriffe entwickelt, z. B. "soziale Beziehungen", "Freiheit", "soziale und individuelle Interessen" oder "objektive soziale Gesetzmäßigkeiten". Die Rechtswissenschaft gewinne zwar, wenn diese Begriffe zur Erfassung des sozialen Umfeldes des Rechts verwendet werden, sie dürfen jedoch nicht mit dem eigentlichen (staatlich-positiven) Begriff des Rechts verwechselt werdenl7. Hier zeigt sich eine halbherzige Öffnung der Forschungsperspektive für den breiten Bereich der sozialen Wirklichkeit, die benutzt wird, nicht um den Begriff des Rechts anzureichern und ihn möglicherweise neu zu formulieren, sondern eher um den alten, immer noch herrschenden positivistischen Rechtsbegriff gegen neuere soziologische Tendenzen zu immunisieren. So bleibt letztlich das Verhältnis von sozialen Normen und positiven Rechtsnormen ungeklärt, solange man nicht zeigt, wie sich diese Normen bei der Entstehung von positivem Recht auswirken, das angeblich aus der "tiefen Schicht des sozialen Lebens" hervorgehe, wie Alekseev dies behauptetls. Diese Fragestellungen stehen auch im Zusammenhang mit der Frage nach dem Rechtsquellenverständnis im sozialistischen Recht. 3. Rechtsquellen
Die Rechtsquellenproblematik im sozialistischen Recht wurde früher unter einem formalen Aspekt, d. h. dem Aspekt der Rechtsnormen, die sich in einem hierarchischen Verhältnis zueinander befinden und dementsprechend als Grundlage für Rechtsentscheidungen herangezogen werden, und unter einem sozusagen materiellen, d. h. soziologischen Aspekt, betrachtet. Auf den letzteren wurde in der Theorie besonderen Wert gelegt mit der Feststellung, daß das Recht aus den sozialen Verhältnissen, den "materiellen Bedin16 17
s.
59.
s. 58.
18 Siehe oben Anm. 11; ein mehrseitiger Zugang zum Recht ("normativen", "genetischen" und "soziologischen") wird über die Kategorie "Rechtssystem" befürwortet, vgl. V. N. Kudrjavcev/A. M. Vasil'ev, Pravo: razvitie obScego ponjatija (Recht: Entwicklung des allgemeinen Begriffes), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1985, H. 7, S. 3 ff., 10; trotzdieses realistischen Ansatzes bleiben die Theorien der herrschenden rechtspositivistischen Grundhaltung treu.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
gungen" des gesellschaftlichen Produktionsprozesses hervorgehti9. Gerade dieser Aspekt, der für ein marxistisch-materialistisches Rechtsverhältnis kennzeichnend sein sollte, ist in der marxistischen Rechtstheorie wegen ihrer starren positivistischen Haltung nicht weiter entwickelt worden. So ist man nicht zu der Erkenntnis gelangt, daß die sozialen Verhältnisregeln, die sich im Verlauf der gesellschaftlichen Praxis entwickelten, die Qualität von Rechtsquellen beanspruchen können. Genauso wie für den Begriff des Rechts das soziale Umfeld ohne Auswirkungen blieb, wurde auch die tiefe Zäsur zwischen einem "sozialen" Recht- den Verhaltensregeln der gesellschaftlichen Praxis- und dem positiven Recht nicht überwunden. Das Problem der Beziehung von gesellschaftlicher Praxis und Rechtsquellen hat für die sozialistische Gesellschaft der Gegenwart keine praktische Bedeutung. Wie bereits gezeigt wurde (oben I, 1), sind alle Bereiche stark vom staatlichen Recht durchdrungen, und soziale Verhaltensnormen mit weitreichender Relevanz entstehen nicht außerhalb der staatlichen Sphäre. Der sozialistische Staat verhindert geradezu mit seinem totalen Machtanspruch die spontane Regulierung sozialer Verhältnisse. Daß dem Gewohnheitsrecht jede rechtliche normative Kraft abgesprochen wird, geben die Autoren des öfteren auch unumwunden zu. So hebt z. B. Sebanov die "negative Einstellung des zeitgenössischen sowjetischen Rechts zum Rechtsbrauch" hervor und stellt fest, daß mit der Errichtung des Sozialismus "das sowjetische Recht keine Fälle des Rechtsbrauches mehr kennt"20. Diese strikte Ablehnung gesellschaftlicher Spontaneität ist für totalitäre politische Systeme charakteristisch. Denn letztere versuchen, alle relevanten sozialen Handlungen durch Recht, und d. h. allgemein verbindlich im Sinne einer staatstragenden Ideologie zu regeln. Gesellschaftliche Spontaneität bei der Entstehung sozialer Verhaltensregeln, die in Richtungen geht, die von der Staatsideologie nicht gedeckt sind, ist unerwünscht und sogar gefährlich. Sie bringt soziale Forderungen mit sich und ruft auch die Kräfte zu ihrer Realisierung auf den Plan. So entspricht ein strikter Gesetzespositivismus besser dem marxistischen Rechts- und Staatsverständnis. Die Rechtsquellenlehre des sozialistischen Rechts sieht den Prozeß der Normerzeugung im Zusammenhang mit der "Leitung der Gesellschaft", eine Aufgabe, die dem Staat immanent sei2I. Dazu schreibt Alekseev: "Die Recht19 Vgl. /. Szabo, Socialisticeskoe pravo (Das sozialistische Recht), russische Ausgabe, Moskau 1964, S. 157 ff. mit Nachw.; Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1 (Anm. 3), S. 410 ff. 2o Zitiert nach S. L. Zivs, lstocniki prava (Rechtsquellen), Moskau 1981, S. 152; ablehnend zur "Regelhaftigkeit" des sozialen Verhaltens, die an sich schon ein "Recht im weiten Sinne" konstituiere R . 0. Chalfina, Cto est'pravo: ponjatie i opredelenie (Was ist Recht: Begriff und Bestimmung), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1984, H. 11, s. 21 ff., 24.
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setzung ist eine spezifische Art der sozialen Leitung. Sie ist eine staatliche Tätigkeit, die in der "Schaffung von Recht", in der Erhebung des herrschenden Willens zum Gesetz, in der Einführung neuer Normen in das Rechtssystem und der Änderung und Aufhebung von Normen besteht"22. So ergibt sich aus der totalitären Staatskonzeption und der Regelungsaufgabe des sozialistischen Rechts zwangsläufig, daß als Quellen des Rechts nur staatlich gesetzte Normen fungieren können23. Vor diesem Hintergrund sind auch die Kompetenzen nichtstaatlicher Organisationen (der sog. gesellschaftlichen Organisationen, wie Gewerkschaften und andere Vereine) zur Regelung der internen Beziehungen zwischen Mitgliedern und Organisation zu beurteilen. Sie erzeugen keine Rechtsnormen,. für die eine allgemeine Verbindlichkeit charakteristisch ist. Dies wird in der Rechtstheorie der DDR auch in letzter Zeit klar herausgestellt24. In der sowjetischen Literatur wird demgegenüber bei der Behandlung der Rechtsquellenproblematik die Frage nach der Normsetzungskompetenz von gesellschaftlichen Organisationen aufgeworfen. Die Untersuchungen von Zivs in seiner neuesten Arbeit über die Rechtsquellen vermitteln zunächst den Eindruck, daß den gesellschaftlichen Organisationen die Kompetenz zur Rechtsetzung zuerkannt wird. Der Autor bringt auch die entsprechende Normsetzungskompetenz dieser Organisationen unter die Rubrik der einzelnen Arten der Rechtsetzung25. Bei einer näheren Analyse stellt sich jedoch heraus, daß hier nur diejenigen Fälle von Normativakten gesellschaftlicher Organisationen gemeint sind, in denen diesen Organisationen ausdrücklich staatliche Kompetenzen zur Normsetzung - z. B. im Bereich der Sozialversicherung und des Arbeitsschutzes im Falle der Gewerkschaften - übertragen worden sind26. Auch die Kompetenz der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, ihre Musterstatuten zu erarbeiten, ist eine delegierte Kompetenz. Diese Statuten erlangen rechtliche Qualität erst, nachdem sie durch einen staatlichen Rechtsakt bestätigt worden sind27. So bleibt die marxistische Rechtsquellenkonzeption eine rein positivistische28. 21 S. S. Alekseev, Obscaja teorija prava (Allgemeine Rechtstheorie), Bd. 1, Moskau 1981, S. 288 ff. , 306 ff.; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie , 3. Auf!., Berlin (Ost), S. 496 ff. 22 Alekseev (Anrn. 21), S. 310. 23 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1 (Anrn. 3), S. 412; Zivs nennt es eine "axiomatische Wahrheit" , daß im sozialistischen Recht die Rechtsetzung eine "Prerogative des Staates" ist (Anrn . 20, S. 10). 24 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anrn. 21), S. 535 f.; A. Michalska, The Positivistic Element in the Marxist Definition of Law and its Evaluation, in: A . Lopatka (ed.), Conternporary Conceptions of Law, Warschau 1979, S. 97. 25 Vgl. Zivs (Anrn. 20), S. 148 f., der vorn "Platz der Normativakte der gesellschaftlichen Organisationen im System der Rechtsquellen" spricht. 26 S. 148 ff. 27 Siehe die bei Zivs (Anrn. 20, S. 11) zitierte einschlägige Literatur.
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4. Rechtsquellen. Bedeutung der Rechtsprechung
Der Rechtsprechung erkennt die marxistische Rechtstheorie die Qualität einer Rechtsquelle nicht zu. Die Erklärung dafür liegt in der eindeutig gesetzespositivistischen Einstellung, die in der Theorie vorherrscht. Früher wurde die These rigoros mit dem positivistischen Argument begründet, daß die Gerichte nur dazu aufgerufen seien, die Gesetze und andere Rechtsvorschriften, die Quellen des Rechts bilden, anzuwenden29. Nur selten haben sich Autoren dafür ausgesprochen, der Rechtsprechung die Qualität einer Rechtsquelle zuzuerkennen. Dies hat z. B. Viktor Knapp versucht, ohne jedoch die eigentliche Problematik, die sich aus der Spezifik der richterlichen Entscheidungstätigkeit ergibt, im einzelnen darzulegen3o. Knapp sichert seine These gegen die herrschende Meinung durch Überlegungen über die Einhaltung des Legalitätsprinzips, der sog. sozialistischen Gesetzlichkeit ab und verlagert auf diese Weise die Problematik von der Notwendigkeit richterlicher Rechtseezeugungsbefugnis auf die Ebene der Begründung und Rechtfertigung des durch Gerichte erzeugten Rechts31, Vilmos Peschka hat das Problem der richterlichen Rechtserzeugung untersucht, seine Bedeutung jedoch für den sozialistischen Normbildungsprozeß ziemlich niedrig veranschlagt32 • Er gesteht dem Richter eine gewisse Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Wandlungen ein, erklärt sich jedoch letztlich mit der herrschenden Meinung solidarisch, nach der diesen Wandlungen "durch eine rasche und elastische Entwicklung der Gesetzgebungspraxis" entsprochen werden kann33. Das Gesetz allein vermöge "die Typizität und Allgemeinheit der zu regelnden gesellschaftlichen Verhältnisse" zu erfassen und die "Allgemeinheit des im Gesetz sich kundgebenden Klassenwillens" zum Ausdruck zu bringen. Demgegenüber hafte dem richterlichen Urteil das Einzelne, Zufällige und Unsic~ere an34. Nicht ohne Widerspruch zu seiner Grundthese räumt Peschka letztlich ein, daß auch der richterliche Spruch eine allgemeine normative "faktische Geltung" erlangen kann35. 28 Michalska (Anm. 24), S. 96, schreibt: "The standpoint of the socialist theory that to law belong only general norms established by the state is a reference to the positivistic concepts". 29 Vgl. über die herrschende Lehre V. Petev, Rechtsfindung und Bindungen des Richters im sozialistischen Rechtskreis, in: F. Kaulbach/W. Krawietz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft, Festschrift für H . Schelsky, Berlin 1978, S. 397 f. mit weiteren Nachweisen. 30 V. Knapp, La creation du droit par Je juge dans !es pays socialistes, in: Ius privatum gentium, Festschrift für M. Rheinstein, Bd. I, Tübingen 1969, S. 69, 83 f. 31 Vgl. Petev (Anm. 29), S. 399. 32 V. Peschka, Grundprobleme der modernen Rechtsphilosophie, Budapest 1974, s. 181 ff. 33 s. 186. 34 s. 183 ff. 35 s. 176 f.
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Die herrschende Lehre bleibt auch heute noch bei ihrem ablehnenden Standpunkt bezüglich der Rechtsquellenqualität der Rechtsprechung36. Sie geht zwar differenzierter vor, indem sie versucht, die Besonderheiten der richterlichen Tätigkeit herauszustellen und zu berücksichtigen. Sie bringt auch ein gewisses Unbehagen gegenüber dem früheren, strikt ablehnenden Standpunkt in der hier interessierenden Frage zum Ausdruck. In der Vergangenheit beharrte die Theorie strikt auf der Unterscheidung zwischen rechtssetzenden und rechtsanwendenden staatlichen Organen und zählte die Gerichte - nach alter positivistischer Auffassung - uneingeschränkt zu den letzteren. In der neueren Literatur hingegen wird mehr mit dem Individualcharakter der richterlichen Entscheidung als Rechtsakt argumentiert. Die Autoren sind fast einhellig der Meinung, daß als Normativakte, die Quellen des Rechts darstellen, nur die generellen Normen (Gesetze, Verordnungen) gelten können. Die Individualakte, wie Verwaltungsakte und Gerichtsurteile, besäßen dagegen keine Rechtsquellenqualität37 . Abweichende Meinungen hierüber sind nur vereinzelt anzutreffen38. Die Auffassung, nach der nur generelle Regeln Normen sein können, geht von einem engen, in der modernen Rechtstheorie als überwunden zu betrachtenden Normbegriff aus. Sie übersieht die Einheit von Normsetzung und Normverwirklichung, aus der sich ergibt, daß letztlich das Recht immer konkret ist, d. h. daß die generellen Normen ihre Regelungsfunktion erst im konkreten Einzelfall erfüllen, und daß dies die Individualnorm bewirkt. Die marxistisch-sozialistische Rechtstheorie übersieht auch einen wichtigen Aspekt der richterlichen Rechtsfortbildung, nämlich, daß die aufgestellte Norm den zu entscheidenden Fall in erster Linie betrifft, daß sie jedoch aus dem Begründungszusammenhang heraus mit dem Anspruch einhergeht, daß dies Recht ist, und somit auch spätere gleichgeartete Fälle in derselben Weise zu entscheiden sind. Insofern haftet der individuellen richterlichen Norm ein potentieller allgemeiner Charakter an. Alekseev untersucht die Bedeutung der richterlichen Tätigkeit im Normsetzungsprozeß. Er verneint letztlich den Rechtsquellencharakter der Rechtsprechung, meint gleichwohl, daß dem Gericht eine besondere Bedeutung bei der "Anwendung" des Rechts zukommt. Der Autor nimmt als Ausgangspunkt für seine Überlegungen den Fall von GesetzeslÜcken und untersucht daran die Rechtsquelleneigenschaft richterlicher Urteile. Auch für Alekseev gehören Vgl. z. B . Zivs (Anm. 20), S. 176 ff. Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 164,232,252 ff., 267; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 21), S. 506 ff., 522. 38 Alekseev (Anm. 21, S. 333) bezeichnet die gerichtliche Entscheidung als eine "Regel für den gegebenen Fall", die eine Norm darstellt; in der polnischen Lehre gibt es Autoren, die individuelle Akte durchaus als Rechtsnormen (Individualnormen) ansehen, vgl. z. B. J. Wroblewski, Law and Cognition of Reality, in: A. Lopatka (ed.), Contemporary Conceptions of Law, Warschau 1979, S. 200 f. 36
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
nur generelle Normen zum Recht. Dennoch erklärt er den Richterspruch nicht schlicht zum individuellen Rechtsakt, der allein aus diesem Grunde keine Rechtsnorm (Rechtsquelle) sein kann. Alekseev sieht richtig, daß das Recht ein stabiles und zugleich elastisches Regelungssystem sozialer Beziehungen sein und bleiben muß, daß es aber gerade wegen der Dynamik der sozialen Beziehungen ständig ergänzt und angepaßt werden muß39. Und gerade hier stellt sich die Frage, ob diese Anpassung und Ergänzung des geltenden Rechts nur vom Gesetzgeber vorgenommen wird oder ob nicht auch die Rechtsanwendungsorgane, insbesondere die Gerichte, dazu aufgerufen sind. Alekseev bejaht die Frage, daß die Gerichte die Lücken im Recht ausfüllen, und zwar durch Gesetzesanalogie und- in seltenen Fällen - auch durch Rechtsanalogie. Aus grundsätzlichen Erwägungen liegt ihm aber daran, nachzuweisen, daß durch die Entscheidungen der Gerichte in solchen Fällen keine Rechtsnormen geschaffen werden, d. h. , daß die richterliche Tätigkeit keine Rechtsquelle darstellt. Dabei greift er zu einer Unterscheidung zwischen "unvollständigen Lücken in der Gesetzgebung", die von den Gerichten ausgefüllt werden, und "Lücken im Recht", die eine "völlige Neuregelung" erfordern 40 • Letztere Fälle stünden "außerhalb der rechtlichen Regelung" und könnten daher von den Gerichten nicht behandelt werden. Die Aufgabe der Gerichte, das Rechtssystem zu ergänzen, sieht Alekseev in der ersteren Fallgruppe, bei der Schließung von Lücken in der Gesetzgebung. Die Tätigkeit der Gerichte qualifiziert er hier als eine "rechtsausfüllende Tätigkeit". Durch eine merkwürdige Konstruktion versucht der Autor nachzuweisen, daß es sich dabei nicht um eine Rechtsfortbildung, und d. h. um Schaffung neuer Rechtsnormen, sondern lediglich um eine besondere Technik ("rechtsausfüllende" Tätigkeit) der Rechtsanwendung handelt. Denn in dieser Situation fehlten zwar ausdrücklich gesetzliche Vorschriften, die den zu entscheidenden Fall anvisieren, und insofern bestehe eine "Lücke in der Gesetzgebung". Die fehlende gesetzliche Bestimmung werde jedoch nicht durch eine neue Norm, die das Gericht schafft, ersetzt. Vielmehr vermittle das Gericht durch seine Entscheidung die Geltung des Rechts41. Wie dieser konkrete Rechtsakt, der keine neue Norm aufstellt, die Geltung nicht vorhandener Rechtsvorschriften vermitteln kann, bleibt unerfindlich. Der Hinweis darauf, daß sich die Entscheidung aus den Prinzipien des geltenden Rechts und nicht aus konkreten Rechtsvorschriften ergibt, ist auch weniger hilfreich, denn sie suggeriert ein im positivistischen Sinne verstandenes geschlossenes Rechtssystem, das für alle gegenwärtige und künftige Lebenstatbestände eine potentielle Normierung bereit hält und insofern eigentlich keine Lücken kennt. 39 40
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Alekseev (Anm. 21), S. 331 f.
s. 330. s.
334.
II. Der allgemeine soziale Gehalt des Rechts
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Zu solchen wenig überzeugenden Konstruktionen kommt Alekseev, weil er die herrschende Lehre bezüglich der Quellen des sozialistischen Rechts stützen will. Diese Lehre, die die Rechtsprechung nicht als Rechtsquelle akzeptiert, tut dies nicht allein aus einem übertriebenen Gesetzespositivismus heraus. Vielmehr visiert sie einen politisch-ideologischen Effekt an. Der Richter soll jeder Zeit unter der Kontrolle der Verfügungsgewalt der Kommunistischen Partei stehen. Er soll nicht die Möglichkeit und Befugnisse erhalten, wesentliche Einflüsse auf das geltende Recht - durch Interpretation und Rechtsfortbildung- auszuüben. Er soll vielmehr das Recht im Interesse des Gewaltmonopols der Kommunistischen Partei und nach ihrem politischen Verständnis handhaben. Dieser politisch-ideologischen Zielsetzung dient auch die Richtlinienkompetenz der Obersten Gerichte im sozialistischen Rechtssystem. Sie erschöpft sich keineswegs in der fachlichen Anleitung der nachgeordneten Gerichte durch Grundsatzentscheidungen im Instanzenwege. Denn durch die Richtlinien werden geltende Rechtsvorschriften verbindlich interpretiert und mit Anweisung zur Befolgung durch die Instanzgerichte verbunden. Nach herrschender Lehre sind diese Richtlinien keine Rechtsnormen42. Ihre besondere Charakteristik liegt darin, daß durch sie eine "politische Leitung" über die unteren Gerichte ausgeübt wird43 . Die Richtlinien enthalten nicht den eigenen Rechtsstandpunkt des jeweiligen obersten Gerichts und einen von ihm erarbeiteten politischen Standpunkt, sondern sind ein besonderer Mechanismus zur Übertragung der Direktiven der Kommunistischen Partei unmittelbar in die Spruchtätigkeit der Gerichte. Durch diesen Mechanismus werden politische Wertungen und konkrete Beschlüsse der Kommunistischen Partei im Rechtsverwirklichungsprozeß durchgesetzt. So wird auch im Bereich der "unabhängigen" Rechtsprechung der Macht- und Führungsanspruch der Kommunistischen Partei gewährleistet.
II. Der allgemeine soziale Gehalt des Rechts 1. Begriffliche Präzisierungen
Wenn das Recht aus den sozialen Bedingungen staatlich organisierter Gesellschaften hervorgeht und nicht die Verkörperung einer transzendentalen Idee ist, so muß man ihm von vornherein eine soziale Natur attestieren. Dieser Gedanke wird noch dadurch bestätigt, daß dem Recht wesentlich die Funktion zugewiesen wird, soziale Beziehungen zu regeln. Diese Regelungs42 Vgl. Petev (Anm. 29), S. 395 mit Nachw.; auch Alekseev (Anm. 21), S. 354 f.; anderer Ansicht Zivs (Anm. 20), S. 176 ff., 185. 43 Vgl. H. Töplitz, Aufgaben der Rechtsprechung und ihrer Leitung in Vorbereitung des IX. Parteitages der SED, Neue Justiz 1976, S. 33, 36.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
funktion erfüllt das Recht entsprechend einem Konzept, das ihm von den jeweiligen relevanten sozialen Gruppen in der Gesellschaft beigelegt wird. Die sozialen Beziehungen, die das Recht regelt, erhalten auf diese Weise eine bestimmte Ausprägung, so daß man durch sie die jeweilige soziale und politische Ordnung der Gesellschaft identifizieren kann. Das Recht ist in einer gegebenen sozialen Epoche - und in einem auch räumlich abgrenzbaren Feld - von einem bestimmten Typus, weil es unabhängig von der Vielgestaltigkeit der konkreten Normanordnungen (Rechtsnorminhalte) auf die Realisierung eines bestimmten für das jeweilige soziale System einheitlichen Konzepts einer verbindlichen sozialen Ordnung (Rechtsordnung) ausgerichtet ist. Dies bildet den allgemeinen sozialen Gehalt des Rechts. Das Recht wird durch diesen seinen Gehalt hinreichend charakterisiert. Die marxistische Rechtsphilosophie spricht hier vom Klassencharakter des Rechts als seinem hauptsächlichen Charakteristikum. Es erscheint als Herrschaftsinstrument einer sozialen Klasse, die ihre Position in der Gesellschaft als Eigentümer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sichert. Das Recht wird in dieser Konzeption, wie unten noch zu zeigen sein wird, auf einen Inhalt reduziert, der allein die Interessen dieser herrschenden sozialen Gruppe- im marxistischen Sinne Klasse- repräsentiert. Das Recht allein als Ausdruck des Willens und der Interessen einer herrschenden sozialen Gruppe aufzufassen, bedeutet jedoch, seinen allgemeinen sozialen Gehalt zu vereinfachen und zu verarmen. Denn auch in Gesellschaften, in denen eine totalitäre politische Gewalt herrscht, rührt das Recht von den komplexen sozialen Beziehungen her und hat weitere, konstruktive Aufgaben als die Machterhaltung einer herrschenden Gruppe, die selbst nur unter Berücksichtigung komplizierter sozialer Konstellationen, in denen das Recht eine wesentliche Rolle spielt, realisiert werden kann. 2. Das Recht im Geschichtsprozeß
Die Feststellung, daß das Recht sich im Laufe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gewandelt hat, ist nicht neu. Sie gehört zu den Grunderkenntnissen aller historischer und soziologischer Theorien des Rechts, die nicht mit absoluten Wertvorstellungen operieren. Sie ist nicht ein Produkt erst der marxistischen Rechtstheorie und Philosophie, ist vielmehr von ihnen übernommen und in die spezifische Perspektive der Klassengesellschaft gestellt worden. Die Grundthese der marxistischen Theorie vom Recht als Instrument der Klassenherrschaft in der Gesellschaft soll in einem anderen Zusammenhang näher untersucht werden. Hier ist jedoch wichtig festzuhalten, daß in ihrer Perspektive das Recht seinen allgemeinen sozialen Gehalt ändert, indem es
II. Der allgemeine soziale Gehalt des Rechts
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die Interessen und Wertvorstellungen der sich im Geschichtsverlauf ablösenden jeweiligen ökonomisch und politisch herrschenden Klassen zum Ausdruck bringt. Da die Interessen der herrschenden Klasse immer die herrschenden Interessen in der Gesellschaft sind, werden sie als solche durch das Recht geschützt. Die herrschende Klasse ist jedoch zu einer solchen geworden aufgrund einer historischen Notwendigkeit, die sich immer wieder durchsetzt. Die unterdrückte Klasse, die Träger einer neuen, fortschrittlichen Produktionsweise materieller Güter ist und daher auch Träger neuer Ideen, tritt im Ergebnis der erfolgreich durchgeführten sozialen Revolution als neue Herrschaftklasse auf den Plan. Dieser Geschichtsdeterminismus bringt mit sich, daß jeder Typus von Recht als Herrschaftsinstrument der jeweils herrschend gewordenen Klasse eine höhere Entwicklungsstufe von Recht darstellt. So erscheint automatisch das Recht der Feudalgesellschaft als ein höherer Typus von Recht im Verhältnis zum Recht der Sklavenhaltergesellschaft und das kapitalistische Recht als höherer Typus in Vergleich zum feudalistischen. Für das sozialistische Recht wird daraus eine doppelte Legitimation abgeleitet: Es erscheint als ein notwendiges Produkt der Geschichte, das, so gesehen, einer jeden- noch nicht sozialistisch gewordenen- Gesellschaft entwicklungslogisch bevorsteht. Zum anderen ist dieses Recht nicht nur durch einen höheren geschichtlichen Rang gekennzeichnet, sondern weist auch eine neue Qualität auf. Es ist das Herrschaftsinstrument einer Klasse, die zum ersten Mal in der Geschichte keine ausbeuterische herrschende Klasse ist. So sichere das sozialistische Recht einen echten gesellschaftlichen Fortschritt und führe in die höchste Gesellschaftsformation des Kommunismus über. 3. Das Recht als Machtinstrument der herrschenden Klasse in der Gesellschaft
Alle Begriffsbestimmungen des Rechts, die die marxistische Rechtsphilosophie liefert, haben eine ausgeprägte voluntaristische Orientierung: Das Recht entsteht nicht spontan als lange geübte zweckmäßige Verhaltensregelung, es ist vielmehr Ausdruck des klassenmäßigen Willens einer herrschenden sozialen Gruppe. Die von Vysinskij Ende der 30iger Jahre eingeführte Definition des Rechts, die für längere Zeit herrschend war44 , zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß sie dem Klassenwillen eine besondere Rolle bei der Entstehung des Rechts einräumt. Die herrschende Klasse kann demnach alle Verhaltensweisen in der Gesellschaft sanktionieren und neue anordnen, wenn dies ihrem 44 Vgl. A. Ja. Vysinskij, Voprosy teorii gosudarstva i prava (Fragen der Staats- und Rechtstheorie), 2. Aufl., Moskau 1949.
7 Petev
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
Willen und Interesse entspricht. Ausdrücklich wird in allen Definitionen des Rechts, die die sowjetische Rechts- und Staatstheorie auch in den späteren Jahren erarbeitet hat, hervorgehoben, daß die herrschende Klasse das Recht mit dem Ziel gestaltet, daß in der Gesellschaft nur solche Beziehungen entstehen, gefestigt und entwickelt werden, die vorteilhaft für diese herrschende Klasse sind45. Der voluntaristische Charakter des Rechts dominiert in dieser Auffassung. Die Bezüge des Rechs zu den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen werden abgeschnitten, und zwar gegen alle klassische marxistische Auffassung, die den Zusammenhang von Recht und den "materiellen Lebensbedingungen" der jeweils herrschenden Klasse betonte. Denn schon Marx und Engels schrieben im Manifest der Kommunistischen Partei: "Aber streitet nicht mit uns, indem ihr an euren bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw. die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums messt. Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der vom Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse" 46 . In den 60iger Jahren wurde diese voluntaristische Prägung des Rechtsbegriffs in der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie selbst scharf kritisiert. Man orientierte sich wieder an den grundlegenden Hinweisen von Marx und Engels bezüglich der Determination des Rechts durch die objektiven gesellschaftlichen Umstände. Die Annahme, die herrschende Klasse könne Rechtsnormen beliebigen Inhalts setzen, wenn sie diese Normen als zweckmäßig ansieht, sei falsch, genauso wie die Überbetonung des Zwangsmomentes im Recht47. In dieser Richtung wurden später, wie noch zu zeigen sein wird, neue Versuche unternommen, das Recht und insbesondere das sozialistische Recht neu zu definieren, indem man von der Prämisse der sich gewandelten sozialen Strukturen der sozialistischen Gesellschaft, die sich nunmehr durch das Fehlen von sozialen Klassen mit entgegengesetzten Interessen auszeichneten, ausging48 • In der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie wird großer Aufwand bei der Erörterung der psychologischen Problematik des individuellen und des Klassenwillens im Entstehungsprozeß des Rechts betrieben. Es werden minu45 Vgl. Teorija gosudarstva i prava (Staats- und Rechtstheorie) , Moskau 1955, S. 70; Osnovy teorii gosudarstva i prava (Grundlagen der Staats- und Rechtstheorie), Moskau 1960, s. 28. 46 K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 477. 47 Vgl. I. Szabo, Socialisticesko pravo (Das sozialistische Recht), russische Ausgabe, Moskau 1964, S. 28 ff. 48 Vgl. zur Kritik der traditionellen voluntarischen Auffassung I. Szabo, The Notion of Law, Acta Juridica 18 (1976), S. 263-272; Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 19 f.
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ziöse Unterscheidungen zwischen individuellem, allgemeinem und Gruppenwillen vorgenommen mit dem Ziel, den besonders qualifizierten Willen der herrschenden Klasse als das Wesen eines jeden Rechts herauszuarbeiten49. Diese psychologisierenden Ausführungen gehen auf Kosten einer soziologischen Analyse der tatsächlichen Entstehung von Recht. Das wichtigste Problem der unterschiedlichen Gruppeninteressen und der Bewertung dieser Interessen innerhalb der Gruppe und durch ihre Vertreter wird außer Acht gelassenso. An solchen Fragestellungen ist die marxistisch-sozialistische Rechtsphilosophie nicht interessiert. Denn eine soziologische Analyse würde zeigen, daß das marxistische Konzept einer nach ökonomischen Klassen mit entsprechendem Bewußtsein geteilten Gesellschaft nicht stimmig ist und man dadurch nicht vermag, die Komplexität moderner Gesellschaften, auch der sozialistischen, zu erfassen. Das sozialistische politische System hält andererseits keine Institutionen und Verfahren zur freien Entfaltung eines politischen Willensbildungsprozesses bereit, aus dem das Recht letztlich hervorgehen sollte. Die totalitären Strukturen dieses Systems haben vielmehr die Funktion, den Machtwillen der herrschenden Elite der Kommunistischen Partei unter dem Schein eines parlamentarisch-demokratischen Rollenspiels allseitig zu stabilisieren. Das Recht wird formal in einem Gesetzgebungsverfahren erarbeitet und verabschiedet. Gesetzesvorhaben und Entwürfe werden jedoch nie kontrovers mit Alternativvorschlägen diskutiert. Es wird nur die offizielle politische Linie, die von der Kommunistischen Partei vorgelegt und vorgetragen wird, befolgt und der Öffentlichkeit jeder Einblick in die wirkliche politische Willensbildung innerhalb der hohen Gremien der Partei versagt. Das sozialistische Recht kann demnach nicht als der Ausdruck des Willens der "herrschenden Arbeiterklasse" qualifiziert werden. Vielmehr muß mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, daß dieses Recht allein den politischen Willen einer kleinen sozialen Gruppe, namentlich der Führungsschicht der jeweils herrschenden Kommunistischen Partei, der für den politischen Willen der breiten Schicht der Arbeiterklasse ausgegeben wird, zum Ausdruck bringt. Dieser Befund ist von allgemeiner theoretischer Bedeutung, weil er zeigt, daß Rechtssysteme durchaus empfänglich sind für totalitäre Strukturen, die durch Einhaltung gewisser formeller Elemente nach außen hin das Recht fälschlicherweise als ein Produkt sozialer Interaktionen im breiten Rahmen der Gesellschaft erscheinen lassen können. Genauso wenig wie das sozialistische Recht den politischen Willen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringt, repräsentiert es die Interessen und den politischen Willen "aller Werktätigen". Dieser Anspruch hat die Theorie des Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1 (Anm. 3), S. 264 ff. V. Petev, Zum Begriff des Rechts in bürgerlicher und marxistischer Sicht, Rechtstheorie 7 (1976), S. 53 ff. 49
so Vgl.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
sozialistischen Rechts jedoch sehr früh schon erhoben, um den demokratischen Charakter dieses Rechts hervorzuhebens1. Diese Behauptung stellt jedoch eine Schlußfolgerung aus fragwürdigen Prämissen dar: Es wird angenommen, daß die Arbeiterklasse die größte und fortschrittlichste soziale Gruppe ist, und wenn so ihre Interessen im Recht Berücksichtigung finden, ergäbe sich daraus automatisch eine Repräsentanz der Interessen der anderen "werktätigen" Klassen. Von hier aus ist dann noch ein kurzer Schritt bis zur späteren Konstruktion des "Rechts des ganzen Volkes" (siehe unten 111). Der spekulative Charakter der These von der Repräsentanz der Interessen breiter sozialer Schichten durch das sozialistische Recht wird besonders durch die bekannte Tatsache deutlich, daß das politische System des Sozialismus eine Ermittlung der politischen Ansichten und ethischen Überzeugungen der einzelnen sozialen Gruppen nicht anstrebt oder - genauer - nicht einmal zuläßt. So kann man weder von der Arbeiterklasse noch von den anderen sozialen Gruppen behaupten, daß sie jemals ihr politisches Votum im Sinne der programmatischen Entwürfe der Kommunistischen Partei, die letztlich die Gestalt von Rechtsnormen annehmen, abgegeben haben. Aber auch auf der konzeptionellen Ebene ist die These nicht stimmig, weil die Auffassung von Recht als einem Machtinstrument der herrschenden Klasse gerade die Berücksichtigung der Interessen der anderen sozialen Klassen ausschließt oder dies nur in dem Maße zuläßt, in dem es der herrschenden Klasse als opportun erscheint. Wenn man dennoch annimmt, daß gerade das sozialistische Recht als ein besonderer Typus von Recht in sich solche Parameter- die Berücksichtigung der Interessen breiter sozialer Schichten - aufnimmt, muß man sagen, aus welchem Grunde und in welchem Maße dies geschieht. Sonst läuft man Gefahr, die Rechtskonzeption zu verwässern, indem dem Recht unterstellt wird, daß es schlicht das "Gemeinwohl" fördert. Die Frage nach dem sozialen Gehalt des Rechts ist in letzter Zeit wieder von Peschka aufgeworfen worden52. In der Perspektive der marxistischen Konzeption vom Klassencharakter des Rechts stellt er heraus, daß das Recht, auch wenn es von einer herrschenden Klasse gesetzt wird, niemals die Interessen allein dieser Klasse widerspiegeln kann. Vielmehr sieht Peschka eine soziologische Unvermeidbarkeit der Berücksichtigung der Interessen auch anderer sozialer Gruppen, des Aushandeins eines Kompromisses zwischen den divergierenden Interessenlagen53. Dies ist sicher richtig, man muß jedoch anmerken, daß es dennoch einen großen Unterschied macht, ob eine politisch herrs1 Vgl. Szabo {Anm. 47), S. 28.
52 V. Peschka, Some Aspects of the Relation between Law and State, Acta Juridica, Bd. XXIV, 1982, S. 288 ff. 53 Peschka, a. a. 0., S. 290: "Thus it would be a big mistake tothinkthat the particular social content of the law is directly and clearly express the interests and values of the ruling class, which has the political power. In the sociologicallevel of the interests a Iot of bargaining and compromises are necessary".
III. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
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sehende Gruppe totalitäre Machtstrukturen in der Gesellschaft etabliert und von daher nur nach Maßgabe eigener Zweckrationalität Interessen der anderen sozialen Gruppen berücksichtigt, oder ob ein demokratisches politisches System etabliert worden ist, das essentiell vom Konsens und Kompromiß der politischen Vorstellungen in der Gesellschaft getragen wird und Verfahren zur Artikulierung des politischen Willens aller sozialer Gruppen bereithält. 111. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft 1. Allgemeine Charakteristik des Rechts des ganzen Volkes In der marxistischen Staats- und Rechtstypologie ist eigentlich kein Platz für eine neue Variante des sozialistischen Staates wie auch des sozialistischen Rechts. Deshalb bedurfte es der neuen Begründung der Konzeption des sozialistischen "Volksstaates", wie dies bereits gezeigt wurde. Vor der gleichen Notwendigkeit einer neuen Begründung steht auch die Konzeption eines "Rechts des ganzen Volkes". Denn die marxistische Konzeption einer Klassengegensätzlichkeit in der Gesellschaft war die Grundlage des staatlichen und rechtlichen Herrschaftsinstrumentariums, das die Klassenstruktur in einer bestimmten Beschaffenheit zugunsten der jeweils herrschenden Klasse aufrechterhalten mußte. Sobald jedoch diese Gegensätzlichkeit in der Interessenposition der einzelnen sozialen Gruppen entfällt - und dies sei in der sog. entwickelten sozialistischen Gesellschaft der Fall -, gibt es keine Rechtfertigung mehr für die Existenz von Staat und Recht. Das Recht der Gesellschaftsformation des Sozialismus ist das sozialistische Recht, das wesentlich Träger der Interessen und Wertvorstellungen der Arbeiterklasse ist und als solches ihr Herrschaftsinstrument darstellt. Ein Recht, das die Interessen und Wertvorstellungen der ganzen Gesellschaft widerspiegelt und sie organisiert, paßt in die Typologie der historischen Gesellschaftsformationen und der ihr entsprechenden Staats- und Rechtsformen nicht hinein. In der neuen Konzeption stellt sich das Recht der entwickelten sozialistischen Gesellschaft nicht als Instrument von Klassenherrschaft dar, sondern beansprucht die Qualität eines Regelungsinstruments im Interesse der ganzen Gesellschaft, eine Qualität, die von der marxistischen Theorie bislang jedem Recht abgesprochen wurde. Diese Theorie hat deshalb alle bürgerlichen Rechtskonzeptionen kritisiert, ihnen "Verschleierungscharakter" und "Unwissenschaftlichkeit" vorgeworfen, weil diese das Recht als ein Produkt der Gesellschaft und ein Gestaltungsmittel der Interessen aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Nach marxistischer Auffassung ist das Recht immer ein Instrument der Klassenherrschaft, und deshalb seien alle Versuche, es als etwas anderes hinzustellen, eine Mystifikation der Rechtsform, die die soziale Realität verfehlt.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
Die neue Qualität des sozialistischen Rechts hatte die marxistische Theorie darin erblickt, daß dieses Recht die Interessen einer zahlenmäßig großen sozialen Klasse, namentlich der Arbeiterklasse repräsentiere; und diese Klasse sei die fortschrittlichste in der Gesellschaft. Auch wenn dies zuträfe, bliebe das sozialistische Recht allen vorangegangenen Rechtstypen vergleichbar, weil es als die Organisationsform und das Machtinstrument der Interessen einer sozialen Klasse, namentlich der herrschenden Arbeiterklasse, fungiert. Das sozialistische Recht entwickele sich - und das unterscheide es von den anderen Typen des Rechts - in Richtung seiner Selbstaufhebung in dem Maße, in dem die sozialen Klassen in der sozialistischen Gesellschaft ihre antagonistischen Klasseninteressen überwinden und sich allmählich die klassenlose kommunistische Gesellschaft einstellt. Das Recht gehe dann in gesellschaftliche Verhaltensnormen über, die den spezifisch rechtlichen Charakter entbehren, dem Stand der bewußtseinsmäßigen Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft entsprechen und ihr Funktionieren sichern. Danach wären die Voraussetzungen in einer noch nicht klassenlos gewordenen sozialistischen Gesellschaft für ein sozusagen intermediäres Recht, das zwar kein klassenmäßiges Herrschaftsinstrument darstellt, dennoch aber seine spezifische Natur als Recht beibehält, nicht ersichtlich. Eine nähere Analyse des allgemeinen sozialen Gehalts des sozialistischen Rechts wird alle Antinomien zeigen, die seiner Konzeption anhaften. Eine der merkwürdigsten Charakteristika des Rechts der entwickelten sozialistischen Gesellschaft als des Rechts des ganzen Volkes ist die Behauptung, daß es Klassencharakter trägt. Dieses Recht gehöre zusammen mit dem Recht der Diktatur des Proletariats zum Typus des sozialistischen Rechts, stelle also keinen neuen Rechtstypus dar. Im sowjetischen Standardwerk für Staats- und Rechtstheorie heißt es dazu: "Es wäre falsch, im Recht des ganzen Volkes etwas erblicken zu wollen, das sich grundsätzlich vom Recht der Diktatur des Proletariats unterscheidet, in ihm neue Prinzipien, ein neues Wesen zu suchen. Wie bereits erwähnt, ist das Recht des ganzen Volkes kein neuer Rechtstypus, sondern eine neue Entwicklungsetappe des Rechts sozialistischen Typus. Daraus resultiert einerseits die Kontinuität des Wesens, der Charakterzüge und Besonderheiten des Rechts der Diktatur des Proletariats und andererseits deren vollständigerere und allseitige Ausarbeitung"54. Es kann aber nicht zutreffen, daß das Recht der entwickelten sozialen Gesellschaft vom selben Rechtstypus ist, d. h. ein Klassenrecht ist, zugleich aber als Recht des ganzen Volkes zu qualifizieren wäre. Denn der Klassencharakter des Rechts ergibt sich ja gerade aus seiner Natur, ein Herrschaftsinstrument einer Klasse zu sein und ihre Interessen bevorzugt zu schützen. 54 Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 57 f.; Marxistischleninistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1 (Anm. 21), S. 386.
III. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
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Man solle dabei unterscheiden, meint Alekseev: Das sozialistische Recht des ganzen Volkes sei kein "Instrument der Klassenherrschaft", behalte jedoch seine Eigenschaft als "Klassenregulatur". Es löse "Klassenaufgaben", garantiere namentlich den nichtausbeuterischen Charakter des gesellschaftlichen Systems und die Überwindung der "dem Sozialismus feindlichen Überbleibsel der Vergangenheit"55. Diese Unterscheidung ist nicht stimmig. Die entwickelte sozialistische Gesellschaft kennt nach ihrem Selbstverständnis keine "antagonistischen" Klassengegensätze, ist nur insofern noch eine Klassengesellschaft, als die Unterschiede zwischen den einzelnen sozialen Gruppen (Klassen) noch nicht vollständig entfallen sind56. Daher bringe das Recht der entwickelten sozialistischen Gesellschaft nicht nur ausschließlich Klasseninteressen, sondern die Interessen und Wertvorstellungen aller Mitglieder der Gesellschaft, also des "ganzen Volkes" zum Ausdruck. Warum dieses Recht dann aber die sozialen Beziehungen von einem Klassenstandpunkt aus regelt, warum es "Klassenregulator" ist, seine Aufgaben als "Klassenaufgaben" und nicht als gesamtgesellschaftliche ansehen muß, bleibt unerfindlich. Vor diesem Hintergrund erscheint die Behauptung äußerst fragwürdig, daß das Recht des ganzen Volkes eine "einzigartige, sich durch früher unbekannte Besonderheiten abhebende soziale Erscheinung in der Welt des Rechts in seiner ganzen Geschichte" ist, daß es zugleich aber "in vollem Maße dem allgemeinen Begriff des Rechts entspricht"57. Denn hier ist der marxistische allgemeine Rechtsbegriff gemeint, nach dem ein jedes Recht als Herrschaftsinstrument einer sozialen Klasse der in Klassen geteilten und dementsprechend konfliktträchtigen Gesellschaft erscheint. Wenn aber das Recht des ganzen Volkes nunmehr als Regelungsmechanismus der gesellschaftlichen Beziehungen die Interessen und Wertvorstellungen aller sozialen Gruppen trägt und zu verwirklichen sucht, muß es in der Tat als ein neuartiges soziales Gestaltungsmittel fungieren und kann nicht unter den bisherigen marxistischen allgemeinen Rechtsbegriff fallen. Die Konsequenz daraus kann nur sein: Entweder wird dieser Begriff revidiert, mit der Gefahr, daß dabei die Spezifik des marxistischen Rechtsverständnisses verloren geht, oder aber man muß das Recht des ganzen Volkes neu definieren, und zwar als ein System von Verhaltensregeln, die der spezifischen Qualität von Rechtsnormen entbehren und somit eine vielleicht vermittelnde Kategorie zwischen dem (Klassen-) Recht und den Regeln gesellschaftlicher Selbstverwaltung darstellen. Die marxistisch-sozialistische Rechtsphilosophie schreckt jedoch vor einer solchen Alekseev (Anm. 21), S. 145. Zur Kritik dieser Theorie siehe oben 2. Kap., II. 57 Alekseev (Anm. 21, S. 136), bezeichnet dieses Recht auch als "Erbe des Reichtums der juristischen Kultur der Vergangenheit". 55 56
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
Konsequenz zurück und nimmt lieber große Antinomien in ihrer begrifflichen Konstruktion in Kauf. Eine weitere Charakteristik des Rechts des ganzen Volkes sei seine Eigenschaft eines "gesamtgesellschaftlichen Regulators"58. Zum ersten Mal in der Geschichte nationaler Rechtssysteme entwickele sich als dominierend diese Eigenschaft des Rechts, die nur deshalb möglich sei, weil das Recht des ganzen Volkes eine "einheitliche soziale Natur" habe. Im Recht wird nunmehr eine "wichtige Komponente sozialer Leitung" gesehen59. Man erwarte von ihm, daß es eine hohe "Organisiertheit" der sozialen Beziehungen gewährleistet60. Die These, daß das Recht eine wichtige Funktion in der Regelung und Stabilisierung sozialer Beziehungen in gesamtgesellschaftlichem Interesse hat, ist vielen Richtungen in der Rechtstheorie eigen. Ihr würde man auch weitgehend zustimmen, wenn sie nicht gerade von der marxistisch-sozialistischen Rechtstheorie der Gegenwart vertreten würde. Denn hier ruft diese These eine Reihe von Problemen hervor, die das marxistische Rechtsverständnis grundsätzlich in Frage stellen. Die Annahme, daß das Recht - insbes. das sozialistische Recht - die sozialen Beziehungen in gesamtgesellschaftlichem Interesse regelt, läßt die von marxistischer Seite immer wieder hervorgehobene Klassennatur des Rechts fraglich erscheinen. Die Herausarbeitung gerade des Klassenwesens des Rechts war aber, wie bereits dargestellt wurde, der eigentliche Beitrag, den die marxistische Rechtsphilosophie gegen alle, wie sie meinte, undifferenzierte bürgerliche Gemeinschaftsideologie geleistet hatte. So drängt sich hier die Frage auf: Ändert das Recht seine Natur? Ist es über große Zeiträume ein klassenmäßiges Herrschaftsinstrument, dann aber ein gesamtgesellschaftliches Gestaltungsmittel? Davon ist in der marxistischen Rechtsphilosophie nie die Rede gewesen. Ein solcher Standpunkt widerspricht auch wesentlichen Prämissen und Aussagen der marxistischen Gesellschaftstheorie bezüglich der ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft, der Klassenbildung und der 58 Alekseev, a. a. 0., S. 144 f.; ders., Pravo razvitogo socialisticeskogo obscestva (Das Recht der entwickelten sozialistischen Gesellschaft) , Pravovedenie 1980, H. 6, S. 19: "Unter den Bedingungen der Liquidierung der ausbeuterischen Klassen und dem völligen und endgültigen Sieg des Sozialismus überwiegt im einheitlichen Klassenwillen des sozialistischen Rechts seine Eigenschaft eines gesamtgesellschaftlichen Regulators". 59 Vgl. 0 . F. Muramets/T. M. Samba, Pravoporjadok v razvitom socialisticeskom obscestve (Die Rechtsordnung in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft), Moskau 1979, S. 45. 60 Muramets und Samba (a. a. 0 ., S. 45) schreiben: "Wenn die Rechtsakte und die Normen genau ausgearbeitet sind und ihre Anwendung sichergestellt ist, verläuft das ökonomische, politische und geistige Leben organisiert, und die staatlichen und gesellschaftlichen Organe erfüllen ihre Funktion höchst effektiv".
m. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
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Gestaltung der sozialen Ordnung nach Maßgabe der Interessen der jeweils herrschenden Klasse. Die marxistisch-sozialistische Rechtsphilosophie der letzten Zeit versucht in diese Problematik eine Klärung zu bringen: Weil die sozialistische Gesellschaft sich soweit entwickelt habe, daß sie nunmehr eine einheitliche Interessenstruktur aufweist, ohne Klassengegensätzlichkeiten und Klassenkampf, verliere auch das Recht seine Funktion als Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung der Interessen einer sozialen Klasse und wird zu einem sozialen Gestaltungsmittel im Interesse der ganzen sozialen Gemeinschaft. Gegen diese Erklärung sprechen aber gewichtige Gründe. Sie steht im Widerspruch zu anderen prinzipiellen Erkenntnissen der marxistischen Gesellschafts- und Rechtstheorie. Erstens ist die Qualifizierung einer Gesellschaft als soziale - interessenmäßige und bewußtseinsmäßige- Einheit äußerst problematisch. Eine nähere Analyse wird zeigen, daß eine solche undifferenzierte Sozialontologie für die Erfassung des Rechtssystems der sozialistischen Gesellschaft nicht förderlich sein kann (siehe unten 2). Nicht einmal propagieren heute westliche Theorien, die das Moment des gesellschaftlichen Interessenkonfliktsnicht so hoch veranschlagen, ein solches barmonistisches Erklärungsmodell des Rechts. Zweitens muß sich die marxistische Theorie fragen lassen, warum erst das Recht des ganzen Volkes eine solche für die Gesellschaft unentbehrliche Funktion wahrnimmt und wie das Recht als Klasseninstrument, das auf einseitige Machtstabilisierung bedacht ist, mit gesamtgesellschaftlichen Aufgaben fertig wird. Es stellt sich auch die Frage, wie sich die hier behandelte These von der gesamtgesellschaftlichen Regelungsfunktion des Rechts mit der grundsätzlichen marxistischen Position verträgt, nach der das Recht als Hüter der Interessen der jeweils herrschenden Klasse nur in einer nach Klassen mit antagonistischen Interessen geteilten Gesellschaft Platz hat. Könnte man danach für die entwickelte sozialistische Gesellschaft, wenn sie tatsächlich eine einheitliche Struktur aufweist, nicht annehmen, daß sie die relevanten Verhaltensweisen ihrer Mitglieder durch gesellschaftliche Normen regelt, die nicht den Charakter von zwangsweise durchsetzbaren Rechtsnormen haben, wie dies in der Urgesellschaft gewesen sein soll und auch in der künftigen kommunistischen Gesellschaft zu erwarten sein wird? Noch weniger überzeugend vor diesem Hintergrund ist die These von der angeblich notwendigen Erweiterung der Regelungsbereiche des sozialistischen Rechts. Sie wird gegenwärtig allgemein vertreten. Es wird einerseits festgestellt, daß die Normativakte, die der sozialistische Staat erläßt, quantitativ zunehmen. Andererseits verspricht man sich gerade von dieser Entwicklung eine qualitativ bessere Regelung der relevanten sozialen Beziehungen6t. Ent61 Vgl. Muramets!Samba, a. a . 0 ., S. 46, mit vielen Belegen aus der sowjetischen Gesetzgebung der letzten Jahre.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
gegen allen Voraussetzungen der klassischen marxistischen Lehre von einer "Vergesellschaftung" der normativen Systeme, die den Übergang zu einer echten gesellschaftlichen Selbstverwaltung einleiten soll, beobachtet man eine Intensivierung der repressiven sozialen Normen, namentlich des Rechts, die auch noch als eine qualitativ höhere Regelung sozialer Beziehungen hingestellt werden. Das Phänomen der Erweiterung der rechtlich-normativen Regelung in der Gesellschaft wird überall in den entwickelten Industriegesellschaften beobachtet. Man sieht es allerdings in westlichen Ländern als unerwünscht an, obwohl diese Erweiterung angesichts der immer komplexer werdenden sozialen Beziehungen unvermeidlich erscheint. In den sozialistischen Staaten dagegen wird die Sicht verkehrt und die gesetzliche Normenflut als ein positives Merkmal der sozialen Leitung qualifiziert. Das Recht des ganzen Volkes teile mit seinem Vorgänger, dem Recht der Diktatur des Proletariats, alle Prinzipien sozialistischer Staatlichkeit und sozialistischer Rechtsordnung, so z. B. das Prinzip der Volkssouveränität, allerdings unter der Führung der Arbeiterklasse, das Prinzip des Volkseigentums, das der sozialistischen Demokratie, der sozialistischen Gesetzlichkeit sowie das Prinzip rechtlicher Gleichheit62. Hinsichtlich des Rechts des ganzen Volkes wird jedoch besonders hervorgehoben, daß in ihm Humanismus und Gerechtigkeit verwirklicht seien63. Diese Behauptung geht mit der prinzipiellen Einschätzung einher, daß das sozialistische Recht der Gegenwart Träger hoher Werte sei, die allerdings bezeichnenderweise nicht spezifische Werte einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sind, sondern vielmehr "allgemeinmenschlichen" Charakter tragen. Insbesondere verwirkliche das sozialistische Recht, indem es "die soziale Aktivität der Teilnahme an den gesellschaftlichen Beziehungen erhöht", eine früher nicht gekannte Freiheit der Menschen64. 2. Das Recht des ganzen Volkes und die Strukturen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
a)- Wie bereits dargelegt wurde (siehe oben II), gibt die marxistisch-sozialistische Rechtsphilosophie eine direkte Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Rechts: Dieses ist eine normative Verhaltensordnung, die im Interesse der jeweils ökonomisch und politisch herrschenden Klasse in der Gesell62 Vgl. z. B . K. A. Mokicev (Hrsg.), Teorija gosudarstva i prava (Staats- und Rechtstheorie), Moskau 1970, S. 382 ff.; Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 32 ff. 63 Muramets und Samba (Anm. 59), führen in diesem Zusammenhang aus: "Die Prinzipien des sozialistischen Rechts verkörpern die höchste Stufe sozialer Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit, die den Interessen der breiten Klassen der Werktätigen entsprechen, ihnen nahe und verständlich sind". 64 Alekseev (Anm. 21), S. 100 f.
111. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
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schaft aufgestellt ist; es ist ein Herrschaftsinstrument dieser Klasse, mit dem die sozialen Beziehungen entsprechend ihren Interessen und Wertvorstellungen gestaltet werden; es setzt Ungleichheit und Unterdrückung voraus, wird jedoch - im Falle des sozialistischen Rechts - zum Aufbau einer gerechten (sozialistischen) Gesellschaft eingesetzt. Die Hervorhebung dieser Merkmale des Rechts zeigt, daß die marxistischsozialistische Auffassung von Recht ausgeprägt soziologisch ausgerichtet ist: Sie sieht im Recht ein Macht- und Gestaltungsinstrument von sozialen Gruppen mit ihren spezifischen Klasseninteressen und Ideologien. Diese Seite des Wesens des Rechts sei die bestimmende. Sie werde durch die positiven Momente der Setzung und Sanktion durch den Staat nur ergänzt. Das Spezifische an dieser Rechtskonzeption ist das Konfliktelement, die Gegensätzlichkeit und Unversöhnlichkeit der Interessen der herrschenden und beherrschten Klassen, die das Recht als Garant der Interessen der ersteren auf den Plan ruft. Diese sehr markante Unterscheidung von anderen soziologischen Theorien des Rechts hat der marxistischen Rechtstheorie viel Kritik, aber auch große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Analyse der Klassenstrukturen der Gesellschaft und die Aufnahme des Klasseninteresses als konstitutives Element in den Rechtsbegriff hat die marxistische Rechtsphilosophie selbst als ihr eigentliches Verdienst und ihre theoretische Stärke angesehen. Sie hat den bürgerlichen Theorien immer vorgeworfen, daß sie in der Analyse des Rechts im Formalen steckenbleiben und das Eigentliche, namentlich sein Klassenwesen, übersehen. Nicht irgendwelche, angeblich frei gewählte subjektive Zwecke eines Normsetzers - auch eines kollektiven seien für das Recht, das er setzt, charakteristisch; beachtlich sei vielmehr die objektiv determinierte Klassenposition der jeweiligen sozialen Gruppe (herrschende Klasse) , aus der ihre Interessen abzuleiten und durch das Recht abzusichern sind. Die Konzeption eines Rechts des ganzen Volkes als das der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gemäße Recht stellt, so gesehen, einen eklatanten Bruch mit der marxistischen Rechtstradition dar. Alle Versuche in der Theorie, diese Konzeption als eine Weiterentwicklung und als folgerichtiges Produkt des marxistischen Rechtsgedankengutes hinzustellen, sind nicht überzeugend, weil sie von Prämissen ausgehen, die eine völlige Negation der Grundprämissen der ursprünglichen marxistischen Rechtskonzeption darstellen. Die neue Konzeption ersetzt das wichtigste Element des Rechtsbegriffes, namentlich das Klasseninteresse, das die marxistische Klassentheorie mit großem Aufwand herausgearbeitet hatte, durch das undefinierte Element "Interessen des ganzen Volkes". Nach der neuen Konzeption bringt das Recht der entwickelten sozialistischen Gesellschaft als das des ganzen Volkes Interessen und Wertvorstellungen eben dieser nicht näher zu qualifizierenden sozialen Gemeinschaft, genannt Volk, zum Ausdruck.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
So figurieren in der Definition des Rechtsbegriffs, die alle Autoren gegenwärtig geben, beide Definitionselemente - Klasseninteresse und Interessen des ganzen Volkes - nebeneinander, obwohl sie grundlegend verschiedene soziale Konstellationen widerspiegeln. So schreibt Javic, daß das Recht ein System allgemeinverbindlicher Normen darstellt, die vom Staat aufgestellt oder geschützt werden und die den materiell determinierten Willen der herrschenden Klasse - und im Sozialismus den Willen des ganzen Volkes - zum Ausdruck bringen6s. Der Autor will dadurch offensichtlich den bislang von der marxistischen Theorie erarbeiteten allgemeinen Rechtsbegriff retten und nimmt daher den Widerspruch in seiner Definition in Kauf. Alekseev, der ebenfalls für eine allgemeine Definition des Rechts eintritt, die er allerdings nicht expliziert66, ist sich offensichtlich der begrifflichen Diskrepanz des Rechts des ganzen Volkes zum Recht der Diktatur des Proletariats und somit zur allgemeinen Definition des Rechts bewußt. Er sucht daher eine Vermittlung, indem er von verschiedenen Seiten des Klassenwesens des Rechts spricht, und hebt hervor, daß das Recht des ganzen Volkes in erster Linie durch seine gesamtgesellschaftliche Regelungsfunktion charakterisiert sei, und dies transformiere ;,unweigerlich die andere, früher führende Seite seines Wesens (die Sicherung der Klassenherrschaft)"67 • Zur Charakterisierung des Rechts werden neue Begriffe wie "soziales Institut", "gesamtstaatliche Disziplin" verwendet. Sie enthalten jedoch nur eine suggestive Wirkung, indem sie auf eine "gesamtgesellschaftliche" Natur des sozialistischen Rechts der Gegenwart hindeuten, können jedoch über ihre Unvereinbarkeit mit den Grundaussagen der bisherigen marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie über das Wesen des Rechts nicht hinwegtäuschen. b)- Die zentrale Aussage in der Konzeption des Rechts des ganzen Volkes ist, daß die Interessen und Wertvorstellungen der gesamten sozialistischen Gesellschaft, des Volkes, seinen sozialen Gehalt, sein Wesen ausmachen. Darüber herrscht Einhelligkeit unter den Vertretern der marxistisch-sozialisti65 L. S. Javic, Pravo i socialism (Recht und Sozialismus), Moskau 1982, S. 27; vgl. dazu die Rezension von E. A. Lukaseva, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1983, H. 5,
s. 151.
Alekseev {Anm. 21), S. 136 ff. Alekseev bezeichnet hier das Recht im Sozialismus als "soziales Institut, das die gesamtstaatliche Disziplin zum Ausdruck bringt und sichert" (Anm. 21, S. 146); auch die Direktiven des XXVII. Parteitages der KPdSU für eine komplexe Analyse des Rechtssystems des entwickelten Sozialismus gehen von der - nicht thematisierten Annahme einer harmonischen sozialen Gemeinschaft aus, die es nicht zuläßt, die bestehenden sozialen Widersprüche zu erfassen und zu formulieren und auf diese Weise den tatsächlichen Steuerungseffekt des sozialistischen Rechts als Herrschaftsinstrument der kommunistischen politischen Eliteschicht offenzulegen, vgl. dazu Pravovaja sistema socialisma: Problemy funkcionirovanija i razvitija (Das Rechtssystem des Sozialismus: Funktions- und Entwicklungsprobleme), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1986, H. 8, s. 3 ff. 66
67
III. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
109
sehen Rechtsphilosophie der Gegenwart68. Diese These soll im folgenden näher untersucht werden. Die neue Theorie hält weiterhin an der Determination des Rechts durch die sozialen Strukturen, und d. h. durch die Interessenkonstellationen in der Gesellschaft, fest. Was das Recht des ganzen Volkes angeht, stellt sie eine Beziehung des Rechts zu einer völlig neuen Klassenstruktur der Gesellschaft her. Denn es wird behauptet, wie bereits dargestellt wurde, daß die sozialistische Gesellschaft eine Entwicklung durchmache, die in der UdSSR bereits vollzogen sei, und an deren Ende eine ganz neue soziale Struktur, d. h. eine Gesellschaft steht, in der die einzelnen sozialen Gruppen keine gegensätzlichen Interessen mehr haben, einheitliche politische und ethische Überzeugungen pflegen und so eine sozio-ökonomische und moralische Einheit bilden. Das Recht widerspiegelt hier die Interessen und Wertvorstellungen gerade dieser Gemeinschaft, und seine Funktion besteht nicht in der Aufrechterhaltung einer Klassenherrschaft, sondern in der Regelung und Stabilisierung solcher gesellschaftlichen Beziehungen, die der sozialen Gemeinschaft adäquat sind. Diese soziale Gemeinschaft stellt jedoch eine neue Kategorie dar, deren Inhalt nicht weiter präzisiert worden ist. Die neue Kategorie hebt sich von der Begrifflichkeit der marxistischen Klassentheorie ab. Letztere handelt von den uneinheitlichen Strukturen der "Klassengesellschaft", die sich gerade durch unterschiedliche (im Sinne von gegensätzlichen) Interessen in der Relation herrschende - unterdrückte (ausgebeutete) Klassen auszeichnet. Eine kritische Analyse (siehe oben 2. Kap., II, 2, a) zeigte zwar die Mängel der marxistischen Klassentheorie, die den ökonomischen Faktor bei der Formierung der ökonomischen, politischen und ethischen Ansichten und Überzeugungen der sozialen Gruppen überschätzt und diesen jede Flexibilität nimmt. In ihr behält das Recht jedoch als Ausdruck der Interessen der jeweils herrschenden Klasse und gerade wegen dieser Klassenstruktur noch klare Konturen. Vor dem Hintergrund eines klar umrissenen Begriffes der sozialen Klasse im marxistischen Sinne erscheint die Kategorie "soziale Gemeinschaft" (Volk) ganz diffus. Sie entbehrt spezifischer Merkmale und kann somit nicht zur Erarbeitung einer neuen Konzeption von Recht beitragen. Man muß fragen: Was ist das Volk, was ist diese sozio-ökonomische Gemeinschaft? Ist sie in ihrer Struktur einheitlich? Dem widerspricht schon die in der marxistischen Theorie heute allgemein anerkannte These, daß die entwickelte sozialistische Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist, daß sie Klassen und Schichten, wie Arbeiterklasse, Bauern und die sog. sozialistische Intelligenz kennt. Diese 68 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 57 ff. ; P. Dojcak (Hrsg.), Te6rija statu a prava (Staats- und Rechtstheorie), Bratislava 1977, S. 386 ff. ; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 21), S. 385 ff. ; J. Kowalskil W. Lamentowicz/P. Winczorek, Teoria panstwa i prawa (Staats- und Rechtstheorie), Warschau 1983, S. 474 ff.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
haben zwar keine gegensätzlichen Interessen, unterscheiden sich dennoch voneinander z. B. durch die Art ihrer Arbeit und Lebensbedingungen. Ihre politisch-ethischen Überzeugungen seien jedoch einheitlich, bilden die sog. moralisch-politische Einheit des Volkes, in der allerdings die Ideologie der Arbeiterklasse führend sei. Das so gezeichnete Bild von der sozialistischen Gesellschaft der Gegenwart entspricht nicht einer kritischen Beobachtung und ist auch theoretisch nicht faßbar. Denn komplexe Industriegesellschaften zeichnen sich gerade durch den hohen Grad der Ausdifferenzierung sozialer Gruppen mit ihren unterschiedlichen Interessenpositionen, Funktionen und Zielvorstellungen aus. Allein die materielle Interessenlage dieser Gruppen ist insofern gegensätzlich, als in der Gesellschaft Knappheit an Gütern herrscht und jede soziale Gruppe versucht, unter Einschaltung allgemeiner Spielregeln ihre Interessen vorrangig zu befriedigen. So erfolgt die Befriedigung der materiellen Interessen der einzelnen Gruppen nach Prioritätsgesichtspunkten, die entweder - in den demokratisch verfaßten westlichen Gesellschaften - zwischen den einzelnen sozialen Gruppen ausgehandelt oder- in sozialistischen Gesellschaften - nach Maßgabe der herrschenden Schicht in der Kommunistischen Partei festgelegt werden. Da die moderne marxistische Gesellschaftstheorie nicht behauptet, daß in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft materielle Güter in ausreichendem Maße, ja sogar in Überfluß produziert werden, kann hier eine Gegensätzlichkeit der Interessen der sozialen Gruppen und ihrer Befriedigung nicht ausgeschlossen werden. Die These, daß die sozialistische Gesellschaft eine sozio-ökonomische Gemeinschaft ohne Gegensätzlichkeiten bildet, kann aus diesem Grunde nicht aufrechterhalten werden. Schon früher wurde die These vertreten, daß das sozialistische Recht noch als Recht der Diktatur des Proletariats zum ersten Mal in der Geschichte das "allgemeingesellschaftliche Interesse" zu berücksichtigen und die sozialen Beziehungen in seinem Sinne zu regeln vermochte69. Nun habe das sozialistische Recht des ganzen Volkes diese Funktion, ausgehend von den Interessen der Arbeiterklasse, die angeblich objektiv mit dem gesamtgesellschaftlichen Interesse übereinstimmen, erfüllt70. Dann aber wäre zu fragen, ob die Interessen des ganzen Volkes, die das Recht der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, mit dem sog. gesamtgesellschaftlichen Interesse identisch sind. Wenn dies nicht der Fall ist, muß man fragen, worin der Unterschied liegt. Wenn die Frage 69 In diesem Zusammenhang schreibt L. Latze (Soziale Interessen und rechtliche Regelung in der sozialistischen Gesellschaft, in: K. A. Mollnau (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft, Beiträge zum XI. Weltkongreß der IVR, Berlin (Ost) 1983, S. 109): "Das sozialistische Recht ist gerade wegen der Fähigkeit, gesamtgesellschaftliche mit den persönlichen und Gruppeninteressen dauerhaft zu verbinden, geeignet, dem individuellen Handeln die Qualität der nur gesamtgesellschaftlich möglichen Verwirklichung der objektiven Gesetze des Sozialismus zu geben" . 70 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4 (Anm. 1), S. 23.
III. Das Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
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aber positiv beantwortet wird, wäre weiter zu fragen, worin dann die höhere Qualität des Rechts des ganzen Volkes begründet ist, wenn das gesamtgesellschaftliche Interesse schon durch das Recht der Diktatur des Proletariats erlaßt und in adäquate Handlungsanweisungen umgesetzt worden war. Auch auf der Ebene des Willensbildungsprozesses im Recht sind die Unterscheidungen unscharf. Dazu heißt es im sowjetischen Standardwerk für Staatsund Rechtstheorie: "Das Recht ist ein Instrument der sozialen Leitung der Gesellschaft, und zur Ausübung der Leitung bedarf es der Autorität, die die Überordnung eines fremden Willens bedeutet und Unterordnung voraussetzt. Das Recht besitzt diese Eigenschaften; denn es ist Ausdruck des Staatswillens, d. h. des spezifischen allgemeinen Willens der Klasse (des gesamten Volkes), der den Filter der für die Ausübung der staatlichen Leitung zuständigen Staatsorgane passiert hat"71. Hier werden offensichtlich der "Wille des ganzen Volkes" mit dem Klassenwillen als Träger des "Staatswillens" in abstrakter Form als "allgemeiner Wille" gleichgestellt. Andererseits wird dem allgemeinen (staatlichen) Willen immer ein "Klassencharakter" zugeschrieben72. Dies bleibt unverständlich angesichts der Grundthese der marxistischen Sozialphilosophie, daß der Klassenwille durch die materiellen Lebensbedingungen der jeweiligen Klasse in spezifischer Weise determiniert ist. Ein allgemeiner Volkswille muß dieser spezifischen Determination jedoch entbehren, weil hier ein Unterscheidungskriterium für die Lebensbedingungen der unterschiedlichen sozialen Gruppen innerhalb des Volkes fehlt. Der Begriff des "allgemeinen Willens", dem der Begriff des "gesamtgesellschaftlichen Interesses" korrespondiert, deutet auf einen Prozeß der Erkenntnis der Interessen bei der Herausbildung des allgemeinen Willens hin. Diesem Prozeß wird in der sozialistischen Gesellschaft jede Spontaneität aberkannt73. Denn er vollzieht sich nicht nur in bestimmten Organisationsformen, die jedes politische System bereithält, sondern wird auch von der jeweiligen Kommunistischen Partei "geleitet". Es sind also nicht die sozialen Gruppen und ihre Organisationseinheiten, die eine Beurteilung ihrer Interessen in freier Meinungsbildung vornehmen. Vielmehr ist es die Kommunistische Partei, die sich auf ihr Erkenntnismonopol der "objektiven Gesetze" der gesellschaftlichen Entwicklung und auf die aus ihnen abgeleiteten "gesellschaftlichen Erfordernisse" beruft, diese Erfordernisse formuliert und den Willensbildungsprozeß jeweils in eine von ihr gewünschten Richtung steuert74 • So ist dann letztlich 71 72
s. 25. s. 26.
73 S. 27: "Der Prozeß der Herausbildung des allgemeinen Volkswillens vollzieht sich in der sozialistischen Gesellschaft nicht im Selbstlauf, nicht spontan. Hier wirken die Kommunistischen Parteien und ihre Führungsorgane richtungsweisend". 74 S. 29: "In der sozialistischen Gesellschaft erleichtert die Fähigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen, Produktionskollektive und freiwilligen Organisationen, die unter der Leitung der Kommunistischen Partei arbeiten und in Überein-
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
gleichgültig, ob der so formulierte allgemeine Wille als Klassenwille oder als solcher des ganzen Volkes qualifiziert wird. IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
1. Problemstellung
Recht und Werte sind untrennbar miteinander verwoben. Denn das Recht ist ein Gestaltungsmittel der sozialen Beziehungen, deren Regelung in jeder Epoche nach einem bestimmten politischen und sozial-ethischen Konzept erfolgt. Der allgemeine soziale Gehalt des Rechts zeigt bereits, daß das Recht Träger von Interessen bestimmter sozialer Gruppen ist, zugleich aber von den ethischen Wertvorstellungen, die in der Gesellschaft sich jeweils als herrschend herausgestellt haben, geprägt ist. Diese Vorstellungen und Ideen beziehen sich auf verschiedene Parameter der jeweils angestrebten sozialen Ordnung. Sie zeigen z. B. an, wie die materiellen Güter in der Gesellschaft verteilt, wie gesellschaftliche Leistungen entlohnt werden, welche politische Gestaltungsmöglichkeiten die einzelnen haben, welche Rechte ihnen gegenüber der Staatsgewalt zustehen, aber auch, welche ihre Pflichten als Staatsbürger sind, welche Sanktionen für bestimmte, die Gesellschaft als Ganzes betreffende Verhaltensweisen auferlegt werden. Das Recht wird demnach nicht allein von den materiellen Strukturen der Gesellschaft bestimmt, sondern spiegelt auch die Ideen, die ethischen Überzeugungen, die großen gesellschaftlichen Konzepte der jeweiligen Epoche wider. Genau genommen reflektiert das Recht - auch wenn es irgendwie "objektiv", d. h. durch gegebene gesellschaftliche Entwicklungstendenzen oder "Gesetzmäßigkeiten" bestimmt ist- die Vorstellungen, Ideen, Konzepte der Gesellschaft von diesen "erkannten" objektiven Entwicklungstendenzen, aber auch die Vorstellungen, Ideen und Ideale, die jede Gesellschaft mit der eigenen Existenz und Entwicklungsperspektive verbindet. In jeder Gesellschaft gibt es auch Werte individual-ethischer Natur. Sie sind unabdingbar für die Konstituierung der Persönlichkeitsphäre und der individuellen Weltanschauung, wie sie auch als Grundlage für die Gestaltung persönlicher Beziehungen gelten. Zu den individual-ethischen Werten wird man sicher zum Beispiel die freundschaftliche Zuneigung, die Treue zum Ehepartner, Zuverlässigkeit, Initiative im Handeln und Verantwortlichkeitsgefühl für die Handlungskonsequenzen, um nur einige solche Werte, die in modernen Gesellschaften sicher weitgehend Anerkennung finden, zu erwähnen. Sie müssen jedoch außer Betracht bleiben, nicht weil ihre Bedeutung klein wäre auch für das Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen, sondern weil sie als stimmung mit den allgemeinen Interessen der sozialistischen Gesellschaft den Gruppenwillen formieren, die Herausbildung des allgemeinen Willens erheblich" .
IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
113
Werte, die die ganz persönliche Sphäre betreffen, nicht in allgemeinverbindliche Verhaltensregelungen eingehen, d. h. nicht Inhalte von Recht werden. Um jegliches Mißverständnis über die Bedeutung individual-ethischer Werte auszuschließen, muß hervorgehoben werden, daß diese Werte, obwohl sie nicht verbindlich gemacht werden, bei der Aufstellung und Verwirklichung von sozialen Verhaltensregelungen Einfluß üben als auch von letzteren beeinflußt werden. Dies wird besonders deutlich in totalitären politischen Systemen, die die einzelnen oft zum Beispiel zum Denunziantenturn bestimmen, in ihnen Angst erzeugen und sie dadurch in der Erfüllung ethischer Treuepflichten behindern, ihre Initiative und Verantwortungsgefühl lähmen. Und umgekehrt: in offenen, freiheitlichen Gesellschaften wird ein günstiger Boden für die Entfaltung moralischer Tugenden geschaffen. In der Wertordnung einer Gesellschaft wird auch zumeist der Platz der Gerechtigkeit gesucht. Im allgemeinen Verständnis ist Gerechtigkeit ebenfalls ein sozialer Wert, ja sogar der höchste soziale Wert; denn jede Gesellschaftsordnung muß schließlich eine Gerechtigkeitsvorstellung erfüllen, gerecht sein. So hat man von der Gerechtigkeit als von dem Hauptprinzip des Rechts gesprochen: Recht ziele auf Gerechtigkeit hin. Schon in der antiken Philosophie hat man die Gerechtigkeit aber sowohl im Zusammenhang mit der Errichtung sozialer Institutionen wie auch mit dem Handeln der einzelnen gesehen. Und tatsächlich muß eine allgemeine Theorie der Gerechtigkeit beide Aspekte umfassen75 • So gesehen, stellt die Gerechtigkeit nicht nur einen sozialen Wert dar, sondern hat auch einen individual-ethischen Aspekt: es wird nicht nur in Bezug auf soziale Ordnungen, sondern auch auf die Handlungen der einzelnen in ganz persönlichem Bereich danach gefragt, ob sich der einzelne gerecht verhalten hat. Gerechtigkeit kann man unter verschiedenen Aspekten sehen, so als individuelle Gerechtigkeit oder als Strukturprinzip einer gerechten sozialen Ordnung. Innerhalb des zweiten Aspekts kann man aber auch unterscheiden zwischen Einzelfallgerechtigkeit, und d. h., inwiefern Entscheidungen staatlicher Organe, die die Interessensphäre und die subjektiven Rechte des Einzelnen betreffen, als gerecht eingestuft werden können. Was hier inhaltlich gerecht ist, kann nur mit Bezug auf andere Kriterien, die sich aus tragenden Prinzipien des geltenden Rechts ergeben, bestimmt werden. Man spricht ebenfalls von einer Prozeßgerechtigkeit oder gar allgemein von einer "juristischen" Gerechtigkeit. Auch hat man Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der Gleichbe75 Solche umfassenden Theorien sind z. B. die von J. Rawls, von I. Tammelo und von Ch. Perelman, wobei ersterer Gerechtigkeit konzeptionell als Problem gerechter sozialer Strukturen betrachtet, vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, dt. Ausgabe, Frankfurt a. M. 1975; / . Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, Freiburg/München 1977; Ch. Perelman, Zur Theorie der Gerechtigkeit, Rechtstheorie 11 {1980}, s. 131 ff.
8 Petev
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
handJung gesehen, aber auch als Verteilungsgrundsatz ("jedem das Seine") aufgefaßt. Es ist auch vielfach versucht worden, eine erschöpfende Gerechtigkeitsdefinition zu geben76. Daß dies nicht gelungen ist, kann nicht weiter verwundern. Denn jede Rückführung der Gerechtigkeit auf ein Prinzip oder eine simple Formel verkürzt notwendig ihren weitreichenden sozialen Gehalt. Im folgenden wird eine Auseinandersetzung mit der marxistischen Gerechtigkeitskonzeption durchzuführen sein. Insbesondere muß gezeigt werden, wie Gerechtigkeit als Postulat der gesellschaftlichen Ordnung durch das sozialistische Recht zur Verwirklichung gelangt, ferner wie und ob ein Gerechtigkeitspostulat das sozialistische Recht prägt und ihm den beanspruchten humanen Charakter verleiht. 2. Die historische Bedingtheit von Gerechtigkeitskonzeptionen
Die marxistische Philosophie faßt die Gerechtigkeit, wie alle Ideen, Überzeugungen und Theorien der Gesellschaft, als Überbauphänomene auf, d. h. als geistige Gebilde, die keine eigene Herkunft und Existenz haben, sondern begründet und abgeleitet werden von den materiellen Produktions- und Lebensbedingungen der Gesellschaft77. Diese Auffassung gibt- unabhängig von ihrer Begründetheit - Hinweise dafür, daß in der marxistischen Theorie Gerechtigkeitsüberzeugungen und Konzeptionen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins sind und als solche in der Klassengesellschaft in unterschiedlicher Gestalt bei den einzelnen sozialen Klassen anzutreffen sind, d. h. Klassencharakter tragen. Wie unten noch zu zeigen sein wird, geht die marxistische Theorie der Gegenwart auf eine etwas modifizierte Auffassung, was den Charakter der Gerechtigkeitskonzeptionen angeht, über, indem sie für ihre eigene Gerechtigkeitskonzeption in Anspruch ~immt, daß sie einen allgemeinen, in langer emanzipatorischer Menschheitsentwicklung sich herausbildenden sozialen Wert darstellt. In unserem Zusammenhang kann der Frage nach der Herkunft sozialer Ideen, Anschauungen und Theorien nicht näher nachgegangen werden. Es ist hier nicht der Platz zu untersuchen, inwiefern Ideen und Konzeptionen der Gesellschaft sich in Abhängigkeit von den "materiellen" Bedingungen der Gesellschaft befinden und welche diese Bedingungen sind; auch sind nicht die "Eigengesetzlichkeiten" geistiger Produktion hier weiter zu untersuchen. Auf jeden Fall muß festgehalten werden, daß die Relativität gesellschaftlicher 76 Über herkömmliche Lösungsansätze vgl. M. R. W. Dias, Jurisprudence, 4. Aufl., London 1976, S. 66-101; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, München 1983, S. 93-116. 77 Vgl. zur Frage der "Deriviertheit" der Gerechtigkeit aus den materiellen Bedingungen der Gesellschaft und allgemein zum marxistischen Verständnis der Gerechtigkeit R. Dahrendorf, Die Idee des Gerechten im Denken von Kar! Marx, Hannover 1971.
IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
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Konzeptionen und auch die der Gerechtigkeitskonzeption mit ihrer "historischen Bedingtheit" zusammenhängt. Ob diese in marxistischem Sinne aufzufassen wäre, d. h. ob jede "historische Gesellschaftsformation", wie Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus, ihre abgegrenzte eigene Gerechtigkeitskonzeption aufweist, die in ihren spezifischen Klassenbedingungen verwurzelt ist, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall muß man anerkennen - wenn man annimmt, daß Gerechtigkeitsvorstellungen Teile ethischer Systeme sind und in staatlich organisierten Gesellschaften in Grundprinzipien der Rechtsordnung Ausdruck finden -, daß jede soziale Epoche, jedes Gesellschaftssystem bestimmte eigene Gerechtigkeitsvorstellungen und Konzeptionen hervorbringt. Dies bedeutet keineswegs jedoch, einem ausufernden Wertrelativismus das Wort zu reden, für den jede Gerechtigkeitskonzeption allein aus ihrem historisch-akzidentiellen Status heraus als solche akzeptiert werden muß, sich daher einer rationalen Argumentation entzieht und einen Vergleich mit anderen Gerechtigkeitskonzeptionen unmöglich macht7B. 3. Wert- und Gerechtigkeitsdiskussion in der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie
Zu verschiedenen Zeiten ist die Frage diskutiert worden, ob und inwiefern die Klassiker des Marxismus eine entwickelte Konzeption der Gerechtigkeit vorgelegt haben. Es ist hier weniger die Feststellung von Belang, daß viele Autoren Marx als einen "Propheten der Gerechtigkeit" gefeiert haben, andere wiederum ihm mit der gleichen Vehemenz jegliche Sensibilität und jegliches Interesse für Fragen der Gerechtigkeit abgesprochen haben79. Auf jeden Fall trifft es zu, daß die Väter des Marxismus und auch später alle ihre Anhänger die sozialistische Gesellschaftsordnung als eine gerechte angesehen und als Negation der kapitalistischen aufgeiaßt haben, und dies im allgemeinen politischen Sinne. Die marxistische Sozialphilosophie hat sich in der Tat längere Zeit nicht intensiv mit Gerechtigkeitsfragestellungen befaßt. Erst im letzten Jahrzehnt kann man ein wachsendes Interesse für diese Fragestellungen feststellen, das sich auf die marxistisch-sozialistische Rechtsphilosophie überträgt. Man hat es längere Zeit als selbstverständlich angesehen, daß das sozialistische Recht durch die "Unvermeidlichkeit" der sozialistischen Gesellschaftsformation, d. h. durch eine sozusagen zwingende Geschichtslogik legitimiert ist und als 78 Vgl. zur Frage der rationalen Argumentation bezüglich Gerechtigkeitskonzeptionen V. Petev, Gerechtigkeit durch Recht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 24 (1985), S. 44 ff. 79 Diese Fragen sind auch in neuerer Zeit viel diskutiert worden, vgl. W. Theimer, Der Marxismus, 7. Auf!., München 1976, S. 15; R. C. Tucher, The Marxian Revolutionary ldea, London 1969, S. 35; W. L. Mc Bride, The Concept of Justice in Marx, Engelsand Others, Ethics, Bd. 85 (1975).
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
solches, wie die sozialen Bedingungen, aus denen es hervorgeht, einen hohen Gerechtigkeitsgehalt aufweist. In der marxistischen Theorie selbst wird allgemein festgehalten, daß die Forschungen und Ergebnisse bezüglich der Gerechtigkeitsproblematik in der Vergangenheit unbefriedigend gewesen sind. Schüsseler faßt zusammen: "Wo und soweit in der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie das Problem der Gerechtigkeit untersucht wurde, beschränkte man sich zumeist auf eine Kritik der bürgerlichen Konzeption und betonte lediglich den historischen Charakter dieser Kategorie. Detaillierte, auf die spezifischen Aspekte gerichtete Aussagen finden sich eigentlich nur in wenigen Arbeiten und auch dort nur im Ansatz"SO. Auch noch aus der Perspektive der späten 70iger Jahre wird der Diskussionsstand zu Fragen der Gerechtigkeit als unbefriedigend empfundensl. Es bestünde in der Lehre Übereinstimmung über wenige Probleme, die auch in ihrer allgemeinsten Form nur dargestellt worden sind. So z. B. sei man sich in der marxistischen Theorie darüber einig, daß die Gerechtigkeitsvorstellungen "ihrem Inhalt wie ihrer Form nach als klasseninteressierte Widerspiegelung bestimmter, primär ökonomischer Verhältnisse zu begreifen sind, und der Zusammenhang zum Recht im Klassenkampf auch nicht unterschätzt werden darf", daß aber "jede Überhöhung des Gerechtigkeitsproblems zur politischen Hauptlosung proletarischen Klassenkampfes bzw. zum Zentralproblem marxistischer Wissenschaft, auch der Rechtswissenschaft, zur Verfälschung der dialektisch-materialistischen Geschiehtsauffassung führt und also abzuweisen ist"sz. In letzter Zeit sind in der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie eine Reihe von Untersuchungen zur Wertproblematik im Recht durchgeführt worden. Wissenschaftliche Tagungen und größere Publikation sind dieser Problematik gewidmet83. Und bis heute hat das Interesse daran nicht nachgelassen. Es wird allgemein die Auffassung vertreten, daß dem sozialistischen Recht der Gegenwart ein hoher Wertgehalt zukommt, daß es sich in Übereinstimmung mit den ethischen Überzeugungen in der sozialistischen Gesellschaft befindet84. so Vgl. R. Schüsse/er, Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit, Staat und Recht 1966,
s. 1.
81 Vgl. R . Gollnick, Zur marxistischen Gerechtigkeitskonzeption und ihrer Bedeutung für die Rechtswissenschaft, Staat und Recht 1981, S. 799. 82 s. 800. 83 Vgl. z. B. die Materialien eines Symposiums in Jena über" Wertvorstellungen der Arbeiterklasse im sozialistischen Recht" in: Wert und Recht, Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 1979, Nr. 1; G. V. Mal'cev, Social'naja spravedlivost' i pravo (Soziale Gerechtigkeit und Recht), Moskau 1977; A. I. Ekimov, Spravedlivost' i socialisticeskoe pravo (Gerechtigkeit und sozialistisches Recht) , Leningrad 1980. 84 Vgl. E. A. Lukaseva, Social'noeticeskie problemy socialisticeskoj zakonnosti (Sozial-ethische Probleme der sozialistischen Gesetzlichkeit), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1982, H. 4, S. 12 ff.
IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
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4. Realisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen im sozialistischen Recht. Kritik
a) - In der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie stellt man gegenwärtig nicht nur ein großes theoretisches Interesse für die Gerechtigkeitsproblematik im Zusammenhang mit dem Recht, sondern gar eine Inflationierung der Gerechtigkeitskomponenten in der Konzeption des sozialistischen Rechts fest. Diesem Recht wird ein "humanitärer Gehalt" beigelegt, es wird zum "Träger des menschlichen Fortschritts" erhoben, wird sogar qualifiziert als "allgemeinmenschliches Recht". Dieses Pathos wäre nicht weiter von Belang, wenn nicht erhebliche theoretische Bemühungen dahinter stünden, die auf eine Idealisierung des sozialistischen Rechts abzielen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit diesen Auffassungen kann sinnvollerweise erst vor dem Hintergrund der marxistischen Gerechtigkeitskonzeption, die in ihnen enthalten ist, geführt werden. Wie die Analyse zeigen wird, fehlt es jedoch an einer entwickelten Konzeption der Gerechtigkeit in der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie der Gegenwart. Daher müssen hier Aussagen, die aus unterschiedlichen Anlässen gemacht worden sind, als Ausgangspunkt genommen und in Bezug auf eine konsistente Gerechtigkeitskonzeption untersucht werden. In dem sowjetischen Standardwerk der Staats- und Rechtstheorie wird zur Gerechtigkeit folgendes ausgeführt: "Unter sozialer Gerechtigkeit ist eine bestimmte Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Übereinstimmung mit den herangereiften Erfordernissen der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft zu verstehen. In der marxistischen Ethik verbindet sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit mit der Idee der Befreiung der Gesellschaft von Ausbeutung und Unterdrückung. Erst der Sozialismus schafft wirklich gerechte soziale Verhältnisse. Die Entstehung und Entwicklung der sozialistischen Demokratie, ihre historische Zielsetzung und ihr Inhalt werden vom Kampf um die Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit sowohl in der Außen- wie auch in der Innenpolitik bestimmt. In der Außenpolitik kommt sie vor allem im Kampf für den Frieden zum Ausdruck"85. Der methodische Ansatz erscheint hier zunächst richtig. Denn beim Prinzip der Gerechtigkeit geht es in der Tat um die Beurteilung von sozialen Verhältnissen und Institutionen, um sie, wenn sie bestimmten inhaltlichen Anforderungen entsprechen, als gerecht - im umgekehrten Falle als ungerecht - zu qualifizieren. In der obigen Formulierung wird jedoch klar, daß der Begriff der Gerechtigkeit nicht als ein Wertbegriff aufgeiaßt wird, der entsprechend den jeweiligen sozial-ethischen Überzeugungen in der Gesellschaft erarbeitet ss Marxistische Staats- und Rechstheorie, Bd. 3: Der sozialistische Staat, dt. Ausg., Köln 1975, S. 139.
3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
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wird. Vielmehr wird als gerecht das aufgefaßt, was objektiven Erfordernissen der sozialen Entwicklung, den "Erfordernissen der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft" entspricht. Dies bedeutet, daß man die Beurteilung sozialer Strukturen nicht von einem Wertmaßstab, der in der Gesellschaft jeweils erarbeitet und d. h. wandelbar ist, vornimmt, sondern bestimmte soziale Strukturen als an sich gerecht qualifiziert, weil sie angeblich in Übereinstimmung mit den objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung stehen. Dieser ontologische Ansatz führt dazu, daß die sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse allein durch ihren Typus als gerecht hingestellt werden. Folgende, nicht überprüfbare Aussagen werden dann möglich: "Die Entstehung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern hingegen ist Ausdruck höchster Gerechtigkeit, da die werktätigen Klassen in den Besitz der Staatsmacht gelangen"B6. Der sozialistische Staat ist also gerecht, weil er ein sozialistischer Staat ist und weil außer Frage gestellt wird, daß in ihm die werktätigen Klassen die Staatsmacht tragen. Es wird nicht gefragt, ob die Staatsmacht tatsächlich von diesen Klassen getragen wird und ob andere Institutionen, die nach der jeweiligen Überzeugung in der Gesellschaft als gerecht qualifiziert werden können, in diesem Staat existieren. Diese ontologische Sicht von GerechtigkeitS? schließt eine praktische Argumentation über Wertfragen aus. Einen anderen Aspekt der Gerechtigkeit hat Lukaseva im Auge, wenn sie auf die "ethische Position" der Persönlichkeit in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft hinweist. Zu den in ethischer Hinsicht wesentlichen Eigenschaften des Einzelnen zählt sie neben Gewissenhaftigkeit, Pflichtgefühl, Redlichkeit, Güte, zivile Courage und soziales Verantwortungsgefühl auch die Gerechtigkeit. Diese "moralische Kategorien des reifen Sozialismus" seien "organisch integriert" in das politische und rechtliche Bewußtsein. Alle Ausführungen laufen auf die These hinaus, daß ethische Kategorien besonders wirksam bei der Entstehung von Rechtsnormen wie auch bei deren Befolgung und Verwirklichung sindBB. Die Wirkung von ethischen Werten auf die Herausbildung von Rechtsüberzeugungen und Rechtsnormen ist nur dann gesichert, wenn letztere in einem freien Willensbildungsprozeß, und d. h. ohne Vorgaben einer politischen oder "moralischen" Instanz, entstehen. Was die Auswirkung ethischer Kategorien und individueller Bewußtseinsinhalte auf die Verwirklichung der Rechtsnormen angeht, sieht Lukaseva diese eindimensional. Nach ihr genügt es, daß die Individuen über bestimmte moralische Eigenschaften verfügen, einschließlich
s.
139. Der ontologische Ansatz in der Gerechtigkeitsproblematik wird gelegentlich auch von marxistischen Autoren kritisiert, vgl. Gollnick (Anm. 81), S. 803. 88 Lukaseva (Anm. 84), S. 12, spricht in diesem Zusammenhang von einer "moralischen Begründetheit" der Gesetzgebung. 86 87
IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
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eines entwickelten Gerechtigkeitsgefühls, um dem Recht zu seiner Realisierung zu verhelfen. Es sieht so aus, als ob die Normen des sozialistischen Rechts, vom ethischen Standpunkt aus gesehen, immer begründet sind, und es genügt eine Einsicht des entwickelten moralischen Bewußtseins des Einzelnen in ihren Gehalt, um sie freiwillig zu befolgen. Auf diese Weise wird eine präetablierte Gerechtigkeitskomponente des sozialistischen Rechts angenommen und nicht danach gesucht, ob sie tatsächlich existiert und inwieweit sie mit den Gerechtigkeitsüberzeugungen in der Gesellschaft übereinstimmt. Es wird neuerdings die These vertreten, daß das sozialistische Recht in der Periode der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ein Maximum an ethischen Werten enthält. Vom sozialistischen Recht wird nicht etwa behauptet (wie zu erwarten wäre), daß es neue soziale Werte verkörpert, sondern daß es Träger der "Errungenschaften der menschlichen Zivilisation" ist. So schreibt Javic, daß das sozialistische Recht die Ergebnisse des jahrhundertlangen Kampfes der arbeitenden Massen gegen Ausbeutung und für soziale Gerechtigkeit integriert und festigt und es "bestimmt ist, den allerhöchsten Idealen der Menschheit zu dienen"89. Auch Alekseev verbindet mit dem sozialistischen Recht maximalistische Erwartungen. Gerade das Recht des ganzen Volkes sei der "folgerichtigste Ausdruck des rechtlichen Fortschritts, Träger alles Positiven, was zur allgemeinmenschlichen rechtlichen Kultur gezählt werden kann"90, Dem Recht erwachse als "allgemeingesellschaftlicher Regulator" ein eigener sozialer Wert. Dieser Wert sei darin zu sehen, daß das Recht eine "geordnete Aktivität" der Individuen sichert, den Zufall, die Willkür und den "Subjektivismus" von Personen und Gruppen ausschließt. Hier spricht Alekseev die regulative Funktion des Rechts im allgemeinen an, und es ist daher nicht einsehbar, warum gerade dies ein besonderer eigener Wert des sozialistischen Rechts der späteren Periode sein soll. Außerdem versucht Alekseev, eine Unterscheidung zwischen dieser Funktion (eigenem Wert) und einem sog. "instrumentalen Wert" des Rechts durchzuführen. Letzterer "gewährleistet das Funktionieren anderer sozialer Institutionen (Staat, soziale Leitung, Moral u. a.), anderer sozialer Werte"91. Diese Unterscheidung leuchtet nicht ein, weil durch den "eigenen" Wert des Rechts solche "bedeutungsvolle Güter" in das soziale Leben hineingetragen werden wie "die Freiheit von Gefahren für den Menschen in den zwischenmenschlichen Beziehungen ... die soziale Pflicht, die Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit in Konfliktsituationen"92, die auch von sozialen Institutionen erlaßt werden. 89 L. S. Javic, K razrabotke koncepcii prava razvitogo socializma (Zur Erarbeitung der Konzeption des Rechts des entwickelten Sozialismus), Pravovedenie 1981, Nr. 6, s. 23. 90 Alekseev (Anm. 11), S. 20. 91 Alekseev (Anm. 21), S. 100.
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3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
Diese Ausführungen sind jedoch insofern bedeutsam, als sie ein Rechtsverständnis andeuten, in dem sozialethische Werte eine wesentliche Rolle spielen. Trotz der oben erwähnten unbegründeten Unterscheidung zwischen eigenem Wert und instrumentalem Wert des Rechts undtrotzder fehlenden Präzisierung darüber, wie sich die Gerechtigkeit zu den anderen Werten verhält, ist das Bemühen, das Recht in seiner sozialen Wertigkeit zu sehen, unverkennbar. In dieselbe Richtung zielen auch die Ausführungen von Malein. Der Autor versucht auch verschiedene begriffliche Präzisierungen der Gerechtigkeit. Er spricht von der Gerechtigkeit als von einer "Verhältnismäßigkeit zwischen praktischer Wertigkeit der einzelnen Individuen (sozialen Gruppen) und ihrer sozialen Stellung", die zu einem bestimmten Verhältnis zwischen Arbeit und Lohn, Handlung und Reaktion, zwischen Verdiensten und ihrer Anerkennung, zwischen Rechten und Pflichten, zwischen rechtswidriger Handlung und Verantwortlichkeit" führt, das man als gerecht oder ungerecht beurteilen kann93 . Hervorzuheben ist, daß der Autor Gerechtigkeit als Beurteilungsmaßstab ansieht, daß die Aussagen darüber als Wertaussagen erscheinen und nicht als solche, die bestehende Gerechtigkeitszustände nur explizieren. Er hält ebenfalls das sozialistische Recht für gerecht, gibt jedoch als Beispiel für seine Gerechtigkeit die Korrespondenz zwischen dem Beitrag des Individuums für die Gesellschaft und den Gütern, die das Individuum- durch das Recht garantiert - von der Gesellschaft erhält. Somit ist der Zugang zu der Erkenntnis eröffnet, daß das Recht nicht von vornherein und seinem Typus nach als gerecht oder ungerecht qualifiziert werden kann, sondern erst nach Beurteilung darüber, ob es zur Verwirklichung bestimmter sozialethischer Prinzipien dient. Es ist dann aber ein Rückfall in eine ontologische Sichtweise, wenn Malein letztlich behauptet, daß die Gerechtigkeit eines der Prinzipien der sozialen Beziehungen und des Rechts sei, die den ökonomischen und politischen Grundlagen des Sozialismus eigen sind94. Auch Haney befindet sich mit seiner These vom "Ailgemeinmenschlichen" im sozialistischen Recht im Trend der neueren theoretischen Bemühungen in der marxistisch-sozialistischen Lehre der Gegenwart, das Recht nicht nur einseitig klassenmäßig zu analysieren, sondern ihm als allgemeinem sozialen Phänomen weitere Seiten und Aspekte, die von allgemeiner Bedeutung für die
s. 100 f. N. S. Malein, 0 spravedlivosti sovetskogo prava (Über die Gerechtigkeit des sowjetischen Rechts), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1983, H. 10, S. 62. 94 Malein (a. a. 0 ., S. 63) schreibt: "Die Gerechtigkeit erscheint als eines der Prinzipien, die charakteristisch für die gesellschaftlichen Beziehungen und das Recht im Sozialismus sind und die mit seinen ökonomischen und politischen Grundlagen korrespondieren". 92
93
IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
121
Gesellschaft sind, abzugewinnen. So wie dies mit der These des Rechts als "gesamtgesellschaftlicher Regulator" der Fall war, wird jetzt mit der These von Haney über "allgemeinmenschliche Werte", die durch das Recht realisiert werden, ein Versuch unternommen, den Wertgehalt des sozialistischen Rechts zu heben und ihm eine weitere Legitimation neben der, die ihm angeblich aus der "historischen Notwendigkeit" der sozialistischen Gesellschaftsordnung zukommt, zu geben. Haney gesteht auch anderen, vorsozialistischen Rechten in begrenztem Rahmen die Fähigkeit zu, zur Realisierung "allgemeinmenschlicher" Werte beigetragen zu haben. Er führt dazu aus: "Die Tatsache jedoch, daß Staat und Recht in der bisherigen Geschichte stets Unterdrückungsinstrumente einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit waren, führt nicht selten dazu, daß sie verständlicherweise überhaupt als Unwert empfunden und generell kategorisch abgelehnt werden". Sie seien aber zugleich auch "Entwicklungsformen, -instrumente, -beziehungen", die "auf bestimmten Stufen der Geschichte notwendig wurden" . In ihrer "aufsteigenden Phase" haben sie neben "ihrer Klassenspezifik auch einen allgemeinmenschlichen Aspekt"95. Daß Haney dem Recht in der bürgerlichen Gesellschaft letztlich doch die Fähigkeit abspricht, Gerechtigkeitsvorstellungen "auf der Grundlage alles Wertvollen aus der Vergangenheit" durchzusetzen, verwundert nicht, weil dies marxistischen Grundüberzeugungen entspricht. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang jedoch das methodische Herangehen an das Problem. Haney geht von allgemeinen Werten aus, die in der Geschichte tradiert sind, und fragt danach, wie sie im Sozialismus verwirklicht werden. In diesem Zusammenhang spricht er von Gleichheit, von der Befreiung von "sozialer Knechtschaft", von "freier Entfaltung der Persönlichkeit". Für die Wertigkeit des sozialistischen Rechts scheint ihm wichtig zu sein, inwiefern dieses das "Allgemeinmenschliche", das "in jeder allgemeinen Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Demokratie und ähnlichem liegt" , verwirklichen hilft96 . Man solle sich nicht in die Defensive bringen lassen, so "als ob der Sozialismus jene allgemeinmenschlichen Maßstäbe und einfache Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit von sich weist oder zumindest deshalb geringschätzt, weil sie ihren Ursprung vor dem Sozialismus haben"97. Haney plädiert dafür, daß solche Werte, die im "Alltagsbewußtsein verwurzelt" sind, von der sozialistischen Gesellschaft und ihrem Recht in Anspruch genommen werden müssen. Und dies sei nötig und möglich, denn "das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse (sei) allgemeinmenschliches Bewußtsein in dem Sinne, 95 G. Haney, Die Wertbedeutung und die Dialektik von Klassenmäßigem und Allgemeingesellschaftlichem im sozialistischen Recht, in: Zur marxistischen Rechtskonzeption, Beiträge zum IVR-Weltkongreß 1979 in Basel, Berlin (Ost) 1979, S. 25. 96 S. 30 passim. 97 s. 33.
3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
122
daß sich in ihm die notwendige, auf die gesamte Gesellschaft bezogene Höherentwicklung der Menschheit widerspiegeln muß"98. Von diesen Ansichten bis zu der Forderung nach einer praktischen Diskussion über Gerechtigkeitskonzeptionen ist es nur noch ein kleiner Schritt. Freilich stellt Haney diese Forderung nicht, denn für ihn scheint festzustehen, daß solche Werte "erst im Sozialismus uneingeschränkte, volle Geltung erlangen"; hier, im Sozialismus, werde "hinter keine gesellschaftliche Errungenschaft zurückgegangen "99. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Forderung, daß ethische Werte nicht nur proklamiert, und d. h. allein in den positiven Normen des Rechts festgehalten werden, sondern daß sie von den Menschen geteilt werden. Haney spricht hier allerdings von einer Aneignung der Werte, als ob sie zunächst von der politischen Führung aufgestellt werden müssen und dann von den Mitgliedern der Gesellschaft angenommen werdenloo. Er sieht jedoch die untrennbare Verbindung zwischen tatsächlichen Rechtsüberzeugungen und im Recht festgehaltenen Wertmaßstäben. Dies erfordert jedoch die offene Austragung von Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen und Vergleiche zwischen den Gerechtigkeitsüberzeugungen der einzelnen sozialen Gruppen und organisierte Verfahren zu deren Artikulierung innerhalb der eigenen Gesellschaftsordnung, und nicht nur das bloße Akzeptieren von Wertmaßstäben, die eine ideologische Instanz, die Kommunistische Partei, ausgibt. b) - Wie bereits gezeigt wurde, zeichnet sich die Gerechtigkeitskonzeption der marxistisch-sozialistischen Rechtsphilosophie der Gegenwart durch eine starke ontologische Komponente aus. Danach bezieht jedes Recht seinen Gerechtigkeitsgehalt aus der Gesellschaftsordnung, in der es entsteht und wirkt. Das sozialistische Recht sei schon deshalb gerecht, weil es einer Gesellschaftsordnung angehört, die als gerecht zu qualifizieren seilOl. Diese Eigenschaft wird der sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgrund ihres geschichtlichen Ranges innerhalb des geschichtslogischen Schemas des Historischen Materialismus, nach dem sie eine Gesellschaftsordnung höherer Qualität darstellt, zugeschrieben. Anstatt die inhaltlichen Kriterien der "sozialistischen 98 99
s. 34 f. s. 34.
Haney (a. a. 0 ., S. 36) führt dazu aus: "Die sozialistische staatliche Leitung schafft notwendige Möglichkeiten für die Aneignung der Werte, sie vermittelt sie, macht sie wahrnehmbar. Angeeignet und bereichert werden können sie jedoch nur im und durch das Verhalten der Menschen selbst, in ihrem praktischen Handeln". 1°1 M. Szotliczki (Die Gerechtigkeit als Wertmaßstab des Rechts, Wiss. Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1979, S. 81 f.) schreibt: "Das ganze System gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer Organisation, ebenso der politischen und juristischen Institutionen, ist insofern gerecht, d. h. seine historische Berechtigung reicht so weit, wie es dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte adäquat ist und ihn progressiv widerspiegelt. In einem solchen umfassenden Sinne bedeutet Gerechtigkeit für das Ganze der Gesellschaft historische Richtigkeit". 100
IV. Sozialistisches Recht und Gerechtigkeit
123
Gerechtigkeit" anzugeben, wird hier eine Konstruktion aufgestellt, die ihrerseits der Begründung bedarf. Auf diese Weise wird die Gerechtigkeitsproblematik nur auf eine andere Ebene verschoben, namentlich auf die des Vergleichs von Gesellschaftsordnungen. Auf derselben ontologischen Ebene liegt auch die Forderung, das Recht an den "objektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten" zu messen und ihm einen Gerechtigkeitsgehalt nach Maßgabe der Übereinstimmung mit diesen zuzuweisen. Mit dieser Forderung begibt man sich in den Bereich metaphysischer Spekulationen. Denn die These, daß z. B. das sozialistische Recht deshalb gerecht und "legitimiert" sei, weil es den "objektiven Gesetzmäßigkeilen der gesellschaftlichen Entwicklung" entspricht102, entzieht sich jeglicher Überprüfbarkeil und auch einer rationalen Diskussion. Dies ist deshalb der Fall, weil bislang weder Qje marxistische noch eine andere Theorie nähere und nachvollziehbare Kriterien für die Übereinstimmung von sozialen Institutionen und normativen Ordnungen mit "Gesetzmäßigkeiten" und Trends der gesellschaftlichen Entwicklung erarbeitet hat. Und nur ein naiver Geschichtsdeterminismus kann sich bei der Aufstellung und Rechtfertigung politischer Maßnahmen und rechtlicher Normierungen mit dem Argument der Übereinstimmung mit angeblich objektiven sozialen Gesetzen begnügen. Eine rationale Diskussion über so konstruierte Gerechtigkeitsvorstellungen wird insbesondere dadurch vereitelt, daß das Übereinstimmungsargument konkrete inhaltliche Argumente über den Gerechtigkeitsgehalt von Normen und Rechtspinzipien verdrängt. Auch führen pauschale Behauptungen z. B. darüber, daß das sozialistische Recht alles Humane und Gerechte, was die Menschheit immer angestrebt hat, in sich vereine, daß dieses Recht Träger der Errungenschaften der menschlichen Zivilisation sei, in einer Auseinandersetzung von Gerechtigkeitskonzeptionen nicht weiter, weil sie in dieser allgemeinen Form nicht diskutierbar sind. Die marxistische Theorie vermeidet es weitestgehend, konkrete inhaltliche Kriterien für den Gerechtigkeitsgehalt der sozialistischen Rechtsnormen zu geben und sie im Vergleich zu Kriterien westlich-demokratischer Gerechtigkeitskonzeptionen zu diskutieren103. Gerechtigkeit der eigenen Konzeption wird vielmehr vorausgesetzt. So behauptet Popkov, daß der Gerechtigkeitsgehalt der Rechtsnormen sich allgemein nach den "Erfordernissen der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft" richtet, daß eine Rechtsnorm insbesondere dann gerecht ist, wenn sie mit der "Generallinie" des kommunistischen Aufbaus übereinstimmt104. W2 Vgl. H. Klenner, Gerechtigkeit- eine rechtsphilosophische Kategorie? Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1979, S. 800. 103 Solche inhaltliche Kriterien der Gerechtigkeit werden interessanterweise von Ekimov (Anm. 83, S. 74 ff.) aufgestellt. 104 Zitiert bei Ekimov (Anm. 83), S. 90.
124
3. Kap.: Positivität und sozial-ethischer Gehalt des Rechts
In der Gesellschaft treten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechend differenziert und gebunden an den Status und die Ziele von relevanten sozialen Gruppen auf. Daß sie jedoch an soziale Klassen im marxistischen Sinne, die sich hauptsächlich durch ihre ökonomische Position in der Gesellschaft auszeichnen, gebunden sind, ist sehr fraglich. Die marxistische Theorie behauptet in diesem Zusammenhang, daß die herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft die der jeweils ökonomisch herrschenden Klasse sind. Dementsprechend seien die Gerechtigkeitsvorstellungen in der sozialistischen Gesellschaft von der Arbeiterklasse geprägt und seien die einzig "richtigen", weil die Arbeiterklasse "Träger der progressiven Tendenzen der Gesellschaft" seitos. Hier zeigt sich wieder die Fragwürdigkeit der marxistisch-sozialistischen Gerechtigkeitskonzeptionen mit ihrem ontologisch-spekulativen Charakter. Denn ~s spricht kein Argument dafür, daß nur eine soziale Gruppe Gerechtigkeit "erkennt" oder konstituiert und auch in der Zukunft richtungsweisend wirkt, wie dies für die Arbeiterklasse in der sozialistischen Gesellschaft behauptet wird. Große Einwände ruft letztlich die These hervor, daß in der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft einheitliche Gerechtigkeitsvorstellungen herrschen. Ekimov schreibt: "In der UdSSR gibt es keine Klassen oder soziale Gruppen mehr, die ihre eigenen Interessen zum Nachteil der Interessen der anderen verfolgen. Noch mehr, unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei ist sogar eine Harmonisierung dieser Interessen möglich. Deshalb hat die Klassengerechtigkeit im Recht die Züge einer allgemeingesellschaftlichen Gerechtigkeit angenommen. Mit der Errichtung des entwickelten Sozialismus in der UdSSR haben zum ersten Mal in der Geschichte des Rechts solche Gerechtigkeitsvorstellungen in ihm Ausdruck gefunden, die den Willen und die Interessen aller Klassen und Gruppen in der sowjetischen Gesellschaft ohne jede Ausnahme widerspiegeln"l06. Diese Behauptung ist in der UdSSR noch nie empirisch überprüft worden. Sie kann auch durch geschichtliche Erfahrungen nicht gestützt werden. Letztlich ist sie theoretisch unhaltbar, weil sie nicht die Voraussetzungen angeben kann, unter denen in einer komplexen Industriegesellschaft die Konstituierung von Ideen, die durchweg alle sozialen Gruppen und Schichten erfassen, vonstatten geht.
10s 106
Vgl. Szotckzki (Anm. 101), S. 82. Ekimov (Anm. 83), S. 61.
Viertes Kapitel
Steuerung sozialer Prozesse durch Recht I. Entwicklungstrends und bewußte soziale Steuerung durch Recht 1. Problemstellung
Alle komplexen Gesellschaften gestalten ihre Ordnung mit Hilfe der staatlichen Organisation und mit den Mitteln des Rechts. Die staatliche Ordnung ist aus der Notwendigkeit einer umfassenden Organisation der Gesellschaft, die in Gruppen mit unterschiedlichen Interessen geteilt ist, entstanden. Sie umgreift fast alle sozialen Bereiche. Durch das Recht wird eine normative Verhaltensordnung geschaffen, die als einzige in der Gesellschaft den Anspruch erhebt, für alle verbindlich zu sein und, gestützt auf den staatlichen Zwangsapparat, eine hohe Durchsetzungschance besitzt. Bekanntlich ist die staatlich-rechtliche Ordnung gesellschaftlicher Beziehungen oft nicht effizient genug, jedoch unentbehrlich für Gesellschaften mit hoher Komplexität. Solche Gesellschaften zeichnen sich durch die Diversität der Interessenlagen der einzelnen sozialen Gruppen und die in ihnen herrschenden unterschiedlichen ethischen Vorstellungen und politischen Konzeptionen aus. Deshalb unterliegen diese Gesellschaften nicht einer einheitlichen, auf allgemeiner Überzeugung beruhenden Verhaltensordnung. Die Ausdifferenzierung der sozialen Prozesse, die unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen machen eine Verhaltensordnung erforderlich, die für alle verbindlich ist, unabhängig davon, ob sie sich mit den partikularen Interessen der Normadressaten deckt. Denn in komplexen Gesellschaften besteht ein allgemeines Interesse an der Regelung der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben wegen der Unterschiedlichkeit der Interessenlagen und der politischen und ethischen Überzeugungen. Dies ist der Bereich des Politischen, der durch die Normen des Rechts geregelt wird. In demokratisch organisierten Gesellschaften sieht man die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen aus der Perspektive der Diversität der Interessen und Überzeugungen der sozialen Gruppen. Man erkennt an, daß hier allein die Normen des Rechts allgemeine Verbindlichkeit genießen, man ist sich aber durchaus im klaren, daß die rechtlichen Regelungen wegen ihrer Rigorosität mit Bedacht gehandhabt werden müssen. Deshalb ist hier der Gesetzgeber zurückhaltend, wenn er in sozi_ale Abläufe, die sich immer durch eine gewisse
126
4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
Spontaneität auszeichnen, eingreift und versucht, ihre Regelungsbedürftigkeit richtig zu erfassen. Demgegenüber wird in der marxistisch-sozialistischen Gesellschaftskonzeption und in der staatlichen Praxis der sozialistischen Staaten die Regelung sozialer Beziehungen durch Recht für nahezu optimal gehalten. Hier wird die Regelungsfunktion des Staates hypostasiert und dieser zum Träger der "Notwendigkeit" im sozialen Entwicklungsprozeß erklärt, was die Richtigkeit des staatlichen Handelns, das sich allein nach der Konzeption der jeweiligen Kommunistischen Partei orientiert, nahelegt. Typischerweise übersieht man hier die Gefahren eines gesetzgeberischen Voluntarismus und nutzt die Vorteile der Allgemeinverbindlichkeit des Rechts, um eine Ordnung zu installieren, die nützlich für die herrschende politische Elite ist. Wie unten noch zu zeigen sein wird, geschieht dies durch Berufung auf sogenannte objektive Entwicklungsgesetze, um deren Erkenntnis und Umsetzung in die soziale Praxis es bei der Normierung sozialer Beziehungen durch Recht gehe. In den pluralistischen politischen Systemen der westlichen Staaten entstehen rechtliche Regelungen nach Bewertung der relevanten sozialen Umstände durch die einzelnen sozialen Gruppen und ihre Repräsentanten in institutionalisierten und kontrollierten Verfahren. So entsprechen die Ziele der rechtlichen Regelung bestimmten, subjektiv ermittelten sozialen Bedürfnissen, die in institutionalisierten Verfahren als Regelungsbedürfnisse formuliert werden. Dabei versucht man, bestimmte festgestellte und als positiv bewertete Entwicklungstrends zu berücksichtigen, denen man eine gewisse Objektivität im Sinne von zu erwartenden Verhaltensweisen und aus ihnen resultierenden Ergebnissen zuerkennt. Man mißt ihnen jedoch nicht die Bedeutung von exakt wirkenden objektiven Gesetzen bei, nach denen die gesetzgeberischen Entscheidungen ausgerichtet werden sollten und die als Legitimation und Richtigkeilsgewähr für die letzteren dienen. 2. Die marxistische Auffassung von den sogenannten objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung
Nach dieser Auffassung sind die Abläufe in der Gesellschaft nicht einer spontanen Entwicklung unterstellt und werden insofern nicht durch den Willen der beteiligten Subjekte an den gesellschaftlichen Beziehungen letztlich determiniert, sondern durch objektive Gesetze bestimmt, deren Grundlage die materiellen, und das heißt die Produktionsverhältnisse in der Gesellschaft bilden. Diese Determination betrifft den Typus der sozialen Beziehungen, ist jedoch praktisch wirksam auch in jeder größeren Phase der sozialen Interaktion. Die objektiven sozialen Gesetze sollen Voraussetzungen, Inhalt und die zu erwartenden typischen Resultate der sozial relevanten Handlungen angeben, so daß die sozialen Beziehungen geplant und bewußt gesteuert werden können.
I. Entwicklungstrends und bewußte soziale Steuerung durch Recht
127
Die These von den objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung bildet einen Grundpfeiler der marxistischen Gesellschaftstheorie. Die marxistischen Autoren aller Prägung behaupten, daß allein diese Gesellschaftstheorie eine Wissenschaft darstellt, weil sie angeblich befreit von metaphysischen Spekulationen sei und die Erklärung der Dynamik des Geschichtsprozesses auf eine "materielle Basis" stützt. Diese materielle Basis bilden die "objektiven" gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Danach sind es nicht die politischen und ethischen Ideen einer Zeit, die Änderungen und Entwicklungen hervorrufen, sondern die materiellen Produktionsverhältnisse, die all diese Ideen und insofern die Entwicklung selbst bestimmen. Schon im Vorwort zur "Kritik der politischen Ökonomie" hebt Marx hervor: "In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten"! . Auch für Engels ist der Primat der ökonomischen Verhältnisse unumstritten. Er schreibt: " . .. es fragt sich nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Wille - des einzelnen wie des Staates - hat, und woher dieser Inhalt kommt, warum gerade dies und nichts anderes gewollt wird. Und wenn wir hiernach fragen, so finden wir, daß in der modernen Geschichte der Staatswille im Ganzen und Großen bestimmt wird durch die wechselnden Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Übermacht dieser oder jener Klasse, in letzter Instanz durch die Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhältnisse"2. Die marxistische Gesellschaftstheorie nimmt für sich in Anspruch, durch diese Erkenntnisse eine Umwälzung im Verständnis der Menschheitsgeschichte vollzogen und die Gesellschaftstheorie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt zu haben. So habe man anstelle von Mutmaßungen und metaphysischen Spekulationen, die die vormarxistischen Theorien auszeichneten, durch die Analyse der ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft das eigentliche Wirkungsgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt3. Dies wird von der marxistischen Theorie auch heute noch uneingeschränkt vertreten4. Sie behauptet, daß die Steuerung der sozialen Prozesse gerade im 1 Vgl. MEW, Bd. 13, S. 9. An anderer Stelle schreibt Marx: "In der Tat, man muß jeder historischen Kenntnis bar sein, um nicht zu wissen, daß es die Souveräne sind, die zu allen Zeiten sich den wirtschaftlichen Verhältnissen fügen mußten, daß aber niemals sie es gewesen sind, welche ihnen das Gesetz diktiert haben", Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, S. 109. 2 F. Engels, Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie, MEW, Bd. 21,
s. 300.
Vgl. Engels (Anm. 2), passim. Vgl. K. Fabian, Rechtsphilosophische Aspekte der Steuerung der sozialen Entwicklung in der gegenwärtigen Etappe, in: P. Trappe (Hrsg.), Zeitgenössische Rechts3 4
128
4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
Sozialismus auf dieser wissenschaftlichen Grundlage beruht. So wird ein Zusammenhang zwischen den "objektiven" Gesetzen des Sozialismus und dem bewußten Handeln der Menschen in dieser Gesellschaftsordnung hergestellt5. 3. Kritik
Man muß jedoch feststellen, daß es der marxistischen Gesellschaftstheorie nicht gelungen ist, weiterführende Erkenntnisse in der eigentlichen alten Problematik der sogenannten Entwicklungsgesetze der Gesellschaft6, mit der der Wissenschaftspositivismus in diesem Jahrhundert sich ausführlich befaßt hat und die in der modernen Wissenschaftstheorie nicht mehr in der gleichen Weise formuliert wird, zu Tage zu fördern. Auch wenn die marxistisch-sozialistische politische Ökonomie im Anschluß an das sogenannte Grundgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung, namentlich das Gesetz der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Stand der Produktivkräfte der Gesellschaft, einige solche Gesetze benannt hat, wie z. B. das Gesetz des ständigen Wachstums der Arbeitsproduktivität im Sozialismus, das Gesetz der Verteilung nach der Arbeit oder das Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln7, so war es ihr nicht möglich, sie in der geeigneten Form, und das heißt unter Beachtung der Forderungen der eigenen philosophischen Definition des Gesetzes, zu formulieren- mit angehbaren Klassen von Bedingungen und zu erwartenden typischen Folgen. Bei den globalen Aussagen dieser Gesetze ist es nicht ersichtlich, wie aus ihnen operationalisierbare Anforderungen abgeleitet werden können, die in politische Entscheidungen und rechtliche Regelungen umgesetzt werden können. In der neueren Literatur finden sich zwar vereinzelt kritische Stimmen, die vor allem darauf hinweisen, daß bei der Ausnutzung der sogenannten objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung "politische und ideologische Faktoren" eine wichtige Rolle spielen&, daß insbesondere das subjektive Moment der Erkenntnis, und das heißt das Bewußtsein der erkennenden Subjekte mit allseinen Eigentümlichkeiten, einen Automatismus bei der Erkenntkonzeptionen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Supplementa Vol. I, Part 2, 1982, S. 309 ff.; G. Stiehler, Gesetze der Basis und Gesetze des Überbaus - Zusammenhang und Wechselwirkung, Staat und Recht 1985, S. 611 ff. 5 Vgl. G. Ebert, Wirkungsbedingungen und Dynamik ökonomischer Gesetze des Sozialismus, in: Objektive Gesetzmäßigkeiten und bewußtes Handeln in der sozialistischen Gesellschaft- Materialien des IV. Philosophiekongresses der DDR, Berlin (Ost) 1975, s. 117. 6 Vgl. zu dieser Problematik in historischer Sicht R. Brown, The Nature of Social Laws, Cambridge 1984. 7 Vgl. L. I. Sagainow, Sozialistischer Staat und ökonomische Gesetze, Berlin (Ost) 1978, s. 58. s Vgl. L. 0 . Chalfina (Hrsg.), Naucnye osnovy sovetskogo pravotvorcestva (Wissenschaftliche Grundlagen der sowjetischen Rechtsetzung), Moskau 1981, S. 67.
I. Entwicklungstrends und bewußte soziale Steuerung durch Recht
129
nis der objektiven Gesetze ausschließt9. So sehen manche Autoren, daß es nicht einmal gesichert ist, daß die Erkenntnis der sogenannten objektiven Gesetze auch immer gelingt. Chalfina schreibt dazu: "Die Wirkung des objektiven ökonomischen Gesetzes kann sich auch darin äußern, daß die staatlichen und rechtlichen Entscheidungen, die mit ihm nicht konform sind, nicht zur Erreichung der gesetzten Ziele führen, sogar manchmal negative Wirkungen auf die Entwicklung dieses oder jenes ökonomischen Zweiges ausüben"lO. Aus diesen Einsichten zieht die marxistische Theorie jedoch nicht den naheliegenden und richtigen Schluß, daß im Bereich der Gesellschaft, anders als in dem der Natur, Entwicklungstrends nicht mit der Präzision eines Gesetzes auftreten und daher die Erkenntnisse hier nicht objektiver Natur sein können, sondern von wertenden Stellungnahmen abhängig sind. Es sind jedoch nicht das wissenschaftliche Pathos und ein unreflektierter politischer Optimismus, denen Wissenschaft und politische Führung im Sozialismus verfallen sind, sondern der absolute Machtanspruch der Kommunistischen Partei und die Zwänge, die sich aus ihm ergeben, die die Haltung der Wissenschaft bestimmen und sie weitgehend zu einem Helfer der Macht degradieren. Es erstaunt daher nicht, wenn die herrschende Lehre auch heute noch die Spontaneität der gesellschaftlichen Entwicklung als den Platz von Irrtümern, Zufälligkeiten und Mystifikationen abqualifiziert und an der These von der Existenz objektiver sozialer Gesetze festhält, denen der sozialistische Staat als der Träger der fortschrittlichen gesellschaftlichen Entwicklung durch die Erkenntnis ihrer Wirkungsweise zum Durchbruch verhilft und somit die "historische Notwendigkeit" realisiert11. Auch wird weiterhin, unberührt von den Erfahrungen des sozialistischen Staates selbst, am Dogma festgehalten, daß allein die marxistische Wissenschaft in der Lage sei, die sogenannten objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu erforschen und zu erkennen. Dies würde aber bedeuten, daß die marxistische Wissenschaft über theoretische Vorausetzungen und methodische Mittel verfügt, die sichere und richtige Erkenntnisse garantieren. Eine Wissenschaft aber, die in der heutigen Zeit, bei dem verhältnismäßig hohen Entwicklungsstand der Wissenschaftstheorie, Letztbegründungen, zumal im Bereich der Gesellschaftswissenschaften, zu erreichen behauptet und eine Art Unfehlbarkeit für sich in Anspruch nimmt, läuft Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. Das Dogma der objektiven Gesetze muß aber aufrechterhalten werden, um eine exklusive Legitimation für die Leitungstätigkeit des sozialistischen Staa9
s. 68.
s. 72. u Vgl. A. P. Gerasimov, Protivorecija i zakonomernosti gosudarstvennogo upravlenija (Widersprüche und Gesetzmäßigkeiten der staatlichen Leitung), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1968, H. 4, S. 27 ff. 10
9 Petev
130
4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
tes zu liefern. Die Politik der Kommunistischen Partei erscheint auf diese Weise begründet, durch die Wissenschaft gestützt, bar jeder Willkür und insofern jeweils immer richtig. Nur erzeugt diese Konstruktion Antinomien, auf die die Wissenschaft selbst wie auch die politische Führung nicht eingehen, weil sie unüberbrückbar sind. Der Führungsanspruch und das Erkenntnismonopol liegen bekanntlich im sozialistischen Staat bei der Kommunistischen Partei. Auf der anderen Seite wird aber behauptet, daß die marxistische Wissenschaft richtige Erkenntnisse über die gesellschaftliche Entwicklung zu Tage fördert. Das personelle Substrat der Wissenschaft ist jedoch nicht mit den Führungsgremien der Kommunistischen Partei identisch, da unter den Wissenschaftlern viele nicht dieser Partei angehören. So ergibt sich der Widerspruch, daß das Erkenntnismonopol bei der Kommunistischen Partei liegt und daß ihre Entscheidungen daher letztlich immer richtig sind, während sie auf der anderen Seite als richtig nur deshalb angesehen werden, weil sie durch die Wissenschaft gestützt werden. Man kann wiederum bei der heute unbestreitbaren Fehlbarkeit aller Wissenschaft nicht behaupten, daß die marxistische Wissenschaft immer zu richtigen Erkenntnissen gelangt, weil sie über einen festen Klassenstandpunkt und eine sichere Methode wie die materialistisch-dialektische verfügt und weil ihr von der regierenden Kommunistischen Partei, die die objektiven Entwicklungsgesetze erkennt, immer ein klar umrissener Auftrag erteilt wird. In diesem Lichte stellen sich die sogenannten objektiven Entwicklungsgesetze der Gesellschaft herau~ als das, was sie eigentlich sind, namentlich wechselnde Entwicklungstrends, die jeweils Zustimmung oder Ablehnung hervorrufen und daher befolgt bzw. vernachlässigt werden müssen. Die Wissenschaft, auch die marxistische, bleibt wiederum fehlbar, so wie die Politik der Kommunistischen Partei, ähnlich einer jeden politischen Kraft auf der Suche nach Wegen zur Verwirklichung der jeweils gesetzten Ziele, von wechselhaftem Erfolg begleitet wird. Dafür legt die Geschichte der politischen Praxis der sozialistischen Staaten ein beredtes Zeugnis ab. II. Politik, Ideologie und Recht
1. Politische Theorie als Erkenntnismodell und sozialer Gestaltungsentwurf
Zur Erkenntnis von Realität gehört ein Konzept. In den Naturwissenschaften wie in den Sozialwissenschaften geht man an das Erkenntnisobjekt mit Hypothesen heran, die ein bestimmtes Konzept von der zu erkennenden Realität darstellen. Zumal bei der Erforschung sozialer Realitäten bedarf es eines Erkenntnismodells, weil hier die Realität von besonderer Beschaffenheit ist. Die soziale Realität wird von den gesellschaftlichen Subjekten mit ihren
II. Politik, Ideologie und Recht
131
Ideen, Überzeugungen und Konzeptionen und durch die Institutionen, die sie zur Gestaltung der Gesellschaft ins Leben rufen, konstituiert. Das Pathos soziologischer Theorien der frühen Zeit, die daran glaubten, daß sich die gute gesellschaftliche Ordnung bereits aus der exakten Beobachtung und Analyse der "sozialen Tatsachen" ergibt, kann als überwunden betrachtet werden. Der heutige Stand der Erkenntnistheorie verlangt nach Erkenntnishypothesen und Erklärungsmodellen, die nur von einem Konzept sozialer Gestaltung her abgeleitet werden können. Von marxistischer Seite wird nicht zugegeben, daß die politische Führung ihre Entscheidungen nach Konzepten trifft, die sie zuvor nach freier Beurteilung der jeweils relevanten sozialen Bedingungen aufgestellt hat und denen alle möglichen Irrtümer menschlichen Urteilens und Handeins anhaften. Demgegenüber wird vertreten, wie bereits gezeigt wurde, daß die politischen Entscheidungen und die rechtlichen Regelungen , die der sozialistische Staat einführt, der "richtigen" Erkenntnis objektiver sozialer Gesetze folgen. Diese Gesetze werden von der marxistischen Sozialwissenschaft erforscht, und das Dogma von deren Existenz bleibt unerschüttert. Deshalb wird hier für eine Sozialontologie plädiert, nach der die Beziehungen zwischen den Individuen und den relevanten Gruppen in der Gesellschaft von einer Beschaffenheit sind, die je nach Typus der jeweiligen gesellschaftspolitischen Formation (kapitalistische, sozialistische) ihnen objektiv anhaftet und nicht von unterschiedlichen wertenden Stellungnahmen, die in der Perspektive der jeweiligen sozialen Gruppe getroffen werden, letztlich abhängig ist. In diesem Zusammenhang bringt die marxistische Sozialphilosophie bekanntlich die Unterscheidung zwischen den sogenannten materiellen gesellschaftlichen Beziehungen, die im Prozeß der gesellschaftlichen Produktion materieller Güter entstehen, und den sogenannten ideologischen gesellschaftlichen Beziehungen, "die vor ihrer Ausgestaltung durch das Bewußtsein der Menschen hindurchgegangen sind". Zu ihnen zählen die politischen, moralischen, religiösen und andere soziale Beziehungen, aber auch die Rechtsverhältnisse. Vom rechtlichen Regelungsobjekt wird wiederum behauptet, es existiere "unabhängig davon, ob es vom Gesetzgeber erkannt wird oder nicht; es ist ihm gewissermaßen vorgegeben als ein außer- und vorrechtlicher sozialer Sachverhalt"12. Nur werden rechtlich auch "ideologische" Beziehungen geregelt, und für sie gilt, daß sie bewußtseinsmäßig erlebt und nach dem Willen der Beteiligten gestaltet werden. So kann das Regelungsobjekt dem "Gesetzgeber" nicht völlig "vorgegeben" sein, sondern wird von ihm mitkonstituiert, weil er als gesellschaftliches Subjekt soziale Beziehungen mitreflektiert. Wenn 12
K. A. Mollnau (Hrsg.) , Probleme einer Rechtsbildungstheorie , Berlin (Ost) 1982,
s. 32. 9*
4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
132
auf der anderen Seite ökonomische Beziehungen durch Recht gestaltet werden können, und dies ist unbestreitbar eine der Hauptfunktionen des sozialistischen Rechts, und wenn die rechtlichen Regelungen in ihrem Inhalt variieren, was allenthalben bei den vielen Reformen in der sozialistischen Wirtschaft festgestellt werden kann, ist nicht recht zu sehen, worin sich der "objektive" Charakter dieser Beziehungen äußert und was sie diesbezüglich von den "ideologischen Beziehungen" unterscheidet. 2. Die marxistisch-sozialistische Gesellschaftstheorie als Ideologie
Politische Theorien stehen oft unter einem ldeologieverdacht, weil sie Überzeugungen und Gestaltungsentwürfe von politischen Gruppen in der Gesellschaft - zumeist von herrschenden - zu legitimieren versuchen, auch wenn nicht hinreichende Gründe dafür vorliegen. Man unterstellt diesen Theorien somit ein Wahrheitsdefizit und unterscheidet sie von den Wissenschaften, die sich dem Wahrheitspostulat verpflichtet sehen. Letzterer Einwand kann allerdings nicht ohne weiteres erhoben werden, weil nach einem verbreiteten Verständnis die Gesellschaftswissenschaften nicht eine objektive Wahrheit anstreben, sondern ihre Aussagen von wertenden Stellungnahmen abhängig machen. Die Unterscheidung zwischen politischen Theorien mit ideologischem Charakter und Theorien, die nicht einen solchen Charakter tragen, ist nicht nur in der politischen Auseinandersetzung für die Bestimmung des eingenommenen Standortes, sondern auch für die Bestimmung des Theoriestatus und des heuristischen Gehalts von wissenschaftlichen Hypothesen und Erklärungsmodellen in den Gesellschaftswissenschaften von Bedeutung. Politische Theorien und Ideologien werfen sich oft gegenseitig vor, ideologisch zu sein, was eine Diskreditierung bedeutet, weil damit die Vorstellung von Unwahrheit und Immunisierung des eigenen Standpunktes vor Kritik verbunden ist. Man kann die Auseinandersetzung mit politischen Theorien sicher auch unabhängig von der Qualifikation der Ideologie führen; wenn man es aber tut, setzt dies voraus, daß vorher präzisiert wird, was unter Ideologie zu verstehen ist. Denn allgemein wird der Begriff Ideologie in unterschiedlichem Sinne verwendet und ohne hinlängliche Unterscheidung zur politischen Theorie, die nicht ideologisch ist. Andererseits ergibt es keinen Sinn, politische Theorien schlechthin als Ideologien zu bezeichnen, wenn dadurch nicht eine zusätzliche Eigenschaft dieser Theorien herausgestellt wird. Historisch ist der Begriff der Ideologie oft auf die Vorstellung eines "falschen Bewußtseins" reduziert worden 13 . Dies war die Vorstellung im klassi13
Vgl. L. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, München u. a., Bd. I, s. 175 ff.
1977,
II. Politik, Ideologie und Recht
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sehen Marxismus; davon gehen aber auch heute viele Autoren aus, die ihren Standpunkt im Marxismus oder Neomarxismus, aber auch in entgegengesetzten Positionen eines bürgerlichen Liberalismus finden1 4 • Dieses "falsche Bewußtsein" wurzelt nach marxistischem Verständnis in der widersprüchlichen sozialen Realität und hängt mit dem Unvermögen und dem Unwillen der herrschenden Klasse, die sozialen Abhängigkeiten, die zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse führen, zu erkennen, zusammen. Die orthodoxe marxistische Theorie sieht aber nur die fremde Ideologie, insbesondere die bürgerliche, als falsches Bewußtsein an, während sie für die eigene Ideologie in Anspruch nimmt, ein System objektiver, richtiger Erkenntnisse darzustellen. In der Gestalt des Historischen Materialismus sieht sie eine Wissenschaft von der sozialen Realität, die eine "richtige" Ideologie darstelltls. Dabei wird die Ideologie allein der Kommunistischen Partei für die politische Anschauung der Arbeiterklasse in der Gesellschaft ausgegeben. Die marxistische Theorie wirft bürgerlichen Gesellschaftstheorien vor, daß ihre Vertreter in den sozialen Verhältnissen des Bürgertums verhaftet sind und aus dieser verengten Perspektive nur ihr Klasseninteresse sehen und verfolgen und daher die Gesamtheit der sozialen Abläufe nicht richtig einschätzen können. Dieser enge "Klassenstandpunkt" sei kennzeichnend für alle Ideologien der herrschenden Klassen in Ausbeutergesellschaften, jedoch und gerade für die Arbeiterklasse nicht, weil diese als herrschende Klasse keine Ausbeutung betreibe und ihre Interessen mit denen der anderen Gruppen und Klassen in der Gesellschaft übereinstimmten. Die dargelegten marxistischen Thesen sind weder theoretisch gesichert, noch von der sozialen Praxis in den sozialistischen Staaten bestätigt worden. Die Wissenschaft wird dort zwar im Namen der Interessen einer nicht näher definierten, angeblich herrschenden Arbeiterklasse und unter der Führung der Kommunistischen Partei betrieben (Grundsatz der Parteilichkeit der Wissenschaft), in der Tat folgt sie jedoch deren Diktat und steht unter der Kontrolle der jeweils herrschenden Kommunistischen Partei. Auch ist es unter keinen Umständen gesichert, für welche Person oder Personengruppe auch immer, daß sie in der wissenschaftlichen Analyse ihre gesellschaftlich bedingte Situation transzendieren, sich den Blick für das Gesamtgeschehen in der Gesellschaft frei machen und somit einen Standpunkt einnehmen kann, der das eigene Interesse und das Gemeinwohl vereinigt. Adäquate Erkenntnisse können in einer Atmosphäre politischer Toleranz erreicht werden, in der die 14 Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M., 6. Auf!. 1978; E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied u. a., 3. Auf!., 1971; J. Barion, Was ist Ideologie, Bonn, 2. Auf!., 1974. 15 K. A. Mollnau, Vom Aberglauben der juristischen Weltanschauung, Schriftenreihe "Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie", hrsg. von M. Buhr, Heft 53, Frankfurt a. M. 1974, S. 53.
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4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
Gesellschaft und die politische Führung von den Erträgen der Wissenschaft optimal profitieren. Eine solche Atmosphäre politischer Toleranz schaffen die regierenden Kommunistischen Parteien in den sozialistischen Staaten jedoch nicht. Sie bestimmen durch Parteibeschlüsse die Generallinie für die Entwicklung der Wissenschaft und legen dadurch auch inhaltlich den Rahmen fest, in dem neue Erkenntnisse gewonnen werden dürfen. Hier wird den Wissenschaftlern nicht überlassen, selbständig ihren sozialen Standpunkt und ihre Eingebundenheit in die Strukturen des Wissenschaftsbetriebes, an dem sie teilnehmen, zu reflektieren und daraus Konsequenzen für Richtung und Inhalt der Forschung zu ziehen, indem sie sich frei bestimmten geistigen Strömungen anschließen. Die Gesellschaftswissenschaftler werden vielmehr auf die Generallinie der Kommunistischen Partei festgelegt, und ihnen wird die Möglichkeit genommen, sich kritisch mit den von der Partei erarbeiteten Zielsetzungen der praktischen Politik wie mit der langfristigen politischen Perspektive auseinanderzusetzen. Sie müssen die grundsätzlichen Positionen, die die politische Führung eingenommen hat, von vornherein akzeptieren und dürfen nicht Forschungsprojekte betreiben, auf Analysen beharren und Arbeitshypothesen aufstellen, bei denen zwar korrekte und nützliche Ergebnisse zu erwarten wären, die jedoch möglicherweise die grundsätzlichen Positionen der Parteiführung in Frage stellen. So dürfen die sozialistischen Wissenschaftler die ihnen zugewiesene gesellschaftliche Position nicht kritisch reflektieren und sind paradoxerweise gezwungen, Erkenntnisse zu produzieren, die die Kommunistische Partei zwar gern sehen würde, die ihr jedoch bei der Analyse der sozialen Strukturen und der Führung der Gesellschaft nicht nützlich sind, weil sie inhaltlich von vornherein beeinflußt worden sind. So gesehen, begründet die gesellschaftliche Eingebundenheit der Wissenschaftler, die unumgänglich ist, nicht schon einen Ideologieverdacht, sondern erst die fehlende Möglichkeit, die soziale Situation, in der man sich befindet, nach eigener Überzeugung und entsprechend den Einsichten, die man im Forschungsprozeß, aber auch außerhalb dieses Prozesses gewinnt, kritisch zu reflektieren und gar zu transzendieren. Dies trifft voll auf die marxistischsozialistische politische Theorie zu, die dann eine Apologetikfunktion erfüllt. Die marxistische Gesellschaftstheorie geht, wie bereits gezeigt wurde, von einer Sozialontologie aus, nach der das soziale Geschehen objektiven Gesetzen unterliegt. Indem die Wissenschaft diese Gesetze analysiert und erkennt, fördert sie wahre Erkenntnisse im Sinne einer Übereinstimmung von Vorstellung und objektiver sozialer Realität zu Tage. Dieser Anspruch auf Wahrheit, auf objektive Erkenntnis schließt andere, abweichende Positionen aus, nach denen die Erkenntnisse im sozialen Bereich nicht im Wege einer Widerspiegelung sozialer Realitäten gewonnen, sondern durch Analysen von Überzeugungen, Zustimmungen und Präferenzen über soziale Werte erst konstituiert
II. Politik, Ideologie und Recht
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werden. In dieser Unduldsamkeit gegenüber abweichenden Positionen, die andere politische Vorstellungen stützen, zeigt sich erneut die ideologische Natur der marxistisch-sozialistischen politischen Theorie. Sie ist nicht bereit, andere Positionen als gleichberechtigte Bemühungen um Erkenntnisgewinn anzusehen, sie ernsthaft zu diskutieren, indem sie ihnen Erfolgschancen einräumt, sondern bekämpft sie allein als Irrtümer, als Abweichungen von einer orthodoxen Linie, der sie selbst ohne kritische Reflexion folgt. 3. Politik und Recht
Politische Überzeugungen, Ideen, Gestaltungsentwürfe und Theorien finden ihre Realisierung in der praktischen politischen Tätigkeit. Politik ist praktische Tätigkeit, zweckgerichtetes soziales Handeln, durch das der Gesellschaft eine Ordnung gegeben wird und die sozialen Abläufe im Sinne dieser Ordnung geregelt werden. Wenn politische Entscheidungen nicht willkürlich getroffen werden sollen, werden sie durch die herrschenden politischen Ideen, Konzepte und Gestaltungsentwürfe in der Gesellschaft gestützt. Ihre Stabilität erlangt die Politik, indem die sozialen Beziehungen durch Recht geregelt werden.
Das Recht bietet sich hier als Gestaltungsmittel an, weil es die einzige normative Ordnung in der politischen Gesellschaft mit ihren ausdifferenzierten sozialen Strukturen ist, die beansprucht, für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlich zu sein, und zwar unabhängig davon, ob die Normadressaten die Regelungsinhalte im einzelnen als mit ihren partikularen Interessen vereinbar ansehen. Die regierenden Kommunistischen Parteien in den sozialistischen Staaten nehmen bekanntlich für sich in Anspruch, ihre Politik auf wissenschaftlicher Basis zu vollziehen, namentlich auf der Basis der marxistisch-sozialistischen Ideologie, die sie für eine fortschrittliche wissenschaftliche Gesellschaftstheorie halten. Indem die Kommunistischen Parteien aber ihre grundsätzlichen Positionen und Handlungsdirektiven auch der Wissenschaft auferlegen und ihr die Möglichkeit nehmen, das soziale Geschehen offen zu analysieren und die von diesen Parteien aufgestellten'Programme auch kritisch zu beleuchten, verwandeln sie ihre Politik in eine Herrschaftsform, deren einzige Stütze die von der sozialen Kontrolle ausgenommene Gewalt bleibt. Die regierenden Kommunistischen Parteien verlieren auf diese Weise eine wichtige Rationalitätsstütze für ihre Entscheidungen, die ihnen die sozialistische Gesellschaftstheorie liefern könnte. In dieser Perspektive wird die ideologische Natur auch des sozialistischen Rechts deutlich: es reglementiert die sozialen Beziehungen im Sozialismus allein nach dem politischen Konzept der herrschenden Führungsschicht in der
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4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
Kommunistischen Partei, das ausschließlich nach den Interessen und Wertvorstellungen dieser Führungschicht, die nicht identisch ist mit der - wie auch immer definierten - Arbeiterklasse, ausgerichtet ist. Der allgemeine soziale Gehalt des sozialistischen Rechts komprimiert also nicht eine breite Palette von Interessen und Wertvorstellungen verschiedener sozialer Gruppen, die sich in einem institutionalisierten Verfahren artikuliert haben. Seine soziale Basis ist schmal und seine Chance, breite Akzeptanz zu finden, ist sehr gering, weil es in einem undemokratischen Verfahren zustande kommt und die politisch-ideologische Konzeption nur einer kleinen Machtgruppe verwirklicht. Das Recht verliert hier seine genuine Funktion, Belange von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung im Interesse breiter sozialer Schichten zu regeln und für eine Stabilität der sozialen Abläufe zu sorgen, deren Legitimationsgrundlage Konsens und Interessenkompromisse bilden. Das sozialistische Recht denaturiert auf diese Weise zu einem bloßen Machtinstrument, und anstatt durch seine relative Selbständigkeit und die Anforderungen der Rechtmäßigkeit politischer Entscheidungen, die es produziert, zu einer Kontrolle der Macht zu werden, verkehrt es sich in das Gegenteil und gibt der Willkür der Macht den Anschein von Rechtmäßigkeit16. 111. Recht, Macht und Individuum
1. Natur der Macht und Akzeptanz rechtlicher Normen. Problemstellung
Jede politische Macht zeitigt eine permanente Tendenz zur Selbststabilisierung und Ausweitung, da sie auch die Mittel dazu produziert, namentlich- in staatlich organisierten Gesellschaften - das Recht. Nur eine demokratische politische Macht wird aber durch Recht auch beschränkt, weil dieses nicht allein die Interessen der herrschenden Machtgruppe begünstigt. Die Natur der Macht und das von ihr installierte Recht werfen das Problem der Akzeptanz der normativen Regelungen durch ihre Adressaten auf. In pluralistischen Gesellschaften wird die politische Macht, die sich als Staatsmacht etabliert hat, durch die Rechtsinstitutionen, die sie im Ergebnis der Auseinandersetzung konkurrierender In!eressen in der Gesellschaft installiert, begrenzt. Sie wird von verschiedenen sozialen Kräften getragen und durch sie auch geteilt. Sie stützt sich hier auf die demokratischen Verfahren, in denen sie selbst entsteht und ihre Entscheidungen produziert. So können auch die rechtlichen Regelungen, die sie herstellt, mit einer Akzeptanz durch Mehrheiten von vornherein rechnen. 16 Vgl. V. Petev, Soziale und ethische oder ideologische Natur des Rechts? in: Memoria del X Congreso Mundia! Ordinario de Filosofia del Derecho y Filosofia Soda!, Vol. VIII, Mexico 1982, S. 131 ff.
III. Recht, Macht und Individuum
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Auch das Verhältnis zu Normadressaten, die die konkreten Norminhalte nicht akzeptieren können, weil sie mit ihren partikularen Interessen nicht vereinbar sind, ist hier geklärt: Sie unterwerfen sich den Rechtsnormen, weil sie wissen, daß diese Normen in demokratisch legitimierten Verfahren, die sie als Verfassung eines demokratischen politischen Systems auch akzeptieren, entstanden sind. Außerdem wissen diejenigen Normadressaten, die nur zeitweilig und sachlich partiell politische Minderheiten darstellen, daß sie die reale Chance besitzen, sich im politischen Willensbildungsprozeß mit ihren Vorstellungen und Programmen durchzusetzen und nunmehr als Mehrheit auf die Gestaltung der rechtlichen Regelungen Einfluß zu nehmen. In pluralistischen, demokratisch organisierten Gesellschaften bedarf es also nicht der Konstruktion, daß alle rechtlichen Regelungen jederzeit im Interesse aller fungieren, und schon gar nicht der Fiktion eines politisch optimal bewußten Bürgers, der die Rationalität der staatlichen Entscheidungen immer nachvollzieht und sie deshalb freiwillig befolgt. In totalitären Gesellschaften wie der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft, in denen die politische Macht keinen demokratischen Charakter trägt, sondern allein den Interessen einer schmalen Herrschaftsschicht dient, kann demgegenüber das Recht nicht mit einer breiten Akzeptanz rechnen. Hier versucht die Kommunistische Partei, die fehlende Legitimation ihrer Macht über ein demokratisches Votum durch einen Rekurs auf objektive Entwicklungsgesetze, die sie angeblich allein erkennt und in ihren politischen Entscheidungen befolgt, zu ersetzen. Das Legitimationsdefizit macht hier die Konstruktion eines Menschenbildes erforderlich. Die Persönlichkeitsentwicklung soll in der sozialistischen Gesellschaft nicht spontan, entsprechend den natürlichen Anlagen und den ethischen Überzeugungen der Einzelnen innerhalb gegebener institutioneller und kultureller Rahmen ablaufen; die Qualität, die ihre Persönlichkeit aufweist, ist vielmehr umgekehrt der vorgefertigten kommunistischen Ideologie zu entnehmen, so daß die Ziele von Ideologie und Politik sich nicht nach den Bedürfnissen und Idealen der Menschen richten, sondern zum Maßstab der Wertigkeit des Individuums selbst werden. 2. Autonomie des Individuums und verordnetes Menschenbild. Erziehungsfunktion des sozialistischen Rechts
Die kommunistische Ideologie hat bereits seit der Entstehung des sozialistischen Staates und während seiner ganzen bisherigen Geschichte mit großem Aufwand an der Konzipierung und Entfaltung des Bildes eines "neuen" Menschen gearbeitet. Unter den besonderen Umständen der einzelnen Entwicklungsetappen des sozialistischen Staates und der Gesellschaft hat man hierbei unterschiedliche Qualitäten wie Klassenbewußtsein, Parteilichkeit, Unduldsamkeit gegenüber dem Klassenfeind und andere hervorgehoben, die sich
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4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
gegenwärtig unter den Bedingungen der "entwickelten" sozialistischen Gesellschaft zu einem umfassenden Bild der sozialistischen Persönlichkeit zusammenfügen. Man hat dabei die klassische marxistische These, nach der der Mensch das "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"l7 darstellt, insofern vernachlässigt, als offensichtlich nicht mehr erwartet wird, daß die Verhältnisse in der sozialistischen Gesellschaft den allseitig entwickelten Menschen ohne weiteres hervorbringen; und man hält es für unabdingbar, den ganzen ideologischen Apparat und das Recht zu mobilisieren, um den Einzelnen im Sinne des Sozialismus zu formieren.· Die sozialistische Persönlichkeit soll sich durch ihre gesellschaftskonforme Haltung, durch ihre Hinwendung in Beurteilung und Entscheidung zum Kollektiv auszeichnen. Dies ist keine empirische Feststellung, die über einen bereits erreichten Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Beziehungen im Sozialismus gemacht wird, sondern immer noch eine Erwartung und strenge Forderung. Dem Einzelnen bleibt demnach nicht überlassen, gesellschaftlich aktiv zu sein, oder aber sich in seine Privatsphäre -die er nach marxistischem Verständnis nicht in einem gesicherten Maße hat- zurückzuziehen. Mit einem sozialen Engagement und einfacher Solidarität hat dies allerdings wenig zu tun. Denn diese setzen nicht eine ständige soziale Aktivität voraus und schließen eine über solidarische Handlungen hinausgehende Privativität nicht aus. Die positive Haltung zur Gesellschaft, die sogenannte Kollektivität überhaupt drückt sich nach offiziellem Verständnis in einer breiten Palette von Handlungen und Einstellungen aus, angefangen von der Leistung sogenannter gesellschaftlich nützlicher Arbeit bis hin zur aktiven Teilnahme an der Arbeit der Massenorganisationen. Dies bleibt allerdings nicht nur eine wünschenswerte, die wahre sozialistische Persönlichkeit auszeichnende Haltung, sondern ist eine konkrete, jeden und überall treffende Forderung, die strenge Pflichten und möglicherweise nachteilige Konsequenzen nach sich zieht, wenn man sie nicht erfüllt. Die Pflicht, gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, wurde in den sozialistischen Staaten zu verschiedenen Zeiten mit Sanktionen belegt, die von der Zuweisung bestimmter Arbeit über verwaltungsrechtliche Zwangsmaßnahmen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung reichten. Die besagte Kollektivität verdichtet sich zu der Forderung nach einem aktiven staatsbürgerlichen Bewußtsein, die an jeden gerichtet ist und in ihrer Komplexität weitreichende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen nach sich zieht. Dieses neue Bewußtsein wird durch folgende Merkmale charakterisiert: durch die Überzeugung vom repräsentativen Charakter des sozialistischen Staates, und das heißt, daß der sozialistische Staat die Inter17 In diesem Zusammenhang schreibt Marx: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", MEW, Bd. 3, S. 6.
III. Recht, Macht und Individuum
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essen der Arbeiterklasse, zugleich aber auch die Grundinteressen aller Werktätigen wahrnimmt; durch die Überzeugung, daß die Bürger Mitgestaltungsrechte in allen staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten haben, daß ihre Interessen mit denen der sozialistischen Gesellschaft übereinstimmen und ihre persönlichen Bedürfnisse nur mittels des sozialistischen Staates und seines Rechts befriedigt werden können; durch die Überzeugung, daß der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft von der Stärkung des sozialistischen Staates abhängig ist, daß das sozialistische Recht ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung des historischen Fortschritts darstelltlS. Das sozialistische Menschenbild erfährt auch eine weitere Dimension in Richtung ethischer Vervollkommnung der Persönlichkeit, bei der ein nahezu utopisches Optimum angestrebt wird, und dies nicht in einer individuellen Spontaneität, sondern mit Hilfe von erzieherischen Maßnahmen des sozialistischen Staates. Der sozialistische Staat sei bestrebt, in seiner erzieherischen Funktion, bewußte, disziplinierte und allseitig gebildete Menschen zu formen. Die Anforderungen an eine ethische Vollkommenheit bleiben nicht Ideale. Es wird bisweilen behauptet, daß sie bereits weitgehend erfüllt seien. So orientierten sich die sowjetischen Menschen schon jetzt auf soziale Werte wie Arbeit, Lernen, gesellschaftliche Tätigkeiten und Erziehung der Heranwachsenden. In moralischer Hinsicht strebe der sowjetische Mensch an, aufrichtig, gerecht und pflichtbewußt gegenüber der Gesellschaft zu sein. Er kultiviere in sich zielstrebig die positiven ethischen Eigenschaften, die den hohen Anforderungen des moralischen Kodex des Erbauers des Kommunismus entsprechen19. Der sozialistischen Gesellschaft ist es bislang nicht auch nur annähernd gelungen, eine neue, "sozialistische" Persönlichkeit, so wie sie die offizielle marxistisch-sozialistische Ideologie konzipiert hat, hervorzubringen. Der sozialistische Staat leitet nach wie vor verschiedene Maßnahmen ein, die zur Erziehung des Einzelnen im Sinne des Kommunismus dienen sollen. Die oben angeführten politischen und ethischen Werte werden nach wie vor als Zielvorstellungen aufrecht erhalten. Die politische Führung gibt aber zu, daß die sozialistischen Bürger sich anders verhalten, als vön ihnen erwartet wird. Insbesondere wird beklagt, daß die Arbeitsdisziplin, aber auch die ideologische Standfestigkeit gegenüber sogenannten westlichen, bürgerlichen Einflüssen, die Identifizierung des Einzelnen mit dem Anliegen der Kommunistischen Partei und des Staates, der sogenannte proletarische Internationalismus, insbesondere die Verbundenheit mit der UdSSR, weit hinter den Erwartungen der politischen Führung zurückbleiben, ja oft gegenläufige Tendenzen zeitigen. Der sozialistische Mensch ist immer noch ein Desiderat. Was tatsächlich aus 1s Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin (Ost) 1975, S. 254. 19 Vgl. G. V. Mal'cev, Socialisticeskoe pravo i svoboda licnosti (Sozialistisches Recht und Freiheit der Persönlichkeit), Moskau 1968, S. 12 ff.; 18.
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4. Kap.: Steuerung sozialer Prozesse durch Recht
den hohen Idealen geworden ist, ist eine Gesellschaft voller Widersprüche und ein totalitäres politisches Regime. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist auch die Intensivierung der Bemühungen der Soziologie in Bereichen empirischer Forschung zu betrachten. Die Erforschung des Rechtsbewußtseins ist in diesem Zusammenhang als ein weiterer Schritt zur Erfassung von realen Geseltschaftszuständen zu werten, der, wie noch zu zeigen sein wird, weitgehend an der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit, bestimmte dogmatische Schranken zu überwinden, scheitern muß. 3. Sozialistisches Rechtsbewußtsein
Die Problematik des Rechtsbewußtseins gewinnt unter dem Aspekt der Steuerung sozialer Prozesse durch Recht ihre eigentliche Bedeutung. Denn das Recht erfüllt seine Regelungsfunktion und findet volle Verwirklichung erst, wenn die Normadressaten in Übereinstimmung mit ihren Rechtsüberzeugungen seine Normen befolgen. Der umgekehrte Fall einer allgemeinen Normverwirklichung, die im krassen Gegensatz zu den Überzeugungen aller Normadressaten erfolgt, weil diese allein unter einer Sanktionsandrohung handeln, kommt sicher auch im geltenden sozialistischen Recht nicht vor. Die Problematik des Rechtsbewußtseins muß aber auch unter dem Aspekt der Normerzeugung beleuchtet werden, soweit die jeweilige Rechtsordnung für sich in Anspruch nimmt, nach demokratischen Grundsätzen aufgebaut zu sein. Denn hier kommt es nicht allein auf die irgendwie erreichte Effizienz der Rechtsnormen, sondern auch darauf an, inwieweit diese durch das Votum breiter sozialer Schichten zustande gekommen sind. Das Rechtsbewußtsein besteht aus Ideen, Vorstellungen und Überzeugungen der sozialen Gruppen von dem jeweils geltenden Recht, durch die dieses Recht in seinen ethischen Grundlagen sowie in seiner Angemessenheil und Effizienz als Handlungsregulativ bejaht wird. Das Rechtsbewußtsein beinhaltet aber auch Ideen, Vorstellungen und Überzeugungen darüber, wie ein künftiges, erstrebenswertes, weil als gerecht angesehenes Recht aussehen soll. Diese Vorstellungen fungieren immer als Korrektiv des geltenden Rechts. Bewußtseinsinhalte, die nur vereinzelt vorkommen und nicht Rechtsüberzeugungen von identifizierbaren sozialen Gruppen bilden, gehören nicht zum Rechtsbewußtsein als eine Form des jeweiligen Gesellschaftsbewußtseins in einer sozialen und rechtlichen Gemeinschaft. Der Grad der Ausdifferenziertheil des Rechtsbewußtseins hängt von den sozialen Gruppen ab, in denen es vorkommt: Politiker, politisch interessierte und aktive Individuen, Gruppen mit unterschiedlicher Berufsberührung mit dem Recht, Juristen u. a. Jedesmal beziehen sich jedoch die jeweiligen Bewußtseinsinhalte auf die wesentlichen Momente der Steuerung sozialen Prozesses durch Recht, und das heißt auf die Notwendigkeit und Intensität der Regelung sowie auf die
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Beschaffenheit der rechtlichen Regelungen, insbesondere auf ihren Gerechtigkeitsgehalt. Die marxistische Rechtstheorie hat früher die Behandlung der Problematik des Rechtsbewußtseins stark vernachlässigt. Sie wurde längere Zeit auf das Problem des sogenannten revolutionären Bewußtseins des Proletariats, das seine Macht installiert hatte und weniger mit der Akzeptanz ihrer Rechtsvorschriften befaßt war, reduziert20. Mit der Stabilisierung der politischen Beziehungen und dem Anwachsen des Legitimationsbedürfnisses der staatlichen Macht wuchs auch die Sorge um die Effektivität des sozialistischen Rechts. So wurde allmählich die Rolle eines adäquaten Rechtsbewußtseins für die Rechtsetzung und die Verwirklichung des Rechts erkannt, und die Bemühungen um seine Erforschung wurden intensiviert. Die neuere Literatur zeigt, daß die Forschungsvorhaben ein breites Spektrum haben. Sie reichen von allgemeinen theoretischen Erörterungen über Fragen der Struktur und Funktionsweise des Rechtsbewußtseins bis zur empirischen Erforschung von Rechtskenntnissen und deren Motivationskraft. Auch Fragen der Entwicklung einer Rechtskultur, die über die Problematik des Rechtsbewußtseins hinausreicht, werden einbegriffen. Viele Autoren weisen darauf hin, daß es wichtig ist, bei der Erforschung des Rechtsbewußtseins nicht allein das Moment der Erziehung, das heißt der Formung eines adäquaten Rechtsbewußtseins, zu intensivieren, sondern auch und vor allem die tatsächliche Einstellung der Subjekte zum Recht zu erforschen. So schreibt Lukaschewa: "Das Problem des Rechtsbewußtseins ist ein Schlüsselproblem der sozialistischen Rechtswissenschaft. Seine Untersuchung gibt die Möglichkeit, die Tätigkeit der Klassen, sozialen Gruppen und Individuen in der Sphäre des Rechts zu erforschen sowie ihre Werte und Einstellungen, die Quellen und Mechanismen des rechtsnormgemäßen und rechtswidrigen Verhaltens sowie Wege und Formen der zielgerichteten Rechtserziehung der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft aufzuzeigen"21. Daran ist die Hoffnung geknüpft, daß mit der Erforschung und Beeinflussung der Einstellung der Individuen zum sozialistischen Recht die Grundlinie der Politik der Kommunistischen Partei besser durchgesetzt werden kann als in offenen Klassenauseinandersetzungen. Durch die Kultivierung eines adäquaten Rechtsbewußtseins verspricht sich die politische Führung, auch konkrete Ziele der täglichen Politik über eine effizientere Rechtsverwirklichung zu realisieren. Daß der große theoretische Aufwand bislang mehr als bescheidene Ergebnisse gebracht hat, verwundert dabei nicht. Denn die Theorie geht nicht von 20 Vgl. G. S. Ostroumov, Pravovoe osoznanie dejstvitel' nosti (Die rechtliche Bewußtwerdung der Wirklichkeit), Moskau 1969, S. 18 ff. 21 E. A. Lukaschewa, Einige methodologische Probleme der Untersuchung des Rechtsbewußtseins der Persönlichkeit, in: Persönlichkeit und Rechtsbewußtseinsentwicklung, hrsg. von K. A. Mollnau u. a., Berlin (Ost) 1977, S. 25.
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Annahmen aus, die es zu überprüfen gilt und die auch falsifiziert werden können, sondern hält nach wie vor am Dogma der einheitlichen ethischen und politischen Überzeugungen in der sozialistischen Gesellschaft fest. Dies bringt pointiert Alekseev zum Ausdruck, indem er dem sozialistischen Rechtsbewußtsein bescheinigt, daß es "unter den Bedingungen des entwickelten Sozialismus zu einem gesamtgesellschaftlichen, einheitlichen" Rechtsbewußtsein geworden ist22. Dieses Dogma verstellt jedoch den Blick und irritiert die theoretische Analyse, indem schon von vornherein angenommen wird, daß das adäquate Bewußtsein, das eigentlich angestrebt wird, in der sozialistischen Gesellschaft bereits vorhanden ist. Die tatsächlichen rechtlichen Überzeugungen und Einstellungen zu den Normen des geltenden Rechts müssen dann unerforscht bleiben, was nicht das Anliegen einer Rechtsbewußtseinsanalyse sein kann. Diese Analyse steht aber auch noch vor einem weiteren kardinalen Problem, das sowohl die Theorie wie die praktische Politik übersehen, namentlich die immanente Diskrepanz, die in totalitären politischen Regimen zwischen Überzeugungen breiter sozialer Schichten und Inhalten der in Funktion gesetzten Rechtsnormen und sonstiger Rechtsakte besteht. In solchen Regimen kann man nicht von denjenigen, deren politisches Votum nie ernsthaft gefragt worden ist, erwarten, daß sie im nachhinein ein Rechtsbewußtsein entwickeln, das ihnen zur Beachtung und sogar zur Akzeptanz und Internalisierung von im höchsten Grade heteronomen Normen verhilft. Denn das Rechtsbewußtsein kann nicht unabhängig von den politischen und ethischen Ansichten und Überzeugungen der einzelnen behandelt werden. Die Rechtsnormen sind Ausdruck der Überzeugung, daß die sozialen Beziehungen eine gewisse Ordnung aufweisen, die ihnen durch das Recht auferlegt worden ist. Wenn diese Überzeugungen aber zugunsten einer pluralistischen politischen Ordnung ausfallen, das Recht in einem totalitären Staat aber durch ein Einparteiensystem installiert worden ist, das die Fiktion einer einheitlichen politischen Überzeugung aufrechterhält, werden bei den Rechtsnormadressaten das Verständnis und die Akzeptanz für ein solches Recht naturgemäß fehlen . Und tatsächlich haben bislang alle politischen Analysen gezeigt, daß die wesentlichen Elemente des politischen Systems der gegenwärtigen sozialistischen Staaten - z. B. Parteiensystem, Wahlen, Besetzung von Ämtern, Kontrolle von Rechtsakten - nicht durch die politische Konzeption und das Votum breiter sozialer Schichten gesichert worden sind. Das Ergebnis ist, daß auch die einschlägigen Rechtsnormen, die allein die Konzeption der Führungschicht in der Kommunistischen Partei zum Ausdruck bringen, nicht als optimal angesehen werden können. Wenn dabei dennoch die Befolgung dieser Normen von Seiten des Staates erwartet und durch Zwangsmaßnahmen 22
S. S. Alekseev, ObScaja teorija prava (Allgemeine Rechtstheorie), Moskau, Bd. 1,
1981,
s. 203.
III. Recht, Macht und Individuum
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gesichert wird, so ist das kein Zeichen für die Entwicklung eines adäquaten Rechtsbewußtseins, sondern nur ein Symptom des Gehorsams. Bewußtseinsformung und Persönlichkeitsentwicklung können weder durch administrative Maßnahmen noch durch verordnete Ideologie gelingen. Freiheit in der Wahl von gesellschaftlichen und individuellen Zielen sowie autonome Bestimmung der Wege und Methoden ihrer Erreichung sind Essentialien einer jeden sozialen Ordnung, die auf mündige und aktive Bürger zählt, auch wenn die Skeptiker aller Zeiten an der Fähigkeit des Menschen, vernünftig zu handeln, gezweifelt haben und gegen die Zweckoptimisten, die meinen, ein guter sozialer Zweck ließe sich auch gegen den Widerstand der "unaufgeklärten" Bürger durch staatliche Reglementierung erreichen. Zur freien Option im sozialen Handeln gibt es keine ernstzunehmende Alternative. Und die Politik ist berufen, die geeigneten Bedingungen dieser Option zu schaffen.
Fünftes Kapitel
Das Recht und die Normen des sozialen Lebens in der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft I. Die Zukunftsgesellschaft
1. Der utopische Charakter des gesellschaftlichen Modells des Kommunismus
Alle großen Theorien der Gesellschaft enthalten neben der Kritik der sozialen Zustände, unter denen sie entstanden sind, und den mittelfristigen Prognosen über deren Änderung auch idealtypische Vorstellungen über eine Gesellschaft der Zukunft, die als erstrebenswert angesehen wird. Der Marxismus hat ebenfalls Visionen einer Zukunftsgesellschaft, namentlich des Kommunismus, entwickelt und sie mit dem Ideal einer Gerechtigkeit versehen, die als Existenzziel aller menschlichen Gesellschaft aufgefaßt wird. Das, was den Marxismus von allen vorangegangenen Gesellschaftstheorien und Utopien unterscheidet, ist nicht sein visionärer Charakter, sondern die von ihm beanspruchte Entdeckung einer Logik der menschlichen Geschichte, die seine Prognosen substantiiert. Der Marxismus akzeptiert nicht, daß er eine Gesellschaftstheorie aufgestellt hat, die vielleicht besser als die vorangegangenen Theorien ist, die jedoch mit ihnen den Status einer Sozialphilosophie und Utopie teilt und insofern bereits in ihrer Konzeption die Möglichkeit der Falsifizierung enthält. Der Marxismus vertritt bekanntlich die Auffassung, daß es ein Grundgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung gibt- das er entdeckt hat-, namentlich das Gesetz der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem jeweiligen Stand der Produktivkräfte in der Gesellschaft, nach dem jede "Gesellschaftsformation" notwendigerweise die vorangegangene ablöst, wenn diese Übereinstimmung nicht mehr hergestellt werden kann, was sich in der Gestalt der revolutionären Umwälzung der sozialen Verhältnisse äußert. So sind nicht nur Feudalismus und Kapitalismus, sondern auch der Kommunismus ein notwendiges Ergebnis der Wirkung dieses Gesetzes. Die so behauptete geschichtliche Notwendigkeit des Kommunismus hat schon die Klassiker des Marxismus veranlaßt, den utopischen Charakter ihrer Vorstellungen über die zukünftige kommunistische Gesellschaft in Abrede zu
I. Die Zukunftsgesellschaft
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stellen. Deshalb hat Marx betont, daß die Marxisten keine "Visionäre" seient, daß ihre Thesen auf der Basis einer Wissenschaft von der Gesellschaft entstehen, die genauso exakt ist - so hat Marx in der Zeit eines aufsteigenden Wissenschaftspositivismus gemeint - wie die Naturwissenschaften. Dieser Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sollte die suggestive Kraft der Theorie erhöhen, hat jedoch am utopischen Charakter der Lehre vom Kommunismus nichts geändert. Die Klassiker des Marxismus waren dennoch vorsichtig genug und haben, wie in jeder sozialen Utopie, ihre Thesen voraussetzungslos aufgestellt. Denn es kam nicht darauf an, den Weg zum Kommunismus im einzelnen zu beschreiben und die Voraussetzungen seiner Entstehung zu formulieren , sondern allein die Gesellschaftsform des Kommunismus als historisch notwendige soziale Epoche hinzustellen und sie mit der Attraktivität einer Gerechtigkeit auszustatten, die die Menschheit bewegen sollte. Dementsprechend nehmen sich auch ihre Appelle und Prognosen als Idealvorstellungen aus. Erst in der kommunistischen Gesellschaft, meinten Marx und Engels, werden die Menschen ihre völlige Emanzipation erreichen, und zwar durch die Aufhebung des Privateigentums und der Entfremdung des Einzelnen im gesellschaftlichen Zusammenleben2 ; sie konnten auch behaupten, daß die Mitglieder der Gesellschaft für ihre Arbeit künftig nicht entsprechend einer jeweils gültigen Norm nach ihrer Leistung entlohnt werden, sondern im Rahmen einer gesellschaftlichen Selbstverwaltung des Eigentums alle ihre Bedürfnisse werden befriedigen können. Die Voraussetzungen dafür haben Marx und Engels jedoch vernünftigerweise nicht im einzelnen formuliert, sondern sich mit der literarisch schönen Wendung begnügt, daß im Kommunismus "alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fließen werden". Demgegenüber hat die politische Führung in den sozialistischen Staaten- in der Sowjetunion erst in den Jahren nach der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung der Sowjetmacht - in ihren Programmen konkrete Aufgaben in Bezug auf die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft formuliert, und die Wissenschaft hat frühzeitig begonnen, eine Theorie der Entwicklung zum Kommunismus aufzubauen. 2. Ökonomische, politische und ethische Strukturen der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft Die klassische marxistische These von den ökonomischen Grundlagen der kommunistischen Gesellschaft war mit der Vorstellung eines enormen AnI Vgl. H. Weber, Marx und die Gesellschaft der Zukunft, in: Marx heute, hrsg. von 0. K. Flechtheim, Harnburg 1983, S. 235. 2 L. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 1, München 1977, s. 159.
10 Petev
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5. Kap.: Recht und soziale Nonnen im Kommunismus
wacbsens der gesellschaftlichen Produktivkräfte verbunden, das einen gesellschaftlichen Reichtum ermöglichen würde. Diese allgemeine Vorstellung von den ökonomischen Strukturen der künftigen Gesellschaft war in konkrete Prognosen über Produktionsvolumen, Arbeitsproduktivität und andere Parameter· der Wirtschaftspläne umgesetzt worden. Es wurden auch in den Programmen der führenden Kommunistischen Parteien Zeiträume angegeben, in denen die verschiedenen Phasen dieser ökonomischen Entwicklung abgeschlossen werden sollten. Daß die Realisierung dieser Prognosen in den 60iger und 70iger Jahren nicht eintrat, war nicht sonderlich erstaunlich, da sie allesamt illusionär waren. In den Parteidokumenten der 80iger Jahre sind diese Prognosen zurückhaltender geworden, so daß man nicht eindeutig sagen kann, ob die politische Führung tatsächlich noch am Fernziel Kommunismus festhältJ. Theoretisch wird jedenfalls über den Kommunismus weiterhin nachgedacht, und manche Festlegungen in den Parteiprogrammen, auch wenn sie nicht mit konkreten Zeitangaben verbunden sind, bringen die alten Ideen über die kommunistische Gesellschaft der Zukunft zum Vorschein. Man hält an der Vorstellung fest, daß in dieser Gesellschaft materieller Reichtum herrschen wird, der die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse voll garantieren kann. Nun sind diese Bedürfnisse durch die bescheidene Formel als "vernünftige und gesunde Bedürfnisse" im neuen Programm der KPdSU gekennzeichnet. Die Definitionsschwierigkeiten sind dadurch aber nicht beseitigt4. Denn es ist schwierig, angesichts der sich ändernden materiellen Verhältnisse in der Gesellschaft die Bedürfnisse der Einzelnen zu bestimmen, und es erscheint gar unmöglich, das Maß ihrer Befriedigung festzulegen. Angesichts der tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse in den sozialistischen Staaten der Gegenwart, die erhebliche Probleme in der elementaren Versorgung der Bevölkerung mit materiellen Gütern aufweisen und es erforderlich machen, in der Sowjetunion ein Versorgungsprogramm der UdSSR für die Zeit bis 1990 aufzustellen, erscheinen die Realisierungschancen von "hohen Zielen" der gesellschaftlichen Produktion und die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens der neueren Prognosen über die künftige kommunistische Gesellschaft äußerst fragwürdig. Der Hauptmangel dieser Prognosen liegt jedoch nicht allein in ihrem schwachen Realitätsbezug, sondern darin, daß ihr Status verändert wurde: waren sie früher Idealvorstellungen im Rahmen einer Sozialutopie mit hoher suggestiver Wirkung, mußten sie später im Rahmen eines Wissenschaftssystems als Hypothesen fungieren, deren Wahrheitsgehalt nach Maßgabe theoretischer Aussagen geprüft werden sollte. Die marxistische Gesellschaftstheorie muß sich gegenwärtig der Kritik aussetzen, daß ihre Aussagen in Bezug auf den 3 Ch. Huhle, Vom Nahziel Kommunismus zu den Grenzen des Wachstums? Sowjetische Kommunismus-Konzeptionen seit 1961, Frankfurt a. M. 1980, S. 165. 4 Huhle, a. a. 0 ., S. 101 ff.
I. Die Zukunftsgesellschaft
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Umwandlungsprozeß der sozialistischen in eine kommunistische Gesellschaft -hier, was die ökonomischen Strukturen angeht- sich als unzutreffend erwiesen haben. Das gleiche Bild zeichnet sich aber auch in Bezug auf die politischen und ethischen Strukturen der kommunistischen Gesellschaft ab. Eine der großen Visionen des klassischen Marxismus bestand darin, daß die künftige kommunistische Gesellschaft eine Gesellschaft sein wird, die frei vom zwingenden und beherrschenden Staat sich selbst verwalten wird. Damit war nicht nur ein Wesensmerkmal der Gesellschaftsform des Kommunismus formuliert, sondern zugleich ein neues Ideal aufgestellt, namentlich das einer Gesellschaft ohne Staat, und das heißt im ursprünglichen Verständnis des Marxismus, eine Gesellschft frei von Unterdrückung durch das Instrument der Klassenherrschaft, als das der Staat immer aufgeiaßt wurde. Die Klassiker des Marxismus haben hierzu keine detaillierten Vorstellungen entwickelt. Als ordnende und organisierende Macht in der kommunistischen Gesellschaft sahen sie die "gesellschaftliche Selbstverwaltung" an. Somit wurde aber eine der folgenreichsten Aussagen über die Gesellschaftsform des Kommunismus getroffen, namentlich die vom "Absterben" des Staates, an der sich in der Folgezeit und bis heute heftige Kontroversen in der marxistischen Staatstheorie selbst wie im Kreise ihrer Kritiker entfacht haben. Solange die These vom Absterben des Staates nur eine Zukunftsvision war, konnte man sich ungehindert auf sie berufen und mit ihr weitere staatstheoretische Vorstellungen verbinden. Seitdem aber die sozialistische Staatlichkeil soziale Realität geworden war, war es erforderlich, diese These zu präzisieren und sie in die inzwischen entwickelte marxistisch-sozialistische Staatstheorie einzubeziehen. Hier kann von der These eines bereits in den 50iger und 60iger Jahren begonnenen Absterbens des sozialistischen Staates, die später von offizieller Seite als unrichtig qualifiziert wurde5, abgesehen werden. Nach der gegenwärtigen Auffassung ist der sozialistische Staat nicht mehr ein Instrument der Klassenherrschaft, weil er nicht aus gesellschaftlichen Strukturen erwächst, die soziale Klassen mit antagonistischen Interessen kennen. Der sozialistische Staat ist ein Staat des ganzen Volkes geworden. Die Wandlung hat sich jedoch nicht zu einem Nichtstaat hin vollzogen, sondern zu einerneuen Natur der staatlich gebliebenen Organisation, nach der das Wesen des Staates weiterentwickelt und potenziert wird. Hiermit ist die neue These ausgesprochen, nach der der sozialistische Staat - ganz im Gegensatz zu der klassischen marxistischen Auffassung - nicht allmählich abstirbt, sondern sich weiterentwickelt und aus dieser "neuen" Qualität einmal die neue, nichtstaatliche Organisation der Gesellschaft entstehen wird. Es wird im einzelnen vertreten, daß der Staat bestehen bleiben muß, einmal weil die knappen materiellen Güter - da der Überfluß an solchen Gütern in der sozialistischen Gesells Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 3: Der sozialistische Staat, dt. Ausgabe, Köln 1974, S. 343. 10*
5. Kap.: Recht und soziale Nonnen im Kommunismus
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schaft noch nicht erreicht ist- verteilt werden müssen, aber auch um die Ordnung der Gesellschaft gegen Rechtsverletzungen zu sichern, da der gegenwärtige Bewußtseinszustand der Mitglieder der Gesellschaft noch nicht so hoch sei, daß sie sich solcher Verletzungen enthielten. Auch sei die Arbeitsbelastung durch eine zu hohe Stundenzahl für die materielle Sicherung der Bürger ein Hindernis für ihre breite Beteiligung an der Leitung der Gesellschaft6. Die Kontinuitätsthese, das heißt die Auffassung vom Hinüberwachsen der gegenwärtigen sozialistischen Staatlichkelt in eine kommunistische gesellschaftliche Selbstverwaltung? wird an der Entfaltung der sogenannten sozialen Funktion des sozialistischen Staates und seiner demokratischen Grundlagen expliziert. Danach sollen die sozialen Strukturen der Gesellschaft eine Einheitlichkeit durch die Überwindung von Klassenunterschieden- Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, Unterschiede in der Lebensform von Stadt und Land - innerhalb des sozialistischen Staates des ganzen Volkes erreichen, und der Staat selbst würde allmählich seinen "politischen" Charakter verlierens. Dies bedeutet, daß der Zwangscharakter der staatlichen Organisation und ihrer Maßnahmen allmählich entfallen und in eine autonome gesellschaftliche Selbstverwaltung übergehen werden. Die sogenannte soziale Funktion des gegenwärtigen sozialistischen Staates, die auf die Sicherung der sozialen Stellung und die Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der einzelnen Individuen gerichtet ist, wird in letzter Zeit immer mehr in Zusammenhang mit einem sich immer verstärkenden "humanitären" Charakter des sozialistischen Rechts gebracht9. Eine nähere Analyse der sozialen Verhältnisse in den sozialistischen Staaten läßt jedoch nicht erkennen, daß hier gegenwärtig tatsächlich größere Aufmerksamkeit den Belangen des Individuums gewidmet wird. Nach wie vor gilt das Hauptinteresse der Wirtschaft mit ihren sich ständig offenbarenden- und offiziellerseits eingestandenen - Disproportionen. Dieses Interesse der praktischen Politik wird auch theoretisch untermauert, indem der unmittelbare Zusammenhang zwischen Ökonomie und Sozialpolitik immer wieder herausgestellt wird. Es wird hier die Auffassung vertreten, daß sogar die Festlegungen der Verfassung in Bezug auf die sozialen Aufgaben des Staates als "primär auf die Erhöhung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit ausgerichtet" anzusehen sindlO. 6 7
s. 335.
s. 357 ff.
s Vgl. XXVI süezd KPSS i dal'nejsee razvitie teorii obscenarodnogo gosudarstva (Der XXVI. Parteitag der KPdSU und die weitere Entwicklung der Theorie des Staates des ganzen Volkes), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1982, H. 2, S. 5 f. 9 / . P. Il'inskij!N. B. Cernogolovkin, Sovetskoe gosudarstvo na etape soversenstvovanija socializma {Der sowjetische Staat in der Phase der Vervollkommnung des Sozialismus), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1986, H . 3, S. 4 f. 10 V. A. Rievskij, Rol' sovetskogo gosudarstva v konstitucionnom obezpecenii i realizacii vyssej celi obscestvennogo proizvodstva (Die Rolle des sowjetischen Staates
I. Die Zukunftsgesellschaft
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Wie bereits darauf hingewiesen wurde, sieht man ein wesentliches Merkmal der Entwicklung der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft und ihrer Staatlichkeit zum Kommunismus in der voranschreitenden Demokratisierung der staatlichen Strukturen und des gesamten politischen Lebens. Die Stärkung der Demokratie ist allerdings ein Ziel, das die politische Führung in den sozialistischen Staaten schon immer in programmatischen Dokumenten aufgestellt und als praktische Aufgabe für sich in Anspruch genommen hat. Dementsprechend hat sich auch die Gesellschafts- und Staatstheorie mit der Problematik der sogenannten sozialistischen Demokratie immer intensiv beschäftigt. Die Darstellungen dieses Demokratisierungsprozesses, die die führenden Kommunistischen Parteien in den sozialistischen Staaten - auf ihren Parteitagen - vornehmen, sind dadurch gekennzeichnet, daß die "Erfolge" der Gegenwart jeweils überhöht und mit einer Kritik an früheren Zuständen, die Erscheinungen von Bürokratismus, Formalismus und Ineffizienz deutlich machten, verbunden werden. Diese früheren Zustände selbst sind aber in ihrer Zeit immer anders, nämlich ebenfalls als Erfolge der Demokratisierung bewertet worden, so daß jede neue Darstellung im Grunde eine Korrektur früherer Qualifikationen darstellt. Und dies verrät eine Methode, namentlich den Ersatz der Kritik des Gegenwärtigen durch eine Kritik des Vergangenen, woraus sich immer ein optimistischer Entwicklungstrend zu einer besseren sozialen Ordnung ergeben soll. Wenn man diese Methode offenlegt, sind dementsprechend auch die gegenwärtigen Beurteilungen des Demokratisierungsprozesses in den sozialistischen Staaten mit ihren vielversprechenden zahlenmäßigen Angaben- z. B. bezüglich der Ausübung der Macht der lokalen staatlichen Organe und der angeblichen Mitwirkung breiter sozialer Schichtenll- mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Gegen solche Zustandsanalysen sind weitergehende theoretische Einwände zu erheben, wenn gerade die gegenwärtigen sozialen Strukturen in der sozialistischen Gesellschaft als Verbindungsglied zur künftigen Gesellschaft des Kommunismus qualifiziert werden. Alle gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens in den sozialistischen Staaten stoßen an die Grenzen der theoretischen Konzeption von Demokratie und Selbstverwaltung. Die marxistisch-sozialistische Staatstheorie sieht das Prinzip der gesellschaftlichen Selbstverwaltung als voll vereinbar mit dem Prinzip des sogenannten demokratischen Zentralismus an 12. Nach diesem Prinzip werden die Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung durch die zentralen Instanzen der Kommunistischen Partei und die von ihr beherrschten zentralen in der verfassungsmäßigen Sicherung und Realisierung der hohen Ziele der gesellschaftlichen Produktion), Pravovedenie 1984, H. 6, S. 5. 11 Vgl. solche Angaben bei ll'inskij u. a. (Anm. 9), S. 6 f. tz Vgl. N. N. Deev, Sootnosenie gosudarstva i obscestva v svete resenij XXVII süezda KPSS (Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Lichte der Entscheidungen des XXVII. Parteitages der KPdSU), Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1986, H. 11, S. 7.
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5. Kap.: Recht und soziale Normen im Kommunismus
Staatsorganen getroffen und an der "Basis" durch die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten durchgeführt. Das Moment des Zentralismus zeigt aber deutlich, daß dadurch eigenständige Entscheidungen der betroffenen sozialen Gemeinschaften verhindert und die Rolle dieser Gemeinschaften auf die bloßer Vollzieher zentraler Direktiven reduziert wird. Die Initiative der Entscheidungsadressaten bringt nicht deren Entscheidungswillen, sondern lediglich einen Vollzugswillen zum Ausdruck. Eine Selbstverwaltung kann aber nicht eine Verwaltung des Unwesentlichen und eine Unterordnung unter zentrale Entscheidungen - die nicht einmal demokratisch legitimiert sind bedeuten. Die theoretischen Bemühungen der letzten Jahre sind verstärkt auf eine Weiterentwicklung der Lehre von der sogenannten sozialistischen Demokratie gerichtetB. Man sucht hier nachzuweisen, daß die demokratischen Grundlagen des sozialistischen Staates und des gesamten politischen Lebens ständig erweitert würden. Die Analysen machen jedoch deutlich, daß letztlich nicht die Begründung einer echten Demokratie angestrebt wird (denn es werden nicht abweichende politische Konzeptionen und konkurrierende soziale Institutionen befürwortet und entwickelt), sondern lediglich versucht wird, die Formen und Transmissionen der zentralen staatlichen Normen und der Entscheidungen der Kommunistischen Partei effizienter in die soziale Praxis umzusetzen. Dabei wird die Mitwirkung breiter sozialer Kreise in Anspruch genommen, was als demokratische Beteiligung an der Machtausübung und als Selbstverwaltung ausgegeben wird. Worum es letztlich aber unverkennbar geht, ist die Stärkung des Einflusses der führenden Kommunistischen Partei und der zentralen staatlichen Gewalt. Staat und Kommunistische Partei "leisten" sich hier Selbstverwaltung und Demokratie nach Maßgabe ihrer Herrschaftsbedürfnisse14. II. Zukunft des Rechts. Die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens 1. Das ,,Absterben" des Rechts Die marxistische Gesellschaftstheorie geht bekanntlich von der These aus, daß die künftige Gesellschaft des Kommunismus weder die Organisation des Staates noch eine Steuerung der sozialen Prozesse durch Recht kennen wird. Der Staat wird in der kommunistischen Gesellschaft durch eine Organisation der gesellschaftlichen Selbstverwaltung und die Normen des Rechts durch Regeln des sozialen Verhaltens, die nicht mehr die Natur von Rechtsnormen ll'inskij u. a. (Anm. 9), S. 6 ff. S. 8: "Die Selbstverwaltung des Volkes im Sozialismus verläuft über den Staat als die allumfassende politische Organisation der Werktätigen" . 13
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li. Zukunft des Rechts. Die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens
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tragen, ersetzt werden. So wie der Staat allmählich "absterben" wird, wird auch das Recht seine Natur ändern und insofern ebenfalls "absterben" . Die These vom "Absterben" des Staates und des Rechts auf dem Wege der gesellschaftlichen Entwicklung zum Kommunismus ist in ihrer ursprünglichen Fassung von den Klassikern des Marxismus ganz allgemein gehalten worden. Die marxistisch-sozialistische Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart ist aber bemüht, den Umwandlungsprozeß von Staat und Recht im einzelnen zu entwerfen und zu begründenl5. Dies entspricht bestimmten Legitimationsbedürfnissen des Staates und des Rechts unter den Bedingungen des heutigen "realen" Sozialismus. Es wird insbesondere versucht, den sozialistischen Staat und sein Recht- qualifiziert als Staat und Recht des ganzen Volkes- in ihrer behaupteten Entwicklungstendenz zu allgemein gesellschaftlichen Institutionen, die nicht mehr divergierenden Interessen Rechnung tragen müssen und insofern ihren Zwangscharakter verlieren, darzustellen. Sie sollen ihren humanitären Gehalt erhöhen und als notwendige Etappe im Entwicklungsprozeß zum Kommunismus präsentiert werden16. Auf diese Weise wird aber die klassische These vom "Absterben" des Staates modifiziert, weil die soziale Organisation der künftigen Gesellschaft des Kommunismus nicht mehr als Negation der Staatlichkeit sich darstellt. Sie erscheint vielmehr als gesetzmäßiges Ergebnis der Entwicklung des sozialistischen Staates selbst. Auch die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die nicht mehr staatliche Positivität und Sanktionen aufweisen werden, sind nicht eine Negation des Rechts, sondern die höchste Form der Entwicklung von sozialen Verhaltensregeln, die aus einem schon gerechten und humanen Recht hervorgehen. 2. Die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Kommunismus Wie jede soziale Gemeinschaft wird auch die kommunistische Gesellschaft der Regeln des sozialen Verhaltens bedürfen, und dies im wachsendem Maße, weil sie komplizierte wirtschaftliche und sonstige Strukturen als Zeichen ihres hohen Entwicklungsstandes aufweisen wird. Diese Regeln werden von der marxistischen Theorie als eine qualitativ neue normative Grundlage der künftigen Gesellschaft dargestellt. Die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Kommunismus sollen sich hauptsächlich dadurch auszeichnen, daß sie des Zwanges bei ihrer Realisierung entbehren; das bedeutet, daß sie im Gegensatz zu den Normen 15 Vgl. Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4: Das sozialistische Recht, dt. Ausgabe, Köln 1976, Kapitel16. 16 Vgl. S. S. Alekseev, Obscaja teorija prava (Allgemeine Theorie des Rechts) , Bd. I, Moskau 1981, S. 153 ff.
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5. Kap.: Recht und soziale Normen im Kommunismus
allen Rechts- auch des sogenannten Rechts des ganzen Volkes- nicht durch Zwangsmaßnahmen eines organisierten Apparates, wie früher durch den Zwangsapparat des Staates, durchgesetzt werden. Diese These visiert nicht einen Zustand an, in dem Übertretungen der sozialen Normen nicht geahndet werden, sondern vielmehr eine umfassende Befolgung dieser Norment7. Nun stellt sich die Frage, warum diese Normen freiwillig befolgt werden. Der Grund dafür kann nur sein, daß die Normadressaten die Notwendigkeit der Normen des gegebenen Inhalts einsehen. Dies setzt allerdings eine Einsicht in alle komplexen Vorgänge einer hochentwikkelten Gesellschaft, einen hohen Bewußtseinsstand und eine große intellektuelle Informationsverarbeitungsfähigkeit voraus. Bekanntlich ist die bisherige Entwicklung der Organisationsformen der menschlichen Gesellschaft so verlaufen, daß die sozialen Vorgänge immer komplexer und unübersehbarer geworden sind, ein Umstand, der von allen Schulen in der Soziologie und der Sozialphilosophie beklagt worden ist. Die Unüberschaubarkeit sozialer Konstellationen ist aber nicht auf mangelndes Interesse oder auf komplizierte gegensätzliche Interessenlagen in der Gesellschaft zurückzuführen, sondern rührt nicht zuletzt von der schlichten Überforderung menschlicher Kapazitäten her. Auch wenn die marxistische Gesellschaftswissenschaft hierzu das Argument anführen will, daß das Individuum im Kommunismus ein ganz neues, entwickeltes und sensibles Sozialbewußtsein tragen wird, ist der letztgenannte Einwand der möglicherweise fehlenden intellektuellen Kapazität nicht ausgeräumt. Auch die individual- und die sozialethische Situation der Normadressaten wirft Probleme auf. Mit der Postulierung einer Einheitlichkeit der ethischen Ansichten der Individuen in der kommunistischen Gesellschaftl8 ist aber noch nichts erreicht. Man behauptet hier, daß die Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens identisch mit den jeweiligen Normen der Moral sein werden, was aus den sozialen Strukturen der Gesellschaft erklärt werden soll. Das Kennzeichnende der sozialen Strukturen im Kommunismus ist aber die Identität der Interessen von Einzelnen und der Gemeinschaft, die Konflikte in der Gesellschaft ausschließtl9, Es muß jedoch erklärt werden, wie diese Interessenidentität die Einheitlichkeit von ethischen Überzeugungen zur Folge hat. Wenn man annimmt, daß in der kommunistischen Gesellschaft ein Überfluß an materiellen Gütern herrschen wird, so begründet das noch keineswegs die volle Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Einzelnen. Denn Bedürf17 Marxistische Staats- und Rechtstheorie (Anm. 15), S. 420: "Diese freiwillige Einhaltung der Normen des kommunistischen Zusammenlebens und die fehlende Notwendigkeit, sie staatlich zu gewährleisten, ist der wichtigste Charakterzug, der diese Normen von den juristischen Normen unterscheidet". 18 s. 428 f. 19 s. 419.
II. Zukunft des Rechts. Die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens
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nisse sind keine konstante Größe, sondern wachsen gerade in dem Maße, in dem sie befriedigt werden; außerdem hat die Befriedigung materieller Bedürfnisse auch die Funktion der Unterstützung anderer, nichtmaterieller Bedürfnisse und Interessen der Individuen, so daß letztlich eine Deckungsrelation von Bedürfnissen und Mitteln zu ihrer Befriedigung nicht begründet werden kann. Auf diese Weise erscheint die Losung des Kommunismus "Jedem nach seinen Bedürfnissen" als eine Metapher, die keinen heuristischen Wert besitzt. In jeder Gesellschaft müssen aber außer materiellen Gütern auch Rechte, Kompetenzen und Lasten verteilt werden. Die Ansichten der Einzelnen darüber machen jeweils die Ethik der Gesellschaft aus. Ethische Ansichten und Überzeugungen sind jedoch nicht immer- und das ist ein allgemein beobachtbares soziales Phänomen - den materiellen Bedingungen, unter denen die Individuen als Träger solcher Ansichten leben, adäquat. Daher ist auch durch eine vorgestellte gleiche Befriedigung materieller Bedürfnisse noch keineswegs eine Einheitlichkeit von Ansichten und Überzeugungen der Mitglieder der Gesellschaft gesichert. Die Entfaltung der Persönlichkeit in einer vorgestellten Gesellschaft der Freiheit und des materiellen Überflusses kann nicht mit einer Uniformierung von Ansichten und Wertmaßstäben einhergehen. Sie hat vielmehr eine Ausdifferenzierung dieser Überzeugungen und eine Sensibilisierung des gesellschaftlichen Bewußtseins gerade für neue Probleme und Situationen zur Folge. Gerade diese Entwicklung hat die Geschichte menschlicher Gesellschaften in ihren Haupttrends bislang gezeigt: die allmähliche Befreiung von materiellen und ideellen Zwängen war für die Herausbildung vielgestaltiger Individualität nur förderlich. Die marxistische These vom neuen Menschen, der eine hochentwickelte Persönlichkeit entsprechend den Idealen des Kommunismus ist und in einer Gemeinschaft mit anderen freien und mit hohem gesellschaftlichen Bewußtsein ausgestatteten Mitgliedern der Gesellschaft zusammenlebt, überzeugt in ihrer Annahme, daß alle diese Individuen das gleiche meinen und wollen, nicht. Eine solche menschliche Gesellschaft scheint es außer in ihren - primitiven - Anfängen nie gegeben zu haben und ist auch nicht erstrebenswert, weil sie jegliche Individualität und Kreativität des Einzelnen begrifflich ausschließt. Die marxistisch-sozialistische Auffassung von den Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die einen hohen ethischen Gehalt aufweisen oder sogar mit den Normen der gesellschaftlichen Moral identisch sind, verliert insofern an Überzeugungskraft, als bereits für das Recht der entwickelten sozialistischen - und noch nicht kommunistischen - Gesellschaft behauptet wird, daß es die hohen ethischen Ideale der Menschheit schon in sich trägt. Wenn "allgemeinmenschliche" Werte schon in den jetzigen Verhaltensnormen der Gesellschaft- insbesondere in den Normen des sozialistischen Rechts
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5. Kap.: Recht und soziale Normen im Kommunismus
- verwirklicht sind und wenn diese Werte bereits herrschende einheitliche Moralüberzeugungen in der Gesellschaft sind, entfällt ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen Normen des Rechts heute und Normen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung im Kommunismus. Aber zu behaupten, daß Strukturen der künftigen kommunistischen Gesellschaft bereits verwirklicht worden sind, erscheint als eine soziale Fabel. Hierbei muß auch der Umstand bedacht werden, daß zwischen dem heutigen geltenden Recht in der sogenannten entwickelten Gesellschaft des Sozialismus und dem früheren sozialistischen Recht keine wesentlichen Unterschiede feststellbar sind. Und dennoch wird das gegenwärtige sozialistische Recht mit neuen Eigenschaften versehen und in den Stand eines Rechts des ganzen Volkes- was immer das auch sein mag- erhoben. Es steht daher zu befürchten, daß in der Zukunft verschiedene soziale Strukturen und normative Regelungen als solche einer sich anbahnenden kommunistischen Gesellschaft ausgegeben werden, weil es im Belieben der führenden Kommunistischen Partei steht, Entwicklungsphasen und soziale Phänomene in ihrer Wesenheit zu qualifizieren. Auch schmälert diese Beliebigkeit der Qualifikation den Wert der theoretischen Analysen, die die sozialistische Wissenschaft selbst vornimmt. Ein letztes Problem wirft der Entstehungsmodus der Normen des Gesellschaftslebens im Kommunismus auf. In der sozialistischen Gesellschaft ist spontane Bildung von sozialen Normen bislang durch die Kommunistische Partei immer verhindert worden, weil sie ihre Führung allein durch Rechtsnormen mit ihrem Sanktionsmechanismus, die sie selbst initiiert, als gesichert angesehen hat. Diese Einstellung der führenden Kommunistischen Partei ist bis heute unverändert geblieben. Es ist auch nicht zu erwarten, daß sie ihre Haltung in dieser Hinsicht ändert, weil sie sonst das hohe Risiko des Machtverlustes auf sich nehmen muß. Auch ihr deformiertes Verständnis von Selbstverwaltung und Demokratie ist für eine spontane soziale Normbildung nicht förderlich. Wenn, man letztlich bedenkt, daß die künftige Gesellschaft wegen ihres hohen Entwicklungsstandes und der hohen sozialen Komplexität eine entsprechende Organisation und qualifizierte Führung aufweisen wird, muß angenommen werden, daß es auch eine Normsetzungsinstanz geben wird, die Normen mit entsprechender Qualität erzeugen wird, namentlich solche Normen, die nicht dezentralisiert und nicht ohne Übersicht über das Ganze des komplexen sozialen Geschehens entstehen und wirksam werden können. Durch den Setzungsakt einer solchen zentralen Instanz verlieren soziale Normen ihre "Nähe" zu den von ihnen geregelten Beziehungen, und ihre Heterogenität erhöht sich entsprechend, was zur Konsequenz hat, daß sie wegen ihrer "Nichtrealisierungschance" auch mit Sanktionen ausgestattet werden müssen. Dann sind aber Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gleich Recht. Eine Gesellschaft ohne zentrale Organisation und allgemein verbindliches und durchsetzbares Recht ist theoretisch nicht begründbar. Den Kommunismus kann es also nur als utopische Idee geben.
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Sachverzeichnis "Absterben" des Staates 57, 147, 150 Akzeptanz des Rechts 82 f., 136 f. Arbeiterklasse 25, 27, 33, 44ff., 102, 126 - Bewußtsein der 62 - Ideologie der 61 Ausbeutung 12, 24, 31ff., 38, 41f., 49f., 59, 119 "Basis'' der Gesellschaft 2ff., 16ff., 19, 22, 25f., 29 - Basis-Überbau-Lehre 19f., 23f., 26ff. Bewußtsein - "falsches" 45, 132 - gesellschaftliches 19f., 42, 45 - individuelles 15, 17, 42 - revolutionäres 50 Bewußtseinsbildung in der sozialistischen Gesellschaft 44ff. Brauch, sozialer 81 Demokratie 52f., 70ff., 74ff., 149, 154 - bürgerliche 71, 77 - sozialistische 60, 76ff., 149f. Demokratischer Zentralismus 79, 149 Diktatur des Proletariats 33ff., 40, 48ff., 56ff., 60, 63 - Auflösung der 55 f. Eigentum - an Produktionsmitteln 31f., 41 - privates (an Produktionsmitteln) 30f. - Sozialpflichtigkeit des 18 Eigentumsverhältnisse 18, 31 Einparteiensystem 62, 142 Erkenntnis, objektive 129ff., 133f. Erkenntnismodell 130 Gerechtigkeit 74, 113ff. Gesellschaft 18f., 26, 135, 152f. - bürgerliche 21 ff., 27
- entwickelte sozialistische 35, 59, 61ff., 82, 101' 103, 106ff.' 138 - kommunistische 67, 102, 105, 144ff., 152ff. - sozialistische 12, 21, 27, 31, 34ff., 44ff., 63, 76, 108ff.' 119, 137f.' 154 westlich-demokratische 48, 67, 77, 110, 125 - Klassenstrukturen der 30, 35f. , 109 "Gesellschaftliche Selbstverwaltung" im Kommunismus 64, 67, 147ff., 154 "Gesellschaftsformation", historische 12, 14ff., 31, 55, 144 Gesellschaftstheorie, marxistische 20, 48, 70, 127f., 134f. Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung - "objektive" 16, 19, 78ff., 126ff., 134 - ökonomische 21 ff., 25 ff. , 129 Gesetzesanalogie 94 Gesetzespositivismus 90, 95 Gesetzlichkeit, sozialistische 11 f. , 92 Geschichtsdeutung - materialistische 15, 22 - marxistische 19 Geschichtsdetenninismus 97 Geschichtsphilosophie 32 Gewalt, öffentliche (s. Macht) Gewohnheitsrecht 90 Gruppen, soziale (s. auch Klasse, soziale) 37,40ff. "Halbstaat" 34 Historischer Materialismus 11, 16 Ideologie, kommunistische 61 , 84f. , 132f. , 137 Institutionen, politische 31, 42 Interessen - gesamtgesellschaftliche 110f. - gruppenspezifische 32
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Sachverzeichnis
- ökonomische und außerökonomische 48 Kommunismus 144ff., 151ff. Kommunistische Partei 14, 20, 25f., 35, 54, 60, 62f., 75, 78, 84, 100, 130, 133ff., 141, 149, 154 - Erkenntnismonopol der 14, 45, 78, 130 Klasse 30f., 34 - ausbeutensehe 34, 59 -ausgebeutete 32,43 - herrschende 11, 13, 31, 40f., 43, 47, 59, 97ff. - kapitalistische 11, 34 - nichtausbeuterische herrschende 44 - soziale 31, 33, 37, 40f., 43, 82 - unterdrückte 97 - werktätige 31 Klassenbewußtsein 41, 43, 48, 60 Klassengegensätze 11, 30, 33ff., 50, 55, 59 Klassengesellschaft 30ff., 36f. Klasseninteressen 37, 107 f. Klassenkampf 32, 41, 48f. Klassentheorie, marxistische 40, 47 Legitimation 79, 137 - politische 47 - des sozialistischen Rechts 97 - des sozialistischen Staates 35, 68 Legitimität des sozialistischen Staates 69 Macht - politische 21, 24f., 31, 33, 40, 52, 55, 72, 136f. - der Arbeiterklasse 33 Marxismus 19, 24ff., 33ff., 57, 147 Mehrparteiensystem in sozialistischen Staaten 62 Monismus, ökonomischer 11, 22, 30 Moralnormen 83ff., 87, 152f. "Nichtstaat" 147 Norm - des "gesellschaftlichen Zusammenlebens" im Kommunismus 150ff. - positivrechtliche (s. Rechtsnormen, positives Recht) - soziale 81 f.
- "unmittelbar soziale" 87 Notwendigkeit - historische (s. "Gesellschaftsformation") - ökonomische 23 Oktoberrevolution 12, 21, 24, 40, 49ff. Opposition, politische 62 Ordnung, normative 135 Organisation, gesellschaftliche 91 Parteilichkeit der Wissenschaft 133 "Perestrojka" 13 Persönlichkeit, sozialistische 138f. Politik 24ff., 28f., 135 Politisches System 35, 38, 47, 60, 83 Praxis, gesellschaftliche 90 Produktivkräfte, gesellschaftliche 12, 16, 18, 20ff. Produktionsverhältnisse 12, 15 ff., 20ff., 28,32,144 Produktionsweise, gesellschaftliche 32, 42 Proletariat 12, 25, 31, 33f., 59 - Bündnisfrage des 53f. - Diktatur des (s. Diktatur des Proletariats) Realität, soziale 42, 130, 147 Recht 11, 18, 22, 26ff., 81f., 86ff., 95f., 135 ff., 150f., 160f. - altgemeiner sozialer Gehalt des 96ff., 100 - Begriffsbestimmung des 88, 97 - des ganzen Volkes 13, 101ff., 119, 154 - "eigener" Wert des 119 - Entstehung des (s. Entstehung des Staates) - Erziehungsfunktion des 137ff. - ideologische Natur des sozialistischen 135 - Klassencharakter des 96, 100 - "nicht juristisches" 87 - positives 81 ff., 86f. - Quellen des 89ff. - sozialistisches 27, 85ff., 96ff., 101ff., 116f., 119, 137, 148 - Verbindlichkeit des 82 - Verwirklichung des 82f.
Sachverzeichnis - Zukunft des 150ff. Rechtsanalogie 94 Rechtsbegriff (Rechtskonzeption), marxistisch-sozialistischer 101 ff. Rechtsbewußtsein 140ff. - sozialistisches 140ff. Rechtsfortbildung, richterliche 92ff. Rechtsgeltung (s. Verbindlichkeit des Rechts Rechtsnormen 81ff., 91, 94f., 136f. Rechtsphilosophie, marxistische 96ff., 104ff., 115ff. Rechtsprechung 92ff. Rechtsquellen 89ff. Rechtsetzung (s. positives Recht) Rechtssystem 94 Rechts- und Staatstheorie, marxistische 14, 34ff. , 38f., 54, 68ff., 81, 86, 88, 93, 96, 115, 147 Regelungssystem 94 Revolution 20f., 24 - sozialistische 21f., 33f., 40, 49ff. Richtlinienkompetenz der Obersten Gerichte 95 Sein 19f. - gesellschaftliches 16f., 19f. Seinsrealität 19 Sozialismus 24, 31, 34, 47 - politisches System des 70, 101 Sozia;lontologie 11 Staat 11, 18, 22f., 26f., 30ff., 35ff. , 59, 67, 81, 150f.
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-sozialistischer 18f., 26f., 32ff., 58f., 62ff. , 67, 81, 135, 148 - des ganzen Volkes 38, 57, 64f., 67, 82, 99, 147f., 151 - Staat und Gesellschaft 35 ff. - Klassencharakter des 38 - als Klassenorganisation 40 - Entstehung des 30ff. Staatsmacht (s. auch Macht, politische) 23 Staatstypus 31f., 34, 54 Steuerung sozialer Prozesse durch Recht 125ff. Toleranz, politische 133 "Überbau" der Gesellschaft 15ff., 22ff. Übergangsstaat 34 "Unterdrückungsfunktion" des Staates 32,34 Urgesellschaft 31 Verhaltensnormen - gewohnheitsmäßige 84, 86 - soziale 87 Volksdemokratie 49 "Volksstaat" 38, 57ff. , 64ff. Wirklichkeit (s. Realität, soziale) Werte im Recht 84f., 112ff. Willensbildungsprozeß, politischer 47, 99ff. Zentralismus (s. Demokratischer Zentralismus)