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German Pages [342] Year 1961
E RFAHRUNG U ND D ENKEN S c h r i f t e n z u r Fö rd e r u n g d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ph i l o s o p h i e u n d Ei n ze l w i s s e n s c h a f t e n
Band 6
Philosophie der Rechtswissenschaft Von
Carl August Emge
Duncker & Humblot · Berlin
Carl August Emge / Philosophie der Rechtswissenschaft
ERFAHRUNG
UND
DENKEN
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 6
Philosophie der Rechtswissenschaft Von
C a r l August Emge
DUNCKER
& HUMBLOT
/
BERLIN
A l l e Rechte vorbehalten © 1961 Dundter & H u m b l o t , B e r l i n Gedruckt 1961 bei Hans W i n t e r Budidruckerei, B e r l i n S W 6 1 Printed i n Germany
uxori carissimae
Vorwort Plante man heute wieder einen catalogum librorum promissorum et imperfectorum, so gehörte dieses Buch gewiß hinein. Es ist nicht immer ein Ausdruck der Reife, wenn man, wie w i r , so stark dieses Imperfectum fühlt. D a m i t es nun nicht auch i n den catalogum de libris autoribus suis fatalibus gerät, mögen folgende einführende Worte erlaubt sein. Bei dem Versuch, den Wunsch nach einer „Philosophie der Rechtswissenschaft" zu erfüllen, fühlte sich der Verfasser vor eine ganz neue Aufgabe gestellt. Sollte es keine „Theorie der Rechtswissenschaft" werden, wie sie Rudolf Stammler i n seinem großen Werk vorschwebte, keine Darstellung des „juristischen Denkens", wie w i r sie Carl Engisch, keine „juristische L o g i k " , wie w i r sie Ulrich K l u g verdanken, so schien nur übrig zu bleiben, eine Geistesgeschichte der Rechtswissenschaft zu liefern. Das aber wäre weder eine philosophische Aufgabe gewesen, noch hätte sich dafür der Verfasser für zuständig gehalten. Die bedeutenden älteren Werke: die „Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft" von Stintzing-Landsberg, die jüngsten glänzenden Darstellungen von Erik W o l f über „große Rechtsdenker" liegen ja vor. Jene älteren verdienten heute freilich, da sie ja historischer Absicht dienen, eine „Aufhebung" i n die kompliziertere Auffassung der gegenwärtigen Geistesgeschichte, die auch die ausländische Entwicklung berücksichtigte. Es konnte aber auch nicht die Aufgabe sein, aus den Kapiteln Rechtswissenschaft i n den so erschöpfenden Darstellungen des geltenden Zustands etwa bei H e l l m u t Coing, K a r l Petraschek, Gustav Radbruch, Rudolf Stammler, D e l Vecchio, ganz abgesehen von den Leistungen der Hegelschule, ein siebentes Kapitel zu machen. Der Auftrag erging an jemand, der eine ganz bestimmte, selbst erarbeitete Auffassung über die begriffliche Bewältigung der ganzen nicht nur normativen sondern direktiven Sphäre, d. h. der sog. praktischen Philosophie nicht nur hat, sondern sie auch seit bald einem halben Jahrhundert wissenschaftlich vertritt. Wenn ein B i l d erlaubt ist: Es handelt sich um den Versuch, den tiefen Sinn, den Dostojewski seinem Gleichnis vom „Großinquisitor" gegeben hat, in die Sphäre zu über-
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Vorwort
setzen, w o r i n die Begriffe der Rechtswissenschaft beheimatet sind. W i r haben uns bemüht, eigentümliche Begriffe und Termini für diese A u f gabe zur Verfügung zu stellen. Nach dem Satz „hic Rhodos hic salta", hieß es nun, diese weiter zu erproben. Das Folgende steht also unter den auf Grund der persönlichen Kategorien des Verfassers erarbeiteten, aber hoffentlich doch der Intentio nach als objektiv aufgewiesenen, Kategorien. A l l e Bedeutungen mußten i n ihrem spezifischen Sinne zur Geltung kommen. Daraus ergab sich zweierlei: Einerseits mußte der Versuch gemacht werden, zunächst gewisse Grundbegriffe i n dieser Schrift zu wiederholen und wegen der Kompliziertheit i m Text immer wieder darauf hinzuweisen. Daß man z. B. nicht einfach von „norm a t i v " sprechen könne, sondern von einer besonderen A r t dieses N o r mativen, wenn es nun mal dafür fünf verschiedene Bedeutungen gibt. Ähnlich steht es m i t „teleologisch", m i t „Zweck" und anderem mehr! Andererseits hätte es auch keinen Sinn gehabt, Belege dafür zu bringen, daß ein anderer Autor etwa auch von „ N o r m a t i v e m " oder „Teleologischem" spricht. Es wäre doch anzunehmen, daß jene bei i h m weniger Bestimmtes oder gar etwas anderes bedeuteten. Gerade über die Zitierweise finden sich, als zeitbedingte, wissenssoziologische Tatsache, A n merkungen i m Text. Insofern bleibt ein gutes „schlechtes Gewissen". So wäre das Höchste was zu wünschen bliebe, daß das w o h l i n allen Dimensionen Unzureichende, Anregung zur K r i t i k und Weitergestaltung fände, freilich möglichst i m ganz prinzipiellen Sinne. Sind ja doch außer den i n der bisherigen Geschichte hervorgetretenen rechtswissenschaftlichen Bemühungen und Ergebnissen etwa i n der Form des Pandektensystems oder der angelsächsischen Methodik des case law noch viele andere möglich (Viehwegs „ Z w e i Rechtsdogmatiken"!). M a n hat auch vor Jahrhunderten noch nicht an die Möglichkeiten verschiedener Geometrien gedacht, die heute zum selbstverständlichen Besitz der mathematischen Wissenschaft gehören. So hoffen w i r , daß dieses Boot im Sinne von Schillers „Erwartung und Erfüllung" i n den Hafen treibe. Carl August Emge
Inhalt I. Erörterung von Grundbegriffen und Gesichtspunkten in Hinsicht auf das Thema
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§ 1 Einleitung
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§ 2 Dogmatische Auffassungen, Positivismus
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§ 3 Psychologismus, Nominalismus, Existentialismus
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§ 4 Urteilsakt, logischer und sprachlicher Satz, Gegenstand, Arten von Vorurteilen § 5 Das Apriorische und das Empirische
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§ 6 Grundsätzliche direktive Entscheidungen: Logonomes, Autonomes, Heteronomes, Autologes, Heterologes. Nachdenken, Philosophieren, Wissenschaft
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I I . Recht und Rechtswissenschaft
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§ 7 Unterschied des Gegenstandes der Rechtsphilosophie und der Rechtswissenschaft
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§ 8 Falsche Accente: Logische, ontische, psychologische, generalisierende, spezifizierende, Stetigkeit, Diskretion, die direktiven Momente, „Werte", Relativismus usw
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§ 9 Struktur des Rechtsbegriffs, der Mensch
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§ 10 Die angeblichen Werte: Sicherheit und Gerechtigkeit, Grundrechtsproblem, störende wissenschaftliche Tendenzen 116 § 11 Aspekte, die besonders bedeutsam Parteienlehre. Begriff des Politischen § 12 Weitere Aspekte dieser Art
wurden.
Philosophische 127 159
§ 13 Arten des Teleologischen und des Zwecks. Andere Aspekte . . 192
io
Inhalt
§ 14 Oberleitung zum Wissenschaftsproblem. Dialog zur Aufrollung der Gesichtspunkte 223 §15 Ontologische Kategorien. Die Strafe unter schiedener Kategorien
der Sicht ver238
§16 Komplexheit des Problems von der Wissenschaftlichkeit. Möglichkeit des Fortschritts 268 §17 Die allgemeine soziologische Problematik der dogmatischen Rechtswissenschaft. Die angelsächsische Jurisprudenz 298 §18 Engere wissenssoziologische Betrachtung: Die juristische Dogmatik als Höchstform der Ideologie 327
Zur Terminologie logonom
Norm ohne Auetor (Prinzip des Richtigen, wirklich Maßgeblichen, Belangvollen).
auto nom („Anmaßung* des Richtigen)
Auetor ist wesentlich. Adressat nicht, z. B. beim Wunsch, kann reflexiv sein: dann ist der Auetor (als wirkliches Subjekt verstanden) zugleich auch der Adressat, z.B. beim ernsthaften Vorsatz, Willensentschluß. oder alio relativ: dann ist der Auetor ein anderer als der Adressat.
heteronom = Auetor ist ein anderer. („Anmaßung" Das Heteronome drückt das Konverse der alio relativen des Richtigen) autonomen Norm: „die Auflage", vom Adressaten aus gesehen, aus. auto log
— als Ergebnis der Anwendung des Logonomen auf das Autonome: die „Richtigkeit" der Normsetzung.
hetero log
= als Ergebnis der Anwendung des Logonomen auf das Heteronome: die „Richtigkeit" der Befolgung der „Auflage".
Bei obiger Unterscheidung geht es um die Rechtfertigung von „Urteilssitzen". Die eigentliche Problematik beginnt dann mit der »historischen Situation* > worin alles Wirkliche „ein Moment" ausmacht. Ein Begriff, dessen wesentliche Rolle im Aufbau unserer direktdven Systeme (sog. „praktische Philosophie") bisher übersehen wurde.
Πρόσεχε τφ ύποκειμένώ ή τή ενεργείς ή τφ δόγματι ή τφ σημαινομένφ * (Marc Aurel, Τ Α ΕΙΣ ΕΑΥΤ ΟΝ, 8. Buch 22) „Die dogmatische Rechtswissenschaft ist ein Unternehmen, bei dem wissenschaftliche Hingabe und ein ihr entsprechender Scharfsinn auf die Bewältigung eines im ganzen unwissenschaftlichen Gegenstands gerichtet ist: tamquam e vinculis sermocinari."
I. Erörterung von Grundbegriffen und Gesichtspunkten in Hinsicht auf das Thema § 1 Einleitung „Philosophie der Rechtswissenschaft!" Eine Begriff s Verbindung, deren Aufhellung eine Zusammenarbeit akademischer Kommissionen verlangte! Es kann daher hier nur die Aufgabe sein, die mannigfachen Probleme anzudeuten, deren Lösung das Thema stellt. Drei umfassende Probleme stecken offenbar darin: Das Problem der Philosophie, das der Wissenschaft, und das des Rechts. Das erste, das Problem der Philosophie geht uns insofern an, als w i r uns philosophierend, daher m i t philosophischer „ I n t e n t i o " m i t der Rechtswissenschaft beschäftigen wollen. Nicht m i t einzelwissenschaftlicher „ I n t e n t i o " also. Es w i r d dabei gefordert werden, daß man einer philosophischen Methode folgt, und das Ergebnis w i r d sein, daß das Aufweisen von Problemzusammenhängen, neuen Fragen wichtiger sein w i r d als die Behauptung von Thesen als unerschütterlichen Resultaten. Das zweite, das Problem der Wissenschaft, führt wieder zu zweierlei Bereichen, die freilich m i t einander wesentlich verbunden sind. Der * Gib acht auf das, was der Handlung oder dem Leitsatz oder der Bedeutung zugrunde liegt.
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Grundbegriffe u n d Gesichtspunkte
eine, der sog. objektive Bereich der Wissenschaft umfaßt das eigentümliche Gedankenmaterial, die durch einen Systemgedanken gesteuerte, insofern i n Bewegung befindliche Masse regionspezifischer Gedanken, Theorien, Begriffe, so wie w i r sie in der wissenschaftlichen Literatur, i n unserem Falle der juristischen vorfinden. Der andere, der sog. subjektive Bereich, umfaßt den „Betrieb" der Forschung, das Gewinnen jenes Gedankenmaterials. Es ist das Wissenssoziologische, das menschliches Bemühen charakterisiert, insofern es durch die einheitliche Region des Gegenstands, der Intentio, der Beziehung mehrerer zu einander bei ihrer Arbeit, i n einer Klasse oder Gruppe also bestimmt ist, deren geistiges konstituierendes Moment so etwas wie einen globus intellectualis meint. Das dritte, das Problem des Rechts, bezeichnet nun als Gegenstand der Rechtsphilosophie die Grundkategorie, unter der alles Rechtliche steht, und deren theoretische Bedeutung explicit oder implicit jede juristische Theorie, Vorstellung oder jeden Begriff bestimmt. M a g es den Juristen bewußt sein oder nicht. D a man seit langem die „Bedingungen der Tatsächlichkeit" von etwas von den „Bedingungen der Richtigkeit" von etwas zu unterscheiden pflegt, anders ausgedrückt die „konstitutiven Bedingungen" von den „regulativen Bedingungen" oder auch den „Begriff" von der „Idee" von etwas, taucht dazu noch dieser Dualismus von Fragen auf. Es ist i n der Tat so: es gibt eine Tendenz des Denkens, die man philosophisch nennen muß, die aber dabei durchaus nicht richtig philosophisch zu sein braucht. Diese Weise des Vorgehens hat ihr eigenes strenges Gesetz. Auch ließen sich Gegenstände denken, die selbst einem richtigen philosophischen Denken entzogen wären. Ebenso gibt es beim nichtphilosophischen wissenschaftlichen Denken, also hier dem juristischen, die Möglichkeit des richtigen und falschen. Infolgedessen auch i m objektiven Stoff der Theorien und Begriffe das gleiche an Richtigem und Falschem. Bei dem Recht allerdings erlaubt es unsere rechtsphilosophische Auffassung nicht tatsächliches von richtigem zu unterscheiden, soweit es sich um das Recht als den Gegenstand der dogmatischen Rechtswissenschaft handelt. I n dessen Begriff ist nämlich bereits das Regulativ des Richtigen „konsumiert", so daß beim positiven Recht die Formel „richtiges Recht" einen Pleonasmus darstellt, nur dadurch möglich, daß man — um es kurz auszudrücken — Gesetz als e i n e n Erkenntnisgrund des Rechts m i t dem, was erkannt werden soll und also den Gegenstand der jur. Dogmatik bildet, identifiziert, daß man
Einleitung
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also bei verbindlich Gesolltem seinem Begriffe nach noch einmal nach seinem verbindlich Gesolltsein fragt. Als ob es da noch so eine „Idee" geben könne! Bei den Gesetzen, den Gewohnheiten usw. als Fakten, ist natürlich diese Scheidung der Frage nach Begriff und Idee sinnvoll. Die Frage der Beziehung der drei Momente: Philosophie, Wissenschaft, Recht, weckt verschiedene Gedanken auf. Z u m Beispiel war es i m Kreis der Neukantianer üblich zu sagen, was i n der Wissenschaft wissenschaftlich sei, sei Philosophie. Wenn man durch diese Meinung nicht jeden Unterschied zwischen dem philosophischen und einzelwissenschaftlichen Vorgehen und entsprechend i n den Ergebnissen beseitigen w i l l , also persönliche und soziale Phänomene simplifizieren, so kann durch diese unglückliche Wendung die Möglichkeit angedeutet werden, noch einen Unterschied i m Wissenschaftlichen selbst zu erkennen: den des üblichen wissenschaftlichen Betriebs von einem i n Akademien der Wissenschaft gepflegten oder dem theoretischen Stoffe nach zwischen Erfahrungsmaterial und rationalem Material. Uns liegt es ebenso fern, Philosophie zur Wissenschaft i m Sinne einer Einzelwissenschaft machen zu wollen etwa „exact", als auch der Rechtswissenschaft ihr Wesen als das einer Einzelwissenschaft (ihrer Intendo nach) zu bestreiten. Wenn auch das Problem ihrer Wissenschaftlichkeit ein Hauptthema unserer Arbeit ausmacht. W i r wollen nicht Rechtswissenschaft zu einer philosophischen Disziplin machen, wie es in Zeiten des alten Naturrechts nahe lag. — Dann die Beziehung der Rechtswissenschaft zum Recht: Denken w i r an so etwas wie eine persönliche oder sogar an eine einem „Recht" der Persönlichkeit entspringende Vorbildlichkeit, Maßgeblichkeit der wissenschaftlichen Auffassung, an das W o r t von der „bewährten Lehre", an die bedeutende wenn nicht präjudizielle Geltung der Begründungen von Entscheidungen höchster Instanzen für nachher kommende, an die Auswirkung wissenschaftlicher Theorien durch Lehrbücher, Kommentare usw. auf Inhalt und Form dessen, was man Recht nennt: „Juristenrecht"! Wie eng ist hier wissenschaftliche Arbeitsweise m i t ihrem Gegenstand verflochten, zwar nicht so, daß die Intentio des Forschers m i t ihrem Gegenstand zusammenfiele, aber doch so, daß der Einzelne sich einem Gegenstand gegenübersieht, an dem das Forschen von Seinesgleichen einen wichtigen, auch von ihm zu beachtenden, A n t e i l gehabt hat. Wenn man bei dem Gegenstand der Rechtswissenschaft ebenso wie bei dem der Rechtsphilosophie einfach von „Recht" spricht, so ist die Frage, wie sich denn beide unterscheiden? Wenn Rechtsphilosophie zur Rechtswissenschaft i n gleicher Beziehung steht, eben solcher einer
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
„Bindestrichphilosophie* wie Naturphilosophie zur Naturwissenschaft, Sozialphilosophie zur Soziologie, Philosophie der Mathematik zu den mathematischen Wissenschaften, Geschichtsphilosophie zur Geschichte als historia rerum gestarum, Ästhetik zur Kunstwissenschaft, welche Rolle i m Erkenntnisprozeß spielt hier der jeweilige „Gegenstand"? Das Recht?, die Natur?, die Gesellschaft?, Raum, Zahl, Maß?, Geschichte als res gestae? Was bedeutet eine sog. Kategorie? Bedeutet sie vielleicht nur einen zusammenfassenden Namen für Fakten hic et nunc? Beim Recht für Bestimmungen und dergleichen, die Machtverhältnisse charakterieren und aus ihnen stammen? oder doch einen Begriff für mehr: für Abhängigkeiten i n der A r t von Maßgeblichkeiten? von Normativem und Permittivem? Was für diejenigen, welche sie „angingen", auch wirklich beachtlich wäre, „aktuell" i m Sinne des wirklich Verbindlichen? Ja sogar auch dann, wenn das alles nie wirklich befolgt würde, so wie es K a n t bei der M o r a l andeutete? Vielleicht wäre es nötig, nun zuerst einmal zu definieren, was der Begriff Rechtswissenschaft ausdrücken soll? Definieren aber bedeutet etwas bestimmen, was sich jeweils i n das zurückversetzen läßt, aus dem es gebildet ist. Somit wäre vorwegzunehmen, was ja als Problem alles Folgende aufzuklären hat; es wäre dogmatisch, diskussionslos an die Spitze, ein Begriffsgefüge gestellt, wo es doch die Aufgabe ist, dessen Wesen i m Laufe der Arbeit ahnen zu lassen, gewiß ohne das Ideal einer korrekten Definition! Eine Arbeit, die nicht aphoristische Tendenz hat, fordert, daß von Anfang an Vorsätze, die sich auf die Gedankenentwicklung beziehen, eingehalten werden. M a n könnte sagen, daß sie insofern „unter den Kategorien des Autors stehe". Das mag dem Realgrund noch zutreffend sein, darf aber nicht i n der Intentio liegen, bedeutet aber schon so etwas wie einen Hinweis darauf, daß es, wenn man sich nicht der populären Sprache bedient, bedenklich ist, Zitate in positiver oder negativer Absicht aus anderen Arbeiten zu bringen, die unter anderen Kategorien anderer Autoren stehen. Bereits ein Hinweis auf zeitbedingte wissenssoziologische Eigentümlichkeiten, die gerade der Jurist für allgemein gültige Züge zu halten pflegt. Aber wichtiger: aus den Vorsätzen muß klar werden, welche Unterscheidungen gemacht werden, welche Verquickungen unter allen Umständen vermieden werden sollen. M a n kann als „Fortschritt" i n der Entwicklung der Philosophie ansehen, daß man dort Unterscheidungen zu machen pflegt, wo man früher zusammenwarf. I m Metaphysischen, sagen w i r i m Bereich des
Einleitung
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Urphänomens, kommen w i r gewiß heute nicht mehr mit zwei sog. Attributen: extensio und cogitatio aus. Sowohl die Gegenstandssphäre als auch die ihr gegenübergestellte Gedankensphäre ist mehrdeutig geworden. Wenn man von Gedanken spricht oder gar von Geist, Idee, muß man schon genauer sagen, was man damit meint, wenn auch ohne eine Definition zu verlangen. So steht es nun m i t vielerlei: m i t Grund, Satz, Idealismus, N o r m , Wirklichkeit usw. Nach dem Erscheinen von Husserls logischen Untersuchungen, vor einem halben Jahrhundert, darf man auch rechtsphilosophisch nicht mehr ins Psychologistische geraten, von naiv monistischen Tendenzen i m Sinne eines Materialismus oder Energismus ganz abgesehen. Freilich gibt es dann auch so etwas wie Vergeßlichkeit i n der Geschichte der Philosophie, vielleicht Ermüdungserscheinungen, wie bald nach den großen philosophischen Systemen so nach Hegel. Auch phänomenologische Versuche, die raffinierte Philosophie wieder zu einem naiven Gretchen zu machen, gehören hierher, all das, was man plötzlich wieder „unmittelbar zu haben" glaubt und meint, begrifflos beschreiben zu können, was sich doch i n solchem angeblichem Vorgegebensein nur i n einem frühen Stadium begrifflicher Fassung zeigt, der „Deklaration", die immer schon unter Kategorien steht und bei dem „Vorhaben" einen ganz bestimmten begrifflichen Ansatz bedeutet. So wollen w i r hier Auffassungen angeben, die uns fern liegen sollen. Vier davon erscheinen uns noch als leider „zeitgemäß", die eine als „überzeitlich".
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Emgc
§ 2 Dogmatische Auffassungen, Positivismus Zeitgemäß sind heute noch dogmatische Auffassungen, die w i r positivistisch, psychologistisch, nominalistisch oder existentialistisch nennen wollen. Uberzeitlich sind Auffassungen, die jeweils die Mode der Zeit mitmachen, dem Zeitgeist folgen. W i r beginnen m i t den letzteren, weil sie zu jeder Zeit wirksam sind. Die soziologische Situation, w o r i n sich der Jurist, der Rechtswissenschafter, insbesondere aber der Dogmatiker befindet, läßt ihn möglicher Weise in besonderem Maße gegenüber dem Zeitgeist anfällig erscheinen. Vielleicht kann man sagen, daß diese H i n nahme gut sei, weil sie die „Rechtssicherheit" auch i m Geistigen, dem Untergrund des Positiven garantiere. Diese Hinnahme kann natürlich keine Angelegenheit des Rechtsphilosophen sein, der über die mannigfachen Bedingtheiten der Jurisprudenz
nachzudenken hat. Es gibt
überall die Einflüsse des Kollektivs, nicht nur in der Konfektion. Wobei w i r sogar der Ansicht sind, daß sich K o l l e k t i v und Einzelner nur in gewisser Hinsicht und künstlich von einander abtrennen lassen. Es ist für den Historiker und Soziologen reizvoll, einerseits die auf den Lehrstühlen, i n den Prüfungen vertretenen Auffassungen einer Epoche m i t Rücksicht auf die Kollektiveinflüsse zu betrachten, anderseits die davon antithetisch abhängigen, rebellierenden, Ketzereien, oder die von Ressentiments pro et contra ungetrübte in intentio directa auf die Sache gerichtete Meinung. Wer erlebt hat, wie sich eine berühmte Schule i m N u auflöste, nachdem der temperamentvolle Gründer und Leiter gestorben war, wie der bis dahin noch als Vertreter der Schule wirkende, jeder ein bereits ziemlich fertiges Manuskript, aus der Schublade nahm, worin er ganz andere Ansichten vertrat, wer dann aber wieder bemerkte, daß auch diese neuen Auffassungen vorzüglich zu dem Zeitgeist paßten, der damals anfing, ein mächtiger Geist in der Gelehrtenrepublik zu werden, w i r d ebenso sehr schmunzeln, wie bei der Geltungssituation der „Wertphilosophie"
und des „Existentialismus". Die sog. Wert-
philosophie beherrscht heute noch fast die ganze Rechtsphilosophie und wegen deren leichter Faßlichkeit die positive Jurisprudenz.
Unsere
Abwehr dagegen w i r d sich an jeder Stelle bekunden, die dazu die
Dogmatische Auffassungen
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Möglichkeit gibt. Aber die „zeitgemäßen" Tendenzen sollen doch hier vorweg kurz erwähnt werden. D a haben w i r zunächst die positivistische Tendenz. Sie muß unsterblich sein, wie die Rechtswissenschaft selbst, die ja notwendig i n ihrem Gegenstand Positives verarbeiten, sich stets von i h m abhängig fühlen muß, ähnlich wie die Naturwissenschaft vom Erfahrenen in einem so oder so abgesteckten oder erschlossenen Erfahrungsbereich. Aber Positives konstatieren und es so verwenden, daß undogmatische Theorien dabei herauskommen m i t dem Zweck: savoir pour prévoir oder einen begrifflich sauber abgesteckten Bereich des Erfahrbaren aus Bedürfnis nach Erkenntnis erhellen, ist kein Positivismus. Planck war kein Positivist. Auch Savigny nicht als Jurist. Positivist w i r d man erst dann, wenn man „Positives", d. h. als Erfahrung unter gleichfalls nur Erfahrungsbedingungen Konstatiertes nicht nur als solches nimmt, sondern wenn man es als „mehr" behauptet, nicht nur als „hierjetztso", wenn man es Verschätzt, Verbewertet. Z u m Beispiel folgt aus der Tatsache, daß es zum guten Gewissen der Angehörigen des Hongotstammes i n Nueva Vizcaya gehört, bei der Brautschau dem zukünftigen Schwiegervater Köpfe von Christen als Geschenke zu überreichen 1 , nicht, daß diese psychologische Tatsache, dieser ethnologische Brauch zu solchen Kopfspenden belangvoll verpflichteten. Der Autonomiegedanke, der auf das Gewissen hinweist, als das, was nun einmal faktisch i m Psychischen eine prima causa bildet, darf nicht dazu führen, das „Gewissen" auch als die logisch über das Richtige bestimmende letzte Entscheidungsinstanz anzusehen. T u t er das, so ist es „positivistisch". Daß jemand dieses oder jenes Gewissen habe, i m Reditsgebiet dieses oder jenes Rechtsgefühl, läßt sich wie jede Tatsache in einem Erfahrungsbereich feststellen. Wie jede andere Tatsache läßt sich auch diese nicht aus dem Zusammenhang der Wirklichkeit streichen, ohne daß — wie bei Hegels Stäubchen — alles anders würde. Wie jede Tatsache w i r k t sie. Ob und wie diese W i r k u n g konstatiert w i r d , ist wieder eine besondere Frage. Die funktionellen Zusammenhänge werden sich immer nur teilweise aufweisen lassen. Das Gewissen, wesentlich vom K o l l e k t i v bestimmt, ist für die Handlungen der A n gehörigen mehr oder weniger entscheidend. Es gibt da soziale und psychische Sanktionen, die für die Wirkung sorgen. Aber das Gewissen 1
Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Mai 1959 (Nr. 112, S. 17, aus Manila). 1*
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
ist kein „Titulus", keine justa causa für die i h m entsprechenden verbindlichen Handlungen. D a m i t es m i t einer Feststellung über einen Gewissensinhalt zu einem Schlüsse über eine diesem Inhalt entsprechende wirkliche Verbindlichkeit kommen kann, bedarf es eines Obersatzes aus einem ganz anderen Begriffsbereich! Wie w i r nun das Gewissen als ein jeweils nur beschreibbares Sammelbecken von Uberzeugungen höchst dunkler Herkunft vor uns haben, keineswegs zugleich justa causa aus eigenem Recht für das Richtige, so steht es auf logischem Bereich, wenn w i r eine noch so evident wirkende Behauptung als genügenden Grund für ihre Wahrheit nähmen. Dasselbe, wenn die Jurisprudenz die Gegebenheiten der Gesetze in einem historischen Machtbereich als letzte maßgebliche Instanz ansähe. „Positivismus" wirklich nur dann und nicht, wenn sie die Gesetze vom Recht zu trennen weiß, wenn sie i n der Frage nach der Beachtlichkeit der Gesetze ein Problem sieht, womit sich der Jurist herumschlagen muß, weil er gar nicht davon loskommen darf! Das Positive muß für den Juristen e i n Erkenntnisgrund bleiben, fraglich nur, was er als solchen auffaßt. Das Positive als irrevisibel, als inappellabel, infolge seiner stets nachweisbaren „ W i r k u n g " bereits als bindend angesehen, nur das macht die positivistische H a l t u n g aus. Positiv ist aber nicht nur ein Gesetz, ein Befehl, eine Erlaubniserteilung, nicht nur die beinah automatische W i r k u n g i m Befolgen oder Wahrnehmen, positiv ist auch jeder Bewußtseinsakt, jede Uberzeugung, jedes Gefühl, wenn man es so als Tatsache beschreibt. D a m i t sind w i r beim Psychischen und dem Psycbologismus angelangt, der ja auch eine der zeitgemäßen A n schauungen fundiert. Gerade der Jurist, der sich tief fühlt, w i r d vom Psychologismus heute wie vor einem halben Jahrhundert angezogen. Daß uns i n der Gegenwart i m Gegensatz zur Aufklärungszeit das Bewußte wie die ganze „Persona" gerade als besonders problematisch, als Ausnahme erscheint, gegenüber dem, was dieses Bewußte bildet, trägt, i n üblicher Formulierung gegenüber den „Schichten" ( N . H a r t mann, Rothacker), ändert dabei an der psychologistischen H a l t u n g nichts. Übrigens ist die Bezeichnung Schicht, aus dem Geologischen entnommen, eine unglückliche Bezeichnung; sie deutet auf Ablagerungen gerade von oben, trennt materiell, was offenbar fließend i n einander übergeht. Läßt sich dieses dunkle Reich der Mütter erhellen, so auch nur m i t der Absicht Tatsachen festzustellen und nichts zu konstruieren. Auch hier bliebe es beim Positiven, das sich positivistisch mißbrauchen ließe.
Dogmatische Auffassungen
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Das Positivistische hat, wissenssoziologisch gesehen, seine Stärke dort, wo es systemlogisch einen wunden Punkt i n der Erfassung des Gegenstands gibt: D o r t , w o es darauf ankommt, nicht darauf los zu denken, sondern kritisch die Denkaufgabe zu bestimmen. Es wäre reizvoll, bei den verschiedenen Wissenschaftsbereichen dieser Stelle an ihrem »Eingang" nachzuspüren, wo es dem Dogma am leichtesten gelang, ins System zu kommen. I n der Rechtswissenschaft ist sie dort, wo von „ N o r m e n " gesprochen werden muß. Bereits die Verwechslung m i t „ N o r m a l " öffnet dem Dogma die T ü r ; besonders leicht weil ja ein Teil des Rechts und zumal der älteste: das Gewohnheitsrecht als positive „Rechtsquelle" i n der Tat in dem, was i n Gruppen „ n o r m a l " ist, auch den Ursprung faktischer dem Normalen entsprechender Anmaßungen, „ N o r m e n " hat. W i r finden sogar noch bei C. Schmitt i n seinem Versuch dreierlei Arten des juristischen Denkens zu unterscheiden, die Identifizierung von N o r m , so wie sie das Recht i n toto und nicht nur als soziologische Basis beim Gewohnheitsrecht fundiert, m i t dem N o r malen 2 . Normen, woran der moderne Jurist zuerst denkt, sind aber gewiß die Anmaßungen des Gesetzgebers, die „gegebenen" Richtschnuren, die der Untertan studieren muß, um zu wissen, was jetzt mal wieder befohlen worden ist. Das „hier steht's". Diese gegebenen oder angemaßten Richtschnuren beziehen sich aber ihrem Sinne nach notwendig ebenso auf nicht gegebene und doch seiende, unangemaßte Richtschnuren wie eine faktische Behauptung, daß ein tatsächlich vorgelegter Satz richtig sei auf die „ N o r m " , die aus der Logik entspringend das Kriterium dafür enthält, daß die Behauptung nicht nur tatsächlich nämlich ein Anspruch auf Richtigkeit ist, sondern diesen A n spruch an sich selbst wirklich erfüllt, nämlich richtig gemäß jener logischen „ N o r m " zu sein. Der Positivismus der Rechtswissenschaft liegt also da, wo man i n Tatsachen, deren Charakter als Tatsache gewiß unbestreitbar ist, nämlich i n den realen der soziologischen Gewaltkonstellation entspringenden Richtschnuren den einzigen Rechtsgrund für das Recht sieht. I n allen sogen. „Gegebenheiten" also, die i n W i r k lichkeit ebenso wenig „unmittelbar gegeben" sind, wie es das Gegebene der empiristischen Philosophie von Mach, Cornelius, v. Aster war. Dessen Behauptung wie die Descartessche „cogito ergo . . . " oder die Drieschsche „ich habe bewußt etwas" zu ihrer Rechtfertigung richtige Behauptungen über die ganze Wirklichkeit einschließlich der realen Per2
Eine Arbeit über die Begriffe „normal", „regelmäßig", „statist. Mitte" usw. liegt z. Zt. im Manuskript von G. Legart vor.
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
son dessen, der zu denken oder zu haben vorgibt, voraussetzte! „Recte cogitetur ergo sit", ja das ginge schon, wenn man davon absieht, daß damit die Gegenstandssphäre reduziert, das „Sein" einem richtigen „Schluß" einfach gleichgesetzt wird. Die gegebenen direktiven Gebilde, die tatsächlich als „jetzthierso" erfahrbar sind, sie legen ja, wie eine Behauptung i m Logischen, faktisch auch auf: Pflichten und Rechte, als Converses, vom Sachverhalt oder dem Adressaten aus gesehen. Sie drücken es i n ihren „ A k t e n " aus. Die für die Rechtsphilosophie entscheidende Frage, die „verfluchte Frage" (Dostojewsky) lautet aber, was die einander doch überall widerstreitenden Auflagen in Wollensakten, Wünschen, Hoffnungen; i m Einzelnen selbst, vom Unbewußten zum Bewußten und umgekehrt; unter den Menschen zu einander, von oben nach unten, von unten nach oben; sanktionsmäßig m i t unendlich verschiedenartigen Möglichkeiten, die reale Erfüllung als „ W i r k u n g " kausal zu erreichen, die „verfluchte Frage", was dieser „normative Spuk", von dem die Luft so v o l l ist, den Menschen angehe. Nicht als Faktum wie ein fallender Stein sondern als maßgebliche Verbindlichkeit, als echt Belangvolles, was man wahrzunehmen habe, um nicht „unrichtig" zu sein, nicht unrichtig gegenüber einem dieser Spukgebilde, sondern schlechthin. Es kann ja nur etwas und nicht sein Gegenteil wirklich gesollt sein. H i e r gilt es also wie überall i n der Philosophie einen Schritt zurückzutreten, d. h. logisch die transzendentale Frage nach der Rechtfertigung aufzuwerfen, hier nach der „Bedeutsamkeit" der Anmaßungen und hätten sie auch höchsten Sanktionsmodus: gerichtet auf Vernichtung unserer realen Person. Zurück heißt also, logisch verstanden: eine Position suchen, von wo man die Problemlage „ i n den Griff" ergo Begriff bekäme. V o n der Tatsache selbst aus bekommt man aber nie das i n den Griff, was sie als „simple" bedeutet. Insofern meint das „je mépris un f a i t " etwas Richtiges; aber schon die w i r k liche Frage „lebt" als Faktum, nicht ihrem log. Anspruch nach, von Faits. Das Recht der Rechtswissenschaft „ l e b t " aber nur zum Teil davon, eben dem was seine soziologische Basis ausmacht.
§ 3 Psychologismus, Nominalismus Existentialismus Die „psychologistische" Tendenz ist nun nur eine Untergruppe der „positivistischen". Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft. Wie jede empirische Wissenschaft bedarf sie dazu überpositiver Voraussetzungen, wovon die richtige Bewertung der Fakten und die Vermeidung von Dogmen und Hypertrophien abhängen, die sich i m Rausch über Gefundenes leicht einstellen. Beim Psychologismus w i r d nun i m Unterschied zu dem meist Materialismus genannten Positivismus anstatt der „äußeren" Tatsachen, quae tangi possunt, die „innere" für das allein Wesentliche, das δντως öv angesehen. Man glaubt sich tiefer, indem man in die Tiefe steigt, von der handfesten Tatsache zum mühsam Ergründeten im Menschen, der jene konstatiert. A n Stelle der Rechtfertigung von Sinngebilden, der Frage nach der Richtigkeit von Sätzen t r i t t der Hinweis auf die Vorgänge, die sich irgendwie i n Korrespondenz zu den „äußerlich wahrnehmbaren" der physikalisch-chemischen „ N a t u r " , sei es ihrem Ausdruck i n allgemeinen Gesetzen nach oder i m historischen Verlauf „einmaliger" Begebenheiten, bei Lebewesen „innen" zeigen. N a t o r p hat in seiner Grundlegung zur Psychologie darauf hingewiesen, daß diese psychischen Gebilde von objektiven anderen aus rekonstruiert seien. Tatsache ist, daß es w o h l nichts gibt, das nicht seine psychische Entsprechung haben könnte. M a n braucht nur auf irgend etwas hinzuweisen und schon findet man das psychische „Spiegelbild". Meint man Raum, so taucht die Raumvorstellung und damit die ihrer Genesis auf; das gleiche bei der Zeit, dem Ding, der Gesellschaft, natürlich auch bei religiösen Symbolen wie dem W o r t Gott. So gibt es also auch beim Recht und der Rechtswissenschaft notwendige psychische M o mente und solche, die man hervorrufen kann. Recht gibt es gewiß nicht, wenn es nicht jene vorhin betrachteten Anmaßungen i n Form gegebener Richtschnuren: Gesetze gibt. Diese aber haben ihre psychologische Entstehungsgeschichte. Sie entspringen unbewußten oder bewußten Bedürfnissen, „Zwecken", haben entsprechende Begleiterscheinungen bei ihrem Erlaß, werden von diesem oder jenem vernommen, verstanden, mißverstanden; man reagiert innerlich so oder so darauf, etwa sogleich motorisch automatisch, so daß man auf Befehl stramm steht. Die Rechts-
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Grundbegriffe u n d Gesichtspunkte
Wissenschaft bildet sich nur dadurch, daß über die Verwertung vernommener Richtschnuren der jeweiligen Machthaber nachgedacht wird. I n Urteilsakten also werden Gedanken darüber vorgelegt, wieder mit der inneren Uberzeugung, damit etwas denen zu bieten, die, solche Gedanken verstehend, sie bei ihrer Berufsausübung so verwenden könnten, daß wieder andere sich, bei entsprechender Auffassung der Situation, nach ihnen richten könnten. Das wären i n der Tat alles psychische M o mente, stets freilich auch an sog. physische Realitäten geknüpft. Aber auch willkürliche Fragen sind hier jederzeit möglich: Was stellt sich ζ. B. der H i n z unter Recht vor, was bewegt ihn bei diesem W o r t innerlich? Reagiert er dazu i m Schlaf propulsiv, indem er ζ. B. am liebsten einen Einflußreichen umbringen möchte, oder regressiv, indem er sich vor allen Parteileuten verbergen oder vorsichtig retardierend, abwarten w i l l , ob er nachher H u i oder Pfui rufen soll. Es sind ja immer nur einige Momente am so komplexen Rechtsbegriff, die jeweils perseverieren, ja die auch der Jurist oft nur allein percipiert. Die Begriffe der Rechtswissenschaft bieten überall Anlaß, dem Psychologischen nachzuspüren, nicht nur beim Begriff „Staat" oder „Polizei", „Finanzrecht". Ebenso wie dem Begriff Eigentum entsprechende psychische Vorgänge entsprechen, solche die sich grundsätzlich darauf beziehen: es bejahend oder verneinend, so auch oft welche, die m i t jenen grundsätzlichen Stellungnahmen kollidieren, z . B . beim Anlaß selbst Eigentum zu erwerben. M a n erinnere sich an den köstlichen Widerspruch i n der A r t , wie Heine und Shaw auf Maßnahmen reagierten, wenn diese sie selbst betrafen und ihre offizielle Meinung vom Erbrecht. Unbewußte Tendenzen? Gut, aber gewiß psychische Faktoren! Wieviel psychologische Theorien tauchen auf, u m das „Wesen der juristischen Person", dieser doch eigentlich nur dem Laien unleidlichen aufzuspüren! Die ganze sog. universalistische über die personelle Wirklichkeit menschlicher Verbände beruht auf Analogie i n der Genesis der Vorstellung von der Realität des Einzelmenschen m i t der gewisser sehr manifester Gruppen 1 . Ja, es gäbe gar keine Rechtswissenschaft, wenn es nicht gelänge, bei der jeweilig verschiedenen Begriffs- und Theorienbildung etwa i m Z i v i l - , Straf- oder Wirtschafts-Finanzrecht an natürliche „Vorstellungen" an1
Vgl. unsere Abhandlung „Philosophisches zur Lehre vom Wesen der juristischen Person", Archiv f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie, Bd. 12 (1919). Hier wird der verschiedenartige Charakter der Behauptungen ihren spezifischen Geltungssphären zugewiesen.
Weitere „Ismen"
zuknüpfen, oder sie zuerst einmal herauszulocken, freilich um über sie hinauszugehen.
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dann
Wie also für den Psychologisten i n der Logik etwas Psychisches, nämlich das sog. Evidenzgefühl, eine pièce de resistance bildet, so meint der entsprechende rechtsphilosophische Denker, i m Recht müsse man beim Rechtsgefühl oder den entsprechenden Uberzeugungen, eventuell auch klassensolidarischer A r t , H a l t machen. So stellt sich eine ganze Vogelschar psychischer Phänomene ein: Für Recht Rechtsgefühl; für Richtigkeit Bedürfnis nach Sicherheits- und Gerechtigkeitsgefühl; für Geltung i m Sinne logisch schlüssiger Maßgeblichkeit „Anerkennung" damit alle Grade psychischer Hörigkeit gegenüber autoritativem Gebaren; natürlich auch Anschauungserlebnis oder Evidenz bei juristischen Theorien. V o r allem in den Jahrzehnten, als Nietzsche zu wirken begann und als Bildungsgut galt, war es nicht eigentlich der Ubermensch (gegen dessen Ideal und Incarnationsmöglichkeit sich die Skepsis des Juristen ebenso wie die des Mediziners richtete), sondern das Psychologische, der Spürsinn, hier unheimliche Dinge auch beim Recht zu entdecken, der dann zu den Psychologismen führte. D a wo Werturteile als psychische Fakten — und sie sind schon dem Namen nach nur so etwas — i m philosophischen oder sonst systematischen Rechtfertigungsverfahren auftauchen, um mehr zu bedeuten als anthropologische Tatsachen, als „Menschlichkeiten", haben w i r den Psychologismus noch heute. Besonders als Ausläufer des auf den Wertbegriff aufbauenden sog. Kantianismus der südwestdeutschen Schule: Windelband, Rickert, Lask usw. I m sog. rechtsphilosophischen Relativismus behauptet er noch heute als offenbar plausibelste Rechtsphilosophie das Feld, weil die Verbindung des Phänomens „Werturteil" aus dem psychologischen Bereich m i t der causa sui et omnium rerum i m Richtigkeitsbereich, mit Grundhypothesis oder A x i o m also und m i t Aprioritäten wie Universitas, Individuum, oder so etwas Realem wie der „ K u l t u r " eine der vielen verlockenden falschen Möglichkeiten gibt. M i t dieser Ausgestaltung des Psychologismus, insbesondere m i t der psychologistischen Behauptung von den angeblich antinomisch zueinander stehenden sog. Grundwerten von Sicherheit und Gerechtigkeit haben w i r uns später noch genauer zu beschäftigen. Wenn sie das Recht fundieren sollen, kann davon keine dahin zielende Rechtswissenschaft unberührt sein. Die n o m i n a l i s t i s c h e Tendenz hätte man da, wo die unentbehrliche Rolle der Zeichen, Symbole, N o m i n a auf Kosten dessen, was sie bezeichnen, dessen Ermittlung sie „algorithmisch" oder kalkülartig
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erleichtern sollen, überschätzt wird. Es gibt zwar eine Juristensprache. I n dieser aber außer den termini technici die Worte und Wendungen der „natürlichen Sprache", die auch der Gesetzgeber zu gebrauchen pflegt, soweit er noch nicht in der Lage ist, seine Gebote durch Automaten geltend auszustanzen, und die auch der akademische Jurist verwendet, wenn er juristische Specifica definiert. Die Philosophie unterscheidet seit langem gewußte Wortbedeutung und Begriff. Gerade v. Aster, der Begründer eines neuen Nominalismus, hat diese Unterscheidung immer betont. Gewußte Wortbedeutungen stehen daher auch i n der Rechtswissenschaft überall am Anfang, bilden neben dem i m System bestimmten die große Masse, deren Wesen freilich nach den Grundkategorien des jeweiligen Rechtsgebietes i m funktionellen Zusammenhang m i t allen anderen wesentlich modifiziert wird. „Einen Satz des bürgerlichen Rechts anwenden, heißt alle anwenden", lautete eine berühmte Regel. So gibt es im „ W e l t b i l d des Juristen" (Engisch) zwar Spatzen von der Straße neben seltensten Züchtungsformen an Jagdfalken; aber zur Vogelschar gehören sämtliche. Ja, die mangelnde Präzision, das mannigfach mitklingende bei den Ausdrücken der natürlichen Sprache hat auch das Interesse für echte Rechtswissenschaft bei denen gefördert, die jeweils beim Hören eines Wortes an das ihnen gerade Einfallende und ohne Anstrengung Einleuchtende dachten. I n dieser A r t wurde durch Worte wie „konkrete Ordnung", „Großraum* viel geworben. M i t einem juristischen Begriff, der dem einer komplexen Zahl der Mathematik entspräche, der sich aber gewiß systemlogisch also immanent eines aus Grundbegriffen aufgebauten und doch für den Gebrauch elastischen, zur Einbeziehung „neuer" Problematik offenen Systems entdecken ließe, hätte man nicht solche Erfolge erzielt. Symbole bezeichnen und halten in der Gedankenentwicklung fest, soweit sie der „ N o r m " der Identität entsprechen. Ohne sie, und ohne andere ebenso aus der an sich von Normen freien Logik entwickelte Normen, wäre keine Jurisprudenz denkbar. Aber es gibt Symbole, die nicht nur mehrdeutig sind, sondern gar nicht deutig. Jedenfalls nicht eins oder mehreres sinnvoll meinend, sondern gar nichts. Das W o r t meint nicht einmal nichts. Es dient dafür i m Zusammenhang der Sprache anderen Zwecken als dem Verständnis. Der Jurist, der von den Römern die Vorliebe und Überschätzung des Willensbegriffs übernommen hat (Das Mahayana schätzt dagegen wie unsere Tiefenpsychologie die nicht willensmäßigen Vorgänge: Triebekräfte höher), sieht i n ihm ein willkommenes Wort, um damit Probleme, die seine A r t ge-
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fährden könnten, zu verdecken. Was bedeutet schon „ W i l l e des Gesetzgebers"? Schon ein gewissenhaftes Mitglied einer Gesetzgebungskommission müßte zugeben, daß außer Willen ganz anderes i m Spiele ist; weiß er denn selbst was er will? U n d nun „ W i l l e des Gesetzes", „ W i l l e des Rechts". Wer denkt nicht an das W o r t von Mephisto i m Studierzimmer. Heute scheint sich das W o r t von der „ N a t u r der Sache" als Aushilfe einzustellen. Nominalismus liegt jedoch vor, wo man auch i m Recht selbst, der Erkenntnis, dem Gesetz, der Geltung usw. n u r Worte sieht. Sie verträten keine Sache: Was wäre dann Gegenstand der Rechtsphilosophie und der Rechtswissenschaft? Die Juristen sind keine Philologen. Recht als W o r t nur als Schlüssel zu dem, mal von Menschen Gemeinten oder als Mittel, um Stimmungen vielleicht höchst emotionaler A r t auszulösen, ginge jedenfalls den normalen Untertan ebenso wenig wie den Funktionär etwas an; man dächte denn bei diesem an Propaganda. Logistische Werke, deren wahrer Sinn i n der axiomatischen also prägnantesten Bewältigung des begrifflichen Stoffs vermittelst dazu geprägter jeden I r r t u m ausschließenden Formeln liegt, legen leicht die Meinung nah, als ob m i t diesen höchst wissenschaftlichen, exakten Erfassungs- und Darstellungsweisen die gedankliche Beschreibung oder Erklärung der Sache selbst überflüssig würde. Jeder Logistiker kennt das Reifestadium i m Theoretischen, das er voraussetzen muß, um seine Arbeit beginnen zu können. Nachträglich mag diese Genesis als überflüssig erscheinen. Ohne sie aber wäre die logistische Form auf Sand gebaut. Der Existentialismus umfaßt, wie ehedem der Phänomenalismus, bereits von Anfang an sehr verschiedenartiges 2. Das W o r t ist Mode geworden. Das Problem ist alt. Freilich wußte man früher, daß man, i n religiöser Formulierung nicht m i t dem „Sohn", schon gar nicht m i t dem „Menschen", sondern m i t dem „ V a t e r " beginnen müsse. W i r haben bereits vor zwei Jahrzehnten auf den Begriff des Aktuellen als einen vergessenen Grundbegriff hingewiesen 3 , auf das konkretisiert Direktive, das zwar „ v o n oben" lebend, jedoch „ v o n unten" jedenfalls von dem aus, was w i r pragmatisch unter „uns" verstehen, erfaßbar, angibt, was 2
Es liegt zweifellos Säkularisiertes vor. Aber diese genetische Feststellung bedeutet nichts für den Inhalt. Religion und Philosophie nähren sich ja beide von dem „göttlichen Einen". 3 „Das Aktuelle", 1935, Referat auf dem internationalen Philosophenkongreß in Prag; audi in Dialogform in der Festschrift für Hübner 1935 (From mann y Jena).
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
w i r uns denn aus all dem abstrakten Gerümpel anschaffen sollen. Es könne doch nicht alles sein und jedenfalls nur etwas für uns. I n der heutigen Form erscheint uns der Existentialismus als ein zu früh inkarnierter Sohn. W i r haben es dabei wie auch anderswo gerade i n Soziologie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft m i t säkularisierter religiöser Begriffsbildung zu tun. Gefühle, die sich auf Ähnliches beziehen, worum sich die religiösen Dogmen in ihrem Zusammenhang mit den Begriffen „Schöpfung", „Erbsünde", „Menschensohn", „Erlösung" bemühen, haben zu monstren in loco alieno geführt. Grenzsituation, des Menschen, Angst, Gefühl für den Abyssus usw., sie gehören als Begriffe jeweils i n ihren besonderen Bereich: i n die philosophische A n thropologie, die Lehre vom Kosmos, der „ W e l t " als kontingenter Einheit, dorthin, wo es um die Möglichkeit des Richtigseins geht, die Angst ins Psychologische unter religiösem Aspekt, Situation i n eine von der Religionsphilosophie abhängige teleologische Geschichtsphilosophie, die nach den richtigen res gestae fragt und nicht nach der Möglichkeit einer historischen Monographie. Als Schleiermacher auf das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit verwies, erwies er sich als Katalysator, Auslöser. Ein Gefühl kann aber ebenso wenig eine Grundhypothesis der religiösen Sphäre sein, wie der Begriff „Führer" oder „Volksgemeinschaft" nach Ansicht eines Seminarteilnehmers ein solcher der Rechtsphilosophie. Geistige Lockvögel gibt es freilich verschiedener A r t . Indem man an „seines Nichts durchbohrendes Gefühl" appelliert, begründet man noch nichts, sondern bestätigt nur, was jeder fähige Seelsorger, Missionar, Prediger schon weiß. Gewiß kann man schmunzelnd feststellen, daß sich mancher i m modernen Staat von diesem angerufene Mensch i n einer „Grenzsituation" fühlt. Besser zappelnd i n dem Netz der Anmaßungen, den Maschen mannigfacher, undurchsichtiger A r t . Aber das wäre ein konkretes rechtspsychologisches Problem! Z w a r nicht „existentialistische", aber „aktuelle" Probleme spielen nicht nur wie selbstverständlich bei einzelnen Rechtsfragen eine Rolle, sondern auch bei rechtswissenschaftlicher D i d a k t i k , Systematik und Popularisierung des Rechts. M a n muß etwas von einer Bewußtseinslage wissen, wenn man sie ansprechen w i l l . Es kann nötig sein, daß man jungen Studierenden erst einmal Beweise von Rechtstatsachen i n die H a n d gibt: Wechselformulare, Gendarmerieberichte, Protokolle von Spruchkammersitzungen, bevor man das System der Rechtsdogmatik vor ihnen entfaltet. Es ist vielleicht schwieriger einzusehen, daß auch die Frage der richtigen Systematik unter dem Gesichtspunkt des A k t u -
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eilen steht, unter pragmatischem Gesichtswinkel, ohne daß man dabei zum Relativisten w i r d . M a n braucht nur die angelsächsische Rechtswissenschaft mit der zu vergleichen, die wie die deutsche — um sehr zu simplifizieren — römische I n d u k t i o n und germanische Schau, praktisch systematische Gestaltungskraft und behutsames Beachten und Bewahren sonderlicher Gebilde zu bewältigen hatte. Es ist auch nicht wesensnotwendig, daß das System m i t dem Rechtssubjekt: dem Menschen als der Krone der Schöpfung beginnt. Könnten da nicht auch andere Lebewesen und Dinge entsprechende Primate i n Anspruch nehmen? E t w a Kühe das Recht, gemolken zu werden, Kälber verzehrt und schließlich alle Industrieerzeugnisse, daß sie rücksichtslos konsumiert würden und dazu ungehindert ins Freie gelassen m i t Gestank und Lärm? Daß jedes D i n g einen Anspruch darauf habe, occupiert zu werden, um nicht i n die Gefahr der res nullius zu geraten? Oder gerade umgekehrt, daß, wie es mal K a n t — feministisch — ausdrückte, „sich der Boden verweigerte"? Ansätze von systematischen Darstellungen sind auch „ a d homines", situationsbedingt. So muß bei situationsverantwortlichem Denken das Aktuelle (und nicht das Existentialistische!) seine Ansprüche anmelden.
§ 4 Urteilsakt, logischer und sprachlicher Satz, Gegenstand, Arten von Vorurteilen Wichtige Unterscheidungen sind bei der philosophischen Betrachtung der Rechtswissenschaft unerläßlich. Sie haben natürlich ihre lange Geschichte. M a n kann aber sagen, daß sie erst Husserl und die Phänomenologen auf der einen Seite, Mathematiker wie Rüssel, Mengentheoretiker wie Cantor, Fränkel, Axiomatiker wie H i l b e r t in Auseinandersetzung m i t der sog. Grundlagenkrise auf der anderen Seite ganz klar ins Bewußtsein gebracht haben. Schon Spinoza trennte die Sphären als „ A t t r i b u t e " . Bereits die mittelalterliche Suppositionslehre hätte sich dagegen gewehrt, den Begriff der Begriffe (das Problem des sog. Russeischen Paradoxons: die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthält) einfach so hinzunehmen. Sie unterschied die logischen Gebilde und das, worauf sich ihre Intentio bezieht: den Gegenstand. Sie hätte also auch w o h l die Menge und ihr Element als Verschiedenes festgehalten. H i e r kurz das Wichtigste für unsere Aufgabe: W i r haben einerseits Urteilen als psychischen Vorgang. I h m entsprechend i m psychischen Bereich: Vorstellung und Begriff. Andrerseits deren logischen Gehalt: den Urteilssatz (auch „Gedanke" genannt), den Begriff, den Schluß als etwas, was jenen psychischen M o menten einen objektiven Sinn gibt. Das, worüber man nach den Prinzipien der Logik diskutieren kann. Ferner: das Gegenständliche, den Sachverhalt, der ja durch das psychische Urteilen vermittels des Urteils (im logischen Sinne) getroffen werden soll, so erfaßt, wie es eben dem Wesen jener Gebilde entspricht. M a n kann natürlich m i t dem Urteilssatz eines Urteilenden nicht eine Scheibe wie m i t einer Kugel treffen. Das ist also das Ontische, Seiende, Bestehende, Vorhandene, Wirkliche. M a n darf aber vor allem die Kehrseite dabei nicht vergessen: Arten des Nichtseienden, Werden, Grenze usw. K u r z : in Isolierung, Trennung von anderem, m i t dem es ja verflochten ist, ist derart „gegenständlich" alles, worauf sich richtige Gedanken beziehen können. ' Schließlich denken w i r bei Urteil ja auch an das sprachliche Gewand (und trennen es etwa dabei vom Imperativ). D a sind w i r i n der signi -
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tiven Sphäre. Auch haben w i r bereits von Normativem gesprochen. N i m m t man das Permittive hinzu, so gewinnen w i r den Bereich des Direktiven: der Richtschnur m i t ihren Entfaltungsmöglichkeiten, deren klare Erkenntnis für die philosophische Erfassung der Rechtswissenschaft entscheidend ist. Unsere Aufgabe kann nun, von diesen Unterscheidungen aus gesehen, nur darin bestehen, i m eigenen Denkvollzug, einen anderen, den des Lesers anzuregen, Urteile vorzulegen, in sprachlichen Formen, die des anderen Verständnis ermöglichen und die sich auf das Wesen der Rechtswissenschaft als Gegenstand beziehen. Urteile, die an sich selbst die Richtschnur richten, richtig zu sein, es aber nur sind, wenn sie dem Prinzip der logischen Richtschnur entsprechen. Dabei bewußt, daß es in unsrem Gegenstand: Rechtswissenschaft sowohl Psychisches wie Logisches wie Signitives wie Direktives einschließlich aller möglichen Gegenstandsarten wie Zwecke, Natürliches, Soziales, Kulturelles gibt. Das das Philosophieren hierbei i m Unterschied zum Vorgehen in der Einzelwissenschaft ein der Intentio nach besonders radikales Entwickeln von Gedanken, ein Begründen von Sätzen erstrebt, daß sich von Dogmen i m Sinn von einfach Hingenommenem, „Gegebenem" frei hält, ist einleuchtend. H i e r muß aber natürlich das i m Laufe einer langen philosophischen Entwicklung bereits Errungene übernommen werden. Wie es ja schon oben bei unseren Unterscheidungen geschah. Doch scheint es immer wieder nötig, auf Vorurteile hinzuweisen. Folgende sind für unser Thema wichtig: 1. Eine Untersuchung wie diese steht bereits unter einem teleologischen Vorurteil. Das heißt: die Erfüllung einer Richtschnur, die verpflichtet, w i r d angenommen, wenn das Ziel der Untersuchung erreicht ist. Das w i r d einfach als Datum unterstellt, den Lesern zugemutet. Es w i r d mehr als einen vielleicht nicht grade i m westlichen Sinne gebildeten Menschen geben, der annimmt, man solle anstatt dieses Thema zu erörtern, ganz etwas anderes tun. Wahrscheinlich w i r d der Betreffende das aber auch bei einer tiefschürfenden juristischen Abhandlung über Correalobligationen oder Willenserklärungen annehmen. Gewiß auch ein Jünger aus der urchristlichen Gemeinde. Indem w i r also i m Sinne eines terminus ad quem denken, unterstellen w i r bereits, daß das Unternehmen „angebrachtermaßen", situationsbedingt Sinn habe. Der Herausgeber dieser Sammlung, der Verleger meinen das jedenfalls auch. Jeder, der Jura studiert, unterwirft sich dem Sinn des Unternehmens, wie es heute bei uns möglich ist: bei den so oder so ausgewählten,
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
approbierten Lehrern des Fachs nach einem gewissen Studienplan das i n sich aufzunehmen, w o m i t man sein Examen bestehen kann, um dann als Funktionär der Gesellschaft juristisch tätig zu sein. Es sind ganz bestimmte Haltungen, Gedankengänge, ist fest geprägter und entsprechend gelehrter sowie reproduzierter, servierter Stoff. Vielleicht unter dem Gesichtspunkt des Aktuellen grade in der Gegenwart i n vielem überflüssig, daher belastend, gefährlich, weil er von anderem wichtigerem ablenkt. Gefährlich ist ja w o h l alles einfache Übernehmen von Urteilen, die unter dem Gesichtspunkt eines situationsverantwortlichen Denkens vermeidbar sind. Die Geschichte der letzten Zeit hat genug derartige Vorurteile vorgelegt. Die K r i t i k an den „ I d o l e n " übersieht aber oft, daß es auch unvermeidliche, insofern nützliche Vorurteile aus pragmatischen Gründen geben muß. Ζ . B. um i m Sinne einer gestellten A u f gabe weiter zu kommen. Hypothesen, Annahmen gehören hierher. Ein Vorurteil ist ja auch nicht immer unrichtig. Es ist dann richtige Meinung, Doxa, so wie sie Plato verstand. Freilich ohne Einsicht i n die Rechtfertigungsweise! Nach solchen Vorurteilen, worunter jedes Unternehmen, also auch ein wissenschaftliches, steht, kommen w i r zu einem, das die A r t der logischen Entfaltung betrifft. 2. Grade bei den strengsten Wissenschaften finden w i r am Eingang Postulate, Axiome, Grundsätze u. dergl. Es sind Thesen, aus denen Konsequenzen gezogen werden sollen. Wie der Inhalt jener entwickelt wird, ob allein oder nur m i t anderen zusammen, ob nur als „Etwasse", an verschiedene Symbole geknüpft, stehe dahin. Es handelt sich um Prinzipien, ohne die eine isolierte Aufgabe auf vielen Gebieten, insbesondere denen, die w i r als exakt bezeichnen, nicht gelöst werden kann. W i r werden sehen, daß es so etwas „Akademisches" als bisher übersehenen Gegenstand einer Grundlagenforschung auch bei der Rechtswissenschaft gibt. Auch hier w i r d natürlich die Erfüllung einer verpflichtenden Richtschnur unterstellt: die z. B. von Hegel bestrittene A r t des Vorgehens als sinnvoll. 3. Viele Vorurteile hat der Mensch „mitbekommen". Sie sind ihm so selbstverständlich wie die Weise, beim Essen den M u n d aufzumachen. Volkstum, Familie, Stand, Gesellschaftsform, kulturelle Auffassungen. Sie sind unübersehbar; immer wieder werden neue Wissenschaften neue Dependenzen dieser A r t entdecken. Wenn es nach C. G. Jung sogar Archetypen gibt, die dem Menschen i m Schlaf vorkommen, wieviel verständlicher ist es, anzunehmen, daß er sich auch bei seinem Denken
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in geprägtem Feld mit seinen Absteckungen bewegt. Als ein Stück Wirklichkeit aus Wirklichem trägt der Mensch alles aus seinen Herkünften an sich, wenn diese Ergründung auch besonderen Scharf- und Tiefsinn verlangt. So gibt es i m Bereich seiner Gedanken Absteckungen zum Beginn und am Ende; die Perspektiven, die als wirklich mit der Realität eines Menschen gegeben sind, haben audi ihren jeweiligen Ausdruck in seinen Urteilen und den entsprechenden Urteilssätzen. Freilich dürfen diese Perspektiven nicht Inhalt von Postulaten sein, wie es „weltanschaulicher" Terror verlangt. Aber „Selbstverständlichkeiten" werden stets einem späteren kritischeren Beurteiler, einem Geisteswissenschafter, Historiker, nicht als der Sache nach selbstverständlich vorkommen, nicht als „Selbstverständnis des Geistes" selbst, sondern „verständlich" nur als Realprodukt aus Ursachen, als gewirktes Wirkliches und damit durchaus nicht „vernünftig". Dadurch allein jedenfalls nicht: Tatsächlichkeit und Richtigkeit sind ihm Verschiedenerlei. Aus den unendlichen Zusammenhängen, worin sich auch der Geist befindet, sogleich im Sinne eine gewissen Skepsis auf Unrichtigkeit schließen zu wollen, hieße ein Urteil über die Bedingtheiten der Genesis zu einem Criterium veritatis machen. Einsichten in die Genesis verschaffen einen gewissen Spürsinn, sie warnen, wo sie der Genesis Gemäßes antreffen, davor, diese Geneigtheit zu unterschätzen, müssen aber die sachliche Prüfung des Produkts auf Grund der ihm gemäßen Kategorien dahingestellt sein lassen. Es war der Psychologismus, der annahm, m i t der Erkenntnis der Bedingungen, unter denen sich eine Realität ergab, sei sie wie durch den Blick der Medusa vernichtet. Der Psychologismus nahm an, daß ein Urteil wertlos würde, wenn man die Umstände nur recht erfaßt hätte, woraus der den Urteilssatz vorlegende Urteilsvorgang als solcher verständlich wird. M a n sollte wohl eine real angebotene These zunächst stets auszudenken versuchen: als Hypothese also verwerten. Man sollte sich dabei bereits zu Beginn den Sinn der These klar machen, die Bedingtheit ihres begrifflichen Inhalts, das was jeder Begriff an anderen Begriffen fordert, damit er selbst bestimmt wird. So gelangt man zu Correlati vem, Nebengeordnetem, zu der „dialektischen Situation" eines von der These angeregten breiteren Ausgangs, so wie sie einst N . H a r t mann als Moment der systematischen Methode vorschwebte 1 . D a hätten w i r also Vorurteile als heuristisches Mittel, als Arbeitshypothesen. Niemand w i r d glauben, daß Rechtsüberzeugungen, ausgedrückt in den 1
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Logos, Bd. I I I .
Emge
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Grundsätzen: „consenti non fit injuria" oder „ u l t r a posse nemo obligator" plötzlich vom H i m m e l geflogen wären. Die Erhellung ihres Sinns aber ergibt sogleich eine Fülle anderer begrifflicher Möglichkeiten. Das Gegenteil ist gewiß nicht widerspruchsvoll: Auch einem Consentierenden kann man Unrecht tun, so wenn sein Consens i n diesem Fall nichtig ist, wenn das, was er genehmigt, gar nicht i n seiner Macht steht. Bei der zweiten These: Was bedeutet hier das Können? Soll nicht grade der in einem Augenblick nicht Vermögende eben weil er nicht w i l l , genötigt werden! So führen derartige Thesen in ihren Konsequenzen und nach ihren Zusammenhängen i m Begrifflichen ausgedacht, schließlich zu Erweiterungen „nach rückwärts", ins Prinzipiellere, erweisen sich als ungenügende Hypothesen, i m Zusammenhang m i t anderen sogar oft als widerspruchsvoll. D a m i t Urteile i n eine systematische T o p i k hineingeraten können, müssen sie zuvor aber da sein. Dazu bedarf es also des schöpferischen Akts, freilich mit seinem „Erdenrest". 4. D a die Gedankenentwicklung, m i t der w i r es eben zu tun hatten, ja nur i n faktischen Denkakten möglich ist, besteht engste Beziehung zu den Vorurteilen, die w i r „instrumentale Vorurteile" nennen wollen. Nach der bekannten Geschichte w o h l von Meyrink kommt der Tausendfüßler nicht mehr voran, sobald er sich darauf besinnen muß, m i t welchem Fuß er zunächst voranstreben soll. Das Leben wäre undenkbar, selbst beim Erwachsenen, wenn er sich alles bewußt machen müßte. Das Satthipathana des Buddhismus m i t seinen besonderen Zielen der „besonnenen Bewußtheit" lassen w i r hier beiseite. Auch seine Meditaticnsobjekte sind an die Sprache gebundene, pragmatisch vereinfachte Vorgänge. So wenn i d i sage: Werde dir bewußt, daß du den A r m hebst; Aber was da vorgeht, was sich da psychisch, physiologisch, physisch, chemisch usw. vollzieht, das kann er nicht denken wollen. „Was er webt, das weiß kein Weber". N u r der Zivilisationseuropäer glaubt das besser zu wissen. Erst die Tiefenpsychologie hat uns wieder gelehrt, wie problematisch, mannigfach gerändert, schwer bestimmbar das ist, was man „Bewußtes" nennt. Gar „Erkenntnis" setzte als „Idee" Vorgänge voraus, die unvollziehbar sind. Ich erkenne erst dann etwas, wenn es mir gelänge, i m Erlebniszusammenhang Urteilssätze, die sich auf etwas beziehen, das zuvor die Sprache benannt hat und das durch sie assoziativ umschrieben ist, auf ihre Richtigkeit (auch regionsgemäße) hin, ihren Voraussetzungen und logischen Kriterien nach, i n ihrem ganzen Begründungszusammenhang zu prüfen und nach solchem logisch richtigen Vorgehen entsprechend faktisch zu richten! Von solchen régula-
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tiven Prinzipien aus gibt es doch nur Grade der Vorurteile i m instrumentalen Sinne. So lassen sich ganz bewußt Bezirke abgrenzen, worauf man gegenüber anderen „beschränkt" weiter denkt. Diese Beschränkung ermöglicht den Meister i n jeder Einzelwissenschaft. Er hypertrophiert nur dann zu einem Arroganten, wenn er das von ihm gewünschte „e vinculis sermocinari" vergißt, wenn er nicht mehr daran denkt, daß er ja die Themen präzisiert, das Feld abgesteckt hat, ein Vorgang, der alles anderen bedarf, das es auch noch gibt, grade damit sein Verfahren überhaupt Sinn hat. W i r sehen bei der Betrachtung der instrumentalen Vorurteile, daß jener Ausspruch Francis Bacons den positiven Juristen nicht zu bedrücken braucht. Jeder Einzelwissenschafter muß sich derartige Fesseln anlegen, sozusagen zusätzliche zu den logischen, auf die er sowieso eingeschworen sein muß. Daß es freilich bei unserem Juristen auch Fesseln gibt, woran er später nicht mehr gern denkt, die er einfach in den M ü l l der Geschichte werfen muß, ist eine Frage, die uns später noch besonders beschäftigen w i r d . Ja, man könnte sogar ein Moment des Klassischen i n jener Beschränkung durch instrumentale Vorurteile sehen. Eine Empfindung, die der Verfasser hatte, als der Mathematiker Aloritz Pasch, der Entdecker der Axiome des „Zwischen" m i t ihm einmal sein Manuskript über den Ursprung des Zahlbegriffs durchsprach. Es fing damit an, daß es hieß: „ M a n kann Dinge angeben". A u f unsere Bemerkung, daß damit nun bereits wie bei Descartes die ganze Welt, der darin stehende Mensch, die Dinge, das Verhalten des Menschen zu diesen Dingen, das man „Angeben" nennen kann, vorausgesetzt sei, erwiderte Pasch: „Das kann so sein, aber sich damit zu beschäftigen, ist nicht meine Sache." Eben durch diese Einschränkung der Aufgabe, i n die Begriffe, anderswoher und i n anderen Bereichen klärbar, eingeführt wurden, durch „instrumentale Vorurteile" also, konnte Pasch seine mathematischen Entdeckungen machen. Dieses Klassische, worauf sich die Jurisprudenz und die Tätigkeit des Juristen bezieht, mag von jener Beschränkung auf begrifflich Eingeschränktes kommen. So wie w i r ja auch diesen Stil bei rechtsphilosophischen Systemen empfinden, etwa bei denen Stammlers, Nelsons, Kelsens. Jedoch muß die dadurch anscheinend erzielte Strenge nicht den Blick auf die Fülle verdunkeln, auf den in seinem letzten Zeitschriftenaufsatz über die Krisis der Wissenschaften Husserl — w o h l i n philosophisch tragischer Verfassung — hinwies. 5. Es gibt ein Gebiet, wo dem sachlichen Bestand nach „unvollendbar" aus Vorurteilen „gedacht" wird. Das ist; das der Empirie. N u r unter Erfahrungsbedingungen läßt sich Erfahrenes angeben; jene stehen 3*
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immer wieder unter anderen. Es ist der schon lang erkannte unendliche Regreß, das antike B i l d von der Schildkröte, die immer wieder auf einer Schildkröte sitzt. So fort ins „schlecht Unendliche" (Hegel). Diese Wesensart der Empirie zeigt auch, daß es i m Falle anderer planetarischer Lebewesen m i t vermutlich ganz andersartigen Sinnesorganen, anderen Erfahrungsbedingungen nur vermittels „mathematischer" Zeichen, die apriorische, also rationale und nicht empirische Wesenheiten ausdrückten, möglich wäre, sich m i t ihnen zu verständigen. Dabei bleiben die empirischen Urteile: „Unter diesen Erfahrungsbedingungen ergibt sich (nach statistischer Wahrscheinlichkeit) das, d. h. wenn nicht bisher unbekannte, nicht einbegriffene Voraussetzungen für anderes eintreten", gültig! Werden nicht relativiert, so wie es ein Skeptiker möchte. D a es hier i n der Empirie mehr als anderswo um Fertigwerden geht, darf man vielleicht von pragmatischen Vorurteilen sprechen. Solche zu unendlichen Regressen führenden Tatsachenbehauptungen machen nun das eigentlich Stoffliche in der Rechtswissenschaft aus. Es war das, woran J. H . v. Kirchmann dachte, als er seinen Zweifel am Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz wagte. Der Sturm der Entrüstung, den er dadurch auslöste, ist für uns heute auch als wissenssoziologisches Symptom interessant, als Reaktion für die Bedrohung von etwas, worauf man besonders Wert legte. I m sog. bürgerlichen Zeitalter auf das wissenschaftliche Gepräge; dabei gab es gegenüber dem Professor doch noch den General! Eine auf das Solide und dauerhafte gerichtete Wissenschaft, die noch nicht gewohnt war, ihre Fundamente so rasch zu ändern wie heute — denken w i r an die physikalische Begriffsbildung — , mochte sich also betroffen fühlen, wenn man auf Momente i n ihrem Gegenstand hinwies, die wie der Inhalt von Gesetzen sehr variabel waren. Gewiß ein Stoff, der von heute auf morgen schneller zu verändern ist, als der damals noch nicht so erweiterungsfähig vorgestellte der Naturwissenschaft. Aber mußte das sog. Wissenschaftliche wirklich an der Rechtswissenschaft als das erscheinen, worauf es ankam? Haben die Juristen nicht demgegenüber besondere Funktionen? Nahmen nicht audi die Kollegen einer damals überall i m Rang voranschreitenden Fakultät: die Theologen, offiziell etwas ganz anderes wichtiger? Es gibt doch nicht nur wissenschaftliche Richtigkeit! Also empirischer Stoff, zur Wahrnehmung aus irgendwelchen toten Gründen fließend, oder als Ausstoß in maximaler Penetranz sehr lebendiger auf Änderungen bedachter Urheber unterscheidet sich als „kontingent" voneinander nicht. Wegen dieser Eigenschaft, bloß erfahrbar, „ d a " zu sein,
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eignet er sich also auch nicht dazu, um m i t anderen Weltallbewohnern zur Verständigung zu kommen. M a n könnte einem Marsbewohner nicht vermittels positiv juristischer Dinge plausibel machen, daß man dorthin berufen werden möchte. Weder das Lastenausgleichsrecht eignete sich dazu, noch das Pensionsrecht der Abgeordneten. Auch nicht das Recht zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Aber bei Verstößen tauchen ja gerade die Prinzipien des Strafrechts auf: welche die Verhängung eines M a l u m von vorherigen Fakten abhängig machen und damit auf Wesensmomente hinweisen, die nicht mehr kontingenter Stoff sind! So könnte w o h l ein Marsbewohner die konkrete Idealkonkurrenz von Unrechtsprinzipien nicht begreifen, auch nicht die Bewußtseinslage, den Grad der Weisheit, aus dem sie entsprangen, aber die Strafrechtsprinzipien, unabhängig von rein situationsbedingten Wesensmomenten. Also nicht über die Formen der Testamentserrichtung, jedoch über gute und schlechte Kundgabe von Richtschnuren als Erscheinung könnte man sich vermittels Zeichen einigen oder über die vielfachen Beziehungsformen eines Subjekts oder mehrerer oder einer Gesamtheit zu einem Gegenstand, über Herstellung, Veränderung, Beendigung solcher Beziehungsformen, über „Übertragung", in juristischer Terminologie. Also über das gewaltige Gebiet möglicher Herrschafts- und Obligationenrechte, ihre juristisch denkbare Geschichte: Beginn, Existenz, Veränderung, Beendigung, sowie der Subjekte und aller Arten ihrer Verflochtenheit selbst. Z w a r wäre das keine Rechtssprache, sondern — logisch gesehen — eine ursprünglichere in allerdings für die Jurisprudenz unentbehrlichen Symbolen für Aprioritäten. — I n der Rechtswissenschaft w i r d man alle Arten unserer Vorurteile antreffen: Die A n nahme von Prinzipien i m Stoff, als solche von Zielsetzungen i m Unternehmen als solchem, die Bedingtheiten durch die Genesis vor allem i m Soziologischen, das bewußte oder unbewußte M i t w i r k e n und schließlich als wesensmäßige Abhängigkeit des empirischen Stoffs.
§ 5 Das Apriorische und das Empirische Das Letztere zeigte uns den verschiedenen Charakter von zwei M o menten i m Gegenstand, den darauf gerichteten Urteilen und schließlich im Recht, so wie es dann als Resultat der Urteilsakte in ihren Stellungnahmen zum Gegenstand und im sie et non zu anderen Stellungnahmen „ i n gedruckten Büchern" vorliegt, die man juristische Literatur nennt. Es scheint uns diese Unterscheidung als die von Apriorischem und Empirischem das Wichtigste zu sein, das eine Philosophie der Rechtswissenschaft einem wirklich wissenschaftlich eingestellten Adepten einprägen muß, gerade damit er i n seinen Bemühungen von der Hybris des „dat Justinianus honores" ebenso bewahrt bleibt wie von dem damals von Kirchmann ausgelösten Minderwertigkeitsgefühl, nur Laborant i n einer Versuchsstation zu sein, w o r i n es um die Erprobung von schnell verbrauchbarem Ersatzstoff geht. N u r so kann er ahnen, was i n der Rechtswissenschaft an Momenten steckt, deren Erfassung sie m i t denen der exakten Wissenschaften vergleichbar macht, an Elementen des Ephemeren, aber auch an Gehalt, erfahrend und Erfahrungen „aufhebend", grade i n der Synthese beider jeweils richtig und insofern für die geistige Arbeit unentbehrlich. I n dem Gegenstand der Rechtswissenschaft und daher i n ihr selbst, in den juristischen Thesen, Urteilssätzen, i m juristischen Denken steckt also notwendig zweierlei. H i e r haben w i r zu dessen Erfassung die Unterscheidung darzulegen: Sie unterscheiden sich voneinander primär durch die A r t , wie ihre „logische" Rechtsfertigung erfolgen muß. Die eine A r t nennen w i r rational, die andere A r t empirisch. Die Gebilde: Urteilssätze, Begriffe der einen apriorisch, die der anderen empirisch (auch aposteriorisch). Das, was sie gegenständlich nieinen, bei der einen „wesenhaft", bei der anderen „kontingent", „zufällig", „empirisch". — Es ist nun wichtig, daß es keine Garantien richtig zu sein, mehr für die eine als für die andere gibt. Das menschliche Bemühen, gerichtet auf die eine A r t , ist das gleiche in stets nur erfahrbaren, der Psychologie des Wissenschaftsbetriebs oder der D i d a k t i k interessanten Urteilsakten. Diese sind niemals rational i m Sinne des Gegenstandes, sondern als Realitäten wie alle anderen Realitäten, die w i r oben erwähnten, geworden, verursacht, bedingt. Beide Urteilsarten
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können also richtig oder falsch sein. Das Wesentliche ist aber, daß es diese beiden Arten überall gibt, nicht nur „rein" etwa in der Mathematik oder in einem von uns immer wieder betonten Bereich soziologischer A r t , sondern daß sie die Erfahrungssphäre durchwachsen, sie — wie man philosophisch sagt — konstituieren, „ermöglichen" und dazu noch innerhalb ihrer „angewandt" werden. M a n weiß, daß das Wort von Leibniz: dum calculai deus, fit mundus etwas sehr wichtiges bezeichnet. Es war ja die Zeit, wo sich die Mathematik und N a t u r wissenschaft plötzlich enorm entwickelten. M a n sah, daß die sog. Beherrschung der N a t u r , das prévoir, um Instrumente zur Bewältigung erfinden zu können, an das Ergebnis von wissenschaftlichen Bemühungen geknüpft waren, die den Praktikern als solche reiner Toren vorkommen mußten. Ein rein geistiges Interesse für Kombinationen, Verknüpfungen ausgedachter Gebilde, die allerdings gewissen logischen Grundsätzen genügen mußten, erwies sich, nachdem Ergebnisse davon glücklicherweise bereit standen, als M i t t e l zur Erklärung dessen, wozu man Erfahrungen nötig hatte. So entstand die Einsicht i n den Satz, daß die N a t u r i n mathematischen Ziffern geschrieben sei. Heute zweifelt niemand an der Notwendigkeit der Grundlagenforschung, aber man darf nur nicht glauben, wozu das W o r t verführt, daß man bereits vom „Vorhaben" etwas haben müsse, einen Stoff schon in gewisser Bearbeitung, aber vielleicht nicht weiter käme und nun um solidere Grundlagen in der Theorie bäte. Grundlagenforschung weiß i n ihren A n fängen gar nicht, wozu sie mal die Grundlagen bietet. Es ist ein geistiger Gegenstand, m i t dem sich der Mensch als homo ludens i m tiefsten Sinne beschäftigt, der dann dem homo faber so nützlich wird. Heute zweifelt niemand daran, daß man vieles von den „Aprioritäten" der Mathematik erlernt haben muß, um als Techniker in höherem Sinne bestehen zu können. Dabei darf man sich die Aprioritäten nicht so vorstellen, als ob sie ihre logische Rechtfertigung einer Abstraktion vom Gegebenen verdankten. Natürlich gibt es auch Abstraktionen mancherlei A r t als Verfahrensweisen, bei denen man zunächst dogmatisch von etwas ausgeht, das man schon erfaßt zu haben glaubt. Dieses Abstraktionsverfahren, die logische Struktur eines psychischen V o r gangs beschreibend, interessiert aber hier nicht. Worum es bei der U n terscheidung von Apriorischem und Empirischem geht, bezieht sich auf die Rechtfertigung vorgelegter Urteilssätze aus Voraussetzungen, bezieht sich auf logische Bedingtheit. Wenn sie als Realitäten auch stets in empirischen Urteilsakten erworben und in empirischer Form: in
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Symbolen der Sprache oder Schrift vorgelegt werden. Wenn w i r uns i n unsrem Zimmer umsehen, so zeigt sich jede Feststellung darüber, selbst i m banalen Milieu von Aprioritäten mannigfach bedingt. W i r sehen darin ζ. B. einen Stuhl, Tisch, darauf zwei Äpfel. Philosophisch pflegt man zunächst zu sagen, daß alles „unter den Kategorien von Raum und Zeit" stünde. N u r i m Traum seien diese Kategorien aufgehoben1. I n Wirklichkeit hat man sich wohl noch nie die Mühe gemacht, genau nach dem „logischen M i n i m u m " der Traumerlebnisse zu fragen. Auch hier gibt es Dingliches, geht was vor, gibt es Eins und anderes, Einen und andere usw. Aber wesentlich scheint uns zu sein, daß die für die Gedankenbewegung aus der nicht normativen Logik (aufgebaut auf die an Symbol und dadurch Vertretenes geknüpfte Identität) entnommene „ N o r m " : die Symbolbedeutung durchzuhalten, im Traum nicht befolgt w i r d . M a n läßt sich eben gehen und nötigt sich nicht. I m normalen, wachen Leben finden w i r die Dinge geordnet in Raum und Zeit, ihnen zugeordnet auch uns und die Nomina. D a m i t w i r aber „wüßten", in Urteilssätzen „erfaßten", was da an Wirklichkeit vorliegt, müßten unendlich viele Urteilssätze zuvor als richtig gesichert sein. Außer Raum und Zeit, so oder so verstanden (die vielfältigen Möglichkeiten lehrt jede Philosophie der Mathematik oder N a t u r : Weyl, Carnap, M . Hartmann, Dingler, um nur einige zu nennen) muß es aber doch Sein, Nichtsein, Grenze, Beginn, Ende, Etwas, Anderes, Ding, Eigenschaft, Beziehungen usw. geben. Bei all diesen Wesenheiten, deren ersten systematischen Erfassungsversuch w i r i n Hegels Logik haben, handelt es sich nur um Aprioritäten. Daß es das alles „ g i b t " , nicht als erfahrbar, sondern Erfahrungen ermöglichend, wirft sozusagen die Logik als Ontisches aus. Anders ist auch nicht sein Sinn. Die Behauptung, das alles sei abstrakt, gehört gar nicht hierher. Es gibt ein Verfahren, worin man das Einzelding als vollkommen bestimmt annimmt und dann Bestimmungen daraus weglassend, allmählich „nach oben" gelangt. Aber gewiß hat der Neanderthaler weder jene Aprioritäten als Bedingungen gekannt noch abstrahiert, so wie man es hier meint. Es wäre so, als ob man die Behauptung, es gäbe eine Richtschnur, als Widerlegung einer Behauptung: es gäbe einen Kreis, auffassen wollte. Sie haben gar nichts mit einander zu tun. Aber m i t der begrifflichen Erfassung hat es zu tun einzusehen, daß unzählige richtige Behauptungen möglich sein müßten, damit wie jene Situation i m Z i m 3
Werner Kemper, Der Traum und seine Deutung, 1955, S. 156 f.
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mer nicht pragmatisch, sondern i n richtigen Urteilssätzen, ihrer begründenden Dignität nach, dem logischen Gewicht gemäß bestimmt, besäßen, eben so wie es Wesen also auch Grenze des Gedankens zuläßt. Gehen w i r der Situation weiter nach, um schließlich das Juristische darin zu entdecken. D a muß es darin „ U n s " geben; also ein Ding, Lebewesen, ein besonderes, das w i r Mensch nennen und das Ich als „ I n d i v i d u u m " , dazu, natürlich auch2 die Situation, eben die, von der w i r sprechen. D a m i t tauchen neue Aprioritäten auf: Situation selbst, Lebewesen, Mensch, Individuum. Als eine Frucht gehört auch der Apfel hierher. Aber er ist gewiß Erfahrunggegenstand. N u r innerhalb gewisser Erfahrungsgrenzen lassen sich Äpfelbäume als wirklich erweisen. Aber da haben w i r auch „ w i r k l i c h " gegenüber „apriorischem", ein bestimmt Erfahrbares als solches. Natürlich wieder eine A p r i o r i t ä t ! Aprioritäten fordern ja als Gegenbegriff, ohne die sie gar nicht bestimmbar wären, Aposterioritäten! — Stuhl, Tisch: Sie sind als Möbel Werkzeuge, setzen also einen Zweck voraus. Zweck! W i r fühlen schon, muß eine Apriorität sein. Die Richtigkeitslehre 3 erweist es. Es gibt Zweck als Ausdruck bloß angemaßter Richtschnuren (Zwecksetzungen) und als Ausdruck maßgeblicher also „richtigen Zweck"! Noch immer aber sind w i r nicht i m Juristischen. Es soll jedoch „unser Zimmer" sein. Stuhl, Tisch, Äpfel, sie werden uns oder anderen gehören, vielleicht auch geborgt sein. N u n zunächst finden w i r das Zahlenmäßige, was vorhin bei Raum und Zeit als Gegenstände der Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft auftauchte, in einer besonderen Weise vor. M a n spricht dabei von „angewandten Aprioritäten". „ E i n " Zimmer, „ein" Tisch, „ e i n " Stuhl, „ z w e i " Äpfel. H i e r tauchen also die Zahlen in einem begrenzten Erfahrungsbereich, zur quantitativen Bestimmung von „Etwassen" auf, die man als selbständig gleichfalls vorher pragmatisch nominiert hat. Die ganze Zahlenlehre ist somit actualisiert, wenn wir's auf's Wissen anlegen wollten. Aber das Zimmer an der Ackerwand, der Stuhl aus Mahagoni, worauf noch die Stein saß, der Tisch, woran A l m a spielte? Das sind natürlich Merkmale nur erfahrbarer Momente. N u n haben w i r schon allerlei soziologische Relationen aufleuchten lassen. „Unser"? Ein Sitzen auf etwas, also zeitweise „besitzen", ein Spielen m i t etwas, also zeitweise „gebrauchen", „ver2
Baron Bruno Freytag-Loringboff, zuerst Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. X X X I I / 2 , S. 170 ff. 3 Unsere Abhandlung dieses Titels in der Pr. Akademie der Wissenschaften 1942.
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Grundbegriffe u n d Gesichtspunkte
brauchen"? Alles das wäre — um ein empirisches Beispiel zu bringen — auch bei Robinson und Freytag denkbar. Es handelt sich aber um A n wendung typisch soziologischer Aprioritäten, die m i t Recht noch gar nichts zu tun haben, zunächst also in ihr eigenes Reich gehören, worin es nur apriorische Machthaber mit ihren Möglichkeiten und Realisierungsarten gibt. Aber schließlich ist es doch unser Zimmer i n jener einzigen Stadt damals und es gehört der Tisch und Stuhl nicht uns, leider nur das Obst. D a haben w i r also eine Situation, die eine juristische ist. Ein Mietverhältnis, das sich auf Räume bezieht, die anderen gehören, auch auf entsprechendes Mobiliar; ein H a n d k a u f hatte verbrauchbare Gegenstände in unsren Besitz gebracht. H i e r ist also ein Zustand des positiven Rechts vorausgesetzt, so wie es damals bestand. Die Rechtslage ist einfach festzustellen. Aber schon heute wäre sie dort vielleicht ganz anders. Die Räume und Gegenstände wären nicht an Private vermietbar. Die Ä p f e l dürfte man w o h l essen. I n gewissen Ländern hätten w i r zu alldem kein Recht. So wie mancher ja auch bei uns eine Zeit lang nicht einmal ein Recht auf einen Bettelsack besaß. Das sind Probleme des positiven „Rechts", jedenfalls als solche gehandhabter Bestimmungen. Gottlob „mobile"! Dieses Positive benötigt nun, wie jetzt klar geworden sein wird, aller jener anderen nichtpositiven Wesenheiten, damit es seinen Sinn bekommt. V o n den ganz allgemeinen ontischen Wesenheiten: dem Etwas, Anfang, Ende usw. über das Quantitative, Qualitative, über Richtschnur, Mensch als Richtender und Richtbarer, empirisches Ding, Beziehung vom Menschen zum Ding, zum anderen Menschen, Befolgung und Erlaß von Richtschnuren, Maßgeblichkeit oder Befolgung von solchen usw. W i r sehen: was müßte alles an Voraussetzungssätzen legitimiert sein, damit jene Situation dann begrifflich aufgehellt wäre! Aprioritäten, „unter denen" das Empirische steht! Darum handelt es sich stets bei einer konkreten Rechtssituation und bei der dogmatischen Rechtswissenschaft, welche die Erfassung der Situation ja ermöglichen soll. M a n könnte nun meinen: Apriorität wäre nur das Allgemeinere, Empirisches das konkretere. So liegt es natürlich nicht. Jedes mathematische Lehrbuch zeigt, wie man auch diese Wesenheiten immer weiter spezifizieren kann. Es gibt immer wieder neue, Sätze, wenn man ζ. B. i n der Geometrie neue Graden zieht und danach Fragen stellt. Dagegen ist der Vogel als Grundbegriff der Ornithologie ein allgemeiner Erfahrungsbegriff gegenüber dem Bussart, der eben über mein Thal schwebt, ist jener der des Frankfurters gegenüber dem Friedrich Stolzes. Diese Generalisierungs-
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bzw. Spezifizierungsfragen, — nach „unten" ins Bedingtere hinein, soweit es i n Urteilssätzen geschieht, unvollendbar — führen schließlich zu logischen Stellen, w o man halt machen muß. Es ist ebenfalls eine Richtigkeitsfrage, nur situationsgemäß lösbar, wann man aufhören soll, immer nodi immanent Besseres zu verlangen. Das logisch Bessere suchen, kann situationsgemäß falsch sein. Die Frage nach dem H a l t ist nur pragmatisch aber damit durchaus nicht willkürlich zu lösen. So können w i r , um uns nochmals i n jene Situation an der Ackerwand zu versetzen, jetzt sagen: Es gäbe wie beim Tausenfüßler keinen Schritt, wenn er pragmatisch seine Schritte zählen müßte, und wenn er gar logisch gesicherte Urteile darüber nötig hätte! Essen läßt sich nur eßbares; sitzen kann nur auf etwas was dazu geeignet ist; um die Dinge so zu erfassen, daß w i r so wie w i r es wünschen, damit auskommen, dazu gehören gewiß all die Legitimierungsverfahren nicht. N u r Mathematiker bemühen sich um richtige Urteile über die Raumarten; w i r bewegen uns jedoch wie diese getrost in einem derselben. So hat jede Wissenschaft Absteckungen nötig und w i r betrachteten ja schon einzelne davon bei den Vorurteilen. Grade die Wissenschaft muß meisterhaft abzustecken verstehen. Wenn also die Jurisprudenz Begriffe bildet, braucht sie eine unübersehbare Fülle von Apriorischem und Empirischem dazu. Aber es hängt jeweils von der Problemlage, also einer Situation ab, wieweit man Voraussetzungen klären muß. H i e und da muß man dabei schon sehr i n die Tiefe gehen. Grade wenn Kategorienverwechslungen auftreten, so wie i m Streit um das Wesen der juristischen Person, muß man Schichten und Problemlagen aufdecken, die erst dadurch aktuell wurden, daß man — sagen w i r ruhig — juristisch unsachlich wurde, philosophierte, ins Psychologistische geriet usw. Das, was ins Bewußtsein des Philosophen gelangen soll, ist dabei das ganz andere als das für's Bewußtsein des Rechtswissenschafters. Ja, der Philosoph muß grade die verwirrend komplizierten Sachverhalte aufdecken. Es kommt aber auf die Frage der „Wendigkeit" an, ob sie auch als solche den positiven Juristen beschäftigen sollen. So fordert jeder Beruf seine eigene geistige Diätetik. Der Unterschied zwischen Rationalem und Empirischem ist also grade unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftlichkeit von besonderer Bedeutung. Charakterisiert er doch die A r t der Rechtfertigung, des Logon didónai. Daß man den Unterschied auch in den ontischen Entsprechungen sieht, worauf sich jeweils die Urteile beziehen, ist verständlich. So wie man aber C 2 H 5 H O nicht als Wein bezeichnen darf,
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sondern als eine chemische Formel, die innerhalb der Wissenschaft Chemie nach vereinbartem Sprachgebrauch A l k o h o l meint, so ist auch Recht je nachdem in besonderen Symbolreihen nur Ausdruck für eine verständliche Stelle innerhalb eines speziellen Coordinatensystems. Als einmal, vor dem ersten Weltkrieg, auf den kleinen erkenntnistheoretischen Diskussionsabenden in Oberursel bei Frankfurt der Philosoph Hans Cornelius stolperte, meinte einer aus dem kleinen Kreis — es war vielleicht Wolfg. Köhler, Fritz Wertheimer, Koffka oder Cohnstamm — , Cornelius sei w o h l eben über einen „gesetzmäßigen Zusammenhang" gestolpert. Cornelius faßte nämlich die Aufgabe der Begriffsbildung entsprechend auf. So darf man auch unsere begrifflichen Unterscheidungen nicht hypostasieren. Gegenüber den logisch-erkenntnistheoretisch wichtigen Unterscheidungen schafft auch die Rechtswissenschaft als faktisches Unternehmen sui generis wieder eigentümliche. W i r können den Unterschied der beiden Urteilsarten nach ihrer Legitimationsweise jetzt hier nicht weiter verfolgen, indem w i r ausführten, wie denn die Begründungen der rationalen, apriorischen erfolgen müsse. Darüber herrscht Streit: es stehen sich auch, wie i n der Mathematik, in der Philosophie „Intuitionisten", „Logicisten", gegenüber. Daß w i r uns zu diesen rechnen, haben w i r i n der Einführung i n die Rechtsphilosophie 4 dargelegt. Bereits K a n t wußte, daß es mehr Aprioritäten als nur im Mathematischen gibt. Seine „philosophische Rechtslehre" in der Metaphysik der Sitten zeugt von seiner Bemühung darum. Wenn man z. B. i m heutigen Recht Betrug als „Vermögensbeschädigung durch Täuschung i n Bereicherungsabsicht" bezeichnet, so w i r d man sämtliche hierbei gebrauchten Begriffe schon als Aprioritäten bei K a n t finden. Als strafrechtliche N o r m bei uns ist sie natürlich empirisch; aber der Begriffsinhalt deshalb doch nicht. Der Begriff des Vermögens w i r d bei K a n t ebenso wie der des Geldes in der Rechtslehre als apriorisch aufgefaßt. Anschließend an Adam Smith (der allerdings ja noch die empirischen Begriffe Fleiß und Völker einbezieht), heißt es, die „Erklärung führt den empirischen Begrift des Geldes dadurch auf den intellektuellen (unseren apriorischen) hinaus, daß sie nur auf die Form der wechselseitigen Leistungen i m belästigten Vertrage sieht (und von dieser ihrer Materie abstrahiert) und so auf den Rechtsbegriff i n der Umsetzung des Mein und Dein überhaupt an die obige Tafel einer dogmatischen Einteilung a priori, mithin der 4
Sammlung „die Universität", 1955, Kap. I.
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Metaphysik des Rechts als eines Systems angemessen vorzustellen* 5 . „Schädigung" und „Bereicherungsabsicht" in unserer Bestimmung von Betrug bedeuten eine einander entsprechende quantitative Vermehrung und Verminderung, beides in der Sphäre des „ M e i n " und „ D e i n " (so wie sich K a n t ausdrückt). Absicht ist eine A r t faktischer Richtschnur, zunächst i m Subjekt an sich selbst gerichtet (angemaßte Autonomie). Täuschung aber bezieht sich auf das Verhältnis dieser Absicht zu der Kundgabe, also der Erscheinung einer Richtschnur; wieder eine A p r i o r i tät! So hätten w i r es bei dem Inhalt unserer Betrugsbestimmung mit lauter Aprioritäten schon i m Sinne Kants in seiner kritischen Periode zu tun. Anders würde das sofort, wenn w i r eine Konkretisierung etwa so vornähmen, daß w i r von H i n gabe nicht mehr zirkulierender Golddukaten und von Geschäften auf der Frankfurter Messe sprächen. M a n sieht es aber einer Bestimmung nicht auf den ersten Blick an, sondern muß die Analyse der Begriffe versuchen. Wobei ein Vergleich mit der Methode Kants reizvoll ist, wenn er auch überall die Richtschnuren der positiven Moral seines Kreises und seiner Zeit, also zunächst rein soziologische A n maßungen, mit Verpflichtendem identifiziert. Erst Reinach hat wieder, von der Phänomenologie aus, unsere direktiven Begriffe auf den Unterschied von apriorisch und empirisch hin untersucht und sogleich den kühnen Versuch einer Entfaltung solcher Wesenheiten gewagt 6 . Uber alles Einzelne w i r d man streiten können. Der Aprioristiker ist denselben Irrtumsmöglichkeiten unterworfen wie der Empiriker. Es kommt hier nur auf das Grundsätzliche an. M a n muß an Schillers „armen empirischen Teufel" denken, der „ach, schon apriori so dumm" ist. Neben diesem Unterschied von apriorisch und empirisch aber taucht der Gegensatz von A p r i o r i und Aposteriori in ganz anderen Bedeutungen auf, und zwar auch in solchen, wo die Verwechslung der Fragestellung heute wie ehemals, ja bei K a n t selbst verhängnisvoll ist. Ebenso wie man den Gegensatz von Subjekt und Objekt in ganz verschiedener Hinsicht hat: etwa als Logos i m Sinne von tragendem Substrat (Systemidee!) der Urteilssätze gegenüber ihrem Gegenstand, oder als das Psychische gegenüber jenen Sätzen und dem Ontischem, oder als den ganzen Menschen gegenüber Nichtmenschhaftem, oder als den 5
Rechtslehre I.Teil, 2. Hauptst., 3. Abschnitt., §31. Die aprior. Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Jahrb. f. Phänomenologie und philosophische Forschung, Bd. I. 6
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sozialen Geist einer Zeit gegenüber seinen Objekten und Bezüglichkeiten, oder als Rechtssubjekt gegenüber dem Gegenstand des Rechts usw. Wie man dann bei alldem auf der Subjektseite und auf der Objektseite nach etwas sucht, was als Subjekt- oder Objektmoment der rote Faden wäre, der jede Seite gegenüber der anderen zusammenhielte und durchzöge 7 . Ergebnis wäre dann nur zweierlei — man denke i n einem Staat zwei Parteien, w o der Unterschied etwa nur darin bestünde, nicht die andere zu sein, also nur ihr kontradiktorischer Gegensatz! W i r haben also entsprechendes beim Apriori. Es handelt sich dabei durchaus nicht um Widerspruchsvolles, Falsches. Es ist nur eine Problemlage, die m i t der obigen: erkenntnistheoretisch-logisch bedingten jedenfalls unmittelbar nichts zu tun hat. Zunächst hatte man ja am Ausgang die logische Voraussetzung gegenüber dem Voraussetzenden. Grade von hier aus gelangte man schließlich zu den Aprioritäten i m Sinne obiger Wesenheiten. D a war also die Erfahrung als Gegenbegriff da. Stammler gelangte i n seiner Rechtsphilosophie niemals über den Gedanken einer einfachen Voraussetzung hinaus. Die rationale Begründung seines Grundbegriffs sah er nirgends als Aufgabe. M i t der Erfahrung aber war man schnell bei dem, der erfährt und so rutschte die Problematik rasch ins Genetische. Cornelius und v. Aster haben sich bewußt nur die Frage gestèllt, wie es zu Begriffen, Urteilen käme, wenn man „Erfahrungen", „Gegebenheiten" in einem Bewußtsein verarbeitete. Es ging ihnen also um das Entwickeln der Begriffe i m Verlauf der Zeit beim Menschen. Die Frage ist hier: wie kann der Mensch Erfahrungen machen und sie festhalten, so daß er Gesetze gewinnt, worauf sich Erwartungen stützen lassen. Die statistische Wahrscheinlichkeit, auf die man heute so stolz ist, war damals von ihnen schon längst erkannt. M a n kann aber diese Frage auch beim Lebewesen in toto stellen, indem man das Gesamtwirkliche ins Auge faßt, also nicht nur das Psychische, sondern auch das, was physisch dazugehört, den ganzen K e r l hic et nunc, natürlich auch sozial mannigfach geprägt und entwickelt. So kam man schließlich zu der Behauptung, was für die Entwicklung der Lebewesen — phylogenetisch — ein Aposteriori sei, wäre für eins der Glieder dieser Kette ein Apriori. Weiter suchend ließen sich gewiß entsprechende Aprioris in kulturellen Bereichen, bei 7
Es gibt im Künstlerischen eine Analogie; z. B. läßt Trakl in der Nachfolge Maliarmes oft jeweils eine Seite aus verschiedenen Wortbedeutungen anklingen, die sich im Gedicht doch auf die anderen beziehen.
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Völkern, Rassen usw., vorfinden. Ein darauf Pochen könnte dabei schnell gefährlich werden. Ja, jedes K o l l e k t i v hat Strukturelemente, die ein A p r i o r i gegenüber dem darstellen, was es erfährt und aufzufangen sucht. So gibt es ein soziologisches A p r i o r i des Städters, des Landmanns, natürlich auch des Juristen, darunter wieder des Historikers oder Dogmatikers, Praktikers oder Dozenten, dann wieder des Anklägers oder Verteidigers, des Wirtschaftsjuristen, Kriminalisten usw. Wie weit sind w i r jetzt, doch nur von der empirischen Frage nach der Genesis der Vorstellungen, Urteile usw. i m psychologischen Sinne ausgehend, i n Gebiete geraten, wo es eigentlich nur noch um das mehr oder weniger typische geht, so wie beim Volksgeist. Wichtig: der Begriff des A p r i o r i wie er i n der Rechtswissenschaft konstituierend und regulierend, das Gebiet überall i m Subjektiven und Objektiven durdidringend, eine Rolle spielen muß, hat m i t jenen Fragestellungen, wobei es sich um ein „Vorher" und „Nachher" handelt — daher kam natürlich einmal die Gegenüberstellung von apriori und aposteriori — nichts zu tun. M a n hat schon immer Mühe gehabt, hier die verschiedenen Arten von „ G r u n d " zu unterscheiden. K a n t trennte das „Uranfängliche" auch i n seiner Rechtslehre vom „Ursprünglichen". Cohen erfand sogar einen besonderen methodologischen Begriff des „Ursprungs", um die transzendentale Fragestellung „rein" zu erhalten. Auch der berühmte Gedanke Kants, daß das, was stets m i t der Erfahrung „anhebe", doch nicht „ v o n ihr stamme", zeigt, wie schwierig es sein muß, den reinen Rechtfertigungsgedanken bei unserem A p r i o r i i m Auge zu behalten. Obgleich doch jeder Jurist gelernt hat, seine Voten zu begründen, die Rechtsbegriffe zu entwickeln, kurz bereits in jener logischen Systematik drinnen steht.
§ 6 Grundsätzliche direktive Entscheidungen: Logonomes, Autonomes, Heteronomes, Autologes, Heterologes. Nachdenken, Philosophieren, Wissenschaft M a n kann gewiß nicht sagen, daß das angeblich die Wirtsdiaft beherrschende Prinzip, das ökonomische, das um die Jahrhundertwende in den Empirismus geriet, alles Lebendige beherrsche. Grade auf die „Verschwendung" des Lebens haben viele, zuerst w o h l Schopenhauer, hingewiesen. Traum und Phantasie, Spiel und Kunst füllen große Teile des Lebens aus. Aber zielbewußtes Denken lenkt präzis. So gesehen, ist das Systematische nichts anders als ein Ausdruck für sinnvolle Prägnanz der Bedeutungszusammenhänge: Das Mittel, Urteilssätze zu rechtfertigen, ist notwendig Knappheit. Die alte Logik hat das bereits bei der Definition und dem Schluß erörtert. Insofern also der Sinn des Logischen „Ökonomie" fordert, muß die sog. „transcendentale" Methode stets die erste sein, die vom „Stoff": den vorgelegten Urteilssätzen aus, zu den sie sichernden „ A x i o m e n " strebt. Erst so läßt sich der „reife" Zustand erhoffen, worauf dann die „ A x i o m a t i k " i m üblichen mathematischen Sinne ihre eigene darstellerische Aufgabe in Angriff nehmen kann. „Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen Methode (und damit unmittelbar der Mathematik)". Dieses W o r t Hilberts 1 zeigt somit Tendenzen des Gedankens auf, wenn er sich nur auf seine eigene Bestimmung besinnt. Das faktische Denken als realer Vorgang untersteht freilich situationsbedingt einer noch radikaleren Richtigkeitsproblematik. Daher auch der juristische Gedanke i m Ganzen rechtswissenschaftlicher Bestrebungen einer bestimmten Zeit. Das transcendental axiomatische: auf kürzeste Rechtfertigung aus einem M i n i m u m heraus bedacht, hat jedoch i m Psychologischen das ökonomische zum Muster. Für rein wissenschaftliche Zwecke sind also die knappen Aufsätze, w o r i n der Mathematiker und Naturwissenschaftler seine Ergebnisse mitteilt, vorbildlich. Ja, i m alten Göttingen pflegten, wie man uns erzählte, die Mathematiker aus aller Welt selbst nur i n Andeutungen skizzenhaft das Wesentliche ihrer 1
Hilbert, Aromatisches Denken, 1917.
Grundsätzliche direktive Unterscheidungen
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Entdeckungen an der Tafel mitzuteilen. So groß war der wissenschaftliche „ K o n t a k t " . Z u m Charakter der Rechtswissenschaft, wie w i r sie kennen, aber gehört, ebenso wie zu dem der Philosophie, anderes. Wenn man derartige axiomatische Tendenzen verspüren läßt, stößt man ab. Die Evidenz, wohin jede Darstellung zielt, ist schließlich ein Bewußtseinsphänomen und als solches individuell — vor allem aber sozialpsychologisch bedingt. Das „ A h a " und „Soso" zu erreichen, verlangt aber verschieden große Strecken. Es gibt dafür keine Rechtsgründe sondern nur Ursachen. Freilich gehört für den, der logischen Gründen zugänglich ist, die Einsicht i n die logische Rechtfertigung m i t zu diesen Ursachen. Daß es aber überall „Sprünge", irrationales Erfassen gibt, war auch die mündlich geäußerte Überzeugung des schon zitierten Axiomatikers Pasch, als es um die „Dichte" ging. Wenn w i r uns nun heute schon auf einem bewußt herausgelösten Teilabschnitt der „juristischen L o g i k " jener axiomatischen Tendenzen erfreuen dürfen 2 , so kann das hier i n unserem Versuch einer „Philosophie der Rechtswissenschaft" natürlich noch nicht geschehen. Unvermeidlich ist aber, daß w i r an einem Gedankenmodell, unter dem Gesichtspunkt transcendental-axiomatischer Ansichten, i n folgendem ein Schema bringen, dessen Momente für die ganze direktive Sphäre, wozu ja das Recht gehört, entscheidend sind. Es stellt i n gewisser Hinsicht eine weitere Ausgestaltung unserer „ersten Gedanken zu einer Richtigkeitslehre" dar 3 , deren Ausläufer ja dann alle besonderen Richtigkeitslehren sein müssen. „Wertlehre 4 * klänge mehr zeitgemäß, aber ermutigte gradezu zu den Vorurteilen, die w i r endlich zu überwinden suchen, wie bereits unser jetzt zu betrachtendes Gedankenmodell erkennen läßt: Logische (reine)
Richtschnuren .·
loQonom
Norm ohne Auttor (Prinzip des Richtigen, wirklich Moßgeblic/jen, Belongvollen)
faktische autonom Ergebnis: autolog 2 3
4
Richtschnuren hetervnom heterolog
Ulrich Klug, Juristische Logik, 2. Aufl., Springer 1958. Abh. Pr. Akademie der Wissenschaften 1942.
Emge
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
auto nom: Auetor ist wesentlich. Adressat nicht z. B. nicht beim Wunsch. Sie kann reflexiv sein: dann ist der Auetor, als wirkliches Subjekt verstanden, zugleich auch der „Adressat", z. B. beim ernsthaften Vorsatz, Willensentschluß. oder aliorelativ:
dann ist der Auetor
ein anderer
als der
„Adressat", hetero nom: Auetor ist ein anderer. Das Heteronome drückt das Konverse
der aliorelativen auto-
nomen N o r m aus: die „Auflage" vom „Adressaten" aus gesehen. Gemischte Richtschnuren: auto/og, hetero log: (edite „Verbindlichkeit") auto log: als Ergebnis der Anwendung des Logonomen auf das Autonome: die „Richtigkeit" der Normsetzung, hetero log: als Ergebnis der Anwendung des Logonomen aus das Heteronome: die „Richtigkeit" der Befolgung der „Auflage". Unter dem Gesichtspunkt unseres sich nur auf die Rechtfertigungsart, den justus titulus beziehenden Unterschieds von Apriorischem und Empirischem ergibt sich nämlich folgende Topik für Richtschnuren, wobei w i r zunächst Sollen und Dürfen einheitlich als Richtschnuren behandeln. W i r haben anderswo dargelegt, daß es falsch ist, in dem, w o r i n eine N o r m unbestimmt ist — und das ist sie stets auch —, sogleich eine Erlaubnis zu sehen. Begrifflich bedarf neben dem Sollen auch das Dürfen der Ableitung, grade damit dann der begründete Begriff des Dürfens i n jenen unbestimmten Bereich der N o r m nach eigener direktiver Rechtfertigung einrücken könne 4 . W i r haben auch bei beidem, beim Sollen wie beim Dürfen, beide Momente unseres Schemas sowohl das „faktische": die Anmaßung (auch eine Erlaubniserteilung maßt sich an. Der Räuberhauptmann, der seiner Bande allerlei gestattet, wenn sie ihm hilft!) als auch das maßgebliche: etwas w i r d „wirklich gesollt" und „ w i r k l i c h gedurft", d. h. das Realisieren durch Wahrnehmung der Richtschnur ist dann richtig. A n der Spitze hätten w i r das L o g o n o m e . M a n kann hier auch, einer alten aber noch gebräuchlichen Terminologie folgend, von r e i n e r Richtschnur sprechen. Sie ist eine Apriorität, bedarf also zu ihrem Dasein keiner Realität, die sie i n A k t e n i n Anspruch nimmt (faktischer Richtschnur). Sie hat natürlich auch kein reales Subjekt, wenn man nicht an einen überrealen Gott als „Prinzip des Richtigen" 4
Unsere Einführung i. d. Rechtsphilosophie, S. 120.
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Grundsätzliche direktive Unterscheidungen
eben des Könnens (allmächtig), des Wollens oder Seins (allgütig), oder des Denkens (veritas ipsa), oder an Logos denken w i l l . Das Logonome ist radikal kategorial zu denken, als das eine Prinzip. Daher kann es wie Gott i m Monotheismus oder der sog. höchste Wert nur eins sein. Es muß aber seiner logischen Funktion nach die Möglichkeit enthalten, alles Richtbare i m funktionellen Zusammenhang der Kontingenz zu bestimmen, je nach der Konkretisierungsstufe
und an seiner Stelle
innerhalb der — i m Unterschied zu den „schlechten Unendlichkeiten" i n den Abhängigkeitsreihen i m Empirischen bei ursächlicher Betrachtung — als Ganzheit aufzufassenden W e l t . Nehmen w i r als Inhalt des Logonomen: „Richtschnuren haben den Sinn zu richten, solche, die es nicht tun, sind notwendig unrichtig". Also soll es nur solche geben, die diesen Anspruch erheben können, daher einander nicht widersprechen, weder i n einem Individuum, noch verteilt auf mehrere, weder gesehen i n der Gegenwart noch i n der Vergangenheit oder der Zukunft allein. Ein derartiger Inhalt der logonomen Richtschnur würde sie als Prinzip des Richtigen inhaltlich sehr der Kantschen Idee vom Reich der Zwecke annähern, obgleich sich bekanntlich bei K a n t die Zersplitterung des Götterhimmels, die i n der Nachfolge von Grotius durch die Propagierung selbständiger die Welt und Situationen sprengender isolierter Richtigkeitsprinzipien eintrat, jedenfalls noch insofern bemerkbar macht, als zweifellos er selbst die faktischen Anmaßungen der Gruppe, w o r i n er sich befand, sogleich als verpflichtend und nicht erst als heteronom ansah. Das Logonome würde sich also, als Prinzip aller direktiven
Begriffe
in
„Nachfolgern"
entfalten.
Innerhalb
der
Wirklichkeit, worin w i r dann faktische Richtschnuren selbst setzen, an uns selbst (Gewissen, Vorsatz, Willensakt) oder solche von anderen empfangen. Soziologisch gesehen von über uns, neben uns empfangen, konstituierend i m Prinzipiat. So verhält sich die Entfaltung des reinen Direktiven zum realen Direktiven wie etwa die des Prinzips „ R a u m " zu unserer dinglichen Sphäre. Es würde also jede Situation nach dem Aktuellen hin bestimmbar. Das Direktive ginge insofern: die Welt „belegend"
(Analogia
entis! mundus cum tempore!), genauer: den Einheitsbegriff erst schaffend und die Situation nach ihrem Sinn hin, für den Einzelnen pragmatisch nach dem wirklich möglichen hin richtbar machend, ins Konkrete ein. Der nächste Schritt wäre gewiesen und als richtiger möglich. Wie aber das Mathematische auch nach unseren obigen Ausführungen 4*
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
als „angewandt" in der Erfahrungssphäre vorkommt, so auch hier das der Wurzel nach logonome. Richtschnur bezieht sich begrifflich auf Richtbares. Es gibt kein A p r i o r i an sich, sondern der Begriff, nur logisch-erkenntnistheoretischer Erwägung entstammend, fordert den des Empirischen. So ist die faktische Richtschnur als Richtungen anmaßend und selbst des Richtigen bedürftig, der Gegenbegriff des Logonomen. H i e r bei der faktischen Richtschnur haben w i r es i n der Wirklichkeit grade wie bei einer Behauptung m i t Realitäten zu tun. Sie können richtig oder falsch sein, unterliegen der Frage nach dem „jetzt hierso" und nach dem Auetor, der ebenfalls real sein muß und kein Logos. Isoliert gesehen, sind sie Anmaßungen, ihrem logischen Gehalt nach Behauptungen. Darüber i m Einzelnen unser Buch „über den philosophischen Gehalt der religiösen Dogmatik", w o r i n der direktiven Begriffsentfaltung an H a n d des I n halts und der Geschichte der Dogmen weiter nachgegangen w i r d (Reinhardt-München 1929). D a alle Realitäten „unter den Raumzeitlichen Kategorien" stehen, ist auch die Mehrheit, das Zahlenmäßige i m Teleologischen, i m Bereich der Richtschnurentfaltung überall anzutreffen. A n sich verdiente keine Kategorie den Vorzug. Unter dem Gesichtspunkt der Geschichte von Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie und der m i t dieser ursprünglich konform gehenden „praktischen" Philosophie überhaupt ergibt sich bei unserem schematischen Versuch der Vorrang der Zahl. Wenn w i r zunächst von der Mehrheit von Richtschnuren bei einem I n d i v i duum absehen, die schon bei ihm allein i n mannigfache Beziehungen treten können — man denke an den „Widerspruch" schon i m Vordergründlichen, abgesehen von den Beziehungen zu den sog. Tiefenschichten — haben w i r faktische Richtschnuren nun bei verschiedenen, also der Zahl unterstehenden Auetoren. W i r müssen hier nun den Begriff der direkten und konversen Richtung i m allgemein ontischen Sinne voraussetzen, auch den der Strecke, des Punktes darauf, kurz alle Begriffe, die das ergeben, was man „innen" und „außen" nennt. Denken w i r uns also einfach die Richtschnuren auf z w e i Personen als Auktoren verteilt, so finden w i r nun folgendes: Solche Richtschnuren können als faktische, also als Anmaßungen ihr Richtbares haben, auch wenn es sich nur um eine einzige Person handelt. H i e r richtet sich „innerlich" die faktische Richtschnur an das reale Wesen selbst, das sie erläßt. Der komplizierte Begriff des Individuums ist hier vorausgesetzt. Aber man versteht bereits, daß bei jedem Vorsatz, bei jeder
Grundsätzliche direktive Unterscheidungen
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Maxime, bei jeden Willensakt primär die Richtschnur ihren Adressaten i m realen Subjekt selbst findet. Ich nehme mir ja vor, mich irgendwie zu benehmen, gebe m i r eine Bestimmung, die ich zu befolgen mir auferlege, ja i m Willen befehle ich mir und realisiere dann i n mir, so daß das ganze Ich weiteres anderswo auslöst. Solche Richtschnur, deren Maßgeblichkeit also ganz dahinsteht, nannten w i r in Anschluß an einen philosophischen Sprachgebrauch, der aber — individualistisch prinzipiert — i n solchem „Ausgang" bereits ein normatives Privileg sieht, „ a u t o n o m " . Diese Privilegierung des „Ausgangs" könnte einem Theologen wie ein säkularisierter „Ausgang des spiritus sanctus" vorkommen, der ja i n jenen höheren Bereichen bereits einmal eine noch heute fortdauernde Spaltung der Geister hervorgerufen hat. Aber eine faktische Richtschnur ist nun einmal, systemlogisch gesehen, nicht mehr als das, gleichgültig ob sie von einem an sich selbst oder von einem an einen anderen gerichtet ist. Freilich — und das ist ein ganz anderes Problem — i m Pragmatischen, bei der Frage, wo man denn bei seiner Stellungnahme halt zu machen habe, rückt das Evidenzgefühl, etwas Psychisches, i n die „Psychologie der Uberzeugungen" gehöriges, i n den Vordergrund, i m Praktischen also das sog. Gewissen. Ebenso kann man ja auch nur von einem Standpunkt also dem Beurteilenden aus, bei allem Willen zu Richtigen zur Objektivität schließlich Stellung nehmen, feststellen. — Nehmen w i r nun, der Quantitätskategorie unterworfen, zu dem einen I n d i v i d u u m — hier ist sie bereits angewandt! — ein zweites hinzu, damit i n die „Reihe" eintretend, so haben w i r jetzt (neben den autonomen des zweiten wie beim ersten an sich selbst) die Richtschnur, die von diesem zweiten als A u k t o r ausgehend, sich an uns als einen anderen wendet und ihm auferlegt, als faktisch angemaßte damit durchaus noch nicht maßgebliche Richtschnur. Die Reihe läßt sich nun fortsetzen, Möglichkeiten an Verträglichkeit und Unverträglichkeit: in dem was solche Richtschnuren auferlegen, lassen sich ins Unendliche entwickeln. Es genügt aber für unser Schema, was ja nur begrifflichen in letzter Linie axiomatischen Absichten dient, daß w i r hier stehen bleiben. Die Richtschnur vom zweiten an den ersten nennt man üblicher Weise „ h e t e r o n o m " . Eine aus Ressentiment gegen die erste (das Autonome!) entspringende umgekehrte Bewertung: grade die fremde Direktive normativ zu privilegieren gab es grundsätzlich bisher nicht. Gewisse Ideen vom unbedingten, ja Kadavergehorsam, jeweils einer besonderen Begründungssphäre zugehörig, mögen immerhin als Anschauung dienen. Auch ist es gut, hier schon an
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
die Untertänigkeit gegenüber der Obrigkeit zu denken, die ja nur eine besondere A r t der „Anderen" bedeutet, von wo Richtschnuren ausgehen. Die Idee einer Rechtfertigung eines durch gewisse andere Richtschnuren sanktionierten heteronomen Verhältnisses taucht bereits bei der Bewertung der sog. Sicherheit, dem Begriff der Souveränität und dergleichen auf! A n dieser Stelle jedoch interessiert nur die Gleichwertigkeit, die sich in Hinsicht auf die kategoriale Situation ergibt. Autonome und heteronome Richtschnuren haben gleiche Dignität, sind zunächst eben nur Faktisches, nichts mehr. Uber beiden — und das ist das Entscheidende — steht das Prinzip dessen, was sie beide benötigen, wenn ihr Anspruch als Richtschnur Sinn haben soll. W i r sehen gar keinen Unterschied i n dieser Hinsicht zu der Situation, worin Einer eine Behauptung aufstellt und ein anderer dagegen eine andere. Der Auktor, die Tatsache, daß sie von mir oder einem anderen behauptet wird, ist für die Frage nach der Richtigkeit gleichgültig. Entscheidend kann dafür nur die Legitimierung durch etwas über ihnen stehendes sein: etwa das Principium veritatis. Für das Verständnis des Gegenstands der Rechtsphilosophie und also auch des Wesens der Jurisprudenz ist es unentbehrlich, jenes Schema als Unterlage zu haben. Autonome und heteronome Richtschnuren sind als Faktizitäten zunächst bloß
An-
maßungen, mehr nicht. D a m i t sie das „mehr", das sie beide in A n spruch nehmen, auch erreichen, d. h. maßgebend für den Adressaten werden, bedarf es eines Rechtfertigungsgrunds. W i r wissen schon, daß dieser nur aus dem Logonomen kommen kann, dem, was „unangemaßt, unabhängig von faktischer Behauptung" gilt. Das Ergebnis, worauf es in der Rechtswissenschaft ankommen muß, ist, daß aus dem bei ihr immer vorhandenen Heteronomen etwas wirklich Angehendes wird. Dieses Ergebnis, rein logisch verstanden, als Resultat eines richtigen Schlusses! Dieses in Anspruch genommene, als verpflichtendes Resultat, nennen w i r nun bei dem Heteronomen heterolog.
Weil sein höchster
Titulus, woraus es ja allein die Maßgeblichkeit bezieht, ja das Logonome ist. Entsprechend hätten
wir
für
diejenigen,
die
sich
Heterologen gemäß verhalten sollen, also diese Gemäßheit sollen, das Autologe .
dem
wollen
Hetero log und auto log bezeichnen also nichts
anderes als das, was aus dem Prinzip des Logonomen
beim Bestehen
einer Situation, w o r i n es Heteronomes und Autonomes
gibt, als ent-
sprechende Maßgeblichkeit
dieser Anmaßung folgt.
Vielleicht
dient
dem Verständnis am besten die religiös dogmatische Begriffswelt. Ohne
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Grundsätzliche direktive Unterscheidungen
Gott kann es keine wirkliche Pflicht, kein wirkliches Recht geben, sondern nur Anmaßungen i m Säkularen, die nicht anzugeben vermögen, woher ihr Sinn stammt, ihre Legitimation, wie sie also beweisen könnten, durch ihren Vollzug zu verpflichten. Erst wenn die Situation, woraus diese Ansprüche kommen, eine zu Gott stehende ist, also „ W e l t " i m dogmatischen Sinne als geschaffen cum tempore (Augustin) kann man feststellen, was bloße Anmaßung bleibt oder was mehr ist. Bei diesem theologischen Beispiel w i r d auch klar, welche Rolle der Situationsbegriff spielen muß, von dem unser Schema der Richtschnuren vorerst absehen mußte. Auch diese Begriffe sind ja zunächst apriorische, die i n der Realität der Situation ihre Konsumption finden.
Wieder
theologisch formuliert: Der Sohn als „Nachfolger" muß sich „incarniert" haben, in die Wirklichkeit eingegangen sein, damit der wirkliche Mensch seine Belange gegenüber den realen Anmaßungen sowohl erfassen wie wahrnehmen kann. Wie eine Uberbetonung des Autonomen gegenüber dem Heteronomen, oder umgekehrt dieses gegenüber jenem zu Wertverschiebungen innerhalb der Wirklichkeit
führt,
so daß man die eigenen Richt-
schnuren den fremden oder umgekehrt überordnet — sei es auch nur unterhalb einer Autologen i n der Rolle der M i t t e l — , so führt entsprechend auch eine Uberbetonung des Logonomen gegenüber den faktischen Richtschnuren zu Verzerrungen. M a n kann sagen, daß dann die Situation herabgesetzt werde, die Welt entwertet. W i r finden das in den Theorien, wo man entweder glaubt das Logonome, also höchste direktive Prinzip, ohne irgendwelche begriffliche Vermittlungen, unmittelbar auf etwas, was man für wirklich hält, anwenden zu können, also etwa auf die Aufgaben eines Einzelwesens oder irgendwelcher Gesamtheiten, wobei man Aprioritäten wertet, oder indem man sogar isolierte logonome Prinzipien (einen Polytheismus!) ausdenkt. So wie es in der ungewollten Nachfolge von Grotius für die verschiedenen Bereiche geschah. M a n hat also an den logisdien Verhältnissen unseres Schemas festzuhalten, darf aber nicht vergessen, daß seine Glieder nur Momente an der historischen Situation darstellen, worin sich auch der Jurist stets mit Vorstellungen von solchen vorfindet. D a m i t stünde man vor der Aufgabe, Philosophieren
als eine beson-
dere A r t des Nachdenkens zu bestimmen, somit auch die rein geistige Seite des juristischen oder rechtsphilosophischen Denkens natürlich auch des von jenem rechtswissenschaftlichen vorgelegten objektiven Begriffs-
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
und Satzgefüges, wie es als „objektiver Geist" der Rechtswissenschaft in Büchern erscheint. Nachdenken, gleichgültig, ob es sich dabei um „natürliches", oder „wissenschaftliches", als „juristisches" Nachdenken handelt, ist eine Bewegung, die sich i m Subjekt i m Ablauf psychischer Urteilsakte vollzieht, um einen oder mehrere vorgelegte Urteilssätze auf ihre Legitimation, Richtigkeit hin zu prüfen. Es ist also seinem Wesen nach kein dogmatisches, sondern ein freies, unruhiges Benehmen, in dessem Verlauf verschiedene Urteilssätze einander ablösen. Das Ziel der Gedankenbewegung ist schließlich eine Entscheidung über die Richtigkeit des Urteilssatzes oder der Sätze, wovon man ausging. Der Vorgang ist logisch-teleologisch bedingt, insofern nur die Richtschnur der Logik die Entscheidung bestimmen soll, aber über etwas, das man i n Frageform vorlegt. Es ist offenbar, daß solcher Vorgang einer realen Gedankenentwicklung wie alles wirkliche selbst richtig oder falsch sein kann. Richtig wäre es, wenn es in höchster Präzision, i n ökonomischer Weise ohne Umwege von als sicher Geltendem jenes Ziel erreichte. Wohlgemerkt: das Nachdenken wäre als Verfahren richtig, nicht schon das Ergebnis, denn das verlangte ja, daß das beim einfachen Nachdenken (also nicht Philosophieren) als sicher geltende, insofern dogmatisch zu Grunde gelegte, auch wirklich richtig wäre! Philosophieren wäre demgegenüber etwas Engeres: Ein Nachdenken, wobei zu dem Ziel, dem entscheidenden Urteilssatz über die Richtigkeit des vorgelegten Urteilssatzes noch ein zweites und sehr wichtiges, ungewohntes hinzukäme, nämlich die Aufgabe, das Verfahren so radikal wie es sinnvoll möglich ist, zu gestalten. Dabei das Verfahren des Nachdenkens selbst einbeziehend, um so in entsprechenden Urteilen zu einer unüberbietbaren Legitimation des Ergebnisses zu gelangen. Folge dieser Tendenz: Die Entscheidungsinstanz, vor die schließlich das ganze gebracht w i r d , müßte die höchstmögliche sein, jedem sinnvollen sich nicht selbst widersprechenden Zweifel entrückt, für den logischen Geist inappellabel. Bei dem einfachen Nachdenken liegt es also so, daß man sich, vom Philosophieren aus gesehen, m i t logisch niederen Entscheidungsinstanzen begnügt. Das Leben und grade die Aufgabe, sich darin richtig „angebrachtermaßen" — und man ist ja kein Gedanke an sich — zu verhalten, läßt keine Zeit dazu, wie Sokrates immer und über alles zu philosophieren. M a n unterstellt also m i t Recht vieles als richtig, selbst i n der Einzelwissenschaft, was logisch gesehen, der Prüfung bedürftig und wofür sie möglich ist. K u r z : man verfährt dogmatisch,
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insofern man ex datis denkt, vom Gegebenen her und Gegebenes aus. Dieses Gegebene ist aber nicht das schließlich unvermeidlich Gegebene wie bei der Empirik, also auch i m Stoff der Rechtswissenschaft, sondern es wäre, vom Rechtsfertigungsverfahren aus gesehen, durchaus nicht so als gegeben hinzunehmen. Es handelt sich um Überkommenes und für die Arbeit Bewährtes mannigfacher A r t : aus der Bewußtseinslage die tradiert wurde, insbesondere des soziologischen Kollektivs, wie es sich ja auch i n der rechtswissenschaftlichen Zielsetzung auswirkt, kurz um unsere früher betrachteten Vorurteile. Der Mensch kann auch innerhalb eines bestimmten Wissenschaftsbetriebs nur existieren und etwas leisten, wenn er auf anderes aufbaut, sich schließlich auch von Kollektiven verschiedenster A r t geprägtes Gedankengut einverleibt. N u r wenn er so verfährt wie die anderen, ist er i m Kreis der Wissenschaft seiner Zeit „verstehbar" i m Sinne des von M a x Weber geprägten soziologischen Begriffs. Wie er dann innerhalb seines wissenschaftlichen Kreises vorgehen muß, damit er neue und revolutionäre Auffassungen nicht nur haben, sondern durchsetzen könnte, das ist keine Frage seines spezifischen Arbeitsbereiches, sondern eine wissenssoziologische, ja gruppensoziologische, worüber man nicht spekulieren, um so mehr aber aus Erfahrungen von Outsidern lernen kann 5 . A n sich ist die gleiche soziologische Abhängigkeit nun auch beim Philosophen vorhanden. Wie gäbe es denn sonst jeweils nur eine gewisse Anzahl von Richtungen, Schulen! Schopenhauers Poltern gegen die Philosophieprofessoren beruht ja zum Teil hierauf. Ja auch hier gibt es offizielle Bindungen, die den Vorzug der Ehrlichkeit haben, insofern bei ihnen die Schranken expressis verbis vorgewiesen werden. Wer sie so angeben kann, kennt auch meist besser die Grenzen als der unbewußt Beeinflußte. — N u n kann bei freier, also rein der Sache hingegebener Intentio des Philosophen, beim insofern ungehemmten Radikalismus das Philosophieren wie bei jedem menschlichen Unternehmen richtig oder falsch sein. Richtig wäre es nur dann, wenn die behauptete höchste Gedankeninstanz auch wirklich die höchste wäre und dazu das ganze Verfahren einwandfrei funktionierte. Wie bei einem mechanisch abrollenden Gedankenapparat! Philosophieren ist also gegenüber einfachem Nachdenken auf „gründlicheres" — i m wörtlichen Sinne — bedacht. Fordert man von ihm aber auch noch Tiefsinnigkeit, so heißt das den Gedanken überfordern. Die Tief5
Dazu P. Hofstätter, tierung".
Gruppendynamik, S. 169 f., „verweigerte Akzep-
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
sinnigkeit der verschiedenen Richtungen möge dahingestellt bleiben. Aber audi weniger tief schürfende Gedanken wirken tiefsinnig, wenn sie ein oberflächlicher Denker (also ein anspruchsloser) ernst nimmt. Dagegen bedeutet Scharfsinnigkeit die Richtigkeit des logischen Vollzugs, die w i r ja gerade bei dem einzelwissenschaftlichen Nachdenken, auch dem juristischen bewundern. Abstecken, d. h. sich ex datis bewegen, begünstigt die Scharfsinnigkeit. Wenn man an der logischen Idee der Stetigkeit festKält, so müßte der Kreis, den das philosophische Nachdenken beschreibt, gegenüber dem des einfachen Nachdenkens größer sein, beim richtigen Philosophieren sogar der größte, der gegenüber dem vorgelegten Urteilssatz sinnvoll denkbar ist. Der Radius beim Nachdenken wäre dagegen durch den „ Z u f a l l " dessen bedingt, was jeweils so einleuchtet, daß man halt macht und schleunigst an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Transponiert man die Einzelschritte auf eine „Denkfläche", so liegt der Bezirk des Nachdenkens also innerhalb des Bezirks des Philosophierens. W i l l man hier von „objektivem Geist" sprechen, so stellte der objektive Geist des Nachdenkens in den Wissenschaften ein nicht fest eingefriedetes, gerändertes Gebiet dar innerhalb des mehr oder weniger größeren der Philosophie einer Zeit. Eine reizvolle Aufgabe, die Reichweite des jeweiligen rechtswissenschaftlichen Nachdenkens innerhalb der Reichweite der gleichzeitigen Rechtsphilosophie festzustellen! W i r haben bereits das W o r t I . H . v. Kirchmanns 6 erwähnt, das 1847, also vor über hundert Jahren, die Juristen i n Schrecken versetzte: „ D r e i berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden Makulatur." Besonders beachtet wurde der Widerspruch von Friedrich Julius Stahl, dem Theoretiker der altkonservativen Rechtsanschauung. Der Kernpunkt für uns liegt in der Frage: Was w i r d an der sog. rechtswissenschaftlichen Arbeit wertlos, wenn sich der Inhalt des „gegebenen* also i m wesentlichen heute der Gesetze ändert? Der Inhalt der den Gesetzen als soziologische Unterlage des dogmatischen Rechts gleichstehenden Gewohnheiten pflegt sich ja weniger sichtbar zu wandeln. Aber die sog. Rechtsüberzeugung, die bei Regimewechsel ebenso wie neue Gesetze statuiert wird, gehörte auch hierher. Als Rehm versuchte, „die überstaatliche Stellung der Dynastien" auch für die konstitutionelle Monarchie zu behaupten, da gab es schon das freilich nicht 6
Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Kirchmann war Begründer der philosophischen Bibliothek, gab selbst philosophische Werke darin heraus und kommentierte sie. Er war ein philosophischer Kopf.
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erkannte Problem der Rechtsänderung durch Änderung der Rechtsauffassung. Die Situation ist bei der dogmatischen Rechtswissenschaft eine ganz andere als bei den Naturwissenschaften, wo es auch immer neue Erfahrungen zu bewältigen gilt. Aber die entsprechenden neuen Erfahrungen der Rechtswissenschaft bestehen in neuen menschlichen Setzungen, als Menschenwerk zwar gewiß nicht ursachlos, haben aber ihrem Inhalt nach einen spürbaren Grad der Zufälligkeit mehr als das sonstige Kontingente der Empirik. Wenn es auch das Wesen dieses ist, daß es auch anders denkbar wäre, so wächst das neue bei erweitertem Erfahrungsbereich mehr stetig aus dem alten heraus. Theologisch: eine neue Kundgebung Gottes w i r d nicht als so willkürlich empfunden. Die Gesetzesänderungen zeigen dagegen gerade in unruhigen Zeiten schroffe Diskretionen. K a n n der Ubermut der Gesetzgeber über das Soziologische hinaus Gegenstand echt wissenschaftlicher Hingabe sein, um Maßgebliches daraus zu entnehmen? Beim Recht selbst als einem konsumierten regulativen Prinzip kann es, wie w i r wissen, begriffsnotwendig keinen Unterschied zwischen Begriff und Idee geben. Wer Recht sagt, meint schon nicht mehr Empirisches als solches wie ein Faktum neben anderen, sondern Maßgebliches, allerdings solches, was sich an Fakten, wenn auch nicht nur an solchen, feststellen läßt. Bei der Rechtswissenschaft gibt es aber gewiß Tatsächlichkeit von Richtigkeit zu unterscheiden. Jede Wissenschaft hat dazu noch die beiden Bedeutungen, wovon die eine das soziologische Unternehmen, die andere ihr Ergebnis, also subjektive oder objektive Wissenschaft meint. Wenn w i r zunächst die Bemühung der Geister, die subjektive Bedeutung beiseite lassen, so finden w i r , daß zu Wissenschaft i m objektiven Sinne als Ziel die Vorstellung eines Gefüges gehört, eines Systems. W i r sehen so eine neben anderen von einem Grundbegriff abhängig, der dazu dient, ein spezifisches Begriffsterrain zu eröffnen, so etwas wie sich voneinander unterscheidende geschlossene Bereiche, die in stetig sinnvoll aufeinander folgenden Sätzen bestehen, eine unter dem Gesichtspunkt der logischen Richtigkeit unangreifbare Menge von Theorien. W i r wissen heute, genauer als etwa vor einem halben Jahrhundert, daß diese Vorstellung schon aus logischen Gründen nicht realisiert werden kann (Gödel). Abgesehen von der Unmöglichkeit, es i n menschlichem Bemühen unter den verschiedensten historisch-sozialen Umständen und persönlichen Perspektiven zustande zu bringen. Was bleibt dann aber bei den Wissenschaften als sinnvolle Aufgabe bestehen? Die intentio directa, um einen Ausdruck Husserls zu gebrauchen, ge-
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Grundbegriffe und Gesichtspunkte
richtet darauf, Gebilde objektiven Geistes in Form von richtigen U r teilssätzen über Problemzusammenhänge, Problemlösungen, begriffliche Auswirkungen, logische Gewichtsverhältnisse i n einer dem Wesen des Logischen, Begrifflichen und dem Gegenstand immer mehr gemäßen Form vorzulegen. Den Begriff der Wissenschaft sehen w i r also da als realisiert an, wo diese Intentio i m Zusammenwirken gewahrt wird, so daß das jeweilige Ergebnis, der „objektive Geist", den Interessenten in Form von ihnen verständlichen Symbolen i n natürlicher oder künstlicher Sprache zugänglich und auch so konservierbar, also tradierbar, bleibt. Es ist das der Begrift der Wissenschaft, wie ihn die Marburger Schule der Neukantianer als Faktum für die eigentlich philosophische Bewältigung durch die transzendentale Methode zugrunde legte. Das wissenschaftliche Material, vorgelegt „ i n gedruckten Büchern", um daran die logischen Momente an Prinzipien, Strukturverhältnissen, Dogmatischem, Widerspruchsvollem, Hypothetischem usw. aufzudecken. Soziologisch gesehen, bestimmen faktisch die mehr oder weniger begrifflich strengen Anforderungen des Kreises derjenigen, die sich durch diese Aufgaben verbunden fühlen, also Gruppenansprüche die jeweiligen Leistungen, die Feststellungen sind also „kollektivbedingt", als beachtenswert i m Sinne des jeweils soziologisch geltenden Wissenschaftsbegriffes! Es findet stets eine Auswahl statt, unter Vorurteilen, wie w i r sie schon besprachen, wobei die wissenschaftliche Gruppe dem Neuen meist abhold ist und Entwicklungen bremst, soweit nicht Experimente oder sonst Anschauliches als „schreiende" Beweise zu laut werden. Als einzelne M o mente hätten w i r bei der Wissenschaft folgende: Einen durch eine gemeinsame gedankliche und publizistische Tendenz charakterisierten Kreis von Menschen. Eine jenen Kreis von anderen m i t entsprechenden Tendenzen auszeichnende Intentio, als Ziel ein Gebilde des „objektiven" Geistes, an Zeichen geknüpft, durch sie repräsentiert, die den Mitgliedern des Kreises verständlich sind, wobei die einzelnen Momente an frühere analoger A r t anknüpfen, sie berichtigen, ersetzen, fortbilden, so daß sich das ganze tradieren läßt. Eine der Intentio immer mehr entsprechende A r t der Leistung, insbesondere v o m Gegenstand her gesehen: sachlicher, vom Logischen her gesehen: kritischer, Es sind also neben den logischen stets wissenssoziologische Momente, die das Wissenschaftliche auszeichnen. Wer nur wissen w i l l , um Kreuz-
Grundsätzliche direktive Unterscheidungen
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Worträtsel zu lösen, ist kein Wissenschafter. Wenn es nötig ist, müssen dabei dogmatische Glaubensmomente, „Vorurteile" im oben erörterten Sinne, als solche gekennzeichnet, „eingeklammert" werden, so wie es Husserl meisterhaft bei seinen Analysen tat. Dabei stellen sich schizophrene Erscheinungen ein, die sich oft später dadurch vermeiden lassen, daß man das Eingeklammerte als zu besonderen Perspektiven gehörig erkennt. Denken w i r hier auch an die Ansprüche von raison de cœur, von Gefühlen, konfessionellen Anliegen. Der durch die gemeinsame Tendenz charakterisierte Kreis gibt den Menschen, die ihm als „Wissenschafter" angehören, als Elementen einer wissenssoziologischen Gruppe sui generis ein gewisses Gepräge, das sie z. B. als Juristen in gewissen Zeitepochen auszeichnet. Die spezifische Intentio directa geht nur auf: begriffliche Gebilde des „objektiven Geistes", als eines dem Gegenstand gemäßen Gefüges von Urteilssätzen, m i t möglichster Erfüllung ihres Behauptungsanspruchs, und Ausfüllung entsprechender Lücken. Die Arbeit richtet sich auf einen „immanenten" Fortschritt, d. h. eine immer bessere Beschaffenheit der Ergebnisse in Hinsicht auf: die logisch begrifflichen Erfordernisse, ökonomische Ordnung, Widerspruchslosigkeit, und entsprechende Darstellung (Axiomatik! K a l k ü l ! ) ; das Ergebnis soll instrumental, als Werkzeug, zur immer besseren Erfassung des Gegenstandes geeignet sein. Dieser enthüllt sich dabei immer mehr als eine eigene Region, die allen dahin zielenden Urteilssätzen das Aussehen innerer Zusammengehörigkeit verleiht. Die gewonnenen Ergebnisse: jeweils vorgelegten Momente des „objektiven Geistes" erweisen sich unter dem Gesichtspunkt einer geschichtlichen Betrachtung als Glieder einer eigentümlichen Genesis: nicht als einander gleichgültig ablösende, schlechthin erledigende, voneinander unabhängige Stücke „ w i e mit dem Beil voneinander abgehauen", oder nur durch ein „ u n d " miteinander verknüpft. Sie sind vielmehr durch logische Verhältnisse i m historischen Verlauf aneinander geknüpft, durch logische Bezüglichkeiten, wie z. B. Folgerung, Widerspruch, Einschränkung des Kategorischen, so daß sich Bewegungsvorgänge i m Sinne der logischen Intentio feststellen lassen. Es ist das das sog. „fortschrittliche Element" in der Geschichte der Wissenschaft 7. Die jeweiligen gedanklichen Ergebnisse erscheinen so als „Bau7
Vgl. unsere Abhandlung „Das Problem des Fortschritts", 1958 (isolierte Möglichkeiten werden zugelassen). Steiner Verlag.
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Grundbegriffe u n d Gesichtspunkte
steine", „Stützen", „Ansätze", „Krücken", später ihrem Inhalt oder der Methode nach als überholt, aber früher, w o sie erschienen, als nötig, um „weiter" zu kommen. Insofern sagt man, daß sie i m Sinne des Hegelwortes „aufgehoben" seien, zwar durch Ersetzung später » beseitigt", aber doch als Aufbauelement i m genetischen, nicht atomaren Sinne i m Neuen „erhalten". Sie müssen sich als „Vorstufen" begreifen lassen, die Ergebnisse als Ansatz, um sie vertiefen zu können, verfeinern, korrigieren, behutsamer, kritischer zu fassen, Ausdrücke als zu weitgehend auf eine engere Bedeutung zu reduzieren. Erfahrungen ergeben ζ. B., daß unter den Voraussetzungen a ein Urteilssatz richtig ist, daß er aber unter damals noch nicht ins Bewußtsein gekommenen Voraussetzungen b das nicht ist; also muß er kondizional formuliert werden. Aber die frühere kategorische Form mußte zuerst einmal als These da sein. Betrachten w i r als Gegensatz zu jenen das wissenschaftliche Charakterisierenden anders geartete, wenn auch nodi so große geistige Bemühungen bei einer einzelnen praktischen Unternehmung, so erscheint vieles dabei ad hoc nur als M i t t e l zum Zweck. Ζ . B. die Prüfung des Bodens, der Luft, des Lichts, der Materialverhältnisse beim Bau eines Hauses. Auch hier denkt man nach über das, was nötig scheint, verwertet vorliegendes geistiges Material also Momente des „objektiven Geistes", wie ihn gerade die Wissenschaft einer Zeit in üblichen Dokumenten bereit hält. Aber die Intentio ist eine andere. Sie geht nicht auf Bereicherung des „objektiven Geistes". Wenn gewiß auch durch Zufall, okkasionistisch, durch die Genialität des Unternehmers dabei für jenen Geist die wichtigsten Entdeckungen herauskommen können und es auch oft taten. Geht es nicht um Verbesserung wissenschaftlicher Einsicht, so entledigt man sich der Ergebnisse geistiger A n strengungen, sobald das konkrete Unternehmen beendet ist. M a n bewahrt sie nicht, weil sie über die Eigenschaft, M i t t e l zum Zweck zu sein, hinaus, keine Bedeutung haben. Natürlich kann unmittelbare wissenschaftliche Intentio durch praktische Ziele mittelbar angeregt werden. So wenn bei der Technik die „Beherrschung der N a t u r " i m Dienste menschlicher Zwecke zur angewandten Naturwissenschaft führt, wodurch sichere Diagnosen und Prognosen und präzisere Experimente möglich werden. Auch die Neugierde gehört als Katalysator hierher. Solche Anlässe werden der Intentio zwar die Richtung weisen, dürfen aber den logischen Gehalt und Umfang nicht beeinflussen, der seine immanente Idee geltend macht. „ L i b i d o " und sinneigene Entfaltung des Bereichs sind so auseinanderzuhalten. So gewiß auch ein entsprechender „Eros", die „ N e i -
Grundsätzliche direktive Unterscheidungen
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gung" des homo ludens, generell begünstigende Umstände für ein gutes Ergebnis sein werden. Selbstverständlich kann man sagen, daß schließlich auch alles wissenschaftliche Bemühen wie jedes menschliche Verhalten überhaupt einer so oder so verstandenen Idee des Lebens zu dienen habe, insofern sie dieses nach dem Simmelwort zum „mehr als Leben", zum Richtigen hinleite: über seine Anspruchshaftigkeit zur Erfüllung. Theorien darüber, insbesondere zur Bewältigung der situationsbedingten Aufgaben, aber wären wiederum nur durch Hingabe an den objektiven Sinn des Gegenstandes, also auch bei dem Problem sinnvollen Lebens nur durch philosophisches Nachdenken zunächst über dessen mögliche Richtigkeit selbst sinnvoll „Methodus antevertit omnem seien t i a m " nahm sich schon K a n t als Motto. Es läßt sich derartiges nicht aus der Kanone schießen, sondern nur „vermittelt" gewinnen, so hieß es noch am Ende der großen idealistischen Systeme. Error simplicior veritate gilt noch heute, wo wissenschaftlicher Glanz mehr denn je gesucht wird. — Der einheitliche Gegenstand, die Region liegt da nicht vor, wo eine Frage, isoliert von anderen, so behandelt w i r d als ob es nur ihren Gegenstand als Specificum gäbe, nur den der Frage. Dementsprechend ist der „ E i n f a l l " vielleicht eine durch Glück und Gnade gespendete Vorstufe aber kein Glied i m Aufbau der Wissenschaft im Sinne des objektiven Geistes. Er stellt sich ohne systematische Prätention, d. h. ohne Verantwortung logischer Tragweite, ein. Aperçus, Pensées, Aphorismen gehören hierher. — Die Ergebnisse einer geistigen Bemühung wären auch nicht i m wissenschaftlichen Sinne „aufgehoben", wenn z. B. zum Zwecke der Aufführung eines Romans die Verhältnisse lokaler und persönlicher A r t : eines Schlachtfeldes, der beteiligten M i l i tärs studiert würden, so wie w i r es von den Vorarbeiten Leo Tolstois und Stendhals wissen. Diese selbst kennenzulernen, um wissenschaftlich Einsichten i n die Prozesse künstlerischer Produktion zu gewinnen, wäre dagegen wieder eine Aufgabe der Wissenschaft.
II. Redit und Rechtswissenschaft § 7 Unterschied des Gegenstandes der Rechtsphilosophie und der Rechtswissenschaft Sowohl Philosophie wie Wissenschaft beziehen sich auf das Recht. Die Rechtswissenschaft steht aber in einer ganz anderen Beziehung zum Recht als die Rechtsphilosophie. Wenn w i r hier das Recht betrachten, so dieses als Voraussetzungsbegriff für die Begriffe der Rechtswissenschaften, deren Gegenstände dadurch bedingt werden. N u r für die Rechtsphilosophie ist Recht der Gegenstand. Die Theorien der Rechtsphilosophie über das Recht stehen unmittelbar unter prinzipielleren Voraussetzungsbegriffen als die der Rechtswissenschaften über das sie interessierende Rechtliche. „Rechtliches" nicht i n moralischer Hinsicht verstanden, sondern nur als konkreteres. Jene prinzipielleren Voraussetzungsbegriffe bedingen natürlich auch die über das Rechtliche als Stoff der Rechtswissenschaften, aber sie tauchen dort nicht explicit in den Theorien auf. So ist einleuchtend, daß jede A r t rechtsphilosophischer Auffassung über das Recht die Ansicht über das Wesen der Rechtswissenschaften bestimmen muß, wenn sie konsequent ist. Bewußt oder unbewußt wirken sie sich also i n der Bewertung des Charakters der verschiedenen Richtungen der Rechtswissenschaft aus. Z u der K o m plexheit des Rechtsbegriffs und der dadurch gegebenen Möglichkeit verschiedenartiger, einseitiger Betrachtungsweisen ist zuvor noch Folgendes zu sagen: Die Struktur des Rechts w i r d i m Wesentlichen durch zwei Momente charakterisiert: w i r nannten sie Heteronomes und Heterologes, wobei der Akzent hier bei „nomes" und „loges" liegt. Jenes Heteronome w i r d durch das geboten, was man nicht gut anders als „Gewaltkonstellation" nennen kann, wenn man nicht als geistiger Rattenfänger idealistisch oder romantisch die Situation verfälschen w i l l . Dieses Heterologe bezieht seine Würde als wirkliche Pflicht aus der höchsten normativen Zone, die vom Logonomen eröffnet wird. Betrachtet man nun eine konkrete Situation darauf hin, was von jenen beiden Momenten in ihr w o h l am stärksten w i r k t („soziologisch" gilt), so erscheint als einwand5
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frei positivistisch eine solche, wo eigentlich alles als heteronom aufgefaßt wird, auch das, was hetero loger Interpretation bedürfte. Die heutige Situation ist nun bei den Nationen, die stürmische Regimewechsel w i r k lich erlebt haben, und darauf Erwartungen stützen, durch Folgendes charakterisiert: Das Heteronome, das sich früher auf Verfassung und Gesetze in einem engeren Sinne beschränkte, hat sich zurückgreifend deren Basis zu bemächtigen gesucht: der rechtlichen, ja »weltanschaulichen" Grundanschauungen. So w i r d eben noch diese, dann sogleich „wendig" jene, eine entgegengesetzte, befohlen. So wie man i m Dreißigjährigen Krieg m i t einem neuen H e r r n plötzlich die Konfession wechseln mußte. N u n war i m selben Land plötzlich anderes Ketzerei, wurden andere Hexen verbrannt. Ganz so, wie es Hobbes von der neu eingeführten K o n fession der Machthaber meinte, deren Dogmen einfach wie Pillen herunterzuschlucken seien. Anders ausgedrückt: das Heteronome hat sich i n diesen Ländern, um einen Ausdruck eines der Brüder Schlegel zu gebrauchen, „auf die inneren Organe geschlagen". Die „Normenadressaten" müssen jetzt noch mehr schlucken als früher, wo es genügte, „einfach gesetzestreu" zu sein. Dabei werden — und das ist wichtig — die positiven Bestimmungen zwar dem Anschein nach überpositiv interpretiert, weit mehr als früher, aber die A r t der Interpretation und die Sphäre, auf die man sich dabei bezieht, ist genau wie das Gesetz, hetero nom und nicht hetero log aufgefaßt. Das ist auch faktisch gar nicht gut anders möglich, weil die Interpreten ja m i t wenig Ausnahmen Positivisten sind, jedenfalls nach Gesichtspunkten ausgewählt werden, die nicht rechtsphilosophischer N a t u r sind, also gewiß nicht Heterologes erwarten lassen. Es ist also kein Wunder, daß man nirgends über das Positive hinaus beweglichen, rechtsphilosophischen Geist verspürt. Dabei gab es einmal eine Zeit — es war die Zeit Hegels in Preußen —, wo es, gut oder schlecht, anders war! A n der heutigen Situation sind gewiß auch w i r Rechtsphilosophen nicht ohne Schuld, die w i r uns meist m i t philosophie-historischen Fragen beschäftigen, m i t Sonderproblemen, mit harmlosem Stoff also, dessen Behandlung, um ein von Nietzsche aus dem Altertum zitiertes W o r t zu gebrauchen, kein Ärgernis erregt. Auch die Kongresse der Philosophen enden heute meist ohne Resolutionen und wenn, jedenfalls ohne sich um die Geltung solcher, die Verwirklichung zu kümmern. Es handle sich denn um Unterrichtsfragen usw. M a n nimmt insofern seine Ergebnisse nicht mehr ernst, als man resigniert ihre Unverbindlichkeit unterstellt. Niemand schlägt mehr,
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wie einst, nach altem, schon bei der Promotion geübten Brauch Thesen an und fordert zur Replizierung die Fachleute heraus, wie ehemals „die Burschen". Pfui Teufel, welch eine Rolle des Geistigen! Dieser charakteristische Zustand der „soziologischen Unterlage", woraus das Heteronome entspringt, und sich i n allen möglichen juristischen Formen: Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Interpretationen inappellabler Instanzen, Kommentaren einander ablösender, oft schroff widersprechender Liquidierungsmaßnahmen äußert, hat nun seine genaue Entsprechung dort, wo er „Anerkennung" finden soll: bei den, den „soziologischen Gegenstand" formierenden „Untertanen". Die Grade und Möglichkeiten soziologischer Geltung, des Gehorsams, sind ja so verschiedenartig. „Oderint dum metuant" lernten w i r schon auf der Schule. M a n kann aus verschiedenen Gründen „gehorchen". Wenn auch nicht gerade dem Heterologen: dem Rechtsdogmatischen, das m i t vielen Eventualentscheidungen auf Grund schwieriger Rechtserwägungen eine Prüfungsaufgabe für Juristen ist, sondern, so wie man versteht, als Laie und w o m i t man i n seinem Kreise auskommt. Aber auch hier macht es einen Unterschied, ob man das i m Hintergrund stehende und i n der Rechtspraxis bedrohlich wirksame Heteronome ernst nimmt, nämlich als Heterologes, als verbindlich, oder ob man es nur wie Sturm und Regen ansieht, als „zufällig", das heute so, morgen anders sein kann, als „Schauer" i m günstigsten Falle als eine „Spielregel", an der man sich, wenn nötig, zu orientieren hat. Ein Zustand, der dauern kann, der aber seine Labilität i n dem Augenblick zeigt, wo andere heteronome Ansprüche aus geänderter soziologischer Unterlage auftreten. I m Sozialgefüge hängt ja alles zusammen: die A r t , wie Lehren aufgenommen werden, bedingt die A r t , sie zu verbreiten. Juristischer Unterricht, Studium, Examen, Praxis, Rechtsauffassung, sie sind alle miteinander verknüpft: „interdependent". M a n kann auch nicht einfach anordnen: heronom, daß alle plötzlich rechtsphilosophischer werden sollten. So wie man ja nicht, wie mancher Jurist meint, i n einem Semester „ m a l Rechtsphilosophie vortragen" kann, wie bisher etwa Grundbuchrecht. Auch die Verwirklichung folgender Gedanken würde daran nichts unmittelbar ändern, aber doch vielleicht dazu Voraussetzungen schaffen. W i r lassen sie jetzt folgen: 1. Es sind die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zu Lehrstühlen für positives Recht umgewandelten Lehrstühle für Rechtsphilosophie, damals philosophische Rechtslehre oder Naturrecht genannt, wieder zu errichten. 5*
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2. Sie müßten besetzt werden durch Persönlichkeiten, die Volljuristen in dem Sinne wären, daß sie den Beweis voller Anschauung des Juristischen i n akademischen Arbeiten erbringen können. H i e r hätte also auch der Positivist das Wort. 3. Sie müßten jedoch i n erster Linie, ihrer Intention nach, Philosophen sein, d. h. von der Aufgabe überzeugt, daß heute wie ehemals, ja aus der heutigen Lage der Welt heraus noch mehr, ein vorurteilsfreier Neuaufbau der rechtlichen Fundamente, vom Begrifflichen her, in kritischer philosophischer Bewußtseinslage erfolgen müßte. Anderswo vertritt man bereits heute eine — auch i m Einzelnen intern diskutierte — rechtsphilosophische Basis, die bereits als heterolog aufgefaßt, wirkliche Rechtsüberzeugungen ermöglicht. N u r vom Rechtsphilosophischen, nicht einfach vom Positiven, dem Heteronomen aus, läßt sich m i t solchen ernsthaft diskutieren, „auf gleicher Ebene". Wie ehedem kann dazu noch die Bemühung um einen begrifflichen Neuaufbau darüber hinaus auf das ganze gewaltige Gebiet der teleologischen Disziplinen befruchtend wirken. 4. Neben der Leistung i m Philosophischen wäre von dem Betreffenden zu fordern, daß Leistungen auch auf anderen Gebieten vorliegen. Gerade auf solchen, die dem spezifisch juristischen fern liegen. Denken w i r an mathematische Grundlagenforschung, an Technik, Theologie, Soziologie, Geschichte. Es darf aber der Vertreter der Rechtsphilosophie sich nicht ausschließlich als Historiker der Rechtsphilosophie fühlen 1 . Durch immer erneute Arbeiten über frühere Denker ist in unserer Lage für den Neuaufbau wenig zu erhoffen. Sonst wäre er längst da! 5. Der Rechtsphilosoph ist m i t keinerlei sonstiger juristischer Arbeit zu belasten. Sonst verliert er die Muße, sich aus Liebhaberei und Interesse von anscheinend ganz abwegigen Gebieten und Methoden anregen zu lassen. V o n hier aus gab es früher manche „wechselseitige Erhellung". Die meisten teleologischen Disziplinen, soweit sie normieren wollen, sehen heute noch so aus, als ob man m i t den zehn Fingern zählte. 6. D a jede Gruppe aus Selbsterhaltungstrieb zu ihrer Ergänzung nur das erstrebt, was ihren bisherigen Zustand bestätigt und nicht i n Frage stellt, dürfte die Berufung i n der üblichen akademischen Weise Schwie1
Wer Sinn für Humor hat, lese den Brief des Vaters an seinen Sohn im „Mann ohne Eigenschaften", Erstausgabe S. 121. Musil wußte schon damals, was rechtsphilosophisch jene 12. Auflage über Pufendorf bedeutete!
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rigkeiten machen. Der heteronome positivistische Geist der Verwaltungsbehörden kollidiert hier m i t der Autonomieidee, die zur Beanspruchung fachmännischen Urteils da verleiten kann, wo es nur um die Wahrnehmung der Einflußsphäre geht. 7. Schließlich müßte erreicht werden, daß auch in den höchsten richterlichen Positionen zur Uberwindung des Positivismus derartige Persönlichkeiten vertreten sind. Solche Thesen werden gewiß hier nur aus wissenschaftlichem Gewissen erhoben, leider ohne Glauben daran, daß man sie anders verwertet als höchstens als Diskussionsstoff i m privaten Kreis. Eine wissenssoziologische Situation, die leider nicht von heute ist, die aber bereits üble Folgen hatte. Wirtschaftswunder treten eben i m technischen Zeitalter leichter ein als Rechtswunder. — Wenn w i r jetzt die einzelnen Momente am Rechtsbegriff betrachten, so müssen w i r dabei auf Arbeiten verweisen, wo die Komplexheit näher begründet w i r d 2 . Die verschiedenartigen Momente sind nun in den verschiedenen Richtungen der Rechtsphilosophie und durch die entsprechenden Auffassungen über das Recht dann i n den entsprechenden Tendenzen und Schulen „ a n sich" gesetzt, also isoliert worden und haben so zu Hypertrophien geführt. Denn wenn auch nicht das, was sich als Wissenschaft i n der Rechtswissenschaft findet, Philosophie ist, so ist gewiß „säkularisierte" Philosophie rechtswissenschaftliche Überzeugung geworden. H i e r glaubt man vom Philosophischen gern jenes „simplex sigillum v e r i " ! Frage, ob es aus pragmatischen Gründen so sein muß. „Complex" soll nicht heißen, daß gerade der Rechtsbegriff ein Leckerbissen für geistige Snobisten sei. Die Rechtsphilosophen pflegen ihn gerade i m Gegenteil zu simplifizieren. D a die philosophische Parteienlehre ja auch i n der Rechtsphilosophie angeschnitten w i r d , könnte man i n Hinsicht auf deren Ziel: die Politik meinen, daß man bei dem ganzen Gebiet aus pragmatischen Gründen vereinfachen müsse. Wie wenig entspricht i n Wirklichkeit die auslösende und begleitende Bewußtseinslage den wissenschaftlichen Fragestellungen über die Vorgänge bei einer Handlung! Was kann man je hoffen, an einer Situation zu erfassen! Dabei werden Handlung und Situation hier noch nicht einmal als „ D i n g an sich" verstanden! Aber die wissenschaftliche Analyse hat 2
Kurz orientierend unsere früheres zusammenfassende „Einführung in die Rechtsphilosophie", I I S. 93 f., I I I S. 153 f., V I S. 224 f., V I I I S. 350 f., I X S. 373 f., über unsere Auffassung von Rechtswissenschaft, die jetzt oben näher spezifiziert wird.
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m i t der Frage ihrer Verwertung oder Ignorierung i m Pragmatischen nichts zu tun. So hätten w i r beim Recht schon i m Sinne unserer Grundeinteilung: i n Heteronomes und i n Heterologes, eine Unterscheidung, die bereits die A r t des „Angehens" bezeichnet: als anmaßend oder w i r k lich verbindlich und demgemäß folgendes: I.
Das Soziologische D a haben w i r zunächst: 1. eine Gewaltkonstellation, 2. auf einem Raumteil. 3. Diese Konstellation konstituiert sich durch eine spezifische Art soziologischer Geltung heteronomer Richtschnuren. Dadurch ergibt sich der Begriff der „soziologischen
Unterlage":
Er begreift das, w o h e r die heteronomen Richtschnuren kommen: die „ A u k t o r e n " , populär ausgedrückt: die Machthaber, die „oben". 4. Begrifflich steht der „soziologischen Unterlage" gegenüber der „soziologische Gegenstand". Er begreift als Bereich die Beziehungen, Akte, Geschehnisse der sog. Adressaten. Populär: der Machtunterworfenen, der „unten". 5. Personen, die sich dazu verpflichtet haben, die soziologische Geltung des aus der „soziologischen Unterlage" kommenden herbeizuführen, zu stützen und zu verteidigen. H i e r haben w i r die Subjekte als „Organe". 6. Bei der soziologischen Geltung der Richtschnuren ist zu unterscheiden: außerhalb der Machtkonstellation, innerhalb ihrer. 7. Die Träger, Verhältnisse, Akte, Geschehnisse, i n ihrer soziologischen Geltung, gesehen von allen „Richtungen" aus: von „oben", von „unten", und jeweils „ z u einander" auf gleicher soziologischer Geltungsebene. Indem w i r hier die Perspektive des Rechtshistorikers und des Rechtspsychologen beiseite ließen, haben w i r doch die soziologischen Momente, die — i m Unterschied zum Hetero logen — auch ihn angehen, angedeutet, deren begriffliche Entfaltung als
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solche einer den Gegenstand konstituierenden apriorischen Soziologie so etwas wie eine Geometrie der Ebene bedeutete, um nur die Aufgabe zu bezeichnen. Alle oben getrennt aufgeführten Momente hängen ja zusammen, bilden begrifflich gesehen, ja noch einen Knäuel. Alles muß darin bereits soziologisch sein, ζ. B. darf das Subjekt als A u k t o r oder Adressat von Richtschnuren nicht „an sich" gesehen werden, getrennt von den sozialen Beziehungen und seinen entsprechenden Eigenschaften, wozu ja Fähigkeit zu Beziehungen und zu den sie auslösenden A k t e n gehört. M i t dem Subjekt ist sowohl das Autonome wie das Heteronome eingeführt, jedoch das Autologe oder Heterologe nur als Angemaßtes, denn w i r stehen ja erst beim Soziologischen als Basis. Auch ist Sollen und Dürfen hier als angemaßt Auferlegtes, dem Begriffe nach aus der Richtigkeitslehre entnommen. K l a r , daß bereits das Soziologische, woran w i r hier anknüpfen, eine unübersehbare Fülle anderer Begriffe verwerten muß. I I . Das Verbindliche,
Heterologe
Es bedarf eines unangemaßten, seiner Legitimation nach von den dahin zielenden autonomen und heteronomen Akten unabhängigen Rechtfertigungsgrunds (keiner Ursache!) dafür, daß die ganze soziologische Apparatur, i n die sich der Mensch beim Recht eingeklemmt fühlt, nicht etwa soziologisch funktioniert — das tut sie ja nach den soziologischen Bestimmungen immer so oder so —, sondern hetero log „angeht", „verbindet". Der Rechtfertigungsgrund bezieht sich also auf kein Faktum, kein Parieren, Reagieren, sich Orientieren, sondern auf das, was diese Verhaltensweisen von faktischen zu sinnvollen, man könnte auch sagen „des Menschen" machte. Wenn man nun nicht „schlecht abstrakt" einen entsprechend isoliert gesehenen „Menschen an sich" zum Adressaten von Logonomem oder Heterologem machen w i l l , wie es die Tugendlehren gerne tun, wenn sie ihren Gegenstand nicht als heuristisch innerhalb einer Situation m i t Auswahlmöglichkeiten verstehen, so bedarf es zur „Anreicherung" der zunächst nur monistisch aufgefaßten „ N a t u r " m i t Belangen, die den wirklichen Menschen verbinden, der Konkretisierung des als Prinzip verstandenen Logonomen, der Richtschnur i m Prinzipiat des Richtbaren, wodurch jenes formale erst seinen Inhalt erfährt. K u r z : Es muß jene monistisch aufgefaßte „Natur" zur „Welt" werden. Es muß
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der Gedanke, religiös ausgedrückt, die creatio nachvollziehen, nach der „Analogia entis". Es handelt sich also um logische Entfaltungsaufgaben auf direktivem Gebiet, dahin zielend, den Ansprüchen auf dem Richtschnurgebiet : dem Autonomen und Heteronomen die Möglichkeit ihrer Richtigkeit und Erfüllung zu weisen: das ihnen entsprechende „Loge" als autologes und heterologes. Ganz so wie es die Logik unternimmt, wenn sie zuerst zeigt, wann, d. h. genauer wenn, unter welchen Bedingungen Urteilssätze nicht nur tatsächlich da, sondern ihrem Sinn entsprechend richtig sein können, um so unter psychologischer Sicht dann zu den konkreten „Regeln" zu kommen. V o m Menschen aus gesehen, begreift man die Aufgabe, die das Logonome für die Verwertung des soziologischen Materials stellt, w o h l am besten so. Was natürlich nur eine assoziative H i l f e wie in der Geometrie die Figur an der Tafel bedeutet, kein begriffliches Begreifen: Der Einzelne empfindet sich stets als ein Wesen von Fleisch und Blut, untrennbar innerhalb einer Situation, w o r i n er ohne seinen Willen hineingeriet und aus der die verschiedenartigsten auch widersprechenden Richtschnuren auf ihn eindringen. D a er die Situation m i t ausmacht, hat sich das, was er als „Person", als sein Ich m i t dem Namen Soundso gelten lassen möchte, bereits m i t solchen Richtschnuren „aus seinem Eigenen", gleichfalls widerspruchsvollen auseinander zu setzen. Innerhalb einer Situation, die die seinige ist und wobei er wieder zu ihr gehört, in einem solchen funktionellen Zusammenhang gibt es nur insofern einen H a l t , als der Mensch als moventium glaubt, jedenfalls etwas, nämlich sich verhalten zu können: Nach pragmatischem Wahrnehmen der eigenen und U m w e l t dieses und jenes gestalten oder i n non facere, pati verharren, wobei sein Leben ja doch weitergeht. Wie irgend etwas beliebiges daraus, treten ihm auch die direktiven Auflagen oder Gewährungen entgegen, kommen in sein Bewußtsein, nicht anders als Realitäten von nah oder fern. Auch sie aus der Situation entspringend und in ihr erscheinend. Wenn er nun auch nicht ohne weiteres etwas daraus vernichten kann, wenn es auch unmöglich ist, das pragmatisch Erfaßte m i t logisch Erfaßtem (auf Grund der bekannten begrifflichen Entwicklungen, der logischen Dignität nach) zu identifizieren, so muß sich doch das für ihn Belangvolle, Aktuelle, das was nun gerade jetzt hier wahrzunehmen ist und worauf er als challenge mit response zu reagieren hat, aus der Situation ergeben, gemäß dem Sinn, den er für sich daraus entnimmt. Der wirkliche Mensch kann, soll und darf sich immer
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nur als aus ihr angesprochener und darauf antwortender benehmen. Allgemeine Richtschnuren heteronomer A r t können ihn ja nichts angehen, da ihr Sinn sich auf allgemein Richtbares bezieht, das ihn, seine Realität nicht enthält, einbegreift. Auch das Logonome bedarf, wie w i r wissen, religiös ausgedrückt, schließlich des „Sohns" und seiner Inkarnation zur Erlösung des wirklichen i n der Welt stehenden und ihr Schicksal teilenden Menschen. Alle diese Allgemeinheiten können unter dem Gesichtspunkt des „nächsten Schritts", der von i h m verlangt wird, nur als Assoziationen zur Erzielung sozusagen „kinetischer Richtigkeit" als Tenor des Heterologen gewertet werden. Es kommt also auf den Sinn der Situation an, um m i t dessen H i l f e , dadurch gedanklich vermittelt, als entscheidendes Prinzipiat das Heterologe (wie natürlich auch bei eigenem Vorhaben das Autologe) zu finden. M i t diesem Begriff der Situation sind w i r nun aus der an sich gesetzten „ N a t u r " des Monismus heraus, mögen w i r den „ G o t t " gegenüber der Welt, die ihre Situationen hat und ihre Phasen durchmacht, auch so oder so verstehen. Die Situation stellt den Menschen i n den Verlauf des Geschehens, der Geschichte nicht für den Geschichtsprofessor und das Lehrbuch, sondern der res gestae. Es ist also die teleologische Geschichtspbilosophie, die an diesem Punkt den Anspruch erheben muß, Weiteres auszusagen: nämlich über den Sinn der Situation. Woraus der Mensch dann „das Gebot der Stunde" zu entnehmen hätte. Sinnvolle Situationsgestaltung aber fordert einen wie auch immer zu verstehenden Sinn der Welt überhaupt als Inbegriff des Richtbaren gegenüber dem der Richtschnur. Die Welt als Inbegriff, als Einheit m i t eigenem Bezug und Sinn, und nicht als Idee unendlicher ins Unendliche führender Reihen immer wieder nur kontingenter Glieder aber ist ein Begriff der Religionsphilosophie. Selbst unter „ M a y a " w i r d sie ja als etwas bezeichnet und ist etwas Bestimmtes m i t seinem religiösen Sinn. Auch Häckel dachte an einen Sinn der Welt, wenn er glaubte, die Welträtsel gelöst zu haben. Logonomes-Welt als Bezug; als Phasen der Inkarnationssphäre des Logonomen die Situationen und ein jener Welt entsprechender Sinn; innerhalb solcher als Inbegriff mannigfacher auto- und heteronomer Richtschnuren der wirkliche Mensch, beim Redit nach dem hic et nunc Heterologen fragend! V o n der Religions- über die teleologische Geschichtsphilosophie zur Rechtsphilosophie m i t ihrem Kardinalproblem vom Heterologen auf Grund eines spezifisch Heteronomen, so verläuft die Reihe vom Faktischen zum Verbindlichen, vom Gesetz zum (dogmatischen) Recht.
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Es ist leicht, das Gesagte mißzuverstehen. M a n braucht nur anzunehmen, w i r glaubten, daß sich das Recht (nicht als Faktum, wo das hier Abgelehnte als Problem ernsthaft wird), logisch-ontisch auf „Religion" gründe. Was behauptet w i r d und anderswo 3 näher ausgeführt, ist die Gegenständlichkeit, das Dasein (alles zu enge Begriffe!), dessen, worauf sich religiöse Dogmatik bezieht. Es gehört ins Wissenssoziologische der Konfessionen, daß der Protestantismus der Gegenwart meist gar kein Interesse dafür hat, ob dem Inhalt der Dogmen „Sachverhalte" entsprechen, die prinzipiell und grundlegend für das Teleologische sind, daß sie, logisch betrachtet, nicht „religiöse" — die interessieren hier nicht — sondern logische Richtigkeiten ausdrücken. I n jenes Wissenssoziologische gehört auch, daß sogar der Katholizismus bei diesen Fragen Angst vor Rationalismus hat und allein nur die w o h l von der Logosspekulation beeinflußte Philosophie der Orthodoxen die sie an Hegel erinnernden Gedanken würdigt 4 . Das, worauf die religiöse Dogmatik i n ihrer bald zweitausendjährigen Entwicklung begrifflich hinzielt, sind also für uns grundlegende Verhältnisse, eben die, welche w i r der Religionsphilosophie zuweisen, damit, auf sie gegründet, teleologische Geschichtsphilosophie möglich werde und so vermittelst derer Gedanken über den Sinn von Situationen der Welt auch das Recht als Verbindliches, was es zu sein beansprucht. — Jene Begriffe, welche die hetero nome soziologische Basis beim Recht konstituieren und die, welche das Hetero loge auf Grund der Religions- und Geschichtsphilosophie erweisen sollen, bilden die A n t w o r t auf die Kantsche Frage: wie Verbindliches an H a n d von Anmaßungen von Gewalthabern „möglich" werde, nicht als Gefühl oder tatsächliches Parieren, sondern „gerechtfertigt", nicht ursächlich, sondern logisch, als Folge. Neben dieser entscheidenden Frage können, je nach der Bewußtseinslage vielleicht folgende Vorstellungen unterstützend wirken: M a n weiß, daß so etwas wie objektives Recht vorliegen muß, damit man einen Fall, etwa des Bürgerlichen Rechts danach entscheiden kann. Die begrifflichen Verhältnisse, wie w i r sie beim Rechtssubjekt, Rechtsobjekt, Rechtsverhältnis, Rechtsakt, Rechtsgeschäft usw. als Grundbegriffe unseres positiven Zivilrechts finden. Denken w i r uns jene Begriffe aus der soziologischen Unterlage und dem Gegenstand, also 3
Unser oben zitiertes Buch über den philosophischen Gehalt der religiösen Dogmatik. 4
Besprechung des russischen Philosophen Simon Frank in DJZ 1924.
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der Sphäre, die das Heteronome beim Recht ausmacht und dann als hinzukommend und jene modifizierend das Teleologische als Ergebnis der auf Religionsphilosophie gegründeten Geschichtsphilosophie und damit den Adressaten innerhalb einer sinnvollen Situation, so haben w i r etwas Entsprechendes wie bei jenem objektiven Recht, nur jetzt nicht für den Civis H i n z oder K u n z sondern für die Träger der Gewaltkonstellation, ihre Organe, wissenschaftlichen Gutachter, kurz die nun am „positiven Recht" beteiligten. Sie empfangen i n ähnlicher Weise wie jene privaten cives i m Zivilrecht ihren Rechtstitel aus jener Begriffswelt. — D a es sich nun zeigen wird, daß jeweils i n verschiedenen Situationen jedenfalls faktisch etwas aus jenen konstituierenden Momenten überbetont w i r d , immer auf Kosten eines anderen, aber vielleicht wieder i n „kinetischer Richtigkeit" aus pragmatischen Gründen, kann man auch an ein elektrisches Kraftfeld erinnern. Als Kräfte hätten w i r jene einzelnen Momente zu denken, aber von O r t zu O r t , d. h. Situation zu Situation verschieden, variabel nach ihrem für deren Gestaltung belangvollen Sinn. Auch ist jeder Gedanke an Fortschritt i m Sinne der Technik von der Idee der Richtigkeit i n der teleologisch verstandenen Situation fern zu halten. Es geht stett bloß um idem sed aliter. Viele Probleme sind m i t unserem dualistischen Schema aufgeworfen. Viele davon sind ins Bewußtsein der Rechtsphilosophie und danach in das der Rechtswissenschaft getreten. H i e r können nur einzelne davon näher betrachtet werden. Aber ein Uberblick über die Möglichkeiten soll doch erfolgen. D a haben w i r zunächst gerade unter dem Gesichtspunkt der Welt, religiös gesehen, den Menschen i n ihr. Der Mensch i m Sinne der Richtigkeitslehre ist ja das Lebewesen, das nicht nur auf Grund heteronomer Richtschnuren: Imperativen gehorcht, sondern welches Adressat heterologer Richtschnuren ist, für das es also die Verbindlichkeitsfrage bei allem bloß Tatsächlichen gibt, die Möglichkeit wirklich richtig zu sein. H i e r scheiden sich deutlich zwei Begriffe von „Mensch": der des Menschen i m Sinne einer philosophischen Anthropologie und der des Menschen der empirischen. Die letztere hat gerade in unserer Zeit wichtigste Entdeckungen gemacht; der Unterschied gegenüber den anderen Lebewesen ist so deutlich geworden, daß jetzt die Gefahr besteht, jene Errungenschaften als solche philosophischer Anthropologie anzusehen. Aber die Begriffssphäre, worin sich der philosophische Begriff Mensch als Kulminationspunkt findet, als Subjekt, A u k t o r hetero-
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loger Richtsdinuren und entsprechender Adressat, ist keine naturwissenschaftliche. Es ist wieder wissenssoziologisch interessant, daß gerade die Rechtswissenschaft als Archetyp normativer, d. h. ethischer Begriffsbildung, als was sie zuletzt noch Hermann Cohen, der Begründer der Marburger Schule, der Neukantianer erkannte, m i t ihrem Begriff der Geschäfts- und Deliktfähigkeit, der Verantwortlichkeit und Zurechnung, m i t Schuld und Sühne, früher so befruchtend für die Bemühung um den philosophischen Menschenbegriff war, jedoch heute von dieser ihrer Funktion für die Genesis gar nichts mehr weiß. V o n der Antike über die Scholastik, dann wesentlich i m Naturrecht, so lange es noch philosophisch war und nicht rein utilitaristisch, vor allem aber bei K a n t und seinen Nachfolgern haben w i r , bei jenem stark an der Rechtswissenschaft orientiert, die Bemühung um den Menschen als Adressat von Logonomem, Autologem und Heterologem und nicht als parierendes Wesen, von dem ein russischer Großfürst bei der Parade noch tadeln konnte, daß es noch spontan zu atmen wagt. N u r bei den Grund- und Menschenrechten taucht unser philosophischer Begriff des Menschen auf. Es kann aber nur dann gehofft werden, daß man von daher wieder seine Bedeutung erfaßt und als Beziehungspunkt jener zur Zeit chaotischen Fülle subjektiver Rechte bestimmt, wenn man i m Sinne unserer heterologen Tendenz die Grundrechtsproblematik als transzendent gegenüber allen billigen Katalogen der jeweils zur Macht Gekommenen erkennt. Wie es nun keine qualitativen M o mente an sich gibt, sondern nur ihr Wesen als Formen von Realitäten — obgleich die wissenschaftliche Erkenntnis jene isoliert behandeln muß — , so auch keinen philosophischen Begriff des Menschen an sich, sondern zur Konstitution und Regulation des Wirklichen. Bedeutend aber vielfach bereits dem Laien sichtbar sind die Gestaltungs- und Abwandlungsverhältnisse des Soziologischen: der Basis des Heteronomen. Das hat uns später ausführlicher zu beschäftigen. So wahr auch jede Rechtswissenschaft m i t ihrem Recht einen besonderen Menschentyp impliziert, so sind doch grade solche Möglichkeiten i m Recht dem Laien besonders suspekt gewesen. Jene soziologischen Verhältnisse vertragen ihrem Sinne nach die verschiedenartigsten „Behandlungsmöglichkeiten". Es ist das Wesen des Organs, wie es i m Dienste eines Gewalthabers steht, ja ihn eigentlich soziologisch erst konstituiert — denn das dogmatische Recht gründet sich seinem heteronomen Machtaspekt nach auf solche Funktionäre — 3aß es nach Anordnung aus realen soziologischen Vorgängen in dem „soziologischen Gegenstand"
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weitgehend, allerdings n i d i t unbeschränkt, anders machen kann. M a n kann sogar „nichts" aus ihnen machen, man kann sie verändern, ersetzen und schließlich einfach anerkennen, bestätigen: den soziologischen Vorgang im Rechtlichen ausdrücken. Dies ist der Punkt, wo der Laie das eigentümlich Spitzfindige am Recht zu konstatieren pflegt, vor allem dann, wenn es seinen Absichten zuwider läuft. H i e r ist auch das eigentümlich Fiktive, das „als ob", gesehen von dem aus, was sich rein soziologisch, i n der Welt vollzogen hat. Soziologisch, genauer rechtspsychologisch ist nun das, was sich heute als so etwas wie eine letzte Entscheidungsinstanz für richtiges Recht, Wissenschaft und Richterspruch gebärdet: das was man als antinomisch unter Sicherheit und Gerechtigkeit versteht. Bedürfnisse gewiß, man braucht nur den „ M a n n auf der Straße" zu fragen, zumal wenn er allerlei Regimewandel und Liquidationsschicksale erlebt hat. Bedürfnisse sind aber nur für den naiven Pragmatisten Rechtfertigungsgründe. Es ist nun der sog. Wert heute i n der Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, wenn auch hier vielfach unter anderem Decknamen ζ. B. Interesse für Höheres zum Geschäftsführer ohne Auftrag geworden. H i e r i m sog. Wertgebiet ist ja die Welt noch voll, von Spuk. Beide so grundverschiedene Begriffe: die Gerechtigkeit, sich primär auf Austeilungen i m soziologischen Geltungsbereich, die Sicherheit, sich auf den Grad der Voraussehbarkeit beziehend, womit man bei Gewaltverhältnissen nach Verheißungen rechnen darf, verlangen eine besondere Betrachtung, damit der so verschiedene O r t in der T o p i k ersichtlich w i r d , wohin sie zu verweisen sind.
§ 8 Falsche Accente: Logische, ontische, psychologische, generalisierende, spezifizierende, Stetigkeit, Diskretion, die direktiven Momente, „Werte", Relativismus usw. V o n den verschiedenen Momenten, die beim Rechtsbegriff eine Rolle spielen, wirken sich besonders folgende in falscher Accentuierung in Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft aus: Das Apriorische
(Rationale)
und das Aposteriorische
(Empirische)
Die mannigfachen Aprioritäten, von denen w i r später die soziologischen genauer betrachten werden, tauchen überall in loco alieno auf, wo uns Bewertung bloßer Formen als Maßstab empfohlen w i r d : des Einzelnen, des Individuums, einer Form des Kollektivs, des Vertrags, des Führers (Auktors von Befehlen) usw. Das alles „gibt es" als Gegenstand von Begriffen. Für die Wirklichkeit jedoch nur, um darin den H i n z i m Ganzen seiner Familie oder seines Staats zu sehen, als wirklich paktierenden oder als kommandierenden. A n sich aber lassen sich jene Aprioritäten, Wesenheiten weder richten noch selbst, wie w i r es beim Relativismus als falschen Grundsatz finden, als Prinzip von Richtschnuren ansehen. Ein Hinweis vor späterem: Soll der Einzelmensch den terminus ad quem für alles bedeuten, also auch für Recht und Wissenschaft, so braucht man nur zu fragen, der Einzelmensch? ja aber wie? Es gibt ihn ja überall! D a m i t erwächst bereits die Forderung nach einer anderen Richtschnur für diesen Einzelnen und das Prinzip ist aufgegeben. — Das Empirische unvermittelt, ohne Aprioritäten zu verstehen, deren Wesenheit es ja erst „ermöglichen", ist natürlich die banalste Form der Auffasung des Rechts und der Aufgabe der Rechtswissenschaft. Wie w i r schon sahen, ist, auch nur bei erstem Ansatz, eine Fülle konstituierender Momente nötig, damit das denkbar w i r d , was man Recht nennt. Rein empirisch ist weder einzusehen was Heteronomes ist, noch woher es kommt oder worauf es sich richtet. Rein empirisch auch nicht, was es den Menschen angehen solle: das Heterologe. Ein Sinn der Rechtswissenschaft wäre schon gar nicht auszumachen. Selbst der Begriff der W i l l k ü r , der nur negativ von anderem aus zu bestimmen ist, bliebe leer.
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Falsche Accente
Das Logische, Ontische, Psychische, Symbolische,
Direktive
M a n kann Recht als Gegenstand nicht m i t den auf seine Erfassung zielenden Urteilssätzen identifizieren. Das meinte w o h l auch die berühmte These von Parmenides nicht. Jedenfalls war es nicht der Sinn der von den Neukantianer wieder aufgegriffenen „tranzendentalen Methode". So unmöglich es ist, dem Recht logisch zuwiderzuhandeln, sondern nur seinem Wesen zuwider falsche Urteilssätze aufzustellen, so falsch wäre es, eine Sphäre dessen, was man vielleicht als solche am „metaphysischen Ursachverhalt" bezeichnen darf: die Logische m i t dem, worauf sie sich bezieht, dem Ontischen zu identifizieren, indem man wie i m Rationalismus oder Logizismus alle anderen Sphären i m logischen Satz und BegrifFsbereich aufgehen läßt. Grade durch solche Hypertrophie nimmt man der ganzen logischen Sphäre ihren Sinn, den sie ja nur vom Gegenpartner: dem Ontischen gegenüber hat. — Entsprechend steht es nun mit jeder Sphäre. Spinoza würde sagen, m i t jedem Versuch, Gott als Substantia nur ein A t t r i b u t zuzuschreiben. Vorher sahen w i r , was daraus wird, wenn man Wesenheiten als das allein Seiende auffaßt oder beim Empirischen eine A r t des Seienden für das Ganze nimmt. Das Psychische überschätzen bedeutet bekanntlich Psychologist werden: Idealist in einem besonders engen erkenntnistheoretischen Sinne. Auch das Symbol aus der signitiven Sphäre, der Sprachlichen, worin w i r ja jede These ausdrücken müssen, kann keine darüber hinausgehenden Ansprüche erheben. Recht ist ebensowenig ein Gefüge von Symbolen wie die Rechtswissenschaft ein i n sich kreisender Lauf von „als obs". Wenn man die Einseitigkeit all dieser Momente an einem lustigen Muster kennen lernen w i l l , so braucht man nur die verschiedenen Theorien über „das Wesen der juristischen Person" zu betrachten und sich dabei jeweils zu fragen, i n welcher Sphäre sie ihren Sinn haben und wogegen sie gar keine Antithese darstellen. So lassen sich Behauptungen wie: die juristische Person sei eine Realität oder eine Verbandsperson, ein Rechtssubjekt oder eine Abstraktion, ein Begriff oder eine Fiktion wie Elemente einer Menge jeweils i n der zu ihr gehörigen sondern. Wenn man das Recht als Heterologes, als Direktives bestimmt, bleibt es aber auch Ontisches, gibt es i n psychischen Akten logische Urteile über seinen Begriff i m Gewand sprachlicher Symbole usw. Das Direktive t r i t t i n der Überbetonung des Autonomen historisch am sichtbarsten in Erscheinung. Der Willensbegriff i m Willensstraf-
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Ret
und Rechtswissenschaft
redit, beim Rechtsgeschäft, den sog. Mängeln bei seinem Abschluß, als Hinderung für die Ansprüche des „guten Glaubens". Der Vertrag: die Willensübereinstimmung als Ursprung alles Heterologen behauptet! K a m p f ums Recht, Interesse, „ E t h i k des reinen Willens", das sollen hier nur Hinweise dafür sein, wo man Hypertrophien des Richtschnurbegriffs zu suchen habe. Generalisierende und spezifizierende Momente, Primate von Stetigkeit, Diskretion W i r haben über die Idee der Konkretisierung i n Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit die den Stoff erschöpfende Arbeit von K a r l Engisch 1 . A n dieser Stelle wäre daher nur auf die Uberbetonung der beiden Pole hinzuweisen, die jeweils als Ideen die begrifflichen Bemühungen leiten. Nicht nur die Neigung zur „Generalklausel", sondern auch zum Schlagwort, dessen Reichtum an einander häufig widersprechenden Assoziationen, wovon man auf eine gern reinfällt, weil eigene Einfälle bestätigt zu sein scheinen, gehören hierher. Ein wissenschaftliches Schlagwort von Rang, weil es ein ganzes Rechtsgebiet zu eröffnen bestimmt ist, ist ζ. B. das vom „Lebensverhältnis", bei dem gewöhnlich jeder Zivilist glaubt, er wüßte, worum es sich dabei handelt. Dabei geht es entweder um den sorgfältig zu bestimmenden Grundbegriff der „Beziehungslehre", um Apriorisch-Soziologisches in unserem Sinne oder um etwas, was Recht i m Sinne dieses soziologisch Geltenden bereits voraussetzt. A u f der Gegenseite haben w i r den „ F a l l " als begriffliches Ziel. Gut, bestimmt, wenn die, wofür die Rechtswissenschaft ihre Theorien bildet, wissen und verstehen, worauf es ankommt. Kasuistik ist ja, logisch gesehen, immer eine relative. Sie zeigt ihre Grenze pragmatisch da, wo sie lästig ist. So könnte man jene Pole etwa folgendermaßen illustrieren: A u f der nach dem Prinzip zustrebenden Seite hätten w i r das inhaltsärmste: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz". A u f der konversen Seite, i m Prinzipiat, einem logisch unabschreitbaren Gebiet dagegen nach Prinzipien entfaltete Casuistik, wonach also das, was jeweils normiert wird, i n der tabula logica, dem Konkretisierungsgrad oder logischem Gewicht nach, auf gleicher Ebene stünde. — Stetigkeit glauben w i r i n altdeutschen Rechtsformen vor uns zu haben. Sie liegt w o h l überall gegenüber prävenierenden Theorien da vor, wo man den Einzelfall, so wie er aktuell wird, als Aus1
Heidelberg, Abhandlung der Aakademie d. Wissenschaften, 1953.
Falsche Accente
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gangspunkt nimmt. Es verwundert uns immer wieder, wenn man die Schilderung eines solchen Anlasses mit allem, uns unwesentlich vorkommenden D r u m und D r a n i m angelsächsischen Gerichtsverfahren vernimmt. Ohne die Ungeduld der begrifflichen Voreingenommenheit, ohne das bekannte: „ H e r r Kollege, darauf kommt es hier gar nicht an, ob das Verdorbene Kaffee oder Tee war." H i e r haben w i r also am Anfang noch etwas wie die Lebensfülle, freilich auch diese bereits in den Kategorien des täglichen Lebens, common sense, den Berichtenden dargeboten. Der Gedanke kann nun gelassen, sich selbst überlassen, zunächst einmal wandern, vertrauend, daß sich rechtliche Einfälle einstellen werden. Freilich sind diese dann als Instanzen von hoher Modalität bereits i m Angelsächsischen in der Zitierung von Präjudizien drohend aufgetaucht. Gegenüber solchem gedanklichen Abschreiten und den Ergebnissen in der Fülle begrifflicher Einzelschritte haben w i r nun die Tendenz zur Diskretion.
Wo schon i m Recht der Einzelne dem anderen gegenüber
steht, der Einzelne der „Gesellschaft", so wie sie Tönnies verstanden wissen wollte, da haben w i r jene Cäsuren als das Strikte. Denken w i r an die Novationen bei Regimewechsel, die man dann meist wieder revidieren muß, an die vom Gesetz geschaffenen Abgründe, die jedoch übersprungen werden müssen, ohne daß man hineinfällt 2 . Aber auch an alle jene Formen der Bindung an etwas, was vergangen ist, an Erklärungen und Taten, w o also die Zeit trennt. Rechtswissenschaftlich interessant sind die Entdeckungen der „abstrakten Verpflichtungen", der Forderung und Schuld zunächst ex nihilo. Das „Anerkenntnis als Verpflichtungsgrund" ist ja eine wissenschaftliche Entdeckung gewesen, ebenso das abstrakte Rechtsgeschäft, den Wechsel der Herrschaftsverhaltnisse i m Dinglichen herbeiführend, Tradition, Auflassung usw., die Tratte, im Strafrecht das Nichts zwischen Geisteskrankheit und Verantwortung. Schließlich „setzt" jede amtliche Entscheidung wie auch private „Willenshandlung", indem sie trennt. Die Neigung oder Abneigung zu oder gegen solche Diskretionen charakterisieren
Zeiten,
Völker, Zivilsationsstufen. Die stärkste Abneigung ergäbe so etwas wie eine juristische Mystik. — 2
Ein rechtsphilosophischer Leckerbissen: Die wissenschaftliche Behauptung einer Cäsur durch ein inappellables Gericht, wodurch ein sich sonst als Rechtsnachfolger Gebärdender von gewissen Lasten losgesprochen wird. 6
Emge
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R e t
Auffassungen
und Rechtswissenschaft
über Logonomes, Autonomes, Heteronomes in ihrem Verhältnis zueinander
Nicht zufällig lassen sich die Hypertrophien dieser Begriffe am besten durch religionsdogmatische Vorstellungen exemplifizieren. Logonomes also Gott kann alles Kreatürliche wieder i n sich zurücknehmen. So schwände der Sinn des Autonomen oder Heteronomen als ein unentbehrliches Moment für's Autologes und Heterologes dahin. Für die Rechtswissenschaft würde sich eine solche Tendenz i n einer pneumatischen Interpretation äußern. I m alten Recht urteilte man ja noch aus Inspiration. M a n braucht aber nicht so weit zurück zu gehen. W o vom „Geist" die Rede ist, der endlich i m Recht in Erscheinung treten müsse, da haben w i r einen A p p e l l an derartiges. „Der Geist des Nationalsozialismus", „des Faschismus", „des Marxismus", ja auch „des Liberalismus" usw. H i e r w i r d gefordert, daß die Wissenschaft Ausdruck jenes sie tragenden als Logos aufgefaßten Phänomens sei. Auch die sog. Freirechtsbewegung läßt so etwas verspüren. Das Gesetz rückt dabei i n die Nähe von Richtpreisen als Muster, Vorlagen. — Dagegen finden w i r nun, daß die Tora ganz übergeben ist und Gott nicht mehr hineinreden darf 3 : Herabsetzung des Logonomen, H y p e r trophie der Auktoren von Normen und Urteilen in Recht und Rechtswissenschaft. Der Positivismus ist für beides ein Muster: hie Gesetzesrecht, hie Juristenrecht. Das Gegenteil von Wesensschau, wo man, von sich aus, Wesen wie die legitimierenden Ideen Piatos zu erschauen sucht. Der Menschengott gegenüber dem Gottmenschen in der Wissenschaft. Wobei es dann wieder die Unterschiede gibt zwischen der Uberordnung, logischen Privilegierung des Individuums oder des Kollektivs, von dem jeweils das verbindliche Heteronome ausgeht. D o r t Gott, ohne Mensch, da Ich ohne Gott gegenüber Nicht-Ich, hie das Menschenkollektiv ohne Gott und nur mit bedeutungslosem Ich. U m die Kombinationsmöglichkeiten zu ahnen, die unsere Beziehungsglieder enthalten, denke man, daß es gegenüber dem Prinzip des Logonomen das Autonome in Gestalt der Adressaten, die ja folgen und entsprechend sich befehlen sollen, gibt, der Funktionäre, für die dasselbe gilt, schließlich der wissenschaftlichen Juristen, die autonom dazu noch entsprechend der logonomen Richtschnur für das Logische (Wissenschaft!) das Heteronome als einen Erkenntnisgrund für das Heterologe: 3
Fromer, Der Talmud, S. 56, die wundervolle Stelle aus 3BM11,35: „Nicht im Himmel ist sie, die Tora".
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Falsdie Accente
Redit auszuwerten haben! Die A r t der Unter- bzw. Überordnung der beteiligten Auktoren je nach ihrem Grad gibt hier für die Theorie immer wieder neue Aspekte. Wie sehr kann ζ. B. diese hypertrophe Hingabe an die Idee des Autologen, eine Auffassung über „reine" Wissenschaftlichkeit als Aufgabe des dogmatischen Juristen zur Reduzierung der realen also wirksamen Momente bei den heteronomen Erscheinungen: Gesetz, Gewohnheit, Geltungsgrad usw. führen! Das faktisch Mögliche, also wirklich gedankliche Erfassen in Bewußtseinsakten Die Jurisprudenz hat bei der Erfassung ihres Gegenstands den Zweck, innerhalb einer historischen Situation gebrauchsfähige Theorien bereit zu stellen, m i t denen die Destinatäre der Rechtswissenschaft je nach ihrer Funktion etwas anfangen können. D a m i t ist auch das pragmatische Problem aufgeworfen, die A r t , „fertig zu werden", plausibel, dem beteiligten Bewußtsein gemäß, für dieses ja wechselnde klar und einleuchtend. Es gibt so etwas wie ein „ W e l t b i l d des Juristen", worüber w i r K a r l Engisch eine gründliche Studie verdanken 4 . Innerhalb eines solchen bewegt sich das Verständnis. Es steht zwar nicht ein für allemal fest; aber es sind doch wohl mehr oder weniger dieselben Belange, wofür der Laie den Juristen braucht und dieser wieder die Rechtswissenschaft. Diese Perspektive läßt nun auch Ubertreibungen zu, welche jeweils nach Zeitumständen verschieden der Rechtswissenschaft als objektivem Geist ein verschiedenes Gesicht geben. Wie verschieden ist schließlich auch das, was man jeweils als praktisch anpreist, so verschieden wie der „ W e r t des Glücks" in Raimunds Hobellied. »Zwischenreiche" wie abstrakte Tugenden, philosophische Ideen
Ideale,
W i r haben früher schon bemerkt, daß die unvermeidliche Einführung des Begriffs der historischen Situation, seine „Aufhebung" aus dem Sosein eines naturwissenschaftlichen Befunds ins Direktive, als Bezug des Logonomen, kurz als „ W e l t " die Begriffe angeblicher Tugenden, Ideale, philosophischer Ideen, so weit sie isoliert Postulate sein sollten, zu situationsbedingten M i t t e l n herabsetzt; tauglich für Maximen, insofern sie dafür die wirksamen Assoziationen mit sich führen, als 4
Engisch, Das Weltbild des Juristen, Abhandlung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 1950. 6
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Recht und Rechtswissenschaft
Theorien aber nicht seriös. Diese Erkenntnis hindert aber nicht, daß Vorstellungen dieser A r t den Charakter der Gesetzgeber und der Rechtswissenschaft bestimmen. Eine geistesgeschichtliche Betrachtung der Jurisprudenz wird, homogen anderen Zeiterscheinungen, vieles derart entdecken können. Worauf die Philosophie der Rechtswissenschaft nur hinweisen kann. A l l das ist dabei untrennbar von der Vorstellung von „Werten", zu der w i r später übergehen werden. V o n einer einzigen „Philosophie" kann man behaupten, daß sie bewußt die Absicht hatte, jeweils das Ganze i m Auge zu haben und danach i n den Begriff zu bekommen: Der Hegeischen. H i e r weiß man, daß „ein Moment" eben nur einen Moment ist, daß er daher auch bei den Unterscheidungen von Gesetz, Recht, Rechtswissenschaft, Judikatur usw. darauf ankäme, ihre Beziehungsweisen zueinander, ihre Abhängigkeiten und wechselseitigen „Vermittlungen" nicht zu übersehen, sondern sie sogar, geistig nachzuvollziehen. So hat es außer der an A n reglungen unerschöpflichen Rechtsphilosophie Hegels die verschiedenen Richtungen der „Hegelianer" gegeben, gibt es heute noch die Kieler Schule i n der Nachfolge Binders: der früh verstorbene Duldkeit, Larenz in Deutschland. Daß es bereits früh, ebenso wie bei K a n t verschiedene Richtungen gab, die Hegels Intention erfaßt zu haben glaubten, beruht auf dem Reichtum seiner, ständig i n Bewegung befindlichen Gedankenwelt, vor allem aber auf der Mehrdeutigkeit der „ D i a l e k t i k " . Der Ursprung der verschiedenen Bedeutungen beruht wohl auf der Einsicht, daß jeder Sinn, sobald man ihn „erfassen" w i l l , dadurch in „Fassungen" gerät, das heißt, eingeschränkt w i r d durch anderes, was er nicht ist, worauf er sich jedoch so bezieht, daß sein Wesen dieses anderen, was er nicht ist, zum Ausdruck seines Eigensinns bedarf. So führt dann eins zum anderen. M a n sieht den Gedanken i n Bewegung als i n seinem Element und dadurch das, was isolierte Gedanken gleichsam am Gegenstand herausgeschnitten haben, dadurch, daß sie ihn „als gegenständlich" zu fixieren suchten, wieder eingeschmolzen. W i r mußten diese Richtung erwähnen, weil ihr Einfluß auf die Rechtswissenschaft nicht überschätzt werden kann 5 . Nicht etwa dadurch, daß eine Schule sich als solche der Neuhegelianer bezeichnete6. Das war lucus a non 5 Vgl. unsere kleine Schrift „Hegels Logik und die Gegenwart", 1926 (Wissenschaft und Wirken, Braun). Noch 1882 erschien die Rechtsphilosophie des Hegelianers Adolf Lasson. 6 Kohler, Berolzheimer, Begründer des Archivs für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1907 ff., das aber allen Richtungen offen stand und steht.
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lucendo, was den speziellen Geist Hegels anbetraf. Sondern durch etwas, was man vielleicht als Befreiung des philosophischen Gedankens bezeichnen darf: Die Anregung zu beweglichem, von einseitig Dogmatischem befreitem Denken, zum dialegesthai i m Sinne Piatons. Grade daraus entsprang ja auch die Vielseitigkeit des Phänomens, das man „Hegelianismus" nennt. Seltsam aber ist, daß, abgesehen etwa von Eduard Gans, einem Zeitgenossen Hegels, kaum ein Versuch gemacht wurde, das oder auch nur ein System des Rechts auf eine Weise auszuführen, die sich ganz auf eine der von Hegel oder auch schon von Schelling gefundenen Formen der Dialektik hätte stützen können. Noch vor nicht langer Zeit hat Agnes D ü r r Sieben Formen der Dialektik in Hegels Werk feststellen können 7 . N i m m t man die faktischen Interpretationen der Hegelianer aus früherer Zeit hinzu, so bleiben große Möglichkeiten übrig. Auch wenn man die historischen Aufschlüsse über Hegels Entwicklung und die Leistungen auf Spezialgebieten der Kieler Schule anerkennt. Bekannt ist, daß noch spontan, unabhängig von kollektiven Einflüssen der „dialektische Materialismus", verstanden oder mißverstanden, eine Rechtsanschauung geworden ist, deren A n spruch noch mehr als das zu sein scheint, nämlich: „Weltanschauung", Welterlösung dann enantiodromatisch die entsprechenden Formen von Syntagmen auslöste, deren reale Auswirkungen w i r ja eben erst erlebt haben. Es wäre Sache der Geisteswissenschaft, hier an H a n d der seriösen rechts wissenschaftlichen Literatur in Ländern, wo der Marxismus Grundlage des Staats ist, den verschiedenen dialektischen A n regungen Hegels nachzuspüren. H i e r wo es sich darum handelt, einen Überblick darüber zu gewinnen, wie sich die Erfassung einzelner Momente am Recht i n hypertrophen Formen auswirken könne, darf als Versuch, grade derartiges zu verhindern, auch die Marburger Schule nicht vergessen werden. Auch hier hat man, trotzdem man einen neuen „Kritizismus" i m Sinne Kants erstrebt, das Ganze als Idee i m Auge. Die Tendenzen, die von hier aus zu Hegel führten, sind oft beschrieben worden. H i e r nur das Spezifische: Gegenüber mannigfacher Spezialdeutungen der Kantschen A b sichten, seiner Aprioritäten vom „ W e r t " , oder sogar vom Gesamtmenschen her, war die jene Kantianer verbindende Idee die Anwendung der sog. „transzendentalen Methode"; um vom Anschauungsstoff aus, den der „objektive Geist" der Zeit, ständig i m Fluß, aber doch 7
Zum Problem der Hegeischen Dialektik und ihrer Formen, 1938, Philosophische Untersuchungen, Bd. 4, herausgegeben von N. Hartmann und uns.
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und Retswissenschaft
i m Querschnitt „ i n gedruckten Büchern" faßbar vorlegte, die „Bedingungen seiner Möglichkeit" damit als wissenschaftliches Produkt auch seiner Richtigkeit zu ermitteln, dadurch Widersprüche aufzudecken, überflüssige und daher schädliche dogmatische Bestandteile auszuscheiden und so kritische Anregungen für den weiteren Verlauf zu gewinnen. Es ging also hier recht eigentlich um „Wissenschaft". Freilich nicht so sehr um ihre Realität als wissenssoziologische Erscheinung einer Zeit. Diese A r t der Soziologie war damals, abgesehen vom Marxismus und ersten Bemühungen der Heidelberger, Kölner, Berliner Soziologen noch kaum bewußt geworden — sondern um die logischen Fermente, die darüber entscheiden, ob etwas darin wissenschaftlich ist oder nicht. Wissenschaftliche Form allein kann dafür ja nicht entscheidend sein. Weder Angelologie noch Dämonenlehre w i r d man heute dazu rechnen, soweit es sich nicht bei ihnen um Auslegung von Dogmengehalt oder Beschreibung künstlerischer, mythologischer, religiöser Vorstellungen handelt. Bekanntlich hat Hermann Cohen auf den Wert des rechtswissenschaftlichen Gedankenguts für die Begründung der Ethik hingewiesen, so wie er sie als „ E t h i k des reinen Willens" verstand. Charakteristisch, daß bei ihm und vorher schon bei K a n t die Bedeutung des „Willens" grade aus diesem damals besonders stark römischrechtlichen Orientierungsstoff stammt! Der Einfluß des letzten Naturrechts von A d o l f Trendelenburg 8 hat gewiß dabei audi eine Rolle gespielt. Aber abgesehen von der genetischen Bedeutung als Orientierungsmittel für die praktische Philosophie sehen w i r die Kantianer bemüht, ihre Methode am juristischen Stoff zu erproben. A m besten gelang dies M a x Salomon 9 , der aus dem Marburger Kreis hervorging, während Rudolf Stammler nicht über Voraussetzungsbegriffe zu echten Aprioritäten durchdrang. Jedenfalls besteht bei den Kantianern die Tendenz, kein einzelnes Moment am Recht auf Kosten anderer zu privilegieren. Freilich war man damals noch nicht auf die erst durch den Phänomenologen Reinach entdeckte spezifisch-soziologische Sphäre gestoßen, obgleich die Analyse der inneren Maschen des Stoffs sogleich zu den verschiedenen Problemschichten geführt hätte. Insofern haben die späteren Phänomenologen den Blick bald gewaltig erweitert. So bliebe als befremdend klingendes U r t e i l über die bisherige transzendental-philosophische Verwertung des juristischen Anschauungs8
1860.
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Grundlegung der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925.
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stoffs, daß hier grade der Blick auf das Ganze die Erfassung der komplexen Struktur verhindert habe. — Die beiden positivistischen Richtungen: der historischen Schule und der allgemeinen Rechtslehre erwähnen w i r hier nur, weil sie eben beide ausschließlich Besonderheiten sehen. Jene die soziologischen Momente am Recht: das bei ihm aus Ursachen stammende und fortwirkende innerhalb der Wirklichkeit, freilich bereits der Wirklichkeit „ W e l t " , wo es ganz andere als die Welträtsel Häckels zu lösen gilt. Diese, die allgemeine Rechtslehre, sich um die induktive Verwertung nun nicht von soziologischen Rechtstatsachen bemühend, sondern i m Gegensatz dazu und doch positivistisch um die der rechtsdogmatischen Begriffe, so eine Systematik teleologischer Ergebnisse erstrebend, deren problematische Induktionsbasis ihr verschlossen bleibt. So sind beide positivistisch: Die historische Schule, indem sie nur auf das sieht, was das Rechtsdogmatische, soweit es in Theorien wirklich wird, real ermöglicht hat und auf dessen i n derselben Begriffslehre liegenden realen Wirkungen, innerhalb des soziologischen Geltungsbereichs. Die allgemeine Rechtslehre, indem sie das zwischen Ursache und W i r k u n g inmitten liegende ebenso wie eine überwundene Mythologie als geistige Realität ohne tieferen Sinn nimmt. Beide Richtungen werden uns noch später beschäftigen. Die sogenannten „Werte"
als Perspektiven
Es gehört zu den erstaunlichen Feststellungen im wissenssoziologischen Bereich, daß sich irrationale Bedürfnisse, ja so etwas wie Romantik dort einstellt, wo man das Rationale zu sehr betont hat. „ H e r z " und „Gemüt" lauern nur darauf, eine Eingangspforte zu erspähen, wodurch sie, begrifflich gut legitimiert, also entsprechend rational etikettiert, eingelassen werden. Das was sie dabei mit sich führen, das Emotionale, w i r b t dann um so rascher für sie, so daß sie bald die besten Plätze besetzen. Dies ist der Fall, wenn w i r nach den Ursachen suchen, die der „Wertphilosophie" eine Zeitlang alle philosophischen Rollen in die H a n d spielten und sie ihr auch heute noch zum großen Teil belassen. M i t dem W o r t Wert läßt sich nun jedes menschliche Verlangen verknüpfen. Die Abhängigkeit seines jeweiligen Inhalts vom Gefühl verschafft ihm begrifflich anstelle des Schauers Kantscher „ W e i t abgewandtheit" nächste Nähe zum Menschen und bequemste Ansatzmöglichkeit für den emotional gestimmten Verstand. Der aus der W i r t schaftsterminologie über die Psychologie in die Philosophie geratene
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Recht und Rechtswissenschaft
Begriff bot sich nun grade für die Rechtsphilosophie als missing link zwischen Nationalökonomie und Jurisprudenz an. Als was sich dann später das Apriorisch-soziologische, freilich als begrifflich herberes Material erweisen sollte. Wie die platonischen Seelen, die einen Leib mit sich herumschleppen, führte uns eine Laterna magica unter dem Namen Wert bunte, frei herumschwebende Gebilde vor, wie in jenem platonischen B i l d belastet mit herabziehenden Gewichten verschiedenster A r t . Erdenrest an Irrationalem, an W i l l k ü r , irdischem ja banalem Glücksstreben u. dgl. mehr. Ergebnis doch: stat pro ratione voluntas. Wegen der Wichtigkeit, die heute noch dem „ W e r t " als angeblicher Grundkategorie zugeschrieben wird, ist hier Folgendes, schon anderswo Gesagtes, zu wiederholen: Das W o r t Wert bezeichnet zwei verschiedene Bedeutungen, wovon die zweite die erste voraussetzt. Diese erste meint, was w i r das Logonome nennen, in religiöser Terminologie „ G o t t " . Wenn w i r nicht nur Gedanken haben wollen, sondern auch, daß ihr Anspruch, das Gedachte zu erfassen, erfüllt sein soll, muß das Grundprinzip des Logischen als Logonomes über dem gedanklichen Bemühen stehen. I n diesem Bemühen haben w i r nun ein Beispiel für die zweite Bedeutung von „ W e r t " : eine „gegebene" (nicht wie beim Richtigkeitsprinzip „reine") Richtschnur, ein Autonomes, an sich selbst Gerichtetes, das zu seiner Sinnerfüllung jene erste Bedeutung: die nicht angemaßte logonome voraussetzt. N u n wirft man diese beiden Arten zusammen, die logonome und die autonome, die, welche faktisch einen Anspruch prätendiert, und die, welche einen solchen allein legitimieren könnte. Wenn w i r sagen, die Wahrheit sei ein Wert, so meinen w i r gewöhnlich Logonomes. Das unangemaßte Prinzip, die N o r m des „Logos" sozusagen. Meinen w i r dagegen das Leben, die Gesundheit, die Wissenschaft sei ein Wert, so wiederholen w i r naturrechtliche Thesen, insofern das alte Naturrecht, nur weniger philosophisch veredelt, seine Ansichten über „natürliches" Streben und „menschliche" Bedürfnisse in einer „Grundsatzformulierung" an die Spitze seiner Systeme zu stellen pflegte. Etwa: daß alle Menschen möglichst lang und glücklich leben wollten, wobei die ganze bisherige Dialektik des Glücksbegriffs seit Plato ignoriert wurde. Der common sense war damit als A x i o m in die praktische Philosophie eingegangen. Wenn man „Leben" als Wert statuiert, so meint man, jetzt abgesehen von den so mannigfachen Bedeutungen dieses Wortes (Grundbegriff der Biologie als Voraussetzung jedes einzelnen Lebens, Lebendigkeit, psychische Ver-
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läufe, das „mehr als Leben" i m Sinne Simmeis und der Religionen) eine angeblich durchschnittliche Erfahrung auszudrücken, wonach — in „vernünftigem" Zustand — der autonome, also faktische Anspruch jedes Lebewesens dahin ginge, fortzudauern und nicht zu sterben. Bei „Gesundheit" als Wert liegt es entsprechend. Dabei lehrt schon die Entwicklung der neueren Medizin, daß jene Gesundheit nicht so einfach ein Fortvegetieren bedeuten kann. Meint man, die „Wissenschaft" sei ein Wert, was offenbar der Jurist tut, wenn er sich über das W o r t I . Η . v. Kirchmanns empört, so statuiert man schlechthin eine N e i gung, also Autonomes, die sich bei einer bestimmten Menschenart findet, deren „Höchstform" schon seit beinah einem Jahrhundert K r i t i k e r gefunden hat, als selbstverständlich allgemein gültig. Als ob nicht Leben, Gesundheit, wissenschaftliche Neigung zunächst bloße Fakten wären, Richtschnuren implizierend, die situationsgemäß da und dort von einem Logonomen aus erst zu legitimieren wären. Abgesehen von diesem Logonomen finden sich das Autonome wie das Heteronome nun immer nur als Realität, hic et nunc als unter dem Gesichtspunkt der Richtschnur ins Auge fallende Momente an der Wirklichkeit vor, die sich niemals sauber herauslösen lassen! M a n braucht ja nur einmal einen Tiefenpsychologen zu fragen, was bei seinen Patienten eigentlich an autonomen Richtschnuren vorläge, was er erstrebe. Er w i r d diese widerspruchsvolle „Menge" kaum angeben können! Genug: Unter „ W e r t " versteht man entweder Logonomes als Prinzip. Dann hat es, wie w i r oben ausführten, alles Richtbare als Prinzipiat gegenüber; religiös: die Welt. Oder Wert soll — kurz — ein Willensziel, Bedürfnis, unter langer Sicht oder bei verständiger Uberlegung (wieder so unklare Wendungen!) bezeichnen. Dann muß man fragen können, wo?, wann?, bei wem? Das tägliche Leben weiß auch mit der Wortbedeutung gut umzugehen, wenn es das W o r t Wert naiv anwendet. Freilich dürfte die Behauptung, es sei schon wertvoll, ohne Krach und Gestank schlafen zu können, zu Zeiten Widerspruch finden. Nicht jeder w i l l das immer und überall. I n seiner modernen Veredlung hat nun das W o r t Wert seine Karriere bis in die Spitze der Philosophie gemacht, um nun noch in der besseren Etage Rechtsphilosophie eine anspruchsvolle Wohnung einzunehmen. Die unklare Bedeutung ermöglichte zunächst, daß man „ W e r t " und „Wirklichkeit" einander gegenüberstellte, so daß es nun außer der neutralen Auffassung, die das Richtbare einfach als jeweiligen Ausgang für richtige Haltungen nimmt: so wie es einmal ist, dazu eine optimistische und eine pessi-
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mistisdhe Bewertung der Welt gibt. Je nachdem Reduzierungen der Aufgabe, insofern man „Garanten" zugunsten einer Werterfüllung oder zuungunsten einer solchen unterstellt. Der „Fortschrittsglaube" y soweit er sich nicht auf Lösungen genau abgesteckter, aus dem funktionellen Zusammenhang der Wirklichkeit künstlich herauspräparierter Fragen bezieht, gehört zu jener optimistischen Gesamtbewertung des Richtbaren überhaupt, womit sich der so Bewertende, logisch gesehen, schon selbst gerichtet hat. Gegenüber dieser unangebrachten Schätzung als £/&erschätzung ist die gegenteilige Unterschätzung insofern schwieriger anzugeben, als es sich dabei mehr um Antithesen gegenüber der optimistischen handelt, um ein in Schrankenweisen einer sich in dieser Hinsicht zu viel zutrauenden Menschenart. Wenn w i r an unser Recht und die Rechtswissenschaft denken, so spielen auch hier derartige Probleme hinein. Das Recht setzt, wie w i r anderswo näher begründet haben, widerstrebende Tendenzen voraus. Es ist ein Heterologes, dessen einen Erkenntnisgrund eben Befehle sind, Akte, die als Richtschnuren erlassen und durch entsprechende auf Sanktion gerichtete unterstützt, unrichtig wären, wenn überflüssig. Demnach beurteilen die Machthaber die Lage von ihrem, der Auktoren Standpunkt aus, pessimistisch. Das bedeutet aber keine negative Bewertung von Unbewertbarem, denn es handelt sich um Gestaltung einer Situation vermittelst Richtschnuren mit ihren Adressaten i n erfahrener oder zu erwartender Wirklichkeit. Daß man sie erläßt, ergänzt das B i l d durch das Zutrauen gegenüber der W i r k u n g (soziologischen Geltung) des Erlasses. Die Rechtswissenschaft lebt nun allerdings heute noch von einem dogmatisch unterstellten Glauben an den Sinn, die Richtigkeit grade ihres Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit. Das sind dem derzeitigen K o l l e k t i v entnommene Richtschnuren, bedeutet aber beim einzelnen Juristen Autonomes. Wenn er den Gegenstand in Betracht zöge, die rechtsdogmatischen Ergebnisse auf Grund der Streitfragen und Eventualentscheidungen und daran die faktischen Zustände i m rechtssoziologischen Verhalten prüfte, sähe er ein, daß er, wie der Fortschrittler die Welt optimistisch wertet. M a n erkannte nicht, daß das Werturteil zwar wie jedes Urteil als Faktum einen beliebigen Inhalt haben kann, daß es jedoch als logonom, auto- oder heteronom, als „reine" oder „tatsächliche" Richtschnur — hier meist auf die Beschaffenheit von Sachen, Personen, Personengesamtheiten, Institutionen usw. gerichtet — , der Richtigkeit nach klar zu bestimmen ist. Offenbar verleiten emotionale Bedürfnisse, also faktische Richtschnuren, dazu, das „Werturteil" als etwas anzu-
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sehen, was „irrational" sei. Das heißt, man zog das Werturteil, wie früher bereits das Urteil, das eine Empfindung ausdrückt, aus der logischen Sphäre ganz heraus. Indem man es zwar in einer Hinsicht noch als Sinngebilde ansah, seinem Inhalt nach der Skala von M i t t e l und Zweck i n der tabula logica unterworfen, ließ man es jetzt nur noch als „Bekenntnis", d. h. als psychologisches Faktum gelten: als Tatsache neben anderen. Den Anschein von Beweis für das Irrationale sah man i n der Tatsache der einander widersprechenden Urteile. Als ob es das nicht überall gäbe und die Buntheit der sog. Werturteile i m täglichen Leben nicht einfach Urteile über einen persönlichen Befund ermöglichte. So wie w i r sagen: „ich sehe das so", ebenso urteilen w i r , wenn w i r etwas gut oder schlecht, schön oder häßlich finden. Es sind also klare Urteile über ein Verhalten des Ich, dessen Richtigkeit sich wie jedes andere derart als Erfahrungsurteil rechtfertigen lassen muß. Denn es kann ja auch sein, daß das Ich sich getäuscht hat. H i e r hatte also wirklich eine banale Erfahrungsregel „de gustibus non est disputandum" eine seltsame Blüte am höchsten Ast abgesetzt, eine Pflanze, von der man immer wieder neue herausmendeln sah. Die Behauptung, daß Werturteile dem „criterium veritatis" entzogen seien, führt jedoch nur bei wirklicher Konsequenz zum Voluntarismus. Er hat bisher nur unter der Tarnung als „Relativismus" auf rechtsphilosophischem und juristischem Gebiet Einlaß gefunden. H i e r beim Voluntarismus müßte das angebliche Urteil, sinnentblößt, wirklich zu so etwas wie einem Steinwurf werden. D a man dem Werturteil jedoch einen Sinn nicht ganz absprechen möchte, verkoppelt man es nun m i t den seltsamsten Beziehungsgliedern. Teils sind es Aprioritäten, teils ist es anderes. Was soll es z . B . bedeuten, wenn man die „ K u l t u r " als höchsten Wert bezeichnet, oder jedenfalls als relativ höchsten z. B. auf dem Gebiete des Rechts? M . E. Mayer hat i n Beziehung zu der sog. Anerkennungstheorie die Behauptung aufgestellt, daß solche als Faktum behauptete, aber nie nachweisbare Anerkennung des Rechts — wie könnte auch Verbindliches wie das Recht als Terminus ad quem der dogmatischen Rechtswissenschaft anders anerkannt werden, als daß man es zunächst theoretisch zu erfassen suchte? — sich unmittelbar nur auf „Kulturnormen" bezöge, m i t denen die Rechtsnormen übereinstimmten oder doch übereinstimmen sollten 1 0 . Es war die Zeit, w o man noch optimistisch i m Sinne eines „bürgerlichen Idealismus" unter K u l t u r so 10
Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903.
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etwas wie einen H i m m e l voller derartiger Werte verstand. W o man die „Einheit des Stils" — also ob sie sich nicht bei den erzwungenen K o l lektiven am leichtesten einstellte — unter dem Einfluß Nietzsches, ihn freilich mißverstehend, bereits als K u l t u r ansah. K u l t u r als objektiver „Geist" bei Simmel, wo sie doch faktisch nichts als einen Niederschlag alles Menschlichen-Allzumenschlichen bedeutet: einen sozialpsychologischen Begriff der charakteristischen Momente einer Periode, einschließlich ihres Mülls! Z u r K u l t u r gehört alles Faktische am Recht, an der Rechtswissenschaft, i m Objektiven und Subjektiven. Es läßt sich da nichts trennen. Es gibt da auch nicht die heute beliebte „Interdependenz", denn man kann nicht angeben, zwischen was es sie gäbe. Aber unter einer gewissen Perspektive, wie sie bereits der Begriff K u l t u r liefert, gibt es Prävalenz. So kann das Recht als hervorstechend bei einem V o l k , i n einer Zeit erscheinen. Es w i r d diesem „juristischen" Ausdruck dann w o h l auch eine maximale Geltung des damit verbundenen Standes entsprechen. Aber „Kulturnormen" m i t Auktoren, von denen sie ausgingen — sie wären ja keine „reinen", sondern empirische — hier also von w o h l organisch verstandenem Kollektiven aus und m i t Adressaten sind eine K o n struktion. Verständlich aus der Absicht, dem eigentlich Juristischen etwas als Quelle zu geben, was darüber zu sein scheint, i n Wirklichkeit aber i n der gleichen Ebene m i t ihm, der empirischen, liegt. A m stärksten hat sich nun i m Rechtlichen, in der Rechtsphilosophie und der von ihr angeregten Rechtswissenschaft, ja auch Soziologie, Wirtschaftswissenschaft die Verbindung ausgewirkt, die der sog. rechtsphilosophische Relativismus zwischen seinem angeblichen Wert als letztem Bekenntnis — nach gedanklicher Überwindung aller vermittelnden Zwischenglieder als prinzipiell letztem — m i t dem „Personalen" vollzog. Das Uberpersonale war dann das, was noch als Möglichkeit der Verknüpfung jenseits des Personalen übrigblieb: etwa unsere K u l t u r oder die Kirche, dazu noch in der Doppeldeutigkeit von Faktum, historisch aufweisbar, beschreibbar und seiner „Idee", einem angeblich zugrunde liegenden, wozu es ja dann wieder eines wertenden Prinzips bedürfte. Als Auktoren maßgeblicher Richtschnuren boten sich nun das Individuum, der Einzelne und das Kollektiv, das Ganze, dem er als Element angehört, an. Es sind für den Blick des Juristen vordringliche soziologische Momente, beide in gleicher Ebene w o h l erst i m letzten Jahrhundert dadurch sichtbar geworden, daß die germanischen Rechtsformen mit den römischen i n Konkurrenz getreten waren. M a n sah nun nicht mehr nur vom einen
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aus das andere: vom Individuum das sich darauf gründende K o l l e k t i v , auch nicht mehr (als Christ, Persönlichkeit) von diesem aus den Einzelnen nur als Accidentale. Beide boten sich gleichmäßig zur begrifflichen Bewältigung an. Beide als personalistische und nicht sachliche Entitäten. H ä t t e diese gemeinsame Schau, die zur Aufstellung des juristischen Personalismus und Universalismus in der Rechtsphilosophie Radbruchs und der anderen Relativisten führte, zur logischen Prüfung des Prinzips getrieben, dem die Begriffe des Einzelnen und des Ganzen ihren Sinn verdanken, so würde man ihre korrelative Zuordnung erkannt haben. M a n hätte erfaßt, daß es i m Soziologischen angewandte Begriffe sind, wo einer den anderen fordert, daß es in der Empirie immer beide geben muß, wie die Summe Zehn neben den Einern, ja man hätte erkannt, daß die eigentliche Heimat dieser Begriffe nicht einmal das Soziologische ist, sondern eine logisch-ontisch frühere Zone. Mathematisch w i r d sie heute wohl besonders i n der Mengenlehre gepflegt. Bei den Begriffen des Individuums und der gesellschaftlichen Ganzheiten, der Familie, Masse, Gruppe, Klasse 11 , dem Verband usw. sind also bereits Aprioritäten „angewandt". Die Konsequenz dieser Ansicht, die philosophisch am stärksten Hegel ins Bewußtsein brachte, ja zum kinetischen Prinzip seiner dialektischen Methode erhob, ist: daß es nicht angeht, solche begriffliche „ A n sichs" zu isolieren. Die schlimmste Isolierung vollzog man nun in dieser Hinsicht i m Relativismus, wo man ein solches „ A n sich" i n atomistischer Auffassung — das bleibt sie auch, wenn man ein K o l l e k t i v in diese Rolle bringt — zur juristischen Causa sui et omnium rerum machte, zum höchsten Prinzip eines alles umfassenden „Bekenntnisses". So statuierte man einen I n dividualismus, Universalismus oder Kollektivismus, indem man ins Soziologische übertragene „ A n sichs" zu letzten Entscheidungsinstanzen i m Regulativen, i m Bereich des Richtigen machte. Es war noch ein Zufall, daß man das Logische sonst ausnahm. Sophist wollte man nicht sein. Was dabei herauskam, war gewiß kein Fundament für Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft. Aber es ergab ein gewiß nicht erstrebtes, jedoch in anderer Richtung wertvolles M i n i m u m : es ergab Gesichtspunkte. Der Historiker konnte dafür dankbar sein, daß man ihm nun das bot, wonach er schon immer gesucht hatte, Kategorien für prävalente Züge an einem Stoff. So bekam auch der Rechtshistoriker be11 Ein Entwurf einer Übersicht bei Peter Hofstätter, S. 23, für sein eigentliches Problem.
Gruppendynamik,
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griffliche M i t t e l zur H a n d , um gewisse Erscheinungen zu beschreiben. Ebenso etwa der Gesetzgeber, wenn er nach Momenten suchte, worauf er besondere Akzente legen möchte. Gegenüber den Gesichtspunkten als heuristischen M i t t e l n zur Beschreibung und Gestaltung aber wirkte sich das eigentliche Dogma: in der Verknüpfung eines solchen Moments, des Elements und des Ganzen, der umfassenden Menge mit dem Gedanken eines decisionistisch aufgefaßten, inappellablen Wertprinzips verhängnisvoll aus. Es ergibt keinen Sinn, wenn w i r sagen, der Einzelne sei der „höchste W e r t " oder das Universale, dem er angehört. Auch dann nicht, wenn w i r uns m i t dieser Behauptung nur i m Säkularen, Sozialen orientieren wollen, denn w i r brauchen ja jetzt nur weiter zu fragen, was dieses Wertsein des Einzelnen oder des Kollektiven denn an regulativem Inhalt abwerfe, um nun danach zu „richten", um das Heteronome oder Autonome als Heterologes oder Autologes, also als verbindlich zu legitimieren. Die A n t w o r t kann nur lauten: nichts! W i r brauchen nicht auf den logischen Grund für dieses negative U r t e i l zurückzugehen: ein logisches Moment an der Wirklichkeit, genauer eine Apriorität in der Konstitutionssphäre der Urteilssätze, um Wirkliches zu erfassen, ist weder Prinzip des Logonomen, noch kann es selbst realer A u k t o r von Richtschnuren sein. Weder die Zehn noch die Eins sind Wertprinzipien. Sie sind weder Auktoren von Richtschnuren noch sinnvolle Adressaten. Nichts läßt sich an ihnen „richten", da sie nicht kontingent sind, sondern als Aprioritäten „notwendig", „ I n mathematicis non est bonum et malum", hieß es, w i r bemerkten schon, Aristoteles zitierend, in der Scholastik bei Erörterung des Kreatürlichen nach der Analogia entis. Aber diesen tieferen logischen Grund brauchen w i r gar nicht, wenn w i r einfach Behauptungen in der Wirklichkeit überprüfen wollen. Es w i r d sich dann zeigen, ob sie das halten, was sie versprechen. Gehe ich von der einen aus, daß „der Einzelne der höchste Wert sei", so sehe ich diesen Einzelnen vor mir, wie er ist: hic et nunc. Aber: quid nunc? Nehmen w i r das Prinzip ernst, so wie es sein Sinn w i l l , dann soll also der Einzelne — um von diesem einmal auszugehen — das höchste sein. Die Folge wäre nicht bloß „Hände weg von i h m " , sondern ihn in seinem jetzt hier so in keiner Weise zu tangieren. D a nun alles, was wirklich ist, eben w i r k t , i m funktionellen Zusammenhang sich verhaltend, entsprechende Veränderungen auslöst und erfährt, müßte man verlöschen, aufhören zu existieren. Was sich bekanntlich auch nicht ohne Wirkungen auf andere bewirken läßt. Aber so kann doch w o h l die
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These nicht gemeint sein. M a n denkt eher daran, daß der Einzelne als Moventium, autonom, sich soll bewegen können, wie er w i l l . Nein, eigentlich auch nicht so, sondern damit er sein Ideal erreiche, sich „entwickle", sein „wahres ich", damit er human werde, gut oder sonst etwas. K u r z : H i e r taucht sofort, wenn man den Einzelnen als Lebewesen ernst nimmt und nicht als totes Ding, sein wie auch immer zu verstehender terminus ad quem auf. Dieser aber muß dann aus einem anderen, eben dem individualistischen übergeordneten „Wertbereich" kommen. Vielleicht dem der „ K u l t u r " ? Der Einzelne soll ein guter Moslim werden oder ein Ubermensch, beides wieder an höherem gemessene Ziele. So ist die individualistische Wertposition bereits aufgehoben, in eine andere einbezogen, worin dann der Einzelne nur einen Tatbestand darstellt, auf den sich die Frage nach dem Richtigen, nach der Sollensfolge, bezieht. — Ganz analog, der Struktur nach i n keiner Weise vom Ersten unterschieden, steht es, wenn w i r die Frage „ q u i d nunc?" ans K o l l e k t i v richten. Die Frage w i r d anstatt für die Eins für die Summe Zehn gestellt, für irgendeine noch so kompliziert geordnete „Menge". Auch hier kann ja nicht einfach das Ganze belassen werden, als ob es leblos sei. Auch hier geht es ja um einen terminus ad quem nur, eben den des Ganzen. U m den aber zu erfahren, müßte wiederum aus einem anderen „Wertbereich" das Ziel herangetragen werden. Erst dann wüßte man, wohin die Reise gehen solle. A u f Erweiterung der Macht? A u f Wohlfahrt? Etwa so wie es bei Candide heißt, daß die Wohlfahrt des Ganzen gebildet sei aus dem Unglück des Einzelnen, so daß sich das Ganze um so wohler befände, je schlechter es dem Einzelnen ginge? Eine Stelle, woran man bei den totalitären Parolen zu denken hätte. Uber diesem nächsten Ganzen kann man nun soziologisch noch höhere bilden, so daß sich jeweils Menge über Menge schichtet, am Ende die berühmte „Menge aller Mengen". Aber mit Elementenund Mengenbegriff lassen sich keine Richtschnuren gewinnen. W i r haben einmal diese Versuche — auch Kants „kategorischer Imperat i v " m i t seinem Gegensatz von „ I c h " und „allgemein" gehört hierher — Omnibustheorie genannt. Jemand steigt etwas rücksichtslos in einen Autobus ein. Er w i r d angewiesen, sich so zu setzen, daß auch die anderen Platz hätten. N u n saust der Autobus los. Aber neben, vor, hinter ihm, wie bei der Auffahrt zum Fastnachtstreiben, fahren andere Autobusse, die einander i n die Quere zu kommen suchen. N u n muß der Fahrer so fahren, daß auch die anderen daneben, dahinter, davor mitkommen können. Aber wo ist denn das Fastnachtstreiben, wohin es
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gehen soll, fragen nun alle Fahrer. Ja, das muß man eben vorher wissen. Erst dann läßt sich ein Sinn finden für die Placierung des Einzelnen, die Richtung des Fahrers, die Orientierung des ganzen bewegten Spiels. A n diesen soziologischen, eigentlich sogar allgemein ontischen Begriffen lassen sich also das Recht und die Rechtswissenschaft nicht orientieren. Sie reichen philosophisch nicht aus. U m so wirkungsreicher waren die Vorstellungen i n ihrer Assoziationsfülle. Nach dieser K r i t i k 1 2 an der am „ W e r t " orientierten Rechtsauffassung und ihren letzten Ausläufern sowohl nach der „Wertseite" hin wie nach dem Juristischen, führt gerade gegenüber jenem Logischen die Beurteilung des Praktischen, der W i r k u n g und assoziativen Anregung zu einem ganz anderen Ergebnis. Gerade weil w i r nicht der Ansicht sind, daß Wissenschaft der Güter höchstes sei, ist Folgendes bemerkenswert. Man könnte geradezu von einem Paradox sprechen. W i r sahen: bei der K o m plexheit des Rechtsbegriffs ist es naheliegend, daß jeweils nur etwas an ihm, nur ein Moment aus seinen Constituentien bemerkt und dann übertrieben w i r d . Solche Einseitigkeiten leuchten nun leichter ein; die Farbe des Einseitigen hat eine stärkere Leuchtkraft. Sie ist, soziologisch gesehen, wie geschaffen dazu, die Fahne zu färben, hinter der sich eine „Schule" versammelt. I n gleicher Linie mit solchen Einseitigkeiten stehen nun auch die Betonungen einer ganzen Richtung, von vornherein. Denken w i r an Marxismus oder auch an bestimmte konfessionelle A u f fassungen, soweit sie theoretische Ansprüche erheben. Beides: das Herausheben nur eines Moments an einem komplexen Begriffsgebilde oder das von einer komplexen soziologischen Realität ausgehende Erfassen wirken analog und zwar i n ganz anderer Weise in die Breite als der sorgfältigste Analysierungsversuch. Durch diese Breitenwirkungen aber entstehen Anregungen, die logisch oft m i t der Ausgangsthese gar nichts mehr zu tun haben. Die reale Wirkung auf das „Gesicht" der kulturellen Erscheinungen ist also eine besondere Sache, deren soziologische, insbesondere wissenssoziologische Seite nicht übersehen werden darf. Wenn es auf situationsverantwortliches Denken ankommt, dann sind Theorien, Auffassungen, Richtungen, Schulen zwar für den Philosophen nach dem logischen Wert ihrer Thesen und der Stichhaltigkeit der Argumente wichtig, für den Historiker, Geisteswissenschafter, Soziologen, Psychologen, Politiker jedoch nach dem Modus der Geltung infolge der ausstrahlenden Wirkungskraft der mit jenen Thesen 12
Siehe unsere erste bereits vor bald einem halben Jahrhundert erschienene Kritik „Über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus*.
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verknüpften Assoziationen. Wenn w i r unter diesem Gesichtspunkt rechtsphilosophische Thesen und ihre Wirkung auf das Aussehen der Rechtswissenschaft prüfen, so müssen w i r umgekehrt proportional zum logischen Wert qua Theorie der „Wertphilosophie" und ihren rechtsphilosophischen Ablegern, insbesondere dem „Relativismus" die größte Bedeutung beimessen. I n der Tat, wieviel Anregungen sind von der künstlerisch vollkommenen Darstellung ausgegangen, worin Radbruch auf Grund des Dogmas nun die Folgen für die verschiedenen rechtswissenschaftlichen Disziplinen aufzuweisen suchte. I n Wirklichkeit weniger die Folgen als Zusammenhänge assoziativer A r t , die sich tatsächlich bei soziologischen Gruppen, Schulen, Klassen, Verbänden finden. Zusammengekommen aus den verschiedenartigsten historischen Gründen, aber jedenfalls dann aneinander gekettet. Wenn sich der rechtsphilosophische Relativismus auf die logischen Konsequenzen beschränkt hätte, welche in den Forderungen seines soziologischen A n hängers M a x Weber enthalten waren, wäre eine solche Askese weniger ertragreich gewesen. Weber stellte folgendes Umfassendere als A u f gaben fest, die aus dem relativistischen Dogma vom Bekenntnischarakter entsprängen 13 . D a haben w i r zunächst bei einem vom Bekenntnis w i r k lich „ w i e m i t der Kanone herausgeschossenem" (Hegel) Ziel die Erforschung der Mittel. Sodann die der Folgen. Schließlich die der Beziehung zu anderen Mitteln, Folgen bei den anderen Bekenntnissen. Damit auch die „weltanschaulichen" Hintergründe. Diese Ziele bedeuten, logisch gesehen, folgendes: Der Satz „Der Zweck heiligt die M i t t e l " , so etwas wie ein Kaspar Hauser für den Nichtkatholiken, ist eine so offenbare logische Konsequenz, daß keine praktische Philosophie, überhaupt keine Theorie ohne sie auskommt. So sehr ihr freilich der Mensch m i t seinem Widerspruch „ein Schnippchen schlägt", bereits wenn es Normen geben soll, die aus den logischen Grundsätzen entspringen, so implizieren sie diesen Satz von den M i t teln. Wenn ich richtig denken w i l l , so muß ich die Identität der Symbolbedeutungen festhalten. Es ist einfach die Anerkennung des „wenn— dann"-Verhältnisses. Es war daher auch kein Zufall, daß die verschiedenen Richtungen i n der Gefolgschaft Nietzsches das so oder so verstandene, verkündete „ Z i e l " nach den M i t t e l n auslegten, entfalteten, so wie es ja Nietzsche selbst je nach seiner Auffassung für die verschiedenen Kulturzustände tat. Aber die M i t t e l sind, soweit es um reale 13
Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Arch. f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik (N.F. Bd. 1). 7
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Zweckverfolgung geht, Realitäten, innerhalb des Zusammenhangs der Wirklichkeit. So sind auch die Folgen, auf die M a x Weber verweist, nicht so sehr Konsequenzen als Wirkungen, gleichfalls i n der Ebene der „Wirklichkeitsebene" eben nur, insoweit man sie nun logisch irgendwie einordnet, in einer Kausalreihe etwa. Reiht man nun die anderen Bekenntnisse daneben, die als Bekenntnisse nichts Logisches, sondern Faktisches, Willensziele, autonome nicht autologe Richtschnuren sind, so können auch diese nicht aus der Wirklichkeit herauspräpariert werden, worin sie als Kraftzentren i m soziologischen „Feld" wirken. M a n sieht, wie bei dem Programm Webers sogleich das eigentlich Logische: Voraussetzungen, Konsequenzen, begrifflich Nebengeordnetes überschritten werden muß. Noch ganz abgesehen von den sog. „weltanschaulichen" Zusammenhängen, Hintergründen. Ein Begriff, der gewiß ungewollt nicht ohne Zusammenhang mit jenem propagierten Relativismus anfing, eine Rolle zu spielen. Syntagmen, worin sich alles mögliche, durchaus nicht nur logisch mögliches zusammenfindet! A m klarsten und auf das beschränkt, wohin es gehört, eben ins Psychologische, i n Jaspers „Psychologie der Weltanschauungen".
Rechtsanschauungen
als Welt-
anschauungen, gewiß insofern ja sowohl die Rechtstatsachen, als auch die Theorien über Rechtliches, die vorgelegten rechtsdogmatischen Begriffe, i n die „ W e l t " gehören. Das alles hat sich nun aber weit entfernt von der Sinnerhellung, der Analyse, dem logischen Gehalt vorgelegter Thesen. W i r sind aber dafür i n der Lage, jene Fruchtbarkeit zu verstehen, die sich nur aus der Verquickung m i t dem Wirklichen bei der relativistischen Bekenntnisphilosophie ergab. Nicht nur beim Einzelnen, den man damals noch nicht wie heute in seiner Bedingtheit durch die Kollektive erkannte,
sondern bei jedem Stand, bei
jeder
Klasse, bei jedem V o l k , kurz überall, gab es ja die einander und in sich mehr oder weniger widersprechenden Bekenntnisse. Ob sie nun ein Lodencape oder einen Frack verlangten, um an einen vor Jahrzehnten geprägten W i t z über die „große Stadt" Jena-Weimar zu erinnern: an „Weltanschauung" gegenüber „Gesinnung", die ja auch bloß eine Introversion einer solchen „Anschauung" bedeutete. Symbole gehörten ja auch dazu. „Nichts ist außen, nichts ist innen", Kern und Schale! Eine transzendentale Erschließung der Voraussetzungen, die in den synkretistischen Knäueln steckte, hätte schnell den Zu-fall, logisch gesehen, dessen erwiesen, was durchaus nicht zufällig, sondern aus Gründen hier zusammenkam: i n den sog. „Kulturerscheinungen", den an-
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geblichen „Substraten von Werten" (Radbruch) in politischen Programmen, Institutionen, Stellungnahmen usw. Diese Coincidentia aber ist es gerade gewesen, die jene
vorschnellen Verallgemeinerungen
heraus-
gegriffener Einzelmomente, wie die Inhalte, die aus soziologischen Pluralen von unübersichtiger Zusammengesetztheit stammten, als Fakten so wirksam werden ließ, daß eine Philosophie der Rechtswissenschaft auf ihre Symptome, Spuren überall: i m Recht, Gesetzesinhalt, rechtssoziologischen Erscheinungsformen, begrifflichen Versuchen nicht genug aufmerksam machen kann. Freilich nicht ohne auf den von derartig „Existentiellem" sehr verschiedenartigen Gehalt an logischem Karat hinzuweisen. Die Perspektiven, worunter die juristischen Realitäten, eben auch die Rechtswissenschaften in ihrem faktischen Bestand ihre verschiedenen Spektren erkennen lassen, sind eben andere als physikalische Perspektiven. V o n hier aus glauben w i r nun, die mannigfachen Weisen, worin sich soziologische Realitäten auf rechtswissenschaftliche Erscheinungen auswirken, dann die Rückwirkung wieder auf jene Realitäten, die wechselseitigen Spiegelungen kurz nennen zu dürfen, ohne auf Einzelnes weiter einzugehen. Einem Hegelianer w i r d das Wechselspiel, das sich hier dialektisch zwischen den jeweiligen Subjekt- und Objektformen des „Geistes" vollzieht, besonders leicht verständlich sein. „Verständlich", freilich damit noch nicht auch „vernünftig", so wie es Hegel verstand. Lassen w i r jetzt also die Schau- und Wirkungsweisen folgen: Da haben w i r zunächst die Konfessionen in ihren verschiedenen Formen und Phasen. I n der sog. orthodoxen die Auswirkung der Sophienspekulation: die den platonischen Ideen entsprechende Gleichzeitigkeit des historisch auseinander gezogenen. I m Katholischen den für die Bewertung, Geltung i n der Praxis der Traditionsbildung entscheidenden Grundsatz: lex posterior derogat priori und die ihm folgende Entfaltung der Dogmen als teleologische Begriffe. Die mehr i m Negativen als i m Positiven einigen Auffassungen protestantischer Bekenntnisse. Dazu die Auswirkungen entsprechender Manifestationen der östlichen Welt, der islamischen, indischen auf den Zustand ihrer Rechtswissenschaft. Nehmen w i r weiter die sich sozialistisch nennenden Grundsatzerklärungen, „Manifeste", Stellungnahmen in Kritiken, Wirkungen auf Gesetze, auf deren begriffliche Verarbeitung in dogmatischen Theorien, in sozialistischen Rechtslehren hinzu. Fassen w i r dabei das Verstehbare daraus noch als jeweils einander ergänzend, als dialektisch oder antinomisch auf. Denken w i r an die Möglichkeiten, unter verschiedenarti-
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gem historischem Aspekt notwendige Bildungen von freien, Legitimes von Katastrophalem, Revolutionärem zu unterscheiden und je nachdem eine Rolle zuzuweisen. Ja, auch das ästhetische: Die künstlerische Darstellung Radbruchs hat dem Relativismus und seinen angeblichen Konsequenzen auf den juristischen Einzelgebieten gewiß weitgehend den Weg geebnet. V o n solcher Form, nicht vom logischen Gehalt der Theorien hängt auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften vieles ab, was davon „bleibt", weiterwirkt, auch wenn der Inhalt längst widerlegt ist. D a m i t treffen w i r zunächst auf das Problem der Ideologie, gerade hier an der Stelle, wo es sich einerseits um das Erfassen und Uberschätzen nur eines Moments am Recht handelt und andererseits dieses Erfassen von etwas aus, was, vom Ganzen aus, soziologisch gesehen, auch nur so etwas wie ein Moment ist. Der Ansatz zu dieser Problematik bot sich dem vorwiegend wirtschaftlich eingestellten Menschen, wenn er seinen Einfluß auf die Wirtschaft, dann dieser auf das Recht, die Rechtswissenschaft erwog, um nur abstrakt die konventionelle Reihe zu nennen, und dann wieder umgekehrt, schließlich ihn und seine auch geistige H a l t u n g einbeziehend. Das alles nun wieder so, wie es auch der Relativismus sah, verknüpft m i t Klassen, Verbänden, Parteien, gleichgültig ob sie sich nun als sozialistisch, oder liberal oder anders bezeichnen. Auch die konservative hat ja später gewiß i m Unterschied zu der ursprünglichen, religiös fundierten Form eine Prävalenz im Wirtschaftlichen gefunden. N i m m t man als Wesen einer Ideologie vorläufig m i t uns an, daß hier für ein Plural eine soziologische Geltung durch Aufnahme eines Gesamt von Gedanken erstrebt w i r d , die als Kern, als pièce de résistance „Gegebenes" enthalten, nämlich heteronome Richtschnuren. Ferner, daß auch hier deren Inhalt seinem „Sinn" nach auszulegen ist durch Begriffe, Theorien, also Gebilde, die nur dem Logischen unterworfen, „ f r e i " sein sollen. Daß schließlich das Ganze ja zu „propagieren" ist, also für Organe sui generis bestimmt, so stellen w i r zunächst hier schon fest, daß Ideologie mindestens so etwas wie ein früheres Stadium der juristischen Dogmatik (nicht der Rechtsgeschichte) sein muß. Für beide gilt das Baconsche „e vinculis sermocinari", ist die Synthese von Heteronomen und Autonomen zu finden, um schließlich Heterologes vorzulegen. Für beide gibt es „Destinatäre"; für die das Ganze, vermittelt durch Organe, verbindlich sein soll. — Z u m Schluß noch Andeutungen weiterer Auswahlmöglichkei-
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ten: da gibt es die typisch bürokratische Tendenz 1 4 , welche die O r d nungskategorie allem anderen überordnet. Sie w i r d uns später noch bei dem Streben nach Rechtssicherheit beschäftigen. Es war ein bekannter V o r w u r f der christlichen russischen Philosophen, daß der Deutsche die Ordnung mehr liebe als das Gute. Äußerungen Goethes wurden als Beleg zitiert. Aber das Römische daran hätte nicht vergessen werden sollen 15 . H i e r bei der bürokratischen Sicht tauchte auch die Wesensart des „Beamten" auf, soweit sie für den „Juristen" charakteristisch ist und damit sein Gebiet: die Jurisprudenz beeinflußt. Ferner m i t dem Wirtschaftlichen eng verbunden, die Prävalenz des „Habenwollens", das Streben nach Besitz, „Eigentum", auch bei Kollektiven, wo der Einzelne nichts haben soll. — Die ewigen Prätentionen auf Unsterblichkeit, Verewigung und ihre Gegenkräfte! D o r t : Nachfolgerwünsche, Erbrecht, Testament, Übertragungsarten, Stiftung, juristische Person, Fideicommisse, aere perennius, hier Ausschluß- und Verjährungsfristen, N o vation, Todeserklärung, capitis deminutio. Den Gesichtspunkt des spectare ad statum re publicae oder ad utilitatem singulorum haben ja schon die Römer gekannt. Je nachdem teilt er nicht nur Rechtliches unter, sondern kann das Ganze bannen. Ebenso wie das pönale, das selbst am „Guten Landesvater" eine noch bemerkenswerte Seite war. — Der Friedens- oder Streitgedanke als jeweils vordringlich. Gewiß dieser in der Voraussetzung des Widerstrebens beim Gebot und der Sanktion, dann als Ziel des Rechtes wieder jener. Denken w i r auch an das Völkerrecht und seinen Rechtsbegriff „ K r i e g " als den Versuch, Unverträgliches i n Begriffen aufzufangen, die als widerspruchsfrei Verträglichkeit statuieren. Beim Völkerrecht überhaupt an die Aufgabe, Verträgliches aus heterogenen, „an sich" gesetzten atomaren Wesen zu bilden, die Autonomes wie Heteronomes ipso jure als autolog und heterolog statuieren (Souveränität)! — Ja, es gibt auch rechtshypertrophe Tendenzen: gegenüber dem Einzelnen, der Gesellschaft, dem natürlichen Haben, der Erweiterung der Persönlichkeit i m subjektiven Sach- und Beziehungsbereich, dem „Meinen", der N a t u r (gerade jetzt besonders aktuell geworden), der Wirtschaft natürlich, der Technik, „die über den K o p f des Rechts wächst". — Es gehört nicht 14
Unsere Abhandlung: Bürokratisierung unter soziologischer und philosophischer Sicht, Abhandlung 1950 der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. 15
Heft „Russische Rechtsphilosophie" in der s. Zt. von uns herausgegebenen Zeitschrift „Philosophie und Recht", 1920.
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viel Phantasie dazu, sich neue, bisher unbekannte Disziplinen vorzustellen, die ungeahnte Aspekte beisteuern und wieder zu Einseitigkeiten führen werden. M i t der Automatisierung dringt bereits das Technische i n das Vertragsverhältnis der Partner ein, soweit es sich in Zahlen fassen und durch Apparaturen realisieren läßt. Ein teleologische Begriffe bildender Roboter ist freilich bisher noch nicht geschaffen worden. — Die Philosophie der Wissenschaft hat dann unter dem Einfluß der „Wertphilosophie" den Blich auf den Unterschied zwischen N a t u r - und Geistenwissenschaften gelenkt. Die von Windelband geprägte Unterscheidung zwischen nomothetischen und ideographischen hat zu vielen Erörterungen Anlaß gegeben, bei denen der komplizierte Charakter gerade unserer Rechtswissenschaft offensichtlich wurde. W i r haben schon an anderer Stelle auf dieses Zusammenspiel beider im komplexen Begriffe des Rechts hingewiesen 16 . „Einmalig" ist die historische Situation und was aus ihr entspringt: Machtkonstellation, soziologische Unterlage, soziologischer Gegenstand als Realitäten hic et nunc, die Gesetze, Gewohnheiten, das Heteronome nur beschreibbar, so wie es ist. Dann aber die soziologischen Aprioritäten, ohne deren Sinn kein System, keine dogmatischen Rechtsbegriffe das bezeichnen könnten, was und wie zu erfassen ist. Die Analogie mit den Gebilden der Mathematik liegt auf der H a n d . Sie sind weder nomothetisch i m Sinne von Naturgesetzen, noch ideographisch i m Sinne historischer Feststellungen. Dazu das einzige Prinzip des Logonomen, der gedankliche Prozeß seiner Verarbeitung durch Aufnahme der historischen Situation mit all ihrem Heteronomen zur Gewinnung nun wieder „allgemeiner" Theorien, heterologer also nomothetischer Verbindlichkeiten mit dem terminus ad quem, die gleichfalls nur analog zu bestimmenden Organe anzusprechen, damit sie gegenüber den wieder einzigen Ereignissen des Lebens nicht hilflos dastehen, sondern „wissen", was sie m i t jenen Ereignissen vorzunehmen haben. Jedenfalls so, daß man „richtig" nach oben, unten, sich selbst gegenüber erscheint.
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Einführung in die Rechtsphilosophie, Kap. 9.
§ 9 Struktur des Rechtsbegriffs, der Mensch Redits Wissenschaft hat es mit dem Rechtlichen zu tun, d. h. m i t dem, was dem Rechtsbegriff unterstellt ist, von ihm „regionsmäßig" abhängig ist. M a n könnte nun, sich an eine Stelle bei K a n t erinnernd, an das denken, an den Umfang dessen „was in irgendeinem Lande die Gesetze zu irgendeiner Zeit wollen" 1 . Aber Land und Gesetze sind entweder Begriffe, die dem Rechtsbegriff ebenso unterstellt sind, wie andere positiven Begriffe ζ. B. was ist heute, wo endet heute das Deutsche Reich? Was ist ein Bundesgesetz? Oder Land und Gesetz meinen soziologische Begriffe, die als solche der soziologischen Unterlage den Rechtsbegriff konstituieren: Raumteil, höchste heteronome Richtschnuren aus einer Gewaltkonstellation usw. Vorläufig dürfen w i r als Gegenstand der Rechtswissenschaft an die Wortbedeutungvon „ positives Recht" erinnern. Nicht ohne Erfahrung, sondern nur erfahrend, insofern gleich dem Naturwissenschafter, kann man bestimmen, was das Recht der Rechtswissenschaft an positiven Momenten hic et nunc an sich trägt. Nicht also nach naturrechtlicher Konstruktion, sondern nach der einen Rechtsquelle, dem empirischen Rechtsgrund haben w i r erfahrbare Machtäußerungen, Bekundungen, sei es in Gesetzen, ihrer Behandlung, sei es in Gewohnheiten, faktischen Uberzeugungen. Wie aber die Auffassung des Erfahrbaren, des aus der Kontingenz Relevanten in der Naturwissenschaft davon abhängt, was man unter ihrer „ N a t u r " versteht, so auch hier beim Recht. Auch dort bedarf es subtiler Bestimmung durch apriorische Begriffe, um zu wissen, was das „durch die Sinnesorgane oder innere Bewußtseinsvorgänge Gegebene" meint. Es geht dabei um das Verhältnis der Einzelwissenschaft zu ihrer „Bindestrichphilosophie", soweit es die Gegenstände betrifft 2 . Manche geben zwar zu, daß der Rechtsbegriff Voraussetzungsbegriff für alles positiv Rechtliche, aber doch selbst noch ein Erfahrungsbegriff sei. So wie etwa eine Erforschung der Menschenrassen den Begriff des homo 3
Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B. Das Wort hat sich glücklicherweise eingeführt. Wir ließen es los als das Wort „Bindestrichamerikaner" im ersten Weltkrieg drüben auftauchte. Die fatale Nebenbedeutung ist dann erwünscht, wenn es eine nicht philosophische sondern positivistisch juristische Denkerweise charakterisiert (Ryffel). 2
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sapiens als Erfahrungsbegriff voraussetzte 3 . Stammlers bekannte Argumente zugunsten eines juristischen A p r i o r i 4 gelangen tatsächlich nicht über den empirischen Stand hinaus. D a m i t der Rechtsbegriff aber etwas anderes als ein Erfahrungsbegriff sei, bedarf es zusätzlich des Nachweises seiner rein apriorischen oder rationalen Elemente! Auch das man es beim Recht nicht nur mit Seiendem, sondern mit Seinsollendem zu tun habe, ist eine Annahme, die so die Behauptung der apriorischen N a t u r nicht rechtfertigt. Zunächst gibt es beim Recht ja neben dem Gesollten auch das Gedurfte: Neben Auflagen von Pflichten haben w i r Gewährungen von Befugnissen 5. Entschließt man sich nun, den von uns vorgeschlagenen sowohl Sollen wie Dürfen übergeordneten Begriff der Richtschnur, des Direktiven anzunehmen, so entfällt doch die Aufgabe nicht, auch bei diesem logisch höheren die Apriorität darzutun. Jeder A u k t o r von Imperativen: autonomen oder heteronomen kann auch ohne Widerspruch als solcher von Erlaubniserteilungen gedacht werden. Der befehlende wie der gewährende bleibt aber nach wie vor ein Stück Erfahrungswirklichkeit. Er maßt faktisch sich an. Das ändert sich auch nicht, wenn man ihm relativ höchste M o dalität in bezug auf seine Sanktionen zubilligt. Sie garantieren doch höchstens die höchste Chance für die soziologische Geltung der Akte. Eine nicht ganz durchgedachte Rechtsphilosophie gerät hier gewöhnlich ins Psychologische, pflegt an dieser Stelle m i t dem Begriff der sog. Rechtssicherheit zu argumentieren, wobei der Grad der Chance der Durchsetzung und entsprechender Befolgung der Befehle dem Grad der Berechenbarkeit der Verhaltensweisen der Mitmenschen nach A r t 3
Auch hier bedarf es zuvor der Feststellung, was man unter „Mensch" verstehen will, im Unterschied zu gewissen prähistorischen Vorstufen, missing link, u. dgl. 4 Das „unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen" ist als echte Grundkategorie gemeint. Sein Urheber sah aber nicht die Aufgabe, diese Bestimmung apriorisch darzutun. Obgleich die Stammlersche Formel für das Recht nicht paßt, wäre doch der Nachweis des apriorischen Charakters für die vier Momente möglich gewesen, damit freilich auch ihrer Ungeeignetheit. 5 Wir wiesen schon darauf hin, daß es auch bei der Formulierung von Pflichten Unbestimmtheitsmomente gibt, die man aber nicht ohne weiteres mit Befugnissen identifizieren darf. Wenn idi mich irgendwie nach Anordnung verhalten soll, z. B. einen Weg instandsetzen, so ist über die Art, wie das zu geschehen hat, nichts Näheres ausgesagt. Wenn ich nun sage, es dürfe das in mannigfacher Art geschehen, so ist der Begriff des Dürfens eingeführt, der aber ebenso wie der des Sollens erst abgeleitet und dann gerechtfertigt sein muß. Vgl. von uns, a.a.O., S. 120 ff.
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des Prévoirs von Vorgängen i n der sonstigen N a t u r entspricht. Das künftige Geschehen auf Grund des Wahrscheinlichkeitsgrades nach der Erfahrung m i t sog. Naturgesetzen! Das Bedürfnis sich nach dem Grad der Voraussehbarkeit zu richten und die entsprechenden Aussagen über soziologische Geltungsgrade i n Herrschaftsverhältnissen beziehen sich immer nur auf empirische Erscheinungen. Eine Fortsetzung der natürlichen Entwicklung des Verhaltens überhaupt, dem Erfahrungen zugrunde liegen: „Der Esel stolpert nur zweimal über einen Stein." Die Bestimmung des Rechts als eines Gefüges von Gesolltem und Gedurftem e w i r d erst dann zu einer apriorischen, wenn diese Richtschnuren als verbindlich i m Sinne eines wirklich Belangvollen, — sagen wir, mißverständlich — „ethisch" Verpflichtenden verstanden werden. Das ganze Recht hätte sonst nur die Beschaffenheit einer Realität, die wie ein Stock schlagen oder wie ein schwebendes Beil das faktische Bewußtsein quälen, schließlich vergewaltigen kann, insofern es nicht etwas auferlegte, das man wirklich zu beachten und zu tun hätte. Es müssen sich bei i h m nicht nur heteronome 7 Richtschnuren nachweisen lassen, sondern zugleich für den Menschen als Rechtsunterworfenen i m entscheidenden Sinne „menschenwürdiges", d. h. hetero loges 9. I n einem religiösen Bild: Weder der empirische Mensch befiehlt uns i m Recht etwas von oben herab, noch offenbart uns Gott als deus absconditus seine Befehle unmittelbar 9 . W i r haben i m Recht zwar immer den Menschen, von dem heteronom Befehle ausgehen, dieser aber ist dann stets mehr als das. Er ist Mittler, um wirklich Angehendes: logo nomes uns als real möglich kundzutun (Feststellung) und die Realisierung zu veranlassen (Verwirklichung). Wenn man Gott als nicht empirisch erfahr6
Besonders struktuierte Rechtsauffassungen ergeben bei weiterem Überordnen des Sollens ein rigoroses Recht: Es gibt auch konstruktionsmäßig nur Pflichten! Bei entsprechendem Uberordnen des Dürfens, das „frevelhaft" optimistische: „Es gibt nur Rechte!" Man stelle den Zustand einer Diktatur in einem gesteigert calvinischen Staatsgebilde einer universalen Carta der Freiheitsrechte gegenüber! 7 Daß in der Demokratie auch autonome Richtschnuren überall in Verfahren mitwirken, die schließlich als Resultante das Gesetz ergeben, ist unbestreitbar, obgleich bekanntlich im Parteienstaat zwischen dem „Autonomen" beim Einzelnen und dem Heteronomen beim Gesetz a long long way liegt. 8 Hier bedeutet der Begriff Mensch bereits den „Verantwortlichen", das Subjekt der philosophischen Anthropologie, nicht der empirischen! 9 Nach der religiösen Dogmatik des Christentums nicht als eines nur dezisionistischen (allmächtigen) sondern logonom als Prinzip des Guten (index boni) verstandenen Gottes.
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bares Subjekt des Logonomen auffaßt, so bedarf es innerhalb seiner Schöpfung der von i h m geschaffenen Menschen und ihrer heteronomen A k t e (Befehle) um jenes Logonome zu Heterologem (Recht) und beim Ausführen dann notwendig auch zu Autologem (verbindliche Befehle an sich selbst) werden zu lassen 10 . Recht ist also weder empirisch feststellbare „Macht" „oben", noch dieser entsprechende Bedrängnis „unten", noch menschlich verkörperte Kalkulations- oder Spielregel, sondern trotz seines empirischen Bestandteils immer mehr: nämlich belangvoll Angehendes! Der Rechtsbegriff, nicht der auf Grund dieses festgestellte Begriff des positiv Rechtlichen läßt sich i n der Tat nur als apriorischen Begriff, nur apriorische Begriffe enthaltend, dartun. Die ihn konstituierenden Begriffe sind sowohl als soziologische wie als direktive keiner empirischen Rechtfertigung bedürftig. Entsprechend dieser Andeutung der komplexen Struktur des Rechts haben w i r also bei allem Rechtlichen soziologische Momente: Die Grundbegriffe, die dabei aus dem soziologischen Bereich für den Rechtsbegriff konstituierend sind, sind nicht so viele als daß sie sich nicht i m Sinne axiomatischer Tendenzen 11 ihrer logischen Dignität nach auf einer Ebene entfalten ließen. Es würde so durch die Rechtsphilosophie offenbar, daß es Aprioritäten von derartig regionalem Charakter (Husserl) auch noch anderswo als i m spezifisch Mathematischen gibt. Die soziologische Gewaltkonstellation, ihre spezifische Geltungsart, das, was gilt, wozu es gilt, und wie es gilt, alles das ist begrifflich soziologisch zu explizieren: Wenn A der A u k t o r einer heteronomen Richtschnur einem Β befiehlt, so ergeben sich diverse Möglichkeiten hinsichtlich der Beziehung von Β zu dieser Richtschnur des Α : Β kann die Richtschnur des A befolgen, weil die Richtschnur so wie sie hic et nunc ist, das Verhalten des Β motiviert 1 2 . Β kann handeln, ohne sie vernommen zu haben. Β kann J0
Freilich nicht nur seiner „Willensorgane". Non posse non peccare! Wir wiederholen Hilbert: „Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen Methode." (Axiomatisches Denken, 1917.) Auf das reif sein kommt es freilich, an! 12 Er erteilt dann eine autonome Richtschnur (an sich selbst) deren Inhalt den der heteronomen des A erfüllt. Das Erklärungen abgeben, solche empfangen, bezieht sich auf die Weise wie Richtschnuren „erscheinen", „wirklich" werden. Damit taucht das Deiktische, Symbolische, Sprachlische als besonderes Problem auf. 11
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befolgen, weil er ihren Inhalt billigt. Β kann zuwiderhandeln, weil er sie kennt oder ohne sie vernommen zu haben. H i e r tauchen neben den soziologischen „reinen" Formen, die sich immer weiter konkretisieren lassen, psychologische auf, empirische, aus der Erfahrung aufgegriffene. Es w i r d aber einleuchten, daß auch das Problem des sog. Rechtsgehorsams nur an H a n d einer zuvor aufgestellten T o p i k der Fragen wirklich zu fassen ist. Auch hier notwendig Aprioritäten als Koordinatensystem! Sieht man nun, daß es nötig ist, die Richtschnuren von Β in Betracht zu ziehen, die nötig sind, um die Befolgung als durch einen Menschen herbeizuführen — w i r sprechen hier von Willensakten — , ferner solche eines dritten Subjekts C, das als Organ des A dient, indem es A verspricht, d. h. in Richtschnuren an sich selbst (autonom) kundtut, zur Befolgung der Richtschnuren des A durch den Β beizutragen, dazu noch weitere Richtschnursubjekte, so ergibt sich in soziologischen Begriffen das, was man als höchste Machtsituation auf einem bestimmten Raumteil versteht. D a m i t wäre auch das „oben" und „unten" definiert, obgleich w i r wissen, daß i n Wirklichkeit die Kombinationen so sind, daß die faktischen Richtschnursubjekte Β (autonom) auch gegenüber den faktischen A's für diese „oben" sein können 1 3 . H i e r sind alle möglichen Arten der Interdependenz real denkbar. Die verschiedenen Herrschaftsformen lassen sich so aus einem M i n i m u m von Begriffen entfalten, zunächst nur soziologisch noch nicht rechtsdogmatisch. Freilich der W i r k lichkeit gegenüber nur ein mageres dafür aber um so präziseres Koordinatensystem, wogegen sich dann später das rechtsoffizielle der jeweiligen Rechtsdogmatik als ein besonderes, eigentümlich abgestecktes abhebt. Was w i r hier meinen, w i r d am besten klar, wenn man sich an die Schulgeometrie erinnert, wo w i r sahen wie sich ganz verschiedene Dreiecksarten aus
den
bekannten Axiomen
der
Geometrie
entwickeln
14
ließen . Ebenso wie es Richtschnuren i m Sinne von Sollensanmaßungen gibt: von anderen (heteronom) an uns und solche an sich selbst (autonom) 13 Neben den Zahlbegriffen ist mit dem des Raumteils auch ein angewandt geometrischer aufgetaucht. Damiit Carl Engisch derartiges in seinem „Weltbild des Juristen" antreffen kann, dann als typisch juristisch, bedarf es dieser vorausgehenden Begriffsschichten, was er gewiß nicht bestreiten wird. 14
Unter dem Einfluß von Moritz Pasch haben wir s. Zt. in Gießen solche Ableitungen versucht. Sie sind möglich, doch bedarf es für diese rein akademische Arbeit der Grundlagenforschung eines Mitarbeiterstabs.
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Befehle, Vorsätze, so gibt es schließlich i n solchen A k t e n oder Beziehungsweisen, die sie konstituieren, alle soziologischen Grundformen, die der Jurist benötigt, um Begriffe wie Willenserklärung, Vertrag, daraus entspringende Forderung, Schuld, Erlaß, Wandlung, Übertragung usw. i n der i h m vertrauten rechtstheoretischen Weise darzulegen. Auch Occupation stellt nur eine besondere soziologische A r t dar, um eine Beziehung eines Richtschnursubjekts zu einem D i n g zu begründen. A legt sich selbst (autonom) eine Richtschnur auf, deren Inhalt konvers eine „Auflage" für das D i n g bedeutet 15 I n der Ausführung der autonomen Richtschnur erscheint dann der Zustand der Occupation als realisiert. Daß sich ebenso wie „oben", „unten" auch „außen" und „innen" i n Hinsicht auf eine „Gruppe" soziologisch bilden lassen, ist schon aus der „Beziehungslehre" bekannt 1 6 . Schon i n dieser soziologischen Begriffssphäre zeigt sich nun bereits, welche Abwandlungen
möglich sind, wenn man Richtschnuren i m Ver-
hältnis zueinander p r ü f t : als verträglich, als behilflich, als unverträglich, als gleichgültig. Der Inhalt einer Richtschnur kann ζ. B. dahin gehen, eine andere als M i t t e l zu verwenden, um zum Richten zu gelangen. Er kann der anderen zuwiderlaufen. Dann kann wieder eine dritte Richtschnur dahin gehen, den Inhalt der anderen als nicht vorhanden anzusehen. I n dieser Weise kann man nun auch den Inhalt modifizieren, das Gesollte oder Gedurfte qua Auflage verändern, erweitern, verengen usw. W i r sprechen hier von „Behandlungsmöglichkeiten" der einen Richtschnur durch eine andere, wobei diese natürlich nicht als Fakten, sondern als begriffliche Möglichkeiten verstanden werden. Daher gibt es auch begriffliche Grenzen. So kann eine Richtschnur ihrem Inhalte nach dahin gehen, Eigentum i m soziologischen Sinne zu übertragen, aber nicht es zu erfüllen. Es gibt aus logischen Gründen daher 15
Der „Wunsch" ist ein widerspruchsloses Gebilde. In dem Wunsch, wenn jetzt der Mond aufginge, wird sozusagen der „Welt" etwas auferlegt. Der Unterschied zu der Auflage beim „Wollen" ist dabei offenbar. 16
Die Beziehungslehre Leop. v. Wieses bietet für jeden Juristen ein gewialtiges Anschauungsmaterial. Man darf allerdings nicht die Beziehungsglieder als zuvor bestimmt ansehen, als außerhalb stehend und dann nachträglich eingefügt. Sie definieren sich „implicit" zugleich mit den Relationen. Den größten Anschauungsstoff haben wir natürlich in den Systemen der Rechtswissenschaften, sobald man transzendental nach den soziologischen Voraussetzungen der darin auftretenden Begriffe (Sätze, Institutionen) fragt.
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keine sinnvollen Behandlungsmöglichkeiten dieser A r t i m aufgebauten positiven Rechtssystem 17 . Diese soziologischen Momente sind nun Aprioritäten. Sie finden sich als „angewandt" oder konsumiert i n der rechtssoziologischen Empirie. Ebenso wie w i r i n den Urteilsätzen über die „ N a t u r " die Ergebnisse der Mathematik wiederfinden, so liegt es auch hier. D o r t heißt es „ d u m calculai deus, f i t mundus", hier „wenn der Logos die ihm ohne Empirie zugänglichen Begriffe entfaltet, die die entsprechenden soziologischen Tatsachenfeststellungen ermöglichen, so entsteht eine begrifflich fundierte Soziologie als Erfahrungswissenschaft". So wie exakte N a t u r beherrschung nur m i t H i l f e mathematischer M i t t e l möglich ist, so auch präzise Einsicht i n die Struktur rechtssoziologischer Tatsachen, nur mit H i l f e jener soziologischer Aprioritäten. Damals überschätzte man das Mathematische auf Kosten des Empirischen, aber das Berechenbare in der Welt fand man dabei doch. Ebenso steht es m i t dem Rechtssoziologischen seiner soziologischen Struktur nach. Wenn nun bei uns leider das apriorische Feld nicht einmal als Forschungsgebiet der Akademien i n Erscheinung getreten ist, so dagegen bereits seit einem halben Jahrhundert aus praktischen Gründen die Rechtstatsachenforschang. Es bedurfte erst der Werke über die realen Vorgänge beim Hypothekengeschäft (Nußbaum), über Verkehr m i t Wechseln usw., um dem wissenschaftlichen Juristen auch dieses Reich der Wirklichkeit als behandlungswürdig wieder ins Bewußtsein zu rufen. Die Realitäten, womit ja jede theoretische Beschäftigung m i t dem Recht einst anhub, um dann den Weg der Rechtsdogmatik bewußt einzuschlagen; an dessen Ende dann der Zustand stand, wo sich der junge Jurist einen Wechsel erst mühsam aus den rechtsdogmatischen Lehren erschloß. „Es gibt ein Versprechen gegenüber einer Gesamtheit von Versprechensempfängern" ist ein Satz der apriorischen Soziologie. „Jedoch kommt ein solches i m römischen Recht der Z w ö l f Tafeln als Faktum, das aus einem derartigen Versprechen das Organ, den Prätor zur entsprechenden Realisation des 17 Das wäre u. E. die Stelle, wo der positive Jurist die Grenze des Anordbaren, seines „Gegebenen" und damit seines Positiven zunächst vom Soziologischen her, aus logischen Gründen einsehen müßte. Hier ginge ihm vielleicht seiner Stufe: der positiv-juris tischen gegenüber, worauf er steht, die Vorstufe: der soziologischen auf. Danach wohl deren echte Apriorität. Das vom Logonomen abhängige Heterologe zu erfassen, wäre dann freilich noch ein weiterer Schritt. Schopenhauers Staroperation vergleichbar! Ähnliche Grenzen wie die obengenannten hat bereits Salomon Maimon mit seinem „Satz der Bestimmbarkeit" angedeutet.
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Versprochenen aufforderte, nicht vor." Dieser Satz wäre eine Behauptung soziologischer A r t , die zu erhärten oder zu widerlegen die römische Rechtsgeschichte angeht. M a n lernte i n der Schule zuerst Ebene Geometrie nach Euklid, dann ging man i n der „sphärischen Geometrie" auf die Verhältnisse über, die auf der Kugel bestehen. Gauss hat bekanntlich gezeigt, daß es auch widerspruchsfreie Geometrien gibt, wo nicht das Parallelenaxiom gilt. Ähnlich den Figuren einer solchen „absoluten Geometrie" (Bolyai) haben w i r unsere soziologischen Aprioritäten aufzufassen. Es kann hier nicht dargetan werden, wie es Felix K l e i n gelang, durch neue Bestimmung der Grundbegriffe 1 8 eine Aufhebung des „Unanschaulichen" ins „Anschauliche" zu erreichen. Neue Bestimmungen müssen auch bei uns — von außen — herangetragen werden, um nun von der soziologischen Seite ins belangvoll Maßgebliche zu gelangen, welchen Sinn, wie w i r wissen, das Recht beanspruchen muß, wenn es irgend jemand angehen soll. Bildlich ausgedrückt: M a n schiebt gleichsam das ganze „Spiel" mit seinen Regeln, Figuren, Möglichkeiten i n ein „höheres" hinein, wo die bisherigen Behandlungsregeln (Möglichkeiten) durch eine hinzukommende neue Regel beschränkt werden. U m das belangvoll Angehende zu finden, bedarf es nicht nur der Einsicht i n die verschiedenartigen Behandlungsmöglichkeiten, was noch eine apriorisch-soziologische A n gelegenheit ist, sondern es bedarf dazu eines zweiten, zwar von jedem soziologischen A k t bereits angemaßten Prinzips, nämlich einen „Sinn" zu haben, um als soziologischer A k t nicht nur ein Faktum zu sein, sondern als wirklich belangvoll bedeutsam. W i r wissen: Bereits jede theoretische Behauptung maßt sich ja die Richtigkeit ihrer selbst an, erreicht diese aber erst dann, wenn zu der Tatsächlichkeit qua Behauptung die Erfüllung von Bedingungen hinzutritt, die den Inhalt der tatsächlichen Behauptung zu einer richtigen werden lassen. Diese Bedingungen aber stammen von dem nicht angemaßten, nicht von Gnaden der Tatsache lebenden Prinzip der Logik! Was hier so kompliziert klingt, ist auf logisch niederer Ebene jedem Juristen geläufig. Er weiß: Die Akte, die die Menschen untereinander vollziehen, werden erst dann mehr als bloße soziologische Vorgänge, werden erst dann rechtsgültig, wenn sie ihre Legitimation durch das positive Recht erfahren. I n diesem sieht er dann wieder die Skala der sog. juristischen Geltung, die man besser immanente Geltung nennen sollte, führend etwa von 18
Kurz: Er bestimmte „Punkt" als jeden Punkt in einem gegebenen Kreise N, „Grade" als jedes Stück im Innern von N.
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einem Verwaltungsakt zur Verordnung, dann zum allgemeinen Verwaltungsgesetz, schließlich zur Verfassung. Dann steht gewöhnlich der juristische Verstand still. Eine Skala übrigens, die sich nach nichts anderem als nach der auch von uns gesuchten logischen Dignität: dem Gewicht richtet, v o m Bedingten zum Bedingenden aufsteigend „transzendental", damit freilich noch nicht apriorisch. Diese jedem Juristen vertraute Legitimierung g e s t a l t e t — begrifflich gesehen — die soziologischen A k t e und ihre begrifflichen Folgen, indem sie je nachdem annulliert, fingiert, erweitert, reduziert, beläßt, freilich jeweils in den Grenzen, in denen es eben, wie w i r schon sahen, aus Wesensgründen möglich ist. Das Entscheidende, was w i r hier meinen, ist nun nicht jene Skala der sog. juristischen Geltung m i t ihren beiden Richtungen: spezifizierend oder generalisierend, sondern das besondere Reich oder Feld einer, systematisch gesehen, homogenen begrifflichen Weise der Rechtfertigung, des „Logon didonai", analog unserem mathematischen Beispiel. Zusammenfassend sagen w i r : Die apriorisch-soziologische Seite des Rechtsbegriffs enthält die autonomen und heteronomen Momente, die „Anmaßungen" von Gesolltem und Gedurftem, wie sie eben für die Machtkonstellation wesentlich sind, die w i r i m soziologischen Sinne als unverzichtbare Basis des Rechts kennen. Diese Verhältnisse sind zwar nicht total, aber i n gewissen Grenzen behandlungs- und damit abwandlungsfähig. Diese „Möglichkeiten" sind ebenfalls noch Gegenstand der apriorischen Soziologie, denn sie ergeben sich bereits, wenn man das Verhältnis der Richtschnuren eines dritten gegenüber dem der Richtschnuren von nur zwei Richtschnursubjekten den Möglichkeiten nach untersucht. W i r kommen dann schnell zur „Überordnung", „Nebenordnung", „Unterordnung" und den entsprechenden soziologischen „Schicksalen", diese nicht real sondern nur als begriffliche Möglichkeit der Folgen verstanden. Das, was von der Realität aus gesehen, der Laie als „abstrakt", „ f i c t i v " und infolgedessen als ungerecht empfindet, gründet sich gewiß auf diese Abwandlungsmöglichkeiten. Der eigentlich entscheidende Hiatus aber: das ganz andere scheint dann einzutreten, wenn diese soziologische Sphäre in toto unter den Bereich eines Prinzips gerückt wird, das f ü r e c h t e B e l a n g e d i e Rigorosität letzter Entscheidung beansprucht. Religiös unter „ G o t t " , philosophisch à la mode der verflossenen Jahrzehnte ausgedrückt: unter den Gesichtspunkt des „Werts". Ja, da es sich um sinnvolles Verhalten des Gesamtmenschen i n seiner jeweiligen
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Situation handelt, wo er doch „dem höchsten mehr gehorchen soll", des höchsten Werts. W i r sprechen schlicht vom Prinzip maßgeblicher Belange. Es bedurfte aber einer Untersuchung des philosophischen Gehalts der religiösen Dogmatik, um darauf hinzuweisen, daß die geistigen Anstrengungen um die Entwicklung des religiösen Dogmas Anspruch auch darauf erheben dürfen als solche um eine das Verhalten bestimmende teleologische Begriffsentfaltung gewürdigt zu werden, nicht nur um eine Entfaltung i m Bereich der Gedanken, sondern ebenfalls mit der Tragweite jedes dogmatischen Schritts für den terminus ad quem: wirklicher Mensch. H i e r geht es wesentlich um die Enthüllung der Tragweite des ersten Prinzips, des Ansatzes i n bekannten religiösdogmatischen Begriffen. Eine auf das Maßgebliche zielende begriffliche Tendenz, deren Sinn i m wesentlichen heute nur den orthodoxen Theologen und Philosophen i m Gefolge von Wladimir Solowjow, Simon Frank, Bulkakow usw., den m i t der Logos- und Sophienspekulation Vertrauten selbstverständlich ist. I n Wirklichkeit liegt nur darin, daß man die Eindimensionalität der Gedankenentwicklung übersieht und ganz undialektisch denkt, der Grund dafür, daß man bei dem Ubergang von der, dem „verständigen" Denken zunächst vorgeschriebenen, Begriffsebene des Soziologischen ins Direktive logonomen Ursprungs einen Hiatus empfindet. Denn tatsächlich fordert ja jede Anmaßung die Richtigkeit ihrer selbst, also mehr zu sein nämlich Maßgeblichkeit, jedes auto- und heteronomen auto- und heterologes, fordern Imperativ und Permission den justus titulus des Logos! Wenn w i r noch i n der apriorisch-soziologischen Sphäre die Möglichkeiten der Behandlung und ihrer Folgen haben, so hier demgegenüber das entscheidend teleologische, w o r i n hineingehoben jene nun erst ihren Sinn erfahren. Daß das entscheidend teleologische für den Gläubigen zugleich das theologische sein wird, ist jedenfalls für den einleuchtend, der nach der Analogia entis den Vollsinn von mundus und des darin stehenden Menschen versteht. Bei der positiven Jurisprudenz steht der Mensch nun stets i n irgendeiner funktionellen Beziehung: als dogmatischer Jurist; als „Beteiligter am Rechtsleben, schließlich als nichtjuristischer Mensch, der „ M a n n auf der Straße", jeder i n einer ohne faktische Rechtsauswirkungen so undenkbaren, von solchen mehr oder weniger sichtbar geprägten Situation, die es aber nie „an sich", ohne ihr „sein für i h n " gibt, die er also stets mit ausmacht. Seine richtige Stellungnahme, i n entscheidender Hinsicht dahingehend, was von all dem, was der Rechtsphilosoph in
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philosophischen Urteilssätzen, der Jurist in juristischen entwickelt, ihn denn überhaupt „angehe", bildet dann das nur vom Systematischen aus richtig zu piazierende pragmatische Problem. So falsch es ist, nach A r t gewisser angelsächsischer Pragmatisten die systematischen Erwägungen mit „aus der Kanone geschossenen" „Belangen" beginnen zu lassen, auch wenn man sie nach der Zeitmode „existentiell" nennt, so falsch wäre es, ja verhängnisvoll für die philosophische Betrachtung der dogmatischen Rechtswissenschaft, die doch ihre bestimmbare reale Funktion hat, die Stelle nicht zu suchen, wo die pragmatische Perspektive hingehört. Der übliche Pragmatismus fängt also damit an, wo w i r erst hinwollen. Ähnlich allen positivistischen Philosophien, die mit der Sinnes Wahrnehmung, dem Erlebnis, dem „unmittelbar Gegebenen" beginnen, als ob solche Begriffe und ihre Tragweite nicht der Rechtfertigung bedürften! Der Gedanke muß zwar als Ziel die Belange für wirkliche Menschen, also insofern das Pragmatische i m Blut haben, sich aber disziplinieren lassen, sich geduldig der Ordnung fügen, die die Logik als Ordnungslehre (Driesch) gebietet. Der Punkt also, wo jeweils der wirkliche Mensch steht, i n einer, eben seiner Lage, also auch der Jurist und alle, die es m i t dem Recht zu tun haben, um damit richtig fertig zu werden, dieses Aktuelle bleibt also für die praktische Philosophie ein terminus ad quem 1 9 . So w i r d auch die Rolle der Anthropologie verständlich. Das Prinzip, das die Sphäre des echt Belangvollen eröffnet, führt über einen religionsphilosophisch teleologischen Begriff der Welt „mundus" (der in sich natürlich alle die „schlechten Unendlichkeiten", unendlichen Regresse der Erfahrungsreihen enthält) als des Richtbaren, der Kontingenz, deren Momente nur erfahrbar sind und nicht essentiell, zur teleologischen Geschichtsphilosophie, in deren M i t t e l p u n k t nicht die Geschichte als Wissenschaft steht, die historia rerum gestarum, sondern der Wandel der Situation, die res gestae 20 . Als Ende das „sich Verhalten", auch i m Sinne eines pati, non facere, was ja innerlich eine 19
Unser Referat auf dem Internationalen Philosophischen Kongreß in Prag 1935 (Akten), auch als Dialog in Festschrift für Hübner. 20
Die südwestdeutsche Philosophenschule machte sich mit Recht die Unterschiede der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften zum Gegenstand ihrer wissenssoziologischen Untersuchungen. Aber Geschichte im Sinne der res gestae ist etwas anderes. Man witzelte schon damals: wie ist der Professor möglich oder gar ein damals bekannter Philosoph. Woran sich alte Mitglieder der Kantgesellschaft gern erinnern mögen. 6
Emge
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zum mindesten yogaartige Tenue bedeutet! — Ob etwas i n der Situation nach dem Wesentlichen hin als dasselbe oder als ein anderes gilt, hängt wie jede Frage nach der Identität und Andersheit 2 1 von einem Standpunkt ab, der wegen der unvollendbaren Möglichkeit zu spezifizieren, darüber entscheidet, ob Einheit oder Mannigfaltigkeit wesentlich w i r d . Die Betonung dieses Pragmatischen gehört hierher, da sich die teleologische Geschichtsphilosophie ja m i t dem sog. Fortschritt auseinander setzen muß 2 2 . Immer nur i n gewisser Hinsicht, also für isolierte, aus der Wirklichkeit logisch herauspräparierte Sachverhalte nie für die Welt schlechthin als mundus und den Menschen in ihr kann „Fortschritt" eine Aufgabe sein, deren jeweilige Auswirkungen freilich bei Realisierungsversuchen dann, prophetisch, ins Auge gefaßt werden müssen. Ja, die Assoziationswirkungen sogar eines solchen Schlagworts selbst können situationsbedingt ein vorläufig wünschenswertes Ziel sein, allerdings nicht für die Theorie. Der Mensch hat als Gegenstand der empirischen und der philosophischen Anthropologie ein doppeltes Gesicht. I n der philosophisch-teleologischen Sphäre ist er ein Lebewesen, dessen Bestimmung eines Begriffs der „Richtigkeitslehre" bedarf. Diese Behauptung richtet sich also in keiner Weise gegen anders lautende Tendenzen i n der empirischen Anthropologie. Philosophisch ist Lebewesen nur zu bestimmen mit H i l f e des Begriffs der Richtschnur, und zwar der autonomen. Das, was man schon immer unter Entelechie, Zweckeinheit verstanden hat, drückt eben aus, daß die Tatsächlichkeit von Richtschnuren „autonom", mehr oder weniger bewußt, an sich und die U m w e l t gerichtet, in ihrer Kontingenz bloß erfahrbar, das Lebewesen i m Unterschied zum toten D i n g charakterisiert. Aus dem Lebewesen hebt sich nun der Mensch i m philosophischen Sinne dadurch hervor, daß er als Subjekt verantwortlich ist, Adressat von Logonomem, Autologem, Heterologem ist. Nicht nur wie ein D i n g real bewegt oder durch Levitationsvorgänge zum Schweben gebracht, sondern mit echten Belangen belegt, die ihn verbindlich angehen, auch wenn das Erfahrbare in der Form des strikten Befehls erscheint. Denn da dieser als soziologischer A k t ja einen Sinn hat, ist er verstehbar und die Reaktion also auch ein Richtigkeitsproblem. H i e r wurzelt wie man sieht, der Freiheitsgedanke, der m i t dem philosophischen Begriff des Menschen eng verknüpft ist. Er bedeutet, befreit von seinen unabseh21 Für den positiven Juristen gab es das „angewandte" Problem bei der Spezifikation und Klageänderung! 22 Vgl. unsere Abhandlung über „das Problem des Fortschritts" 1958.
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baren negativen Momenten, die, der Genesis nach, der Abwehr des empirischen Menschen gegenüber Verhältnissen entstammen, denen er sich jeweils entwachsen fühlt: daß es grundsätzlich keine Grenze für die Richtigkeitsfrage gibt, so sehr es richtig sein kann, diese Frage nicht für jede Situation als sinnvolle Geisteshaltung, also als richtig zu behaupten. M a n denke an den einäugigen D o k t o r i n Voltaires Candide! A u f dem Erfahrungsweg kann man nur Anschauungsmaterial, so etwas wie Orientierungsstoff für diesen philosophischen Begriff des Menschen gewinnen, gleich den an die Tafel gezeichneten Figuren der Euklidschen Geometrie. Sein Vorhandensein läßt sich nie kategorisch behaupten. A u f den „Schematismus" der Realisierungsfragen bei diesem regulativen Prinzip kann hier nicht eingegangen werden. Er führt zu dem Problem des nächsten Schritts, des Aktuellen m i t seinen verschiedenartigen Unendlichkeitsfragen zurück, die w i r ja anderswo behandelt haben. I m Recht aber haben w i r diesen Menschen i m Sinne der philosophischen Anthropologie genau an der Stelle, wo das Subjekt verantwortlich für seine Handlungen, delikt- und geschäftsfähig wird. Nicht also bereits bei der bekannten „Vollendung der Geburt"! Das Auftauchen des philosophischen Begriffs i m Recht mag der Grund dafür gewesen sein, weshalb sich Philosophen wie K a n t am Recht orientiert haben. Das dann später so geschmähte Naturrecht hatte hier ausgestrahlt, so wie es philosophische Bemühungen um das Recht gewiß auch auf andere Gebiete dann tun werden, wenn man das Recht wieder ernst nimmt, und nicht positivistisch als ein Gespinst von Anmaßungen, die man nun mal hinzunehmen und wissenschaftlich einzukleiden hat. So hat hier beim verantwortlichen Klenschen die Situationsphilosophie, die teleologische Geschichtsphilosophie ihren Mittelpunkt. Aber mehr kann dieser philosophische Begriff des Menschen nicht leisten. Grade wenn man den Situationsbegriff als wesentliches Moment für die Philosophie des Aktuellen ansieht, bleibt als Ziel der wirkliche Mensch der hic et nunc Erfahrbare, m i t allem anderen, was sich nur mit H i l f e der Sprache und zur Entdeckung funktioneller Beziehungen insofern abstrakt formulieren läßt als Ziel. M a n möchte dabei an einen Thomistischen Gedanken „über" Gott erinnern, worin er alle mehrdimensionalen Möglichkeiten andeutet und so auch für die kreaturhafte Sphäre analoge Möglichkeiten der Veranschaulichung bietet. So gilt auch vom Menschen sowohl i m empirischen wie philosophischen Sinne, daß er i n allem uneingeschlossen, und außer allem unausgeschlossen, und über allen Dingen unerhoben ist. 8*
§ 10 Die angeblichen Werte: Sicherheit und Gerechtigkeit, Grundrechtsproblem, störende wissenschaftliche Tendenzen Es kann nicht ausbleiben, sich auch bei einer Philosophie der Rechtswissenschaft m i t den sogen. Ideen von Sicherheit und Gerechtigkeit zu befassen. W i r haben anderswo sehr ausführlich beide Vorstellungen behandelt und gezeigt, daß ein wirkliches Bemühen um ihren Sinn notwendig über diese Schlagwörter hinausführt: i n eine Erwägung des Richtigen 1 . Bei beiden Vorstellungen drücken sich nun in der Tat tiefe Bedürfnisse des Menschen aus. I n Zeiten revolutionärer Umbrüche w i l l er vor allem Sicherheit. I n ruhigen Gerechtigkeit, und sei es selbst durch Umbruch. Was aber darunter gemeint ist, darum kümmert er sich nicht. M a n möchte sich an die Anekdote erinnern, die unsere Vorväter von 1848 erzählten: Bei den Unruhen kamen zwei Bauern m i t einem Leiterwagen an. A u f die Frage: „wofür?" antworteten sie, sie wollten sich die Pressefreiheit holen. H i n t e r beiden Schlagwörtern stecken aber die, zwar vagen, Ansprüche auf Entfaltungsmöglichkeiten i m Sinne des Menschen der philosophischen Anthropologie, nur, daß sie sich an eine falsche Adresse richten, daß sie heteronom statt autonom sind. Jeder w i l l natürlich das, was er w i l l . Wenn er vorher bedrückt lebte, weil er sich nie als Herr über sich, selbst i m kleinsten Bereich fühlte, so wünscht er nun Freiheit von solcher Bedrückung i n Form von Rechtsgarantien. Er w i l l also gegenüber dem Können des Andern ihm gegenüber, ein weniger Dürfen für diesen. Er w i l l grade hier besser kalkulieren können. Das Prévoir auf anderen Gebieten: dem wirtschaftlichen, dem politischen, dem Beurteilen der Situation und der i n ihr schlummernden Entwicklungsmöglichkeiten oder charakterologisch gar aus Erforschung von Physiognomien, Redeweisen, Gesten, Schreibweise, forderte freilich von ihm mehr Anstrengungen. Das Verlangen nach Sicherheit hat also eine Fülle pragmatischer Momente an sich, die ihre Herkunft aus einer handfesten Situation und Geisteshaltung verraten. Beim Verlangen nach Gerechtigkeit konnten w i r nachweisen, daß je nach der Gruppe, worin jemand anderen daraus etwas für den Fall, daß sie gewisse Bedingungen erfüllen, verheißen hat, sowohl das, was 1
Siehe Einleitung in die Rechtsphilosophie (Richtigkeitslehre).
Sicherheit und Gerechtigkeit (als angebliche Werte)
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sie danach erwarten dürfen wie, was sich als Erfüllung feststellen läßt, relativ ist. Daß es sich um eine gruppeninterne Situation soziologischer A r t handelt, denkbar ebenso in einer Societas latronum wie in einem Verband von Eremiten. Daß also das Entscheidende wieder bei der jeweiligen „Richtigkeit" liegt: der Verhaltensweise des Verheißenden, seiner auferlegten Bedingungen, der Prüfungen danach, usw. Wenn nun diese alten Probleme: der Sicherheit und der Gerechtigkeit auch bei der Rechtswissenschaft auftauchen, so deshalb, weil es bei ihr um die richtige Feststellung des Rechtlichen geht: sogar, wie w i r immer wieder hören, um wissenschaftliche Feststellungen ginge. M a n hat nun die Sicherheit des Rechts von der Sicherheit durch das Recht unterschieden. Sicherheit des Rechts, das soll natürlich heißen: der Gesetze. Sicherheit dafür, daß sie selbst legal, sagen w i r lieber, ordnungsgemäß zustande kommen, daß also die Vorgänge dabei „richtig" verlaufen, und dann auch „soziologisch gelten". Aber Gesetze sind ja nicht Recht, sind nicht das, was die Rechtswissenschaft aus jenen und, wie w i r wissen, nie nur aus jenen als belangvolle Pflichten herausholen soll. Das andere nun: Sicherheit durch das Recht, bezieht sich anscheinend zunächst wieder nur auf das Gesetz. Beide meinen also Gesetze unter gewissen Umständen, nicht das Recht der „Wissenschaft": Jurisprudenz. Die höchste Sicherheit des Rechts hätte man natürlich da, wo die Gesetze einfach „eingestanzt" würden: die „Auflagen" so wie heute die Zahlen auf den Gehaltszetteln eisern eingeklammert, daher kaum lesbar. Aber auf dieses Lesen und Verstehen käme es ja auch gar nicht mehr an. Die Konstellation Machthaber-Machtunterworfener wäre eine solche von auf einander eingespielten Teilen in einer Maschine. Aus dem Leviathan wäre der Roboter geworden, der Richter wäre nicht einmal mehr „ l a bouche qui prononce les paroles de la l o i " . Solche totale Sicherheit, die alle Beteiligten, oben und unten zu Dingen machte, kann also bei dem Verlangen nach Sicherheit des Rechts nicht gemeint sein. Geht es aber dabei wirklich um Recht und nicht um Gesetze, so schiebt sich eben zwischen die Tatsache, daß in Gesetzen Anmaßungen erhoben werden und daß es Menschen sind, die sie erfüllen sollen, die sog. „Adressaten", die Interpretation m i t dem Ziel, jene Anmaßungen zum Katalysator echter Belange: eben des Rechts zu machen. Die dogmatische Rechtswissenschaft aber ist das Unternehmen, das den Anspruch erhebt, die Interpretationsergebnisse i n den Rang wissenschaftlicher Theorien zu erheben. H i e r nun liegt das Moment, das, wie w i r sehen werden, grade jener Sicherheitstendenz „des Rechts",
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was „des Gesetzes" heißen soll, zuwiderläuft. Ähnlich steht es m i t dem Verlangen nach „Sicherheit durch das Redit". Auch hier kann Totales, Eingestampftes nicht gemeint sein. Der Mensch w i l l aber i m Gespinste des Rechts seinen Raum haben, sein castle, worin er nach Belieben umräumen darf, den Rock ausziehen, nachdem er zuvor Tür und Fensterläden verschlossen hat. Es geht ihm um ein derartiges Vakuum, um ein „ f ü r sich sein". Für einen solchen rechtsfreien Raum aber bedarf es des nach Regeln des Hochbaus errichteten Gebäudes, einer Hausordnung und dergleichen, Schutzes vor Emissionen. H i e r haben w i r nun den Punkt, wo die schon genannten Menschen- oder Grundrechte katalogartig aufzutreten pflegen. I h r Katalog stellt sozusagen eine oberste Hausordnung da. Denn es ist ja derselbe Architekt oder Hausbesitzer, der den Katalog der Grundrechte entwirft und anschlagen läßt. Wie hier nun Sicherheit? Zunächst haben ja viele in diesen Zeiten erlebt, daß die Häuser i n andere Hände übergehen und die neuen Besitzer pekuniär insolvent oder sich als solches gebend, jedenfalls rechtsinsolvent langfristige Verträge aufkündigen. U m in solcher Lage besser das Renommee zu wahren, sucht man nicht nur die Hausordnung, nach erheblichen Änderungen, neu anzuschlagen, gewöhnlich vermehrt durch neue Pflichten der Mieter, sondern man appelliert an „höhere Dinge", sozusagen an die Idee einer den Hausbesitzer und die Zwangsmieter umfassenden Volksgemeinschaft Dei gratia. Uber diese „höheren Dinge" aber hat man bisher lange Zeit nicht mehr nachgedacht. M a n muß also bei konkreten Fällen ad hoc solche höheren Geister zitieren. M a n hat sich die Mühe gemacht, einmal höchstgerichtliche Entscheidungen dahin zu untersuchen, inwieweit sie überpositive Entscheidungsgründe zur Begründung des Urteils heranziehen. Ergebnis: Die Tendenz dazu ist durchaus da. Aber wo nimmt man schnell jene Gründe her? M a n muß also metajuristisch solche Gründe sozusagen aus der Hosentasche ziehen. Nirgendwo i n Ruhe, m i t Hingabe wirklich Geklärtes taucht daher von Fall zu Fall auf. Heißt es nun: „Naturrecht" — als ob sich das so einfach aus der Fülle des Widerspruchsvollen anböte. Natürlich „Menschenrecht", „rechtsstaatliches Prinzip", „transzendenter Verfassungsgrundsatz", „ N a t u r der Sache" usw. Ein Grauen überfällt denjenigen, der seiner Zeit, i m Positivismus erzogen, sich der Warnungen jener alten Pandektisten vor naturrechtlichen Spekulationen erinnert. Denn i n der T a t : so wie man hier verfährt, geht es natürlich nicht. D a m i t für metajuristische Argumentation Material bereit steht, das sich m i t dem ungeheuren Vorrat an Begründungen positivrechtlicher A r t i n Entschei-
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düngen, Lehrbüchern, Monographien messen ließe, bedürfte es einer organisierten Zusammenarbeit von überpositivistisch eingestellten Vertretern der verschiedensten Tendenzen: von Nationen, Konfessionen, ja sog. Weltanschauungen, die i n "Freier Diskussion wissenschaftlich ohne Mehrheitsbeschluß, aber m i t der Möglichkeit, die Ansichten i n einem besonderen Organ zu publizieren, einmal alles das erforschte, was i m Laufe der Jahrhunderte an Auffassungen über sog. Grund- oder Menschenrechte — natürlich auch menschlicher Verbände (Gierke) — aufgetaucht ist, so etwa nach A r t „platonischer Ideen" aufgefaßt: insofern man dieselben nie ganz erkannt, jeweils nur etwas davon erfaßt, dieses etwas, diese Seite aber dann durchhält, bewahrt als einen Fund. Indem man in der Diskussion den dialektischen Zusammenhang des zunächst nur Beschriebenen, anscheinend Heterogenen erörtert. So aber auch nur so bekäme man ein bedeutsames Anschauungsmaterial zusammen, das sich wie unsere positiv juristische Literatur zitieren ließe und, womit man sich dann frei auseinander setzen könnte. Es würde ja jeder, der solche Grundrechte behauptete, eine Begündung dafür bieten wollen, teils aus der Geschichte, teils aus der Notwendigkeit, i n einer Lüche bisher noch nicht Gesehenes ans Licht zu befördern. N u r so ließe sich i m Bestreben Recht zu sprechen und nicht Gesetz, Material beschaffen, das wissenschaftlich vorhanden, vorweisbar und nicht einfach hervorgezaubert würde. Sicherheit durch das Recht, freilich auf der Basis der Zivilisation als Ergebnis einer sichtbaren Rechtsentwicklung, die nicht wieder zurückfallen dürfte. Es wäre das so etwas wie eine angewandte Rechtsphilosophie, angewandt auf die konkrete historische Situation. I n Wirklichkeit freilich doch ein gemeinsames Plädoyer zivilisierter Völker. Den Plan haben w i r zuerst i m engeren Kreis der deutschen philosophischen Gesellschaft vorgetragen, dann in der Serie: „Das ist der Mensch" unter dem Titel „Menschenbild und Menschenrecht" 2 . Für die nächste Tagung der Internationalen Gesellschaft für Rechts- und Sozialphilosophie ist er bereits durch Beschluß des Präsidiums 3 zum Thema gewählt worden. W o bleibt aber bei diesem ungeheuren Forschungsstoff: der Frage nach dem überpositiven Wesen der Grundrechte und seiner Arten die Sicherheit? W i l l man, wie es doch aussieht, w i r k lich aus dem juristischen Positivismus heraus, der i n Wirklichkeit Recht stets m i t Gesetz identifiziert, aber alle Verfassungen nur immanent 2 8
Kröner 1959. Oktober 1959 auf dem Kongreß in Wien.
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interpretieren möchte, dabei freilich besser als er sich zugesteht, kryptologisch metajuristisches einschleust, so muß man den M u t haben, die konstituierende und regulative Bedeutung der Grundrechte: also ihr Wesen als dem Positiven transzendent und als justus titulus bereits finden Inhalt der Verfassungen anzuerkennen, womit diese zu sekundären Normen werden. Aber dafür ist jetzt vom Rechtlichen her die Kontinuität i m Ablauf gewahrt, kann sich kein Regime mehr, fröhlich die A k t i v a übernehmend von den Passiva befreien und glauben, dabei das Gesicht als Rechtsstaat zu wahren. V o n einer derart wissenschaftlichen d. h. auch notwendig systematisch betriebenen Erforschung der Grund- oder Menschenrechte scheint also in der Tat gerade das abzuhängen, was man unter Sicherheit im Rechtlichen gewahrt sehen möchte. Daß dabei die Gewährleistung des Privateigentums stets i m Zusammenhang auch der sog. erworbenen Rechte gesehen werden müßte, ist offenbar, so peinlich bei Regimewechsel auch dann die gegen den Staat selbst gerichteten Ansprüche empfunden werden möchten. Grade nun aber beim Wissenschaftlichen, worum es hier geht, taucht die Grenze der Sicherheit besonders sichtbar auf. Versuchen w i r uns folgendes einmal klar zu machen: A u f dem Gebiete des Rechts gehörte es zu den Einsichten, die der junge Jurist zuerst gewinnen mußte, daß nur ein Laie sogleich die A n t w o r t auf eine Rechtsfrage zu geben weiß, der dogmatisch geschulte jedoch die Sachlage behutsam erwägt. M i t dem Ergebnis: daß eine Arbeit über einen Streitfall, bestehend aus Tatbestand, V o t u m und U r t e i l dann am meisten den Charakter der Wissenschaftlichkeit und der entsprechenden Ernsthaftigkeit zeigt, wenn sie alle Stellungnahmen in der Literatur, alle Streitfragen so behutsam erwägt, daß sie für den Fall anderer A n sichten in einer solchen Streitfrage Eventualentscheidungen anbietet. Dieser wissens- ja examenssoziologischen Situation entspricht nun in der Tat die Praxis insbesondere die verantwortliche Beratung des Klienten durch seinen Rechtsberater. Anders ausgedrückt: M i t der Wissenschaftlichkeit der Behandlung schreitet die Unsicherheit über die zu erwartende Entscheidung H a n d i n Hand. H i e r w i r d ja eben nicht mehr ein Gesetzesinhalt, so wie er i n die Maschine eingesetzt wurde, ausgestanzt, sondern hier w i r d erwogen, werden die Gründe für und wider, die entsprechenden Ansichten geprüft. K u r z : Die wissenschaftliche Behandlung des Rechts macht wie jede wissenschaftliche H a l t u n g den Gegenstand, um den es sich handelt, zu einem echten Problem, richtet vor jeder Tat, vor jeder Entscheidung die Frage auf. M a n kann
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nun gewiß einen Unterschied der verschiedenartigen Wissenschaften, insbesondere der natur- und geisteswissenschaftlichen darin sehen, daß die Problematik jener sich schließlich i n kategorisch vorgetragenen Formeln auflöst, die uns als Formulierungen von Naturgesetzen, bestimmend für die Technik, für die „Beherrschung der N a t u r " , für die Prognose dessen, was sich ereignen wird, vertraut sind. Wissen ist nur insofern Macht als seine Inhalte einen besseren Calcul des zukünftig Geschehenden ermöglichen. Wie steht es dagegen bei den Geisteswissenschaften? H i e r erleben wir, daß es auch wie bei der theoretischen Fundierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen immer komplizierter ja problematischer wird, daß man sich immer mehr scheut, zu viel zu sagen, immer weniger zu behaupten sucht, den Umfang des zu erfassenden einschränkt, sich des Hypothetischen bewußt bleibt, daß man jedoch nicht wie bei jenen schließlich zu Ergebnissen kommt, die sich nun in klaren Erwartungen und sicheren Experimenten sozusagen an H a n d von Tafeln ausmünzen lassen. Die Geisteswissenschaft, immer komplizierter werdend, w i r d sich in erster Linie der zunehmenden Problematik ihrer Ergebnisse bewußt. Sie w i r d gegenüber der Praxis bescheidener. Grade also aus der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz, der immer subtileren Gestaltung ihrer Theorien erwächst Unsicherheit, schwindet die Sicherheit, worauf es dem Einzelnen ankommt. Die sog. Sicherheit durch das Recht kann es dann um so weniger geben, je mehr dieses Recht Gegenstand wirklicher wissenschaftlicher Forschung wird. Wie es z. Z t . noch das Ideal ist. N u r eine Gleichschaltung, eine Uniformisierung der wissenschaftlichen Bemühungen würde also dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit genügen. Daß es dazu stets Ansätze gibt, ist unbestreitbar: einheitliche Interpretationsregeln, juristischer Common sense, „Geist einer Zeit", Präjudiziensammlungen, gewisse Bindungen an Entscheidungen, deren gedankliche Begründungen damit autoritativ werden, konventionelles System, auch die sog. herrschende Meinung. Alles Analogien zu dem cogens, quod pactis privatorum mutari non potest! Doch das Wesen des Geistes liegt darin, „dispositiv" sein zu wollen. Spiritus ubi vult, spirat. Schließlich gibt es aber so etwas wie das Richtigkeitsproblem für die Rechtswissenschaft als soziologisches Unternehmen ebenso wie es das für die K u l t u r oder Zivilisation einer Zeit gibt, wie w i r seit Burckhardt und Nietzsche wissen. Freilich heute auch, daß niemand sich anmaßen darf, derartiges intentional zu wollen oder gar es anderen aufzuerlegen. M a n müßte denn die indirekten Bemühungen aus der
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perikleisdien Zeit studieren, wie sie Herrn. Bahr i m Dialog vom Marsyas anschaulich gemacht hat. Was bedeutet aber schließlich eine Einheit des Stils, wenn sie nur dazu dienen soll, Voraussagen zu ermöglichen, die dazu nur statistischen Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Alles für Schaffung von „Gehäusen" oder „Futteralen". Aufprägung von Einheitsmomenten durch gewaltsame Simplifikationen auf Kosten der Mannigfaltigkeiten! W i r haben anderswo ausführlich zu zeigen versucht, daß das Verlangen nach Rechtssicherheit, psychologisch zwar sehr verständlich, sich jedoch i m Hegeischen Sinne widerspricht, also konsequent über sich hinaustreibt. Wissenschaftssoziologisch gesehen, entspricht die Lehre von der Rechtssicherheit der Makrophysik des 17. und 18. Jahrhunderts. Was bleibt, ist die Einsicht i n die umfassende Richtigkeitsfrage, für die es keine res extra commercium geben kann, aber auch keine res überhaupt, dafür überall Zusammenhänge. Nicht das Sicherheitsbedürfnis des Spießbürgers, sondern das Streben des Logos nach Gesetzmäßigem, Systematischem, Einheitlichem, Sachlichem, Objektivem i m Gegensatz zum Rhapsodischen, Zufälligen, W i l l k ü r lichen. — Die jeweiligen „Machthaber" haben stets Interesse daran, daß der Stuhl, worauf sie sitzen, nicht verrückt werde. Eine Richtschnur ist immer „selbstherrlich". So wünscht sich jeder Gesetzgeber einen Exekutor, wobei man freilich wie beim Verkaufsautomaten gern Wahlmöglichkeiten zuläßt, etwa Schokolade oder Zigaretten zu ziehen. Wenn w i r auch wissen, daß sich die Machthaber juristisch als Resultante untertänlicher Verhaltensweisen ergeben, daß man das juristisch systematisieren und praktizieren kann, so bleiben doch „Machthaber" und „Untertan" als wichtige soziologische Perspektiven bestehen. Der Untertan hat so seinen eigenen Aspekt: es kommt ihm nicht auf die Sicherheit dessen an, was der Machthaber w i l l , sondern auf die sichere Chance seiner persönlichen Ziele, die klare Abgrenzung seines „Spielraums". — So gesehen, haben nun auch diejenigen, welche die Jurisprudenz als lebendes K l e i d weben und von ihr leben, als „Gruppe" — Klasse — spezifische Interessen. Zunächst w o h l an der Erhaltung der jeweiligen Konstellation, der sie sowohl ihre Existenz wie den Sinn verdanken, dem sie ein Erledigungszeichen gegeben haben. Dazu mehr und mehr ein Anwachsen ihrer Bedeutung 4 . Grade durch die Betonung 4
Zum allgemeinen Problem: Peter Hofstätter 1957, Bales Interaction process, Analysis 1951, Group dynamic, herausgegeben von D. Cartwright und A. Zander 1953.
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der Wissenschaftlichkeit ist ein Zweckwandel eingetreten, ein schöner Beitrag zur „Gruppendynamik". Der Grad des „ K o n t a k t s " , die „Kontaktdichte" zwischen den Angehörigen der verschiedenartigen Gruppen, die i m modernen Staat dann die alle umfassende Obergruppe der dogmatischen Juristen ausmacht, die Distanz, das „Routineverhalten" gegenüber den Outsidern, den Nichtjuristen, den Soziologen oder gar Rechtsphilosophen ist ein besonderes Studium wert. Es gibt da so etwas wie ein Klassenbewußtsein, eine Unberührbarkeit. Autonomieparolen werden gern akzeptiert. Welche Rolle spielt allein die charakteristische juristische Terminologie sowohl als Zeichen und Auszeichnung, wie als M i t t e l zur Uniformität! Die wissenschaftliche Lehre dient so als Stütze für einen realen status quo. Manchmal wirken sich freilich Absichten als éffort converti aus. U m gegenüber den religiösen Spaltungen die rechtliche Einheit wieder herzustellen, mußte H u g o Grotius „tiefer" greifen. Sein Versuch, das Naturrecht unabhängig von dem bis dahin monotheistisch als höchstes logonomes Prinzip: „ G o t t " geltenden Begriff zu begründen, den Begriff, der ja doch sofort wieder i n die religiösen Streitigkeiten hineinführen mußte, erschien situationsgemäß geboten. Er löste aber dann die Versuche zur Verselbständigung aller möglichen normativen Bereiche aus, denen w i r eine entsprechende, säkularisierte, autonome A u f fassung der platonischen Ideen und die Irrlichter der sog. Werte verdanken. Das durch die Scholastik errungene einheitliche „ F e l d " der Richtigkeit wurde nun abgebaut. Es sprossen jetzt die heterogenen Richtigkeitsbehauptungen i m Politischen, Moralischen, Rechtlichen, Nützlichen, Gesellschaftlichen, Theoretischen, Empirischen, Ästhetischen usw. auf. So ergab der W i l l e zur Einheit eine chaotische Mannigfaltigkeit i m Normativen, freilich auch eine fruchtbare Gegensätzlichkeit allein schon der naturrechtlichen, unter einander wieder uneinigen Richtungen zur positiven Jurisprudenz, der schließlich die Frontstellung ihrer Gruppenangehörigen gegenüber den isolierten naturrechtlichen „Sekten" eine neue Herrschaftsstellung verschaffte. Läßt sich das Ideal der Rechtssicherheit von der normalen menschlichen Situation i m Menschlichen-Allzumenschlichen aus verstehen, so daß es sich auch auf die theoretischen Momente erstreckt, die i n wissenschaftsgläubigen Zeiten so wirksam sind, so kann man dagegen das Verlangen nach Gerechtigkeit bei der Rechtswissenschaft nur als monstrum i n loco alieno verstehen. Auch hier dürfen w i r nicht wiederholen, was anderswo ausführlich dargestellt worden ist. W i r wissen, daß es
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sich bei der Gerechtigkeit um etwas aus einer ganz bedingten soziologischen Situation handelt: einer Gruppe von mindestens drei Gliedern, wo eines davon Seins- oder Verhaltensweisen zur Bedingung von Zuteilungen macht, die positiv oder negativ gedacht, sich gradweise nach jenen richten sollen. Wobei der Ausgangspunkt entscheidend und das Richtigkeitsproblem überhaupt nicht gestreift wird. Es soll nur nach Verheißung echt gemessen und dem Ergebnis der Messung bei der Erteilung entsprochen werden. H a t man diesen doch sehr speziellen Sachverhalt vor Augen, so w i r d man verstehen, wie eine allzu gläubige Hinnahme der aristotelischen Lehre falsche Fragen perpetuierte. Eine Problematik, die dogmatisch die aus der Polis stammenden Tugendauffassungen voraussetzte, so daß die Frage nach dem richtigen Maß gar nicht ins Bewußtsein kam, noch weniger aber die für die Rechtswissenschaft entscheidende Frage: weshalb Maß überhaupt? Der Laie aber meint heute noch, alle mit dem Recht beschäftigten: Gesetzgeber, Richter, Verwaltungsbeamte und natürlich auch die Rechtswissenschafter hätten als Recht nur „Gerechtes" zu bieten. Doch Goethes W o r t aus seinen Sprüchen i n Prosa: „Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurichten", paßt auf wenige Werte so gut wie auf die von der Gerechtigkeit. N u r großer Dünkel kann sich anmaßen, den Sinn des allgemeinen Begriffs „Gerechtigkeit" so zu erfassen, daß er anwendungsfähig würde. M a n kann von unserem soziologischen Schema nur sagen, daß Gerechtigkeit ohne Maß keine sei und Gerechtigkeit m i t unrichtigem Maß für das zu Messende jedenfalls eine schlechte. Der Mensch m i t seinen „Füllen" als verantwortliches Wesen, i n die Wirklichkeit als wirklich eingewoben aber fordert kein Maß, höchstens i m Sinne des Wortes, daß er vor Gott „nicht zu leicht befunden" werden w i l l . Selbst das altjüdische Gesetzesdenken maß nicht. Die Qualitas, ohne die es keine Quantitas, also auch kein Maß gibt, aber läßt sich nur so v o m Wirklichen lösen, indem man dieses umbringt. Wer Gerechtigkeit verlangt, fordert i n Wirklichkeit etwas, was Rechtens ist. Dieses kann zweifaches bedeuten. Denken w i r uns die Fülle des Lebendigen als Ziel, als terminus ad quem, letztes Prinzipiat (was es aus begrifflichen Gründen nicht geben kann) wohin der Begriff der Richtschnur zielt, damit sie real erfüllbar würde und das Objekt als richtig oder unrichtig bestimmbar, so bedürfen w i r als Ursprung am Anfang, als terminus a quo des Prinzips: religiös ausgedrückt Gottes. Es ist die Inkarnationsreihe, die Mittleridee, die wohl zuerst wieder
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Novalis in ihrer allgemeinen philosophischen Bedeutung, nach der theologischen in der Scholastik, erkannte. Die Aufgabe, von einem einheitlichen, religiös: monotheistischen Prinzip aus die Welt der Geschöpfe normativ zu ordnen, i m Ordo amoris! D a ist die Einheit des Prinzips, so wie es maßüberlegen kontinuierlich nach seiner Entfaltung zum Prinzipiat hin, die Fülle der Gestalten aufzunehmen trachtet. „Suchst du fürs Dasein die Form such sie nicht draußen noch drunten, wär das Lebendge in Form wärst du des Suchens entbunden." Denkt man an das Bildungsideal Wilhelm v. Humboldts m i t seiner Vorstellung der vielen Möglichkeiten, die der Mensch gleich verschiedenen H ü l l e n an sich trägt, ihre eigentümliche Entwicklung, Richtigkeit fordernd, bei jeder Persönlichkeit verschieden, so ahnt man auch von hier aus die Aufgabe. — A u f der Gegenseite w i r d nun pragmatisch dieses letzte, begrifflich nie gehabte als Ausgang gesetzt und von ihm aus die Forderung ans Prinzip gestellt! Das, was der Einzelne zu sein glaubt, was er als Persona sich angeeignet hat, dieses vielerlei an „als": als Mensch, Halbstarker, Schüler, Fußballspieler usw. fordert Berücksichtigung durch Gewährung von irgend etwas, sei es auch nur Belassung, Freistellung durch ein ihm fremdes. Neben- und Untergeordnete fordern so jeweils ihre Belange nach demselben Prinzip. So pragmatisch läßt sich aber dieses nicht finden. So kann, wer sucht was rechtens ist, nicht anders verfahren, als daß er vor dem Gesetzesakt die Realitäten, um die es sich vordringlich handelt, ins Auge zu fassen sucht, mit der Absicht, wirklich Verbindliches zu erzielen. Wozu die bloße Absicht als Faktum freilich nicht genügt. Oder, nach Vorliegen der Gesetze nach dem Heterologen forschen, was sich nun einmal auf Grund dieser Situation ergibt, nur dann freilich als rechtlich, wenn dabei das Gesetz als positiver Erkenntnisgrund i n der Folgerung bestimmend m i t w i r k t . Weder für Gesetze noch für die, das Heterologe „Recht" aus ihnen erschließende, Jurisprudenz kommt also das Gerechtigkeitsschema in Betracht. Zwar teilen die Gesetze aus: den Untertanen Erfreuliches oder Lästiges; aber man verkündet keine Maße und mißt nicht daran. M i t der primären Commutativa ist nichts anzufangen, es sei denn für eine Lotte Buff, die den Kindern nach ihrem Benehmen die Brote zuteilt. Für die Rechtswissenschaft kommt erst recht nur die alte Bedeutung in Frage, die heute bei dem Gebrauch des Wortes noch mitschwimmt: objektiv. So, wenn man sagt: „Sei nur gerecht, D u mußt doch zu-
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geben." Die Rechtswissenschaft teilt nicht zu, sondern mit, was sie bei der gegebenen Sachlage, den vorhandenen Gesetzen, der ganzen Machtkonstellation an Belangvollem ermittelt hat. Insofern, was rechtens ist. Bliebe als wichtiges wissenssoziologisches Problem, wie es möglich ist, m i t vagen Vorstellungen, wie denen von der Sicherheit und Gerechtigkeit i n Zeiten zu operieren, die sich sonst so ängstlich um das Exakte, Positive bemühen. Analog dem Problem wie es kommt, daß grade diejenigen, die, als wissenschaftlich i m Rechtlichen die systematische Entwicklung der Streitlage verlangen, sobald es auf transzendentales Zurückgehen auf tiefere, vorausgesetzte Grundlagen ankommt, das Bedürfnis nach Argumentation verläßt. M a n verlangt genaue Bestimmungen des Begriffs der Ausschlußfrist, begnügt sich aber damit, das „Lebensverhältnis" als ungeklärten Begriff zur Basis des ganzen Gebiets der Rechtsverhältnisse zu nehmen. So ging es nun auch m i t den angeblichen „Werten" Sicherheit und Gerechtigkeit. Nachdem die Hauptvorurteile erledigt sind, die einer philosophischen Betrachtung der Rechtswissenschaft i m Wege stehen, ist ihr Unternehmen als Ganzes ins Auge zu fassen. Zunächst so wie die Rechtswissenschaft einmal ist, bemüht ihre Funktion zu erfüllen, inmitten von Gebietenden, Gehorchenden, gut- oder böswillig kritisierenden. Ein Unternehmen solcher, die erst als Lernende, später als Lehrende und Wirkende immer von den Machtverhältnissen abhängig sind, und zwar i n ganz anderer A r t als der Naturforscher an diese Verhältnisse und ihr Produkt: die Gesetze gebunden. Bemüht um einen Gegenstand, dessen Bewältigung die gleiche begriffliche Schärfe, geistige Hingabe verlangt wie bei anderen Wissenschaften und dessen Wesen doch in ganz anderer Weise von w i l l kürlichen Eingriffen abhängt, glücklicherweise ohne die zusätzliche Aufgabe, noch für Sicherheit und Gerechtigkeit sorgen zu müssen.
§ 11 Aspekte, die besonders bedeutsam wurden Philosophische Parteienlehre. Begriff des Politischen W i r wollen zunächst einen Uberblick über die faktischen Bestrebungen geben, die verschiedenen Weisen, w o m i t man glaubte, dem Gegenstand Genüge zu tun. Die wirkliche Beschaffenheit der Rechtswissenschaft zeigt sich i m wesentlichen bedingt durch zwei Momente: Das eine mag man den „Geist der Z e i t " nennen. Kollektivgeist! wie etwa heute noch Positivismus, doch infolge des Erlebnisses der Regimewechsel — adora quod incendisti, incendi quod adorasti — m i t schlechtem Gewissen. Aber ein Wunsch nach anderem ist noch nicht ein anderer Wunsch; so entsteht nur ein Positivismus m i t verkehrter Intentio, sozusagen ein unglücklicher Positivismus. Das andere Moment dürfte man w o h l als „gesunkenes K u l t u r g u t " bezeichnen, soweit es aus Gedanken der Rechtsphilosophie besteht, die in den Positivismus geraten, jedenfalls von ihm in positivistischem Geist rezipiert worden sind. Dies aus verschiedenen Gründen, etwa weil man sich unter einem universalen Ideal von Vollbildung (studium generale!) auch als Philosoph fühlen möchte, oder weil philosophische Gedanken als Schnörkel, Arabesken nun mal schmücken. Es nimmt sich gut aus, etwas aus Heidegger neben einem Satz einer Beethovenschen Symphonie zu zitieren. Die Rechtsphilosophie aber beschränkte sich schon seit vielen Jahren i m wesentlichen darauf, grade herrschende oder nicht mehr herrschende philosophische Richtungen auszudenken. Insofern erhalten w i r echte Bindestrichphilosophie. Die Zeit w o der Rechtsphilosoph beanspruchte, eigenständiger Philosoph zu sein, endete in dem Augenblick, w o man die naturrechtlichen Lehrstühle zu solchen für positive Rechtsdisziplinen machte. Jener „Eigenständige" starrte jedenfalls nicht ausschließlich auf das Recht als terminus ad quem, sondern fühlte die geistige Verantwortung für das Ganze, in welchen Abbrevituren man dieses Ganze auch zu haben glaubte. So trägt Kants Metaphysik der Sitten deutlich, nicht nur i n der Rechtslehre die Ergebnisse der früheren rechtsphilosophischen Denker, Naturrechtler an sich. Es war die Zeit, wo die Rechtsphilosophie die ganze praktische Philosophie befruchtete. Aber diese Zeit scheint vorüber zu sein trotz der Dringlichkeit, in entspre-
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chenden Ideen so etwas wie konstitutive und regulative Prinzipien für eine einheitliche rechtsstaatliche Auffassung zu erarbeiten. Als beachtliche Ausnahmen hätte man gewisse selbständige Schüler von Carl Marx, Lask, M a x und A l f r e d Weber, Troelsch, Nelson zu nennen, während bereits Stammler, Radbruch, H . U . Kantorowicz nur Rechtsphilosophen sui generis sein wollten. Das traditionelle katholische Naturrecht ausgenommen. Zunächst wollte die Rechtswissenschaft i m 19. Jahrhundert ihre eigenen Wege gehen. Die verschiedenen großen philosophischen Systeme hatten eine so große Fülle heterogener Anschauungen geboten, daß man sich von diesem Stoff unabhängig zu halten suchte. Wenn man w i l l , aus Streben nach Rechtssicherheit, auch sonst m i t den bürgerlichen Idealen konform. So seltsam es klingen mag: Eine Analogie zu der Lage worin sich, allerdings den konfessionellen Heterogenitäten gegenüber zwei Jahrhunderte vorher Hugo Grotius befand, als er sein positiv gemeintes und auch als solches wirkendes s e l b s t ä n d i g e s N a t u r recht schuf. Eben um gewisse Grundsätze dem Streit der Konfessionen entzogen zu sehen. Dahin weist ja deutlich der berühmte Ausspruch, daß diese Grundsätze auch gelten müßten, wenn es — was ein Frevel wäre, zu behaupten — keinen Gott gäbe. D a m i t war die Emanzipation von der Theologie für dieses Gebiet in derselben Weise gefordert, wie nun i m 19. Jahrhundert die Emanzipation von der Philosophie, deren widersprechendes Aussehen dem der damaligen Konfessionen entsprach. Freilich geriet man doch bald als sog. Kulturwissenschaft in die damals herrschende Tendenz hinein. Wobei man fühlen kann, wie sich bereits die spätere „Kulturphilosophie" anbahnt, das Bedürfnis nach Geborgenheit in den „Errungenschaften der Menschheit", i m sicher scheinenden inneren Reich vermeintlicher Werte, die man gern, dem Titel einer Zeitschrift entsprechend als Ausgliederung des „Logos" empfand. Es war nun jener Zeit entsprechend das Historische, das anzog und bestimmte. M i t geschichtlichen Methoden war der Lorbeer am leichtesten zu erlangen. Die Gesetze, Gewohnheiten, welche die relevante Machtsituation ausdrücken und ihr ihre Existenz verdanken, sind als Tatsachen, Realitäten, i n ihrer Genesis historisch bedingt. V o n dieser Einstellung aus ist es eigentlich nur noch so etwas wie ein konventionelles philosophisches Bedürfnis, doch m i t einer Rechtsphilosophie aufwarten zu können, die jenem Zustand entsprach. Das konnte nur eine Rechtsphilosophie von unten sein, insofern man eine Philosophie des positiven Rechts, als Uberbau „ein höchstes Stockwerk" (Radbruch)
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zu errichten versuchte: Durch Induktion aus dem freilich schon dogmatisch geformten Inhalt der Gesetze, oder den von Institutionen, Gruppen aller denkbaren soziologischen Rangordnung ausgehenden Richtschnuren abstrahiert. Ihre Schöpfer waren hervorragende Juristen wie C. Bergbohm 1 , Ad. Merkel 2 , E. R. Bierling 3 , E. I . Bekker 4 . Ehrlicher als Rechtsphilosophie klingt für das, was hier erstrebt w i r d , der Name „Allgemeine Rechtslehre". Allgemein insofern als, wie in der Klassenlogik, der Weg vom angeblich „Gegebenem", d. h. logisch sicheren Konkretheiten aus, gemut ins Allgemeine genommen wurde. Wobei also als Daten des Ausgangs, als begriffliche Basis die Inhalte aller bekannten positiven Rechte, aus allen Zeiten bildeten. Den Zirkel, der darin lag, etwas als Menge mit ihren Elementen zu Grunde zu legen, die zu bilden es begrifflich zuvor eines anderen Prinzips bedurft hätte — eben des philosophischen —, haben die Vertreter der allgemeinen Rechtslehre nicht erkannt. Das Problem der Einklammerung, zur Präzisierung und sinnvollen Beschränkung einer geistigen H a l t u n g kannte man ja vor Husserl noch nicht. M a n hat aber schon bald das W o r t von der „Sammelstelle für die umherirrenden allgemeinen Rechtsbegriffe und Rechtslehren" geprägt. Die Abkehr von den, unübersehbar gewordenen Tendenzen und entsprechenden Thesen des Naturrechts, der philosophischen Rechtslehre oder des Vernunftrechts 5 war so gründlich, die Angst vor so mannigfachem „Geist", das Bedürfnis nach einheitlicher Struktur und die Ermüdung nach den großen systematischen Ausschweifungen so groß, daß sich die Rechtswissenschaft gleichsam beschmutzt fühlte, wenn man irgendwo implizite naturrechtliche Ideen feststellte. M a n sah nicht, daß die Feststellung positiver Rechtsgebilde, ihrem Sinn und auch ihrer historischen Genesis nach, überpositiver Kategorien, Aprioritäten man1
Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892.
2
Hinterlassene Fragmente und gesammelte Abhandlungen, 3. Bd., 1898 bis 1899, Juristische Enzyklopädie, 5. Aufl. 1913. 3
Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 1877, 1883, Juristische Prinzipienlehre, 4. Bd., 1894—1911. 4
Grundbegriffe des Rechts und Mißgriffe der Gesetzgebung, 1910, Das Recht als Menschenwerk, Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie 1912 (hier aber schon voluntaristische Tendenzen!). 5
Man denke an Kants Begriffe der Prädikabilien und Prädikamente, Kritik der reinen Vernunft, § 15 Ν 8 und Anmerk. zu § 39 der Prolegomena. 9
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nigfacher A r t bedarf 6 . Diese Abhängigkeit der Sätze und Begriffe des positiven Rechts und der sich nach der Klassenlogik vollziehenden Abstrahierung zur Gewinnung von begrifflichen Formen verschiedener Generalisierungsstufe ist ja eine rein logische. N u r vom logischen Richtigkeitskriterium und seiner Basis aus versteht man überhaupt die Frage, welche Urteilssätze richtig sein müssen, damit davon abhängige es sein können, und ihr entsprechend die „Möglichkeit" der Begriffe und ihrer Rechtfertigung. Diese philosophischen Aprioritäten i n ihrer Bedeutung, konstitutiv und regulativ erkennen, bedeutet durchaus nicht zwei Arten von Recht annehmen. Es war in der Tat der Fehler des Naturrechts gewisser Konstruktion gewesen, auf Grund angeblich logisch sicherer Schlüsse aus einer irgendwie eben so selbstverständlich gesetzten Natura hominis oder societatis 7 Logonomes situationsenthoben zu behaupten 8 . W i r glauben diesen Fehler auch noch in Kants Rechtslehre nachgewiesen zu haben, die doch seiner kritischen Zeit angehört. M a n war damals auch noch nicht in exakten Wissenschaften auf die sog. Entscheidbarkeitsfragen gestoßen, so daß man sich bei den so verschiedenartigen naturrechtlichen Behauptungen auch bei K a n t immer fragt, wofür diese eigentlich die A n t w o r t sein sollten. Der juristische Positivismus hat also insofern m i t Recht das Naturrecht abgelehnt als es die hic et nunc erfahrbaren Rechtswirklichkeiten verkannte, so wie sie sich nun mal als Zusammenhang soziologischer Tatsachen i n Gesetzen, Gewohnheiten, geübter Interpretationsweise, charakteristischen Lehrsystemen, rechtswissenschaftlichen Methoden, A n schauungen, als historische Erscheinungen nachweisen lassen. Alles das ist gewiß nie durch apriorische Spekulation zu konstruieren! Also mit Recht wurde ein überempirisches Recht dieser A r t abgelehnt. N u n wurde aber aus Scheu vor philosophischen Ideen oder auch aus zeitbedingter Unfähigkeit — die Interessen strömten anderen Gebieten zu — das K i n d mit dem Bade ausgeschüttet und die „nackte Tatsache" naiv-realistisch als selbstverständlich „gegeben", angesehen, wohlgemerkt dazu als heterolog: belangvoll angehend! Als ob es überhaupt begrifflich „Stoff" ohne kategoriale „Formen" geben könne! 6 Man kann heute manche Erörterung über die „Natur der Sache" als Wiederkehr des Gleichen ansehen. 7 Über das Verhältnis von Wort zu Wort vgl. unsere Rechtsphilosophie, S. 352 f. 8 Unsere Studie über Kants Eherecht in dem Kant-Festhefl: der KantStudien, 1924.
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Dasselbe Faktische am Recht w i r d bei der einzelwissenschaftlichen empirischen Forschung innerhalb der funktionellen Zusammenhänge betrachtet, die es realiter aufweist, als intendiertes von Begriffen jedoch innerhalb der logischen Bedingungszusammenhänge, welche die Möglichkeit jener Begriffe garantieren! Die empirische Forschung untersucht im Recht die reale Beschaffenheit, Existenzart, Realgründe alias U r sachen, sieht sich jedoch auch hierbei stets genötigt, auf die den Sinn und die Richtigkeit der Begriffe bedingenden Kategorien Rücksicht zu nehmen, so daß das Denken die Realität als beschreibbar oder erklärbar (descriptiv oder deklaratorisch) so erfaßt wie es eben in Urteilen geschehen kann. A u f die sog. erkenntnistheoretischen Probleme des Verhältnisses der „Sache" (des Dings an sich) zu seinem Erfassen in den verschiedenen Schichten: der rein logischen der Urteilssätze, der psychischen der faktischen Urteilsvorgänge, der Schicht der Symbole, des deiktischen Ausdrucks, schließlich trotz jener begrifflichen Unterscheidungen doch in einem wirklichen Erleben eines Menschen „gehabt", kann hier nicht eingegangen werden. Sie bestehen überall, wo erkannt werden soll. Teilprobleme daraus aber werden anscheinend auch in der Rechtswissenschaft aktuell, wenn der Jurist bei einem Spezialproblem etwa dem „ v o m Wesen der juristischen Person" aus der Bahn des eigentlich Juristischen geworfen wird. Ein Modewort für die realen Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie den Historiker aller rechtlichen Tatsachen i m weitesten Sinne (auch das Psychische einbeziehend), beschäftigen, lautet heute „Interdependenz". Es soll den Zusammenhang verschiedener Ursachenketten ausdrücken, das nie ganz erfaßbare Geflecht von nach allen Richtungen weisenden unendlichen Maschen. Früher pflegte man von Wechselwirkung zu sprechen. Der Ausdruck Interdependenz ist nur dann gefährlich, wenn man die funktionellen Zusammenhänge nicht bedenkt, die die Gebilde, welche die Interdependenz (wie die jeweilige Ursache und Wirkung) faßbar machen sollen, gleichfalls nur i m Zusammenhang des Ganzen „definieren". So wie ja auch in der soziologischen „Beziehungslehre" nicht Beziehungen an sich stehen und jenseits ihrer erst Einzubeziehendes, sondern alles sich untereinander i n Form von Gleichungen bestimmen läßt. Es erscheint heute freilich wieder als Hemmung der Entwicklung, daß man m i t der begrüßenswerten Ablehnung von zwei Arten des Rechts doch sogleich wieder gegenüber dem einen positiven Recht zwei Arten der Betrachtungsweise zuließ: eine empirische und eine bewertende. W o doch die letztere genau wie die empirische stets nur von Faktizitäten, d. h. letzt-
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lieh bloß beschreibbaren sog. Werthaltungen genauer Richtschnuranmaßungen realer Wesen ausgehen muß. Eine Tendenz, die nun in der Entwicklung aller möglichen „Weltanschauungen" einen letzten Ausdruck fand. Vortrefflich wenn es sich dabei nur um das Psychologische gehandelt hätte, so wie es seinerzeit Jaspers i n seiner „Psychologie der Weltanschauungen" dargestellt hat. M i t diesem W o r t sollte nun aber alles Mögliche bezeichnet werden, was das Wirklichwerden faktischer Richtschnuren aus gewissen Perspektiven heraus: neben der Psychologischen, der des „ganzen Menschen", seiner Nationalität, Rasse, Konfession, Berufsart, Klasse, zeitlichen Bedingtheit usw. begreiflich machte. Jene sog. bewertende Betrachtungsweise neben der empirischen sollte also Stellungnahmen in toto zur Geltung bringen. Nicht unter historischen Aspekt, wo solche ja nie genug zur Geltung kommen könnten, sondern einfach zur vollkommenen Ermittlung des positiven Rechts. Schon die Wortverbindung „Weltanschauung" hätte hier zur Vorsicht raten müssen. Geht es doch bei nichts anderem um „Weltanschauung" als nur bei der Welt als solcher, sonst je nach dem Gegenstand um „Lebens"-, „Gesellschafts"- „ N a t u r " - , „Geschichts"- und eben Rechtsanschauung. Bei „Anschauung" dachte man wieder nicht an den verschiedenartigen Sinn von „Schau"; reichend vom Eidetischen über die sog. intellektuelle Anschauung zur Wesensschau, sondern um gewisse überlieferte oder erworbene, spontane oder aufgenötigte „Syntagmen". Der Mißbrauch, den man politisch m i t dem W o r t getrieben hat, beweist ja post rem wie gefährlich es war, durch Zulassung solcher Betrachtungsweise i m positiven Recht der rein empirischen Rechtswissenschaft eine demimondäne Schwester zuzuordnen. Freilich lag bereits damals, als das W o r t Weltanschauung anfing, politische Karriere zu machen, sein Charakter als „gesunkenes K u l t u r g u t " offen 9 . Die damalige Meinung, daß die empirische Rechtswissenschaft Rechtswirklichkeitsbetrachtung sei, die philosophische Rechtswertbetrachtung (Lask) führte nur insofern weiter als man auf das spezifisch „Wirkliche" am Recht aufmerksam wurde: das, was die e i n e Seite am Gegenstand 9
Als der Verfasser von Ende 1930 bis zum Tode der Schwester Nietzsches und der damit bedingten Änderung der Lage wissenschaftlicher Leiter des Nietzschearchivs in Weimar war, pflegte man den Unterschied der beiden Städte Weimar und Jena (Städte von denen Goethe dichtete „Weimar-Jena, die große Stadt, an beiden Enden viel Gutes hat") so zu persiflieren: „ I n Weimar müsse man haben einen Frack und eine Gesinnung, in Jena dagegen ein Lodencape und eine Weltanschauung." Vielleicht stammt der Ausspruch von Scheler?
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der dogmatischen Rechtswissenschaft ausmachen muß, die faktische Unterlage, ohne die es kein positives Recht geben kann 1 0 . Wobei man jedoch nie hätte vergessen dürfen, daß die hier faßbaren Richtschnuren so lange heteronom und nicht heterolog: „Recht" sind, als nicht der Rechtsgrund für das Maßgebliche, vom Logonomen her, in mannigfachen „Inkarnationsstufen" eingeführt w i r d 1 1 . Rechtswirklichkeit ist freilich als solche und nicht nur als M i t t e l für das Rechtsdogmatische ganz Gegenstand der historischen Rechtsbetrachtung, auch der „wertenden", die ja nur die von positiven Richtschnuren abhängige Richtigkeit (qua Anmaßung also) „richtbarer" Fakten wie Gesetzen und dergleichen betreffen kann. Rechtswirklichkeit ist immer nur das FaktischSoziologische, niemals das belangvoll Angehende, so wie es die dogmatische Rechtswissenschaft auf Grund jenes Faktischen als ihren sinnvollen Gegenstand hat, um damit den „Organen": den Juristen und Laien, allen „die m i t dem Recht zu tun haben", ein geistiges Hilfsmittel zu bieten. — Eine Hypostasierung darf dabei weder bei der Beschränkung auf die Tatsache noch bei der Erhellung der Voraussetzungen ihrer Erfassung, und normativen Bedeutsamkeit, für Heterologes also, als Ziel vorschweben. M a n darf nicht ins Reale, ins Empirische Gebilde verpflanzen, die nur in ihrer rationalen Begriffsschicht ihren Sinn als Aprioritäten oder Wesenheiten haben. Dabei besteht hier, wie w i r wissen, die Abhängigkeit des Empirischen vom derartig Apriorischen i n zweifacher Weise. Zunächst gibt es die schlechthinige Unterstellung so jedes Naturdings von den m i t dem Naturbegriff gesetzten Kategorien: Raum, Zeit, Quantität, Qualität usw. Sodann aber die Abhängigkeit durch sog. „Anwendung", ζ. B. wenn w i r Dinge real zählen und so zwei Äpfel hic et nunc feststellen. Ein Vorgang, der gegenüber dem ersteren besondere pragmatische Voraussetzungen besitzt. Hypostasen sind willkürliche Verpflanzungen von Gebilden in ontische Bereiche, wohin sie nicht gehören. So ergeben sich willkürliche Bildungen angeblich tragfähiger Substanzen als letzte Gegebenheiten hier oder dort, auch i m Logischen etwa als „Bewußtsein überhaupt" (Marburger Schule), als „Logos" denkbar. Insbesondere darf Belangvolles, wie es ja gerade den Gegenstand der dogmatischen Rechtswissenschaft ausmacht, als etwas, was wirklich zu geschehen hat, geschehen 10 Unsere Einführung in die Rechtsphilosophie, „Die soziologische Unterlage", S. 224 ff. 11
a.a.O., S. 93 ff., insbesondere S. 148 f.
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soll, nie m i t einer Tatsache unterstellt werden, die schon ist oder wirklich geschieht. So spricht K a n t bei dem Gegenstand der Moral von dem, was geschehen sollte, „auch wenn es niemals geschähe" 12 . M a n hat bei der „Rechtswirklichkeit" „formelle" und „materielle" Positivität unterschieden 13 . Die formelle Rechtspositivität sei nichts anderes als eine A r t des Geltens. Der Rechtspositivismus unterscheidet nun nicht die verschiedenen Arten der Geltung 1 4 . Er sieht ausschließlich die soziologische oder besser „tatsächlich" zu nennende A r t , die es ja auch außerhalb des Rechts, bei jeder Richtschnur geben kann. Also die Erscheinungsformen der vom Recht vorausgesetzten Realitäten 1 5 , insbesondere das den Gesetzen, Gewohnheiten Gemäße im Bewußtsein, in Handlungen, Institutionen der der höchsten Gewaltkonstellation unterworfenen (sie freilich auch immer m i t bildenden) Menschen. Z u derartigen Realitäten gehört natürlich auch das Rechtswidrige, das Faktische, das solche Geltungsgrade verhindert. „ A u t o r i t ä t " , welche solche Geltung b e w i r k t 1 6 , ist freilich auch nur ein Ausdruck für einen komplizierten gesetzmäßigen Zusammenhang von Tatsachen. Der vergleichsweise Grad der „Macht", Grad der „ A u t o r i t ä t " , der „Geltung" dieser Sphäre müssen begriffsnotwendig einander entsprechen. N u n setzt gewiß die „Auflage", die v o m Adressaten aus gesehene, auf ihn zielende „konverse" Seite der Richtschnur, auch jeder bloß gegebenen autonomen beim Vorsatz oder heteronomen (beim Befehl) ein „Sollen", aber damit noch lange kein maßgebliches, beim Recht hetero loges, so sehr es als solches auch empfunden werden mag. Daß solche Evidenzgefühle gerade bei Richtschnuren oft automatisch folgen, diese psychologische Tatsache hat in der Rechtsphilosophie zu vielen Kurzschlüssen geführt. So wenig derart Angemaßtes und als Realität m i t hohem Modalitätsgehalt W i r 12
Freilich orientiert sich Kant dabei, wie wir wissen (leider mehr als nötig, einen nicht nur soziologischen Rechtsgrund darin offenbar vermutend) am Faktum der Moralauffassungen seiner Zeit und des Kreises, worin er lebte. Was man schon längst bemerkt hat. 13
Nach den Vorgängen von Hegel, Stahl, Bruns, Bergbohm, Lask in der Festschrift für Kuno Fischer, 1907. 14
Wir haben in unserer Einführung in die Philosophie vier bedeutsame Arten von Geltung unterschieden (Kap. V I I , S. 315f.). 15 16
Nur Realitäten können ja Realitäten bewirken!
Auctoritas non Veritas facit legem (Hobbes), s. audi „neminem oportet esse sapientiorem legibus" (Lord Coke), zuletzt bei Radbruch mehrfach zitiert.
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kendes ein Nichts ist, so wenig ist es doch als nur tatsächlich genommen, belangvoll. Das französische „Je mépris un fait" hat hier seinen Rechtsgrund. Es gilt audi für den Religiösen, dem man Einzelnes aus der Welt der Kontingenz schmackhaft machen möchte. Seine Phantasie kann sich ausmalen, daß es vielerlei derart gibt, daß das alles aber nur in einer konkreten Situation als Frage, was daraus belangvoll für seine Haltung sei, aktuell wird. Diese Uberschätzung der Wirkung, beim Recht: des soziologischen Effekts, ist gewiß psychologisch gesehen, begreiflich, gehört es doch in die Schicht, wo w i r das Streben nach Sicherheit, nach Rechtssicherheit finden, führt aber i m Begründungsverfahren der Rechtsgeltung, so wie sie das Recht und die Dogmatik voraussetzen muß, zu Kurzschlüssen. Solche leuchten freilich schnell ein, aber „error simplicior veritate". Der Satz „simplex sigillum veri" gilt nur für die Evidenz, also für das Psychische. Sind gewisse Wirkungsgrade der Machtsituation evident, so denkt der Philister „was kann man da machen". Das Problem ist auch in Wirklichkeit nur so, was jeweils als sinnvolles Verhalten gegenüber solcher „Macht von diesem oder jenem" aus seiner Lage heraus verlangt werden kann. Es ist das von uns als „Trilemma der praktischen Vernunft" bezeichnete: zwischen Tugenddenken, Fortschrittsdenken und situationsgemäßem bzw. situationsverantwortlichem Denken, wobei jene ersten Denkarten gerade beim letzteren an ihren richtigen O r t kommen müssen. Freilich nur, wenn man endlich die Situation, worin jeder steht, zur normativen, besser direktiven Geltung bringen w i l l . Aber schon Goethe mit seinem starken Gefühl für die „Bedeutsamkeit" der Lage und Dinge, für den Begriff, der uns zum Problem des Aktuellen hingeführt hat, dichtete doch: Die Sicherheit „Nur das feurige Roß, das mutige, stürzt auf die Rennbahn, mit bedächtigem Paß schreitet der Esel daher." (Lyrische
Dichtungen 1794—1797)
Das Gesollte als Heterologes bedarf für alle heteronomen Auflagen eines höheren Titulus, um dem Inhalt des Gewollten und dem stets irgendwie wirkenden in jenen Stellungnahmen den logisch behaupteten „Sinn" zu verleihen. H i e r hat das Naturrecht insofern klar gesehen, als es nach Prinzipien, Rechtsgründen dafür suchte. Heute hat man als Analogie an die Zitate der „Menschenrechte" zu denken, deren Häufigkeit, ganz wie bei denen der „ H u m a n i t ä t " i m umgekehrten Verhältnis
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zu dem Ernstnehmen des Begrifts steht 1 7 . Philosophisch beide höchst komplizierte Probleme. W i r wissen, daß es sich bei dem Bemühen um die „Menschenrechte" jedenfalls um keine echten Aprioritäten i m philosophischen Sinne, höchstens um Philosophisches der Intentio nach handelt, der radikalen Haltung, „Eros", nicht aber, was den Gegenstand anbetrifft. Daß es um sinnvolle Plädoyers geht, um die Momente, die eine einheitliche H a l t u n g als Ergebnis einer angewandten teleologischen Geschichtsphilosophie auf die heutige Situation zu konstituieren hätten, wenn man auf der gleichen philosophischen Ebene wie der Gegner stehen w i l l . „Angebrachtermaßen" den Vorrang konstitutiv u^ui uuB5[ uaipsaâ og jpu3ipnjdsuE9cj 9Apisoj s^p j n j Ap^jnSaj pun eine aktuelle Situation dahin charakterisieren: was w i r d werden, wenn der Gegner auf geistiger Ebene i m echten Sinn tiefer, aber in dieser Tiefe jedoch oberflächlicher ist, w i r aber weniger tief, in viel niederen Schichten der dialektischen Lage, darin aber besser? Sapienti sat! So liegt heute das Naturrechtsproblem, dessen situationsbedingte Lösung dann freilich gegenüber allen positivistischen Anmaßungen ebenso penetrant sein muß, so wie man es damals erstrebte. Für die „Machthaber", „Rechtanwendenden" und „Rechtunterworfenen"—lauter Simplifikationen, wovon aber doch jeder weiß, was gemeint ist. Freilich gibt es keine Vernunft als reale Substanz, die hier logonom das Heteronome zum Logonomen werden ließe! Dafür aber reale Konkretisierungsaufgaben, um das höchste Prinzip der Richtschnur in Gedanken über die logische Möglichkeit zum pragmatisch Möglichen, in der erfaßbaren Lage zum wirklich Richtbaren zu entfalten. N u r durch normative besser direktive Anreicherung des Situationsbegriffs, der bisher nur in der Rechtswissenschaft als Tatbestand das Licht der wissenschaftlichen Welt erblickt hatte, läßt sich Kontingentes, wie die so oder so eingekleidete Anmaßung irgend welcher soziologisch Geltender, m i t verschiedenartigem Modalitätsgrad der Chance, auf das hin interpretieren, was aus ihr als wirklich belangvoll: hier als Recht „ f o l g t " . „Anreicherung" ist vielleicht kein gutes Wort. Es soll nur daran erinnern, daß sich niemals ein Prinzip unmittelbar auf ein Glied aus der Reihe des Prinzipiats anwenden läßt. Auch „ R a u m " hat jeweils seine Konkretisierungsstufe, z. B. als Kugelform dieses Balls hier auf dem Tennis17
Vgl. unseren Vortrag: „Menschenbild und Menschenrecht" (Sammlung „Das ist der Mensch", Kröner 1959), früher unsere Akademieabhandlung „Die Aufgabe der Humanität für den Geist" eine methodologische Untersuchung, 1951.
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schläger. So liegt es auch i m Direktiven. Als juristisches Problem, doch schon unter philosophischem Aspekt hat diese Problematik, von der sich der Ethiker (soweit er nicht praktizierender Theologe ist) meist nichts träumen läßt, Carl Engisch in ihrer ganzen Tragweite erfaßt eben als systematische. Wozu gehört, daß man nicht die Lösung „aus der K a none schießt", d. h. das Ziel als gelöst, als „gegeben" an den Anfang stellt, wodurch man wieder Positivist geworden wäre. Erst die K o n kretisierungsbemühungen dahingehend, das Logonome inhaltlich soweit zu entfalten, daß der jeweils Angesprochene autolog also nicht nur autonom das entsprechende Heterologe „erfährt", also nicht nur heteropomes „ e r f ü l l t " , könnten den naturrechtlichen Tendenzen einen neuen Sinn geben. So daß nicht mehr für abstrakte, isoliert gesetzte W i r k lichkeitsbruchstücke, oder für formale Relationen, „Möglichkeiten", Aprioritäten — etwa der einer Eins gegenüber einer Milliarde oder der eines Gebietenden gegenüber einem Gehorchenden oder des Ergebnisses von Consensen gegenüber den einzelnen Consensakten — echte Verbindlichkeit, als Recht belangvolles, dann stets perseverierendes Logonomes in Anspruch genommen w i r d . K u r z : Das alte Naturrecht übersah wie heute noch meist die sog. Ethik den Situationsbegriff, seine Bedeutung als einen Inbegriff des Richtbaren gegenüber der Richtschnur, das Wesen der Aprioritäten als einer Sonderart von Sätzen i m Begründungsverfahren, die beschränkt logische Bedeutung pragmatischer oder sprachlicher Hinweise auf Momente an der Wirklichkeit. Dieser A n spruch auf „materiale Positivität" des Naturrechts bedürfte natürlich noch genauerer Analyse an H a n d der riesigen Naturrechtsliteratur! Daß unrichtige Richtschnuren, selbst solche, deren Autoren gar nichts anderes beabsichtigten als derartige Signale zur Auslösung blinden Gehorsams, belangvolles Sollen also Angehendes i m Sinne des Gegenstands der dogmatischen Rechtswissenschaft ergeben können, (allerdings wie w i r wissen, niemals allein) das freilich widerstreitet jeder „materiellen Positivität" des Naturrechts. Die Situation des sog. „gesetzlichen Unrechts" verkörpert diese Problematik an einem besonders penetranten P u n k t 1 8 . W i r denken heute auch an die Diskussion über Pflichten von Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft i n Staaten, die sie verfolgen, erinnern uns an den Anlaß zum Märtyrertum i n Zeiten der Cäsarenvergottung, dürfen aber auch nicht vergessen, daß es die gleiche Problematik in sozusagen positiver Immanenz dort gibt, w o 18
Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (Erik Wolf), S. 71, 315, 335, 347 f., 352 f., 355 f.
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Gewalthaber i n toto eine Position behaupten, mit deren Hypothesis sie sich dann i n einzelnen Maßnahmen in Widerspruch setzen. So etwa, wenn man eine Rechtsnachfolgeschaft beansprucht ohne dabei zugleich die Nachfolgeschaft in den Pflichten anzuerkennen. Es können also nie schlechthin die Sätze gelten, die zwar nicht expressis verbis aber implicite das naturrechtliche Denken gewisser „fortschrittlicher" Revolutionäre bestimmten: Naturrecht bräche positives Recht, oder es gehe wie das moderne bürgerliche Recht den Landesrechten v o r 1 9 . Positives Recht kann Naturrecht nie bedeuten. Das, worum sich daher die meisten bemühten, ist nie ebenso „anwendbar" wie positives Recht. Es kann also der Gegenstand der Rechtswissenschaft, des dogmatischen Rechts nicht m i t einem analogen der Naturrechtslehre in positive oder negative Beziehungen treten. D i e R e c h t s g r ü n d e d e s p o s i t i v e n R e c h t s s i n d k e i n R e c h t . Auch unsere sog. Menschenrechte nehmen dabei keine Sonderstellung ein. Sie beanspruchen primäre Normen gegenüber dem normativen Gehalt der sog. Verfassungen zu sein und eröffnen damit bereits die Sphäre des Rechtlichen wie gewisse Axiome eine Geometrie. Es beginnt die Sphäre der „immanenten" gewöhnlich juristisch genannten Geltung, der Bereich, wo es um die Rechtsgründe im Rechtlichen geht 2 0 . W i r können in ihnen, wie schon gesagt, auch keine Aprioritäten i m Sinne der philosophischen Fachsprache sehen, sondern nur Aprioritäten im Sinne der älteren Terminologie als „Voraussetzungen". Gerade weil sie Ausdruck für Wesentliches i n der H a l t u n g i n einer bestimmten Situation zur Erhaltung und organischen Fortbildung eines seinem status quo nach erfahrbaren Gefüges sein sollen 21 . Sie sind nur erfahrbar, oder genauer, erschlossener 19
Diesen gegenüber gibt es „konservative" Revolutionäre, die, wie wir, nicht einsehen wollen, was bei dem Zerstören vorhandener Zustände, dem dauernden Hin- und Herrücken von Figuren: des Tischs nach dem Schrank, des Stuhls nach der Wand usw., schließlich herauskommen solle, da die Kontingenz als Stoff der Aufgabe ewig die gleiche bleibt. (Unsere Abhandlung über den Forschritt, 1959.) 20 21
Einführung in die Rechtsphilosophie, V I I 3, S. 329.
Auf die Frage: „Hat der Westen noch eine Idee?" sollten sie freilich die ernsthaft zu erarbeitende Antwort geben. Wir wiederholen: sie darf nicht in einem billigen Katalog von Rechten bestehen, einem Herbarium zufällig herausgerupfter Pflanzen. Wir haben es vielmehr mit einer unvollendbaren Aufgabe zu tun, die im Laufe der Geschichte in Erscheinung getretenen Forderungen nicht nur individueller Subjekte sondern auch solcher von Verbänden, Collektiven (Gierke!), nach Art platonischer Ideen zu erfassen, jeweils
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„Sinn" mannigfacher auto- und heterologer Richtschnuren. Das Geschichtsphilosophische daran hat man bisher erkannt, nicht aber das methodologische Problem der Aufnahme der „Füllen". Diese „Formen" w i r d man überall antreffen, wo „radikale" Haltungen nötig werden, bekannt aus den Ansprüchen der Konfessionen aller A r t . Stets haben w i r da, ihrer logisch-ontischen Struktur nach, eine kategoriale Verarbeitung von logischem Material mit faktischem: also eine „Anwendung" von Aprioritäten. Denken w i r auch an die Behauptung göttlicher Offenbarungen, plötzlicher Erleuchtungen, Erweckungen, der U n i o mystica. I m Christentum zeigt sich das darin, daß man Gott ebenso „voluntaristisch", „decisionistisch" auffaßt, wie platonisch als bonitas ipsa, Veritas ipsa usw. 2 2 . Fertige philosophische Normen, die eine Synthese des Logonomen m i t Heteronomem darstellten, gibt es also als A p r i o r i täten nicht. W o h l aber muß es das Prinzip des Logonomen geben, der richtigen Richtschnur, das als Gegensatz und Bezug das entsprechende des Richtbaren hat, einschließlich der darin erfaßbaren autonomen und heteronomen Anmaßungen, und bis in die Vorstellung des Bewirkbaren konkretisiert, die Wirklichkeit konstituierend, „verbindlich" reguliert sowohl die Richtigkeit der faktischen Richtschnuren wie ihre Geltung i m sog. ethischen Sinne: als „angehend" i m überpositiven Sinne von Maßgeblichkeit. Was als Faktum derartiger Naturrechtsnormen als „selbstverständlich" i n unseren Darstellungen des positiven Redits mitschwimmt, läßt sich bereits aus jeder Präambel ersehen; in der Auffassung des „Gesetzes" als „Willens" irgendwelche A r t : des Rechts, des Gesetzgebers, des Volks usw., vor allem i n den sog. Interpretationsregeln, die ja beanspruchen, nicht „Regeln", sondern Normen zu sein. Bergbohm hat auf alles das bereits vor sechs Jahrzehnten hingewiesen. Allerdings ohne eigenen festen Standpunkt, woher man die einzelnen Syntagmen dieser A r t naturrechtlicher Selbstverständlichkeiten erst richtig in den Griff bekommen hätte. Heute würde sich wohl ein derart überlegener Geist, m i t seinem baltischen H u m o r , vor allem die ad hoc aufgerafften überpositiven Gesichtspunkte i n höchsten Entscheidungen vornehmen. Bei einem Ernstnehmen des Rechts als eines nur eine Seite daran, in ihrem dialektischen Miteinanderbestehen, ihren Lükken. Ergebnis kein logonomes Material aber wissenschaftliche Thesen (und Antithesen!), die von den Entscheidenden wie die üblichen Theorien der Rechtswissenschaft zu zitieren und zu kritisieren wären. 122
Vgl. unser s. Zt. bei Reinhardt erschienenes Buch „Über den philosophischen Gehalt der religiösen Dogmatik".
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Heterologen geht es jedoch nicht anders als daß man eine überpositive Basis gegenüber dem Positiven, den Gesetzen schafft, woher man als aus einer tieferen Quelle argumentiert; eine Basis, die, wie w i r jetzt wissen, philosophisch anmutet, aber i n Wirklichkeit Empirisches: die Situation konstituierendes, regulierendes, charakterisierendes zusammenfaßt. Während nun die profane Rechtswissenschaft heute vor der Aufgabe steht, sich i n den sog. Grund- oder Menschenrechten eine derartige Basis als selbstverständliche Grundlage für den „Sinn" der Gesetze, der Interpretation, also in toto des „Rechts" zu erarbeiten, hat die katholische Rechtslehre i n der Tat seit vielen Jahrhunderten unbeirrbar an dieser Aufgabe festgehalten. Als Namen sollen Cathrein, Gutberiet, v. H e r t ling als leicht vermehrbare Repräsentanten dieser H a l t u n g i n der Zeit des Positivismus rühmend genannt werden. Ebenso aber nochmals betont, daß diese „Quelle" der Rechtsnormen 23 keine metaphysische ist, sondern teleologisch-historischem Boden entspringt. M i t dem Anspruch, daß unsere Lage sich in ihr reinige. Insofern diese als primäre Normen i n Anspruch genommenen Gebilde sich nun nicht auf Wirklichkeit schlechthin beziehen, sondern bereits auf eine bestimmte Situation: in religiöser Ausdrucksweise, nach dem Sündenfall, nach der Offenbarung, nach der Zeitenwende usw., insofern also hier Historisches eingeht, müssen die als logonom behaupteten Thesen Inhaltliches, i m Sinne des alten Naturrechts, Materiales enthalten. K u r z sie sind analog positivjuristischen Normen i m Wirklichen immer mehr konkretisierbar 2 4 , bis zu dem Richterspruch, dessen Thesen für die Ausführung ja wieder Möglichkeiten offen lassen. Insofern entsprechend jeder Verfassungsnorm. Die Normen enthalten so gegenüber der Kategorie Richtbarkeit oder Kontingenz 2 5 inhaltliche Momente, die von der Idee der K o n kretisierung aus gesehen „Allgemeinheiten" darstellen, „Zusammenfassungen". M a n könnte diese Fälle als Elemente einer Menge oder Klasse verstehen. I h r Inhalt bezieht sich nicht auf Realität schlechthin, sondern auf Realitäten, auf bestimmte Realitäten, also auf etwas, was jeweils Erfahrung in einer historischen Situation unter gleichfalls nur 23
Die Wortverbindung „Quelle des Rechts" ist vieldeutig, vgl. unsere Einführung V I , S. 287 f. 24
Dieses Problem hat zuerst Carl Engisch in seinen vielseitigen Bedeutungszusammenhängen behandelt. „Die Idee der Konkretisierung im Recht", Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1953. 25 Das wirkliche, was in seinem Sosein bloß erfahrbar, aber auch in anderem Sosein widerspruchsfrei denkbar wäre.
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erfahrbaren Bedingungen als „ j e t z t " , aber auch als „früher" und gewiß mit Chancen als „später" festzustellen sucht. Der Stoff als Inhalt ist daher unter dem die Rechtswissenschaft interessierenden Aspekt geschichtlich bedingt. Die Frage, inwieweit eine unmittelbare Geltung möglich sei, ist analog der, inwieweit eine Rechtsnorm „fertig" sei. V o m Dekalog an bedarf ja alles der mannigfachen Konkretisierungen. Die N o r m : „ D u sollst nicht stehlen", setzt die Unterscheidung von Rechtssubjekten, Rechtsobjekten, Rechtsdingen, Eigentum, Besitzregelung, Rechtlichkeit und Rechtswidrigkeit, Absicht usw. voraus. I m positiven Rechtssystem entfalten sich die Konkretisierungsstufen von primären allgemeinen Bestimmungen her bis zu solchen, die den „Organen" die Möglichkeit geben, Stellung zu nehmen. Stellungnahmen, die dann wiederum durch andere insofern „ausführende" Organe weiter konkretisiert werden müssen, bis „der Hans seine K u h A l m a wiederbekommt". Ein Kodex, der für alle Zeiten und Völker maßgebende Normen aufstellte, wäre nur vorstellbar als Manifestation einer I n stanz, die sich als Logos legitimierte, auch eines „Fleisch gewordenen Logos" 2 6 . Die historische Rechtsbetrachtung, die noch heute, freilich unbewußt und nicht wie damals i n der Zeit ihres Auftretens in einer spezifischen Form der Vergeistigung, das juristische Denken beherrscht, erwuchs wohl zunächst aus dem Gefühl, daß der Mensch, der eine derartig normative Bewältigung der Situation beansprucht, doch selbst ein, wenn auch bevorzugtes Moment der Wirklichkeit darstellt 2 7 und sich daher bei solchen Versuchen „übernimmt". Die Aufstellung irgendwelcher Menschenrechte als ewig geltender primärer Normen, ist tatsächlich Hybris, wenn man sie so einfach glaubt katalogisieren zu können, wie es heute, m i t der Arroganz eines säkularisierten Denkens geschieht. Ohne wissenschaftliche Verantwortung gegenüber der Aufgabe, Methode höchstens m i t der üblichen des Gesetzgebers. M a n kann wirklich fragen: wo sind die Philosophen, die man bei diesem Katalogisieren gefragt hätte, so wie i n einem Geschäft doch den Chef des Lagers? Demgegenüber ist der Beweggrund der historischen H a l t u n g i n ihrer Frontstellung insbesondere gegenüber dem Naturrecht Bescheidenheit, 26 Hier zeigt sich wieder eine Seite aus der Sinnfülle des Infallibilitätsdogmas: „fide vel moribus"! 27 Philosophische Anthropologie gibt es auch hier, insofern ja der Mensch historische Aufgaben erhellt.
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das Bewußtsein, daß es sich immer um endliche Versuche unendlich bedingter Wesen handelt, i n „schlechthiniger Abhängigkeit", um mit Schleiermacher zu sprechen. Aus der Einsicht i n die mannigfachen, gedanklich unausschöpfbaren Bedingtheiten der Situation des Urteilenden aber schließt man, wie w i r wissen, leicht auf eine Minderwertigkeit des Urteilsinhalts. Indem man dabei doch diese abwertende Ansicht ernst nimmt, tut man m i t allen anderen das Gegenteil. Derart ein einziges Urteil gegenüber allen anderen absolut setzend, so wie es stets Skepsis und Nihilismus taten 2 8 . Natürlich gibt es das Perspektivenproblem i n seinen verschiedenartigen Formen: der physikalischen (ζ. B. Ort!), der physiologischen (spezifische Erfahrungsbedingungen, Sinnesorgane), der geistigen (das mannigfach i m genetischen Sinne apriorisch vom Menschen mitgebrachte), der historisch-soziologischen (in Menschen einer bestimmten Zeit und gesellschaftlichen Gruppe), schließlich der individuellen (das die „Psychologie der Weltanschauungen" sich zum Gegenstand nahm). Bei der Erfahrungserkenntnis geht, wie uns die letzte Entwicklung gezeigt hat, wirklich die physikalisch-physiologische Situation auch logisch in das Ergebnis ein, so daß es nur in Form hypothetischer Sätze „unter den bisher bekannten Voraussetzungen" behauptet werden kann 2 9 . Aber niemand w i r d ja gegenüber dem Historiker diese situationsgemäße Bedingtheit seines Urteils leugnen. Grade die sog. südwestdeutsche Schule der Neukantianer hat das historische U r t e i l zum besonderen Gegenstand ihres wissenstheoretischen Forschens gemacht und die spezifischen Voraussetzungen aufgedeckt, worunter die Historia rerum gestarum steht. M a n weiß längst, daß Geschichte immer wieder neu geschrieben werden muß. Aber damit werden die historischen Tatsachen nicht verändert: Wallenstein ist ermordet worden; der Siebenjährige Krieg hat stattgefunden. Sondern was am geschichtlichen Stoff als wichtig erscheint, wechselt. Neue Zusammenhänge werden unter neuen Kategorien entdeckt usw. So sind also auch die Vorgänge auf dem Gebiet des Rechtlichen, die realen Umstände, die zu Gesetzen führten, welche die Gewohnheiten erklärlich machen, die Richtersprüche 28 Der Inhalt eines so oder so entstandenen Urteilssatzes kann nur an Hand des für ihn bestehenden Criterium veritatis geprüft werden. Ergäbe ein durch Wind zusammengewehtes Bündel von beschriebenen Papierstücken einen verstehbaren Sinn, so ließe er sich auch an jenem Criterium prüfen. 29 Aus diesem Grunde eben könnte man sich mit etwaigen Marsbewohnern nur in einer Zeichensprache verständigen, die Aprioritäten ausdrückte (Mathematik). Dieser Einfall von früher gewinnt heute eine gewisse Aktualität.
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und natürlich auch die Theorien, der Zustand einer Wissenschaft wie der Jurisprudenz einer Zeit, je nachdem Gegenstand geschichtlicher Betrachtung und werden i n jeweils wissenschaftlich aktuelle verschiedenartige Zusammenhänge eingeordnet. M a n bekommt immer mehr K o ordinaten zur Bestimmung, wobei freilich das zu Bestimmende nicht als etwas jenseits des Koordinatensystems stehend als „an sich" angesehen werden darf, das man bloß herantrüge und dann einordne. Aber die sich so immer wandelnde Betrachtung der „Ursachen", „funktionellen Zusammenhänge", „gesetzmäßigen Zusammenhänge", „Interdependenz e n " 3 0 kann doch den Sinn eines sich auf das Rechtliche beziehenden Urteils ebensowenig herabsetzen wie etwa die gesetzmäßige Formel des Kopernikus den dem Sinn nach entsprechenden ersten Hinweis längst vorher i n der alten Welt. Daß man i m Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland auf ältere deutschrechtliche Auffassungen über den guten Glauben zurückgriff und entsprechende Bestimmungen schuf, führte zwar zu neuen Auseinandersetzungen über den Unterschied römischer und germanischer Rechtsauffassungen, bleibt aber als solches Tatsache. Mag man auch in der schon besprochenen sog. „Rechtswertbetrachtung" gegenüber der neuen „Rechtswirklichkeit" dieser oder jener Ansicht sein. Gegenüber allen voreiligen Schlüssen, die einen Relativismus begünstigen, kann man jedoch verstehen, daß den Historikern die U n zulänglichkeit allgemeiner Richtschnuren gegenüber dem Richtbaren, die dazu in Prognosen kühn vorweg genommenen angeblich zukünftigen Zustände, die kategorische Anmaßung gegenüber späteren Zeiten, sie zu binden, man kann verstehen, daß den Historikern ein solches doch immer reales also selbst den historischen Umständen unerworfenes U n ternehmen nach Inhalt und Umfang, insbesondere in Hinsicht auf die unübersehbaren Auswirkungen noch nicht gegebener Tatsachen mißfiel. Ein Verhalten, das eben doch die Welt als so etwa wie ein Schachbrett vor sich glaubte, wo es nur bereits vorher gesetzmäßig festgelegte Züge zu machen galt! Naturrechtliches Denken ist insofern ein altmodisch systematisches Denken, wobei man zuvor bereits ein Ganzes vor Augen hat. Es ähnelt dem utopischen Denken, insofern es glaubt, in einer als fertig vorgestellten Gesamtsituation das noch nicht endgültig gut placierte an seinen gehörigen Platz zu bringen. Es ist insofern undämonisch und trotz des philosophischen Aussehens, ja echten Gehalts, unphilosophisch, als es für die vielen Arten von Unendlichkeiten kein Organ hat. Ein Mathematiker könnte sagen: es war eben die Zeit vor 30
Heute Hey de „Kausalgesetz" in der Urbanbücherei.
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Gauss und Cantor. Gerade die mannigfachen Zusammenhänge, die bei der verschiedenartigen historischen Betrachtung auftauchen, lassen die Fülle unendlicher Reihen ins Bewußtsein treten. M a n darf dabei auch nicht vergessen, daß die Kantschen Auffassungen von der Idee als A u f gabe und die entsprechende Vorstellung des Logonomen für den Gedanken, des „Dings an sich", der unendlichen Regresse und Konstruktionsmöglichkeiten i n einer Zeit zu wirken begannen, als es von dem alten Naturrecht nur noch Epigonen gab. So erleben w i r doch eigentlich erst heute, daß die soziologische Bedingtheit aller menschlichen Erscheinungen i n einer A r t ins Bewußtsein getreten ist, daß man sich geradezu um eine Rekonstruktion dessen bemüht, was früher den sicheren Ansatz zu bieten schien: des Individuums. Dabei ohne sogleich an „soziale Reformen" oder rein wirtschaftlich konstruierte Basen zu denken. So nahm man damals den Rationalismus aufs K o r n : seine Anmaßungen m i t H i l f e ad hoc gebildeter aber doch alles Zukünftige bestens ordnender Richtschnuren ernsthafte Rechtsarbeit zu leisten. Daß es aber auch fernerhin immer Richtbares richtig zu richten gibt, und es Sache des Philosophen ist, diese ewige Aufgabe zu sehen und ihren jeweiligen konkreten Sinn deutlich zu machen, das übersah man nun wieder, enantiodromatisch gern. Die philosophische Aufgabe, das Wesen der Utopie ganz aufzuhellen, ist seltsamerweise bisher, trotz aller Darstellungen historischer Utopien, noch nicht gelöst worden. Die Lösung müßte ja auch als Gegensatz die Idee sinnvoller Vorwegnahme zukünftigen Zustände in Absichten, Vorsätzen, in den eine Handlung begleitenden Bewußtseinsvorgängen in jeweils verschiedener Situation, kurz das aktuelle situationsverantwortliche Denken, den „nächsten Schritt" i m Auge haben. Aufgaben einer „Situationsphilosophie" also, wozu w i r leider bisher nur erste Ansätze haben. K u r z und gewagt formuliert: Die Utopie hat die Intentio, falsche Abstraktionen zu konkretisieren. Diese sind je nachdem an einem pragmatisch erfaßten Stück Wirklichkeit gebildet und insofern material. Oder sie lösen aus dem Stück W i r k lichkeit formale Relationen heraus, „Möglichkeiten", „Aprioritäten", wovon es unzählige Kombinationsmöglichkeiten gibt und behaupten jeweils etwas daraus als schlechthin richtig i m Sinne der Logonomen. Aber w i r wissen schon, daß „ I n mathematicis non est bonum et malum". Die psychologische Tatsache, daß der historisch veranlagte Mensch und der philosophisch Veranlagte einander selten verstehen, bat jedenfalls dazu beigetragen, daß die Ablösung der Naturrechtler durch die Historiker zu einer naiven Antithese führte. Wobei man sich
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schließlich dodi um eine Plattform bemühte, wo sich der Gegensatz gedanklich austragen ließe; diese Plattform konnte freilich nichts anderes als eine neue Philosophie sein. Die Situation, die die Geschichte aufhellt, ergibt die Existenz von Gebilden in mannigfach unendlichen Zusammenhängen; sie kann ihr ex esse aus jeweils Erfaßbarem weitgehend aber niemals restlos aufhellen. Die Schildkröte sitzt immer wieder auf einer anderen, um unser antikes B i l d zu wiederholen, eben weil man nicht Axiome als Ausgang der Entwicklung in der H a n d Hat, keinen archimedischen Punkt, woher sich das Ganze so überblicken ließe, wie es Laplace andeutete. Naturwissenschaft und Geschichte erhellen so zwar schrittweise die Kontingenz in ihrem Inneren, lassen aber deren Sinn dahingestellt. Die Geschichte zeigt gerade vermittels ihrer verschiedenartigen immer weiter vermehrbaren Gesichtspunkte, daß es keine alle anderen logisch-ontischen Prinzipien herabsetzende causa sui et omnium rerum etwa als Natur, Materie, Energie, Gesellschaft, Wirtschaft, Geist, Wort, Tat, Mehrheit, Einheit u. dgl. geben kann. Gewiß auch nicht einen Geist, der nach innerer Dialektik „idealistisch" die Entwicklung so abrollen ließe, daß sich dabei ein Sinn ergäbe. So sind i n den verschiedensten Systemen des Naturrechts die mannigfachsten Substanzen als Prinzipien behauptet worden, eingeführt meist durch einen lapidaren Gedanken, daß „der Mensch" so oder so wäre, also anthropologisch. Wenn sich Goethe i m Faust über den angeblichen „Geist der Zeiten" lustig macht, so fehlte nur noch eine Persiflage der „ N a t u r " des Menschen i m Naturrecht. H i e r wo er als alleiniger Schauspieler i n der Tragödie des Rechts monologisiert. Als Ergebnis der antithetischen Spannung zwischen naturrechtlichen und historischen Tendenzen sehen w i r dann z. B. bei Friedrich Julius Stahl 3 1 , A d o l f Trendelenburg 32 , A d o l f Lasson 33 den Versuch zu Synthesen, die bereits Hegel in seiner Rechtsphilosophie durch das berühmte W o r t angebahnt hatte: was vernünftig sei, das sei wirklich und was wirklich vernünftig 3 4 . Wobei er sich selbst unhistorisch als Vernunft fühlte, und so den einzig scharfen Blick für das „Wirkliche" an „Vernunft" gegenüber Unwesentlichem, Emphemerem, Flüchtigem, Zufälligem in Anspruch 31
Philosophie des Rechts, 4. Aufl., 3. Bd. 1870. Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, 1860, nodi um die Jahrhundertwende von Hermann Cohen zitiert. 33 System der Rechtsphilosophie, 1882. 34 Vgl. unsere Abhandlung „Was vernünftig ist, das ist wirklich usw.", Abhandlung des Herderinstituts in Riga 1926. 32
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nahm. Rudolf Stammler hat dann nach längerer Zeit als erster wieder die Aufgabe der Rechtsphilosophie gestellt und i n einem langen Leben in vielen systematisch tendierten Werken seine Ergebnisse vorgelegt und immer wieder von verschiedenen Seiten beleuchtet. So wie man einen Betrachter einen Kristall erkennen läßt, indem man ihn vor seinen Augen dreht 3 5 . V o n da an blieb die Aufgabe bestehen, wenn auch die Lösung bei Stammler und seiner Schule, gleich Athene vollkommen aus dem Haupte des Zeus entsprungen, keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten bot. Dem Positivismus verhaftet, glich das Erzeugnis des neu erwachten rechtsphilosophischen Eros doch zu sehr einem konventionellen juristischen System der Zeit. Wie ein solches nirgends bedroht durch den Einbruch von Unendlichkeiten. I n seiner starren begrifflichen Immanenz dem späteren Kelsen 3 6 an klassischem Gepräge gleich. So freilich „vollendet", aber damit auch zugleich „fertig", überholt. Es w i l l uns nicht als Zufall erscheinen, daß am Ende seines achtzigjährigen Lebens Stammler bewußt die Hände i n den Schoß legte, weil er, wie ein Sohn dem Verfasser berichtete, Goethe bedaure, der nicht so wie er fertig geworden sei, so daß jetzt wirklich nichts mehr zu tun bleibe. Auch daß es Stammler, wie er einmal dem Verfasser sagte, eine besondere Freude bereitete, die Erbrechtsparentelen an der Tafel vorzuführen, scheint in diesem Zusammenhang der Erwähnung wert. Diese Anmerkung könnte zu wissensoziologischen Untersuchungen darüber führen, wieweit die römische Jurisprudenz die großen scholastischen „Summen" beeinflußt hat und dann deren Charakter wieder die Pandektenrechtssysteme sowie die Systeme des Naturrechts und der Rechtsphilosophie bis i n die späteste Zeit! Desgleichen dazu über den ewigen Sinn des Systematischen unabhängig von einem derartigen Gepräge nachzudenken. Systematisch als Tendenz zur verantwortlichen Erfassung der „Ausstrahlung" gedanklicher Setzungen, des „Implizierten"! Die Intentio Stammlers war schon richtig, die philosophische Frage von der historischen zu trennen, die konstitutive nach dem Begrifflichen von der regulativen nach der „Idee", i m Sinne Kants. Es kam aber — und das ist einer der Hauptfehler Stammlers — die „Idee" zu schnell nieder, insofern Stammler die „Idee des richtigen Rechts" verkündete. N u r dadurch, daß er — insofern konventionell — das 35
Wir nennen nur Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1923, Lehrbudi der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928. 36 Unsere ausführliche Auseinandersetzung mit Kelsen jetzt Philosophischer Literaturanzeiger 1955, sich zwei Hefte hindurch erstreckend.
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Gesetz, die „sprechende" Seite der soziologischen Unterlage beim Recht also zunächst nur die Anmaßung, die hetero nome und nicht schon heterologe Richtschnur m i t ihrer Maßgeblichkeit, dem, wohin sie zielte, eben dem Hetero logen identifizierte. Stammler erkannte nicht (ebensowenig wie Kelsen), daß das „Recht", wenn es etwas bezeichnen soll, was uns angeht, einen ernsthaften Gegenstand der dogmatischen Rechtswissenschaft, auch ein Inbegriff hetero loger Richtschnuren sein muß. Dann kann es aber nicht außerdem noch eine Idee eines solchen Rechts mehr geben, denn der Begriff des Rechts hat ja bereits die Idee, nämlich das i m Wirklichen logisch „eingebildete" Prinzip des Autologen, das Prinzip des Richtigen logisch verbraucht! Für etwas, w o r i n bereits die „Idee" eingegangen ist, kann es nicht noch einmal eine solche „Idee" geben. Für Richtiges nicht noch einmal Richtiges. Stammler gelangte hierzu offenbar dadurch, daß er zwar auf der Suche nach Aprioritäten diesen Begriff doch nur als etwas auffaßte, was eine seiner Voraussetzungen bildet: nämlich nur als Voraussetzung und nicht als eine besondere, nämlich rationale, nicht empirische A r t derselben! Es war der älteste Begriff des Apriori, den w i r als den des einfach Bedingenden sowohl i n der Empirik wie i n der A p r i o r i k (im Sinne des Rationalen) vorfanden, wie er i n jeder Satz- und Begriffssphäre vorkommt. So ist der Begriff Säugetier gewiß dem des Löwen und Affen vorausgehend, aber damit doch sicher noch keine Apriorität i m philosophischen Sinne, wofür eine eigentümliche Wesensart charakteristisch, wenn auch deren Entfaltung nicht unbestritten ist. Stammler war insofern hier doch kein Kantianer, als er sich nicht fragte, „woher" (im systematischen, logischen Sinne des „Ursprungs" und nicht i m historischen, genetischen oder psychologischen!) der Rechtsbegriff „stamme". Weiteres interessiert an dieser Stelle nicht 3 7 . Jedenfalls ist Stammlers „Naturrecht m i t wechselndem I n h a l t " ein zwielichtiges Gebilde von Recht i m Sinne der positiven Anmaßung, des Inhalts bloß faktischer Gesetze, des heteronomen also und von Recht i m Sinne des Inhalts wirklich maßgeblichen Sollens, des heterologen geworden. Eine Chimäre, freilich i n der antiken Gestalt 37
s. unsere Einf. in die Reditsphil. S. 7, 42, 67 f., 165 f., 180 f., 302 f., 335 f., 379 f.! Wir verweisen auch auf die Unklarheit des Freiheitsbegriffs (wie fast überall die Verwechslung von tatsächlichem mit richtigem Ziel), die Ignorierung des Situationsbegriffs, dessen Bedeutung ja auch heute noch nicht ins Bewußtsein der praktischen Philosophie getreten ist, die Verwechslung vom Aktuellen, dem verbindlich Angehenden mit dem „Anerkannten", einem sozialpsychol. Faktum. 1C*
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einer Athene von Myron. Der Widerstand der positiven Rechtswissenschaft gegenüber dem Naturrecht, entsprang insofern einem echten Gefühl als die sog. Naturrechtswissenschaft ein doppeltes Recht behauptete und ihren berechtigten Anspruch auf kategoriale Fundierung des Rechts sogleich zu einem Anlaß zum Sprung werden ließ: Uber alle begrifflichen Zwischenstufen hinweg. Ahnungslos gegenüber den unendlichen Reihen von i n sich wieder gedanklich unvollendbaren Gliedern, die erst zusammen die Situation ergäben. Ins Niemandland also, um dort auf einer halluzinierten Straße einen Wegweiser
aufzurichten.
Der Widerstand der positiven Rechtswissenschaft war als ein solcher „wissenschaftlicher" H a l t u n g gegenüber nur allzugut bekannten laienhaften Gedankensprüngen in Politik und Alltagsleben begreiflich, wie später der exakten Wissenschaft etwa gegenüber naturphilosophischen Behauptungen über Phlogiston, Mercur u. dgl. Daß man dabei wie Stammler die allerdings nur empirisch und historisch feststellbaren Tatsachen heteronomer Ansprüche in der soziologischen Unterlage des Rechts m i t diesem selbst als einem Heterologen identifizierte, ergab nun eine entsprechende antithetische Engigkeit. Denn was man gefunden zu haben glaubte, war ja nicht etwas, was irgend einen Menschen außer einen Historiker und Soziologen anginge: Belangvolles, eben „Recht", sondern waren immer wieder nur Fakten, freilich in ihren nur jene Spezialisten
interessierenden
Zusammenhängen,
genannt
„Bildungs-
prozessen". Das Faktum: Gesetz, Gewohnheit, seine übliche Deutung, Feststellung, Praxis, wissenschaftliche Ergründung a la maître d'Hôtel! Wer aber m i t dem Recht zu tun hat, verlangt unter diesem Begriff mehr als ein beschreibbares Sosein. Schon bei der Feststellung, daß da Schutt auf der Straße liegt, fragt man, ob es so bleiben solle oder ob man ihn wegräumen müsse. Das Faktum ist für den Menschen nie nur das, sondern immer mehr: schon ob er es wahrnehmen solle oder ignorieren, verändern, d. h. es i n ein anderes überleiten. Ja selbst für den Tatsachenforscher ist es mehr: ein Anlaß zu Schlüssen, also Verhaltensweisen. U n d in der Tat haben jene Historiker ja i n ihrem Appell zu „belassen", behutsam, pfleglich vorzugehen, Verhaltensweisen gefordert gegenüber dem, was sie i m Recht als Tatsachen, i m historischen Verlauf geworden, beschrieben hatten! Hierher gehört, daß schon vor Jahrzehnten dem Verfasser bei seiner Scheidung der zu Grunde liegenden rechtlichen Fakten vom Heterologen von Hegelianern der V o r w u r f gemacht wurde, daß er Gesetz und Recht z u s e h r trenne. So als ob
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man einem Christen vorwerfen wollte, er sei zu sehr Christ 3 8 . Wenn sich jene nicht begriff l i d i trennen ließen, dann gäbe es keine Interpretation, keine Rechtswissenschaft. Ein mehr oder weniger Unterscheiden zwischen einer Behauptung als Anmaßung, faktischer Richtschnur und deren Richtigkeit, also Verbindlichkeit, läßt jedoch die Logik nicht zu. Erst unter pragmatischer Sicht tauchen hier Grade auf. Später wirkte sich dann die vor allem von Windelband 3 9 vertretene Auffassung über die Scheidung von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung in der Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft verdunkelnd aus 40 . „Naturgesetzlichkeit" (wenn man sie „hätte"!) bedeutete natürlich keine Richtigkeit i m Sinne belangvollen Sollens und Dürfens mehr wie es einmal der Fall gewesen war, als man einen einheitlichen A u k t o r aller Gesetzesarten für die Wirklichkeit als Ganze annahm. Wie aber das Naturrecht i n all das einen „Sinn" hineinlegte, ihr in der Sprache der südwestdeutschen Neukantianer, der Nachfolger Windelbands, eine „Wertbedeutung" gab, so stellte man nun die Akte, die angeblich auf solche „Werte" zielten, der „ N a t u r " gegenüber. V o n so gesehenen angeblichen „Grundwerten" aus 4 1 läßt sich die Situation dann folgendermaßen simplifizieren: Das alte Naturrecht habe seine „Werte" derart i n der Wirklichkeit aufgehen lassen, daß ihre Beachtung entweder entgegen allen positiven Gesetzen den sog. Untertan unmittelbar anginge, oder jedenfalls das interpretierende Organ der A r t , daß die 38
Herrn. Cohen witzelte vor einem halben Jahrhundert über den Titel von Egidys „Einiges Christentum": nun einiges (so etwas) Christentum? 39 Der Wertbegriff ist bekanntlich in die Philosophie von H . Lotze eingeführt worden. Windelb: Geschichte u. Naturwissenschaft, 3. Aufl. 1904. Aber auch M. Weber: Die Objektivität sozialwiss. u. sozialpolitischer Erkenntnis, im Archiv f. Sozialw. u. Sozialpolitik, Bd. 1 (1904), gerichtet gegen Stammlers wirtschaftsphilosophische Auffassung. Eine Kontroverse, die sich dadurch löst, daß man die funktionellen Zusammenhänge zwischen den Rechtsrealitäten und denen der Wirtschaft einsieht, jedoch dabei die logische Abhängigkeit der Begriffe beider Gebiete von denselben soziologischen Aprioritäten nicht vergißt. 40
Der ganze sog. rechtsphilosophische Relativismus, so etwa von 1910 an, war nun erst möglich geworden und leuchtete den positiven Juristen auch wohl deshalb besonders ein, weil die von jenem als etwas letztes behaupteten Wertungen als Tatsache positiver Richtschnuren wie Gesetze beschreibbar sind (gleich Vorurteilen auch anderer Art!). Vgl. dagegen schon unsere Auseinandersetzung „über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus" 1916. 41 Man denke an die enge Beziehung zu der populären Dreiheit einer angeblich platonischen Wertlehre: des Wahren, Schönen, Guten.
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Gesetze daher einen besonderen Glanz erhielten, jedenfalls für den, der nur das Auge dafür hatte. Bald kam nun, seltsamer Weise durch den naturrechtlichen Materialismus jener Zeit provoziert, i m Dienste „sozialer Bestrebungen" eine sich an der Liebmannschen Parole „zurück zu K a n t " orientierende Besinnung auf das Wesen des „Kritizismus" auf. W i r nennen hier Cohen, N a t o r p , Staudinger, Vorländer 4 2 . U n d jetzt w i r d der Unterschied der Fragen klar, der nie mehr verwischt werden sollte. Ein Unterschied, der sich freilich nicht ergibt, wenn man nach erlebnismäßiger oder sonst wie mystisch verstandener Einheit strebt, sondern dem Wesen begrifflicher Entwicklung folgt. Deutlich: ein Unterschied der für die „Existentialisten" ein Ärgernis sein muß. Die saubere Trennung der i m weitesten Sinne genetischen Fragestellung, nach der Ursache, den Entstehungsgründen, Realgründen, Zusammenhängen der Fakten von der „systematischen". Z u jenen Ursachenforschern i m weitesten Sinne gehören natürlich auch die psychologistischen oder soziologistischen Rechtsphilosophen, die eine Erhellung des Begriffsinhalts dadurch erhoffen, daß sie die von der Rechtswissenschaft vorgelegten Begriffe und Theorien nicht ihrem logischen Gehalte nach, sondern als Faktum genetisch betrachten: aus einem Apriori, das man als Eingebrachtes durch die „Einheit des Bewußtseins" (Hans Cornelius, Ernst v. Aster, bei diesem dann Wendung ins Nominalistische), oder die Struktur des Lebewesens, des Menschen, also auch verschieden nach Volkstum oder Rasse, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, „zeit- und kulturbedingt" annimmt. Dagegen hebt sich nun klar die „systematische" besser „transzendentale" Fragestellung ab, bei der es um die Eigenständigkeit des Sinns alles Verstehbaren geht, dessen Erzeugtwerden oder Vorgelegtwerden in Fakten anderen nichtphilosophischen Disziplinen überlassen w i r d : der Psychologie, Soziologie, Völkerkunde, Historie usw. Daß man sich bei der Herausarbeitung der Problemlagen zuvor über das Methodologische klar sein muß, nach dem Kantschen M o t t o : Methodus antevertit omnem scientiam, leuchtete ein. So entstand natürlich auch eine gewisse Mode methodologischer Untersuchungen, wogegen der Positivist gern das berühmte W o r t vom Metzger bereit hatte, der aus dem Messer42
Struve und Woltmann im marxistischen Lager, das damals jedoch anders aussah als heute. Während die Lehren Marx-Engels ja „dokumentarisch" greifbar sind, werden sich die von den darauf aufbauenden säkularisierten Kirchen propagierten Dogmen „fide vel moribus" der „wahren" marxist. Lehre immer wieder wandeln.
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wetzen nicht zum Schneiden käme. Aber sehr fruchtbare Denker haben m i t methodologischen Arbeiten begonnen. Denken w i r an Scheler! Schließlich gehören auchHusserls „logischeUntersuchungen" hierher. A b gesehen von sehr vielen derartigen methodologischen Untersuchungen auf anderen Gebieten etwa der Mathematik! Als Orientierungsstoff dient für die systematische Betrachtung stets etwas aus dem „ F a k t u m der Wissenschaft". Als Hypothesis insofern als man ja einen Ausgangspunkt zum Nachdenken haben muß; einen Ansatz, der bereits ein Sinngefüge sein muß. Dogmatisch weder hingenommen als „richtig" — das ist ja selbstverständlich — noch legitimiert dadurch, daß es Faktum einer Wissenschaft sei. Einmal hat man w o h l auch Astrologie als Wissenschaft aufgefaßt. Richtigkeit und Wissenschaftlichkeit werden also in der Verwendung des Ansatzes „eingeklammert". Auch für das Faktum der Wissenschaft gilt ja das Goethewort, daß es darauf ankomme, einzusehen, daß alles Faktische schon Theorie sei. W o m i t er gewiß keine idealistische Position betonen wollte, sondern dabei den Ausdruck, die Behauptung von Faktischem meinte. Als auf unserem Gebiet besonders heftigen Streit um die richtige Methode sei der der Wiener Rechtsphilosophen um Kelsen in den zwanziger Jahren erwähnt. Nunmehr t r i t t auch das Problem einer wissenschaftlichen Politik in Beziehung zu einer sie tragenden „philosophischen Parteienlehre" auf. Eine Philosophie der Rechtswissenschaft kann diese wissenssoziologische Tatsache nicht ignorieren. Wer erlebt hat, wie in Zeiten, wo das Arbeitsrecht noch ganz i n den Anfängen stand, sich auf die Ausdeutung weniger zivilistischer Bestimmungen i m BGB beschränken mußte, wo es eigentlich nur eine Autorität Lothmar gab, wie in solcher Zeit ein Rechtsphilosoph wie Sinzheimer es in seinen Plädoyers verstand, politische Gedanken bei der Auslegung ins Feld zu führen, w i r d die Beeinflussung der Rechtswissenschaft durch Auffassungen über den Sinn, Inhalt, Tragweite, also die Grenzen der wissenschaftlichen Politik und eine ihr zu Grunde liegende philosophische Parteienlehre als ein selbstverständliches Faktum ansehen. Auch als es noch keine Lehrstühle für Politik gab, ja man bei allen Behauptungen, die als wissenschaftlich gelten sollten, nach dem Vorgang M a x Webers „Werturteile" ausklammern sollte, ergab sich klar, daß diese „relativistische" H a l t u n g selbst ein Symptom einer spezifischen „politischen" Grundauffassung war. M a n lese die ersten Verhandlungen auf den Soziologentagen jener Zeit, wo es immer häufiger um Diskussionen „ Z u r Geschäftsordnung" über die Frage ging, ob nicht grade ein Werturteil kryptologisch mit-
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spiele, und man w i r d selbst bei den Gegnern eine für jene Zeit einheitliche politische Auffassung feststellen, deren Antithese dann die folgenden Jahrzehnten erleben mußten. Das Problem der „Epoche", der Urteilsenthaltung und Einklammerung war nicht so einfach zu lösen. Auch hier gilt: Wer nicht wählt, nimmt doch Partei. Einen ersten genialen E n t w u r f einer philosophischen Parteienlehre sehen w i r bei Radbruch in der ersten Auflage seiner Grundlagen der Rechtsphilosophie 43 . Parteien sind ja Gruppen. Als solche brauchen sie Verbindendes, bei Zielen, worüber diskutiert w i r d , gemeinsame Prinzipien. Eine Analogie bietet auf religiösem Gebiet die Dogmengeschichte, die sich ohne Gruppenbildung, bei isolierten Religiosi nicht verstehen ließe. Es geht dabei also um Verstehbares, Logisches, worüber mehrere diskutieren können, soziologisch um ein M i t t e l mit jeweils verschiedenen Funktionen, von deren Richtigkeit — gruppensoziologisch! nicht logisch gesehen — das Schicksal der Gruppe abhängt. Dieses gruppensoziologische war damals w o h l nur den Kirchen und marxistischen Verbänden klar. I m „bürgerlichen Lager" trat dagegen, wissens- und bildungsfreudig, der logische Gehalt der Thesen in den Vordergrund. M a n suchte nach „Entscheidbarkeitsfragen", also nach einer der Logik und Wissenschaft würdigen gemeinsamen Plattform auch für gegnerische Haltungen, deren Gegensatz man auf den von angeblich letzten „Werturteilen" reduzierte. N u n widerspricht, wie w i r wissen, bereits die Behauptung eines verstehbaren „Sinns" beim Werturteil der Behauptung seiner Irrationalität gleichsam als eines bloßen Faktums, etwa einer Ohrfeige. Aber nur unter der Annahme eines solchen „Sinns" waren folgende Behandlungsarten derartiger angeblicher „Bekenntnisse" für den Gedanken gegeben. M a n faßte, widerspruchsvoll, also den Sinn doch als Behauptung auf und suchte nun die Konsequenzen daraus zu ziehen, ihn gleichsam auszubreiten. Man konnte die jeweiligen Realitäten dahin prüfen, inwieweit sie jenen Konsequenzen, jenem Ausdenken des Sinns entsprächen, sich etwa real bereits m i t ihm vollgesogen hätten, oder inwieweit Diskrepanzen bestünden. Aber auch ohne Abhängigkeit von angeblichen Wertbehauptungen, so oder so aufgefaßt, ist es ja einleuchtend, daß Politik, die es m i t Eingriffen in die Wirklichkeit zu tun hat, bewußten oder unbewußten Ansichten entspringt, deren kritische Erwägung den Staatspolitiker zu Auffassungen über das Recht führt, wobei ihm die A r t , 43
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wie dieses i m Ganzen aufgefaßt und i m Einzelnen dargestellt wird, das Rechtsphilosophische und Rechtswissenschaftliche nicht gleichgültig sein kann. — Die Begriffe „politisch" und „unpolitisch" sind insofern relativ, als sie sich einerseits auf alles Realisierbare beziehen können, andrerseits auf die A r t der Beteiligung, des „Einsatzes", den jemand für die Verwirklichung seiner Ziele macht. Insofern kann man bei dem Begriffsunterschied von „politisch" und „unpolitisch" sogar von doppelter Relativität sprechen. Die eine zeigt den Wechsel der Gegenstände: Nicht nur die Polis, woher ja das W o r t kommt, sondern auch Gemeinschaften aller A r t dieses juristisch-sozialen Bereichs gehören hierher. So gibt es Staats-, Stadt-, Gemeinde-, Kirchen-, Universitätspolitik, aber auch Volkstums-, Standes- ja leider auch K u l t u r p o l i t i k . So konnte Frau Förster-Nietzsche eine Politik des Nietzschearchivs machen 44 . Es gibt also Politik für alles und weil das so ist, kann niemand schlechthin Politiker sein. Gottlob, denn nun kommt die zweite Relativität. M a n ist gegenüber einem anderen mehr Politiker als dieser. Jeder hat ja Absichten, stellt in unserer Terminologie unbewußt oder bewußt, auch expressis verbis Richtschnuren auf, autonome oder heteronome. Begnügen w i r uns mit diesen, an andere, so kommen w i r nicht zum Verständnis der Politischen. N i m m t man jene, des Subjekts an sich selbst hinzu, so w i r d klar, daß das Verhältnis, w o r i n jene an sich selbst zu den heteronomen für den anderen stehen, den mehr politischen gegenüber dem weniger politischen Menschen erkennen läßt. Der politischere ist nämlich derjenige, der an die spontane Realisation des Bezweckten am wenigsten — vergleichsweise — glaubt. Er w i l l mehr als der andere, der ihm gegenüber mehr wünscht und h o f f t . Er rechnet weniger m i t Garanten, denkt innerlich weniger: „wenn alle das täten", sammelt weniger „imaginäre Bedingungssätze". Der weniger Politische sagt mehr nach Ereignissen w i r Grock: „ n i t mööglich". Der mehr Politische ist prometheischer. Er bürdet sich den Hebelarm der Last einer Verwirklichung i n größerem Maße auf, „macht insofern eigentlich alles selbst", verläßt sich ungern auf etwas, kurz ist ein wollender, kein wünschender Mensch. N u r würde ein alles selbst realisierender ein Demiurg sein müssen, seine Wirklichkeit schaffend, dazu als ein Gott alles voraussehend und richtig bewirkend, insofern — säkularisiert verstanden — allmächtig, allwissend, allweise. I n voll44
Und dafür als Funktionäre die staatlichen Politiker Minister Paulssen und Leuthäuser, ausgezeichnete Persönlichkeiten, gewinnen.
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endetster Form ein Demiurg als Roboter, dem alles automatisch präzis gelänge. Dieses fürchterliche Wesen, wohl das Ideal aller Diktatoren, denen gegenüber jeder andere nur zum Werkzeug würde, unfrei, ohne die Möglichkeit heteronome A k t e wie Imperative anders zu empfangen als in Ausführungsakten, die i n „blindem Gehorsam" die befohlene Verhaltensweise realisierten, dieses Wesen wäre in der Tat der Politische schlechthin. I n dieser Form hat es ihn bisher noch nie gegeben. U m so mehr aber i n der vergleichsweisen als er zunächst in Ausführung autonomer Richtschnuren seine eigenen geistigen A k t e so i n Gewalt bekommt, daß sie den unvermeidlich Heteronomen zu ihrer Verwirklichung i n einem ganz anderen Maße verhelfen als es bei dem geschieht, den w i r jenem gegenüber als den Unpolitischeren empfinden. Der Politischere ist insofern der Tätertyp. Er sieht die Reihe der Realisierungsvorgänge vor sich, und sich selbst dabei in stärkstem Maße als Agens. Wissenssoziologisch bemerkenswert nun, daß man in Hinsicht auf den Archetyp des Politikers als des maximalen Realisators seiner Bestrebungen nicht etwa eine „Philosophie der Verwirklichung" versucht, sondern eine solche der geistigen Grundlagen, die ein wirklicher Politiker, vorausgesetzt, daß er die Frage verstünde, für ganz belanglos halten müßte. Derartige Prämissen hat er gar nicht i m Kopf. Seine „wendigen" Handlungen würden dadurch nur gehindert werden. Aber wie heute Psychologenkongresse, die über Ermüdungserscheinungen diskutieren, kaum auf die Idee kommen, die Ergebnisse auf die eigene Verhandlungsweise anzuwenden, wie wohl jeder Kongreß, jedenfalls auf geisteswissenschaftlichem Gebiet ohne verbindliche Resultate endet, die die Ergebnisse der Diskussion zur Verwirklichung bringen könnten, so war es bereits m i t den ersten Versuchen zur wissenschaftlichen Politik auf philosophischer Grundlage und der ihr entsprechenden philosophischen Parteilehre. H i e r blieb man also bei den Versuchen um transzendentale Klärung von Gedanken hängen, die es so i n Wirklichkeit kaum gegeben hat und wenn, dann i n ihrer realen Tragweite belanglos. Diese Feststellung ist natürlich heute nur möglich, weil w i r inzwischen einen Blick für die soziologischen Realitäten bekommen kaben. Eine Grundlagenforschung, die sich ausschließlich m i t künstlich konstruierten geistigen Basen beschäftigt, führt bei der üblichen Parteienlehre gradezu von dem Wesentlichen ab: den realen Momenten des „Möglichen", wofür grade der Politiker wie der Wirtschaftler, natürlich auch der Mediziner und Naturforscher hellhörig sind. Grade die
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ersten Versuche über philosophische Parteienlehre und die entsprechende Politik lehren, daß der Abgrund zwischen Theorie und Praxis auf geisteswissenschaftlichem Gebiet zu einem derart aktuellen Problem geworden ist, daß man, gesehen von der historischen Situation aus, manche Diskussion als A u f t r i t t komischer Personen auf einer Bühne empfindet. Stammler, für dessen kategorische Auffassung es keine Möglichkeit philosophischer Parteiprogramme gab, gehört freilich insofern nicht hierher, als er Anweisungen erwägt, wie seine Ideen des „richtigen Rechts" angewandt werden könnten. H i e r spielte der gute Jurist gegenüber dem Rechtsphilosophen den eigenen Advocatus diaboli. Aber das allgemeine Rezept, nachdem es möglich sein sollte, nicht mehr der W i l l k ü r oder dem T a k t etwas überlassen zu müssen, sondern logisch zu subsumieren: die Realisierung der „Gemeinschaft frei wollender Menschen" enthielt insofern einen Zirkel, als „Gemeinschaft", „Freiheit", ja „Menschentum" der hier gemeinten A r t erst i n einem Zusammenspiel der Begriffe zur Bestimmung kämen. Es war jedoch klar geworden, daß aus dem positiven Rechtsstoff, d. h. aus dem, was sich als solchen in Büchern gab, a l l e i n keine Fundierung des Rechtsbegriffs, seiner Kategorien, Prädikamente, Prädikabilien möglich ist, wie ihn für ihren Gegenstand die Rechtswissenschaft benötigt. Der „Stoff" allein, wie ihn die Jurisprudenz produziert, bedeutet als „Anschauungsstoff" für die vorsystematische Orientierung viel, ist aber als „Gegebenes" genommen, eine nicht definierte Menge, deren Elemente und Beziehungen also gleichfalls unbestimmt bleiben. Er ist also als logisch-systematischer Ansatz nichts. M a n glaubte nun, daß die zur Blüte gelangten historischen K u l t u r wissenschaften die philosophische Situation der Rechtswissenschaft verbessern könnten. Wenn aber dabei die jeweils interessierenden Momente an der Wirklichkeit, also Realitäten m i t Rücksicht auf die sog. „objektive Kulturbedeutung" betrachtet werden sollen, so ist mit solcher Orientierung an der „ K u l t u r " das Problem nur zurückgeschoben. Denn was man K u l t u r nennt, ist, selbst bei präziser Fassung des Begriffs, immer nur ein Faktum. W i r verdanken zwar eine ganze Zeitschrift m i t wertvollen Untersuchungen, die niemand missen w i l l , jenen kulturphilosophischen Tendenzen. Es ist aber nicht einmal der Begriff der K u l t u r dabei klar geworden, zumal heute niemand mehr die einfache Unterscheidung von K u l t u r und Zivilisation wagen würde. Aber selbst bei letzter Klärung des Kulturbegriffs diente er nur zur Erfassung von Realitäten und ergäbe nichts, was sich zur maßgeblichen Direktive für
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diese verwenden ließe. M a n braucht sich ja nur daneben die religiöse H a l t u n g gegenüber allem „Menschenwerk" klar zu machen. Bekannt ist Nietzsches Formel von der K u l t u r als der „Einheit des Stils, des künstlerischen Stils i n allen Lebensäußerungen eines Volkes". Aber um Einheit oder Mannigfaltigkeit festzustellen, bedarf es einer Perspektive. Schließlich werden, wenn man immer weiter zurücktritt, „alle Kühe grau". Was bedeutet aber auch das Einheitliche, wenn es sich bei so extremen Formen wie einer „ p r i m i t i v e n " und einer „kollektiven", dem von Despoten der Masse aufgenötigten „Uniformen" antreffen läßt? K o m m t es jedoch auf das Künstlerische an, so wie es wohl Nietzsche mit seiner Formel meinte, die er bei dem Studium der A n t i k e gewonnen hatte, so stehen w i r wieder bei der Frage nach dem Maßstab für das Künstlerische, der doch nicht einfach aus dem Material, das diesen A n spruch erhebt, entnommen werden kann. Also man meint Höhe einer K u l t u r , ohne daß uns dafür das Kriterium geboten würde! Simmel hat unter K u l t u r den „objektiven Geist" verstanden, das was der „subjektive Geist" i m Erlebnisfluß gleichsam als Kristalle absetzt, die dann ihre eigentlichen Kristallisationsprozesse hätten, woran nun wieder der „subjektive Geist" teil habe, ja die dessen Bemühen eigengesetzlich i n sich hineinzwängen, hineinmünden ließen. Diesen Gedanken verdanken w i r wertvolle Anregungen über das Tragische i m Kulturverlauf, die Dissonanz der beiden Geistesarten, schließlich eine nie überbotene Darstellung von Goethes Wirken und Sein unter diesem Aspekt. Aber einen derartigen „subjektiven Geist", der bereits die Anweisung auf den „objektiven" und damit die K u l t u r enthielte, gibt es gar nicht. Was der Historiker als K u l t u r feststellt, ist immer ein Produkt, eine Integrationswirkung realer Menschen, so wie sie in toto und nicht nur „geistig" sind, in ihrem Zusammenspiel i n allen Zeitformen. K u l t u r ist insofern „Menschliches, Allzumenschliches". Als man glaubte, K u l t u r als Maßstab, als Rechtsgrund für das Heterologe i m Recht nehmen zu dürfen, setzte man Heteronomes, wie es ja bei allen historischen Entscheidungen nachweisbar ist: M o r a l — und sonstige Ansprüche, aus Gruppen stammend, als verbindlich. Etwas was sich i n dieser Hinsicht von den formulierten Gesetzen gar nicht unterscheidet. Weshalb also der geistige Umweg? Schon Rickert ahnte, daß man Realitäten als M i t t e l ansehen würde, „Wertbeziehungen" herzustellen. Deshalb konnte auch M . E. Maiers Versuch, in seinen „Rechtnormen und Kulturnormen" die Rechtnormen auf angebliche Kulturnormen zurückzuführen, nicht gelingen. M a n
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bleibt wie bei der Prüfung der sog. juristischen Geltung in der gleichen Sphäre, transzendiert nicht. Unsere Schildkröten bleiben dieselben. Aus der Geschichte lassen sich immer nur geschichtlich immanente Maßstäbe entnehmen, wenn sie — die religiösen, konfessionellen weit mehr noch als die kulturellen — auch einen noch so hohen Geltungsmodus beanspruchen. Alles das bedeutet natürlich keine Herabsetzung des K u l t u rellen als heuristischen Mittels zur Erfassung sozialer Realitäten, etwa i m Sinne A l f r . Webers und Rüstows, keine Ignorierung der sog. Interdependenz für den Rechtshistoriker, natürlich auch keine Ausklammerung des Kulturellen i m Stoff rechtsdogmatischer Begriffe. Es bedeutet nur, daß man das beim Recht wesentliche Heterologe nicht in Gegebenheiten der K u l t u r sehen kann. Denn diese ist selbst zunächst nur heteronom. Innerhalb der verschiedenen Realitätsschichten, die die einzelwissenschaftliche Betrachtungsweise heraushebt, gibt es mannigfache Arten von Richtschnuren, freilich immer bloß als Tatsachen beschreibbar. Es steht nichts dagegen, von der K u l t u r der europäischen Menschheit in einer bestimmten Epoche zu sprechen, von nationalen Kulturen, solchen von Klassen etwa der Handwerker, solcher des „niederen Volks" (Fuchs). Die Aprioritäten, die ein Historiker nötig hat, um eine Geschichte als historia rerum gestarum zu schreiben und die anderen, derer der Geschichtsphilosoph bedürfte, um die res gestae zu beurteilen, wozu ja auch jenes Historikers T u n gehörte, können beide nicht ohne logischen Zirkel aus dem Ergebnis: den realen Vorgängen gewonnen werden. Die quaternio terminorum verhindert natürlich nicht, daß sich die großen Darsteller der „monumentalen Geschichte" (Nietzsche) nicht auch real ausgewirkt, als insofern ihr Ziel erreicht hätten. Insofern steht der „Historismus" allen Ismen gleich, worin sich wissenschaftliche Hypertrophien ausdrücken: dem Materialismus, Ökonomismus, Psychologismus, Evolutionismus usw. Schon das W o r t Rankes, daß jede Epoche „gleich nah zu G o t t " stehe — also auch gleich fern und damit, daß es für die Wirklichkeit keinen „Fortschritt" geben könne — hätte davor warnen sollen, andere Maßstäbe aus den historischen Vorgängen entnehmen zu wollen als solche für stets nur mehr oder weniger wahrscheinliche Prognosen. M a n kann sich auch nicht i n der Geschichte umtun, um etwa das logonome Prinzip auf einer Konkretisierungsstufe als zweifelfreie heterologe Tatsache anzutreffen. Auch die Begriffe der großen Persönlichkeit wie des hohen Kunstwerks setzen eine für sie gültige Richtschnur, also unendlichfach „inkarniertes", i m gedanklich konstitutiven Vorgang konsumiertes Logono-
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mes voraus, das endlich an seinem Terminus ad quem angelangt wäre, etwa für jene i n einem ganz bestimmten soziologischen Wirkungsradius, für diese an Entsprechendem i m Rahmen ebenso einer bestimmten Kulturphase mit dem realen „Esse" des schöpferischen Menschen. „ D i e u seul est grand!" So hieß es beim Nachruf auf einen berühmten Herrscher. — Unter dem Begriff „Wertindividualität", der in jener Zeit aufkam, dürfen w i r fürs Recht nur an eine Persönlichkeit denken, die i m Unterschied zu anderen eine besonders große soziologische Geltung erreicht 45 . Autoritäten wirken als Substanzen auf einem bestimmten sozialen „ F e l d " ; ihr Wirkungsbereich ist größer i m Vergleich zu anderen. Es geht dabei nur um das Tatsächliche, das factum brutum und nicht um Wirkensollen, Legitimation des Erfolgs. Grade dadurch sind sie für die „soziologische Unterlage" beim Recht, die Machtkonstellation besonders aber für die Struktur, die Wesenszüge der Rechtswissenschaft einer bestimmten Epoche bedeutsam. M a n denke an den Einfluß der „großen Rechtsdenker". Es ist das Verdienst Erik Wolffs, i n unserer Zeit diesen personellen Quellen wissenschaftlicher Einsichten besondere Forschungen gewidmet zu haben. Die nicht personell faßbaren Quellen aus dem Geist einer Epoche, in Werken mannigfacher A r t dokumentiert, treten ihnen zur Seite. Uberempirische Bedeutsamkeiten lassen sich jedoch niemals auch nicht durch gründlichste Aufhellung solcher soziologisch wirksamen Faktoren aus der Geschichte gewinnen. H i e r ist die religionsphilosophische Fragestellung zuständig, wenn man nicht in die N a i v i t ä t rationalistischer Apologien verfallen w i l l , daß die Läuse dazu da wären, um die Menschen zu bessern! Insofern auch sog. Weltanschauungen nichts anderes als Tatsachen sind, für die A r t von Einzelnen und Gruppen immerhin charakteristisch, weil sie ihnen ein verstehbares Gesicht zu geben scheinen, gehören auch sie nur zum Stoff der Historie und nicht zu ihrer „ F o r m " , den Aprioritäten. So gesehen, bleibt der Eros des Naturrechts als philosophischer trotz allen kurzschlüssigen Realisierungsversuchen dem der Historie i n der Rechtswissenschaft überlegen.
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Unsere Einf. in die Rechtsphilosophie, V I I , 4, S. 333 f.
§ 12 Weitere Aspekte dieser Art Die Erfassungsversuche jeweilig einflußreicher „Richtungen" lassen den Gegenstand Rechtswissenschaft immer wieder unter anderen Aspekten erscheinen. Radbruch hat ein Einteilungsprinzip für jene Richtungen dadurch zu finden geglaubt, daß er von einer eigentümlichen H y p o thesis eines terminus ad quem ausging. Als jeweiligem Sinn heteronomer Richtschnuren in einer durch sie bestimmten rechtssoziologischen Situation. „ A n was spannst du das Seil? fragt die N o r n . " Er glaubte dadurch die Richtungen sichten zu können, daß er die jeweiligen Syntagmen, als Menschenwerk wie seine Erzeuger widerspruchsvoll, ihrem geistigen Gehalte nach logisierte. H i e r hätte es nun von vornherein die verschiedensten Möglichkeiten gegeben, von denen einige sich denn auch i m Faktischen, dem hypothetischen Ansatz fremd oder zuwider einfanden. M a n nahm z. B. an, daß man von einem Ideal der ethischen „Vollendung der Persönlichkeit" ausgehen könne, als ob sich so etwas für ein isoliert gesetztes also atomar aufgefaßtes Gebilde i m sozialfreien Raum denken ließe. Oder man stellte als Spiegelbild gerade im Sozialen ein entsprechend isoliertes Ideal von Gemeinschaftsformen auf, bei denen vom Einzelnen abgesehen wurde. Das Gedankliche in solchen Syntagmen ließe sich dabei als „naturaliter", ohne bewußte geistige Beeinflussung verstehen, oder, wie zunehmend in der Gegenwart, durch Propagierung schlagkräftiger Thesen. D a es sich bei Recht stets um zunächst wirksamen dann verbindlichen Ausdruck realer Beziehungsformen i n wirklichen Beziehungsgliedern handeln mußte, ergab sich die Aufgabe wie bei den Beziehungen der Beziehungslehre die Beziehungsformen sichtbar zu machen. Wobei sich freilich je nach dem Aspekt das Element als Beziehungsglied oder die Beziehungsform, also einander begrifflich bestimmendes, als aktuell geltend machte, als ob es das eine ohne das andere isoliert geben könne! Eine begriffliche Substantierung, Ansichsetzung der soziologischen Gebilde gegenüber den Elementen lag dabei als Antithesis auf der Hand. Es schien so etwas wie ein objektiver Geist hier seine Sonderansprüche geltend zu machen. M a n hypostasierte nun die „sozialen Gebilde", indem man sie i n Gegensatz zu ihren Elementen, den einzelnen Individuen, den Einzelpersonen
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als alleinige Substanz m i t ihrem eigenen terminus ad quem behauptete. „Zwecke" setzen die Einzelmenschen. Für solche Zwecke gründet man Verbände. Solcher Zwecke wegen hält man in ihnen aus. Die soziologische Struktur der Verbände verlangt zu ihrer Handlungsfähigkeit mannigfache Verfahrungsregeln, woraus wieder Zwecksetzungen hervorgehen. D a Einzelmenschen und soziale Gebilde Realitäten i n der Wirklichkeit sind, geschichtliche Erscheinungen, unterliegen sie auch dem sog. Zweckwandel. So treten i m Verlauf der Zeit die mannigfachsten Widersprüche i n Erscheinung, wie bei der Zweckverfolgung des Einzelnen, so bei der Entwicklung der sozialen Gebilde und i n dem Inhalt der Zwecksetzungen beider zueinander. Wichtig für die kritische Bewertung solcher Erscheinungen ist nun, auch hier, Tatsächlichkeit von Richtigkeit zu unterscheiden. Also den faktischen Zweck zu sehen als verstehbaren Ausdruck gegebener Richtschnuren, autonomer und heteronomer bei beiden: dem Einzelnen und den Gebilden. Sodann aber den „richtigen Zweck" als „Sinn" solcher Zwecksetzungen. K u r z die Richtigkeit hic et nunc der Setzung und Tauglichkeit der gegebenen Richtschnur für eine Heterologe. Es war w o h l Lask, jedenfalls der wertphilosophische Neukantianismus der südwestdeutschen Schule, der zuerst i n Hinsicht auf die Entdeckung sog. absoluter Werte die Tendenzen dem „Element" oder ihrer „Menge" (oder etwas außerhalb beider) als personalistisch oder transpersonalistisch (oder „sachlich") zuordnete. Eine Anregung, die dann bekanntlich ihre Ausgestaltung für die Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft vor allem bei Radbruch fand. „Personalistisch" freilich sind beide Tendenzen: die vom Einzelindividuum ausgehende und die von Gebilden, soweit sie solche Gesamtheiten als „Subjekte" behaupten. Jedenfalls werden beide als Auktoren von Richtschnuren angesehen und je nachdem unter Verwertung eines anderen logonomen Prinzips oder ohne solches — etwa nach dem Gedanken der Verträglichkeit, also der ihrem Behauptungscharakter entsprechenden Erfüllungsmöglichkeit bloß faktischer Richtschnuren — zur Stütze rechtstheoretischer Thesen verwendet. I n Gierkes 1 Auffassung der Verbände als Subjekte höherer A r t haben w i r das Muster einer personalistischen Tendenz auf höherer Ebene: als Gegensatz zur individualistischen. I n ihrer Genesis des gesetzmäßigen Zusammenhangs, der den Menschen zur Annahme einer einzelnen persona führt, eine geniale Analogie, wenn nicht Vorwegnahme der empiristischen Theorien 1
Das Wesen menschlicher Verbände, Berliner Rektoratsrede, 1902.
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^on H . Cornelius, v. Aster usw. Die Auffassung selbst freilich als Glied einer urehrwürdigen Reihe. Jedenfalls waren von nun an jene im Einzelnen wirksamen soziologischen Realitäten auch dort nicht zu übersehen, wo man gegenüber den marxistischen konservativ empfand. Rechts- und Sozialphilosophie und damit die rechtspolitischen und dogmatischen Bestrebungen hatten sich mit diesen sozialen Subjekten vorrechtlicher A r t auseinanderzusetzen. Historisch gesehen, gibt es natürlich so etwas wie individualistische Azente im Christentum, bei den Römern, Germanen, wie die universalistischen in der Antike mit ihrem Ansatz bei der Polis. Euphemistische Wendungen, wie die von „der sittlichen W e l t " , standen beiden zur Verfügung, zielten aber sichtlich auf „das größere Ganze", dem der Einzelne verantwortlich sei. Erinnern w i r uns an die universalistischen Momente, die auch der einsamsten Seele in dem Augenblick sichtbar werden, wo von dem Nächsten als Bruder unter einem Vater in der Gemeinde, von der Kirche im katholischen Sinne als der Braut Christi, dem Sobornostprinzip in der östlichen Orthodoxie die Rede ist. Je nach dem Grad, dem Spielraum, den man jenen beiden Subjektarten zubilligte; dem Einzelindividuum oder dem sozialen K o l l e k t i v organisch gewordener oder organisierter A r t gab es nun „Freiheiten", deren Verträglichkeit miteinander zu erwägen war. Wobei es sowohl die Freiheit des Einzelnen in der Idee des Ganzen „aufzuheben" galt, wie die des Ganzen in der Idee des Einzelnen. Je nach der philosophischen Nachfolge: nach K a n t oder nach Hegel, möchte man hier die Geister einander konfrontieren. So sehr sich auch Stammler z. B. bemühte, das Recht als „verbindendes Wollen" soziologisch zu begreifen, so blieb sein Versuch doch individualistisch, insofern das zu Verbindende im Einzelnen fundiert war, so daß auch sein „soziales Ideal" die Erhaltung und Förderung des I n d i v i duums war. So ist ja auch der „kategorische Imperativ" bei K a n t als Maxime für den Einzelmenschen gedacht, wenn auch aus dieser individuellen Perspektive der Blick auf das Allgemeine, den gesetzmäßigen Zusammenhang aller, ja die Vielheit als Einheit gerichtet sein sollte. So finden w i r dann bei Stammler die Rechtsidee als Verbindung kantischer Pflichtmenschen i n der widerspruchsvoll klingenden Formel von der „Gemeinschaft" „frei wollender Menschen" wieder. So blieb auch die, nicht als realer Uranfang, als Ursache verstandene Idee des contrat social, die bekanntlich auf K a n t einen entscheidenden Eindruck gemacht hatte, ein leitendes M o t i v , das die einzelnen Konstruktionen bestimmte. Als Ergebnis wechselseitiger Versprechen von Versprechen11
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den, demnach von zuvor „an sich" gesetzten abhängig; deren Reduktion zum erst produzierten „Sein für anderes" eben eines wenn auch ideell aufgefaßten Vorganges danach also als zweites bedurfte. Ohne solchen Consens hätte ein normatives „Sein für anderes" nur eine „ i n juria" der zuvor Unversehrten bedeutet. Nach diesem Vorgang erst eine rechtmäßige Willensverbindung pflichtmäßig wollender Individuen. Die Orientierung an K a n t gab auch den sozialistischen Ideen einen anderen Inhalt, stellte überhaupt die Bedeutung solcher Ideen in anderer Weise fest als es zu Beginn i n der Nachfolge Hegels bei M a r x geschehen war. Haben w i r bei den einen noch die mengentheoretische Vorstellung: von einer Mehrheit zur Vielheit und dann zur Einheit zu kommen, so bei den anderen die Vorstellung von einer „Funktion der Menschheit". M a n muß Stirner lesen, um zu begreifen, wie es kritischen Geistern zumute war: Einerseits pries man ihnen das Individuum als höchstes, ohne doch dabei zu sagen, was dessen Bestimmung sei, in welchem Zustand es eine solche Hochachtung verdiene. Andererseits wies man auf eine unendliche Menge hin: auf die „Menschheit", sich vom Neandertaler i n die Zukunft ziehend und verlangte, daß man diesem Heerwurm eine klare Funktion — in was? für wen? — entnähme. „ M a n sagt der Rose, sie solle eine Rose sein, dem Menschen, er solle ein Mensch sein." So leicht läßt sich aber dem Begriff der Humanität, der doch vorschwebte, kein Inhalt verschaffen 2 . Eine sozialistische Theorie mag noch so sehr die Vergesellschaftung der Betriebsmittel fordern, der — richtige — Zweck, „ w o f ü r " , die richtige A r t „inwieweit" und „ w i e " blieb ohne andere Prämissen ungeklärt. Die faktischen Bedürfnisse der jeweils Mächtigen, die ihnen fast nie bekannte Bewußtseinslage bestimmen hier, setzen bestimmte Größen an Stelle der Unbekannten in die Gleichung ein, deren Lösung so stets überraschend ausfallen wird. Auch der Versuch, den Lassalle und Rodbertus machten, indem sie auf Aufgaben hinwiesen, die der Einzelne nicht erfüllen könne, sondern nur „das Menschengeschlecht als Ganzes" läßt den Inhalt jener Aufgaben unbestimmt. Die einzelnen Glieder der Zahlenreihe oder ihre Summe bei frühzeitigem Abschluß, auch nicht ihr Fortgang ins Unendliche vermögen als terminus ad quem zu dienen. Es „ g i b t " einzelne, viele, alle Zahlverhältnisse bei Dingen, Lebewesen, Menschen, „Kulturgütern", wenn w i r sie zählen. Sie weisen aber nicht. Auch kein Begriff einer endlichen oder unendlichen Menge ist eine regulative Idee. 2
Vgl. unsere methodologische Untersuchung „Die Aufgabe der Humanität für den Geist", Abh. d. Akademie d. Wissensch, u. d. Literatur. 1951.
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M a n wagte auch i m Sozialen das Groteske, indem man die Menge von ihren Elementen trennte und teleologisch so etwas wie eine Menge empfahl, die sich selbst und die Nullmenge als Teilmengen enthielte. „ D u bist nichts, Dein V o l k ist alles." Als ob es ein V o l k geben könne, wenn man die Einzelnen auslöschte. Eine herrliche Stadt, w o r i n alle Häuser erbärmlich! Unser „einäugiger" D o k t o r aus dem Candide taucht wieder auf. Die Konstruktionen, die w i r hier als Hypothesen rechtswissenschaftlicher und gesetzespolitischer Behauptungen betrachtet haben, sind nun, wie w i r erlebt haben, durchaus nicht harmlos. Sie boten sich in ihrer Unbestimmbarkeit mannigfachen Begehrlichkeiten an und trübten den nüchternen Blick für die richtige Gestaltung der Situation. Isolierte Endzwecke kann es auch bei den Kollektiven nicht geben. U n bestreitbar sehen w i r überall Organisationen, Verbände, Gruppen mit eigener Funktion, die Einzelne nicht erfüllen können. Aber diese Tatsache, worauf bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Schelling, Hegel, Schleiermacher, Krause, Trendelenburg hinwiesen, genügt nicht, um neben der beliebig verlängerbaren Reihe solcher Funktionen ihre Richtigkeit darzutun. M a n kann sich Organisationen von verschiedenster A r t ausdenken m i t ganz verschiedener Wirkungsweise. W o sie und wann sie in einer Situation anzusetzen wären, bliebe dabei ungeklärt. Alle diese Gebilde sind „ V o r - w ü r f e " für die Rechtsordnung, sind so etwas wie Figuren, die zur W a h l stehen, „Möglichkeiten", mehr nicht. Die Gefahr eines Begriffsrealismus scheint bei allen rechtlichen und sozialen Wunschbildern besonders groß zu sein. M a n könnte meinen, daß ein nüchternes technisches Denken solchen Gefahren nicht erliege. Daß es je nach Bedarf die technischen Konstruktionsmöglichkeiten verwerte, sich nicht in eine einzelne verliebte, immer wieder neue entwerfe. Aber auch hier sehen w i r gerade heute so etwas wie isolierte Vollkommenheiten, „geschlossene Systeme des Richtigen" als Kosmen im Chaos. Eine „Plan-Wirtschaft" dieser Dinge, eine „höhere" Regelung würde jedoch nur einen Versuch zu einem umfassenderen System bedeuten, w o r i n die früheren zu Teilchen, zu Rädern wie in einer M a schine herabgesetzt wären, ohne daß dabei ein Sinn sichtbar würde, dem das Ganze zu dienen hätte. „Ineinander gut Funktionieren", „Verträglichkeit" ist i n verschiedener Weise denkbar, ohne daß sich dabei ein höherer Sinn ergäbe. M a n kommt also aus dem beschränkten Sinn dieser Systeme nicht heraus, aus der „Figurenimmanenz". Gegenüber der Unergiebigkeit des Inhalts der Vorstellungen von Individualismus, Universalismus, Transpersonalismus ist es wissenssoziologisch bemer11 *
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kenswert, daß die Zündkrafl; soldier Vorstellungen besonders groß war. Gerade der Positivist, der sonst nur Greifbares gelten lassen möchte, gerät schnell in den Bannkreis von Vorstellungen, unbestimmten Assoziationen, sobald er sein engeres Fach erläßt. Er vergißt bei den Begriffen, die ihm fremd sind, daß auch bei ihnen wie beim Werkvertrag oder dem Darlehen eine Definition Negationen zeigen muß, daß es bei Thesen, wie „Das Ganze gehe dem Einzelnen v o r " sorgfältiger Angaben bedarf, damit man sie verstehen und gar anwenden kann. So glaubte man aber, daß Begriffe wie Familie, Stand, Staat, V o l k , Eigentum, Besitz jeweils außer ihrem Quale, ihrem Sosein, das aus begrifflichen Momenten konstituiert ist, noch einen terminus ad quem, Regulatives im Sinne einer Idee, absolute Richtigkeit in sich enthielten. Ganz ebenso wie man es bei den Worten „Freiheit" oder „ W i l l e n " meinte. Wenn man nun auch weder vom Einzelnen, „individualistisch" noch von einem K o l l e k t i v , „universalistisch" auch nicht jene personalistischen Ansätze transzendierend: „transpersonalistisch" — übrigens eine Analogie zu dem inhaltslosen, an sich bloß negativem Begriff des „Ubermenschen" — das Logonome für das Recht gewinnen kann, das über die Möglichkeit und Tatsächlichkeit ins Verpflichtende führte, so hat doch die Akzentverlegung aufs umfassendere Ganze in der Rechtsgeschichte zu großartigen Ergebnissen geführt. Die Erforschung der bunten Korporationswelt der alten deutschen Zeit, die insbesondere durch O t t o v. Gierke ihre höchste Blüte erhielt, zeigte, daß sich i m Verlauf der Neuzeit jene „individualistischen" Tendenzen zerstörerisch ausgewirkt haben. Man w i r d nun einen Widerspruch finden zwischen unserer Ablehnung der Begriffe „individualistisch", „kollektivistisch", „transpersonalistisch" als Terminus ad quem und dieser Würdigung, welche die Begriffe ja selbst enthält. Es liegt aber so: M i t der Behauptung einer Akzentverlegung läßt sich ein Vorgang kurz bezeichnen, der im Einzelnen aus einer Fülle ganz verschiedener Momente bestehend, damit doch genügend charakterisiert ist. Ohne solche M i t t e l kommt die Geisteswissenschaft, hier die Geschichte nicht aus. Es ist so, wie wenn w i r sagen, jemand haber immer nur „an sich gedacht" oder nur „für andere gewirkt". Was das: „an sich denken" oder „an andere denken" eigentlich meint, bedürfte einer Analyse von Vorgängen, die man sich bisher stets geschenkt hat, weil sie zu weit führte. Schon die Frage: wie denn „an dich" oder „an andere", zeigte, daß man eine H a l t u n g meint, die sich gewiß nicht mit Gedanken an den terminus a quo oder terminus ad quem beschreiben läßt. N u r insofern kann man in der
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Renaissance das Erwachen des Individuums sehen, in der antiken virtus eine Hingabe an die polis usw. Der Historiker erhellt also, indem er solche Formulierungen gebraucht, wirklich Sachverhalte, ohne daß er dabei eine genaue begriffliche Analyse der Vorgänge zu geben brauchte. Anders aber ist es, wenn man den „Einzelnen", ein „Gesamt" von solchen oder einfach ein jenseits der Beziehung Einzelnes-Ganzes, ElementMenge stehendes als „letzten W e r t " im Sinne eines noli me tangere für Urteile behauptet, auf die sich dann eine davon abhängige Skala von Mittelwerten aufbauen ließe. Entweder „wertet" man dann eine Apriorität. M a n erklärt damit etwas für richtig, was ebenso unrichtba' ist wie eine Einzelzahl. Sie gibt es, ist als Wesenheit weder richtig noch unrichtig. Aber „angewandt" z. B. hier an der Vorderseite eines Hauses also in der Kontingenz ist die Richtigkeitsfrage sinnvoll, ob es da z. B. drei oder vier Fenster geben soll. Bei Aprioritäten „gibt es" auch das eine nicht ohne das andere, die einzelnen Zahlen nicht ohne ihre Summe, ihr Produkt, den Einzelnen nicht ohne das Ganze. A n gewandt daher auch: daß es dem Ganzen nicht gut gehen kann, wenn es dem Einzelnen nicht gut gehe, daß man das Ganze vermindert, wenn man Einzelnes herausnimmt usw. Wenn die Behauptung, der Einzelne sei der höchste Wert oder eine Gesamtheit einen Sinn haben solle, so müßte man dann i m Angewandten, dort beim Einzelnen hic et nunc oder bei allen diesen auf dem Platz angeben können, was „höchster W e r t " bedeutete. Doch gewiß nicht den status quo. Man dürfte dann ja nichts daran ändern wollen. Schon ein Beurteilen belegte ja als ein Vorgang den Sachverhalt, tangierte ihn, da eine Realität stets, wenn audi vielleicht unmerkbar, w i r k t . M a n ist also genötigt, kryptologisch ein anderes Wertprinzip einzuführen. Z. B., daß es der höchste Wert für einen Menschen sei, sich autonom zu entfalten. Wobei wieder die Frage: wohin denn, nach dem terminus ad quem als Bildungsform ein neues Wertprinzip, eben der „Bildung", verlangte. Weiß i d i woanders her, was das Ziel, der Sinn des Einzelnen ist, so weiß ich es dann auch für die Vielheit, kann ich einen solchen Schluß jedenfalls ziehen. Umgekehrt dasselbe, wenn ich wüßte, wie z. B. eine Stadt aussehen sollte, könnte ich es auch für das einzelne Haus sagen. Aber „abstrakt" ist ja auch für derartige Ausschnitte, Bruchstücke, die man gedanklich glaubt, aus einer Situation herauslösen zu können, keine spezifische Richtigkeit denkbar. Es heißt stets hic Rhodos hic salta. Was hat von diesem, hier jetzt dort, zu geschehen, damit sich eine Lage je nach ihrer Erfassung richtig gestalte. Indem man die historischen ge-
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nossenschaftlichen Gebilde ausräumte, suchte man entsprechend der tabula rasa so etwas wie einen Naturzustand zu schaffen, worauf nun die isolierten Individuen durch Pakte aller A r t (oder jedenfalls ihrer Denkform entsprechend) die ihnen i m Augenblick nützlich erscheinenden Gesellschaftsarten zu bilden hätten, ungehindert durch Bindung an ältere, trotz Funktionsänderung oft mannigfach bewährte Gemeinschaften 3 . Zwischen philosophischen Polaritäten und der „modernen" naiv akzeptierten Auffassung „gegenwartsnaher" Praktiker und Positivisten erhob sich gleichsam in der M i t t e eine nüchterne Auffassung über die Beziehung der rechtlichen Gestaltung zu den Interessen der Gesellschaft. Nüchtern weil man unphilosophisch übersah, daß der Begriff des Interesses zunächst nur faktische Tendenzen ausdrückt: heteronome Richtschnuren, faktische Anmaßungen zur Erlangung von etwas, das nach den Wünschen der Interessenten noch fehlt. Daß dieses i d quod interest keinen Ansatzpunkt bietet, um aus dem Chaos heterogener Ansprüche aller A r t , „ v o n oben", „ v o n unten", „gegen einander", und ihren A u f fassungen als auto- oder heterolog i n ein einheitliches Begriffsgefüge des Direktiven zu gelangen: in den Kosmos des Logonomen Prinzipiats! Ebenso wie beim Zweckgedanken schwimmen ja leider auch bei dem des Interesses beide Bedeutungen: eines faktischen und eines berechtigten Interesses m i t ! Eine reine „Interessenjurisprudenz" könnte also nur wie ein durch Wahrnehmung realer Machtverhältnisse, i m günstigsten Falle durch einen aufgenötigten Vergleich erledigtes Konkursverfahren aufgeschreckter Gläubiger aussehen. Daß man bei ihren Vertretern (Heck) andere Vorstellungen hatte, muß betont werden. Das Recht t r i t t den Einzelnen von seiner soziologischen Unterlage aus, in den Gesetzen und aus Gewohnheiten entspringenden entsprechenden Ansprüchen zunächst als heteronom gegenüber. Zunädist also „ v o n außen" und der höchsten Gewaltkonstellation wegen „nötigend", daher bei zunehmender Entwicklung individualistischer Vorstellungen immer mehr „befremdend". M a n hat nun bereits i m Kantschen Lager versucht, das heteronome und die „Freiheit" beschränkende als nicht 3 Eine entsprechende Tendenz kann man heute in den Hochschulverhältnissen beobachten: Es soll nur d e n Studenten geben. Er soll unmittelbar, nicht mehr wie Jahrhundertelang im traditionellen Gefüge einer Corporation der Hochschule, d. h. der dort jeweils Gebietenden stehen. Entsprechendes finden wir in der Propagierung eines abstrakten Ehrbegriffs. Es soll nur noch e i n e Ehre geben, obgleich bei jeder Verantwortungsfrage die Ehrauffassung des Arztes, Anwalts, Handwerkers, Gelehrten usw. in Betracht gezogen werden muß.
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dem freien Pflichtmenschen fremd, akzidentell, sondern als ihm wesentlich gemäß, essentiell zu begreifen. So behauptete K a n t in seiner Rechtslehre sogar, daß es die Pflicht des Einzelnen sei, aus dem „ N a turzustand" in einen Zustand des positiven Rechts zu treten und darin zu beharren 4 . Auswirkungen dieser individualistischen Grundauffassung kann der Beobachter der rechtlichen Funktionen gegenüber den sozialen Verhältnissen feststellen. Etwa wenn er wie Georg Jellinek 5 i m Recht ein „ethisches M i n i m u m " sieht. Natürlich, gibt es einmal solche Zwangsverhältnisse wie beim Recht, so darf ja auch der Einzelne bei seinem eigenen pflichtgemäßen Verhalten diese Zwangsordnungen nicht ignorieren. Zumal sich ja alle — je nach dem Grad der soziologischen Geltung — daran orientieren und bei Regimewechsel und Propagierung anderer, neuer Ordnungsprinzipien heute schnell umorientieren. Solche ethisch-optimistische Wertung der Ansprüche der Machthaber gegenüber dem „noch in der Natürlichkeit versenkten Geist" 6 gleichsam als aufgegebene Vorstufe zu Höherem zeigt die Unsicherheit in der ÜberUnter-Nebenordnung an H a n d einer angeblichen Wertskala. Eine klare Entgegensetzung gegenüber dem „Personalistischen" in seiner doppelten Behauptung als „individualistisch" und „universalistisch" bot in der Vergangenheit die Rechtslehre Hegels, so daß sie der Relativismus leicht in sein Schema als „transpersonalistisch" einordnen kann. Freilich lassen sich Hegels Gedanken niemals w i r k l i d i von irgendeiner Wertphilosophie aus erfassen. Es geht Hegel ja um Entfaltung des Geistes i m Laufe einer die einzelnen Momente einbeziehenden Gedankenbewegung. Die Verkehrtheit des Ausgangs und der Orientierung an sog. Werten, des Versuchs, dabei an logisch-soziologischen Unterscheidungen wie dem Einzelnen, Individuum und dem Ganzen, Universale sozusagen Haken zu finden, woran man jene Werte befestigen könnte, w i r d einem schon gefühlsmäßig klar, wenn man sich einmal der stürmischen Begriffsjagd naiv überläßt. Wie groß dieses 4 Wodurch Kant schließlich, zunächst von den Ideen der großen Revolution begeistert, theoretisch zum Gegner jeder Revolution wurde. (Berichte seiner Tischgenossen über Kants Alter. Übrigens ein Beitrag zum Thema „Fragebogen" u. „Spruchkammer" bis Fichte, Schiller, Goethe, Wieland, Nietzsche.) 5 Allg. Staatslehre, System der subj. öfF. Redite. Vergleicht man jedoch die Geltungsansprüche die sich aus den rechtsdogmatischen Begriffen ergeben, mit ihrer soziologischen Geltung, so möchte man jenes Rechtliche eher als ethisches Maximum bezeichnen, wobei noch jeder Adressat Jurist sein müßte. 6 Beim Hegelianer Lasson!
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Unterfangen, die unendlichen Reiche der Begriffe aufzudecken, den einzelnen jeweils an seinem bedingten Platz, im Hintergrund der Drang, dem mit allem Einzelnen spielenden Logos als beschränkter Menschengeist zu seiner Erscheinung, menschenbedingter Offenbarung zu verhelfen! Wie beschränkt, einseitig erscheint gegenüber einer solchen I n tentio der Versuch solcher Zuordnungen von sidi absolut gebärdenden M o d i zu ihnen gleichrangigen Partikularitäten. Bei Hegel also haben w i r den Versuch, systemlogisch Entwicklungsstufen des Geistes auf zuweisen. Hierbei w i r d offenbar, daß dieser Geist auch das „transpersonal" genannte wie Institutionen in sich aufnehmen muß. Wenn man w i l l , kann man hier erste Ansätze zu dem späteren sich freilich auch absolut setzenden Institutionalismus sehen. Wesentlich aber ist, daß bei Hegel das Ziel rechtsphilosophisch das „konkreteste Recht" ist, im Gegensatz zu allen abstrakten und bloß formalen Formen. Bei Hegel also haben w i r wirklich das „ganz andere", das dem Verständnis relativistischer Wertphilosophie entzogen ist. Hegels Lehre dadurch charakterisieren zu wollen, daß man sie als transpersonalistisch bezeichnet, wäre so als wenn man das Christentum als nicht physiokratisch bezeichnete. Das ganz andere, insofern ein allerdings ganz bestimmt aufgefaßtes und sehr umstrittenes „Interesse des Begriffs" die philosophische Entwicklung der juristischen Begriffe bestimmt. Komisch, bei Hegel sich einen terminus ad quem etwa als Bildungsziel, als Höhepunkt der Entwicklung beim isolierten Einzelnen vorzustellen oder Entsprechendes bei einem K o l l e k t i v etwa einer Mustersiedlung! So erscheint bei Hegel auch die juristische Persönlichkeit: das Rechtssubjekt als herausgerissenes Atom, wie ja in der Tat die Hineinhebung des wirklichen Menschen in ein so oder so konstituiertes Rechtssystem als „Träger von Rechten" nur eine Zuordnung zum Zweck der Feststellung wirklicher Verbindlichkeit sein kann. Niemals aber ein entscheidender begrifflicher Ansatz für die „Erfassung" des Menschen. Das waren für Hegel alles Abstraktionsversuche mit ihren vorstechenden negativen Momenten. Interessant hierbei sein Vergleich mit den „weisen" Weltanschauungen des späten Griechentums, dem Stoizismus und der entsprechenden Enthaltsamkeit. H i e r fühlt man, daß es auch eine begriffliche Askese geben kann, bei der das wirklich Lebendige verhungert. Auch der Römer hat so das Wirkliche „zerdrückt"! Entscheidende Tendenzen zum Konkreten des sozialen Lebens finden w i r bei Verschiedenen, ζ. B. bei Fichte, Lagarde. H i e r auch Ansätze für die späteren soziologischen Rechtslehren. Schließlich wäre Tönnies zu nennen. Es ist aber nicht ein-
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fach, sich klar zu machen, daß etwa i m römischen Recht, wogegen sich Hegels Gedanken richteten, schon starke Ansätze gerade zur konkreten Rechtserfassung der Universalen liegen: denken w i r etwa an so etwas wie die hereditas jacens, oder an Normaleres, wie die Familie, den Staat mit seinem civis, die Eigenschaft als Rechtssubjekt gegenüber der res. Daß aber andererseits schon typische Begriffsinteressen wirksam werden, die Tönnies den „gesellschaftlichen" i m Unterschied zu seinen „gemeinschaftlichen" zuordnet. A u f dem Gebiet des Strafrechts muß jede Orientierung an angeblichen Wertsubstraten personalistischer A r t bei dem Individuum und der Gemeinschaft zu relativen Auffassungen führen, die den begrifflichen Anforderungen, wie K a n t und Hegel sie verstanden, zuwiderlaufen. — Eine Sonderstellung in dieser Zeit nimmt, wie w i r wissen, die Lehre Hermann Cohens ein. I n dem Suchen nach einem „Factum der Wissenschaft", woran man die transzendentale Methode erproben könne, fand er die Rechtswissenschaft als Basis für die Ethik. Für diesen Bereich sog. praktischer Philosophie sah er somit die Jurisprudenz in gleicher Rolle wie für die theoretische, die Mathematik und exakte Naturwissenschaft. M a n könnte fragen, weshalb nicht die Historie, deren große Leistungen zu jener Zeit doch bereits Bewunderung gefunden hatten? Aber es waren die charakteristischen Begriffsbildungen in einem einheitlichen sozusagen statisch gedachten Zustand, das Teleologische i n mannigfachen Gestalten, systematisch, einander zugeordnet, i n funktionellem Zusammenhang, die wohl Cohen anzogen. Persönlich mag vielleicht auch eine an der Theologie gewonnene Sympathie des stark religiös Interessierten für die Entsprechungen in der Jurisprudenz mitgewirkt haben. V o m alttestamentarischen Rigorismus führt ja ein spürbarer Weg in beide dogmatische Bereiche: des religiösen und des juristischen! V o n irgendeiner Orientierung an angeblichen Werten, so wie man sie in säkularer Form vorzusetzen liebte, war begreiflicher Weise bei Cohen keine Rede. Auch sein „ W i l l e " — „ E t h i k des reinen Willens" — war Kantisch verstanden, kein psychologischer Begriff. Dafür aber um so enger, wegen seiner Orientierung am römischen Recht, m i t dem römischen Willensbegriff, dem des „Rechtsgeschäfts" verbunden. I n Uberspitzung könnte man sagen: das, was nach den obigen Äußerungen Hegel bei jenen Rechtsbegriffen abstieß, zog Hermann Cohen gerade an. So w i r d ihm i m Gegensatz vor allem zu Tönnies, gerade die K o n struktion der juristischen Person, in ihrer „ A l l h e i t " auf begrifflich-normativ höherer Stufe gegenüber dem wirklichen Menschen stehend, alles
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Natürliche an diesem i n sich aufhebend, überwindend, zum Prototyp der normativen Begriffsbildung, die Cohen als Ideal vorschwebte. Es ist bezeichnend, daß diese hohe Wertschätzung der juristischen Gebilde und Theorien für die praktische Philosophie noch i n der Zeit vor dem Wertrelativismus fiel, dessen populäre Verständlichkeit jene bedeutenden Bemühungen schnell in Vergessenheit brachte. Wissenschaftssoziologisch interessant, daß sich jedenfalls weder dieRechtsphilosophie noch die Jurisprudenz für das Wagnis dankbar erwiesen, das seinerzeit Cohen mit dem A p p e l l an die juristische Basis unternahm. Ganz wenige, etwa M a x Salomon ausgenommen. Vielleicht war es tatsächlich die neue H i n wendung an so etwas wie die Lebensfülle, an den élan vital, die in dem begrifflich-normativen Streben nach „Reinheit", der unromantischen Trennung von allen sinnlichen Momenten eine unerträgliche Askese empfand. Geradezu eine Vergöttlichung der juristischen Gestalten, wobei der wirkliche Mensch dadurch von seinem Eigensinn erlöst wird, daß er sich für das Rechtssubjektive opfert! Nicht mehr naiv, nicht durch innere religiöse Überzeugungen, völkische-nationale „Selbstverständlichkeiten", berufsständische Bedingtheiten, sondern „sentimentalisch", reflektiert, bewußt Lehren, Ideologien übernehmend, zeigt sich von nun an die Rechtswissenschaft. Es muß nun alles so etwas wie seinen spezifischen Logos haben. Die „akademische" Situation, welche die Erlangung von Lehrstühlen gern an die Zugehörigkeit zu „Schulen" knüpft, fordert insofern auch „weltanschauliche" Verständlichkeit. M a n denke an M a x Webers Untersuchungen über „verstehende Soziologie" und wende sie wissenschaftssoziologisch auf die Situation i n Berufungskommissionen an! — M a n möchte simpel wissen, wohin einer geisteswissenschaftlich gehört. Das heißt: Die Zeit der kulturphilosophischen Spekulation, wo man glaubte, i n dem Begriff „ K u l t u r " etwas entscheidend und selbständig wertspendendes zu besitzen, erfaßte nun die Rechtswissenschaft primär als Kulturwissenschaft und sah damit auch i n ihren Vertretern i n erster Linie solche, der von jener als „möglich" entwickelten „Richtungen". M a n suchte überall nach „Kulturbedeutsamkeiten". U m die hier bei der Jurisprudenz vorhandenen Möglichkeiten einzusehen, sollen einzelne Momente bei der Rechtswissenschaft ins Gedächtnis gerufen werden. D a man gern von Momenten spricht, jedoch nie versucht zu sagen, was Moment bedeuten soll, darüber kurz Folgendes: es geht bei diesem W o r t gewiß nicht um rein Logisches, etwa um Merkmale, dafür um etwas, was wissenssoziologisch, also unter pragmatischem Gesichtspunkt „aktuell"
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wird, „hervorstechend beachtlich", insofern merkwürdig, was sich aber audi von dem Gesamtphänomen nicht loslösen läßt, ohne daß dieses an Gehalt einbüßte. Bei unserem Thema Rechtswissenschaft fordert Folgendes Beachtung und hat auch zu verschiedenen Zeiten eine freilich ganz verschiedenartige Beachtung gefunden. Zunächst ist da das Logische. M a n weiß, daß in der Rechtswissenschaft logische Köpfe auf ihre Rechnung kommen. Die Verwandtschaft in dieser Hinsicht m i t der Mathematik ist nicht ohne Grund betont worden. N u n ist das Logische überall, wo es auf Urteile und Begriffe ankommt, kurz bei jedem Denkakt, auch wenn es gar nicht um Wissenschaftliches geht, als bestimmender Faktor unentbehrlich. Wenn es auch nur für gewisse wissenschaftliche Arbeiten, jedenfalls aber immer bei philosophischen nötig ist, sich der Verantwortung gegenüber dem Logischen auch theoretisch bewußt zu sein. Sog. Anschauungswissenschaften, wo man i n abgestechten Bereichen Proben aufs Exempel erleben kann und andere, wo die Ergebnisse eben nur hingenommen werden können, wenn man die Kette des Beweis- und Begründungsverfahrens einbezieht, unterscheiden sich also durch die A r t , wie die wissenschaftliche Gedankenentwicklung logisch erhellt werden muß. Die Frage, ob ein rechtsdogmatisches Denken „richtig" ist, hat nun gewiß in diesem Sinne prävalierend logische Gründe. Es gibt bei ihm kein „aha", keine verblüffende Lösung, wo auf etwas Außerjuristisches als Knalleffekt verwiesen werden könnte, auch nicht auf die Resonanz beim Publikum, in der Presse, daß es zu keinem Aufstand gegenüber den Auffassungen komme usw. Das mag alles wichtig sein, gehört aber dann zu dem Gegenstand, der Aufgabe, um deren logische Bewältigung es geht. O b eine rechtsdogmatische Lehre richtig ist, läßt sich nicht einfach so dartun, daß man triumphierend auf eine Tatsache verwiese: seht, wie sich unsere zu analysierende Substanz in Salzsäure auflöst. Die Rechtswissenschaft legt nun dazu noch ihre Ergebnisse in einer systematischen Form vor, die an die „Schnitte" erinnert, welche der Präparator an Geweben vornimmt. Es w i r d alles i n einer Dimension ausgebreitet und das Vorgelegte ist dabei ein durch mannigfache logische Beziehungen miteinander Verknüpftes. Nennen w i r ein derartiges rechtsdogmatisches Produkt euphemistisch ein Gefüge „objektiven Geistes", insofern es ja auffällig logische Momente an sich trägt (was andere m i t jenem Namen belegte Produkte von noch so genialer Herkunft, etwa Kunstwerke, gewiß nicht i n dieser Weise bemerkenswert macht), so dürfen w i r auch den Vorgang, der m i t H i l f e logischer Erwägung zu jenem gelangt ist,
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„subjektiven Geist" nennen. Wobei i n beiden Fällen nicht auf „Geist" als tragende und erzeugende, idealistische Substanz hingewiesen werden soll, sondern auf das Logische, das bei beiden merkbar beteiligt ist. Die logische Struktur, das systematische Gepräge in dem Stück „objektiven Geistes" genannt Dogmatik irgendeines Rechtsgebiets und das entsprechende Bemühen des „subjektiven Geistes" jene zu vervollkommnen, stammen natürlich von dem durchaus nicht selbstverständlichen, sondern zeitbedingten Ehrgeiz, sich wissenschaftlich zu verhalten. Dadurch ist heute alles Logische auf den Plan gerufen. Der Wissenschafter hat ein ganzes „imaginäres Museum" an logischen Mustern vor Augen: reichend etwa von Benno Erdmann bis Carnap und Scholz. N i m m t er die „wissenschaftlichen Denkmethoden" (Bochensky) hinzu, so vermehren sich die Möglichkeiten logischer Reditfertigung der dogmatischen Gebilde· Gehen w i r von da zur dogmatischen Rechtswissensdiaft als Leistung und Unternehmung von Menschen über, die durch gemeinsame Ziele miteinander verbunden sind, so verschiebt sich der Gesichtspunkt: Jetzt gilt das Interesse dem Sinne des Bestrebens als eines charakteristischen Unterfangens, also eines wissens- oder vielleicht besser kultursoziologischen Unternehmens. W o z u das alles und weshalb so und nicht anders? Die dogmatische Rechtswissenschaft befindet sich, so gesehen, i m Dienste sinnvoller Ziele. Sie ist einbezogen in den Zusammenhang, worin w i r populär Machthaber und Untertanen unterscheiden, worin jedoch, wie w i r wissen, beides nur „verständige" Trennungen zur begrifflichen Klärung von etwas bedeuten, das als Phänomen zusammengehört, so daß das eine das andere mitbedingt. So dient die dogmatische Rechtswissenschaft jedenfalls nicht nur denjenigen, die sie allein verstehen, die ihre Vokabeln gelernt haben, den Juristen, sondern auch den „Machthabern", den Auktoren der Gesetze oder Wahrern der Gewohnheiten. D a aber auch die Juristen als unmittelbare Adressaten der dogmatischen Rechtswissenschaft nichts für sich bedeuten, sondern ihre Funktion behaupten: als Richter, Anwälte, Prokuratoren, Syndici, Beamte aller möglichen A r t , tauchen dazu alle übrigen auf, die m i t dem Recht zu tun haben können: die nichtjuristischen Staatsbürger, für die die Juristen die Mittlerrolle haben. Alles mehrfach ineinander verwoben. Bei der Frage nach dem Zweck: so etwas wie eine Schlange, die sich i n den Schwanz beißt. Sie benötigen alle einander. Aber nur so gestellt, w i r d die Frage verständlich, ob zur Befriedigung der so viel-
Weitere Aspekte gestaltigen Wünsche gerade so etwas wie unsere wissenschaftliche Dogmatik erforderlich ist? S o v i e l l o g i s c h e A n s t r e n g u n g
à la
mode humanistischer Wissenschaft? W o es sich doch wegen der notwendigen Abhängigkeit von einer Situation,
in der es die
relativ
höchste soziologische Geltung angemaßter Richtschnuren, also auch w i l l kürlicher Anordnungen gibt, bei deren begrifflicher Verarbeitung ad usum um etwas jedenfalls zunächst der Ausgestaltung, dem Ausbau einer Ideologie
sehr ähnliches handelt. Sobald man jene logischen
Bemühungen, jene „Anstrengungen des Begriffs"
nicht mehr isoliert
sieht, sondern „angebrachtermaßen" als Bemühen von Menschen, die für andere Hilfsmittel, hier theoretischer, begrifflicher
Art
nämlich
„rechtswissenschaftliche" bereitstellen wollen, taucht die pragmatische Frage auf, nach dem „ N u t z e n und Nachteil" der üblichen rechtsdogmatischen Begriffsarbeit. Es handelt sich ja bei dem Unternehmen nicht um etwas, was wie Grundlagenforschung oder philosophische Hingabe an die Ideen „ u m des Segens W i l l e n " geschieht, sondern — soziologisch gesehen — „ u m des Nutzens Willen". W i r befinden uns bei dieser Fragestellung i m zweiten teleologischen Bereich, wo Logonomes mit Heteronomem die Synthese eines Heretologen erreichen soll. W o
An-
maßungen sehr irdischer A r t für entsprechende Adressaten zu Sinnvollem werden sollen. Geht man nun zum Gegenstand der Rechtswissenschaft über, so enthält er, soweit er soziologisch ist, in der „Unterlage": woher die heteronomen Richtschnuren kommen und in dem „Gegenstand": dem was sie zu richten suchen, als Material: Soziologische Aprioritäten als kategoriale Formen und Empirisch-Soziologisches als durch jene Formen begrifflich „Ermöglichtes", den „aposteriorischen Stoff". Obgleich nun jene Aprioritäten wie die, welche die Grundlagenkrise der Mathematik herbeigeführt haben, also die prinzipiellen Ansätze und Ableitungen auf geometrischem oder mengentheoretischem Gebiet einen geradezu musterhaften Stoff für Grundlagenforschung auf geisteswissenschaftlichem Gebiet bilden, dazu die bleibenden Koordinaten i m Wechsel der positiven Richtschnuren, wenn man w i l l , also dasjenige, was hier wissenschaftliche Begriffsbildung erst möglich macht, versagt nun bei diesem, wirklich nur durch äußerste logische Hingabe zu erschließenden Gegenstand, der soziologischen Basis jedes Rechtssystems als Systems, die Dogmatik ganz! Sie sieht gar nicht, das ihre wissenschaftlichen Ergebnisse, soweit sie nicht durch Gesetze überholbar sind,
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Ret
und Rechtswissenschaft
i m Begrifflichen der Erhellung jener soziologischen Aprioritäten dienten und spricht ihre bedeutenden wissenschaftlichen Funde als juristische an, womit sie sie tiefer stellt. — Das empirisch Soziologische, bei allen Praktikern stets i m Vordergrund, bedeutet dagegen so etwas wie die ganze Situation soziologisch aufgefaßt! H i e r hängt alles funktionell zusammen, gibt es unübersehbare Ursachen und Wirkungen und sog. Interdependenzen. H i e r ist immer nur der jeweils aktuelle oder jedenfalls als solcher zu erwartende Stoff m i t H i l f e jener apriorisch soziologischer Begriffe empirisch zu beschreiben. Die Dogmatik hat aber auch die Aufgabe, wirklich Maßgebliches, aus Kundgebungen der soziologisch i n einer Gewaltsituation als höchste Geltenden festzustellen. Eine wahre metabasis eis allo genos! H i e r tauchen, wie w i r wissen, als Voraussetzungen die Begriffe der ersten teleologischen Sphäre (Richtigkeitslehre) auf; sodann die Konstitutionsaufgaben, um die historische Situation verbindlich zu deuten, damit die Religions- und teleologische Geschichtsphilosophie, die Aufgaben der Konkretisierung bis zu den Belangen — nun von all denen, die die Juristen als M i t t l e r anrufen, um ihr Recht nicht als Heteronomes, als Ausdruck von Gesetzen, sondern als Heterologes, als sie verbindlich angehendes zu erfahren, immer i n Form eines „Falls", hic et nunc präsentiert. Dazu w i r f t das Verstehensproblem gegenüber dem soziologischen Sinn die nur situationsgemäß lösbaren Fragen nach der A r t des Ausdrucks, der natürlichen Sprache, Fachsprache, künstlichen Sprache, gerade also der rechtsdogmatischen Form auf. Bei diesem Verstehensproblem handelt es sich i m wesentlichen um Machtausdruck und mögliche Wirksamkeit. Dazu kommt, daß sich die Rechtswissenschaft zunehmend als Wissenschaft unter den anderen zu bestätigen hatte. Keine saubere Trennung der dogmatischen Bestandteile, wie bei der Theologie, ermöglichte hier so etwas wie eine entsprechende Unterscheidung von Wissens- oder Gedankenmassen. Die Bezeichnung „dogmatisch" stand hier für das Ganze, aber ebenso der Anspruch Wissenschaft zu sein. So mußte auch die Forderung nach gleichwertigem wissenschaftlichem Rang zu Recht bestehen, was eine wissenssoziologische Gleichschaltung zur Folge hatte. Hierbei blieb es den dogmatischen Juristen unklar, ob es sich bei ihrem Gegenstand mehr um Rationales oder mehr um Erfahrbares handele, wie ja eben das Gesetz i n seinem hic et nunc dem „zufälligen" Befund der Sinneserfahrung der Bewohner unseres Planeten als kontingenter Bedingung ähnlich schien. V o n dem berühmten Unterschied von Idiographischem und Nomothetischem ganz ab-
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gesehen. Auch hier blieb menschlicher Anspruch nach soziologischer Geltung als Unternehmen gegenüber seiner tieferen Bedeutung, also gegenüber dem philosophischen Geltungsanspruch i m Sinne teleologischer Geschichtsphilosophie situationsbedingt. Aus all den hier in Erinnerung gerufenen „Momenten" läßt sich nun Eines jeweils besonders betonen. Das kann sich einfach aus der Genesis, der immaculata conceptio und Entwicklung der Jurisprudenz i n naiveren Zeiten erklären, wohin bereits der prätentiöse Name als Prudenz verweist. Das Interesse einer
aus dem K o l l e k t i v
kommenden
und
schlicht aufgenommenen U m w e l t leitet so zu einer entsprechenden Merkund Wirkungswelt. Perspektive, die A r t zu schauen, festzustellen und zu tradieren, ist dann a priori i m Sinne der nichtphilosophischen Bedeutung als des von vornherein Vorhandenen, der Aufnahmestation, die entsprechend empfängt und registriert: Zeitstil, völkische Voraussetzungen, berufstypische Auffassungsweisen u. dgl. Es kann diese Betonung gewisser Seiten aber auch die Folge einer Absicht, einer ganz bewußten Ausrichtung sein, wobei sich eben die Intentio auf „richtige" Einstellung i n einer Situation bezieht. Es ist bekannt, daß Perikles so in der A n t i k e das gesamte Interesse der Griechen i n gewisse, nicht nur geistige H a l t u n g zu lenken suchte7. So pflegt man antithetisch je nachdem entweder die Gesamtheiten oder mehr ihre Elemente, mehr die Gebilde oder mehr die sie bildenden hervorzuheben. A l l e solche Akzente aber wirken real weiter, direkt oder enantiodromatisch. Aus Perspektiven, Akzentuierungen werden dann leicht Hypostasen, Verabsolutierungen. So w i r d auch eine rechtssoziologische Betrachtung zusammen mit der wissenssoziologischen in der Geschichte der Rechtswissenschaft Einseitigkeiten feststellen, entsprechend denen beim Gesetzgeber, beim „Gebildeten" (der sich lange Zeit auch wissenschaftlich vorkommen wollte) und beim V o l k . Einseitigkeiten, bei denen die Frage, ob sie „angebrachtermaßen" i n ihrer Zeit richtig waren, ebenso müßig ist wie die nach dem wirklich maßgeblichen: also der Rechtsnorm, gegenüber den Bestimmungen des ehemaligen „Sklavenrechts". Es geht hier nicht um rechtsdogmatische Auslegung, sondern um historische Rechts- und Wissenssoziologie, die nur feststellen kann, was und wie etwas geschah, ohne nach dessen damals verbindlichem Sinn zu fragen. 7
Das bringt Hermann Bahr's Dialog vom Marsyas meisterhaft zur Anschauung.
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Wenn man den üblichen Begriff Kulturwissenschaft beibehält, so zeigt sich sogleich ein wesentlicher Unterschied der rechtswissenschaftlichen Arbeit darin, daß sie teils mehr historisch, teils mehr logisch-systematisch intendiert ist. Die geschichtliche Betrachtung sucht Realitäten, die sie zunächst hinzunehmen scheint, in Wirklichkeit jedoch in dem historischen Erkenntnisprozeß schöpferisch verarbeitet. H i e r finden w i r die Vorgänge i n ihrem zeitlichen Verlauf, ihre Zustände, Vorstufen, Entwicklungen: vorher, gleichzeitig, nachher und in den wechselnden W i r kungsformen als ursächlich bewirkt, als wechselnde Ursachen, als sich wechselseitig Bewirkendes („Interdependenz"), unter bestimmten Gesichtspunkten erfaßt. Sie werden dabei als unauslöschbare Individualitäten beschrieben, jeweils aus den unübersehbaren Zusammenhängen der Wirklichkeit herausgehoben, um so eine „Bedeutsamkeit" erkennen zu lassen. W i r verdanken der Windelband-Rickertschen Bemühung um die Erhellung der Umstände, unter denen Geschichte als historia rerum gestarum möglich ist, daß w i r jetzt den Unterschied dieser „historischen" Arbeitsweise gegenüber der „naturwissenschaftlichen" kennen. Wissen freilich auch, daß man bei einer kritischen Prüfung des ganzen Unternehmens, dessen Sinn ja bei der Ermittlung seiner faktischen Voraussetzungen einfach unterstellt wurde, wieso etwas dabei als bedeutsam herauskommen könne, weit über das bloß Erkenntnistheoretische hinauskommen müßte! V o n gewissen Tiefenlagen aus werden eben mancherlei Bemühungen uninteressant. M a n denke etwa an die Gleichgültigkeit des Buddhisten selbst gegenüber dem Lebenslauf seines Shakyamuni, der physischen Existenz des Individuums Gautama. Gegenüber jener historischen rechtswissenschaftlichen Arbeitsweise nimmt nun die rechtsdogmatische, welche w i r als logisch-systematische unscharf bezeichnen können, das jeweils historisch gewordene mehr als Einheit und stellt i n ihm — flächig — zunächst logisch-ontische Strukturmomente fest. Weil nun nomothetisches als Ziel der juristischen Dogmatik vorschwebte, glaubte man eine enge Beziehung zur Naturwissenschaft zu sehen. So hat auch zunächst der uralte Gesetzesbegriff m i t seiner einheitlichen Auffassung der gefundenen Gesetze i n der N a t u r und der gesetzten beim Menschen zu verkehrten Identifizierungen i m Erkenntnistheoretischen geführt. Aber die Verschiedenheit der rechtshistorischen Betrachtung und der rechtsdogmatischen Arbeitsweise ist bereits seit langem erkannt. Sie scheint uns größer als die zwischen jener und der naturwissenschaftlichen Forschung, insofern ja diese unmittelbar nur Theorien zur Verfügung stellt, deren Verwendung und Nutzbar-
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machung sie der Technik überläßt 8 , während die juristische Dogmatik in ihren Ergebnissen: den dogmatischen Begriffen, gesetzmäßige Zusammenhänge nicht von Phänomenen, von Seiendem, nur Vorgefundenem vorlegt, sondern von Beachtlichem, erst zu Geschehendem, A u f gegebenem. Mag das Teleologische als Bedingung für das Zustandekommen der Theorien i m Historischen und i m Naturwissenschaftlichen eine noch so große Rolle spielen, ein Ziel, wie bei der juristischen Dogmatik, ist es bei ihnen nicht. N u r hier und in der religiösen Dogmatik ist die Theorie zugleich Ausdruck einer Verbindlichkeit. Bei all dem hat nun die vorwissenschaflliche A r t des Menschen in unvordenklicher Zeit den Anschauungsstoff bereitgestellt, an dem die eigentlich wissenschaftliche Arbeit ansetzt. Die naiv angewandten Begriffe werden konstatiert, beschrieben, geprüft, fixiert, ihr Inhalt auf seine Notwendigkeit und Richtigkeit hin untersucht. Es geschieht ohne Ruck; allmählich bildet sich so etwas wie ein „juristisches Bewußtsein überhaupt", um einen Begriff Cohens auf etwas ganz anderes anzuwenden, heraus, eine „persona" i m Wissenschaftlichen, die nun zunehmend ihrer selbst und ihrer Zuständigkeit als kritischer Instanz bewußt wird. Die Arbeit von Jahrtausenden zusammengefaßt, kann es jetzt heißen: das vorwissenschaftliche Material w i r d unter dem systematischen Gesichtspunkt gesichtet, d. h. dem der Notwendigkeit, Richtigkeit und Tragweite der Bedeutungszusammenhänge. I n der beim Systembedürfnis stets i m Hintergrund stehenden Vorstellung axiomatischer Möglichkeit, der Bewältigung des Stoffs aus einem M i n i m u m von Begriffen heraus, spiegelt sich das sog. ökonomische Prinzip, das gegenüber dem vorgegebenen noch untergeordneten, lediglich beschriebenen, Präzisionen, „Erklärungen" begrifflicher A r t fordert. Die Genesis der Systeme aus dem vorwissenschaftlichen Zustand kann hier nur als Aufgabe angedeutet werden, wie auch daß es daher noch wünschenswertes und nicht mehr wünschenswertes als unverarbeiteten Fremdkörper i m Inhalt der modernen Dogmatik geben mag. Der oft erwähnte Streit um das sog. Wesen der juristischen Person läßt einen guten Einblick i n solchen Urväterhausrat tun. A m Anfang stehen keine methodologischen Erwägungen, die eine philosophische Besinnung auf den Gegenstand und die Weise seiner Erfassung nötig machten. Jedoch 8
Daß heute eine wechselseitige Abhängigkeit der „reinen" Forschung, der Technik der Apparatur und der Aufgaben stellenden und sie finanziell ermöglichenden Industrie besteht, ändert an den grundsätzlich verschiedenen Funktionen nichts. Emge
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eine bewußte Erweiterung des „Felds", das man so sicher wie möglich abzustecken sucht. Gegenüber dem Vorwissenschaftlichen befindet sich der Geist der Jurisprudenz gleichsam mitten i n einem Strom, der aus zunächst unbekannten, verschiedenartigen Quellen und Nebenflüssen mannigfaches Wasser heranträgt, das nun immer mehr geklärt, „gradlinig", „gleichförmig" ruhig weitergeleitet werden kann. Es gibt nun für die Jurisprudenz nichts, das der erfassende Geist nicht als Objekt seiner Begriffe, als rechtstheoretisch extra commercium ansehen dürfte. Die ganze Wirklichkeit scheint seinem Zugriff offen. Denken w i r an das schreckliche W o r t von der „Weltanschauung der Jurisprudenz". Aber es gibt auch nichts in der Wirklichkeit, wo auch immer unser Denker steht, wo er nicht bereits beim ersten Ansatz i m Material menschliche Wirksamkeit überhaupt, sicher aber auch aus sprachlichen Gründen Befangenheit i n früheren menschlichen Bildungen, wesentlich menschliche Vorstellungen, Bevorzugungen usw. vorfände. Bei typisch menschlichen Erzeugnissen wie den Staaten und Gesetzen, der K u l t u r , Zivilisation, i m Wissenschaftsbetrieb ist in dem Vorliegenden also „nichts menschliches fremd". Gesamtmenschliches hat die Objekte geschaffen, die geprägt, die man, euphemistisch und idealistisch, als Gebilde objektiven Geistes, als Erzeugnisse des Logos anspricht. Beim Recht ist also das Soziale seit allen Anfängen in realer Form vorhanden. Es ist nie ohne begriffliche, wenn auch vorwissenschaftliche Arbeit entstanden und immer weiter Gegenstand solcher bewußten oder unbewußten Anstrengungen geblieben. M a n glaubte aus den vorgefundenen Fakten immer wieder echt Verbindliches entnehmen zu sollen, auch für die A r t , wie man den Organen den Stoff zu ihrem nützlichen Gebrauch übermittelte. Wenn es soziologisch eine „normative", jedenfalls aber auch „permittive", besser beides umspannend „direktive" Kraft des Faktischen" gibt, dann m i t höchstem Geltungsmodus i n Zeiten, wo Sitte und Brauch alles geben, was der Mensch für nötig hält. Verfahrensweisen, die der natürlichen vorwissenschaftlichen Begriffsbildung ihren Erfolg sichern, sich später aus der participation mystique entwickelnd, psychologisch verstandene Induktion und Abstraktion haften begreiflicherweise auch noch Bestrebungen an, die sich eine ganz andere Sicherung des begrifflichen Materials zum Ziele gesetzt haben. W i r erleben ja noch heute die Tendenzen des juristischen Positivismus zu einer allgemeinen Rechtslehre und des soziologischen Positivismus zu einem „ a l l gemeinen T e i l " der sozialen Erscheinungen. Nichts scheint schwieriger zu sein, als die Verwendung des von der Genesis gebotenen Materials
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unter radikal systematischer Schau: nach der Tragweite, Rangordnung, logischen Dignität oder Gewichtigkeit. Meist bleibt hier aus der Genesis „ein Erdenrest zu tragen peinlich". Eine zweite Geburt anstatt durch den Glauben durch strenge Begriffszucht, erforderte so etwas wie jene Staroperation, von der Schopenhauer bei Kants Kritizismus spricht. Es gibt nun niemals n u r rechtliche Erscheinungen. Je mehr einzelwissenschaftliche Gesichtspunkte, anders ausgedrückt Grundkategorien, um so mehr Zusammenhänge von Begriffen in früher unentdeckten Reihen, je mehr Koordinatennetze, woran sich das mit einem Namen bezeichnete und als Wortbedeutung Gewußte bestimmen ließe. Die Idee aller derartig möglichen Netze und das i n ihnen Eingefangene ergäbe ja erst den vollkommenen Begriff der fraglichen Realität. M a n erkennt hier den Begriff des regulativen Prinzips i m Sinne von Kants „Idee" wieder. Das Wirkliche sitzt so — gedanklich — i m Schnittpunkt homogener Flächen, die aus Gründen der geradlinigen Gedankenbewegung gebildet werden mußten. I m Laufe der letzten Jahrzehnte sind zwei Betrachtungsweisen gegenüber dem Rechtsstoff in den Vordergrund getreten, die jedoch beide nur für die Rechtsdogmatik ein Problem bilden: die juristische und die soziologische. Bei jener geht es um die Erfassung rechtlicher Normen, bei dieser um die der sozialen Vorgänge, natürlich auch der dazugehörigen Institutionen. Es war das Verdienst Georg Jellineks, sogleich eine Trennung der beiden Methoden gefordert zu haben. Auch andere, wie Kistiakowski und H o l d v. Ferneck 9 , erkannten diese Notwendigkeit an. Vorher konnte dieser sog. Dualismus noch gar nicht bewußt werden, weil die Soziologie als selbständige Wissenschaft ja erst i m Werden war. Wenn man das Recht nicht i m Sinne des abgelehnten Naturrechts als einen Zusammenhang unmittelbar angehender, also inhaltsvoller logonomer Wesenheiten ansieht, etwa als Gedanken Gottes im Sinne Augustins 1 0 , so muß einer der beiden entscheidenden Rechtsgründe beim Recht in dem liegen, was man als verstehbaren Gehalt von Fakten, Gesetzen, Sittentreue verlangenden Forderungen aus Gruppen, kurz: heteronomen Anmaßungen bezeichnet. I n dieser Ebene sozialer Wirklichkeit hat man dann auch die Realität der Verpflichtungsverhält9
Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen, 1899; Hold v. Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, 1905. 10
Gott bestimmt unmittelbar, der Richtigkeit nach, verstehbar, was wir sollen. Also nicht „decisionistisch", im Sinne einer hebräischen Lehre verstanden. 12·
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nisse, derjenigen, die als „Organe" wirken, die „Gültigkeit i m Leben", die Auffassungen und wissenschaftlichen Lehren über das Redit, die Geschäfte und Beziehungsformen zu suchen. Insofern kommt auch die dogmatische Rechtswissenschaft nie um die Erfassung des faktisch Soziologischen herum. I n der Gewaltkonstellation, und dem aus ihr real, erfahrbar Entspringenden und Intendierten steckt das soziologische M i n i m u m bei der Rechtsdogmatik. Andererseits zielt, wie w i r wissen, die rechtsdogmatische Forschung auf das Maßgebliche, wirklich Verpflichtende — der Akzent liegt hier auf „Verpflichtend" und nicht auf „ w i r k l i c h " — das Heterologe. Sein Gegenstand normiert begriffsnotwendig, und prätendiert nicht nur! I n sofern ist also die Verschiedenheit des Soziologischen und des Juristischen bereits sichtbar. Auch wenn man nicht, wie w i r es tun, die soziologischen Aprioritäten einbezieht, welche beide Wissenschaften, sowohl die soziologischen Tatsachenwissenschaften (daher auch Rechtssoziologie), als auch die empirische Disziplin und juristische Dogmatik eines positiven Rechts benötigen! N u r die rechtsgeschichtliche Disziplin ist auf die Ergebnisse der rechtssoziologischen aufgebaut, da es sich bei ihr ja um die Beschreibung und das Verständnis realer Vorgänge und Dinge i m historischen Verlauf handelt. Auch für die dogmatische Rechtswissenschaft gibt es also reale Faktoren, wie könnte sie sonst eine solche des positiven Rechts sein! Aber als „belangvolle" i m heterologen Sinn. Was bedeutet, daß es der Sinn dieses Belangvollen sei, sich auf jene Fakten zu gründen und wieder solche Fakten zu begründen, denn es kann ja begriffsnotwendig kein unverbindliches Recht geben. M a n könnte i n Anwendung einer Ausdrucksweise von Lask sagen, daß das Faktische bei der Rechtsdogmatik „ i m Verbindlichkeitssinn", ethisch umgolten sei. Für die dogmatische Rechtswissenschaft gilt es also zuerst zu beachten, was η u r ist und erst dann die aus jenem „ i s t " gewonnene Bedeutung für etwas, was werden soll 1 1 . I m Sinne der Kulturwissenschaft ist das Recht als eine soziologische Erscheinung etwas Wirkliches, i m Sinne der Soziologen Soziologisches am Wirklichen, was sich jedoch niemals von allen anderen Momenten des Wirklichen trennen läßt, sondern nur bewußt begrifflich isolieren. Der Geist hat hier weitgehend ein liberum arbitrium, so daß man auf den Streit über eine besondere Kultursoziologie nicht einzugehen 11
Vgl. unsere „Aufgabe und Wesen der Rechtssoziologie" im Handbuch für Sozialkunde, Duncker u. Humblot, 1952.
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braucht. I m Sinne der Rechtsdogmatik ist das Redit, so wie sie es verstehen muß, darüber hinaus noch etwas mehr. Aber doch nur was vom wirklichen Menschen als maßgeblich beachtet werden soll, nicht nur wie eine Sollensanmaßung als Faktum in einer Theorie richtig beschrieben! Von „Menschen von Fleisch und B l u t " , in ihrer historischen Situation stehend und sie als wirkliche Wesen mit ausmachend. Von ihnen so beachtet, daß sie aus ihrer Lage und stets in ihr bleibend den richtigen „nächsten Schritt" tun können, der eine Bezugnahme auf jene Fakten ermöglicht: Weil das nun einmal bestimmt ist, aber nicht nur weil das so bestimmt ist! Ein Mathematiker w i r d wohl sagen, daß das als nächster Schritt Aufgegebene, logisch gesehen, als Differentiale über dem factum brutum liegen müsse. I n der A r t beider Betrachtungsweisen liegt es wohl, daß man das Rechtssoziologische, das doch auch nur, von der Fülle des Wirklichen aus gesehen, das soziologisch-kategorial Bedingte an der realen Welt begreift, für weniger „abstrakt" hält als das Rechtsdogmatische. Dabei ist dieses, logisch gesehen, an Begriffsfülle reicher! Aber grade die N o t wendigkeit eigentümliche Begriffe zu bilden, worin das Faktische der Rechtssoziologie m i t H i l f e überfaktischer Rechtsgründe so verarbeitet wird, daß sich daraus pragmatische Anweisungen fürs Verbindliche ergeben — so wie der Physiker Fallgesetze formuliert, damit sich experimentieren und dann ins Wirkliche eingreifen läßt —, ist die Ursache dafür, daß das rechtsdogmatische Denken, die „juristische Konstruktion" gewöhnlich den Laien befremdet. Allerdings fängt dieses als fiktiv empfundene bereits i m Soziologischen dort an, wo der Inhalt von Anweisungen in der A r t der Behandlung gegenüber dem realen Vorgang Abweichungen enthält: etwa ein Versprechen unter Umständen zu ignorieren, oder seinen Inhalt zu erweitern oder grade da eines anzunehmen, wo es gar keins gab. Auch die Schwierigkeit, einem Laien den Unterschied von obligatorischem Geschäft und einer — dinglichen — Verfügung klar zu machen, gründet sich schon auf die soziologischen Begriffsunterschiede und noch nicht auf's Belangvolle i m Sinne des Rechtsdogmatischen. „ A b s t r a k t " ist freilich eine unglückliche Bezeichnung; wie sie hier gebraucht wird, so etwas wie ein „gesunkenes K u l t u r g u t " , aus einer längst überholten Psychologie stammend. M i t dem W o r t soll das Befremdende, Unheimliche ausgedrückt werden, das den Laien befällt, wenn er die naiv aufgefaßten Vorgänge gleichsam mit einem Gespinst undurchsichtiger Begriffe belegt fühlt, so daß er jene nicht wieder erkennt. Was ja auch nie der Fall sein kann. Ein die
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soziologische Geltung des Rechts betreffendes sehr wichtiges rechtspsychologisches Problem seit dem Bestehen eines selbständigen Juristenstands, das trotz des Bauernkriegs und der Erfahrung mit der zündenden W i r k u n g populärer emotional geladener Schlagworte in Zeiten von Umwälzungen, bei uns nie genügend ernst genommen wurde. Die Rechtsdogmatik steht also, wie w i r sehen, unter weit komplizierteren Aufgaben als die Rechtssoziologie. Ihre richtige Methodologie ist daher auch bisher noch nicht gefunden worden, denn die immer wieder hergezählten Auslegungsregeln verdienen gar nicht ernst genommen zu werden. M a n kann sagen, daß die Rechtsdogmatik scheinbar Unvereinbares miteinander vereinbaren soll. Sie muß zunächst so wie die Theologie, welche die heilige Schrift auslegen w i l l , um daraus Rat für ein frommes Denken und gottgefälliges Leben zu gewinnen, diese Schriftensammlung als eine Einheit auffassen, als einheitliche „Quelle" zur Erkenntnis des göttlichen Willens ansehen muß, so auch das Gegebene als einheitlich verstehbares Produkt realer Vorgänge ansehen. Obgleich beide Disziplinen wissen, daß es sich bei dem so als Einheit aufzufassenden um eine Summe ganz verschiedenartiger Erzeugnisse handelt, aus verschiedenen Zeiten und Umständen, von diesen oder jenen Geistern, aus diesen oder jenen Motiven initiiert, erwogen, ausgetragen, bekundet, so oder so formuliert. Diese Einheit des positiven Materials muß sich in der Widerspruchslosigkeit der gedanklichen Inhalte und Begriffe, in ihrer Konkordanz äußern. Denn nur so läßt sich ja ein widerspruchsfreies, nicht miteinander kollidierendes Verhalten der „Normenadressaten" verlangen. N u r so Heterologes und nicht sich einander durchkreuzendes Heteronomes wie bei mit einander konkurrierenden, voluntaristischen Auktoren. Also Richtschnuren, die i n ihren Sinnansprüchen miteinander verglichen, wirklich richten könnten, wenn man sie befolgte. W i r haben bei der Rechtsdogmatik das Teleologische i n den beiden Formen: des rechtssoziologisch Positiven i n der tatsächlichen Rechtsquelle, „der soziologischen Unterlage" und der des aus der übertatsächlichen Rechtsquelle strömenden Maßgeblichen. Die Behandlungsmöglichkeiten, faktisch teleologisch verwertet, realisiert, sind i n einem höheren Sinne „aufzuheben", damit sich die Menschen sie gefallen lassen dürfen. Vielleicht kann man das so ausdrücken, daß die Rechtsdogmatik, ohne Rücksicht auf die Genesis den von ihr am Positiven erfaßen Verbindlichkeitsgehalt in einem einheitlichen Feld, i n der Eindimensionalität eines Systems vorzulegen habe. Wobei das Ganze gleich einem Organismus das Zusammenspiel der
Weitere Aspekte Funktionen ergibt. Die Rechtsdogmatik ist jedoch nicht Selbstzweck; ihr Ergebnis soll nicht ästhetischen Bedürfnissen genügen. Es ist für w i r k liche Menschen, in erster Linie heute für die „Juristen" bestimmt, genauer, für die Menschen, die entweder als Organe m i t dem Recht zu tun haben, oder sich als Untertanen mit dem Recht so beschäftigen müssen, daß sie jenes „Amtsrecht" zur Orientierung nötig haben. Die Verstehbarkeit, wozu es der Schulung, spezifischer Bildung bedarf, und der Sinn, trotz des Umwegs über das Bewußtsein von Fachgelehrten und Studierten doch jeden belangvoll anzugehen — sonst wäre das Recht ja nur Spielregel für Einige, deren Spielergebnisse die anderen zu bezahlen hätten — sind ja zweierlei. Alle diese Destinatäre stehen nun i m Unterschied zu dem systematischen Gedankengefüge innerhalb des Flusses des Lebens, i m Wandel des Wirklichen drin, in der ständigen Ablösung und Neubildung der Formen, Dinge, Anschauungen, Bedürfnisse. Die Dogmatik muß also die grade jedem System, ja jeder begrifflichen Erfassung eigentümliche s t a t i s c h e Verfassung als primordialen Niederschlag jener teleologischen Arbeit so gestalten, daß die D y n a m i k des Geschehens daraus sinnvoll begreiflich wird. Das heißt, jener eindimensionale Begriffszustand muß nicht nur so sein, daß die einzelnen Begriffszusammenhänge jeweils erste Glieder von Reihen werden, die in anderer Dimension in die Zukunft führen, was ja immer noch alles Kommende an jene ersten Festlegungen bände. Sondern es muß eine viel größere Lockerung, systematische Offenheit bestehen, damit w i r k lich Unvorhergesehenes, überraschend Eintreffendes, noch von dort, dem systematischen status quo aus begriffen werden kann. Es geht darum, einen Zusammenhang von Bedeutungen, eindimensionaler A r t zu formulieren, der aber von vornherein die Offenheit, bildlich ausgedrückt, „nach allen möglichen Dimensionen" impliziert. So trägt also jede gute rechtsdogmatische Darstellung ein einheitliches, festes, insofern klassisches Gepräge, besitzt eine sichtbar harmonische Formung. Das ist wohl der Grund, weshalb grade rechtsdogmatische Leistungen künstlerische Naturen anziehen, sie auch veranlassen, besonders feine begriffliche Distinktionen, also Deklarationen, Theorien bloßen Beschreibungen von Fällen, Deskriptionen vorzuziehen, etwa katholisches Kirchenrecht dem protestantischen, pandektenrechtliche Subtilitäten der Beschreibung germanischen Brauchtums. Das wäre also die eine Seite: das klassische Moment an jeder durchgeführten rechtsdogmatischen Arbeit. Das andere könnte man das romantische nennen. Es sind die
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überall betonten Ansätze, ja begrifflichen Anweisungen (freilich nicht expressi s verbis) aus jenen statischen Begriffsverhältnissen Schlüsse zur Bewältigung aller auftauchenden, zukünftigen Fälle zu gewinnen. Es ist insofern der Charakter als Hypothesis , die ja auch stets etwas begriffliches sein muß, des Ansatzes, Vor-wurfs, der trotz des Erkenntnischarakters, der für die dogmatische Leistung behauptet w i r d , zum Wesen juristischer Begriffe gehört, wenn sie auf Zukünftiges anwendbar sein sollen. Eine Synthese von begrifflichem Zugriff und damit verbundener Festlegung, Bannung mit höchster pragmatischer „Wendigkeit". Für den reinen Theoretiker wohl so unheimlich wie die Chimären von Notre Dame. Eine coincidentia oppositorum, worin zunächst w i r k liche Theorien aufgestellt werden, ihr Sinn aber dann wieder pragmatisch „aufgehoben" wird, weil er gegenüber der klaren Bestimmtheit, der Definitio, notwendige Unbestimmtheiten umfassen muß! Das Dogmatische versteht sich so, daß es praktiziert werden kann in Räumen, von denen es gar nichts ahnte. Wenn nach dem schon zitierten W o r t Simmel meinte, das Leben können nie in Formen aufgehen, aber es müsse i n Formen aufgehen, so drückt das jedenfalls das aus, was w i r hier als unendliche Aufgabe bei der Rechtsdogmatik zu erkennen glauben. Wenn Bergson den Lebensfluß, den élan v i t a l den Versuchen gegenüberstellte, seiner in Begriffen Herr zu werden, so hat die juristische Dogmatik dagegen stets die Aufgabe gefühlt, diese Synthese zu wagen. Der sog. juristische Rechtsformalismus sieht stets nur den ersten terminus quo begrifflicher Erfassung, so wie gedruckt in einem Lehrbuch. Er sieht aber nicht die bereits in jenem steckenden Anweisungen zum zukünftigen Gebrauch, nicht den jenem Begriffsansatz wesentlichen Fortgang, die Antizipation des terminus ad quem. K u r z nicht den teleologischen Sinn, der jene ersten begrifflichen Fassungen als Anfang einer Reihe u n d alle weiteren noch ungegebenen Glieder dieser ins Unendliche führenden Reihe umfaßt. Der Rechtsformalismus bildet eine juristische Analogie zum Bürokratismus 12 , der ja nicht nur die Miseren schafft, worunter everyman leidet (und worüber er sich dann sehr schnell wieder tröstet), sondern eine ernsthafte sozusagen metaphysische Seite hat, Stoff zum Studium des Behavionismus des Phi12
Vgl. außer unser Arbeiten über Bürokratismus, in Cölner Z. f. Soziologie u. Akademieabhandlung, jetzt weitere Citate in René Königs Soziologie: Engiscb: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953; Klug, Jurist. Logik, 2. Aufl.
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listers gegenüber den „Füllen", um m i t Husserl zu sprechen. M a n kann daher audi sagen, daß sich i m Rechtsformalismus der Jurist als Bürokrat gegenüber den Bestimmungen, wie den „herrschenden" dogmatischen Lehren zeige. Alles das ist nun auch m i t den rechtstheoretisch interessanten Versuchen verknüpft, die den Gegensatz von abstrakt und konkret, von theoretisch und praktisch, von ideal und real, von generell und spezifisch, von Universale und Individuum und dergleichen Vorstellungen dazu benutzen, um die der Dogmatik gestellte Aufgabe plausibel zu machen, Zukünftiges begrifflich so aufzufangen, daß der letzte juristische Vorgang noch ein solcher positiver Rechtsanwendung ist. W i r möchten hier auf die besonders aufschlußreichen Arbeiten von Carl Engisch und Ulrich K l u g verweisen, die die diesbezüglichen Lehren und Möglichkeiten i m heutigen positiven Recht darstellen. Natürlich interessiert alle jene Juristen, die die genannten begrifflichen Unterscheidungen, Korrelationen, Typenbildungen u. dgl. als M i t t e l verwenden, um den rechtsdogmatischen Begriffen die Starre zu nehmen, gar nicht der theoretische Sinn jener der Logik, Erkenntnislehre oder Psychologie angehörigen Unterscheidungen. Er geht ihnen um die assoziative Werbekraft, geht darum, m i t ihrer H i l f e jene starren Begriffe praktikabel zu machen, ihren wahren teleologischen Sinn denen aufleuchten zu lassen, die sie auf neue, seiner Zeit nicht induzierte Fälle anwendbar zu machen haben. Es handelt sich um Theorien ad usum der Juristen, die in der Praxis stehen. Es geht, was man leicht übersieht, um Beeinflussung gegebener Bewußtseinslagen, m i t H i l f e theoretischer Mittel, um etwas sehr Pragmatisches also. Auch die Juristen bedürfen der Vorstellungen, womit sie arbeiten können. Eine Wesensschau zur Unrechten Zeit machte sie schizophren. So muß die juristische Dogmatik zuerst wie jede Wissenschaft begrifflich isolieren, dann wegen der m i t der Theologie verwandten teleologischen Begriffsbildung in einer Ebene systematisieren, aber das alles doch nur m i t dem Zweck, zur Bewältigung des jener Isolierung und Systematisierung spottenden Lebens zu gelangen. Freilich zur rechtlichen, was insofern immer noch eine einseitige Bewältigung bleibt; doch hat ja jedes Objekt i n seinem korrelativen Gegenglied bereits seine begriffliche Immanenz, Beschränkung; das Fund hat seinen Finder, das Gehörte den Hörer und die Fülle jener Subjektmöglichkeiten ist unendlich! Ging es soeben um so etwas wie geistige Entwicklung in Begriffen, um die aufgegebene Realisierung des rechtlich Gesollten innerhalb der Tatsachenwelt zu begreifen, so gibt es dagegen Tendenzen, die dabei
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glauben, sehr handfest von solchen Tatsachen ausgehen zu können. Wenn man unter Wissenschaft ζ. B. nur empirische Wissenschaft versteht, also jede Argumentation nur als logische Bewältigung ursprünglicher „Protokollsätze" auffaßt, so ist der Zugang zur dogmatischen Rechtswissenschaft verschlossen. M a n bewegte sich dann gleichsam in einem abgeschlossenen Raum, w o r i n es nur die Dinge einschließlich des Ich gäbe, die einmal darin aufgestellt sind und wo draußen am Ladenfenster das W o r t „Recht" stünde. Die Bewegung geschähe mechanisch; der Raum bliebe für jeden Sinn verschlossen. Er dürfte nicht einmal durchs Fenster hineinblicken. Der Marxist Karner 1 3 hat wohl als erster die Erfassung der Wirksamkeit der „rechtlichen Institutionen" in ihrem kausalen Zusammenhang i n Hinsicht auf das von ihm erstrebte politische Ziel: der Sozialisierung als alleinige Aufgabe der Rechtswissenschaft behauptet. N u n ist nicht zu leugnen, daß der Begriff der Institution, der ja heute vor allem in der französischen Rechtsphilosophie eine bedeutende Rolle spielt 1 4 , assoziativ zunächst an eine hic et nunc vorhandene Realität denken läßt. Aber auch das W o r t I n stitution trägt wie fast alles i m Recht zwei Bedeutungen an sich. Sprechen w i r davon, daß ein Recht die eigentümliche Institution der Stiftung als einer juristischen Person mit Stifter, Organen, Destinatären, eigenem Vermögen geschaffen habe, so befinden w i r uns i m Bereich der Rechtsdogmatik. Sagen w i r dagegen, die uralte Ganerbschaft Burg Gelnhausen sei heute eine solche Institution, so meinen w i r den soziologischen Sachverhalt, das sog. „Substrat" innerhalb unserer historischen Wirklichkeit, worin sich als Realität unter den verschiedenartigsten Rechtszuständen dieses Soziologische erhalten hat, stets auch als solches von den Rechtsrealitäten beeinflußt, durch sie geworden, umgebildet, unterstützt: von den jeweils das Recht anwendenden zuständigen Registraturbeamten über alle sich am historischen Statut, genannt „Burgfrieden", faktisch Orientierenden bis zu den rechtlichen „Wirkungen", die heute noch von einer solchen Institution ausgehen, ζ. B. darin bestehend, daß Angehörige eines genau fixierten Kreises ihr warmes Zimmer haben. H i e r haben w i r als Institution das soziologische D i n g mit einem Eigennamen, das soziologische Individuum innerhalb 13 Die soziale Funktion der Rechtinstitute, 1904 (Marxstudien, herausgeg. von Adler und Hilferding). 14
Mauriou!
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nur soziologischer, realer Geltungsbereiche. Aber eine Beschäftigung ausschließlich m i t den realen Rechtsgebilden i n ihren historisch-kausalen Zusammenhängen würde ja jede Frage nach ihrem Sinn für die Zukunft, d. h. nach dem, was an ihnen belangvoll ist, ausschließen. Der Blick bliebe nach rückwärts gerichtet. Es blieben hinsichtlich der Zukunft nur Prophezeihungen übrig. Wie man weiß, niemals nachprüfbare, wenn man sie nicht befristet. Denn bei wellenförmiger Entwicklung ließe sich ja immer behaupten, daß man sich noch in einem T a l befände. Es war aber bei dem damaligen Charakter der „Begriffsjurisprudenz", die besonders köstlich Jhering persifliert hat, begreiflich und gut, daß man demgegenüber den Terminus ad quem ins Auge faßte: die Realitäten, zu deren begrifflicher Bewältigung ja die Rechtsdogmatik m i t ihren Konstruktionsmöglichkeiten dient. Noch war ja die Zeit, wo man den Studenten eine Vorlesung über Wechselrecht hielt, ohne ihnen zuvor einen Wechsel i n die H a n d zu geben, ganz abgesehen von Einsichten in die Funktion der Tratten, Anweisungen usw. in der Wirtschaft. Ein Verständnis des Rechts setzt nach dem Positiven hin ebenso sehr eine Kenntnis der Vorgänge voraus, die zu den betreffenden Gesetzen führten, wie das, was schließlich das Leben m i t diesen Gesetzen macht. Das Normative soll ja solche Realitäten treffen. So versteht man die Auflehnung gegen eine anscheinend um die teleologische Tragweite unbekümmerte „Begriffsspalterei" sowohl der W i r t schaft — es entstand damals eine Bewegung unter dem M o t t o „Recht und Wirtschaft" — als auch von Gelehrten, die weniger Rechtsphilosophen waren als geistvolle Erschließer kryptologischer Triebkräfte — Völkerpsychologen i m Recht 15 . Schließlich nahm die gesamte „Rechtstatsachenforschung" von hier ihren Ausgang 16 . Die „elegante A r t " , sich rein m i t begrifflichen Spekulationen auf der Ebene des ersten Begriffsstatus, des dogmatischen terminus a quo zu befassen, kam aus der Mode. Unheil richtete die Mehrdeutigkeit des Normbegriffs an. Er hat ja, wie w i r wissen, fünf Bedeutungen: die des Logonomen (religiös: Gottes Wort), die des Heteronomen: unverbindliche Anmaßungen in der Äußerung von Forderungen, die einem anderen als dem A u k t o r ein 15
Ihering, Geist d. röm. Redits 1881—91, Der Zweck im Recht 1884/86, Unsere Aufgabe, Jahrb. f. Dogmatik des heutigen röm. und deutschen Privatrechts, Bd. 1. 16
Uber den Unterschied unserer Auffassungen, Archiv f. Rechts- und Sozialphilos. X L (1952).
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Sollen auferlegen wollen. Das ist ihr konverser Sinn für den Anderen. Muster: der Befehl. Die des Autonomen: hier w i r d die Bildung einer persona vorausgesetzt, die nun sich selbst ein Sollen auferlegt. Eine Spaltung des Ich in einen Befehlenden (Vorsatz, Maxime, geistige Vorgänge beim Wollen) und einen Befehlsempfänger, der ausführen soll. Auch das ist zunächst bloß faktisch, Anmaßung, Prätention. Sodann unter komplizierten begrifflichen Konstitutionsvorgängen, um dem Heteronomen und dem ja stets zu seiner Ausführung nötigen Autonomen zu seinem Sinn zu verhelfen, also zum „richtigen", belangvollen zu machen, die Verarbeitung jenes Logonomen, so daß nun als Schluß das Heterologe und das Autologe aus jenen Anmaßungen werden. W i r sahen, wie das Naturrecht vielfach bei diesem Logonomen stehen blieb und die Situation mit ihrer Unendlichkeit an Autonomem und Heteronomem i n allen möglichen M o d i realer Geltungs(Wirkungs-î) chancen ignorierte, indem sie das Logonome ins Positive eindringen, ja dieses schließlich wie Säure zerstören ließ. W i r sahen den Positivismus nur auf das Heteronome starren, wenn es nur die mächtigsten Auktoren als Quelle hatte. Eine feinsinnige Rechtslehre gründet schließlich, nicht ohne Beziehung zu Kant, jeden Verpflichtungseffekt auf das Autonome (Laun). Wichtig hier auch, sich klarzumachen, daß das „Gewissen", das ja anerkanntermaßen und logisch notwendig „kontingent" ist, d. h. etwas psychologisch Faktisches, demnach selbst richtbar, also nur so etwas wie ein Reservoir von Vorstellungen darstellt, woraus die autonome Richtschnur zwar ihre unmittelbare Motivation bezieht, doch allein noch nichts Autologes . So gehen alle Arten des Sollens durcheinander, wenn man bei der Charakterisierung der dogmatischen Rechtswissenschaft als N o r m wissenschaft nicht vorher genau angibt, welche Bedeutung des Wortes N o r m man meint. W o m i t man freilich schon mitten in die Problematik der praktischen Philosophie hineingeraten ist. Daß man beim Recht nicht bei der Anmaßung stehen bleiben kann, dem Heteronomen, für das der Positivist allein einen Blick hat, betonten schon Stammler und Eitzbacher 17 . Aber auch der entgegengesetzte Fehler: das Logonome zu überschätzen, taucht zwar heute nicht mehr in der alten naturrechtlichen Gewandung auf, verbrämt sich jedoch „ethisch". W o m i t anstatt göttlicher Gebote oder aus der N a t u r des Menschen geschöpfter Rechtsgründe die Folklore ohne situationsbedingte logonome Rechtfertigung 17
Über Reditsbegriffe 1900.
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verabsolutiert wird. Ethische Forderungen, die den wirklichen Menschen belangvoll angehen sollen, bedürfen zu ihrer Begründung eines Untersatzes, der die reale Situation des Menschen einbezieht. Das erkannten sowohl Stirner wie Nietzsche, wenn sie es auch nicht aus der N o t wendigkeit eines richtigen Sollensschlusses ersahen. Die Wirklichkeit zu überspringen, was ja grade der Fehler jener Auffassung von der Perseveranz der unabhängig vom Wirklichen gebildeten Naturrechtsnormen. D a es nun innerhalb der Wirklichkeit die unendliche (oder genauer „unvollendbar", Lasker) Menge an faktischen Richtschnuren aller A r t gibt, kann die Jurisprudenz mit der Ethik nicht einfach i n eine Linie gestellt werden, das Recht nicht mit der Moral. Das Verhältnis ist, logisch gesehen, viel komplizierter. Schon i m „sollensfreien Raum", im Umfang des subjektiven Rechts, des rechtlichen Dürfens, das w i r nur als einen Hilfsbegriff ansehen, um das Belangvolle, rechtlich Gesollte, die Rechtspflicht zu ermitteln, taucht das ethische Problem auf; ob der rechtlich Berechtigte nun auch „ w i r k l i c h " , d. h. belangvoll dürfe. Wenn das Ethische nicht einfach das aus der Folklore strömende, die nach O r t , Zeit, Volkstum, Gebrauch überall verschiedene für den Einzelnen heteronome Forderung aus einer Gruppe an einen ihrer A n gehörigen oder einen Outsider bedeuten soll, sich „gleich" den anderen, der Sitte gemäß zu benehmen — das wäre eine ethische Analogie zum Positivismus des Juristen — so kann es nur i m philosophischen Sinne das Verhalten des wirklichen Menschen meinen, das unter Berücksichtigung aller pragmatisch faßbaren Momente aus der jeweiligen Situation, wozu der betreffende als Moment freilich wesentlich gehört, „richtig" wäre. Das rechtliche macht unter allen Möglichkeiten dabei nur eine aus. Wie beim sog. Unendlichen Urteil, könnte man meinen, jedoch wegen der Unbestimmtheit des Gesollten, die das Rechtsdogmatische seiner Destinäre wegen verlangt, ist es die Richtigkeit i m „Spielraum". Wollte die Ethik heteronome Forderungen, wie jene folkloristischer A r t systematisieren, so hätte sie nicht in der Rechtsdogmatik sondern in der praktischen Theologie, etwa in den Darstellungen christlicher Ethik das Vorbild. Aus dem sog. Tugenddenken dürfte man dabei freilich kaum herauskommen. — Stellt man die soziologische Sphäre in ihrer doppelten Wesensart als apriorische und empirische der rechtsdogmatischen gegenüber, so sieht man seltsame Spiegelungen, Verzerrungen, jedenfals in toto keine isomorphen Abbildungen. Es ist das mehrfach gebrochene teleologische Spiegelbild der auf soziologischen Wesensbegriffen beruhenden soziologischen Tatsachen. Ein nach positivem
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bürgerlichen Recht eines Staats abgeschlossenes Kaufgeschäft, das danach wirklich bindend ist, d. h. den Verkäufer zur Lieferung der Ware, den Käufer zur Zahlung des Kaufpreises verpflichtet, hat seine doppelte Existenz: i m Rechtsdogmatischen und i m Rechtssoziologischen, dort i m heterologen Sinn, hier i m empirischen, worin heteronomes und autonomes mannigfach miteinander real verwoben sind. Nehmen w i r nun an, es handle sich bei der Ware um ein aus Surinam mitgebrachtes Negermädchen, so fällt diese doppelte Existenz auseinander. Rechtsdogmatisch gesehen, ist das Geschäft dann „nichtig", rechtssoziologisch aber ist der reale Vorgang ebenso wie die Erzeugung eines Kindes nicht mehr aus der Welt zu schaffen; er kann aus ihr eben so wenig verloren gehen, „vernichtet" werden, wie das Hegeische Stäubchen. Er war einmal bewirkt und wirkte sich auch weiter aus. Wenn man dies übersieht oder nur das eine oder das andere, das rechtssoziologische oder das rechtsdogmatische, so entstehen Fehler. Wobei man noch so etwas wie die Autonomie, den eigentümlichen belangvollen Gesichtspunkt einer bestimmten rechtsdogmatischen Disziplin beachten muß. W i r wissen, daß die Verträge der Prostituierten m i t ihren Kunden als „unsittlich" nichtig sind. Diese Nichtigkeit hat ihre Konsequenzen i m Zivilrecht. Weshalb aber der Vorgang des Gelderwerbs, das Rechtssoziologische, unter finanzrechtlichem Gesichtspunkt unversteuert bleiben solle, ist nicht einzusehen. Oder: eine Aktiengesellschaft verdoppelt ihr Aktienkapital in der Inflationszeit, um es auf seinem Stand zu erhalten, indem es die Ausschüttung von Gratisaktien in Höhe des Grundkapitals beschließt, ebenso aber die sofortige Wiedereinzahlung zum Zweck der Verdopplung. Nach der Rechtsdogmatik des Handelsrechts gibt es keine Unterpariemission. Es w i r d so die Dividendenauszahlung wie die Neueinzahlung i n gleicher Höhe gebucht. M a n erfüllt damit die Vorschrift, deren Sinn, eine Schädigung der Gläubiger zu verhüten, hier ganz außer Betracht bleibt. Ein Finanzrecht, das finanzwissenschaftlich, also ökonomisch orientiert ist, könnte ohne Rücksicht auf jene handelsrechtliche Dogmatik, wonach es „keine Gratisaktien gibt", unmittelbar den Sachverhalt ins Auge fassen, so wie er sich rechtssoziologisch, wirtschaftlich darstellt. Kein Aktionär bekam mehr, als er schon vorher hatte. Noch krasser w i r d es, wenn man, wie w i r es vernahmen, gewissePersonen strafen w i l l , die sog. verbrecherischen Verbänden angehörten, und nun (die Richtigkeit eines solchen Unternehmens einmal unterstellt), nicht die sozialrechtliche Zugehörigkeit, die entsprechenden Verhaltensweisen der Mitglieder berücksichtigt, sondern
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rechtsdogmatisch i m zivilistischen Sinne denkt. Wobei eine fehlende Legitimation des die Mitglieder Aufnehmenden sie nun zu Nichtmitgliedern stempelt und danach frei stellt! Ein nachträglicher Vollzug, ein Ausdenken desavuierter Bestimmungen! Als Gegenstück die rechtsdogmatische Relevanz gewisser „Bescheide" nach Normen und Verfahren, die gegen alle anerkannten Rechtsprinzipien verstießen. M a n hat sich also vor Verwechslung von Rechtstatsachen mit rechtsdogmatischen Schlüssen zu hüten 1 8 . Natürlich kann die Rechtstatsache als solche sehr wohl rechtsdogmatisch erfaßt werden, wie bei der Besteuerung des „unsittlich" erworbenen Verdienstes. Das rechtsdogmatisch Relevante und das rechtssoziologisch Relevante sind aber zweierlei. Daß es aber überhaupt beides geben kann, beruht auf den rechtssoziologischen Aprioritäten, die die Voraussetzungsbegriffe für beide Bereiche liefern. Ebenso wie für die wirtschaftswissenschaftliche und die rechtliche Betrachtung! Die Erkenntnis jener Aprioritäten verdanken w i r bekanntlich A d o l f Reinach, wenn er auch selbst, für unser Problem nicht unwesentlich, Verwechslungen machte: soziologischer mit rechtlichen Aprioritäten, begrifflicher Verträglichkeiten m i t logonomen Konsequenzen usw.
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Vgl. unseren Aufsatz „Verwechslung dogmatischer Rechtsbegriffe mit Rechtstatsachen", Arch. f. R. u. Soz. Phil., Bd. X X X I X (Jahrg. 1950).
§ 13 Arten des Teleologischen und des Zwecks Andere Aspekte W i r sagten schon, ehe die rechtsdogmatische Begriffsbildung ans Werk ging, habe bereits die vorwissenschaftliche Begriffsbildung vorgearbeitet. Die Rechtstatsachen, wozu die vorwissenschaftlich produzierten Vorstellungen gehören, entstammen der Merk- und Wirkungswelt etwa i m Sinne von Uexkülls „Umweltforschung". Diese Vorstellungen entwickeln sich m i t den Ansätzen eines Staats, wo es ja auch stets bereits das gibt, was man „ O r g a n " nennen kann. „Feststeller" und „ V e r w i r k licher" dessen, was sich als höchster Machtwille von Einzelnen oder der Gruppe manifestiert. Über solche Rechtstatsachen kann man sich m i t dem „ M a n n auf der Straße" unterhalten, ohne daß dabei Rechtsdogmatisches berührt wird. Aber ausgewirkt hat sich solches immer schon in Zeiten, wo es so etwas wie einen das Recht verwaltenden Stand und seine Arbeitsergebnisse für die Organe gab. W i r sehen bereits die ältesten Fassungsversuche sowohl an vorwissenschaftliche rechtliche Begriffe anknüpfen wie solche als Tatsächlichkeiten erzeugen. Denn die wissenschaftliche Theorie t r i t t ja i n Fakten in Erscheinung, zu denen dann der Gesetzgeber Stellung nimmt, indem er den Inhalt erwägt, verwendet oder verwirft. M a n darf hier nur nicht schon von „Logik des Rechts" oder „Logik der Rechtswissenschaft" sprechen. Eine „Logik des Rechts" kann es nicht geben, jedenfalls nicht für den, der kein Hegelianer ist und nicht an so etwas wie eine fortschrittliche Entwicklung der „Rechtsidee" glaubt. W o h l aber haben wir, wie w i r wissen, überall i m Normzusammenhang und Inhalt die Beziehung zur Logik. Einerseits insofern die Normen der Logik zu beachten sind, damit Verpflichtendes, d. h. notwendig Widerspruchsfreies als Recht herauskommt. W i r erinnern an die alte sog. klassische Logik, etwa i n der Form von Pfänder oder Baron Freytag-Löringhoff. Wenn ein Satz seinem Anspruch gemäß richtig sein w i l l , so muß er diese Logik berücksichtigen. Insofern aber auch nur insofern w i r d sie normativ! Andrerseits müssen sich die verschiedenartigen Momente, die eine ontologisch intendierte Logik als Formen i m Gegenstandsbereich feststellt, auch überall i m rechtlichen Bereich zeigen. Nicht als normativ, sondern
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„ontologisch". M a n versteht am besten, was hier gemeint ist, wenn man sich an das erinnert, was Hegel in seiner Logik vorlegt: D a haben w i r Sein, Nichtsein, Werden, Anfang, Ende, Grenze, Quantität, Qualität, Einheit, Mehrheit, Allheit, Einzelheit, Ansichsein, Füranderessein, Endliches, Unendliches usw. A u f die Richtigkeit der Erfassungsversuche dieser ontologischen Momente bei Hegel, Rosenkranz, Kuno Fischer usw. können w i r hier natürlich nicht eingehen. Aber es gibt sie als Problem, denn „es gibt sie" überall am Stoff, wie er in den Theorien auch den rechtlichen der Dogmatik erscheint. Als Ausdruck der begrifflichen Erfassungsversuche müssen sie sich notwendig überall, also auch in den Produkten der Rechtswissenschaft zeigen. Weil es sich nun bei alldem aber nicht um Erzeugnisse eines „reinen" Geistes, des Logos handelt, sondern um Ergebnisse menschlicher Bemühung, ist es möglich, daß die einzelnen Momente entweder mit einander verwechselt (Kategorienverwechslung) oder falsch, in einseitiger Weise angesetzt werden, „an sich gesetzt", was dann zu den bekannten Begriffshypertrophien führt. Es hat sich nun eingebürgert, von dem auf das Verbindliche hinzielenden Moment an der rechtsdogmatischen Theorie und Begriffsbildung das W o r t „teleologisch" als charakteristisch für die Bezeichnung des Ganzen zu nehmen. Dagegen kann kein Einwand erhoben werden. Teleologisch ist so alles gnoseologische, wobei zum Ergebnis: der Theorie und Begriffsbildung, logisch gesehen, der Inhalt von Richtschnuren als unentbehrliches Glied der zuvor zu leistenden logischen Arbeit gehört. Anders ausgedrückt: „ E i n Schluß kommt beim Teleologischen nur zu Stand, wenn ein Satz über den Inhalt einer Richtschnur eingeführt w i r d . " W i r sahen nun aber, daß es fünf Arten solcher Richtschnuren gibt, die man gewöhnlich unter dem W o r t „ N o r m " zusammenwirft. W i r haben darüber so ausführlich gesprochen, daß w i r uns hier bei der Betrachtung des Teleologischen kurz fassen können. W i r wissen: Das Recht enthält das Teleologische stets in zweifacher Form. I n jedem Befehl, wie ihn das Gesetz enthält, w i r d ein Tatbestand und entsprechend eine Richtigkeitsfolge der Wirklichkeit „bedeutungsgemäß" auferlegt. Tatbestand und Sollensfolge aber ganz entsprechend auch Tatbestand und Dürfensfolge sind bei jeder angemaßten also autonomen oder heteronomen Richtschnur, in Geboten und Gewährungen, Kategorien, womit etwas aus der Wirklichkeit erfaßt werden soll. O b sich diejenigen, von denen die Realisierung abhängt, wirklich danach richten sollen, diese Maßgeblichkeitsfrage ist dabei natürlich nicht ge13
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löst. Auch beim Wunsch liegt es ja so: Wenn ich wünsche: „es wäre Nacht oder die Preußen kämen". Auch hier w i r d der Wirklichkeit in einem A k t eine Richtschnur auferlegt. I h r Inhalt ist nicht widerspruchsvoll, obgleich die Realisierung jedenfalls nicht vom Wünschenden abhängt. Das gehört alles in die Richtigkeitslehre, die zum ersten Male unter axiomatischer Tendenz alle jene Gebilde zu analysieren sucht. Also jede Richtschnur „legt auf", indem sie von ihr aus, qua Anmaßung, etwas und nicht das Gegenteil aus der Wirklichkeit als richtig bestimmt, und beim Willen und Befehl durch die Tatsache der Geltendmachung zum Richten faktisch beitragen w i l l . Das ist also das erste teleologische Moment, das beim Recht in der Normalform des Gesetzes i m Heteronomen liegt. Dieses Teleologische vermag allein, wie w i r wissen, noch kein Recht zu machen. Aber das soziale Leben, was sich ja i m Faktischen vollzieht, unterliegt den realen Wirkungen aller derartiger „Auflagen". So kommt dieses Teleologische in die Wirklichkeit, geht in die Vorstellungen von Pflichten ein und führt zu den verschiedenartigsten Reaktionsarten der soziologischen Geltung oder Nichtgeltung. Das zweite Teleologische ist nun, wie w i r wissen, das Moment des Belangvollen am Rechtlichen. Das, was zu jenem Faktischen qua Anmaßung hinzukommen muß, i n letzter Linie aus dem Logonomen vermittelst eines umwegsamen, unvollendbaren, jedenfalls nur pragmatisch vollendbaren gedanklichen Konstituierungsverfahrens i n die Situation eingehend. So w i r d das erste Teleologische unter den Ansprüchen des zweiten verarbeitet, „ d a m i t " das Rechtliche als w i r k lich belangvoll herauskommen kann. I m soziologischen Geltungsbereich wirken sich dabei die ersten teleologischen Momente i m Gesetz ebenso aus wie die zweiten in Form der Begriffe und Theorien der dogmatischen Rechtswissenschaft. Beides sind ja Realitäten, ob richtig oder falsch, haben ihre Ursachen und Wirkungen, was freilich immer ein nur hic et nunc zu untersuchendes Problem ist. „Was gilt real?, wie? und wo?" M a n kann so das Teleologische in drei Schichten feststellen, begrifflich sämtlich gegenüber einem „Naturzustand", einem „vorher", das es in Wirklichkeit natürlich gar nicht gibt: 1. Eine Schicht, wo w i r von „teleologischen
Begriffen
des sozialen
Lebens" sprechen wollen. Denken w i r uns zwei Menschen mit einander in Beziehung tretend, einen Robinson und Freitag auf ihrer Insel, so lassen sich ihre Handlungen, die ein Zusammenwirken, eine Abhängigkeit von einander implizieren und auslösen sollen, nur teleologisch
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begreifen. V o n irgendwelchen Machtverhältnissen rechtlicher A r t ist dabei noch gar nicht die Rede. Auch i m Himmel, in der Hölle, i m Fegefeuer könnte es nicht anders sein. Sie sind recht eigentlich Gegenstand der „verstehenden Soziologie" so wie sie zuerst M a x Weber entwarf. 2. I n einer staatlichen Machtkonstellation w i r k t sich nun der ganze Apparat m i t seinen Gesetzen, Feststellungs- und Realisierungsorganen, geistigen Erfassungsorganen (Rechtswissenschaft als soziologischer Tatsache!) i n der soziologischen Geltung aus. Sie äußert sich soziologisch in charakteristischen Verhaltensweisen, die es ohne jene Apparatur nicht gäbe. Sie ist condicio sine qua non dafür. W i r können hier von „teleologischen rechtssoziologischen Begriffen" sprechen. Sie sind der Forschungsgegenstand der Rechtstatsachenforschung, die — w i r wiederholen — i m Unterschied zu den 1. beschriebenen „teleologischen Begriffen des sozialen Lebens" das Tatsächliche am positiven Recht als Erkenntnisgrund voraussetzen, eben für seine reale Wirkung, so daß solche Begriffe entstehen können. I h r Zusammenspiel ist auch der Gegenstand der Rechtsgeschichte, nicht der Rechtsdogmatik. 3. Die teleologische Verarbeitung der verschiedenartigen Richtschnuren zur Gewinnung von Rechtsbegriffen, woraus sich Maßgebliches als Recht ergibt. Sie geschieht durch die Jurisprudenz, die die beiden anderen 1. und 2. als ihren Stoff verwendet. Ergebnis ist das so oder so verstandene System, sind Zusammenhänge von Begriffen, die sich des früher beschriebenen Terminus ad quem wegen in ständiger Entwicklung befinden. Diese rechtswissenschaftliche Arbeit legt also die teleologischen Begriffe vor, die w i r dogmatische Rechtsbegriffe nennen. Soweit sie real sind, gelehrt, akzeptiert, verstanden oder mißverstanden werden, wirken sie sich auch dann als Fakten wieder auf 2.: die teleologischen rechtssoziologischen Begriffe aus. Den verschiedenen Arten von Richtschnuren (Normen) entsprechend, ist daher auch das, was man unter „teleologischer Begriffsbildung" jeweils verstanden haben w i l l , erklärungsbedürftig. I m Lauf der rechtsphilosophischen Entwicklung ist nun, etwa um die Jahrhundertwende, das Teleologische in der Begriffsbildung ins Bewußtsein getreten. Infolge der Verkennung der verschiedenen teleologischen Möglichkeiten hielt man zunächst eine simple Einteilung der Wissenschaftsarten für denkbar. Die Logiker hatten sich damals noch kaum m i t der teleologischen Begriffsbildung beschäftigt. Als Sigwart versuchte, „teleologische Einteilungsprinzipien" zu finden, fühlte sich Georg Jellinek dazu angeregt, eine „ K r i t i k der juristischen 1
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Urteilskraft" zu versuchen. Freilich muß man sich davor hüten, i m V o r stadium, dem Naturzustand des Naturrechts entsprechend, „Uranfängliches", so etwas wie einen „Stoff an sich" zu denken, ein „Substrat". Bemühungen, die natürlich wieder i m Streit um das „Wesen der juristischen Person" eine Rolle spielen 1 . Früher bestand überall die Neigung, von einem „an sich gesetzten" als Basis auszugehen und dann das Andere als Zutat beizufügen. Bemerkenswert, daß solches üblich war, als man das A t o m als ein wirkliches noch gar nicht empirisch bewiesen hatte, sondern es bloß konstruierte, so daß es Philosophen für eine Hypothese oder gar F i k t i o n hielten. Grade damals und nicht heute, i m „Zeitalter der M i k r o p h y s i k " war die atomistische Betrachtungsweise üblich, war der Einzelmensch auch i m Recht der Ausgangspunkt. Heute weiß man von der Verwobenheit nicht nur der einzelnen Realität in ihrem funktionellen Zusammenhang, sondern daß sich auch der Begriff des wirklichen Menschen gar nicht bilden läßt, wenn man nicht von vornherein die Möglichkeit von „Gleichungen" einkalkuliert, die sich über solche Zusammenhänge, Glieder bilden lassen. Leider versperren noch gewisse Anschauungen, wie sie ζ. B. das W o r t „Interdependenz" mit sich führt, der funktionellen Erkenntnis auf soziologischem Gebiet den Weg. M a n nimmt noch zu leicht die wechselseitige Beeinflussung, Abhängigkeit des Menschen an, den man zuvor als „ D i n g an sich" gesetzt hat. Aber der Begriff des Einzelmenschen als eines isolierten Wesens ist widerspruchsvoll und läßt sich auch bei keiner anderen Wissenschaft von ihm vertreten. Der Mensch ist kein individuelles physischpsychisches Atom, wozu dann, dadurch daß er in Beziehungen tritt, Kollektivpsychologisches, Sozialpsychologisches hinzuträte. D a m i t also erst nachträglich das „Teleologische des sozialen Lebens" (oben 1.). So können w i r heute nicht mehr denken. Es gibt da keine ursprüngliche psydio-physische Gegebenheit jenseits der Gesellschaft und ihrer soziologischen bzw. nach der Entwicklungsphase rechtssoziologischen Gestaltung (oben 2). — Nach den mehrdeutigen Worten „ N o r m " , „Teleologisches" trat nun als drittes i m Bund der „Zweck" auf. W i r wundern uns nicht mehr darüber, daß ein Schlagwort die sonst so bedächtigen Geister, die soliden Denker, fasziniert, als ob sie sich in ihrer einzelwissenschaftlichen Intention dadurch gewissermaßen ins Philosophische 1
Bei diesem Streit werden bekanntlich Thesen aus ganz verschiedenen ontischen Bereichen einander gegenübergestellt, s. unsere Abhandl. „Philosophisches zur Lehre vom Wesen der juristischen Person", Arch. f. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 12 (1919).
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gehoben fühlten, philosophisch nobilitiert 2 . Es w i r d uns leicht fallen, auch bei dem Gebrauch des Wortes „Zweck" die Mehrdeutigkeit nachzuweisen, damit auch die Möglichkeit seines sinnvollen Gebrauchs. Zunächst wirkte das Auftauchen des Zwecks erhellend. I m Lichte dieser Laterne glaubte man manches zu sehen, was bisher dunkel geblieben war. Jherings berühmter Ausspruch: „Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts" schien Wunderkräfte auszulösen, die mächtig mithalfen, die von uns geschilderte „Begriffsjurisprudenz", das von einem statisch verstandenen terminus aus Loskonstruieren zu erschüttern. Sehen w i r uns einmal die verschiedenen Bedeutungen von „Zweck" an nichtrechtlichen Sachverhalten an. I n früherer Zeit, die sich nicht erst seit der Aufklärung sehr zweckhaft 3 vorkam, konnte jemand die Inkarnation des berühmten Eckenstehers N a n te antreffen, der mitten im Getriebe der „schaffenden" Menschen und in ihrer Arbeitszeit an der Ecke steht und zusieht, wie ein junger Student einem einkaufenden, sehr behaglich schlendernden, die Auslagen musternden jungen Mädchen „nachzusteigen" sucht. H i e r stellen sich nun sogleich drei verschiedene Bedeutungen von Zweck ein. Die erste: Nante, unser Student und die junge Dame, sie haben alle drei bei ihrer Verhaltensweise faktische Zwecke. Wenn w i r von Richtschnuren i m Sinne empirischer Gegebenheit sprechen, gibt es bei sämtlichen Personen autonome Richtschnuren in Gestalt von Bewußtem oder Unbewußtem. N u r die alte Psychologie und die „Weltanschauung" der — römisch orientierten — Jurisprudenz würde hier naiv jeweils eine Persona und einen ihr entsprechenden „ W i l l e n " konstruieren. I n W i r k lichkeit haben w i r „ i n " jedem eine nie restlos zu erfassende Menge harmonischer und miteinander widerstreitender Richtschnuren, „Samskaras" (Bildekräfte) mehr oder weniger unbewußt, m i t der sog. Entelechie gegeben und bewußte, von der konstruierten Persona, ausgehende „Vorsätze", „Maximen", „Grundsätze" usw. Alles das aber läßt sich als Tatsächlichkeit von Richtschnuren verstehen, die, soweit sie vom Mädchen ausgehend, unseren Studenten betreffen, von diesem aus gesehen, heteronom — ihm selbst als „Gewährungen" — erscheinen. Ihr Verhalten hat nun einen „Zweck", wenn w i r unter dem W o r t diese Realitäten faktischer Richtschnuren meinen, seien sie einander noch so widerstreitend. Ein zweiter Begriff von Zweck stellt sich ein, wenn w i r 2 3
Heute spielt diese Rolle das Wort „existentiell". „Glückhaft" war wie „preisgünstig" noch nicht in Mode gekommen.
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uns jetzt als A d v o k a t eines Kollektivs fühlen. W i r werfen einen mißbilligenden Blick auf alle drei Personen und sagen zu Nante: Sie sollten lieber etwas Vernünftigeres tun als da i n den Ecken herumlummern. Z u m Studenten: Stecken Sie lieber Ihre Nase in die Bücher, damit Sie was lernen und nicht i m Examen durchfallen. Zum Mädchen: Gehen Sie schnell nach Haus, damit der K o h l nicht anbrennt. H i e r taucht gegenüber dem Zweckbegriff, der tatsächliche „Bezweckungen", Strebungen von Einzelnen ausdrückt, ein „kritischer" auf, der die A n maßung erhebt, „vernünftig" zu sein. Er enthält aber auch nichts anderes als eine aus der Fable convenue stammende, dem jeweils soziologisch geltenden K o l l e k t i v entnommene Vorstellung, bezeichnet also ebenfalls faktische Richtschnuren als Realitäten, an sich betrachtet, A n maßungen, ebenso wie jene vom Individuum als Auetor ausgehenden, i n Wirklichkeit dieses voluntaristisch oder emotional beschreibende „ D i r e k t i v e n " . Richtschnuren, worin, wie w i r wissen, ja auch, von A n fang an schon, die Kollektive drin stecken und sich in Mustern für den Gegenstand der Richtschnuren oder konzentriert i n der Persona, als „Gewissen" äußern. N u n erst verstehen wir, daß es beiden gegenüber einen dritten „Zweck" geben muß. Schon beim zweiten, dem des K o l lektivadvokaten, konnte es heißen: Ja, Zwecke habt I h r schon; das sieht man Euch allen auf den ersten Blick an, aber was haben diese Zwecke denn für einen Zweck? Es w i r d also der Zweck der Zwecke ins Feld geführt. D a m i t aber sind w i r bei der dritten Bedeutung angelangt. H i e r geht es nun nicht mehr um die Faktizität von Zwecken, beim Einzelnen als Auetor oder beim K o l l e k t i v und seinem Repräsentanten. H i e r geht es um den „Sinn" des Zwecks, seine „Richtigkeit", die ein philosophisches Problem ist, nur vom Logonomen aus bestimmbar, indem dieses in die Wirklichkeit, w o r i n es immer jene beiden ersten Zweckarten i n Fülle und einander widerstreitend geben wird, zur Erfassung in die Situation eingehen muß. Gedanklich ein nur pragmatisch vollendbares Unternehmen! Der Zweckgedanke w i r d nun auf Dinge und dinglich Vorgestelltes übertragen. Vielleicht ging er genetisch sogar von derart Gegenüberstehendem aus. — M a n ist auf dem Bahnhof, in der „Auskunft" und möchte sich nun aus dem „Kursbuch" Auszüge machen. Es stehen da zwei Sessel, worin man sich zurücklehnen muß, auf denen man aber nichts einsehen oder schreiben kann. Das Tischchen ist ein sog. Nierentisch. M a n kann weder das Buch drauflegen, noch drauf schreiben. Zumal noch zwei andere Personen mit Gepäck da sind. Zweckfrage?
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N u n zuerst: Diese Gegenstände sind alle entworfen, bestellt, fabriziert, geliefert, aufgestellt worden. A n Stelle der Bänke, worauf sich früher Mühselige und Beladene ausruhen konnten, stehen sie jetzt da inmitten marmorner Pracht. Ergebnis eines Integrationsprozesses unzähliger Zwecksetzungen i m Sinne faktischer Richtschnuren. N u r der Dekorateur oder wie man ihn nennen soll, des Bahnhofs führt den letzten Zustand herbei. Vielleicht ist er auch der Besteller. Aber das Ganze bewirkt er ebensowenig, wie der Besteller des Autos oder sein Fabrikant, die Anarchie des Straßenverkehrs. Der Wunsch, sein Talent zu entfalten, Geld zu verdienen, die Mode mitzumachen, seinem Chef zu gefallen usw. usw., alle diese Zwecke wirken zusammen, beginnend m i t dem der „Ideen hat", über den Konstrukteur „gefälliger" Muster; über den Arbeiter, der immer dasselbe Teilstück herstellt, bis zu dem Angestellten der Bahn, der unseren Nierentisch dann placiert. Faktische Zwecke so verschiedenartig, daß sie sich nicht aufzählen lassen. Nehmen w i r als faktisch auch die Zwecke derer hinzu, die sich über die neue Pracht ärgern, weil ihre Zwecke dabei zu kurz kommen, die aber diese nie „höheren Orts" anbringen, ebensowenig wie der Auskunftsbeamte, der das alles täglich zu hören bekommt. D a haben w i r also den Zweck als Ausdruck tatsächlicher Richtschnuren beim „ D i n g " . I n der K r i t i k an dem Zustand äußert sich nun, wie schon als treibende Kraft bei den Zwecken, die zur Existenz unseres Nierentisches grade an diesem Platz führten, das sog. Kollektiv. Es heißt jetzt, so ein Tisch habe doch keinen Zweck. H i e r w i r d der Zweck jener Zwecke, die zu dem Zustand führten, geltend gemacht. Es w i r d die Sinnfrage, die Frage des richtigen Zwecks aufgeworfen. Aber wieder nur vom Faktischen aus. Das K o l l e k t i v selbst richtet nicht, sondern bekundet sich nur überall, ist als solches mehrdeutig, w i r d erst klarer, wenn man daraus die Mode erwähnt, das normale Bedürfnis, den „reibungslosen Verkehr" usw. Jedenfalls läßt sich der Zweck des Zwecks so nicht ermitteln. Aber der Gedanke: das D i n g da, ein hergestelltes, bestelltes, aufgestelltes Ding, habe doch so keinen Zweck, ist nun da und leitet weiter. Schließlich, wenn man nicht isoliert, „werten" w i l l , etwa ästhetisch, rein „praktisch" stehen w i r wieder wie bei der Handlung des Einzelnen in der Situation. N u r aus ihr heraus, die Situation unter dem Gesichtspunkt ihrer sinnvollen Gestaltung gesehen, wie bei der Handlung, ergäbe sich der „richtige" Zweck. I n Wirklichkeit also läßt er sich nicht finden, sondern höchstens die richtige Reaktion des Einzelnen da, wo er grade sitzt und das Kursbuch vergeblich zu handhaben versucht. Ein „objektiver
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Zweck" der Sache ist nicht festzustellen. Er kann ja auch pragmatisch kein „nächster Schritt" sein. Aber der funktionelle Zusammenhang? N u n , es gibt ihn überall. Aus ihm ergab sich ja die komische, vielleicht nur vom letzten Arrangeur gewollte Resultante. Die Zwecke der Einzelnen, bewußt oder unbewußt, stets kollektivbedingt, manchmal e contrario, enantiodromatisch „snobistisch" gegen das Übliche, die Konvention, Mode gerichtet, lassen sich aber nur hic et nunc feststellen, als Ergebnisse von „Tests". Ob diese faktischen Richtschnuren situationsgemäß „richtig" waren, setzt nun wieder die ganze Gedankenprozedur voraus, m i t ihrem pragmatischen Ziel, sozusagen aus der metaphysischen Beurteilung der „ W e l t " , des Menschen in ihr und seiner historischen Mission bis zu dem Wunsch unseres H i n z , die Abfahrtszeit seines Zuges nachzuprüfen. N u n verstehen w i r wohl, wie gefährlich es ist, vom „Zweck des Rechts" zu sprechen. Nehmen w i r einmal die Vorschriften des BGB über das holographische Testament. Es soll bekanntlich unter Angabe von O r t und Zeit eigenhändig verfaßt, geschrieben und mit dem Namen unterschrieben sein. Ein M i n i m u m an Formvorschriften, gegen die trotzdem noch oft verstoßen wird, so daß das Testament ungültig ist. M a n sagt, diese Einrichtung des eigenhändigen Testaments habe ihren Zweck. Uber die Gründe, die dazu führten, daß man die entsprechenden Bestimmungen ins BGB aufnahm, kann man sich aus den „ M o t i v e n " , „Protokollen", aus der Literatur jener Zeit, aus Fachzeitschriften und Presse orientieren. Sie geben A n t w o r t auf die Frage nach den faktischen Zwecken, das was sich die Einzelnen mit dieser Testamentsform erhofften. Bis zur „Verabschiedung" eine unabsehbare Reihe von Zwecksetzungen. Wobei natürlich jeder behauptete, daß es sich bei ihm gewiß nicht um reale Anmaßungen, faktische Richtschnuren, sondern um maßgebliche, richtige handele. Dadurch, daß die Bestimmung ihren Platz im BGB gefunden hat, daß ihr Inhalt zum Bürgerlichen Recht gehört, steht sie jetzt nicht mehr isoliert. Sie hat sich gleichsam losgemacht von jenen genetischen Momenten faktischer Zwecksetzungen, hat sich selbständig gemacht, von jenen isoliert, befindet sie sich nun in einem neuen Zusammenhang ähnlich verselbständigter Gebilde. Sie steht i m begrifflich funktionellen Zusammenhang jenes seit 1900 geltenden Zivilrechts. Sie gehört i n dessen System hinein, w i r d rechtsdogmatisch m i t allem anderen darin verarbeitet. Man hat daher gesagt, einen Satz des Bürgerlichen Rechts anwenden, heiße, das Ganze, alle anderen anwenden. Damit ist das Moment der Verträglichkeit bezeichnet, das ja bei der teleologischen Begriffsbildung
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eben als einer logischen vorliegen muß, damit das Te/eologische, dem Telos nach, als erfüllbar, realisierbar, möglich gewährleistet sei. Zusammen m i t dem Sinn anderer Bestimmungen w i r d so ein „objektiver Zweck" gesucht. Die Funktion auch in der Realisierung zusammen m i t den anderen vorgestellt. Auch hier haben w i r also die von uns beschriebenen verschiedenartigen teleologischen Begriffe zu unterscheiden: Die des sozialen Lebens, die rechtssoziologischen vom Gesetz, seiner Deutung und Praktizierung i n Wissenschaft, Rechtsprechung und täglidiem Leben. Schließlich die rechtsdogmatische Lehre. D o r t schreibt jemand in Stimmung seinen letzten Willen auf einen Bierfilz seiner Kneipe, hier weiß man, daß dabei allerlei zu beachten ist. Schließlich kennt der Jurist seine Materie. Die Frage nach dem richtigen Zweck läßt sich einigermaßen präzis für die M o t i v e bei der Abfassung des Gesetzes stellen. Ihre Lösung ist, wie w i r wissen, situationsbedingt. Aber das Weitere läßt sich doch nur m i t dem ganzen beurteilen. Das Werk steht schließlich i m M i t t e l p u n k t unzählbarer faktischer Willensziele, realer Zwecke. Das Verhalten, das Rechtssoziologische, ständig im Wandel der Dinge, muß von sich gleichfalls wandelnden rechtsdogmatischen Auffassungen immer wieder neu bewältigt werden. Zusammengefaßt: Einen „Zweck des Rechts" gibt es nicht. Richtiges: Heterologes kann nicht noch einmal Gegenstand von Richtschnuren sein. Das war es, was Stammler übersah, als er vom „richtigen Recht" sprach. Ethisch Geltendes hat über sich hinaus keinen Zweck oder weiteren Sinn mehr. „ M a n kann sich nichts dafür kaufen", aber bei den Gesetzen und faktischen Bemühungen der Rechtswissenschaft liegt es anders. Gesetze sollen richtig sein, nicht nur heteronom, sonder heterolog insofern, als sie nicht nur faktischen Erkenntnisgrund für Heterologes sind, weil ein Folgen i n gegebener Situation „besser" ist als ein Zuwiderhandeln i m Sinne sinnvoller Situationsgestaltung, sondern die Gesetze sollen dieses Folgen selbst sinnvoll provozieren. Die gedanklichen Bemühungen der Rechtswissenschaft um teleologische Begriffe für sinnvolles Verhalten, können selbst richtig oder falsch sein. Richtschnuren, die Zwecke anmaßen, gibt es überall unübersehbar: beim Schöpfer des Gesetzes, bei seiner wissenschaftlichen Auswertung, der soziologischen Geltung, mit richtiger oder unrichtiger Intentio. Auch da, wo man sog. Interessen besser gerecht sein möchte, handelt es sich um derart Faktisches, meist als Resultante kollektiver Bestrebungen. So, wenn man fordert, daß die Sicherheit des Handelsverkehrs besser gewahrt sein müsse, das Vertrauen auf das Wort, das Geschriebene usw. Hier, innerhalb dieser
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Bereiche kann man auch Fortschritt konstatieren, kann man wissenschaftliche Feststellungen i n höheren „aufheben". Schon früh, schon bei Savigny, Puchta, Stahl findet sich die A u f fassung, daß es einen Unterschied der Begriffe gegenüber dem Recht gäbe. Das eigentlich rechtsphilosophische Problem, welche Begriffe die Rechtsdogmatik bei ihrer Begriffsbildung voraussetzen müsse, hätte freilich schnell zu unserer „transzendentalen" Methode geführt und damit zur Entdeckung der allgemein-ontischen Begriffe, der Begriffe der Richtigkeitslehre (des normativen Bereichs), der soziologischen Aprioritäten: ihrer mannigfaltigen Kombinationsmöglichkeit, als logische Vorläufer der positivrechtlichen Begriffswelt. Diese kritische Frage i m Sinne Kants stellte man sich jedoch zunächst nicht. Aber die Beurteilung des unmittelbar vorliegenden Stoffs der Rechtsdogmatik ließ die Meinung aufkommen, daß es neben dem übersehenen allgemein Ontischen: dem Sein, Nichtsein, dem Etwas, dem Einen, dem Anderen, dem Quantitativen, Qualitativen usw. unverändert beibehaltene Begriffe, modifizierte und neu geschaffene spezifische Begriffe gäbe. Erstere gibt es nun in Wirklichkeit nicht. Auch alles, was nach der sprachlichen Wendung als „außerhalb" des Rechtlichen scheint, erfährt innerhalb des rechtlichen Zusamenhangs, des dogmatischen, teleologischen Bereichs eine diesem eigentümliche Prägung, spezifische Funktion, oft so offenbar, daß es aussieht, als ob die außenstehenden Wesen wie Fliegen i n das teleologische Gespinst der Spinne Recht eingefangen würden. Typische Rechtsbegriffe, als welche man Willenserklärung, Forderung, Okkupation, Zession, Rechtssubjekt, Rechtsobjekt und ähnliches ansieht, stammen freilich ihrer Herkunft nach entweder aus dem allgemein Ontischen wie ζ. B. bei der Zession das Aufhören und der Beginn, das Dauerns, der Ubergang einer Beziehung (ein Problem, das bekanntlich K a n t besonders beschäftigte) oder aus der Richtigkeitslehre und der sich daraus entfaltenden apriorischen Soziologie wie Pflicht, Forderung, Versprechen, Verzicht, Erlaß. Sie erscheinen aber i m Rechtssystem stets als „angewandt", wie die Zehn in einer Verjährungsfrist oder als Prinzipiat wie das Qualitative bei einer „mangelhaften Ware" i m Kaufrecht, wie die Pflicht bei der Schuld des Verkäufers, um nur spezielle Prinzipiate zu nennen. Es bedürfte genauerer logischer Untersuchung, einmal die begriffliche Rolle jener nicht i m engsten Sinne juristischen Momente zu untersuchen: das rein kategoriale, die Prädikamente, Prädikabilien und die A r t ihrer Entfaltung. „Rechtlich relevant" — eine Ausdrucksweise Radbruchs — kann sonst alles werden. Der
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Möglichkeit nach gibt es, wie w i r wissen, keine res nullius für das Recht, nichts, was nicht begrifflich erfaßbar wäre. Freilich darf man sich nicht das, was „ins Recht eingeht", als Teilstück denken, etwas, daß das Recht von „ w o anders abhiebe". Jedoch scheint es bei der A r t der Erfassung verschiedenartige M o d i zu geben, wie bei der mehr oder weniger großen Penetranz von Forderungen. Wenn es ζ. B. heißt, daß diese oder jene Gewohnheiten i m Recht unversehrt erhalten bleiben sollen, so heißt das nicht, daß nicht das Ganze unter ihrem Begriff gleichsam nach A r t einer Menge, rechtlich bestimmt würde 4 . Recht als Gegenstand umfaßt ja all das als Möglichkeiten, auch wenn das faktische „System" der Begriffsbildung in Wissenschaft und Judikatur noch nicht dazu genötigt wurde, Stellung zu nehmen, sich begrifflich zu entscheiden. H i e r taucht eine Problematik i m Teleologischen auf, wie sie die sog. Grundlagenkrise in der Mathematik ergeben hat: i m Streit um die Möglichkeit, „Zulässigkeit" gewisser Begriffe zwischen Logizisten und Intuitionisten, wobei die letzteren für die Zulässigkeit den wirklichen Beweis der Erreichbarkeit durch endliche Schritte fordern. Was Gierke m i t seiner Vergleichung von römischen und germanischen Rechtsbegriffen bezweckte, war w o h l eine Einsicht i n die verschiedenartige Modalität dieser Begriffe und nicht deren möglichen Gegenstände. Jedes Rechtssystem lehrt so, was i n ihm „Sache" ist oder „Person". Die Abhängigkeit von allgemeinen logisch-ontischen Aprioritäten ergibt aber besondere Setzungsmöglichkeiten. Jedes positive Rechtssystem ist als Ergebnis eines tatsächlichen rechtswissenschaftlichen Unternehmens ebenso wie das Gesetz als Ergebnis eines staatlichen Regelungsversuchs „pragmatischen" Gesichtspunkten unterworfen. Es geht auch bei ihm um „Praktikabilität", um einen Ausdruck Jherings zu gebrauchen. Das Pragmatische bedeutet die Aufgabe, auch im Gedanklichen an einer Stelle „fertig" zu werden, etwas vorzulegen, wo situationsgemäß ein weiteres Suchen nach Besserem dieses schließlich der Feind des Guten würde. Diese Praktikabilität führt dazu, daß man neue Einheiten setzt, „ I n d i v i d u e n " sui generis schafft, kontinuierliche Zusammenhänge auflöst, Diskretionen wieder auflöst usw. Denken w i r etwa an den aus wirtschaftlichen Gründen gebildeten Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Bestandteilen i m deutschen Bürgerlichen Recht. Wobei jene nicht Gegenstand besonderer Rechte sein können, dagegen diese. 4
Vgl. zu diesen Problemen Carl Engisch: Der rechtsfreie Raum, Z. f. d. ges. Staatswissenschaft, Bd. 108 (52), S. 385 f.
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Welch eine Cäsur, begriffliche Trennung, „an sich Setzung" von M o menten, die anschaulich zusammengehören, freilich rechtssoziologisch oft schon zuvor auseinandergehalten wurden. M a n trennt so ein einheitliches Ding, das seine Bestandteile hat, indem man einige davon rechtlich verselbständig. Oder bei der „juristischen Person": M a n bestimmt eine sosiologische Beziehungsform Einzelner zum selbständigen Gebilde, das nun diesen Beziehungsgliedern agierend gegenübertreten kann. N u r auf den ersten Blick erinnernd an das Russeische Paradoxon von der Menge aller Mengen, die sich selbst enthält. Einen logischen Münchhausen, der sich am eigenen Z o p f aus dem Sumpf zieht. Wichtig ist aber, daß selbst bei solchen, vom Laien, den sie gerade betreffen, als Spitzfindigkeiten, Haarspaltereien empfundenen „Definitionen" — i m wörtlichen Sinne von trennendem, Grenzen aufweisendem, sie setzenden Bestimmungen — das rechtssoziologische Denken gewiß am meisten i n Spezialbereichen von Fachleuten bereits vorgedacht wurde und seine Wünsche angemeldet hat. Erreicht nun diese rechtsdogmatische Begriffsbildung das, was ihr ursprünglicher Sinn ist: nämlich soziologisch zu gelten, sich durchzusetzen — man denke an den Grundsatz „Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe" oder an die Erledigungswirkung gewisser Formulare —, so gelangte sie bei Erwägung der verschiedenen Grade dieser Geltung ja schließlich zu einer konformen, ihr gemäßen Vorstellung des „Manns auf der Straße" 5 . H i e r hätte man dann das M a x i m u m an „ W i r k u n g " theoretischer Leistung. Jhering hat, i n seinem Geist des römischen Rechts, die „zersetzende Funktion" der Rechtswissenschaft betont. Bei ihm so etwas wie ein Vorgefühl vom Geist als „Widersacher der Seele", bei den Germanisten jener Zeit als Spannungen zwischen soziologischen Wesenheiten gewiß auch unbewußt ihre Haltungen bestimmend. I n tellektualismus! „Rationalismus!" Gefahren für jede begriffliche Arbeit, wenn deren Unternehmen als Realität, angebrachtermaßen, seinen Funktionen nach, pragmatisch in historischen Situationen nicht erwogen wird. Nicht in ihrer „Freiheit wozu" und sich so glaubt i n eindimensionaler Begriffssphäre ausrasen zu können. Als maßloser Geist. W i r erwähnten schon, daß uns der Willensbegriff des römischen Rechts auf normativem Gebiet eine Analogie zu der künstlichen Persona zu sein scheint, wie sie als etwas Gebildetes, künstlich aus dem Erlebnisfluß Herausgehobenes den heutigen Tiefenpsychologen erscheint. Aus den verschiedenen „Schichten" schließlich an die Oberfläche gespült und aufgefischt. Zum 5
Vgl. unsere Einf. i. d. Rechtsphilosophie V I I , S. 333 f.
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„Fassen" in der Tat, jedenfalls so daß man nun glaubt, in diesem „ W i l l e n " einen Grundpfeiler für das ganze Rechtsgebäude zu haben, Pfeiler in Sümpfen, worauf alles fest ruhen soll. Dagegen muß man sich die Höherbewertung grade des Unbewußten, der „Fehlleistung" als wichtigster Ansatzmomente i n östlichen, vor allem indischen A n schauungen klar machen. Welche gewaltigen Rechtskonsequenzen werden so bei uns an das vom Intellekt aufgesteckte Fähnchen „ W i l l e " angeheftet. Welch ein Hebelarm der Last steht ihm gegenüber! Die Neigung zu Diskretionen, die so recht das Wesen der „Verstandesansicht" gegenüber der „Vernunftansieht" ausmacht, so wie diese Hegel verstand, zeigt sich nicht nur in der Problematik der Entgegensetzung von D i n g an sich und seiner Erfassung, sondern grade bei K a n t überall: am stärksten in seiner Tugend- und Rechtslehre. Ganz anders als bei Hegel, dessen Tendenz zu Kontinuitäten, zur Aufhebung von Ansichsetzungen sich überall bekundet, verspürt man bei K a n t die Orientierung am — durchs Naturrecht vermittelten — römischen Willensbegriff. M a n braucht dabei nicht einmal an die bei beiden Denkern so verschiedenartigen Auffassungen über Eherecht zu denken. Die „zersetzende Funktion" des Geistes w i r d sich da besonders bemerkbar machen, wo nicht ursprüngliche Schau, vorwissenschaftliche Intuition, ganz abgesehen von der „wiedergewonnenen N a i v i t ä t " i m Sinne Goethes, wie sie bewußt die Romantik erstrebte, Widerstand leisten. M a n hat längst die Wirkungen erkannt, die das Durchsetzen römischer Rechtsbegriffe auf das zuvor gewohnte Rechtsdenken ausgeübt hat. Rezeption von Gedankengut wirft wie jedes Aufzunehmende die Fragen nach dem richtigen Verhältnis von Systole und Diastole, Einatmen und Ausatmen, auf, so wie sie Goethe verstand. Aber quis judicabit? M a n kann da nur nachträglich, müßig, bedauern. Die in dieser H i n sicht radikale nicht anders als philosophisch zu nennende Tendenz zur einheitlichen, alles umfassenden Rechts„summa" i m praktischen Bereich des Rechts bedeutet eine interessante Verlagerung systematischer Tendenzen vom rein Geistigen, Philosophischen, wo die Römer bekanntlich gar nichts leisteten, aufs pragmatisch Teleologische. Bei jener Rezeption wurde gewiß vieles Gedankliche, Rechtsdogmatische, das noch seine engste Beziehung zum rechtssoziologischen Verhalten hatte, „zermalmt und zerrieben". Es scheint uns nicht als Zufall, daß gerade diese charakteristischen Momente, vergleichsweise in höchster Form beim römischen Recht, wie es die späteren Gelehrten auffaßten, puritanische N a turen, ethische Askesen wie Hermann Cohen so anzogen, daß dieser
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jene rechtbegrifflichen Schöpfungen als Basis für seine „ E t h i k des reinen Willens" nahm. W i r finden bei geistigen Rezeptionen gegenüber dem jeweils Vorrechtlichen oder rechtlich Vorausgehenden keineswegs einfache Generalisierungen oder Gleichmachereien, welche jene schließlich vernichtet hätten. Der Umwandlungsvorgang ist komplizierter. Die Realisierung, worauf jede Rechtsnorm als maßgebliche Richtschnur hinzielt, wirft nun noch ein besonderes Problem auf. Die N o r men des Kaufrechts müssen schließlich dazu führen, daß i m Streitfall der H i n z seine zu Recht gekaufte K u h erhält. Gewiß: H i n z , der Käufer, und Kunz, sein Verkäufer, sind Rechtssubjekte, der K a u f der K u h ist ein Rechtsgeschäft. Die Hingabe der K u h von Kunz an H i n z als „ T r a d i t i o n " die Erfüllung dieses Kaufgrundgeschäfts und zwar durch ein neues, „dingliches" „Verfügungsgeschäft". V o n gewissen Unterscheidungen zwischen dem „obligatorischen": hier dem Kauf, und dem Verfügungsgeschäft: nämlich der Traditio können w i r hier absehen. Das Hinführen der K u h durch den K u n z und das Inempfangnehmen durch H i n z sind Vorgänge des täglichen Lebens, i n vorwissenschaftlichen Begriffen des sozialen Lebens und auch rechtssoziologisch als „verstehbar" i m Sinne M a x Webers erfaßt, pragmatisch ohne jeden spezifisch wissenschaftlichen Erkenntnisdrang. Wie vollzieht sich nun der Brückenschlag zum realen H i n z und Kunz? Theoretisch ausgedrückt: wie muß die — nicht logisch mögliche, sondern real mögliche — Gedankenentwicklung sein, vom Gesetz, wobei w i r bereits simplifizieren, über die Kollektivauffassung, so etwas wie die „herrschende Lehre" i m Streit der Meinungen, also über das Faktum rechtsdogmatischer Auffassungen, über die Richterpraxis, Anwaltsroutine zu unseren Interessenten? Man hat wohl geglaubt, es handele sich bei dem Brückenschlag von jenen Ideenlagen, jeweils durch gewisse soziologische Gruppen präsentiert, zum wirklichen Menschen mit seinen Belangen, um etwas Besonderes, eine metabasis eis allo genos6. I n Wirklichkeit aber hat das Recht, auch wenn es auf das Letzte hinzielt: das Zivilrecht auf den Effekt für den Einzelnen, daß er faktisch „bekäme", das Strafrecht etwa, auf den höchsten Modellfall für den Einzelnen: daß durch einen Exekutierenden sein „Zustand der Existenz beendet w i r d " , in Wirklichkeit aber hat auch von jenem terminus ad quem aus gesehen, das Recht, es nie mit dem faktischen A k t des Ergreifens oder Enthauptens zu tun. Sondern stets nur m i t Normen darüber, eben bei letzter pragmatischer 6
So nimmt wohl Lask an.
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Konkretisierung, daß der Schelm von Bergen den dortigen Räuber Jaromir m i t dem Schwert zum Tode zu befördern habe. K u r z : Selbst das Recht, das nicht nur feststellt, sondern verwirklicht, um einen Terminus Josef Kohlers für das Exekutionsrecht zu gebrauchen, stellt in Wirklichkeit ja nur fest. N u r daß und wie verwirklicht werden soll. Das Vollstreckungsrecht ist selbst kein Scharfrichter, kein Gerichtsvollzieher. W i r haben hier niemals ein „Verwachsensein abstrakter Inhalte mit konkreten Trägern", wie es so schön metaphysisch klingt, sondern immer bloß Inhalte von Normen, die zueinander i n Beziehung stehen. Sinnvoll darf man ja bei jeder Begriffsstufe in der Empirik von „ w i r k lich" sprechen; generalisierend und spezifizierend stellt sich dem Gedanken das da, was man „den F a l l " nennt. Immer bereits ein Fall von etwas! W i r wollen das Gemeinte noch folgendermaßen verdeutlichen: Bei unserem H i n z und Kunz haben w i r in Form erarbeiteter Rechtsdogmatik „Kaufvertrag", „ T r a d i t i o n " , „Rechtssubjekte". V o m Gesetz aus, situationsgemäß belangvoll teleologisch gefaßt. Vorher Politiker, Abgeordnete, Gesetzgeber, in kompliziertem soziologischem Zusammenwirken. Die Rechtswissenschafter an der Arbeit; die Leistungen vorgelegt, diskutiert, akzeptiert. Die Richter, Anwälte, Laien, welche die Wirkungen verspüren und sich wie alle entsprechend orientieren. A m Schluß der H i n z und der Kunz. Aber diese ganze Kette ist ja doch, wie soeben auch bei uns, eine gedankliche, kommt nie aus dem Gedanklichen heraus. Die wirklichen Hinze können selbst durch sog. Individualbegriffe nicht in ihrer „Fülle" — ein W o r t Husserls! — erfaßt werden. Es besteht insofern auch bei der Realisierung der Rechtsnormen eine genaue Analogie zum Problem des „Dings an sich". Vom, wie w i r wissen, komplizierten Ursprung primärer Rechtsnormen aus, ersten prinzipiellen Setzungen geht a long, long way — wohin? Gewiß nie weiter als es die begrifflichen Möglichkeiten gestatten. Aber hier taucht nun das pragmatische Problem auf, wie einer „schlechten Unendlichkeit", einem immer weiter Laufen H a l t zu gebieten sei. A n diese Stelle nehme man nun die so aufschlußreichen Untersuchungen zur Hand, wie sie Carl Engisch über juristische Konkretisierungs-, Individualisierungsversuche u. dgl. angestellt hat. Bei all diesen Begriffen geht es in W i r k lichkeit um Manipulationen, von deren vielfältigen Möglichkeiten w i r heute doch wohl, trotz der langen Geschichte der Rechtswissenschaft noch wenig Ahnung haben. Noch ist ja der Begriff der historischen Situation i n ihrer teleologischen Bedeutsamkeit nicht ins Bewußtsein der dogmatischen Jurisprudenz eingedrungen. Noch richtet sich die
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Konvention an den wie eine alte Krankheit fortgeerbten Interpretationsregeln immer wieder auf oder besser i m alten Gehäuse ein. Jene Manipulationen bezwecken auch i n bester Absicht dem „Rechtsbewußtsein", also Gegebenheiten einer Zeit und ihrer rechtsmaßgeblichen Kreise (grob ausgedrückt: Machthaber i n ihrer soziologischen Bedingtheit, Bürokraten, Juristen, Rechtsphilosophen, Politiker) i n plausiblen Gründen genug zu tun, damit ein Erledigungszeichen — ein aufs Logische gemünztes W o r t Drieschs — den pragmatischen Schlußpunkt hinter die unendliche Reihe der Möglichkeiten setzt! Wer w i r d heute i m gegenwärtigen Stadium der Psychologie die bewußten, halbbewußten, halbemotionalen, triebhaften Momente aufzuzählen wagen, die mitwirken und schließlich faktisch bestimmen, wie rechtsdogmatisch ein „konkreter Fall" entschieden wird. H i e r das System, die allgemeinen Normen des Rechts, dort unser H i n z und Kunz, ein rechtssoziologisches Gefühl beim Laien, ein bereits rechtsdogmatisch vorgeprägtes Gefühl beim Juristen für die Streitlage; so einfach ist das alles nicht. Eine unabsehbare Fülle von faktischen Richtschnuren, wovon man die autonomen „Interessen" nennen kann, aber auch die heteronomen, beide untrennbar m i t Kollektivem verknüpft, wenn auch von Subjekten als Auktoren ausgehend7. Das Teleologische i n diesen beiden Formen dann noch durch die Idee seiner objektiven Richtigkeit, wenn auch nur intentional bestimmt. Diesem allem gegenüber gibt es nur die pragmatische Möglichkeit: Angesichts solcher Ansprüche, Auffassungen, situationsbedingt, also stets auch bewußtseinsbedingt, gegenüber gegebenen Vorstellungen, Dogmen, rechtlichen Tabus usw. das „Richtige" als Recht hic et nunc zu bestimmen, d. h. zu wagen. Die situationsgestaltenden Wirkungen sind ja niemals klar vorauszusehen. Logisch gesehen ist es immer ein „Durchhauen"! Das war schon stets ein kluger Ausdruck juristischer Praktiker. Die Begründung geschieht immer als menschliches Unternehmen aus einem Zustand, in einem Zustand, über ihn hinaus wirkend, irgendwie „ i n Angesicht", bestimmt nicht so, wie es die eristische Dialektik meint, wenn sie von Argumenten ad hominem oder ad personam spricht. Aber die gegebenen Bewußtseinslagen fordern ihr Recht bei den Machthabern, welche die Gesetze gemacht haben, denen die Entscheidenden jedenfalls insofern verantwortlich sind, als sie ja doch jene Gesetze als Recht anwenden sollen. Der Bezug zu jenen, 7
Vgl. unsere Abhandlung: Über die unechte Alternative zwischen dem Kollektiv und dem Einzelnen, Akademie d. Wissenschaften u. d. Literatur, Abh. 1954.
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ja audi wie alle nur in Gedanken faßbaren, empirischen Momenten, dem Heteronomen, gegenüber den autonomen Vorgängen darf ja im Recht sprechenden nie fehlen, wenn nicht nur, wie i m Naturrecht, widerspruchsvolles Logonomes, sondern Recht als Hetero loges herauskommen soll. Die Entwicklung der rechtsdogmatischen Begriffe und Normen geschieht also nicht einfach in ein und derselben „Ebene", glatt logisch. Es ist bereits ein heterologes Problem, wo das der Fall sein kann 8 . Es gibt auch i m Recht so etwas wie einen Dedekindschen Schnitt, wo immer wieder „Erweiterungen" der bisher gebrauchten Begriffe nötig sind. Wie schwierig die pragmatische Bewältigung der Situation ist, läßt sich am besten einsehen, wenn man die rechtsdogmatische Auswertung despotischer W i l l k ü r studiert. Ein durch allerlei Konstruktionen versuchtes Ausscheiden dessen, was nur heteronom und nie heterolog werden kann! Wahre Trapezkünste des Geistes, um eben noch Recht festzustellen. Eine Anreicherung des Unsinns mit Sinn! W i r sind so zur Einsicht in eine bemerkenswerte Beziehung zwischen rechtsdogmatischer Auffassung, Bürokratismus und Despotie gelangt. M a n kann die A r t , wie man versucht, die Rechtsnormen an H a n d des Gesetzes festzustellen, sich an H a n d von Kreisen veranschaulichen. Den engsten Kreis bildet eine strikte Interpretation des Heteronomen. Man deutet wirklich nur Heteronomes; das Logonome als mitbestimmender Grund für das Recht als Heterologes bleibt ganz außer Sicht. Das ist der engste Kreis. Es ist der Kreis des Tyrannen und seiner Werkzeuge. Die Auslegung ist hier also i m engsten Sinne „bürokratisch": Die Bestimmung des Gewalthabers ist wie ein Sohn dieses Gottes, an den einfach zu glauben ist. V o n diesem engsten Kreis aus lassen sich nun darüber immer weitere Kreise bilden, die mehr und mehr das Logonome zur Geltung bringen, m i t dem Ziel, das Recht nicht als Ausdruck von Heteronomen, als paroles de la lois qui sont prononcées par la bouche, sondern als Heterologes, wirklich Angehendes, Verpflichtendes, nicht nur Zwingendes zu ermitteln. Aber natürlich muß selbst beim höchsten Ring, wo umgekehrt proportional dem engsten nun die Orientierung am Logonomen am meisten sichtbar ist, auch da muß, damit das Ergebnis noch „Recht" heißen kann (nicht Naturrecht!), das Heteronome, durch die Gewaltkonstellation aus der soziologischen Unterlage 8
Ullrich Klug geht in seiner Logik u. in seiner Abhandlung über den Handlungsbegriff des Finalismus als methodol. Problem (Festschrift für uns, S. 32 f.), diesem Problem nach, ebenso Theodor Viehweg in derselben Festschrift, S. 106 ff., unter dem Thema „Zwei Rechtsdogmatiken". 14
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Gebotene und nur empirisch nachweisbare, eben i m Regelfall das Gesetz, als Erkenntnisgrund mitwirken. H i e r beim höchsten Kreis ist also das Autoritative, Voluntative, Diktatorische i m Gesetz soweit wie möglich reduziert zugunsten des „Sinns", des logonomen Einflusses. „ E i n fluß" plotinisch verstanden! H i e r haben w i r also am wenigsten bürokratische Hörigkeit gegenüber der Bestimmung. Die Gleichung: rechtsdogmatische Begriffs- und Normenfeststellung — keiner oder alle Grade des Bürokratismus — Regierungsform ermöglicht alle Einblicke in die Gefahren gewisser Interpretationsweisen und in eine rechtssoziologische Entwicklung, an deren Ende jeder willkürliche Despotismus stünde. W i r haben erlebt, daß einesteils die Rechtswissenschaft die höchsten Anstrengungen machte, um Heteronomes, das als Erkenntnisgrund für Recht als echt Verpflichtendes für die Organe und die Untertanen untauglich war, „einzuklammern", wegzuinterpretieren. Daß aber auch andererseits sich ein Kreis zeigte, viel größer als man vermutet hatte, der w i l l i g Heteronomes der gemeinten A r t als alleinigen Erkenntnisgrund für Heterologes hinnahm. Führerwort gleich Gottesw o r t ! Solches nur denkbar durch Bestimmungshörigkeit, die alles als N o r m hinnimmt, was nur W i l l k ü r ist, auch wenn es der nomologen Einsicht des Interpreten widerspricht. Ein zunehmender Bürokratismus ist daher ein Symptom der Entwicklung zur Tyrannis, ein Weg in den Abgrund, wo es kein Recht mehr gibt, sondern nur noch Anmaßungen und dadurch ausgelöste Gehorsamsreaktionen, auch wenn der Weg zuerst nur durch Formulare gewiesen wird. Dies ist eine zunächst nicht so offen liegende rechtsphilosophische Seite des Bürokratismus. I n Wirklichkeit schon eine metaphysische, religiöse 9 . Der Bürokrat hält eine Teufelsmesse ab. — Durch Namensänderungen lassen sich Entwicklungen nicht ändern; der i n der Wurzel nötige „Gesinnungswechsel" müßte daher zunächst die Auffassung über die teleologische Aufgabe der Rechtsdogmatik gegenüber dem Gesetz betreffen. Als nächstes scheint uns dabei die Anerkennung des logischen Rangs der sog. Menschen- oder Grundrechte als dem Positivem „transzendent" für die neue Position einer Interpretationsgrundlage gegenüber der immanent positiven Auffassung dringlich. Sie ist auch dem positiven Juristen begreiflich zu machen. Geht es doch um seinen Sinn. Auch die positive N o r m , die ja reale, also erfahrbare Richtschnuren: Gesetze als Unterlage hat und auf entsprechende Realitäten hinzielt, 9 Über „Bürokratismus" vgl. Fischers Lexikon „Soziologie" (René König), wo auch Arbeit des Verfassers.
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ist, wenn auch ihr Inhalt verbindlich gesollt und vielleicht niemals befolgt w i r d — Kants Hinweis bei der Moral! —, der realen Möglichkeit nach wirklich. Die Frage, wo es sich nur um sog. Hypostasen handele, wenn dieser Begriff etwas „Falsches" bezeichnen soll, hätte die Psychologie zu klären. I m Sinne der religiösen Dogmatik hat dieser oft mißhandelte Begriff jedenfalls eine gültige Bedeutung innerhalb seiner spezifischen Begriffssphäre. Hypostase setzt oft eine Unterstellung „selbständiger Existenzen" voraus, wogegen schon die Herkunft des Wortes Existenz von Ex-esse spricht. Genetisch gesehen ist ja das D i n g stets Ausdruck für „gesetzmäßige Erfahrungen", also als solcher nicht anschaulich. Z u sehen ist immer nur das Sichtbare am Ding, etwa diese Seite bei der Beleuchtung usw. Insofern hat O t t o v. Gierke m i t seiner Behauptung über die Wirklichkeit der Verbände recht gehabt. Es gibt den w i r k lichen H i n z , den wirklichen Menschen, den wirklichen Staatsanwalt, das wirkliche Haus Wolfsbrunn, das wirkliche Restaurant Walterspiel in München, die wirkliche Athene von Myron. Es gibt wirklich Mitrasdarstellungen, die historische Rechtsschule, Frühromantik, christliche K u l t u r des Abendlandes, so auch wirklich die „einer Partei angeschlossenen Verbände", Arbeitsführer und Angehörige der Widerstandsbewegung. Wenn K a r l M a r x vom Fetischcharakter der Ware spricht, so bezeichnet er in der Tat Wirkliches, nämlich eine reale Bedeutung für die Menschen i n einer bestimmten Zeit, ebenso wie es eine sehr reale Bedeutung gibt, als solche etwa des letzten Besitzstücks, der aufgelesenen Blechbüchse i m Lager, des Büchleins vom gefallenen Sohn, „verweht i m Sand", wie Symbol, Alegorie, Sigel wirklich sind. N u r wer glaubt, man könne davon ausgehen, daß man eine echt konkrete Welt „hätte", ist gegenüber „echten Gegebenheiten" blind, die doch jeweils nur nach Zeit, Lage, Herkunft, Bewußtseinslage usw. sehr verschiedene Vorstellungen sind, von denen man ausgeht. Das beliebte Beispiel des Verhältnisses einer auf die Tafel gezeichneten geometrischen Figur zu dem Gegenstand der e n t s p r e c h e n d e n mathematischen Begriffe ist zur Illustration eines Wirklichen gegenüber angeblich bloß Begrifflichem ganz unangebracht. H i e r w i r d ein komplizierter Sachverhalt nämlich ein Vorgang der D i d a k t i k zur psychischen Einleuchtung logischer Verhältnisse verwandt, wobei Anschauliches und real Gedankliches zunächst einmal miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenige Vorstellungen haben so wie der von „Wirklichkeit" fremde Gesichtspunkte in die Dogmatik eindringen lassen und eine sozusagen naive teleologische Begriffsbildung erschwert. Auch die sog. juristische Induktion kann immer 14 *
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nur von Vorstellungen ausgehen, die man irrtümlich glaubt, nach A r t einer Menge gleich der der Früchte vor mir in dieser Schale, isolieren zu können. Sie kann daher audi zu nichts anderem als zu den so „ v o n unten" bedingten Vorstellungen irgendwie „oben" gelangen, zu mehr niemals. Nicht dadurch, daß man von den Begriffen des teleologisch Rechtssoziologischen (oben 2.) ausgeht, etwa dem Abschluß eines H a n delsgeschäfts zwischen einem Syrer und Babylonier, und nun allmählich vom Einzelnen absieht: der A r t der Ware, des Gegenwerts, der Volkszugehörigkeit usw. gewinnt man den Begriff des Kaufs, sondern ganz so, wie es der junge Jurist i m rechtsdogmatischen Unterricht erfährt, ausgehend von der zuvor entwickelten Bedeutung von Willenserklärung, Rechtsgeschäft usw., bis zur begrifflichen Entfaltung der einzelnen gegenseitigen Verträge. Es darf nie der Unterschied zwischen der gewußten Wortbedeutung, die aus vorwissenschaftlichen rechtssoziologischen Erfahrungen stammt, und der des Begriffs vergessen werden. Wenn auch, wie w i r wissen, die Genesis dieses Begriffsverständnisses bei dem Sohn eines Anwalts und dem eines Philosophen verschieden sein wird. Jener bringt dafür w o h l an psychischem A p r i o r i mehr mit. A u f die komplizierten Verflochtenheiten bei den sog. juristischen Realitäten hat schon frühzeitig Brodmann hingewiesen 10 . Eine „Rechtswelt", wie man so gern sagt, ist stets nur ein Mikrokosmos des w i r k lichen Makrokosmos. M a n könnte sie als sich wechselseitig bestimmende, definierende und derart geordnete Menge aller Möglichkeiten des rechtlich Angehenden verstehen, oder als Menge aller faktischen Rechtsgebilde oder Rechtstatsachen. Wobei es einer vorherigen Angabe bedürfte, was man als Element einer solchen Menge verstehen soll. Wenn man unter solchen Elementen die Rechtstatsachen meint, die Gegenstand „teleologischer Begriffe der Rechtssoziologie" sind, so stehen diese als Realitäten natürlich i n all den unendlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die man „Kausal" nennt 1 1 . Es wäre aber verkehrt, bei dem Verhältnis von Tatbestand zu Rechtsfolge an Kausalität zu denken, so wie sie bisher die Naturwissenschaft insbesondere die Makrophysik verstand. Die Beziehung Tatbestand und Rechtsfolge ist eine rechtsphilosophische und danach juristische Verwendung des übergeordneten Begriffsverhältnisses von Tatbestand und Sollens- oder Dürfensfolge. Es drüdtt sich in dieser Relation nur der Inhalt des Richtschnurbegriffs aus, den es 10
E. Brodmann, Vom Stoffe des Rechts und seiner Struktur, 1897. Über diesen Begriff heute Heyde, Entwertung der Causalität?, Urbanbücherei, Bd. 27 (1957). 11
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also beim Logonomen, Autonomen, Heteronomen, Autologen, Heterologen, überall wo eine Richtschnur auftaucht, geben muß: Als „Folge", die sich an die „Bedingung" des Tatbestands knüpft. I n der Wirklichkeit, der Sphäre der Rechtstatsachen pflegt nun gewiß häufig der Einsicht, also einem psychischem Faktum, des Käufers, „daß er gekauft hat" und „also" die Ware bezahlen muß, die Tatsache der Hingabe des Geldes zu folgen. H i e r bewirkt aber nicht der K a u f i m rechtsdogmatischen Sinne die Bezahlung, sondern die Realität der Auffassung bewirkt die Realität der Hingabe des Geldes, wieder über eine psychische Realität, die „ i m Innern" den „äußeren" Vorgang auslöst. Wobei w i r auf die Problematik der Beziehung von Kaudalität, Bedingungsverhältnisse, funktionellem Zusammenhang usw. hier ebensowenig eingehen können wie auf die Frage der Anwendung aus der klassischen Physik entnommener Vorstellungen auf das Verhältnis psychischer Realitäten wie eines Gedankens auf einen Vorgang in der sog. Außenwelt: die reale Hingabe des Geldes, die Entnahme aus der Geldtasche, die Annahme mit der H a n d usw. „Äußere" Tatsachen unter mannigfachen, auch rechtssoziologischen Kategorien! Die verschiedenen philosophischen Grundauffassungen haben sich bei dieser Problemsituation merkbar ausgewirkt. So kam i m Rechtsphilosophischen ζ. B. Schuppe nicht über die „Zusammenerfassung" von „Bewußtseinsinhalten" hinaus 12 . I m Strafrecht hat man besonders zeitig die besondere kategoriale Prägung dieser Verhältnisse erkannt 1 3 . Freilich noch immer geglaubt, so etwas wie ein „reales Substrat" gegenüber seiner „juristischen Seite" zu sehen, während es sich i m Rechtsdogmatischen gar nie um jenes Substrat, bei dem Rechtssoziologischen aber nur um Realitäten handelt. Die Zeit des Psychologismus war mit der Gefahr verbunden, die psychischen Momente, die es ja immer auch gibt, überzubetonen, „an sich zu setzen". Es ist das ganz große Verdienst Ed. Husserls, daß er in seinen „logischen Untersuchungen" vor mehr als einem halben Jahrhundert diesem Psychologismus ein Ende setzte. Daß die von ihm dagegen versuchte „strenge Wissenschaft" der Phänomenologie m i t ihrer empfohlenen Methode von „Wesensschau" alle möglichen unkontrollier12
Der Begriff des Rechts, Grünhuts Z. f. d. priv. u. öff. Recht der Gegenwart, Bd. 10 (1883). Besonders Wilh. Fuchs hat sich mit Schuppes Theorien befaßt. 13 Kohlrausch „Irrtum und Schuldbegriff im Straf recht" schon 1903; Hold v. Ferneck, „Die Rechtswidrigkeit" (im selben Jahr).
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baren Behauptungen auf den Plan rief und die Schule schließlich auseinanderfiel, ist bekannt. N u r Schaubares läßt sich erschauen, alles andere bedarf anderer Rechtfertigung, wobei man an ein scharf abweisendes W o r t M a x Webers erinnern darf 1 4 . Das Erschaubare kann nur ein spezifisch Erfahrbares sein und so sind w i r entweder auf unsere Unterscheidung von Apriorischem und Empirischem hingewiesen, soweit es sich um Begründungen innerhalb der systematischen Gedankenebene handelt oder auf das Verhältnis dieser Ebene zu der in anderer Dimension liegenden der Genesis, der Beschaffung des Stoffs als problematischen Vorwurfs 1 5 . Die Bezeichnung des Gebiets, wozu ja auch die Rechtswissenschaft gehört, als Geisteswissenschaft, hat i m Psychologismus nodi infolge der verschiedenen Bedeutungen von „Geist" in die Irre geführt. Auch die Psyche als Geist hat nicht immer Geist. Denken w i r nur an die verschiedenen Bedeutungen von Geist allein bei Hegel: subjektiven, objektiven, absoluten Geist; dann an Geist i m Sinne von Logos als „Bewußtsein überhaupt" bei der Marburger Schule als Idee des Systemgedankens verstanden, an Geist als „das Verstehbare" an etwas, an den Geist der Zeiten usw. Mag man auch noch so sehr betonen, daß der aus der römischen Rechtswissenschaft i n unser Zivilrecht gekommene Willensbegriff — „Willensakt", „Willenserklärung" — bereits eine Neubildung, einen Ansatz für rein Rechtsdogmatisches bedeutet, besser wäre es zu sagen, m i t der dazugehörigen „persona", einen Ansatz für eine gewisse charakteristische normative Auffassung im weitesten Sinne des „Tugenddenkens", so sind doch die klaren Hinweise aufs Psychische darin nicht zu übersehen. Freilich auch nicht die wohl damals brauchbaren pragmatischen Ansätze eben an dem, was vorwissenschaftliche Anschauung und naive Psychologie darunter verstanden. Daß der „ V o r satz" auch i n diese Begriffsfamilie gehört, erwähnten w i r schon früher. H i e r hat nun heute die Tiefenpsychologie, das Auftauchen östlicher Einsichten und Bewertungen „unbewußter" Vorgänge ein ahnungsloses Operieren m i t einem aus der Psychologie fix und fertig bezogenen Willensbegriff unmöglich gemacht. Die Psychologie war von nun an nicht mehr so einfach rechtsdogmatisch praktikabel. I n den betreffenden Tatbeständen muß also eine Anweisung enthalten sein, wie die Beziehung zwischen dem, was die Rechtsnorm unter „ W i l l e " rechtsdogmatisch treffen w i l l , und den psychischen Vorgängen im Bereich der Psychologie gefunden werden könnte. W o i m Psychischen dafür der 14 15
Wer schauen will, gehe ins Lichtspielhaus. Der programmatische Aufsatz in Logos, Bd. 1.
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Ansatz wäre. Denn beide Gebiete, das Rechtsdogmatische und das Wirkliche, wozu der Gegenstand der Psychologie gehört, sind doch notwendig derart einander zuzuordnen, daß die Rechtsnormen als anwendbar erscheinen, d. h. abgesehen vom logonomen Sollensmoment in empirischen Begriffen explizierbar. Sonst bliebe der Begriff der Willenserklärung, des Willensakts ein Vakuum, eine Leerstelle i m Normengefüge. M a n könnte nun zunächst versuchen, zwischen solchen, vom Rechtsdogmatischen unabhängigen Begriffen der Psychologie wie dem „ W i l l e n " , „der Fähigkeit zu handeln", der „Voraussicht" usw. und den rechtsdogmatischen Begriffen, die assoziativ auf jene hinweisen, Gleichungen zu suchen, „Transformationsformeln". W i r wissen jedoch, daß es sich bei jenen Begriffen „ W i l l e n " , „Voraussicht" usw. um laienhafte Simplifikationen sehr komplizierter Sachverhalte handelt, woraus gerade die sprachliche Fixierung „Stücke heraushaut", ein Muster für die Atomisierungstendenz durch Namen. Aber die Psychologie als eine Wissenschaft mit einem einheitlichen Gegenstand, dazu noch mit sehr verschiedenartigen Methoden läßt es nicht zu, daß man solche Begriffe aus ihrem theoretischen Zusammenhang reißt, aus ihrem spezifischen Systemgefüge, worin jeder, jedenfalls soweit sich die Wissenschaft auch signitiv, der Tendenz nach axiomatisch, entwickelt, an seiner Stelle nur die von anderen aus völlig verstehbare Bedeutung hat. Jene vorwissenschaftlichen Begriffe sind heute darin bereits nur noch so etwas wie Ausleseprinzipien, Methoden der Beobachtung, Fragen, wodurch begrifflich Forschungsbereiche ad hoc abgesteckt werden. Ganz in der gleichen Weise ist nun auch das Herausdrehen, Isolieren von Begriffen aus der Rechtsdogmatik nicht zulässig. — So bliebe vielleicht die Möglichkeit, zunächst den Blick auf das Ganze zu werfen, d. h. die Region der bereits „teleologisch geformten Begriffe des sozialen Lebens": das „Verstehbare" i n der teleologischen Beziehung zwischen unserem Robinson und Freytag. Zuerst aus ihr die dem Laien verständliche Bedeutung der Begriffe „ W i l l e n " u. dgl. zu beziehen, um so über das Ganze des Rechtsdogmatischen an seiner Stelle, also „vermittelt" den Anschluß an den spezifischen Rechtsbegriff „ W i l l e " u. dgl. zu finden. Ein Versuch, wozu ja die auf das Verständnis des Laien hinzielende Gesetzessprache anregen könnte. Aber dieser Weg erinnerte doch stark an ganz simple Auslegungsversuche: von der Wortbedeutung der Alltagssprache aus. Er ist auch aus methodologischen Gründen unmöglich, weil man weder auf der einen noch auf der anderen Seite, weder die Fülle des sozialen Lebens noch die des rechtsdogmatischen Gehalts so „besitzt", um je-
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weils darin einzelne Momente festzustellen, wonach die ersten die letzten erhellen könnten. — Es bleibt also zur Klärung des Sinns des rechtsdogmatischen Begriffs nichts anderes übrig als seine „Tragweite" an den Fällen und Entscheidungsversuchen zu erwägen, welche die Präjudizien ins Bewußtsein gehoben haben. Wobei die Verwertung der bisherigen rechtsdogmatischen Auffassungen bei uns bereits i m Gesetze die Einheitlichkeit ersetzen muß, die i m angelsächsischen Recht aus der Tradition und H a l t u n g sozusagen der subjektiven Perspektive, i m U n terschied zu jener begrifflich-objektiven, entspringt. Der status causae et controversiae gehört natürlich bei beiden als Stück aus dem „imagirären Museum" dazu. Stets gehört ja auch die Rechtswissenschaft, nicht ihrer Idee oder Aufgabe nach, sondern als Faktum, wie es ja auch ihre vorgelegten Ergebnisse sind, zu den rechtssoziologischen Tatsachen, die, indem sie die Situation mitbestimmen, bei der Ermittlung des an H a n d der Gesetze als verbindliches Recht, „situations ver antwortlich", zu Suchenden nicht ignoriert werden dürfen. W i r sehen, es gibt keine via regia, um eine einheitliche Deutung des „juristischen Willensakts" u. dgl. an H a n d der faktischen Vorgänge zu gewinnen. Was Georg Jellinek noch vor einem halben Jahrhundert für möglich hielt. Der einfache Hinweis auf einen Begriff, der ebenso einfach aus der Psychologie zu beziehen wäre, und dann so „anzuwenden", ist heute nicht mehr dishutabel 1 6 . M a n kann auch die M i t t e l psychologischer Forschung nicht einfach in isoliert naturwissenschaftliche und teleologische Momente, bei diesen etwa noch individualpsychologischer und sozialpsychologischer A r t zerlegen und dann ins eigentlich Rechtliche hinüberwechseln. Ganz entsprechend liegt es z. B. bei dem Ursachenbegriff i m Strafrecht. Es waren hier wohl zuerst Liepmann 1 7 und Kohlrausch 18 , die auf das für den jeweils fraglichen Rechtsbegriff und das danach maßgeblich Teleologische hinwiesen, um das „Relevante" zu finden. Die Theorien über „adäquatheit der Verursachung", über „Voraussehbarkeit", „Berechenbarkeit", „nachträgliche Prognose", gehören hierher, Der Kausalbegriff, hier zunächst am richtigen Platz, also nicht am falschen wie bei der Beziehung vom Tatbestand zur Rechtsfolge, ist so in seiner spezifischen Funktion i m Sinnzusammenhang des Schuldund Strafrechts frühzeitig erkannt worden. 16
Zu dem ganzen Auslegungsproblem jetzt C. Engisch, Einf. in das jur. Denken (Urbanb., Bd. 20). 17 18
Einf. i. d. Strafrecht 1900. Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, 1903.
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A u d i die „moralischen" Begriffe müssen hier noch einmal erwähnt werden. Überall haben w i r ja im „ V o r f e l d " , in der teleologischen Verarbeitung der sozialen Vorgänge Vorstellungen darüber, wie sie die verschiedenen „Moralen" als beschreibbare Auffassungen historisch-geographisch-ethnisch verschiedener Gruppen in Form von faktischen Richtschnuren enthalten. Sie treten sowohl Gruppeninternen wie Gruppenexternen, „Fremden" in jenem Fall gruppensoziologisch autonom, beim Einzelnen aber stets heteronom entgegen, doch bei jenen zumeist logonom aufgefaßt. Die neuesten soziologischen, anthropologischen und ethnologischen Forschungen 19 haben hier ein ungeheures Material ausgebreitet, dessen Normenbestand die widersprechendsten Formen zeigt. Es ist schon so, wie es Montaigne und Pascal i n jener noch viel mehr aufgegliederten Welt des Westens erkannten: das Überschreiten eines Flüßchens verändert den Aspekt von Gut und Böse! Es gelang weitgehend, diese „moralischen" Forderungen aus den ersten Erscheinungen der Tabus zu verstehen. Welche Probleme demgegenüber nun die „aufgeklärte" H a l t u n g des Menschen der „Gesellschaft" i m Tönniesschen Sinne, ja die „ H u m a n i tätsidee" aufwirft, braucht man nur anzudeuten. Auch hinter den vertrauten Begriffen der Rechtsdogmatik, wie „Verantwortlichkeit, Pflichtwidrigkeit, Willensbestimmung", steckt ja, ihrer Genesis nach, die Herkunft aus den Moralen. Aber auch hier ist, obgleich, wie w i r wissen, das dogmatische Recht auf wirklich Verbindliches hinzielt, obgleich es also „ethisch gelten" soll, der einzelne Begriff i m System, durchaus nicht m i t der dem W o r t nach verwandten Erscheinung auf dem Gebiet einer M o r a l identisch. Begriffe sind jeweils i n der Dogmatik nur ein Mittel, um mit ihrer und vieler anderer H i l f e das belangvoll Angehende, die Rechtsnorm als Fazit zu finden. Grade vom Standpunkt eines „Direktors eines imaginären Museums" von Moralen, Tabus, Fetischismen, aller Völker und Zeiten ist es besonders einleuchtend, welcher komplizierter Erwägungen es bedarf, um grade hic et nunc Geglaubtes, hier gefürchtet, dort verlacht, je nach seinem nicht nur soziologischen Geltungsgrad, sondern bereits als heterolog gewürdigt, ins Recht eingehen zu lassen. Grade bei der M o r a l besonders sichtbare Metamorphosen, die das Wagnis der Synthese von faktischen Moralen, entsprechend schizophrenen Zuständen in Entwicklungszuständen, Muckertum und ehrlich Bekanntem, humaner Würdigung des Möglichen und Zumutbaren erkennen lassen. Ein entsprechendes Pro19
Freud, R. Benedict, H. Mead.
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blem stellt sich ja jedem Liquidator von Regimen, wenn er nun i n wirklichem Recht den Beweis zu erbringen hat, ob er sich nicht nur Früheres m i t Gewaltmitteln, wie sie die soziologische Unterlage des Rechts zu Verfügung stellt, etwas, was ganz wie jene positiven Moralen akzeptiert wurde, einfach vom Hals schaffen, oder sich seiner rechtlichen Verantwortung bewußt sein w i l l . — So haben w i r also bei keinem der nichtjuristischen Begriffe, deren Namen dem Laien aus anderen Sphären vertraut klingt, die Möglichkeit, sie einfach so aufzugreifen, wie sie gebraucht werden und ins Rechtsgebäude einzufügen. Die so erarbeiteten, wegen des teleologischen terminus ad quem in die Zukunft hinein immer offenen juristischen Begriffe — jeder eigentlich so etwas wie ein Anfangslied einer unendlichen Reihe, dialektisch m i t anderen Anfangsgliedern entsprechender Reihen verbunden — sind nun gegenüber den nichtjuristischen gleicher Bezeichnung durchaus keine F i k t i o n e n . Niemals tut oder denkt der Jurist so a l s o b er seinen Rechtsbegriff anstelle von ganz etwas anderem setze. Der Symbolmonismus, der das Symbol auf Kosten alles anderen hypertrophieren läßt, hat hier eine ganze Generation von Dogmatikern irre geführt, die — die Behandlungsweise faktisch soziologischer Vorgänge durch neue gewohnt — bei unbilligen Zumutungen durch das Gesetz sich nun mit der von Vaihingers Philosophie des „als ob" suggerierten Vorstellung einer notwendigen Fiktion als Theoretiker trösteten. Ein Beweis mehr für leichte „consolationes philosophiae". Natürlich a b s t r a h i e r t auch der Jurist bei seiner Begriffsbildung nicht. Abstrahieren bedeutet ja, wie w i r wissen, entweder einen Vorgang genetischer Vorstellungs- oder Begriffsbildung, i m Psychischen also, wie ihn sich eine längst überholte Psychologie dachte, oder man denkt klassenlogisch, von mengentheoretischer Basis aus. Beides liegt bei der dogmatischen Begriffsbildung i m wesentlichen nicht vor. Es w i r d in ihr unter teleologischer Intentio schöpferisch durchaus etwas Neues, gegenüber dem Homonymen ein aliud erstrebt. Die juristischen Universalien haben ihr eigenes compliziertes Bildungsgesetz. Die Frage, wie man sich gegenüber Früherem verhalten solle, ist genauer gesehen, einfach die Frage nach menschlicher Stellungnahme überhaupt. Jede Wirkung gestaltet Früheres. H i e r taucht das Kontinuitätsproblem auf. Dieses gibt es natürlich auch für die Rechtswissenschaft als Faktum, insofern sie ihre Lehren unter dem Gesichtspunkt der Tradition sieht. Wesentlich aber geht es i m Rechtlichen um diese Frage
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bei der soziologischen Unterlage, also dem Gesetz. H i e r heißt es immer: was soll man an Vorgefundenem behalten, umgestalten oder vernichten. W i r wissen, daß auch dabei immer schon soziologische Rechtsbegriffe mitwirken, die man vorgefunden hat: solche die feststellen und solche die aus K r i t i k am Festgestellten fordern. Dabei gibt es eine Analogie zu dem de lege late und de lege ferenda bereits i m rechtssoziologischen Vorfeld bei Gesetzeserwägungen. Stets hat sich Rechtliches ja bereits ausgewirkt. Es liegt kein „Naturzustand" vor, sondern was da ist, ist édités Material für die Rechts- und Sozialgeschichte. Das worauf sich jeweils die aktuellen Kontroversen beziehen, sind Bestimmungen, entsprechende Zustände, Institutionen, Auffassungen, woran längst die Rechtswissenschaft unmittelbar oder vermittelst ihres Einflusses auf die staatlichen Instanzen ihren Anteil hat. Die Auffassung von einem „ v o r rechtlichen Substrat", wie sie noch Lask zur Verständlichmachung der Gierkeschen H a l t u n g vertrat, zeigt, wie lange sich naturrechtliche Vorstellungen gehalten haben. Es sind konkrete Rechtszustände, deren Beseitigung, Umwandlung, Gestaltung i n Frage stehen. Es ist kein Nichts, kein platonisches „ouk o v " , aus dem man gestaltet. — Philosophisch wichtig ist dann, daß die logisch-ontischen Kategorien der Gleichheit und der Verschiedenheit hier unter pragmatischem Gesichtspunkt, eben dem der Rechtsgestaltung aktuell werden. Gleichheit und Verschiedenheit fordern ja begrifflich einander. W i r wissen: von einem vorgelegten Begriff i n der logischen Skala nach oben steigend, also „generalisierend", nimmt die „Gleichheit" zu, umgekehrt, nach unten, spezifizierend, die „Verschiedenheit". Es geht dabei um reale Gedankenbewegung und nicht um das zeitlose Reich der Sätze und Begriffe an sich, worin es ja keinen Vorzug, keine Uberbetonung solcher Momente geben kann. Insofern ist es nur pragmatisch möglich, diese so herauszustellen, daß es von dem einen davon auf Kosten des Anderen ein Mehr geben könne. I n einer solchen logischen Skala, worin man nach oben oder nach unten steigen kann, hat nur jeder rechts- oder auch rechtssoziologische Begriff seinem Inhalt nach seine bestimmte Stelle. Zum Beispiel: Wenn es Militärpersonen gibt, so tauchen die Offiziere und Soldaten auf, unter jenen die Stabsoffiziere und die anderen, unter jenen wieder Generäle, Obersten, Majore usw. Oder unter den „Akademikern", die wissenschaftlich tätig sein sollen: die Dozenten und die Studenten. Darunter wieder solche der verschiedenen Fakultäten: Theologen, Juristen, Mediziner, Philosophen usw. Darunter . . . N u n das Gesagte genügt wohl, um jetzt das Problem des gesetzlichen und
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damit immer zuvor begrifflichen Gleichmachens oder Spezifizierens aufzuzeigen: Es kann Rechtsnormen geben, die hinsichtlich der Regelung der Ehre das Spezifische zur Geltung bringen, also die Ehre des Arztes (nach dem Hippokratischen Eid!), des Manns des Rechts, der aufs Recht verpflichtet w i r d und dessen Ehre dahin geht, es nicht zu beugen; die Ehre des Kaufmanns verpflichtet zu solidem Geschäftsgebaren, die des Handwerkers, gemäß seinem Handwerkereid würdige, solide H a n d werksarbeit nach Muster seines Meisterstücks zu leisten . . . Weiter des Wissenschafters, der Wahrheit, Erkenntnis, Einsicht zu dienen, des Militärs, der zur Verteidigung seines Landes verpflichtet ist. Wenn man das Recht hat, sich mit anderen zu verbinden, so entstehen „Verbände", und es ist nicht einzusehen, weshalb ihnen dann nicht auch eine entsprechende „Ehre" zugebilligt werden sollte. Überall hätten w i r so konkreten Pflichten korrespondierende Ehrbegriffe, wobei es je nach der Zugehörigkeit zu verschiedenen Berufskreisen etwa des Arztes zu dem des Militärs, oder des Kaufmanns zum Stadtrat, als Schöffe zum Gericht jeweilig verschiedene Spezifika dieser A r t geben kann, die jedoch alle i n einem Gemeinsamen „Gleichen", eben jenem Pflichtbegriff Entsprechenden münden. Sucht man nun i n Begriffen und entsprechenden Normen nur e i n e Ehre anzuerkennen, so w i r k t sich dieses Faktum rechtssoziologisch aus. N u n doch etwa so, wie wenn ein Wärter eines zoologischen Gartens den Auftrag erhielte, jetzt alle Tiere seines Bereichs für gleich zu erachten. Er würde dann Elephanten, Löwen und Goldfische gleich füttern. Es ist also ein „abstrakter" Begriff, losgelöst aus seiner logischen Geltungssphäre, w o r i n er allein sein spezifisches Gewicht hat, der sich, als Faktum i m Sinne jenes Goetheworts „Unglück anrichtend" auswirkt. Der im Rechtsdenken und dann in Gesetzen, Judikatur praktizierte abstrakte Ehrbegriff w i r d sich also, wenn es nicht genügend rechtssoziologische Gegentendenzen gibt, entsprechend auswirken. Ja, bei dem funktionellen Zusammenhang von allem, auch i m Soziologischen, entsteht offenbar so etwas wie eine Kettenreaktion. Es breitet sich, wie der Kollektivpsychologe weiß, die Neigung, Spezifisches i m pragmatischen Merkbereich auszulöschen, wie eine Seuche aus 20 . Es gibt also nicht nur Gleichheit und die ihr stets logisch zugeordnete Verschiedenheit im Reich der Begriffe „an sich" im Sinne Bolzanos, so daß man unbesorgt sein dürfe: die Verschiedenheit 20
Hier heute wieder actuell de Tocqueville's Beobachtungen über die Auswirkungen rechtlicher Vorstellungen in USA 1835, dazu jetzt Ludw. Marcuse, Amerik. Philosophie, 1959, Rowohlt.
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sei ja logisch garantiert. Sondern es gibt sehr spürbare Auswirkungen in der Werk- und Wirkungswelt, also unter pragmatischem Gesichtspunkte, der ja zur Erzielung real möglicher (und nicht bloß logischer) Richtigkeit als Ausgangspunkt für den „nächsten Schritt" wesentlich ist, wenn gemäß unserer logischen Begriffsskala so oder so faktisch gedacht und entsprechend jenen Rechtsgedanken realisiert wird. Es gibt also in der Tat das Problem der „Gleichmacherei" für die Jurisprudenz. Es ist eine sinnvolle ja notwendige Frage, ob man gegenüber dem früheren Rechtsdenken und der früheren Rechtsgestaltung mehr nivellieren soll oder die Differenzierung belassen. Die dem Europäer längst ins Bewußtsein gedrungene „Gleichheit vor dem Gesetz" hat mit unheilvoller gedanklicher und rechtlicher Gleichschaltung nichts zu tun. Z u diesem Problem sollte man die Auseinandersetzung zwischen germanistischen und romanistischen Rechtsgelehrten, ja zivilistischen und publizistischen vom Ende des vorigen Jahrhunderts studieren 21 , oder die zu Beginn desselben Jahrhunderts über gesetzliches Eingreifen oder zusehen, wie sich die Dinge rechtssoziologisch entwickeln werden, was hier „das Leben" soziologisch von sich aus beläßt, formt oder ausscheidet. Wenn man unter „Technik" die Werkstätigkeit versteht 22 , die insofern schöpferisch ist als sie die „ N a t u r " i m weitesten Sinne verändert, bearbeitet, auf Grund komplizierter Forschertätigkeit und des so errungenen Wissens diese N a t u r den verschiedensten Zwecken dienstbar macht, so können w i r bei der rechtswissenschaftlichen Arbeit nicht von Technik sprechen. M a n wendet dann das Wort, das bekanntlich früher einen umfassenden Sinn besaß, der Kunst, Wissenschaft, Handwerk umspannte, in dem engen Sinne an, i n dem man heute vom technischen Zeitalter spricht. I m wissenssoziologischen Sinne ausgedrückt dem, worin sich der Sieg der Technischen Hochschulen über die Universitäten für jeden „ d o m i n a n t " 2 3 bekundet. Meinen w i r diese Realtechnik nicht, 21
Lehrreich der Gegensatz von Laband und Gierke, Gierke : Labands Staatsrecht u. d. deutsche Rechtswissensch., Schmollers Jahrb., Bd. 7 (1883); Laband: Beiträge zur Dogmatik d. Handelsgesellschaften, Z. f. d. ges. Handelsrecht, Bd. 30 (1835). 22 Manfred Schröter, Philosophie der Technik, Handbuch f. Philosophie, 1934, S. 1 ff. 23 Uber diese Dominanz ein Vortrag von Hans Freyer in der Akademie d. Wissenschaften u. d. Literatur, Herbst 1959 (der voraussichtlich in den Abhandlungen erscheinen wird).
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sondern „Methode" als Verfahren, das sich strikt einhalten ließe, so taucht die „Technik" der Askese, des autogenen Trainings, des H o l z schnitts, eines Epigramms auf. Technik als Anweisung, die man nur zu befolgen brauchte, um i m Ergebnis erfolgreich zu sein, hat es nun auch bei den Geisteswissenschaften immer gegeben. M a n braucht also nicht an die Werkzeugerzeugung zu denken, die vom ersten Pflug an über das Instrument zur heutigen Hypertrophie der Maschine führte. Es gab auch stets bereite Schematismen wie die Lullsche Kunst oder eine „sie et non" Methode, Techniken, die so sehr den Stil auch geisteswissenschaftlicher Erzeugnisse prägten, daß sich daran die Zeit ihrer Herstellung leicht bestimmen läßt. Diese Methodik, wenn auch nur hic et nunc und nicht systematisch, wissenschaftlich erwogen, aber doch längere Zeit hindurch praktiziert, hat man natürlich bereits dort befolgt wo es „teleologische rechtssoziologische Begriffe" gibt. W o also ein aus Gesetzen oder Gewohnheiten ermitteltes Recht die sozialen Verhältnisse merkbar beeinflußte. Ja, das römische Recht zeigt bereits von seinem Anfangsstadium an derartige Systematisierungen, die eben jene kunstvolle Ausgestaltung vom Gesetzten bis zu den spürbaren Gestalten i m römischen Leben ermöglichten. Freilich sind diese Systematisierungen — das ist charakteristisch — zuerst als Lehren für die Adepten ins Bewußtsein gekommen. — Aber auch das Technische i m engeren Sinne hat ja die Wissenschaft nötig. Schon lange hat man Anweisungen über die Technik der geistigen Arbeit, darüber wie man die nötige Literatur erfährt, ohne zeitraubende Umwege, ökonomisch. Wie man sie verwertet, die Ergebnisse gruppiert, wie man daraus Merkzettel, verfügbare revidierbare Zitate macht, Karteien anfertigt usw. Alles das in Parallelität zur Entwicklung der „Institute", der organisierten Zusammenarbeit, deren Ziele über die Kraft des einzelnen hinausgehen, die längere Zeitspannen überdauern. So wie sie A d o l f v. Harnack für die Kommissionsarbeit der Akademien und seiner wissenschaftlichen Gesellschaft plante und realisierte. Gewiß liegen bereits heute die Erfolge jener Technisierung auch der geistigen Disziplinen vor. Eine Philosophie der Rechtswissenschaft muß sie daher erwähnen. Ja darauf hinweisen, daß die „Automatisierung" dessen, was Robotern aus dem rechtswissenschaftlichen Bereich zugänglich ist — es ist wohl dasselbe, was der „bürokratischen" Herrschaft, der teleologischen Interpretation i m engsten und gefährlichsten Sinne, konträr der logonomen verfallen kann — nicht unwahrscheinlich ist.
§ 14 Überleitung z u m Wissenschaftsproblem Dialog zur Aufrollung der Gesichtspunkte M i t der Frage nach der Beziehung zur Technik taucht wieder das Problem auf, dessen A k t u a l i t ä t als Problem, als Streitobjekt bereits wissenssoziologisch interessant ist: Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der dogmatischen Jurisprudenz. Wie bei der Theologie ließe sich leicht eine Phase ausdenken, wo man diese Frage entrüstet abgelehnt hätte, weil das Unternehmen als etwas viel höheres empfunden würde als ein wissenschaftliches! Den ersten Vertretern der Dogmatik, die begriffliche Formulierungen suchten, um den am Recht Beteiligten, primär den Organen des Staats und denen, die sich an deren Verhalten orientieren müssen, klar zu machen, was sie nach den Gesetzen zu tun haben, wäre gewiß die Frage nach der Wissenschaftlichkeit wie ein W i t z vorgekommen. Ihre Sorgen waren andere. Es bleibt in der Tat ein ernsthaftes Problem, diesmal wirklich ein wissenschaftliches, nämlich wissenssoziologisches: in welchem Zustand, einem „wissenschaftlichen", jedenfalls so aussehendem, oder in einem anderen, worüber der i n der Wissenschaftstradition Erzogene nicht gern nachdenkt, die rechtsdogmatische Bemühung ihre Aufgabe am besten erfüllte. Denn es gibt natürlich Unternehmungen hohen Rangs, die damit nicht zugleich akademiereif i m Sinne humanistischer Tendenz sind. Was zunächst für das Wissenschaftliche spricht, ist die für alle Wissenschaften wesentliche Unabhängigkeit, „Autonomie", i n der sich heute der Jurist de lege ferenda und de lege lata gegenüber seiner Aufgabe fühlen darf. Insofern hat er eine wissenschaftliche Intentio. Daß das Gesetz, überhaupt alles Entsprechende aus der soziologischen Unterlage, ihn bei seiner Forschung bindet, könnte m i t dem Hinweis erledigt werden, daß ja auch die Naturwissenschaft nicht mit Möglichkeiten, Kombinationen spekulieren darf, sondern sich an das Vorgefundene, die Kontingenz halten muß, die nun einmal so ist wie sie ist, wenn sie auch anders denkbar wäre. Die wissenschaftliche Autonomie der Jurisprudenz zeigt aber noch andere Züge. Die reale Methodik auf anderen Gebieten führt dazu, überall Anleihen zu machen. Denken w i r vor allem an die, wie die Jurisprudenz, auf Anwendung zielende technische Wissen-
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schaft, dieDomäne der Hochschulen, die ohne mathematisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse gar nicht existieren könnte. Diese sind insofern für die technische Wissenschaft das, was die „Grundlagenforschung" i m engeren Sinne wieder für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen ist. W o gibt es eine solche doch für Wissenschaften charakteristische Abhängigkeit bei der Jurisprudenz, der Dogmatik? Ihre Begriffe, gewiß bei der Arbeit ans Licht getreten, damit infolge äußerer Momente offenbar, und schließlich wissenschaftlich bearbeitet, sind — wenn man von ihren logischen Voraussetzungen absieht — nur in der weiten Sphäre des Rechts, i m dogmatischen Reich der verschiedenen Rechtsdisziplinen beheimatet und nirgends sonst. Es ist ein wissenssoziogisches Thema zu fragen, was eigentlich der „gebildete" Römer über das rein Praktische hinaus, von seinem Recht „wußte". Es ist auch ein wissenssoziologisches, sich die Frage nach der Selbstgenügsamkeit beim heutigen dogmatischen Recht zu stellen. Es ist wichtig, sich bei der Jurisprudenz immer wieder klar zu machen, was die sog. Begriffsjurisprudenz anerkanntermaßen übersehen hat, daß ihr eine Aufgabe gestellt ist: Nämlich, in dieser Hinsicht, wenn auch nicht gleich den Gesetzen aber doch maßgeblich zu sein. Maßgeblich i m Sinne logonomer Richtschnuren! Auch die Naturwissenschaften, insbesondere die Technik heischt ja Beachtung, aber doch in einem ganz anderen Sinne. Bei ihnen heißt es, „wenn man dieses oder jenes beabsichtigt, dann ist folgendes zu beachten". Aber die dogmatische Rechtswissenschaft beansprucht eine ganz andere Autorität. Sie verlangt Gehör bei den O r ganen des Staats, bei all denen, die das Recht anzuwenden und zu gestalten haben, dann aber auch bei jedem, der damit zu tun hat; wenn auch nur in der äußeren A r t , sich danach zu richten. U n d das sind schließlich alle. Das Problem der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz betrifft also das regulative Prinzip, den „Sinn" der rechtsdogmatischen Bemühung. Insofern sie sich in der Wirklichkeit abspielt, als Vorgang der Geschichte zugänglich, trägt die Jurisprudenz als wissenssoziologische Erscheinung alle Zusammenhänge an sich, die w i r als Wirkung kausaler Vorgänge, als Interdependenz u. dgl. bezeichnen. Es gibt an sich nichts Wirkliches, was sich nicht auch i n den rechtsdogmatischen Bemühungen nachweisen ließe, wenn man es für relevant hielt und deshalb genügend erforschte. Der Psychoanalytiker könnte auch i n diesem Tatsachenbereich seine Libidophänomene auftreiben. Die dogmatische Rechtswissenschaft als Faktum, in der A r t , wie sie sich gebildet hat und wie sie sich weiter entwickelt, stets beeinflußt,
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jeweils auch ein K i n d ihrer Zeit, w i r k t aufs Rechtsleben und damit auf das ganze soziale Leben ein, und erfährt danach umgekehrt wieder von diesem ihre Einwirkungen. Spricht man ζ. B. von Begriffsjurisprudenz, so stellt man eine real nachweisbare Gepflogenheit fest, eine ganz bestimmte, charakteristische Weise, Begriffe zu bilden, wie jede Dogmatik an H a n d der Gesetze rechtlich bedeutsam zu werden, gewiß unter nachweisbarem wissenssoziologischem Einfluß, der eben zu der damaligen Zeit jene A r t „Begriffjurisprudenz" begünstigte. D a es immer juristische Begriffe gegeben hat, und geben wird, w i r d eine Wissenschaft von ihrem Wesen durch Einwände gegen die Begriffsjurisprudenz oder Einsichten in die Dependenzen nicht berührt. Das Wesentliche liegt in der Aufgabe, an H a n d alles dessen, was an „sprechendem Verhalten" im weitesten Sinne, i n Gesetzen, Gewohnheiten, Maßnahmen in der soziologischen Unterlage, der „Machtkonstellation" vorliegt, Verbindliches festzustellen. W i r wissen, nicht Regeln eines Spiels, worauf man sich nicht einzulassen brauchte, auch nicht solche, deren Folgen man einfach zu tragen hätte, sondern für den Adressaten Belangvolles, Seriöses, bei dessen Nichtbefolgung der Mensch „unrichtig" handelte. Eigentlich eine unglaubliche Aufgabe. Als Philosophen der Rechtswissenschaft haben w i r die traditionelle Philosophenpflicht, uns zu wundern. Wie jemand eine Apfelsine ausdrückt, um daraus den Saft zu gewinnen, auf den es i h m allein ankommt, so muß gleichsam der „Sinn" aus dem, gottlob nicht immer Unsinn der Anmaßungen einander ablösender Machthaber herausgeholt werden. Es gab Zeiten, wo man — idealistisch — den Gesetzgeber als halben Gott oder „guten Landesvater" ansah und seine heteronomen Ansprüche ohne weiteres als Veritas und bonitas ipsa. Der Wechsel der Regime hat hier die Augen geöffnet. Wer den zunächst anmaßenden Charakter der Auflagen übersieht, welche die jeweiligen Machthaber in mehr oder weniger guter Aufmachung i n den Gesetzen soziologisch wirklich auf-drücken, ist ein N a r r . I n unserem Beispiel m i t der Apfelsine. Auch wenn man sie nicht haben w i l l , kann man sie nicht wegwerfen. Es heißt stets: „Friß Vogel oder stirb." Trotz dieser Tatsache, die bei der zunehmenden „Vermassung" auch zunehmend zum Überhandnehmen des rein Willkürlichen, nur zur Sicherung der Macht dienenden Gesetzesinhalts führen dürfte, so daß für das Heterologe daraus immer mehr jener angebliche Wert von Rechtssicherheit faktisch maßgeblich würde, ist überall echtes Erbgut vorhanden, das aus den Zeiten intensiver wissenschaftlicher Hingabe an 15
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den Rechtsstoff stammt. Freilich ist dieses Erbgut m i t jedem Gesetzgebungsakt immer mehr zurückgedrängt worden, zugunsten machtpolitischer Ansprüche. Bis in unsere Tage hinein, präsentierte die soziologische Unterlage einen Rechtsstoff, der i n vielen Jahrhunderten gewachsen, nach allen Richtungen wissenschaftlich durchgeknetet, für die jeweils aufkommenden Bedürfnisse, „Interessen" empfangsbereit gemacht, zwar dem Einzelnen gegenüber heteronom war, aber wie selbstverständlich als heterolog dem Autologen zu entsprechen schien. Das gemeine Recht war wesentlich Schöpfung der Jurisprudenz und ging auch als solche in die Kodifikation ein. Der Jurist jedenfalls durfte hier sein Produkt als ratio ipsa empfinden, war es doch jeweils als Ergebnis wissenschaftlicher Geistesprozesse herausgekommen. Wenn man jedoch auf immer mehr Rechtsgebieten das Gestrüpp der positiven Gesetze sieht, ad hoc gemachter Anordnungen, Frühgeburten, Neues antithetisch gegenüber dem noch kurz zuvor Gültigen, immer wieder revidiert aber selten gemeistert, so sieht es aus, als ob wirklich nur eine Denkmaschine automatisch das Facit ausprägen könnte. Logisch ineinander geschachtelte Bestimmungen, auf der Ebene reiner Bestimmungsimmanenz, ein Dorado für Bürokraten als Interpreten. Die Zeit scheint lange zurückzuliegen, wo man von der Intentio des Gesetzgebers anders glaubte denken zu dürfen, ohne als N a r r zu erscheinen. H a t der Mensch unserer Tage doch auch so etwas wie Rechtszynismus ja Rechtsulk erlebt. Bei der rechtsdogmatischen Arbeit steckt der Jurist i m Brennpunkt unzähliger, immer wieder aus unbekannten Verstecken herausbrechenden Ansprüche. Aus allen Dimensionen brechen A n maßungen auf ihn ein. Der höchste Gewalthaber oft ein Proteus, große wirtschaftliche Interessengruppen, politische Parteien, Vertreter früherer, ja ältester Regime, neben solchen aller denkbaren Utopien, Sensationsbedürfnisse, das alles ergibt die Situation, worin der Jurist i m hellsten Lampenlicht arbeiten soll. Es muß ihn an Coué erinnern, der das Gewünschte als Tatsache suggerierte, wenn er vernimmt, wie man vom „ W i l l e n des Gesetzgebers", „ W i l l e n des Gesetzes", „ W i l l e n des Rechts", „ W i l l e n des Volks", „Geist des Gesetzes", „Geist des Rechts" als Ausdruck eines Gottes oder Logos gläubig sprach als einem heterologen Subjekt, dem man die Verantwortung für die Argumentation bei der Auslegung plausibel zuschieben könnte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer denn „die Träger" jenes Willens und Geistes seien. Die sog. Interpretationsregeln, d. h. die Grundsätze wonach man aus dem Gesetz das Recht herausholen soll, bieten schließlich
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in einem überlieferten Katalog eine große Auswahl von Arten, wonach man je nach Lage der Situation „bestellen" kann. V o n dem Ernst der logonomen Aufgabe aus gesehen, „kryptologisch", doch grade dadurch wie ein Spruch der Sybille geschmeidig verwendbar. Dieses K r y p t o l o gische war es, verbunden mit neuen Einblicken in das M i t w i r k e n des Menschlich-Allzumenschlichen beim Gesetzgeber, den Streitenden und Entscheidenden, das gegenüber den „Interpretationsmätzchen" das Bedürfnis nach einem „Tieferlegen", einer tieferen Besinnung auf den Sinn der juristischen Stellungnahme erzeugte. Es kamen zunächst mehr emotionale als logische Tendenzen zu W o r t ; aber grade deshalb rüttelten sie stark auf, ließen aufhorchen. „Der K a m p f um die Rechtswissenschaft von Gnaeus Flavius 1 eröffnete in Derutschland den K a m p f der sog. „Freirechtlichen Bewegung", der auf die Beziehung zwischen nachträglicher Rechtfertigung dessen, was bereits eingeleuchtet hatte, und dem i m Menschen wirksamen — man würde heute vielleicht das Modewort „Rechtsexistentiellen" gebrauchen — aufmerksam machte. Nietzsche begann allmählich auch i n der Rechtswissenschaft zu wirken, insofern man, unterstützt von der Tiefenpsychologie, Vorwände und Gründe, Ausreden und Ursachen unterschied. Der emotionale Charakter der freirechtlichen Bewegung war ruhigen Denkern verdächtig. M a n fing den Angriff m i t H i l f e der alten Maschen auf, und so ist leider die Gelegenheit zur Revision der üblichen Interpretationsschemen versäumt worden. Das Teleologische blieb i m wesentlichen i m Heteronomen; die Bedeutung des umfassenden Situationsbegriffs für das Heterologe blieb unerkannt. Auch die nüchternen Erwägungen dienenden Bestrebungen der Kreise, die sich unter der Parole „Wirtschaft und Recht" sammelten, wie auch die vor allem von Heck vertretene Interessenjurisprudenz haben die Gesamtsituation der dogmatischen Begriffsbildung nicht zum philosophischen Bewußtsein ihrer selbst bringen können. Doch kann das Vermeiden eines Schocks richtig sein. Aber alle Bemühungen um freie Rechtsschöpfung, um die Beziehung von „Recht zu Richteramt", über „Lücken i m Recht", „Analogienbildung", mehr oder weniger geschlossene Systeme „juristischer L o g i k " , „ T o p i k " müssen aus wissenssoziologischen Gründen immer auch danach untersucht werden, in welcher Weise sie von den ja ebenfalls nur traditionell mitgeführten also heteronomen Interpretationsregeln Gebrauch machen, und welche geisteswissenschaftlichen Tendenzen dabei mitwirken. I m Ganzen gesehen, w i r d jene ursprünglich emotionale Erscheinung hier 1
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H . U. Kantorowicz.
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zunächst auf logischer Ebene aufgefangen. Allmählich dürften aber auf diese Weise doch bisher unentdeckte „Schichten" zum Vorschein kommen, welche die dogmatische Begriffsbildung nicht übersehen darf. Immer geht es dabei i n letzter Linie um das Wagnis, Tatsächliches als Mittel zum Sinn zu verwenden. Etwa umgekehrt wie bei der Traumanalyse, wo das Sinnhafte, i m manifesten Traum Gegenständliche, Bildhafte zurückübersetzt w i r d ins Latente, Gegenständliches in Zuständliches2. Ganz entgegengesetzt verläuft der gedankliche Prozeß beim Rechtsdogmatiker vom Faktum zu Sinn. Gehen doch den Menschen alle Tatsachen jeweils nur als Anweisung auf einen Sinn etwas an. Wenn Gesetze angebrachtermaßen oder ihrem Inhalt nach unrichtig sind, heben sie sich als Behauptungen, was sie als verstehbarer A k t immer sind, selbst auf. Aber als Fakten existieren sie. Was an solchen relevant, bleibt das rechtsdogmatische Problem, nur von der Idee des gesamten Normenzusammenhangs und der gesamten Situation aus lösbar. Die Möglichkeit der Transformation der Inhalte von Geboten zu solchen theoretischer Urteile, die freilich ebenfalls der Realisation dienen sollen, ist so die „verdammte Frage" — um m i t Dostojewski zu sprechen — welche über das Wissenschaftliche i n der dogmatischen Rechtswissenschaft entscheiden wird. Die Rolle des Systematischen, der Konstruktion usw. sind dabei Sonderprobleme, was jeweils als „Stoff" so logisch systematisiert oder als Aufgabe konstruiert werden soll. Die allgemein logischen Mittel, welche die rechtswissenschaftliche Arbeit mit allen anderen Verfahren gemeinsam hat, glaubte sie als Klassifikation, I n - und Deduktion, Definition des Inhalts, Bestimmung des Umfangs der Begriffe u. dgl. frühzeitig beobachtet und beschrieben zu haben 3 . Aber das Spezifikum, das in der genannten Transformation von Fakten zu Teleologischem, nicht nur Heteronomem sondern Heterologem besteht, enthält noch immer eine ungelöste, offene Problematik. Die Verwandlungsstadien: am Anfang teleologische Begriffe des sozialen Lebens", sodann als letztes Ziel „teleologische rechtssoziologische Begriffe" als „generell begünstigende" Vorstellungen in der Gesellschaft für die soziologische Geltung, die Akzeptation des rechtsdogmatischen Urteils als Mittel, woraus sich die maßgebliche N o r m unmittelbar ablesen ließe, bedeuten die besondere Komplikation. — D i e Rechtsgeschichte 2
Zum Traum jetzt Werner Kemper, Rowohlt 1955. Rümelin, Juristische Begriffsbildung 1878; W. Wundt, Logik, Bd. 2, Abt. 2, 1895. 3
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erscheint gegenüber der Rechtsdogmatik als einfach, wenn man sie als Geschichte ansieht. Natürlich wie jede historia rerum gestarum als ein Unternehmen, das seinen Gegenstand unter jeweils verschiedenen K a tegorien betrachtet, deren Zusammenspiel erst, im Schnittpunkt geisteswissenschaftlicher Flächen oder Koordinatensysteme den Gegenstand am wenigsten einseitig erfaßte. So ist Rechtsgeschichte ihrem Gegenstand nach Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Geschichte des Menschen und alles dessen, was er auf der Welt gestaltete. Das Material in den rechtssozialen Vorgängen und Institutionen ist hierbei stets durch das, was an Rechtsnormen wirklich geworden ist, gestaltet. Soziologische Aprioritäten, wie sie in immer feinerer Entfaltung die rechtsdogmatische Begriffsbildung benötigt, sind hier meist in einfacher Form, bereits im Rechtssoziologischen konsumiert und für die rechtshistorische Forschung jedenfalls insofern genügend, als es sich dabei nicht um Geschichte der Dogmatik selbst und der dahin zielenden Gesetze handelt. Für Dogmengeschichte und Dogmenvergleichung muß die Arbeit der Rechtsdogmatik freilich vorausgesetzt werden. So wie es auch bei der Geschichte der philosophischen Dogmatik der Fall ist. Aber die soziologische Wirksamkeit, „Geltung" muß bei den historischen Disziplinen stets mit einbezogen sein, das was an Doktrinmöglichkeiten jeweils wirklich geworden ist, insofern einzig an seiner Stelle i n der Geistesgeschichte. Wer aber den starken Einfluß philosophischer, sozial- und rechtsphilosophischer, religiösdogmatischer jedenfalls einmal tatsächlich vertretener Doktrinen — unbewußter oder bewußt gebildeter — , auf die Rechtsgeschichte kennt, w i r d darüber hinaus noch der Ansicht sein, daß nicht nur all die Momente, welche die Geschichte als Wissenschaft möglich machen, wie sie die südwestdeutsche Schule der Kantianer festgestellt hat, sondern darüber hinaus die Sonderbedeutung der Philosophie, wie sie etwa Hegel lehrte, hier in die Würdigungen einbezogen werden kann. Gehen w i r von den verschiedenen Richtungen, Tendenzen zum Gegenstand „Rechtswissenschaft" über, so „wie er in gedruckten Büchern vorliegt" — um einen Ausdruck der Marburger Schule zu gebrauchen — , freilich nur als Orientierungsmaterial. Dogmatische Rechtswissenschaft liegt ja als Faktum vor, freilich in dieser Gestalt wirklich nur als wissenssoziologisches Faktum, so wie es die Kölner Soziologenschule schon von Anfang an aufgefaßt hat, wobei gerade der Wissenschaftscharakter sowie die Richtigkeit der Begriffe i m Einzelnen, ja die des Unternehmens als solchen zunächst dahingestellt bleiben. So
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wie es Dämonologien als Faktum gibt, ohne daß es ihren Gegenstand: die Welt der Dämonen jedenfalls so gegeben hätte, wie es jene annahmen. Beginnen w i r m i t einem imaginären Gespräch. Der große Anreger zu der Streitfrage war I . H . v. Kirchmann. M a n braucht sich aber als seinen Partner nicht den größten von damals, Fr. Julius Stahl, zu denken. Α . : Was ist denn eigentlich das Wissenschaftliche an oder in der dogmatischen Rechtswissenschaft? „ D r e i berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden M a k u l a t u r " 4 . Ja man kann wohl noch weiter gehen und sagen: nicht nur eine Berichtigung — die die Möglichkeit des Richtigen schon voraussetzte —, sondern jede neue „Wendung" 5 des Machthabers, der sich bei Regimewechsel für geschidtt hält, wenn er glaubt, auch so würde die Rechtswissenschaft schon aufmerken und sich umorientieren. Es gab mal eine Schrift von Rehm über „die überstaatliche Stellung der Dynastien". D a r i n versuchte Rehm positivrechtlich darzutun, daß durch die Verfassungen sich der rechtliche Grundstatus der Dynastien nicht wesentlich, sondern nur i n gewissen Punkten geändert habe. Aber es gab eben eine Änderung der Rechtsauffassung, die eine andere Interpretation des Geschehenen forderte. Also eine Umorientierung infolge der Ereignisse, die die ganze Deutung bestimmte. W o ist da das Wissenschaftliche? B.: Aber denken w i r doch tiefer, an das, was Jahrhunderte braucht, an jene berühmten „inneren, still wirkenden Kräfte", die Savigny und seinen Kreis so anzogen. Also nicht an die W i l l k ü r des Gesetzgebers, die freilich immer deutlicher wird, sondern an die „göttliche Fügung, die durch alle Zeiten geht und jede Generation nur dazu braucht, teil am Werk zu nehmen, so daß sich die Vergangenheit i n der Gegenwart erhält". So ist doch auch der Jurist nicht auf sich selbst gestellt, oder ein bloßes Appendix des jeweiligen Machthabers, sondern „ursprünglich", organisch von oben legitimiert. Α . : Eine solche Funktion oder Abhängigkeit von Höherem sei dahingestellt. Unerforschliches w i r d sich gewiß nicht so einfach enthüllen, daß man daraus praktische Interpretationsregeln entnehmen könnte. 4
Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft 1847, dazu Sternberg: I. H . v. Kirchmann, 1908, Landsberg, Geschichte d. d. Rechtswissenschaft, I I I , 2 (1910), Neuausgabe Kirchmanns von Neesse, 1938 (Citat S. 37). Als Gegenschrift besonders Stahl, „Die Rechtswissenschaft als Volksbewußtsein", 1848. 5 „Wenden können" nach Bülow ein Lieblingswort Bismarcks.
Das Wissenschaftsproblem
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M a n sprach daher audi beim Recht schon immer lieber vom Willen oder Sinn des Gesetzes als vom Willen Gottes, dem man den Dekalog überließ. Aber es bleibt doch bei Francis Bacons „tamquam e vinculis sermocinari". Der Jurist muß sich dodi — „irgendwie" sagt man heute, wenn man nicht recht weiß — „an die Gesetze halten", und diese werden doch, wie gerade die letzten Jahrzehnte besonders deutlich gezeigt haben, oft grundlegend geändert. Die alten Gesetze „führen" dann gegen den Willen grade dadurch, daß man antithetisch das Gegenteil bestimmt. Wobei es — direkt und konvers — nie zu wirklich Neuem kommt, sondern in der alten Linie bleibt. M a n sieht, daß ein forcierter „ W i l l e zum Neuen" wegen falscher Intentio nodi durchaus nicht ein „neuer W i l l e " wird. Aber das sind ja Zufälle. Die empirische Basis des Rechts: die Gesetze werden stets durch Machtspruch geändert. Die Änderung t r i t t nicht mehr als Reflex wissenschaftlicher Einsichten ein, sozusagen als posthypnotische Realität. B.: Aber kann man dies nicht auch von der Geschichtsforschung sagen, die doch dem Historiker längst den Rang als Wissenschafter verschafft hat? Findet er den H e l m des Agamemnon i n einem Zustand, der deutlich zeigt, daß er immer nur als Paradehelm gedient hat, nun so stellt der Historiker fest, daß der Trojanische Krieg eben nicht stattgefunden hat. Auch ein kontradiktorisches Gegenteil. Α . : Ein Unterschied bleibt aber doch. Der Historiker ist i n seinen Feststellungen völlig frei. Er ist in dieser Hinsicht so frei wie der Naturforscher, der plötzlich findet, daß es eine Rechts- und Linksweinsäure gibt und dann seiner neuen Erfahrung entsprechend die ursprüngliche Formel revidiert, so daß sie nun die alten und die neuen Erfahrungen zusammenfassend beschreibt. Aber gebunden ist er hierbei nur an die allgemeine wissenschaftliche Aufgabe, die ihn hier zur Revision der ursprünglichen Formel bestimmt. Wohlgemerkt: eine Idee, ein regulatives Prinzip i m Sinne Kants bestimmt dabei seine Arbeit, und kein Inhalt einer Bestimmung des noch so gewaltigen H i n z oder eines K u n z und Kompagnie. Unserem Juristen dagegen w i r d alles vorgeschrieben. Selbst m i t der Interpretation, also der gedanklichen Weise, der Methode geschieht es so. Der gesetzgeberische W i l l e schlägt sich immer mehr „auf die inneren Organe". D a Operari sequitur esse, trachtet er ins Innere, sucht er den ganzen Menschen zu erfassen. Denn nur von einer bestimmten Bewußtseinslage, so schön „Weltanschauung" genannt, hier aber gleichwertigem, nämlich „Rechtsanschauung", läßt sich ja „deuten", ist die dazu nötige Perspektive garantiert.
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B.: Aber man kann doch nicht leugnen, daß es einen — ich liebe das W o r t nicht — „Fortschritt" in der Jurisprudenz gibt. M a n kann ihn doch m i t Händen greifen, wenn man die heute gelehrten Unterscheidungen in den Lehrbüchern des Rechts mit den alten begrifflichen Distinktionen vergleicht. Wieviel komplizierter ist doch alles geworden. Fast bei nichts mehr, kann die rechtliche Entscheidung so einfach prompt erfolgen. Es heißt eigentlich immer: Es kommt darauf an. Man muß sich sehr in die modernen Theorien hineinlesen, die vielen Streitfragen studieren, und fast stets taucht die Möglichkeit von „Eventualentscheidungen" auf. Ja man kann sagen, je mehr Schwierigkeiten da jemand sieht, um so höher erscheint er als wissenschaftlicher Jurist. Früher sah das alles viel einfacher aus. Die Wissenschaft hat doch da allmählich die Augen geöffnet. N u n ist alles voller Probleme. Α . : M a n möchte an Faust denken: „ N u n ist die Luft von solchem Spuk so v o l l . . . " Aber sehen w i r nicht von dem Wichtigsten ab, dem, worauf es den jeweiligen Machthabern ankommt. Wozu sie ihre Juristen brauchen, ihnen Ausbildungsmöglichkeiten schaffen und sie bezahlen. Bestimmt liegt den „Machthabern" an den wissenschaftlichen Künsten als solchen wenig. Der Machthaber steht schmunzelnd neben dem Automaten, aus dem der Jurist, nach allerlei wichtigen Manipulationen, nach genauem Studium der Gebrauchsanweisung schließlich die Bonbons herauszieht, die der Inhaber des Automaten und Verleiher, der Machthaber vorher hineingesteckt hat. Er darf daraus nie eine Bartbinde ziehen. Es gäbe ein völlig falsches B i l d zu vergessen, daß es, um Jurist zu werden, einer Vorbildung bedarf, die i n der Hauptsache der Staat finanziert, daß es für das juristische Studium Studienordnungen gibt, die er zu beachten hat, wenn sein Studium ordnungsgemäß sein soll, daß er Examina machen muß, bestehend i n Antworten auf zuvor von Prüfern gestellte Fragen. Daß es einen Vorbereitungsdienst gibt m i t allen möglichen Stationen, die er erfolgreich zu durchlaufen hat usw. So kommt er schließlich präpariert aus all dem heraus, wenn er sich passend verhalten hat. Jede Verfassung, die nicht transzendent interpretiert wird, ist gemacht worden von solchen, die ein Interesse an ihr haben. Wählen kann man nur auf Grund eines zuvor bestimmten Wahlrechts, das die Möglichkeiten des Wahlausgangs antizipiert. Die U n abhängigkeit gegenüber dem Recht ist niemals eine totale, sondern stets nur eine bestimmte. Die Funktionen des Richters, der Weg, um Richter zu werden, die Kontrollen über ihn, sie werden sämtlich bestimmt. So ist seine Freiheit, mehr oder weniger groß, günstigstenfalls
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eine „Freiheit wovon" und keine „Freiheit wozu". Denn zu dieser „Freiheit wozu" müßte er ja dieses Gehäus von Bestimmungen durchbrechen können. Das Reich der Regelungen dem Logonomen öffnen! Regelungen und immer wieder Regelungen, wo es heißt, „wer sich nicht danach richtet, erfährt Sanktionen", können nie Gegenstand einer Wissenschaft sein, es sei denn einbezogen in die umfassendere Betrachtung der Sozialpsychologie oder Soziologie. Wenn nun der größte Scharfsinn darauf verwandt wird, Widersprüche i m Bestimmungsgestrüpp aufzulösen, so ist bereits diese Auffassung wissenschaftlicher Arbeit nicht mehr von dem Wesen der Bestimmungen aus zu verstehen. Weshalb sollen denn faktische Richtschnuren einander nicht widersprechen? Also bereits hier ist der Jurist genötigt sein Gehäus zu öffnen, um vom Heteronomen zum Heterologen zu gelangen. Das Futteral — ein Ausdruck Tschechows — , gewebt aus Bestimmungen, kann für den darin steckenden nicht Gegenstand einer Wissenschaft sein, wie sie die Jurisprudenz prätendiert. Bestimmungsimmanenz ist „Rechtswissenschaft ohne Recht", um den Titel eines berühmten Buchs von Nelson zu gebrauchen. Dabei noch einen euphemistischen Titel. Denn müßte es nicht noch schärfer heißen „Rechtswissenschaft ohne Recht und ohne Wissenschaft", jedenfalls so lange w i r nicht einen wissenschaftswürdigen Gegenstand entdeckt haben? B.: Was würde aber i n einer i n einem von Bestimmungen gewobenen K o k o n als Wissenschaftsgehalt bleiben, wenn man nicht m i t einem kühnen Gedankensprung die ganze Wirklichkeit „bedeutsam" machte? Etwa nach der Analogia entis, freilich nach dem ersten Sündefall? Α . : Der Sinn der Wirklichkeit muß freilich vorausgesetzt werden, wenn es sinnvolle Aufgaben in der Situation und schließlich Heterologes und Autologes geben soll, ohne daß man wie beim Tugenddenken von allem Wirklichen abzusehen sucht. Aber ehe w i r an diesen würdigsten Gegenstand: der Religionsphilosophie, praktischen Philosophie, Geschichtsphilosophie also nicht einer Wissenschaft i m engeren Sinne appellieren, müßte man doch einmal fragen: Weshalb hat es der Jurist überhaupt nötig, sich wissenschaftlich aufzuputzen? Ist diese soziologische Erscheinung allmählich i m Griechentum, Römertum und Arabertum entstanden, schließlich i m Streben nach Einsichten, die jeweils echter Intentio entsprechen, als Unternehmen gewaltig hochgekommen, denn ihrem Richtigkeitsanspruch nach ein Klischee, das man auf jede sinnvolle menschliche Bestrebung anlegen dürfe? Könnte man nicht denken, daß aus der Rechtswissenschaft ein Unternehmen ge-
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worden sei, bei dem höchster Scharfsinn, wissenschaftliche Intentio auf die Bewältigung eines i m Ganzen unwissenschaftlichen Gegenstands gerichtet wäre? Denken w i r uns den Modus, den wissenschaftlichen Eifer fort, der ja nötig wäre, um nach dem Mathematiker, Naturforscher usw. den Juristen akademiefähig zu machen, denken w i r dagegen einfach an situationsbedingte Tüchtigkeit des Juristen, ja wirklich „ i m Dienste" derer, die es, so lange es Staaten geben wird, immer geben muß? K a n n es, so gesehen, nicht noch eine höhere Richtigkeit als die heute konventionelle wissenschaftliche Form geben? Neben Religion, Kunst, ja Technik das dogmatische Recht als ein analoges Feld m i t der für seinen Adepten passenden A r t der Hingabe? Einer „ I n t e n t i o " , die freilich nicht, jedenfalls nicht i n erster Linie, eine „wissenschaftliche" wäre? B.: D a hätten w i r also tatsächlich, wenn die Rechtsphilosophie nicht das Recht bereitstellte, die Nelsonsche „Rechtswissenschaft ohne Recht" und sogar noch „ohne Wissenschaft". Ein Lichtenbergsches Messer, dem Klinge und Stiel fehlten. „Recht" müßte natürlich gewährleistet sein, damit aus der Hingabe an Heteronomes schließlich Heterologes, Maßgebliches herauskäme. N u r so könnte ja die rechtsdogmatische Tätigkeit auch ohne primäre wissenschaftliche Ambition sinnvoll, also richtig sein. Aber echte Wissenschaft steckt doch unverkennbar i m Recht überall drin. Auch wenn man es i m Ganzen so ansehen dürfte, wie I h r es tut. Wobei ich freilich auch nicht anders kann als „das Ganze" noch höher als einen noch so komplizierten Gegenstand einer Wissenschaft anzusehen. Α . : Sie deuten natürlich immer. Wie früher naiv nach ägyptischen Traumbüchern und heute nach den psychoanalytischen Thesen manifeste Trauminhalte. Aber es w i r d nötig sein, sich das komplexe Gebilde, das den Gegenstand der dogmatischen sog. Rechtswissenschaft bildet, einmal näher anzusehen. Analysieren w i r ihn. Beginnen w i r
damit,
darin nach dem auszuschauen, was, nach dem früher Gesagten, an wissenschaftlichem Gehalt i n ihm stecken könnte. Diesen Gehalt freilich nicht als monstrum i n loco alieno verstanden, wie etwa bei der „Begriffsjurisprudenz",
sondern richtig an seinem Platz, also grade da
nötig. B.: Ich sehe den Logos aufziehen, was mir schon vom Johannesevangelium her nur lieb sein kann. Ich weiß ja auch, daß sehr kritische Kantinterpreten beim Ausbauen ihrer transzendentalen Methode nicht
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auskamen, ohne dem Logischen unter dem unglücklichen Namen „Bewußtsein überhaupt" so einen Logos unterzulegen. Α . : Uberall, wo gedacht wird, müssen sich ja vom Kategorialen also logisch Formenden her, Abbildungen, Spiegelbilder, Reflexe, Zeichen, Entsprechungen i m gedachten, insoweit erfaßten Gegenstand finden. Mag man über solche Erkenntnisvorgänge auch sehr verschiedener A n sicht sein und daher i m vorgelegten gegenüber seinem Ziel auch recht Abweichendes annehmen, die Anamnesis i m Erarbeiten an seine logische Herkunft bleibt. Dies gilt natürlich auch für den Stoff, den die Jurisprudenz in ihren Lehrbüchern vorlegt. Insofern haben w i r doch alle von K a n t gelernt, der an H a n d seiner Kategorien das suchte, was sich schließlich als Ausdruck i m Wissensstoff finden muß. B.: Ja, Hegel hat dann sogar i n seiner Logik ein ganzes Wunderland des Logos aufgebaut, dessen Bewohner freilich sehr eifrig i n die konkretere Luft streben. Eigentlich ein vergeblicher Versuch, m i t untauglichen M i t t e l n aus der Logik herauszukommen. Α . : Treten w i r aus unserem Dialog jetzt in dieses logisch-ontische Museum ein. Freilich muß man auch hier seine „Schirme" abgeben. M a n muß Vorschriften beachten. Das Ausgestellte hat sehr verschiedenartigen Wert. Der Jurist ist immer ein voreingenommener Besucher. N u r etwas interessiert ihn. Andrerseits kann es jeweils für ihn richtig sein, nur etwas für a l l e i n wichtig zu halten. So bevorzugt er auch i m logisdi-ontischen Bereich je nachdem nur gewisse Gebilde, liest aus, überbetont, plakettiert. B.: Später w i r d man sagen, weil sie „existentiell" seien. Α . : N u n ja, „Existenz" ist ja auch nur etwas aus diesem Museum. Aber bei Hegel bleibt sie an ihrem Platz, verfolgt nicht i n ihrer surrealistischen Aufmachung den Besucher überallhin. I n der teleologischen Abteilung erscheint Existenz als unser altes „Aktuelles", das freilich auf dem Prager Philisophenkongreß zum ersten Male vorgeführt, nie Mode geworden ist, sich ja bisher nie einführen ließ. Das den wirklichen Menschen i n seiner Situation hic et nunc aus allem Möglichen allein belangvoll Angehende. Wie uns scheint, eine „Aufhebung" der pragmatischen Einseitigkeit und willkürlichen Ansichsetzung ins Systematische. Grade unter dem Aspekt des Aktuellen werden sich viele anscheinende Willkürlichkeiten als perspektivisch bedingte notwendige Einseitigkeiten enthüllen. Jedenfalls bemerkt man so bevorzugte Lieblingsfiguren, des „an sich" oder des „ f ü r anderes", der „ A l l h e i t " oder der „Einzelheit" usw.
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Β.: Ja leider auch der „ Q u a n t i t ä t " gegenüber der „ Q u a l i t ä t " . Α . : N u n , der Jurist tut recht, wenn er so i n situationsbedingter Funktion etwas anderem vorzieht, überbetont, kurz aus einer Perspektive b e i n a h e „ a n sich" setzt. Aber dem Rechtsphilosophen ist so etwas verboten. I h m müssen alle Stücke i n dem logisch-ontischen M u seum gleich lieb sein. Sonst w i r d er ein Clubist i m Club der „Ismen", dem nur jedes Mitglied als honorig gilt. B.: Es scheint so, als ob w i r anstatt i n die Abteilung für Ontitäten jetzt i n ein Naturalienkabinett einträten. D o r t , wo heute wieder „die N a t u r der Sache" gezeigt wird. Α . : Nein, w i r sehen nur eine Seite davon. Es gibt noch viele andere, wie vor allem das Soziologische i n seinen verschiedenen „Schichten": den „Stoff" für das Rechtsteleologische. Es gibt da noch viele „Räume" in unserem Museum. Aber das W o r t „ N a t u r der Sache", dem noch der Duft des Naturrechts anhängt, ist geeignet — grade weil es dem Laien ebenso einleuchtet wie die Bezeichnungen „natürlich" oder „unnatürlich" — , die aktuelle teleologische Problematik, worauf es ja der Dogmatik ankommen muß, zu verschleiern. B.: Es erinnert mich so etwas an die Wendungen vom „Wahren Staat" oder „wahren Menschen". Wenn man endlich zu wissen glaubt, worauf sich das Eigenschaftswort „ w a h r " allein beziehen kann, so gibt man diese Einsicht zugunsten jener für Unkundige faszinierenden Fassung auf. W i r sind doch auch froh, daß „ N a t u r " etwas Besonderes i m Seienden bedeutet, ebenso „Sache", nicht die res des Römers! Daß w i r Wesenheiten von Tatsächlichkeiten usw. unterscheiden. Α . : Gewiß, w i r hätten von allem, auch i m Rechtlichen, die „ N a t u r der Sache", wenn w i r zuvor die „Sache der N a t u r " hätten. W i r wüßten das rechtlich Belangvolle und seinen positivdogmatischen Ausdruck, also den Vollsinn der rechtlichen „ N a t u r der Sache", wenn w i r den Vollsinn der „ N a t u r des Rechts" wüßten. Ein Einwand, der natürlich nicht die Bemühungen trifft, sich vom Teleologisch-soziologischen her, einem vielgeschichteten Stoff, die rechtsdogmatische Lösung zu erleichtern. B.: Lassen w i r also die für die Gegenwart charakteristische Angst draußen: vor dem Logischen, das sich jetzt unvermeidlich vor uns auftut, wenn w i r den Obulus der Subjektivität hingegeben haben. Α . : Auch diese können w i r freilich aus dem Begriffsbereich, dessen logische Fermente w i r jetzt wenigstens ahnen wollen, nicht ganz ent-
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fernen. Erkennen, wissenschaftliches Erkennen wäre göttliche Intuition, „auf einen Blick", wenn es nicht schlicht das darstellte, was sich unter dem Gesichtspunkt des Aktuellen als richtig ergibt. So ist dieses Subjektive kein „Bewußtsein überhaupt", kein Logos, aber die rationale Perspektive, die jeweils aktuelle Sätze und Begriffe ermöglicht.
§ 15 Ontologische Kategorien Die Strafe unter der Sicht verschiedener Kategorien Ein nie ins Bewußtsein der Zeit geratener Philosoph, der daher auch nicht vergessen werden konnte, hat seine erste Arbeit dem „Sein in seiner methodologischen Wirksamkeit" gewidmet 1 . Wenn man auch heute hauptsächlich dank der von Bertrand Russell entwickelten Typentheorie 2 gewiß nicht mehr sagen w i r d „das Sein sei", so bleiben doch die „Auswirkungen" — das W o r t natürlich nicht i m kausalen Sinne verstanden — der Kategorien sowohl i n den Bestimmungsversuchen gegenüber allem Gegenständlichen wie in dem g a n z e n Erkenntnisbemühen darum erhalten. Insofern gibt es eine methodologische W i r k samkeit. Erinnern w i r uns an Kant. Er nahm bekanntlich die logische Tafel der Urteile vor, so wie sie einst Aristoteles entwickelt hatte. Heute würden w i r sagen: den logischen Gehalt psychischer Urteilsakte, um dadurch die Entsprechungen i m Ontologischen: den Ergebnissen des Erfassens zu finden. K a n t griff so i n seiner „ K r i t i k der reinen Vernunft" die sog. Elementarbegriffe des alten Philosophen auf, Kategorien, Prädikamente, Postprädikamente, um ihre logische Funktion i m Erfahrungsstoff zu erkennen. Freilich hat man bei diesen Gegenständlichkeiten, die später bei Hegel und darüber hinaus eine immer breitere Darstellung fanden, oft nicht genügend beachtet, daß diese ontischen Wesen eben begrifflich avisiert werden. I m Stoff aber dienen sie dazu 3 , „empirischen Urteilen, die sonst i n Ansehung aller Funktionen zu urteilen, unbestimmt und gleichgültig sind, in Ansehung derselben zu bestimmen, ihnen dadurch Allgemeingültigkeit zu verschaffen, und vermittels ihrer Erfahrungsurteile überhaupt möglich zu machen". Die Urteile der Rechtswissenschaft, darauf gerichtet, den mannigfachen Stoff des positiven Rechts zu bewältigen, sind, obwohl heterolog-teleologisch, nun gewiß Erfahrungsurteile. Ebenso wie das Wirkliches ausdrückende 1
Oswald Weidenbach. Es geht um die begriffliche Trennung der „Sphären". Anlaß gab das Bedürfnis nach widerspruchslosen Axiomensystemen. Früher, in der Scholastik unterschied man verschiedene „Suppositionen". 3 Kant, Prolegomena, I I . Teil, § 39. 2
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U r t e i l der Naturwissenschaft neben seinen empirischen Momenten immer Apriorisches enthält. Als „elendes Namensregister" interessieren uns jene Kategorien also nicht. Sie interessieren aber „ a m W e r k " den Philosophen der Rechtswissenschaft. W i r wissen heute, wie konventionell der Ausgangspunkt bei K a n t war. K a n t sah sich selbst genötigt, Berichtigungen daran vorzunehmen. Auch daß die spätere Zeit innerhalb der s ο einheitlich wirkenden Schar sehr verschiedene Funktionen entdeckte. Ja, daß diese ganze Betrachtungsweise als bloß vorläufige „verständig" i n einer umfassenderen, sie geistig überwindenden vielleicht „aufgehoben" werden könnte. Erinnern w i r uns für jenes an das Werk Nicola Hartmanns, für dieses an die Dialektik, deren verschiedener A r t Agnes D ü r r nachgegangen ist 4 . Das mag uns für hier gleichgültig sein. Entscheidend bleibt der Kantsche Gedanke, an H a n d logischer Urteilsarten — es hätten ebensogut auch Begriffsarten sein können — das Logische am Ontischen aufzuspüren. Bringen w i r uns die i n ihrer Einfachheit besonders einleuchtende Ausführung Kants in Erinnerung, mit der er dem Logischen die Entsprechungen i m Gegenständlichen zuordnet. Aus den Urteilen der
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dem Allgemeinen: die Allheit, dem Besonderen: die Vielheit, dem Einzelnen: die Einheit. Aus den Urteilen der Qualität: dem Bejahenden: die Realität, dem Verneinenden: die Negation, dem Unendlichen oder Limitierenden: die Limitation. Aus den Urteilen der Relation: dem Kategorischen: die Substanz und Inhärenz, dem Hypothetischen: die Kausalität und Dependenz, dem Disjunktiven: die Gemeinschaft. Aus den Urteilen der Modalität: dem Problematischen: die Möglichkeit und Unmöglichkeit, dem Assertorischen: das Dasein und Nichtsein, dem Apodiktischen: die Notwendigkeit und Zufälligkeit. Die aus den Urteilen abgeleiteten „Stammbegriffe" oder „Kategorien" sind nun insofern kein Spezificum der Wissenschaft, also auch nicht der 4
Philos., Abhandl., herausgegeben von Nicola Hartmann und uns.
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juristischen Dogmatik. Sie findet sich überall i m Gedachten. Es bedürfte daher noch so etwas wie einer Analogie zum „transzendentalen Schematismus". Die Unterscheidung von Apriorischem und Empirischem in der A r t der Urteilsbegründung, die entsprechende Abhängigkeit des letzteren von jenem Rationalen, wodurch der Empirismus unmöglich wird, die Ablehnung gewisser Formen als solche sinnlicher Anschauung, die w i r den Marburgern verdanken, machte an sich kein besonderes Schematisierungskapitel nötig, das ja stets die Crux der Kantinterpreten war. Es bliebe aber die Frage nach der typischen Ausgestaltung des Kategorialen i n der Wissenschaft überhaupt und dann in unserer Rechtswissenschaft. Die vom Wertbegriff ausgehenden Arbeiten der süddeutschen Philosophenschule, die ein wertendes Subjekt der Fülle des Gegenständlichen gegenüberstellen, um so die Besonderheiten der Auslese, die Methoden der Begriffsbildung zu ermitteln, sind für uns nicht ohne weiteres zu übernehmen. So wichtig auch Einzelergebnisse wie die Unterscheidung des Nomothetischen vom Ideographischen sind. Erst Husserl, vor allem in seinem letzten Aufsatz „über die Krisis der exakten Wissenschaften" zeigt, worum es hier geht: um den Reflex des vom Logischen ausgeworfenen nicht auf das Ontische schlechthin, wie bei den von K a n t aus den Urteilsarten ermittelten „Stammbegriffen", sondern auf das typisch wissenschaftliche und dann seine Unterarten, wozu ja die Rechtsdogmatik gehören möchte. H i e r ist neben einer Situationsphilosophie, die das Teleologische verarbeitete, die Stelle des missing link für die Philosophie der Rechtswissenschaft, die w i r leider, ja m i t dem Ganzen des Unternehmens Rechtswissenschaft beschäftigt, zum Zweck des stetigen Überganges vom allgemein Ontologischen ins typisch Rechtslogische nicht einfach vorlegen können. Vorerst noch Folgendes. Bekanntlich hat Hegel gegenüber K a n t i n seiner Logik das Riesenreich von Wesenheiten einer objektiven Logik i m Sinne des Kategorialen unabhängig von der Urteilstafel ausgebreitet. W i r haben hier das Sein, Nichts, Werden, Entstehen, Vergehen, Dasein, Realität, für sich Sein, Sein für anderes, Eins, Vieles, Quantität also, Diskretion, Kontinuität, Zahl, Grad, Maß, Wesen, Erscheinung, Positives, Negatives, Ding, Eigenschaft, Existenz, Haben, Kraft, Äußerung, Inneres, Äußeres, Möglichkeit, Zufälligkeit, Wirklichkeit, Substanz, Akzidenz, Kausalität, also Ursache, Wirkung, Zweck, Leben. Das Entscheidende an der Idee des in diesem hier nicht vollständig, noch weniger in der Form der Hegeischen Ableitung gebotenen Katalogs von Kategorien, ist, daß es diese „Momente" an jedem Stoff geben muß, am Erkenntnis-
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und also auch Wissenschaftsmaterial, daher audi bei uns. Vielleicht darf man sagen, daß gegenüber dem einfach i m Gedanken Erworbenen überall wo die Intentio auf „wissenschaftliches" Wissen gerichtet ist, ein Uberblick über den Begründungszusammenhang der Sätze und Begriffe erstrebt wird, der in der gleichen Richtung der Intentio Verbesserungsmöglichkeiten offenläßt. Ein auf die Tradition zum Zweck der Weiterbildung Rücksicht nehmendes Nachdenken, mit dem offenen Visier der Methode. Das wissenschaftsverantwortliche Nachdenken wäre sich so der Aufgabe bewußt, die Ergebnisse zur K r i t i k vorzulegen und Ansätze für die Nachfolger zu bieten. Solcher Intentio würde dann auch der Zustand des wissenschaftlichen Gedankenguts entsprechen, des „objektiven Geistes". Unter dem Gesichtspunkt der Kategorienforschung hat die Frage nach dem System auch die positive Rechtswissenschaft berührt. Insbesondere in Hinblick auf die angelsächsische Jurisprudenz, aber auch auf die frühere eigene „Begriff sjurisprudenz" interessierte das rechtsphilosophische aber auch wissenssoziologische Thema den Juristen. Aber i m engeren philosophischen Bereich vollzog sich ja auch ein Wandel von der Selbstverständlichkeit, womit der „systematische" Philosoph, der kein Ekletiker und kein Historiker seines Fachs war, nach seinem System trachtete, und von dem guten Gewissen und Vertrauen, mit dem er es gestaltete, zu der Problematik des Systemwillens und der Einsicht in die den Einzelnen übersteigenden Aufgaben. Diese philosophische Entwicklung oder Veränderung der Lage soll hier kurz gestreift werden. System bedeutet ja „Einheit i n der Mannigfaltigkeit", i m „Logischen" der Begriffs- und Satzsphäre: der Bedeutungen. N u n zeigt schon der erste Einblick in die unendlichen Reihen von Gliedern in jeder eröffneten Bedeutungsreihe an sich gesetzter Bedeutungselemente — man denke ζ. B. nur an die Zahlen und die mehrfache Erweiterung des Zahlenbegriffs — , daß eine vorschnelle Einheitbildung solcher gedanklich unvollendbarer Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten zur „Herabsetzung" der einzelnen Momente führen muß. Eine Projizierung auf eine Ebene, ins Eindimensionale, läßt das gedanklich immer nur Angeschnittene, problemhaft i n die Zukunft weisende unter der Tyrannei eines Prinzips, das man als tragfähig für alles andere hält, eines Prinzips, das gegenüber anderen etwaigen Grundbegriffen oder Axiomen den Abschluß der Methode verkündet, wobei statisch, die logische Sphäre gleichsam erstarrt. I n Wirklichkeit w i r d anstatt der U n endlichkeiten eine endliche Menge, vielleicht wohldefinierter Gedanken 16
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und Begriffe vorgelegt. M i t dem Anspruch auf ein „non plus ultra" gegenüber aller Problematik, die so außerhalb des Systems bleibt, die von hier aus nicht entscheidbar ist, also „ f ü r sinnlos" ( N . Hartmann) erklärt werden muß. Die Vergewaltigung durch die Einheit auf Kosten der Vielheit, ja Unendlichkeit war so das erste, was auffiel und die sog. klassischen Systeme als Frühgeburten empfinden ließ. Es kam also darauf an, i n den begrifflichen Maschen des Systems Antizipationen zu sehen, die jeweils ins Unendliche führende Reihen von Begriffszusammenhängen eröffneten. Hypothesen, wie sie schon die Marburger Schule lehrte. Vergessen w i r nicht, daß dazu das Teleologische i n seiner mehrdimensionalen Form ad usum des Juristen der rechtlichen Dogmatik nodi wissenssoziologisch besondere Aufgaben stellt. Wobei sozusagen das „ a n sich" Systematische in der Erfassung der Bedeutungen noch unter die Notwendigkeit gestellt wird, ein praktisches Instrument zur Verwendung des Juristen zu werden! ökonomische Zusammenfassungen i n Form von dem Juristen verständlichen Begriffen, um daraus den Schluß auf das belangvoll Gesollte, das „Recht" des Einzelfalls ziehen zu können. Noch 1912 behandelt N . H a r t m a n n 5 unter dem Thema „Systembildung und Idealismus" das allgemeine Problem, wobei er allerdings schon die Kategorien als „variable Elemente" auffaßt. Eine Ansicht, die durchaus der Grundauffassung des durch die A b handlung zu ehrenden Gründers der „Neukantianer" Hermann Cohen entsprach. Die Glieder also nicht als dogmatische Gegebenheiten aufgefaßt, wie in früheren Systemen, sondern in ihrer Funktion. Demnach in der Wissenschaft a m W e r k , und dann natürlich an ihrem jeweiligen Produkt „so wie es in gedruckten Büchern" ausgebreitet ist, nachweisbar. Gültig auch für die Begriffswelt der rechtlichen Dogmatik, wenn auch hier die von Hartmann gemeinte reine Systemidee purer wissenschaftlicher Intention durch jene teleologisch-pragmatische Funktion zunächst „ v o n Juristen für Juristen" eine Umwandlung erfahren muß. Zunächst werden da von Hartmann die uns bekannten Kategorien von Identität, Nichtidentität, Allheit, Einheit, Raum und Zeit, Kausalität, Befreiung, Wechselwirkung, Prinzip, Bedingung, Möglichkeit, Form, Methode, das Allgemeine und das Individuelle, Subjekt und Objekt, ja das Rationale und das Irrationale (als das noch nicht begriffene, insofern freie) vorgeführt. Eine Reihe 5
Philosophische Abhandlungen, Festgabe für Hermann Cohen. Unter „Idealismus" ist keine idealistische Metaphysik sondern nur die transcendentale Methodik zu verstehen.
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von Korrelationen, von denen jede in ihrer A r t das Ganze durchdringt. Später — es ist das ein wissenschaftssoziologisch interessanter Vorgang 6 — w i r d die Basis dadurch erweitert, daß unter dem Einfluß der jetzt in den Vordergrund tretenden Phänomenologie, anknüpfend an die Wortbedeutungen eine erstmalig deskriptive Ubersicht versucht wird. Systemlogisch gesehen, bedeutet das Vorgelegte eine Summe von Problemen, eine, wenn man w i l l , noch ungeordnete Menge an Problematik, deren Elemente sich i n Wortbedeutungen, Vorstellungen, Meinungen u. dgl. fanden 7 . Freilich bei Hartmann schon eine Fülle in verschiedenen „Schichten" 8 . Aber, so müssen w i r fragen, kommen diese nun gegenüber den mutigen Übernehmungen im System zahmen ersten Feststellungen, wenn schon in einer riesigen Masse, denn ohne Kategorien aus? Gewiß nicht. Auch nicht, wenn man sie neu benennt, etwa von Schichten spricht. Freilich w i l l man keine auslöschenden Allgemeinheiten gegenüber dem übrigen mehr, keine Ansichsetzungen, keine Absolutheiten, aus denen man einfach deduziert. M a n w i l l natürlich auch keine teleologische Interpretation realer Vorgänge am Anfang. Dagegen w i l l man „die Kategorien den Realverhältnissen ablauschen". N u n , das ist eine Frage der Methode. Es bedeutet freilich reinen Realismus, wenn man glaubt, daß man auch nur erste Ansätze richtig oder falsch beschreiben könne, ohne doch diese immerhin stets verstehbaren H y p o thesen bereits i n kategoriale Formen zu kleiden. Das hatte der jüngere Hartmann nie übersehen. Es war das kritische Element i m Kantianismus, ganz unabhängig von sonstigen etwa idealistischen metaphysischen Thesen 9 . Wenn auch jetzt die Seinskategorien nicht mehr selbst apriorische Prinzipien sind — die aus dem Rechtfertigungsverfahren stammende Unterscheidung von apriori und empirisch für das Logische, 6
Als die temperamentvolle Persönlichkeit des Gründers der „Marburger Schule" gestorben war, zogen die meisten seiner Schüler bereits weit gediehene Manuscripte aus der Schublade. Die Zeit der Phänomenologie war herangekommen. Analogien für den Aufgang von Schulen auch der Rechtswissenschaft u. Rechtsphilosophie sind nahliegend. 7 „Neue Wege der Ontologie", System. Philosophie, herausg. v. N . Hartmann. 8 Ein Begriff aus der Geologie! 19 Insofern erscheint uns die Phänomenologie als ein Versuch, Philosophisches Denken wieder zu einem naiven zu machen. Das Verdienst der Phänomenologen anknüpfend an vorsystemat. Material, eine bisher übersehene oder ignorierte ungeheure Fülle von Problemen zur neuen systematischen Bewältigung vorgelegt haben, bleibt von unserem Einwand unberührt. 16 *
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ergab ja nur Entsprechungen im Ontologischen! — , die Entnahme, das Aufgreifen, gleichsam unmittelbar aus der Gegenstandswelt, bedeutet doch, wenn nicht eine Offenbarung der persönlichen Genesis i n der Beschaffung des Materials, logisch eine „Anmaßung", sich in logischen Thesen den Kategorien zu entziehen. Hier, wo es sich um die Durchdringung des Stoffs mit den Kategorien handelt, ist eine solche methodologische Klarstellung der eignen Position nötig. Bei einer Philosophie der Rechtswissenschaft kann es sich nicht darum handeln, eine Geistesgeschichte der Jurisprudenz zu liefern. Dazu wäre das Anschauungsmaterial, aus der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, der römischen, i n den antiken Ansätzen und später einflußreichen philosophischen Theorien, sowie das vergleichende Material aus der ganzen Welt nötig. H i e r geht es dagegen darum, sich den Sinn der rechtsdogmatischen Bemühung zu erarbeiten oder wenigstens davon einen ersten Begriff zu bekommen, freilich nicht nur der „Idee" dem regulativen Prinzip nach, i m Sinne Kants, sondern bereits „dem Begriffe" nach, dem konstitutiven Prinzip. Wonach eine tatsächliche Dogmatik begreiflich wird, die ihre Funktion zu erfüllen sucht. Die neue Ontologie verwechselt nicht mehr Realität m i t einer A r t davon: der Materialität. M a n hat die verschiedenen Bedeutungen von Raum und Zeit aufgenommen, so wie sie in der Entwicklung der Naturwissenschaft der Physik zutage treten. Aber, i m Einzelnen so oder so verstanden, gibt es doch Reales, Materielles, Räumliches, Zeitliches, Allgemeines wie I n dividuelles überall i m Gegenständlichen, sei es naiv oder wissenschaftlich, also rechtssoziologisch oder rechtsdogmatisch „erfaßt". Auch das Fundamentproblem für die Realität: das des Verhältnisses von „Möglichkeit" zur „Wirklichkeit" taucht wieder auf, freilich nicht mehr in der A u f fassung der alten Ontologie von „Potenz" und „Actus". H i e r ist nun wieder ein Punkt, wo diese Ergebnisse für unser Thema besonders aktuell werden. Geht es doch bei den Normen, bei der teleologischen Begriffsbildung, soweit sie autologes und heterologes bezweckt, um „ £ r wirklichungen", um die Herbeiführung von Realitäten aus Möglichkeiten. Es tauchen die Probleme der Continuität und Diskretion i n zwei ganz verschiedenen Sphären auf: in der Gedanklichen, unter der Systemidee, wo es darauf ankommt, die Situation, jedenfalls so pragmatisch i n den „logischen Griff" zu bekommen, daß das Richtige, also die „Normerfüllung für den H i n z " begreiflich wird. Ein teleologisches Problem, das die religiöse Dogmatik und nach ihr die Romantik mit H i l f e des Nachfolgergedankens, der Mittleridee, des Reihengedankens
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im Direktiven, zu bewältigen suchte. Sodann, sozusagen nach dieser „Vertikalen" ins „Horizontale", i n die Zukunft hinein schreitend: sc daß nun der logisch und real als möglich erwiesene Schritt auch wirklich aus der Situation heraus erfolgte. Beides zusammengefaßt: Die Aufgabe, das Richtige so konkret wie möglich zu denken, damit es wirklich erfolgen kann. W i r haben an anderer Stelle diese Fragestellung als die eines philosophischen Konservatismus behandelt 10 . A n dieser Stelle steht i m Ontischen nun dasjenige, das nicht nur als Objekt bewegt werden kann, automatisch m i t vis absoluta, auch nicht nur motiviert von anderen her, durch vis convulsiva: das D i n g und das Tier, der Adressat heteronomer A k t e : Imperative, sondern als „moventium", das sich spontan richtig zu richten vermag, also Adressat heterologer Normen sein kann: der Mensch 11 . Von diesem terminus ad quem aus, erscheint die neuere ontologische Schichtenlehre nur wieder als ein i m Hegeischen Sinne „verständiger" Versuch, gewisse Gegenstandsgebiete voneinander zu sondern, um sie doch danach wieder zusammenfügen zu müssen. Die moderne Ontologie hat dafür den M u t , zu den alten Fundamentalkategorien noch Begriffe wie organisches Gefüge, Gleichgewicht, Angepaßtheit, Zweckmäßigkeit, ja Stoffwechsel usw. hinzuzufügen. Lehrreich für uns ist zu wissen, welche Rolle heute den Kategorien in den exakten Naturwissenschaften zugeschrieben wird. Der Biologe M a x Hartmann stellt seine ganze Arbeit unter die Kategorien RaumZeit (Relativitätstheorie), Kausalität (Quantenphysik), Substanz (Materie). I m Biologischen t r i t t die Ganzheit dazu 1 2 . Bei Eduard M a y sind alle Kategorien ausführlich gewürdigt 1 3 . Überall w i r d hier der Bedeutung der Ordnungs- und Klassifikationsbegriffe, die kausal-funktionalen Zusammenhänge auch zwischen nicht meßbaren Erscheinungen, die kausalgesetzlichen Erklärungen der statistischen Wahrscheinlichkeitsgesetze, des Unterschieds von Feststellung und Messung, der Kontinuität und Diskretion nachgegangen. Daß man sich gegen den unser Gebiet wesentlich konstituierenden Begriff der Richtschnur oft i m Naturwissenschaftlichen noch wehrt, ist gegenüber allzu kühnen Behauptungen der Vitalisten begreiflich. Wenn man aber plötzlich von „Zielstrebigkeit" spricht, so führt man doch damit die Tatsächlichkeit von Richtschnuren, 10 11
Handbuch, die Religion, 1924. Uber diesen Begriff für das Recht jetzt bei Kröner, „Das ist der Mensch",
1959. 12 13
Philosophie der Naturwissenschaften, 1937. Grundriß der Naturphilosophie, 1949.
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also das Autonome i m Lebewesen ein. Das ist doch das, was man unter Entelechie, Bau- und Leistungsplan, von der Antike bis zu Driesch und U e x k i i l l immer gesucht hat. Ein Begriff der „Richtigkeitslehre", der somit den N a t u r - und Geisteswissenschaften, darunter unserer Jurisprudenz, gemeinsam angehört. D a Spinoza das Direktive bei Bildung seines Grundprinzips vergaß — sein Gott richtet nicht, sondern bew i r k t nur — , konnte sich auch kein Direktives als Sollen und Dürfen i m Prinzipiat finden. Seine Behauptung, daß die großen Fische die kleinen auffressen „dürften", aufs Menschliche übertragen, daß Recht gleich Macht sei und daher dogmatische Rechtswissenschaft nur ein scheinbar logisches und sinnhaftes Unternehmen, in Wirklichkeit aber ein Instrument, steht so in Widerspruch mit dem Spinozistischen System ohne direktives Prinzip, weil es in diesem eben auch kein „Dürfen" geben kann. Die Fische fressen bloß. Normen kann es nur geben, wenn der Begriff der Richtschnur zu den sonstigen Kategorien hinzukommt. Ohne irgendeine Anleihe aus dem naturwissenschaftlichen Bereich zu beabsichtigen, ist doch das Gesagte besonders instruktiv dafür, daß es auch i n unserem Gegenstand solche Kategorien geben muß, am Werk, i m Prozeß der Begriffsbildung und als Niederschlag in den vorgelegten ad hoc fertigen Theorien. Wenn man also diese Kategorien und ihre Wirksamkeit i m Geist auch im Rechtswissenschaftlichen suchen muß und finden kann, so bleiben sie ihrem Wesen nach als Kategorien doch vom Positiven i m Recht unabhängig. Die berühmten Kirchmannschen Federstriche des Gesetzgebers können ihnen nichts anhaben. Auch hier gilt ja das Kantsche W o r t vom „Anheben mit der Erfahrung", das kein „Stammen aus der Erfahrung" bedeute. I n dem logisch-ontischen Material haben w i r also Bleibendes, das der W i l l k ü r ebenso des Gesetzgebers wie des Juristen entzogen ist, da sich ja bei jedem logischen Fassungsversuch die Bindung an die Kategorien durchsetzt. U n d wenn bereits im Begriff des soziologischen Machthabers und seiner Imperative die Kategorie der Richtschnur steckt, so bedarf es nur eines Ausdenkens der direktiven Idee, um auch ihren Sinn: das Belangvolle zu haben: damit schließlich die Rechtsnorm und die ihr dienende Dogmatik. Stellen w i r ganze Generationen von Forschern unter die Pflicht, die Kategorien ihrem Sinn entsprechend zu beachten, so w i r d sich bereits das Moment am Wissenschaftlichen einstellen, das w i r zuvor bemerkten: die Verantwortung gegenüber den Mitforschern, dem Geist der früheren und der späteren, die Offenheit qua Theorie gegenüber Korrekturen, kurz die „echte" Intentio, die überall die gleiche ist, wo
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w i r glauben, es m i t Wissenschaft zu tun zu haben. K o m m t man so aus der Philosophie ins theoretische Gefüge des Rechts, so gibt es auch den umgekehrten Versuch: dadurch, daß man sich am Stoff der Rechtswissenschaft orientiert, um philosophische Einsichten, nämlich auf dem Gebiet der sog. Praktischen Philosophie, der Ethik i m weitesten Sinne zu gewinnen. W i r erinnern uns daran, daß sich K a n t für seine theoretische Philosophie am „Faktum der Mathematik und Naturwissenschaft" orientierte, in der Ethik freilich am moralischen Bewußtseinsinhalt seiner Zeit und seines Kreises, daß Hermann Cohen in seiner „ E t h i k des reinen Willens" das Entsprechende versuchte, indem er der Rechtswissenschaft die Ehre erwies, als Basis zu dienen. Natürlich dem i n Bewegung befindlichen, nie vollendeten Syntagma. Nicht als philosophisches Facit verstanden, sondern als Ausgangspunkt, als terminus a quo, m i t der Fülle am Leben erprobter Theorien, um so nach transzendentaler Methode die bereits wirksamen Kategorien zu entdecken und sie dann in anderer Weise zu sichern. Das Ziel ist also, man könnte sagen, logisch angeregt von dem Faktischen, der Rechtswissenschaft in ihrem status quo, Logonomes durch anscheinend Heterologes zu gewinnen. Doch hat dieser bedeutende Versuch der mächtigsten Persönlichkeiten aus der in die ganze philosophische Geisteswelt ausstrahlenden Schule des Neukantianismus, i m juristischen ja auch i m rechtsphilosophischen Lager kaum Widerhall gefunden. Die „Neukantianer in der Rechtsphilosophie" hatten ja auch eine andere Aufgabe 1 4 . Ihnen ging es nicht wie Cohen um Begründung der Ethik, und Cohen fühlte sich in erster Linie als Ethiker und nicht als Rechtsphilosoph. — Jedenfalls können w i r als Ergebnis buchen, daß sich i m rechtswissenschaftlichen Material Auswirkungen aller möglichen Kategorien finden müssen, Konsequenzen des Logisch-Ontischen, sozusagen nach der Zukunft hin aufgerollt, auf sie gerichtet. Eine Auswirkung von Kategorien i m Faktum aber steht unter zwei Gesichtspunkten. Zunächst ihrer Tatsächlichkeit nach als Effekt menschlicher, also stets mannigfach bedingter Bestrebung. So gibt es denn, aus den verschiedensten Ursachen real bedingt und insofern historisch begreiflich die bekannten Kategorienverwechslungen, Widersprüche, vor allem Ansichsetzungen, H y p e r trophien auf Kosten korrelativ dazu stehender anderer Kategorien. Der zweite Gesichtspunkt, unter dem die Auswirkung der Kategorien i m juristischen Stoff gesehen werden kann, ist der der Aktualität, des jeweils Angehenden. Die Funktion der Dogmatik i m Dienste der Organe 14
Titel eines Werkes von Erich Kaufmann.
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des Rechts ergibt die Richtigkeit einseitiger Betonungen, Bevorzugungen „angebrachtermaßen", die es nicht geben könnte, dürfte der dogmatische Jurist sein System auf den A l t a r einer Göttin legen. Das ist das Problem der teleologischen Richtigkeit des rein logisch gesehen U n richtigen. W o das logisch Richtigere, Bessere ein Feind des Richtigen, guten würde. Ein analoges Problem zu dem vom positiven unrichtigen Erkenntnisgrund fürs „Recht", das richtig Verbindliche, nach schlechtem Gesetz! Bekanntlich hat Hegel versucht, solche einseitige Thesen, Ansichsetzungen der antiken Philosophen als notwendige Bausteine in der Entwicklung des philosophischen Gedankens darzutun. Auch w i r haben die Fruchtbarkeit dieser Verhaltensweisen fürs Aufspüren einseitiger Rechtsbehauptungen und entsprechender Systeme bereits vor einem Vierteljahrhundert zu zeigen versucht 15 . Es blieben noch viele Möglichkeiten „nicht geschriebener Rechtsphilosophien" übrig. — Es gilt als selbstverständlich, daß die dogmatische Reditswissenschaft systematisch ist 1 6 . Ja der Begriff des Dogmatischen w i r d häufig synonym mit dem des Systematischen gebraucht. Bei jedem System ist nun eine „kategoriale" Verankerung unvermeidlich. Sie ist das vorschwebende Ziel, das in bewußter Ausgestaltung die naive Begriffsbildung fortsetzt, das Vorwissenschaftliche ins Wissenschaftliche hineinhebend. M a n darf aber nicht, wie es Radbruch getan h a t 1 7 die „kategorialen" Bemühungen nur als solche ansehen, die das Recht „als Verwirklichung des Rechtsbegriffs und der in ihm enthaltenen Rechtskategorien" darstellten und i m Gegensatz dazu die teleologischen, welche das Recht als „versuchte Verwirklichung der Rechtsidee" auffaßten. A u d i teleologische Begriffsbildung steht unter Kategorien, sie fügt allgemein Gegenständlichem und Soziologischem noch das wesentlich Teleologische hinzu. D a das Recht als sinnvoller Gegenstand der Dogmatik ja notwendig den darin „Gemeinten" angeht, gehört das Logonome bereits in die Prinzipien des Aufbaus hinein, um dann das Heteronome zum Heterologen werden zu lassen. Rechtsbegriff und Rechtsidee lassen sich eben beim Recht, wie w i r öfters betont haben, nicht trennen. Beim Recht als Belangvollem nicht, wohl aber bei der soziologischen Unterlage des Rechts: 15
„Ein Rechtsphilosoph wandert durch die antike Philosophie", 1936 (Verlag f. Staatswissenschaften). Das oben citierte Wort stammt aus einer Bespr. Jürgen v. Kempskis. 16 Radbruch (Ausgabe Wolf), § 15. 17 a.a.O., S. 218, schon das Wort „Verwirklichung" ist hier gefährlich. „Produzieren, Erzeugen" wäre besser.
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Hauptfall, dem in einer Situation entstehenden Gesetz, dann dem faktischen Zustand des soziologischen Erfassungsunternehmens, das man dogmatische Rechtswissenschaft nennt, sowie bei dem ebenso bezeichneten vorgelegten Produkt an Theorien, Begriffen. So hat Stammlers Trennungsversuch, nur möglich, weil er Gesetz und Recht nicht recht unterschied, neue Verwechslungen gefördert, besonders infolge des Worts „Idee", das nun der „Wertphilosophie" willkommene Ansatzmöglichkeiten bot. Eben die Radbruchs, als ob es i m Wissenschaftlichen eine Region für Kategorien, eben die „Logische" und dann eine andere fürs Teleologische gäbe, wo man womöglich nur voluntaristisch, irrational statuieren könne. Kategoriales und Teleologisches sind aber so wenig voneinander zu trennen, daß man i m Gegenteil sagen könnte, nur Kategoriales mache ja aus Faktizitäten, Imperativen, Kommandos T e l e o l o g i s c h e s . Sonst bleibe es ja beim sturen A k t , dem factum brutum, der sich nur insofern verbal verstehen ließe, als man darauf stramm parierte. Eine teleologische Interpretation, um das Belangvolle, wirklich zu Befolgende zu finden, wäre dann ausgeschlossen. Es gäbe somit auch kein dogmatisches Recht. Dagegen führt der von Radbruch betonte Gedanke eines Postulats der Einheit des theoretischen Systems weiter. Freilich nicht i m Sinne Kelsens, der diesen Gedanken i n W i r k lichkeit auf das Positivistische am Recht beschränkt, und es so den alten Naturrechtsideen entsprechend unter eine eigene Idee stellt, ein „ A n sich" von Idee, freilich m i t dem rechtlich so weit wie möglich gespannten Geltungsanspruch eines Weltredits 18. Das regulative Prinzip des Logonomen aber verlangt, daß man die Sphäre des Richtbaren, der Kontingenz, nicht in Sondergebiete aufspaltet und dann jeweils verschiedene abstrakte Richtigkeitsprinzipien postuliert, ohne irgend einen Versuch, die Situation ins Teleologische einzubeziehen. W i r haben also hier einen Verstoß gegen die systematische Aufgabe, eine Einschränkung der Ausstrahlungen des Logonomen, eine willkürliche A u f trennung der Sphäre des Richtbaren. W i r wissen: Das Teleologische hat sein Anwendungsgebiet überall wo es Richtbares gibt, nur nicht in der Sphäre der Wesenheiten oder Aprioritäten, die ja das Wirkliche bloß konstituieren und regulieren. Das Anwendungsgebiet ist also „die W e l t " und die jeweiligen „Situationen" als ihre Momente. D a r i n „gibt es nun" das Autonome und das Heteronome als wirklich, das jeweils nach Lage und Inhalt unter dem logonom aufgefaßten Begriffe der 18
Vgl. unsere ausf. Kelsenkritik im Philos. Literaturanzeiger, 1955.
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Situation den positiven Rechtsgrund für von ihm „konsumiert" Autologes oder Heterologes bedeutet. System darf nie von vornherein den Zusammenstand der Faktoren, also Perfektes bedeuten. Handelt es sich dodi, der unendlichen Reihen wegen, deren isolierte Entfaltung stets erste Aufgabe ist, um eine unendliche Aufgabe. N u r eine künstlich isolierte Reihe etwa die der ganzen Zahlen von 1 bis 10 w i r k t , systematisch gesehen, als ob sie fertig sei. M a n hat daher audi anstatt System Systase 19 vorgeschlagen. Eine Bezeichnung, die andeutet, daß bei der Unterstellung unter die Systemidee nichts isoliert, außerhalb bleiben dürfe, sich vielmehr alles zu allem zu fügen habe. I m durchgängigen Wechselbezug. Wobei man wieder die beiden Wege: i m Auge haben muß: den zur Vereinheitlichung und den zur Mannigfaltigung. Keiner darf vor dem anderen bevorzugt werden. Es ist der häufigste Fehler auch der juristischen Systeme gewesen, daß jener Weg, zur Vereinheitlichung auf Kosten des Entgegengesetzten bevorzugt wurde. Eine terrible Simplifikation, die das Mannigfaltige auslöscht. Als System unter einer angeblichen „Idee des Rechts", das der Fanatiker aller A r t ! Beide Wege, nur nicht als einander widerstreitend, sondern als direkte und konverse Richtung verstanden, bedürfen des Systems. Überall müßten dabei jedenfalls die logischen Grundfunktionen, in der A r t unserer Kategorien gleichfalls zu einander stehend, in Einheit verstanden, i m Gegenstand vorfindbar, in der Forschung wirksam sein. Das W o r t „Einheit" bedeutet also nur dieses einheitliche Vorgehen, widerspruchsfrei, ohne Bevorzugung von Gliedern oder Relationen, soweit diese sich nicht unter dem Gesichtspunkt des Aktuellen, pragmatisch rechtfertigt. Was bei der juristischen Dogmatik vielleicht immer der Fall sein wird. Eine so verstandene einheitliche Tendenz wäre also ein Moment am Systemgedanken, das gewiß auch in der Jurisprudenz (analog der theologischen Dogmatik) Beachtung heischt. Wenn w i r uns diesen Systemgedanken nur in der Wissenschaft ständig am Werk denken, „praktiziert", in der „Bewegung", worin es jenes Hegeische „Aufheben" gibt, das „Herabsetzen" und „Einbeziehen", Verwerten, um der Erfassung des Gegenstands nach Maßnahme der jeweiligen wissenschaftlichen Möglichkeiten gerecht zu werden, dann darf diese Einheit als Ziel nie nur einen Zustand i n einer momentanen Situation charakterisieren. So etwa wie ein Schnitt durch ein Präparat 19
Natorp, Logische Grundlagen der exacten Wissenschaften, § 6.
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eines Anatomen. H i e r liegt ja die crux für jede „Logik der Rechtswissenschaft"! Sondern diese Einheit als Ziel muß auf jeder Stufe Verwendungsmöglichkeiten bestimmen, die in die Zukunft weisen. Also weniger Lösungen als präzise Aufgabenstellungen. Bei der Menge der teleologischen Begriffe, die sämtlich funktionell miteinander verbunden sind, Aufgaben i n gleichsam parallelen Reihen, einander zugeordnet. Wenn man w i l l : dynamisch statt statisch. Die Wirklichkeit bietet ja auch, logisch gesehen, einen einzigen, allumfassenden Funktionszusammenhang des realen Geschehens. I n ihr vollzieht sich das Soziologische, sollen die Normen realisiert werden, wofür ja allein die systematische Arbeit der positiven juristischen Dogmatik dient. Das i m Fluß befindliche Geschehen und die jeweilige, begrifflich-systematische, Antizipation i n teleologischen Bedeutungen, die wie die Formel eines N a t u r gesetzes oder eines elementaren Dings nur für weitere Konsequenzen, für Folgerungen gebildet werden, müssen so aufeinander abgestimmt werden. D a m i t taucht auch die Frage nach der Bedeutung und damit der Grenze des Moments der Ganzheit i m System auf. W i r kennen die Erörterungen des Gegensatzes von „offenem" und „geschlossenem" System. Der Begriff des Ganzen, wie ihn jede Systemidee impliziert, kann für das Teleologische nicht bedeuten, daß die systematische Fassung jeweils alles Mögliche vorausnehme. Dann müßte sich ja alles analytisch aus jenen Antizipationen ableiten lassen. Wenn w i r bei dem Bestreben, die logisch-ontischen Kategorien in ihrer Bedeutung für die Jurisprudenz zu sehen, vom Begriff des Systems ausgingen, so geschah das grade, weil dieser Begriff dazu dienen soll, der Dogmatik Einheit und Ganzheit als Ziel vorzuhalten, ohne dabei zu Altklugheiten und Naseweisheiten zu verführen, Begriffsfutteralen, Gehäusen ohne Fenster, worin sich der Jurist definitiv einzurichten glaubt. W i r wissen aus der „Psychologie der Weltanschauungen" (Jaspers), daß es das Streben nach der Geborgenheit i m Gehäus wirklich gibt. So läßt sich gewiß auch eine typisch bürgerliche Jurisprudenz aufweisen, die i n ihren Begriffen, i n ihrem Glauben, daß nun alles vorweggenommen und geregelt sei, ein Spiegelbild jener Zeit und ihrer juristischen Repräsentanten ist. — Es kommt also bei einem Unternehmen, das wie die Rechtswissenschaft als soziologisches Unterfangen ständig am Werk ist, mehr auf systematische Tendenz an, als auf systematisches Gepräge, begriffsharmonische Eleganz des vorgelegten Systems. Diese Tendenz zeigt sich überall da, wo man bestrebt ist, sich den „Sinn", also die Bedeutung von Urteilssätzen, Begriffen klar zu machen verantwort-
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lieh, die logischen Zusammenhänge, Ausstrahlungen zu ergründen, die, genetisch gesehen, so oder so in den K o p f kamen, zufällig, vom Gesetzgeber provoziert, von der herrschenden Meinung nahgelegt. Oder sogar, wie bei dem Versuch, phänomenologisch zu schauen, bereits vorsystematisch systematisch gesammelt. I n Wirklichkeit eine Ubersicht über Eindrücke, Vorstellungen, Wortbedeutungen zum Zweck erster Deskription. Anders ausgedrückt: Systematisch orientiert man sich, wenn man eine Mehrzahl von Sätzen oder Begriffen nach der ersten Fassung ihrer Bedeutungen so zu ordnen und zu korrigieren sucht, wie es unter Vermeidung von Widersprüchen nach dem „logischen Gewicht — einen Ausdruck Bertrand Russeis — möglicht ist. Ein H i n z u kommen neuer Sätze und Begriffe macht dann immer weitere U m gruppierungen, Berichtigungen nötig. So kann man auch in Aphorismen, Einfällen, wie sie Voltaire, Lichtenberg u. a. i n sog. Suddelheften aufzeichneten, bedeutsame Beziehungen zueinander aufweisen, die den Hinweis aufs Systematische schon in dieser mehr oder weniger legeren Fassung zeigen. Das jeweils provisorische Ergebnis ist dann eine Menge von Bedeutungen, die i m Verhältnis der Über-Unter-Nebenordnung (logischer Klassefikation) nach der Reichweite ihres Sinnes einander nicht zu widersprechen scheinen. Mehr nicht. Kein Gedankenkorsett! Die jeweilige Einheit dieser Menge zu sichern, wäre dann die Aufgabe einer Axiomatik, so wie man sie etwa bei E u k l i d in der überlieferten Form antrifft. Ganzheit darüber hinaus bedeutete eine Idee von Bemühungen, die keine innere Möglichkeit eines Abschlusses zeigten. Bei dem dogmatischen Recht hätten w i r dabei eine kategoriale Verarbeitung und als Ergebnis einen kategorialen Ausdruck der teleologischen, einem terminus ad quem dienenden begrifflichen Synthesen der verschiedenen von uns aufgewiesenen Sphären, eben als Normengefüge. Es ist Aufgabe einer Philosophie der Wissenschaften, die Regionen, woraus die schließlich i n Synthesen zusammentreffenden Resultate stammen, unter jeweils einer besonderen Grundkategorie des abstrakt gesehenen, isolierten Stoffs (wobei alles andere i m Husserlschen Sinne „eingeklammert" wird) zu trennen. Ein kurzer Überblick mag wiederholen: 1. das allgemein Ontologische, 2. das apriorisch Soziologische, worin bereits autonome und heteronome Richtschnuren erscheinen. Diese zunächst in einer Ebene gesehen, nebengeordnet in der H o r i zontalen, sodann in Über- und Unterordnung, in der Vertikalen. Das
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Autonome und Heteronome unter Heteronomen und durch Organe (ein Begriff, der soziologisch bereits in dieser Begriffssphäre auftaucht) behandelbar. So daß hier spezifisch-soziologische Abweichungen entstehen. 3
Entsprechende Realitäten i n der Wirklichkeit („teleologische Begriffe des sozialen Lebens" und „teleologische rechtssoziologische Begriffe").
4. Die logische Entfaltung der Richtschnur nach ihrem Begriff und ihrer Idee: die teleologische Aprioritäten, die „als Formen" einen „Eingang" in die Wirklichkeit, eine begriffliche Bewältigung der Wirklichkeit ermöglichen, als Ganzer: der Kontingenz, sodann ihrer „Situation". Es sind die i n der Richtigkeitslehre zu entwickelnden Begriffe, deren religiöse Ausprägung w i r bereits in der Religionsphilosophie bzw. religiösen Dogmatik ihrem teleologischen Gehalt nach haben. Sodann in der teleologischen Geschichtsphilosophie. (Nicht: Philosophie der Geschichte als Wissenschaft!) 5. Die heteronomen Akte, in ihrem tatsächlichen Zusammenhang, situationsgebunden als „soziologische Unterlage" beim Recht. Das Positive! Freilich nur in Hinsicht auf die heterologe Konsequenz, die juristische Dogmatik interessierend. 6. N u n das eigentlich Rechtsdogmatische: primär in teleologischen Begriffen von Grundnormen („Menschenrechten") von Organen, nun nicht mehr als soziologische Werkzeuge, sondern als Verantwortliche gesehen. Erst hier, i n der letzten Begriffssphäre, muß die Synthese zu Stand kommen, die den Sinn der Jurisprudenz ergibt: die „ethische" Tragweite ihrer Arbeit. Das, was als primäre Normen bezeichnet: den sog. „Ausgang" bildet, das was die Sphäre juristischer Geltung eröffnet, also Verfassung, Grundrechte, höchste Instanzen, alles das bedeutet nun nicht mehr Apriorisch-Ontisches, Apriorisch-Teleologisches, Apriorisch-Soziologisches, es bedeutet auch nicht mehr bloß Tatsächliches, sondern die rechtsdogmatische Grundhypothesis, worauf das gesamte positive Recht ruht. H i e r spielt auch die Rechtswissenschaft selbst die Rolle eines Organs, insofern ihr die geistige Seite der Verantwortung zufällt. — Die Systemidee, die als die Kategorie der Kategorien uns zu alldem hinführte, ließ unsere verschiedenen begrifflichen Sphären auftauchen, jede m i t ihren eigenen Unendlichkeiten, die man zuerst unterscheiden muß, gleichsam begrifflich wie Reihen abschreiten, um
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dann aber wieder zu verbinden, i n der Synthese, deren transzendentale Analyse ja jene Sphären ergab. W i r erwähnten mehrfach, daß die Dogmatik zu Überbetonungen einzelner Kategorien neigt, ja sogar daß sie situationsgemäß dazu genötigt sein kann. Nehmen w i r nun noch einige besonders hervorstechende „Ansichsetzungen" dieser A r t , Bevorzugungen von Kategorien vor: D a kommen w i r von der Einheit des Systems aus zunächst zu dessen „Einheiten". So wie jedes System i n größerem systematischen Zusammenhang gesehen, eben des Gesamtwissenschaftlichen als Einheit fungiert, so gliedern sich nun auch innerhalb seiner wieder Einheiten aus. I n Wirklichkeit „setzt" ja jeder Begriff eine. Es ist der logisch kaum zu überschätzende Begriff der Thesis 20 , worin Ansatz, Festlegung, Prätention, Fesselung und vieles mehr stecken. Cohen würde sagen, der erste Versuch, um aus dem „Ursprung", dem „me on" herauszukommen, die Begriffsreihen zu eröffnen. M a n darf also bei der Setzung, Behauptung solcher begrifflichen Einheiten nicht sogleich an gewisse hervorstechende, rechtsaktuelle Einheiten denken wie etwa das Individuum als Rechtssubjekt. Aber, abgesehen von den anderen begrifflichen Einheiten ist es schon gut, sich die rechtsaktuellen grade als Muster dessen zu denken, was man gern als ens entium, als schlechthinnige Substanz i m Recht verstehen möchte. Dahin gehört neben dem Individuum auch die Gemeinschaft, die Gesellschaft. A n ihr nehmen die einzelnen I n dividuen i n verschiedener Weise teil. Populär und falsch ausgedrückt (wenn man nicht an die soziologischen Gründungsvorgänge denkt): Sie „bilden sie". Schon das teleologische Begreifen des sozialen Lebens sieht hier mehr oder weniger Einheiten, wie es ja besonders O t t o v. Gierke wieder i n Erinnerung gebracht hat. Diese Einheit verstärkt sich dann i m „ teleologisch-rechtssoziologischen ". I n der Rechtsdogmatik haben w i r schließlich den Begriff der „juristischen Person" als eine Einheit qua Rechtssubjekt. M a n sieht, wie sich gleichsam eine Reihe solcher Einheitsbildungen auf t u t : die rein begriffliche durch jede Setzung, die der einfachen sozialen Vorstellungswelt, dann die i n dieser Welt, bereits durch positives Recht geltungsmäßige Bestimmte und schließlich das Produkt der Jurisprudenz. Wenn man an den Streit um das Wesen der juristischen Person denkt, w i r d einem 20
Schopenhauer zeichnete, als Fichte von „Setzung" sprach, einen Stuhl in sein Collegheft.
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klar, daß die verschiedenen darin auftauchenden Thesen ganz verschiedenen Schichten angehören müssen und daß man dann Schlüsse zieht, die auf einer anderen Begriffsschicht gar keinen Sinn haben oder die dort gültigen Thesen nicht berühren. Zur Klärung wäre nötig, an die Typentheorie Russeis oder die scholastische Lehre von den Suppositionen zu erinnern, auf die w i r also an dieser Stelle wieder stoßen. Je nach der Begriffsschicht meint man mit der Einheit Verschiedenes. Wenn w i r sagen „Sokrates ist ein Philosoph", so meinen w i r den w i r k lichen Sokrates. M a n nannte das suppositio simplex. Sagen w i r dagegen „Sokrates sei ein Individualbegriff", so liegt eine suppositio logica vor! Es geht um die A r t des Begriffs. Spricht man davon „Sokrates sei ein Eigenname", so hätten w i r suppositio materialis. Hieß es „Sokrates bestehe aus acht Buchstaben", so ginge es um das W o r t in unserer Sprache. Bei „Sokrates beginnt m i t einem großen Ess" handelte es sich gar um die Schriftform. Dazu noch die entsprechenden Vorstellungen i m Psychischen, etwa jenen ersten Satz „gedacht". H ä l t man diese Schichten nicht auseinander, so ordnet man das Heterogenste einanderder zu. Was soll beispielsweise die Behauptung eines Zweckvermögens gegenüber der, die juristische Person sei ein Rechtssubjekt? Oder „ i n Wirklichkeit" seien nur die einzelnen natürlichen Personen da? Oder sie sei eine Abstraktion, Konstruktion, Fiktion, Mystifikation, oder nur ein Relationsbegriff u. dgl. mehr? Hier, wo es um die Betonung von Einheiten geht, ist es besonders wichtig, die Begriffsschicht nicht zu verwechseln. So „bilden" schon kurz nach der Gründung die Individuen nicht mehr die Gemeinschaft oder Gesellschaft. So ist es falsch, nach der Bildung des Begriffs der „juristischen Person" neben den „natürlichen Personen" noch nach irgendwelchen notwendigen Beziehungen zu den Einheiten zu suchen, welche jene juristische Person „bildeten". Daß die Frage falsch ist, zeigt ja auch die Stiftung, bei der es zwar Verwalter und Destinatäre gibt, aber niemand der sie „bildet", wenn sie mal als Rechtssubjekt da i t t . Gewiß ist es nicht die Mehrheit, die diese Einheit nach üblichem Rechenschema, etwa nach Abzählung der Stimmen, bildet, aber auch nicht die Allheit. Bei dieser Betrachtung kämen w i r ja nie aus den alten Einheiten heraus. Eine endliche oder auch unendliche Menge hat ja immer noch ihre Elemente. Denn die sog. Nullmenge ist ja nur ein mengentheoretischer Ansatz, gleich dem „me on" der, „schöpferischen N u l l " , wenn man an den Prozeß denkt, der in die Reihe führt. Aus dem Soziologischen allein führt, wie w i r an unseren Schichten sehen, kein glatter Weg heraus ins Rechtsdogmatische. Es
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bedarf immer höherer begrifflicher Anstrengungen, die sich am besten mit der Bemühung um Erweiterungen des Zahlbegriffs vergleichen lassen. Bei uns ist es die teleologische Begriffsbildung der Jurisprudenz, welche bei dem eingetragenen Verein die vorherige Gesamtheit als neue Einheit von den Einheiten der Einzelnen lostrennt, und ihnen gegenüberstellt. Diskretionen neben Diskretionen! Der Ubergang von der volonté des tous zu der volonte generale ist, vom Einzelnen aus gesehen, ein Zaubertrick. Das Ergebnis muß ebenso erschrecken wie es bei den alten Griechen die Entdeckung der Irrationalzahl tat. Ein Gott strafte den Entdecker dieser Zahl: „Wurzel aus 2 " i m Pytagoräischen Dreieck. Aber diese irrationale Zahl schien, indem sie zwar die Inkommensurabilität von Zahl und Strecke enthüllte, doch noch i n der Entwicklung des Zahlbegriffs zu liegen, wie zuerst die negative Zahl. Jedoch die imaginäre: die Wurzel aus „minus 1" zeigt nun etwas unserer juristischen Person Analoges. Es zeigt sich nun das „ganz Andere": die teleologische Gestaltungskraft des Rechts. So wie es die Wurzel aus minus Eins nach der bisherigen Bestimmung der Zahl gar nicht geben konnte, so auch nicht die juristische Person in einer Sphäre m i t rein soziologischen Begriffen. Auch die Einheit Gierkes bedeutet sie noch nicht. Auch jede rein soziologische „Behandlung" der Mehrheit als Einheit neben anderen könnte sie noch nicht zu dem rechtlich Eigenständigen machen, wenn nicht — eben das aus dem Logonomen stammende — Heterologe hinzukäme. „Aus dem Körper eines Rationalismusbereichs w i r d herausgetreten", so könnte es mathematisch heißen. Freilich liegt es hier insofern doch auch wieder anders als kein von der früheren Begriffsbestimmung aus Widerspruchsvolles statuiert w i r d , das nun eine neue Terminologie forderte, sondern es werden einfach andere Axiome eingeführt. W i r haben keine Discrepanz. Die bisherigen Begriffe werden einfach unter die Geltung anderer gerückt. So entsteht kein Widerspruch. Jedenfalls nicht dann, wenn man nicht falsch hypostasiert, nicht davon spricht, daß „eigentlich" nur die natürlichen Personen „ w i r k l i c h " seien. Bei der Dogmatik w i r d die alte Betrachtungsweise nicht durch neue algorithmische M i t t e l überwunden, sondern man kann einfach weiterdenken, wenn man neue Voraussetzungen einführt, die die „höhere" Teleologie ermöglichen, über jede bloß „verstehende Soziologie" hinausgehend in die Dogmatik des Maßgeblichen. Allerdings wie jede Dogmatik nur ein M i t t e l zum Zweck: nämlich Begriffe, Thesen zur Verfügung zu stellen, aus denen man die Konsequenzen als „Rechtsfolgen" ablesen kann. Führt man
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i n der juristischen Dogmatik ein neues Wort ein, das etwas bezeichnen soll, woraus sich keine andersartigen Rechtsfolgen gegenüber dem Zustand zuvor ergäben, so spielt es die Rolle im Rechtssystem wie früher i n der Physiologie die M i l z . W o es hieß: Paragraph X : die M i l z . Dann stand nichts in dem Paragraphen, denn sie hatte keine Funktion und es kam ein neuer. So sind alle Behauptungen, wie die juristische Person sei ein Zweckvermögen, eine Verbandseinheit usw. ohne juristische Tragweite geblieben. Mögen sie soziologisch oder sonst etwas aussagen, rechtsdogmatisch behaupten sie nichts! Eine Einsicht in diese Funktion des rechtsdogmatischen Begriffs, daß sich juristische „Tragweiten" aus ihm ergeben müssen, spezifische, die es ohne ihn nicht geben kann, so daß man ihn einführen muß, diese Einsicht hätte schon vor jeder „Begriffsjurisprudenz" bewahren müssen. Die einzelnen Individuen mögen im „ I n n e r n " der „juristischen Person" diese oder jene juristische Rolle spielen, communibus manibus oder nach dem „Führerprinzip", nach Majorität oder Minorität — hier taucht die Kategorie der Quantität auf — durch keinen dieser in der Ebene des Kontrakts liegenden Akte, i m Bereich begrifflicher Nebenordnung, gewinnt man die neue Einheit der juristischen Person. Sie ist ihnen gegenüber zwar nicht dei gratia, aber von Gnaden des Logos etwas Eigentümliches. Die Vorgänge im „Inneren" werden erst dann aus heteronomem zu heterologem, das Ganze angehendem, wenn dieses Ganze zuvor vom Logonomen aus gesichert ist. Sollen w i r hier bei „Einheit" auch auf die Einheit neben oder über den anderen hinweisen, so zeigt sich, daß bereits in der apriorischen Soziologie die Zahlbegriffe, die quantitative Kategorie einbezogen werden müssen, um zur Bestimmung der Verhältnisse aber auch der Verhaltensglieder zu dienen. So haben w i r an anderer Stelle gezeigt, daß es die Einführung des Zahlbegriffs ist, welche schließlich m i t H i l f e ganz weniger anderer Begriffe: Richtschnur, Widerspruch, Zeitmoment usw. die Definition eines Individuums gegenüber anderen ermöglicht. Etwas, was nur, wie alles hier über die Rolle der Kategorien Gesagte, bloß ein ontologisches Interesse hat, freilich ein sehr wichtiges, wenn es sich um die Frage des Systems handelt. Einheit und Zahl bewirken, daß man von verschiedenen Handlungen und von ein und demselben sprechen kann, von „fortgesetzten" oder verschiedenen Delikten, von einem Objekt oder mehreren i n einem Vermögen, einem Rechtsgeschäft, zwei Erfüllungshandlungen usw. U m nur solche Begriffe zu erwähnen, die nichts von Preis, Wert, Geld enthalten. W o es Qualitatives gibt, muß sich auch Quantitatives finden. Besonders hervor17
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stechend u. E. wieder der „ W i l l e " in unsrem Recht, der eine rechtsrelevante W i l l e gegenüber der Flut, dem Verlauf des Lebens in allen „Schichten" nur m i t H i l f e jener Ansichsetzung von jeweils einzelnen gesonderten Einheiten kann es einen „Urheber der Handlung" geben, wobei zwei Einheiten sowohl voneinander geschieden wie miteinander verknüpft werden. Das einzelne „Ansich" m i t dem andren, beide als Einheiten, schließlich zu Neuem kommend. W o es Singular gibt, gibt es auch Plural. Was nicht bedeutet, daß nicht ein Robinson allein, einsam auf seiner Insel sein könne, sondern nur daß m i t der Einführung solcher Kategorien stets alle „ d a " sind, alle möglichen Beziehungsformen von Richtschnuren i m Einzelnen autonom oder auf mehrere verteilt, heteronom, widerspruchsfreie Aufgaben darstellen. Die so gleichsam eine „Geometrie", besser eine „ T o p i k " dieser A r t ermöglichen. Anschließend sei hier kurz bemerkt, daß der Einheitsgedanke nicht nur logisch zur Einheit des Systems i m erörterten Sinne führt, sondern ganz entsprechend i m Religiösen zum Gott des Monotheismus als dem direktiven Prinzip des Logonomen. Ja der Gedanke der Unsterblichkeit bedeutet hier i m Religiösen eine Analogie zu der säkularen Unsterblichkeit des Vermögenssubjekts beim Erben. Eine Analogie, die man sogar bei der Erörterung des Erbrechts in den berühmten Institutionen bei Sohm mitschwingen spürt. Unsere Betrachtung der Kategorie der Einheit ließ erkennen, daß jede Kategorie zur anderen führt, daß eine anwenden heißt alle anwenden, daß aber „verständiges Denken" i m Sinne Hegels sie voneinander trennen kann. Sie provisorisch an sich setzen, wobei es, wie Nicola Hartmann meinte, einer spezifischen Dialektik bedarf, um ihre wechselseitige Bestimmung zu erhellen 21 . Gehen w i r weiter, so haben w i r die „Kontinuität". N u n , sie fordert als Gegenbegriff die „Diskretion". Das Denken i m Fortgang von Satz zu Satz muß ja irgendwo „beginnen" und „enden". M a n hat so den Begriff der „Denkpunkte" gebildet, die man voneinander trennte. Beim Fortgang kann aber jeder dieser wieder zum Anfangspunkt einer neuen Reihe solcher werden und umgekehrt. Plus und Minus bedeuten ja Korrelationen in der Richtung. So bestimmte sie schon Gauss. Insofern werden sie als eine und ihre Konverse schließlich zu einer neuen Eins. V o m Denken aus gesehen, scheint so die Kontinuität der Bewegung dem Procedere zu dienen, vom Gedachten, Vorgelegten aus haben w i r die Diskretion als Punkt, H a l t , Station 2 2 . So sehr man nun Diskretionen bildet, wenn man zu21
Systematische Methode in Logos, Bd. 1.
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nächst ein Subjekt von einem anderen unterscheidet, so bezieht sich doch sofort wieder das eine auf das andere, indem man dazu die soziologischen Aprioritäten verwendet: Versprechen, Befehl, Erlaß, Kündigung usw. Ja, w i r wissen aus der Richtigkeitslehre, daß sich sow o h l die Begriffe dieser A k t e wie auch der Subjektbegriff selbst mit H i l f e der gleichen begrifflichen Voraussetzungen überhaupt nur definieren lassen, so daß logisch gesehen, eins das andere bestimmt. Aber das Subjekt bleibt das Glied, woran der Jurist ansetzt: die Handlung von diesem oder jenem, dem man „zurechnet". Bedeutet doch, so gesehen, die ganze Bemühung um einen i m Recht brauchbaren Kausalbegriff die Aufgabe, die Punkte zu finden, wo man anfängt und wo man aufhört: dort etwa den Ansatz des „generell begünstigenden U m stands", hier das Ende der Handlung, wonach es ja doch „ i n W i r k lichkeit" immer wieder, unabschließbar weitere Wirkungen gibt. „ E r folge", die eine Handlung nur dann „qualifizieren", wenn man ihren Einheitsbegriff bereits zuvor i n Diskretionen abgesteckt hat. W i r fühlen, daß es grade diese Diskretionen sind, diese „Willkürlichkeiten", um juristisch weiter denken zu können, voran zu kommen, die religiöse Naturen wie Leo Tolstoi, Dostojewski u. a. hier tiefer, „hinter das Spiel" sehen ließen, oder Rudolf Sohm wenigstens das Kirchenrecht ablehnen. So läßt sich nur willkürlich die Reihe stoppen, die vom Erfolg zur Handlung, von dieser zum Individuum, von diesem zum Kollektiv, zum Milieu, worin es steht, von hier zur „verdorbenen W e l t " und dann zum Demiurgen als dem Urheber von alldem führt. I m Mahayana zum Shunya, dem Leeren, das diesen Gestaltenwechsel der Sansâra vorspiegelt. „Zieh alles ab und du liegst ganz vor m i r ! " Aber w i r sind hier i n der säkulären Welt der Gestalten, wo es solche Diskretionen geben muß, damit man etwas sehen kann: die Handlung, auf die es ankommt, den Auktor, das Subjekt mit seinen relevanten Fähigkeiten, mit seinem Innen und seinem Außen, seiner Willensfähigkeit und seinem Willen, der erscheinen kann, sich äußernd vom Gewollten zum Bewirkten. Alles Stationen, die „gesetzt" werden. Eine Handlung haben w i r so immer von einem aus, aber doch w i r d sogleich wieder eine umspannende Einheit gesucht. M a n kennt den Streit um ein Täterstrafrecht oder ein solches der Handlungen. I m Zivilrecht ergaben sich besonders hervorstechende, dem Laien schwer verständliche Diskretionen, als man das obligatorische Grundgeschäft etwa den Vertrag von 22
So wie es die juristische Logik in der Situation fordert, dem status quo, freilich mit dem Blick auf Kommendes als terminus ad quem.
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der es erfüllenden „Verfügung": Der Traditio der Ware trennte oder als man gegenüber jenem Grundgeschäft das „Anerkenntnis als Verpflichtungsgrund" setzte, die insofern „abstrakte" Kreierung des Wechsels, m i t seinen spezifischen, sich von den anderen des Grundgeschäfts unterscheidenden begrifflichen „Schicksalen". Denken w i r i m Unterschied zur Diskretion an die Rolle der Kontinuität bei der „Treue": dem Festhalten, Gebundensein an etwas, das war, also nicht mehr ist. D a haben wir, vom Moralischen abgesehen, den Begriff der Bindung „an" einen Akt. Dann in seiner Entwicklung die „Erfüllungs"handlung mit ihren Stationen als Diskretionen (und jeweils möglichen „Erfüllungsorten). Kontinuität gewährleistet so der Einheit in der Nachfolge mannigfacher A r t als Rechts- und Pflichtennachfolge, unter Wahrung der einander ablösenden Diskretionen von Rechtssubjekten, im Erbgang, in Cession, Schuldübernahme usw. die Identität. Die nur dialektisch zu sichernde, d. h. wieder nur willkürlich heraushebbare „Ansichheit" der einzelnen Kategorie ließ uns so von dem Einen zum Anderen kommen. Noch eine dritte Kategorie oder jedenfalls eine Form, die in der praktischen Philosophie als solche w i r k t , darf besonderes Interesse beanspruchen: Verträglichkeit und Widerspruch. Bedeutet doch jene für das Gebiet, das die „ D i r e k t i v e " , die Richtschnur regional eröffnet, die Richtigkeit, diese die Unrichtigkeit. Es gibt nicht nur „Verträgliches", sondern auch „Unverträgliches". Richtschnuren, deren Inhalt einander nicht hemmen oder sogar fördern, andere wo das Gegenteil der Fall ist. Verträglich ist, um das von R. Stammler in die Rechtsphilosophie eingeführte W o r t zu gebrauchen: ein verbindendes Wollen, wobei w i r unter Wollen nicht Wollen i m engsten Sinn verstehen, sondern „Richtschnuren", die als Anmaßung zunächst bekundet oder realisiert werden. Es ist der Sinn aller Richtschnuren, ihrem Inhalt gemäß zu richten: die Veränderung herbeizuführen und diese als M i t t e l auszulösen, das Letztere jedenfalls soweit es sich um „ W o l l e n " handelt. Damit geht der Sinn des Logonomen dahin, die faktische W i r k u n g des sich Richtens autolog oder heterolog zu machen. V o m Autonomen können w i r hier absehen. Es kommt also darauf an, daß Richtschnuren mehrerer einander nicht stören, weil sie dadurch unerfüllbar würden. Die Idee: Richtschnuren sollen nur so erscheinen, wirklich werden, daß ihr Sinn zu richten erfüllt werde, hat als Gegenglied die Wirklichkeit als solche, die Kontingenz. So gesehen, stellt Stammlers Ideal den Lösungsversuch jeweils in einem abgegrenzten System da, sozusagen in einem geschaffenen „ K ö r p e r " . Die Konkretisierung vermittelst des vom Prinzip
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des Logonomen konstituierten, durch das Logonome also angereicherten Wirklichkeits- bzw. Situationsbegriffs i m Sinne teleogischer Entwicklung macht das Problem komplizierter. Es heißt jetzt nicht mehr: ohne Rücksicht auf die historische Situation für jeden: hic Rhodos hic salta, hier Richtschnuren, also schafft hic et nunc Verträglichkeit! Kants Idee vom „Reich der Zwecke" bedeutete ja auch insofern kein Reich von dieser Welt. Zielte nicht dahin etwa in Lichtenstein so etwas zu schaffen, sondern war ein regulatives Prinzip, aufs Ganze der Zweckrealisationen gerichtet 23 . Aber es gilt auch nicht das Gegenteil: daß es nun falsch sei, den Widerspruch zu vermeiden und nicht einmal irgendwo hypothetisch Verträglichkeit zu statuieren. So können verschiedene Richtschnuren einer Mehrheit als Einheit genommener Subjekte Richtschnuren setzen, daß das darin Auferlegte einander nicht stört, sich also realisieren läßt. Dazu ist offenbar nötig, einen Bezirk abzustecken, also logisch gesehen, eine alle umfassende Diskretion zu schaffen, w o r i n sich das vollziehen kann. Wenn sich die Richtschnuren nun widersprechen, so soll ja grade dafür das Recht in diesem Bezirk, den die Menge umhegt, worin es als Elemente die Richtschnuren gibt, da sein. Es stellt daher das Gedankengefüge eines widerspruchslosen Zustands für Richtschnuren da. Wegen seines Maximums an soziologischer Geltung auch dazu, nach Wahrscheinlichkeitsgrad und stets nur vergleichsweise, auch das Wirklichwerden kollidierender Richtschnuren zu verhindern und bei Eintreten in einen Zustand der Verträglichkeit überzuführen. H i e r finden sich alle Rechtsbegriffe: vom status causae et controversiae i m Zivilen an bis zum Rechtsbegriff des „Kriegs", wohlgemerkt hier noch i m abgesteckten Bezirk als Unrecht! Der Bezirk, den w i r eben schilderten, ist aber willkürlich gesetzt. Er hat andere neben sich; es gibt auch i n Wirklichkeit niemals Bezirke, die sich restlos abschließen lassen. So läßt auch die Idee der Verträglichkeit keine chinesische Mauer zu. H i e r bestehen nun folgende Gefahren: Wer den Begriff der historischen Situation ignoriert, kommt i n utopische Vorstellungen hinein, d. h. in „fortschrittliches", fanatisches Denken, das die unendliche immer wieder neu aufgestellte Problemlage in der kontingenten Welt vergewaltigt. Unendlichkeiten kann man nicht wie Kästchen behandeln, w o r i n sich Steine mosaikartig ordnen lassen. Andrerseits stellt grade die teleologisch gesehene Situation immer aktuelle A u f gaben, die sich nur unter pragmatischem Aspekt ad hoc lösen lassen. Aber auch diese fordern, daß man keine Diskretionen als „ a n sich" 23
Vgl. „Die Idee", unseren Beitrag in der Festschrift für Stammler.
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setzt. Kelsen hat mit Recht gesehen, daß sich die Idee des Normativen nicht auf ein Gebiet einschränken läßt. Er schränkte sie dafür besonders dadurch ein, daß er ihr den justus titulus des Logonomen nahm. Aber Widerstreit der Richtschnuren ließe sich nur dadurch verhindern, daß man die Kontingenz der Welt zu einer Summe rationaler oder wesenhafter Gebilde machte, worin also alles tot wäre. Es gäbe darin weder Zeit-Räumliches, nodi empirische Reihen, die ins Unendliche führten. M a n kann also immer nur die Verträglichkeit von Richtschnuren als „nächsten Schritt" allerdings sub specie der Idee der logonomen Welt versuchen. M a n w i r d also Systeme schaffen müssen, wie sie ja die Staaten darstellen. Nach außen taucht damit der Krieg als Rechtsproblem auf. H i e r haben w i r in Analogie zum höchsten Gewalthaber in der „soziologischen Unterlage" des positiven Rechts eine freilich recht unbestimmte und auch nach Nationen sehr divergierende Basis, gebildet aus gemeinsamen Glaubenssätzen, Uberzeugungen, Verträgen, Gebräuchen usw. Sie bilden aber ebenso wie jene Unterlage für das positive Recht eines Staats einen positiven Rechtsgrund, woraus sich Richtschnuren, freilich auch hier erst nur als Anmaßungen auch aus einem eine gemeinsame Doxa bekundenden „sprechenden Verhalten" entnehmen lassen, die nun, ebenso wie beim Positiven Recht auf ihre w i r k liche Tauglichkeit zu Heterologem zu prüfen sind. Wie es ja auch beim innerstaatlichen Recht nie gelingt, den Zustand in einer Maschine herzustellen, wo alles von einer K r a f t getrieben abläuft, sondern wie es auch hier ein liberum arbitrium insofern gibt als vieles dem Autonomen unnormiert erscheint, so auch nach außen. Immer nur Bereiche lassen sich als rechtlich geregelt fassen. So w i r d man auch m i t dem Rechtsbegriff „ K r i e g " jeweils nur partielle Verträglichkeiten bestimmen können. Die Unendlichkeit möglicher Unverträglichkeiten w i r d nicht geringer. Wie beim „unendlichen U r t e i l " w i r d angesichts der Kontingenz der Welt, der unabgeschlossenen Erfahrungen anderes unverträglich bleiben, Richtschnurinhalte untereinander im Widerstreit, ungehemmten Auktoren zur Realisierung überlassen. Die Welt läßt sich nicht wie ein rationaler Körper behandeln, worin sich alles nach mechanischen Gesetzen bewegte. Heterologes wie Heteronomes zwingen nicht, aber jenes verpflichtet Menschen. Stellt so das Umfassende, „die historische W e l t " , die „Aufgabe" i n ihrer regulativen Problematik vor Augen, so erscheint demgegenüber natürlich die „Kleinraumordnung" als Spielerei. Als ob es sie isoliert geben könnte! Wie einfach etwa das Problem, aus zufälligen oder widerstreitenden Richtschnuren einzelner Subjekte inner-
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halb einer juristischen Person etwas zu bilden, das als maßgeblicher Wille dieser erscheinen und handeln könne. Als M i t t e l dafür oft die Zufälligkeit errechneter Stellungnahme, durch einfache oder qualifizierte Mehrheit u. dgl. Woraus dann der „Sprung" über die Beachtung der Teilmenge innerhalb der ganzen Menge von Elementen (den Einzelnen) ins ganz Andere: die „höhere Einheit" der juristischen Person erfolgt. Auch das rechtliche Begreifen jener dabei nur als ein „juristisches M i t t e l " verstanden. V o m soziologischen Vorgang aus gesehen ein Muster an Überschreitungen ad hoc gesetzter Diskretionen durch eine zielstrebige Begriffsbildung. Schließlich gibt es notwendig fürs Juristische m i t der „ I d e n t i t ä t " und „Einheit" auch die Kategorien „ A n f a n g " und „Ende". Ihre Betrachtung erinnert an den Unterschied der „Meßbaren Zeit" in der Physik, so wie sie den Gegenstand von Einsteins Relativitätstheorie bildet, von der Kategorie der „Zeit überhaupt". Jene setzt begrifflich diese voraus. I n der Jurisprudenz gibt es zwar auch oft direkt Meßbares, aber worauf w i r hier bei „ A n f a n g " und „Ende" aufmerksam machen wollen, ist etwas Anderes: es betrifft die Praktibilität. Das Problem entspricht genau dem der Präzisierung von Behauptungen über empirische Dinge, nämlich die Entscheidbarkeitsfrage, wenn nichts unentscheidbar bleiben soll. Schon die einfachste Entscheidung des täglichen Lebens läßt das erkennen. Wenn ich entscheiden soll, ob „es regnet", muß ich zuvor angeben: auf welche Situation sich die Frage bezieht, ob jetzt, hier in meiner Straße, aber auch, was unter „Regen" verstanden werden w i l l . Ein leichtes Tröpfeln hier und da? Nebelspritzer? M a n muß also zuvor wissen, was schon als „Regen" gelten soll. Eine Gelegenheit für Streitgespräche zwischen Valentin und Lisel! So können nun die Erfahrungsbedingungen rein sprachlich immer genauer bestimmt werden. Auch dies ein unabschließbarer Vorgang, der nur unter pragmatischer Sicht sein sinnvolles Ende findet. Ein Beispiel für viele: denken w i r an die Möglichkeiten, die es gibt, wenn das Erscheinen eines Menschen als Rechtssubjekt bestimmt werden soll. Eine Reihe, die sich vom Zeugungsakt über die ontogenetischen Zustände i m Embrio bis zur „Vollendung der Geburt" hinzieht. Dazu die empirisch-anthropologische und philosophisch-anthropologische Problematik des Begriffs „Mensch". V o n wann an ist der Tatbestand Mensch erfüllt? Die Wonne der jungen Pandekteninterpreten bei den Fragen nach dem monstrum vel prodigium, dem Mondkalb und Wechselbalg! Ja bei dem zunehmend M a nipulierbaren i m Biologischen kann es gut Siamesische Zwillinge mit
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nur einem K o p f geben: ein Mensch? zwei Menschen? Wovon geht man aus? Es geht wieder um die Bestimmung des Begriffes. Zwei Thesen: „was vom Menschen geboren ist, ist Mensch", die andere: „nur der, für den es nicht nur Imperative, sondern auch Normen gibt." Doch man entscheidet sich bei uns, den Anfang des Menschen i m philosophischanthropologischen Sinne mit der „Fähigkeit", zusammenfallen zu lassen, der Verantwortungsfähigkeit, jedoch die Anwartschaft dazu mit dem Beginn des Einzelmenschen im empirisch-anthropologischen Sinne zu setzen. So w i r d die reale Voraussetzung für den „möglichen" Menschen im Sinne des philosophischen liberum arbitrum: die Geburt zum Beginn des Rechtssubjekts. Dann das Ende: der T o d des Menschen — doch w i r sahen schon — mit der Kontinuität i m Erben. Dabei der entsprechende „Übergang", so daß sich das Identische und das jeweils Verschiedenartige in Normen geregelt finden. Neben diesen Kategorien, deren K o n sumierung i n Präzisionen Beispiele dafür bietet, wie man bemüht ist, Bestimmtheit der Begriffe mit Offenheit gegenüber der „Fülle" des Real-Möglichen zu verknüpfen (und hierbei immer mehr lernt) 2 4 , gibt es auch die „ E w i g k e i t " . I m Begriff der Rechtssituation leitet sich der Status jeweils aus anderen her. Selbst bei Umwälzungen pflegt das sog. objektive Recht i n „Übergangsbestimmungen" so zu verfahren. D a gilt es, den einen Zustand i n den andern überzuführen. Beim subjektiven Recht kann Eigentum schlechthin beginnen mit dem Heraushauen des Edelsteins, der Okkupation. Z u m Schluß dieser Betrachtung des Kategorienproblems für die Jurisprudenz soll versucht werden, kurz einmal die verschiedenartigen Zusammenhänge bei der Strafe zu erörtern, wie sie uns erscheinen. Wobei w i r i n Anschluß an die Kategorien von „ A n f a n g " und „Ende" davon ausgehen wollen, daß bei gewissen Straftaten dort, wo die Todesstrafe noch gesetzlich besteht, das Gericht das „Ende des Menschen" verfügt, also die Todesstrafe verhängt. H i e r kommen nun folgende Problemlagen in Frage: 1. Zunächst haben w i r einfach die Beziehung „Tatbestand und Rechtsfolge". Sie hat aber ihre begriffliche Heimat in der Richtigkeitslehre und heißt da: „Tatbestand und Richtigkeitsfolge", die je nachdem eine Dürfens- oder Sollensfolge sein kann. 24
Über alles dies jetzt viel Anschauungsmaterial in der „Einf. in das juristische Denken" bei Carl Engisch (Urbanbücherei).
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2. Strafe und Belohnung haben als A k t e nur Sinn, wenn sie sich auf andere zurückbeziehen können 2 5 . Sie sind retrospektiv, der Intentio nach auf eine Person bezogen. Insofern stehen sie m i t der A n nahme einer Offerte, der Mahnung u. dgl. auf einer Linie. H i e r sind w i r i m Bereich der soziologischen Aprioritäten. 3. Strafe und Belohnung aber geschehen als menschliche A k t e in der Wirklichkeit. Sie sind daher situationsbedingt deren logonomem „Sinn" unterworfen. Situationsverantwortliches Denken hat, in Erfassung der Lage, und ihrer sinnvollen Gestaltung von dem aus, der fragen soll, die Strafe als —stets angebrachtermaßen! — darin „richtig" zu erwägen. Nichts darf dabei als Moment, die W i r k lichkeit m i t ausmachend, a priori ausgelassen werden. N u r das Fertigwerdenmüssen simplifiziert notwendig aus pragmatischer Perspektive. H i e r haben w i r also das Belangvolle, Normative mit dem einen Erkenntnisgrund des Heteronomen. Alles dieses: Machtlage, Gesetzesinhalt, aber auch subjektive Momente, Gestimmtheiten wie Entrüstungsgefühle, Vergeltungstriebe gehören als Fakten hier zu diesen Realien der richtig zu gestaltenden Situation. Sie sind aber auch nur so etwas. Es gibt keine Retorsion als Sinn, der über die Beschreibung eines psychologischen Phänomens hinausginge! 4. D a aber die Strafe i m Rechtssystem zuvor Unrecht voraussetzt und nach unserer oben gebrauchten Terminologie die Funktion hat, Widerstrebendes wieder zu verbinden, Unrecht rechtlich zu liquidieren, rechtlich zu begreifen, damit es nicht außerhalb des Normengefüges stehe, erscheint hier das dialektische Moment: die Hegeische Negation der Negation. 5
Wenn nun aber das Ende des Menschen verfügt wird, so taucht das Problem des Logonomen schlechthin auf. Das Recht als belangvoll Angehendes steht i n Frage. Es heißt jetzt: handelt es sich bei der sog. Rechtsfolge des Todes noch um Normatives, Heterologes oder nur um eine Anmaßung des Gewalthabers, nur um Hetronomes und um kein Recht. Das Prinzip des Logonomen — religiös ausgedrückt: Gott — ist offenbar als Rechtsgrund für die Entscheidung, ob heterolog oder nur heteronom bestimmend.
6. Es gibt aber noch ein Problem, das u. E. bisher wenig beachtet wurde. Eine Strafe hat nur als Übel Sinn, eine Belohnung nur als 25 Von der Selbstbestrafung, die das Problem der „Persona" aufwirft, sehen wir hier ab.
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Gut. Wenn nun die Strafe als rechtliche Reaktion richtig ist, so ist sie damit, da es nichts Besseres als Richtigsein geben kann, i m platonischen Sinne kein Übel mehr. Denn nur das Unrichtige wäre ja ein Solches. Daher konnte auch die Todesstrafe für Sokrates kein Übel sein. Also muß das verhängte Übel bei der Strafe i m Bewußtsein des zu Bestrafenden wirklich ein Übel sein. Empfindet er anders, so fällt die Voraussetzung fort. 7 . H i e r soll noch gezeigt werden, wie sich nunmehr die bekannte Alternative: punitur quia peccatum oder ne peccetur? darstellt. Man kann sie m i t der Scherzfrage, ob abstrakt oder konvex vergleichen. Es liegt gar keine echte Alternative vor. Das quia peccatum meint unsere Punkte 1., 2. und 4. Es geht dabei um das spezifische Folgeverhältnis der Richtigkeitslehre (1), sodann um die Anerkennung der Retrospektivität i m apriorischen soziologischen A k t (2). Schließlich um die rechtstypische Reaktion im Sinne der Negation der Negation Hegels (4). Nirgends also „Vergeltung". W i r haben bei der Negation der Negation nur die „ausgleichende", die Commutativa, die die Rechtslage wieder durch rechtlichen Zug weiterführt. Gar von Befriedigung eines Gefühls der Rache kann keine Rede sein. So wie es Edgar A l l a n Poe in der „Schwarzen Katze" von dem Glied der Familie der Montresors erzählt: „nemo me impune lacessit." Aber wie steht es nun m i t dem zweiten Glied der Alternative: „ne peccetur?" H i e r handelt es sich um unseren Punkt 3. U m das Sinnvolle, um die logonome Gestaltung der Situation durch die Strafe. Wie kann man nun hier zunächst das Negative: „damit nicht . . . " privilegieren 2 6 . Genau so könnte es heißen: „ D a m i t . . . " Es soll doch die Realität gestaltet werden und die hat auch i m Soziologischen, bereits begriffsnotwendig positive und negative M o mente an sich. Die Situation soll schlechthin richtig gestaltet werden, richtig entwickelt, so wie es eben pragmatisch, aus der jeweiligen endlichen historischen Perspektive geboten scheint. M a n kann also nur aus solcher pragmatischen Sicht heraus gewisse Momente an der Situation als soziologisch hervorstechend betonen, und daher auf sie intentional sichtlich zielen. Prävention wäre also nur ein Name für einen solchen Spezialaspekt: i n der üblichen Bedeutung des Worts auf einen Einzelnen aus einer Mehrheit oder 26
Das würde auch für die Wendung „Defence-sooiale* zutreffen, worauf mich freundl. Weise Ulrich Klug hinweist.
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auf eine solche bezogen. Unter der Verantwortlichkeit dem Logonomen gegenüber gesehen, jeweils nur ein Moment. So fällt die Alternative fort: M a n erkennt die Komplexheit des juristischen Strafbegriffs. Es gibt, wie w i r sahen, auch einen rein soziologischen Strafbegriff — dem gegenüber jede Zweckangabe zu eng ist, weil sie nur einzelne jeweils vordringlich erscheinende richtige Zwecke betont. W i r sehen auch, wie gerade die Strafe, die das Ende eines Menschenlebens verfügt, die notwendige Einseitigkeit jedes derartigen soziologischen Akts gegenüber der „Fülle", dem Unausschöpfbaren i m Leben durch begriffliche und dann sonstige Stellungnahmen ins helle Licht rückt. W i r würden freilich zu handeln aufhören, wenn das bei allem geschähe. Denn jedes Verhalten tangiert; unser Wirklichsein ist so m i t allem anderen verknüpft, daß es stets „aufdringt". So gäbe es nur die Alternative zwischen einer „ A k tion", die notwendig Richtschnuren, Bedürfnisse, Wünsche, Wollungen usw. dadurch sinnlos machte, daß sie ihre Realisierung verhinderte. Oder einer „Entwerdung", wobei freilich der Betreffende wie Buddha völlig zu Nichts werden müßte. Was schon dem Stäubchen i n Hegels Beispiel nicht gelingt. Das sinnvolle Verhalten in der Situation, deren tieferer Sinn, logonom, dabei allerdings vorausgesetzt werden muß, hält sich von dem utopischen Ziel zurück, je alle Richtschnuren als richtend sinnvoll machen zu wollen, womit die Welt ja als kontingente Sphäre, als „Schöpfung" aufhörte. Sich so ans Nächste haltend, den möglichen Schritt erwägend, ist dem wirklichen Menschen freilich auch im Recht nur „Kleinraumordnung" aufgegeben.
§ 16 Komplexheit des Problems von derWissenschaftlichkeit Möglichkeit des Fortschritts „Es gehört zur Bildung, auf jedem Gebiet nur den Grad von Exaktheit zu erwarten, den die N a t u r des Gegenstandes gestattet." Dieser aristotelische Gedanke am Anfang der Nikomadiischen Ethik, an den Spranger wieder erinnert hat, ist w o h l einer Erweiterung fähig. Es gehört zur Bildung, von einem Unternehmen auch nur den Grad an Wissenschaftlichkeit zu erwarten, den eine sinnvolle Aufgabe erfordert. V o m Verfall des „Guten Gesetzes" i m Buddhismus berichtet man, daß die Gelehrten die Heiligen verdrängten, als die Kenntnisse an Stelle der Erleuchtung traten. Ja, in den heiligen Schriften der Sarvasavadins w i r d die tieftraurige Geschichte erzählt, daß der letzte A r h a t von der H a n d eines Gelehrten gefallen sei1. N u n geht es ja bei der juristischen Dogmatik gewiß nicht um Heiligkeit. Das Unternehmen als solches aber w i r d doch seine spezifische Richtigkeit verlangen, und so kommt es dabei darauf an, zu prüfen, ob diese sich mit der Richtigkeit eines wissenschaftlichen oder gar philosophischen Geistes deckt oder welche Rolle die echte wissenschaftliche Intentio in der Jurisprudenz zu spielen habe, was jener in dieser zukomme. V o n der Struktur der dogmatischen Rechtswissenschaft 2 ist folgendes zu beachten: Die Rechtswissenschaft, wie sie sich als eigene Disziplin entwickelt hat, dient heute in erster Linie den Organen des „höchsten Gewalthabers". Der Begriff des Organs in seiner ganzen soziologischen Tragweite umfaßt auch die nicht beamteten „Träger" des Rechts, soweit sie eben vom Recht mehr wissen müssen als der Laie, der einfache Untertan, der sich durch die Vermittlung jener Organe über das zu Erwartende und von i h m Verlangte orientiert. Die Juristen stellen eine Berufsgruppe dar, die sich historisch entwickelt hat, und deren Sonderheit Gegenstand der Soziologie des Wissens und der Wissenschaft ist, soweit es dabei wieder um deren Funktionäre als Lehrende und Lernende geht. Diese Berufsgruppe hat es bekanntlich nicht immer gegeben. I h r Vorhandensein ist, logisch gesehen, keine Selbstverständlich1
Conze, Der Buddhismus, S. 109.
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Ein Thema für Weins Institut für Strukturforschung, Göttingen.
Komplexheit des Wissenschaftsproblems, „Fortschritt"
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keit. Der Philosoph darf und soll sich daher darüber wundern. Die ihr gegenüberstehende Laiengruppe empfängt nun sozusagen in mehrfacher Verdünnung, je nach dem Verständnis, ebenfalls jenes erarbeitete Wissensgut. Wobei die Übertreter und Rechtsbrecher als „Kriminalstudenten" das für sie Aktuellste zu erhäschen suchen. Die Rechtswissenschaft dient auch denen, die, entscheidend i n der höchsten Gewaltkonstellation, als Partikel in ihrem „ K e r n " wirken, wenn sie traditionsgemäß so „gebildet" sind, daß sie Vorschläge der ersten Gruppe: der Juristen, erbitten und anhören wollen. Die Motive bei all dem sind so mannigfaltig wie dafür, daß jemand in eine Partei eintritt. Gewiß spielt aber das früher behandelte Streben nach Sicherheit, die Tendenz i n seinen Erwartungen sicher zu gehen, bei allen eine mehr oder weniger große Rolle. So sollen es „sichere Ergebnisse" sein, die der Laie als A n t w o r t auf seine Frage erwartet. Denn er ahnt nicht die Fülle der Umstände, die schließlich das für ihn maßgebliche Fazit ergeben: die Risiken, die bereits da beginnen und sich immer mehr vermehren, wo es eben nicht um Imperative geht, um Kommandos, wonach plötzlich alles pariert und still steht, sondern um „Freie Wissenschaft", worin die Macht nichts mehr hineinzureden hat, wenn sie in anderen Imperativen und Versprechen zuvor die „ T o r a " weggegeben hat. W o es aber dafür die wissenschaftliche Streitfrage gibt, die Dialektik, das sie et non und so schließlich das liberum arbitrium der Entscheidenden, aus Eventualvorschlägen wählen zu können. Den Gegenstand der Rechtswissenschaft macht nach unserer A u f fassung „Gesolltes" aus, die echte Pflicht als Heterologes, an Heteronomem festgestellt. Das „Gedurfte" i m sollensfreien Raum, genauer, wo Gesolltes so wenig bestimmt ist, daß es Möglichkeiten frei läßt — man könnte hier von normativen Leerstellen sprechen — , ist als Problem des wirklich, belangvoll Gedurften i m Sinne des Autologen eine Sonderfrage. I m Gefüge der Rechtsdogmatik ist der Begriff des subjektiven Rechts (oder auch entsprechender „Reflexe") nur ein aus denkökonomischen Gründen erforderliches konstruktives Mittel, ein begriffliches Instrument, das dem terminus ad quem: der Ermittlung des Gesollten dient. W i r wissen, daß dieses Gesollte als Ziel der dogmatischen Rechtswissenschaft zwar stets an H a n d von Bestimmungen oder sonstigem sprechenden Verhalten also an H a n d von Heteronomem festgestellt werden soll, aber doch niemals nur auf Grund (logisch verstanden!) solcher empirischer Daten, sondern dem Rechtsgrund nach sehr kompliziert bedingt durch den Konstituierungsprozeß des Logonomen zur Re-
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gulierung situationsgemäßer Angelegenheiten. So ergeben Aprioritäten mannigfacher A r t , auch des Direktiven, erst i n Verarbeitung mit den Aposterioritäten der ständig wechselnden Lagen und aktuellen Fragen das Ziel, was die Jurisprudenz i m Auge haben muß. Dieses Ziel ist als Ausdruck eines Heterologen und nicht nur Heteronomen damit auch niemals nur als „Juristenrecht", „Beamtenrecht", Entscheidungsnorm für die Organe. Wobei die Normen, so aufgefaßt, isoliert, niemand sonst angehend, als Spielregeln ihren heterologen Sinn verlören, sondern das Heterologe muß auch für „die Laien" notwendig echt belangv o l l sein. Betrachten w i r zunächst das Empirische für die Rechtswissenschaft: D a haben w i r also die nur als Tatsachen verifizierbaren Bestimmungen, so oder so gefaßt, kundgegeben direkt i n Gesetzen oder indirekt i n A n maßungen, gewisse Gewohnheiten zu befolgen oder aus sonstigem Verhalten erschließbar. Solche Tatsachen sind wie alle anderen innerhalb der Wirklichkeit hic et nunc verursacht und verursachend, sind je nach der Kategorie der Einzelwissenschaft, die sich m i t ihnen beschäftigt, ihr „unterstellt". Wenn man zu verdinglichen liebt, kann man sagen: sie unterliegen vielfacher Interdependenz. Wenn man funktionelle Ausdrucksweise liebt: sie sind nur ein Ausdruck der Beziehung mannigfach unendlicher Reihen, wobei eigentlich nur die Sprache fixiert. Die von uns aus darstellerischen Gründen isolierten Begriffe: Machthaber, Bestimmungen, Adressaten usw., sie machen ja erst alle zusammen das aus, was man „die Situation" nennt, worin ganz entsprechend bedingt, der Jurist steht, sie m i t ausmacht und sie doch dabei nach seinen Kräften, pragmatisch richtig oder unrichtig erfaßt. Es geht also jeweils auch bei diesem Empirischen um konkrete Richtigkeit, wobei konkret nur heißen soll, dem faktischen Gedanken als Nächstes zugänglich. Die Situation ist dabei von Anfang an keine bloß vorgefundene, sondern ist immer schon eine gedeutete Situation. Das ergibt sich bereits aus der „ M e r k w e l t " , die auch das „nicht festgestellte Tier" (Nietzsche) Mensch hat. A l l e Arten von Aprioritäten, die eine genetische Psychologie und Soziologie feststellen zu dürfen glaubte, prägen sich hier ganz ungewollt i m intentional Ontischen aus. Was hier der Jurist an Fakten zu erkennen glaubt, ist somit durch das Interesse eines in spezifischer Lage stehenden bestimmt, eines, der einen zu ihr passenden Rechtsgrund sucht. Er heißt gewöhnlich: „die hier passenden Bestimmungen". Sucht man so nach einem Gesetzesinhalt, so setzt man bereits die K o m plexheit der Beziehung Gesetz-Recht voraus, einschließlich sich selbst als
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des Interpreten, wobei man noch i m rein Empirischen zu sein glaubt. Hierauf gründet sich offenbar die unausmerzbare Neigung: Gesetz m i t Recht gleich zu setzen. Die Soziologie bietet nun zur Auffassung des Inhalts der Bestimmungen ihre freilich nicht als solche erkannten apriorischen, vorher abzuleitenden Begriffe als „Formen" an, indem sie zugleich in den Dienst der Aufgabe t r i t t , derartiges i m Gefüge, System oder Kosmos des intendierten Wirklichen wiederzufinden: Aus den unendlichen Zusammenhängen des Wirklichen derart erfassend entsprechend Erfaßie*. So werden sich also antreffen lassen: Aus der „soziologischen Unterlage" der Gewaltkonstellation, woher die Bestimmungen kommen, die Tatsachen als Erscheinung jener Konstellation. M a n erfaßt so pragmatisch die Lage und Rolle, soweit man sie für aktuell ansieht. Aus dem „soziologischen Gegenstand" das, „ w o r u m es sich handelt", was i n Frage, genauer i n Rechtsfrage an soziologischen Momenten zu stehen scheint. Es mag dabei zunächst gleichgültig bleiben, ob die Organe das M a terial für ihre zukünftige Tätigkeit i n Form von sog. Gesetzen zu akzeptieren pflegen, wobei Möglichkeiten des Kommenden stets antizipiert werden müssen, „ f a t i d i k " , oder ob, begrifflich zurückhaltender, das Material i n Form einer Fülle früherer Stellungnahmen, also in Form von Möglichkeiten, die einmal wirklich wurden und dazu noch wirklich entschieden, zur Auslesung von Mustern angenommen wird, wie bei den Präjudizien i m angelsächsischen Recht. Das die Verbindlichkeit, das Heterologe gewährleistende Logonome teleologisch verarbeitet in Vorstellungen über das Gebotene präsent, w i r d benötigt, um die sinnvolle richtige Gestaltung an H a n d des pragmatisch erfaßten Wirklichkeitsbestands zu erkennen, damit das Beachtliche an H a n d der sich als maßgeblich gebenden Bestimmungen oder Vorentscheidungen. Die Bestimmungen und Vorwegnahmen anderer A r t sind nun nicht mehr nur i m Rahmen einer immanenten Soziologie deutbar, so etwa jeder Imperativ als seinem soziologischen Sinne nach „verpflichtend" (freilich, wie w i r wissen, auch ohne Widerspruch als „nicht verpflichtend" denkbar!), sondern sie sind deutbar als der e i n e Erkenntnisgrund für Heterologes, nämlich das Recht. So wie erst unter dem Begriff des „ V e r u m " als „index sui et falsi" sowohl der Sinnanspruch des auf die Wahrheit gerichteten i m tatsächlichen Behauptungsakt gebotenen Urteils als Anmaßung sichtbar wird, zugleich mit der Möglichkeit, diese Anmaßung zu prüfen und zurechtzustellen. H i e r liegt rechtsphilo-
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sophisch eine genaue Analogie vor. I n der Terminologie Lasks: Das Material, wonach entschieden werden soll, hat jetzt nicht mehr nur soziologischen Charakter, sondern ist bereits „umgolten" von der dem Soziologischen transzendenten jenes in sie hineinziehenden Sinnfülle echter Belange und letzter Verbindlichkeit. W i r haben hier also einerseits Wirkliches, Erfahrungsstoff, freilich ganz anderer A r t als ihn als „ D a t u m " , als Gegebenheit der Physiker oder Chemiker zum empirischen Ausgangspunkt nimmt. W i r haben jedoch wieder, insofern dem Naturwissenschafter gleich als dieser ja auch gesetzmäßigen Zusammenhängen einen Ausdruck für Erwartungen, Prognosen zu geben sucht, solche noch dem Bereich des Wirklichen angehörige Vorwegnahmen, Vermutungen über wahrscheinliche Entwicklungen, Tendenzen. W i r haben aber andrerseits jenes „höhere" Teleologische, das sich aus Religions- und Geschichtsphilosophie ergibt, das jenes Wirkliche als D a t u m und Prognose i m Hegeischen Sinne in sich „aufhebt". N u r so ist es ja möglich, Belangvolles aus jenen realen Bestimmungen herauszulesen. Es kommt damit alles auf die I n t e r p r e t a t i o n an, welche die Bestimmungen als Grund für die richtige Situationsgestaltung auffassen läßt. Also darauf, daß die Kundgabe überhaupt maßgeblich ist; daß sie nie isoliert als solche, sondern als aus einem Ganzen, wie es der Begriff Situation ausdrückt, entspringend und zugehörig aufgefaßt wird. Was wieder nicht heißt, daß w i r glaubten, man könne das Ganze der Situation so wie einen Stein i n der H a n d haben. Diese Erfassung ist stets eine pragmatische, perspektivisch mannigfach bedingt, bedarf aber einer richtigen, also sinnvollteleologischen Perspektive oder Intentio; daß sie Gedanken ermöglicht, die der richtigen Gestaltung der Situation dienen. Es kommt also nicht i n erster Linie darauf an, daß der Sinn des Satzes der Bestimmung rein soziologisch ausgelegt wird; daß Erlebnisse, beteiligte psychische Vorgänge aufgedeckt werden. Absichten der an dem real Werden der Bestimmungen, von den ersten Erwägungen bis zum „Erlaß" beteiligten Personen. Es kommt auch nicht auf die unter der Kategorie der Sprachwissenschaft stehende „philologische" Bedeutung an.
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So w i r d also die gleichfalls situationsbedingte richtige Auffassung über die Interpretation zum ersten liei . N u r von der gesamten Situation heraus, aus der Auffassung über deren Sinn läßt sich etwas über die A r t ermitteln, wie die Bestimmungen aufzufassen sind. Die Situation enthält aber in Wirklichkeit „alles", wenn es audi zu dessen Erfassung nur die bekannten unabschreitbaren Reihen von Abhängigkeiten gibt, dazu das Aktuelle jeweils eine spezifische Perspektive m i t ihrem Vordringlichen und Zurückstehenden hinzufügt. H i e r nun gibt es natürlich auch den soziologischen Sinn der Bestimmung, die Absichten der Beteiligten, das von ihnen zu erwartende Verhalten als Reaktion auf eine gewisse Interpretation, ja aller derer, worauf die Geltung i m soziologischen Sinn der Machtkonstellation beruht. Es gibt hierbei auch kein juristisches Inland, das gleich einer fensterlosen M o nade beanspruchen könnte, als Situation allein zu Gott zu stehen. Die Interpretation in unserem Sinne als „Aufhebung" der gegebenen Situation in die „richtige" läßt daher alle üblichen „Interpretationsregeln" nur als Musterkatalog möglicher Argumente gelten. Als Gesichtspunkte: zur Argumentation ad hoc, Anschauungsmaterial. Wobei es nur erstaunlich ist, daß, vergleichbar der aristotelischen Urteilstafel, wie sie über zwei Jahrtausende später K a n t übernahm, die Interpretationsregeln den Charakter von Urväterhausrat angenommen haben. Die verheißungsvollen Ansätze zu Neuem in der juristischen Logik im weitesten Sinne bei Engisch, Klug, Viehweg u. a. i m Hinweis auf mögliche Topiken unter dem Titel „ N a t u r der Sache", der „Interessenjurisprudenz", ja bereits in der Freirechtsbewegung, der Rechtstatsachenforschung bedürften jetzt nach unserer Auffassung nur noch einer synthetischen Verarbeitung, Hineinnahme in die eben dargelegte radikalere Grundregel der Interpretation als situationsbedingter logonomer, zusammen m i t den „bestimmten" bzw. observanzmäßig geforderten Interpretationsstereotypen als zunächst heteronomen. Als Tatsache ist ja überhaupt jede Lehre, als Doxa, je nach der Rolle für die Situation beachtlich. Es gibt manche fable convenue der Juristen. Es gibt freilich auch kühne, solche Fabeln zerstörende, sich dabei doch nur als Juristen fühlende Denker wie z. B. K i p p mit seiner Lehre „über Doppelwirkungen i m Recht", worin die rechtspositivistische Immanenz kühn herabgesetzt wird. Daß die so geforderte Interpretation selbst gesetzlich geforderter I n terpretationsregeln der teleologischen Beurteilung im Sinne einer richtigen Situationsentwicklung unterliegt, ist praktisch 18
Emire
durchaus
nichts
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Neues. Besonders i n historisch bewegten Zeiten suchen gerade die verantwortlichen Juristen, verantwortlich also nicht gegenüber dem Despoten, der jeweiligen Machtsituation, sondern aus „höherer" Pflicht gegenüber dem Logonomen, das Angeordnete i m Ganzen auf seinen „Sinn" zu beschränken. H i e r pflegt man ja auch auf mannigfaltige, jenem Zweck dienliche Umstände beim Erlaß und der Vorbereitung der Gesetze hinzuweisen etwa auf den Druck, Notlage, Eile usw. Damit verfährt man bereits geschichtsphilosophisch i m teleologischen Sinne. M a n fühlt sich als Funktionär aber nicht in einem starren sinnlosen System, zu dessen Deutung es eines Schlüssels bedürfte, der nirgends sonst öffnet, sondern als Funktionär i n einer entwicklungsfähigen und bedürftigen Lage. Eine Schranke für die Interpretation, soweit sie noch eine juristische sein soll, und nicht etwa ganz anderes, besteht darin, daß das Interpretationsergebnis noch als Interpretation einer heteronomen Richtschnur: Gesetz u. dgl. g e l t e n kann. Wenn das nicht der Fall ist, liegt keine rechtsdogmatische Feststellung mehr vor. So ist es aber auch möglich, Uraltes, Vergessenes, Gerichtsgebrauch, Auffassungswandel in der Wissenschaft und in der Vorstellung der Laien teleologisch zu verwerten. Das sog. System ist als Faktum ein Werk der Juristen, daher auf seine jeweilige Tauglichkeit hin, i m Sinne der sinnvollen Situationsgestaltung zu prüfen. Hierbei spielt die faktische Doxa über die Möglichkeit und Nützlichkeit eines Systems eine Rolle. Auffassungswandel, Rezeption fremder systemfeindlicher skeptischer Meinungen als neuer Dogmen sind also keine quantité négligeable. Daß die systematische Tendenz: die Hingabe an die logische Tragweite der Begriffe, die I n tentio zur Erhellung der Problemzusammenhänge, Überschneidungen, Widersprüche nicht m i t dem fix und fertig vorgewiesenen „System" identisch ist, wissen w i r ja schon. Dieses kann ja immer nur eine Systemhypothesis sein, ein System als E n t w u r f und vorläufiger Ansatz, zur Erprobung empfohlen. Entscheidend bleibt die logische Tendenz, die Hingabe an das Richtige als Regulativ, dem Anspruch des Gedankens entsprechend. Das zeigt sich gerade bei genialen Vorwegnahmen. W i r wiesen bereits darauf hin, daß selbst dort, wo sorgfältige Ableitungen, Folgerungen das Ideal sind, i m Mathematischen oft geniale Sprünge vorliegen, wo man brave systematische Schlüsse annimmt, daß ganze Abhandlungen nötig würden, solchen Sprüngen logisches Erdreich zu verschaffen.
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Da, wo man ein System für nötig hält, dient es dem ökonomischen Zweck: alle möglichen Handlungen von einer als unveränderlich gemeinten, statuierten, historischen Situation aus, nach dem Normativen hin zu beurteilen. M a n ist genötigt, die „soziologische Unterlage" so wie sie in einem Weltmoment erscheint, statisch zu perpetuieren, als unveränderlich, den Fluß des historischen Geschehens erstarren zu lassen zu dem Paradox eines latenten Koordinatensystems. D a sich diese Unterlage nun in Wirklichkeit ständig ändert, auch dann, wenn es der sich m i t ihr gleichförmig mitbewegende Beobachter nicht merkt, t r i t t schon wegen der immer und notwendig vorhandenen sozialen Anomien eine Spannung auf, welche eines Tages die veränderte Lage bewußt macht. Es zeigen sich dann die auch dem Laien offenbaren Schwierigkeiten, augenfällig in den Versuchen von der einmal angenommenen dogmatischen Basis aus, vermittelst anscheinender Sophismen des neuen Zustands normativ H e r r zu werden. Denn nun leistet die veränderte neue Situation und die von ihr bedingte neue Problematik dem K o n ventionellen Widerstand. Die soziologischen Begriffe des y yGegenstands c< bleiben y als Aprioritäten, von dem empirischen Wandel unberührt. Es kommt darauf an, sie so zurechtzustellen, daß die zu erwartenden Verhaltensweisen an ihnen bestimmt werden können. Ohne ein System dieser soziologischen Beziehungsformen ist auch kein rechtsdogmatisches System denkbar. Systematisch wäre dabei so vorzugehen, daß zunächst separat (genetisch freilich nur an H a n d des juristischen Anschauungsstoffs) apriorisch die soziologische Gegenstandssphäre entwickelt wird. So wie ein Geometer die Figuren seiner Geometrie. Als „reine" Wissenschaft, was bedeutet, daß die „Anwendbarkeit", die Hinsicht auf Brauchbarkeit zum Aufbau eines positiv rechtlichen Systems in dieser Phase außer acht bleiben muß. Daher halten w i r auch den heute beliebten Ausdruck „Grundlagenforschung" für irreführend. Daß sodann die Feststellungen getroffen werden, welche sich daraus ergeben, daß diese Gegenstandssphäre als Unterlage für die Entwicklung erfüllbarer Normen tauglich sein soll (apriorische Rechtssphäre). Daß dann schließlich an H a n d des so erarbeiteten begrifflichen Netzes das eigentlich Positive, das sich als Maßgeblichkeit kontingenter Bestimmungen, des Heteronomen (Gesetze!) manifestiert, i n ökonomischster Weise formuliert wird. — Daß die Feststellung der positiv juristischen Begriffe, systematisch gesehen, nur auf diese Weise logisch zu rechtfertigen ist, läßt sich wohl am leichtesten auch dem Positivisten an H a n d der vergleichenden Rechtswissen18 *
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schaft dartun. Woher soll denn sonst der begriffliche Maßstab kommen, der seinen Vergleich möglich machte? Das gleiche gilt aber für jedes positive Recht eines Staates. Es steht fest, m i t Änderung der Gewaltsituation und der ihr erwachsenen Bestimmungen, der „soziologischen Unterlage" und aus ihr verständlichen Behandlungsweise der Vorgänge i m „soziologischen Gegenstand" ändert sich Vieles in der Rechtswissenschaft. Merkbarer Wandel i n der historischen Situation tangiert auch unseren Gegenstand. Diese Einsicht J. H . v. Kirchmanns haben w i r festzuhalten. Aber was bleibt dann nach der vielen Makulatur als wissenschaftlicher Ertrag übrig? Es scheint an der Zeit, diese Frage unter der Perspektive der Soziologie zu sehen, zumal der Wissenssoziologe seinen eigenen Produkten gegenüber zunehmend kritischer wird. Früher machte Philosophie bescheidener, heute wohl eher Soziologie. Weshalb verbannt man nicht die juristische Literatur eines vergangenen Regimes nach „ U m brüchen" und „Machtergreifungen" oder bewahrt nur in Archiven das unter historischem Aspekte für die vergangene Zeit Interessante, so wie gewisse Akten der Gerichts- und Verwaltungsbehörden, wenn die „ V o r fälle" archivreif geworden sind? N u n ist gewiß Wissenschaft nicht etwas so absolut Hohes, wie mancher Gelehrte aus Selbsterhaltungstrieb annimmt. W i r haben früher gewisse Momente hervorgehoben, die da sein müssen, wenn ein Unternehmen „wissenschaftlich" sein soll. Unterstellen w i r , es sollte auch bei dem Unternehmen „Dogmatische Rechtswissenschaft" so sein und sehen w i r näher zu: W i r haben überall Zwecke als Katalysatoren. Aber echte Wissenschaft, wo die Ergebnisse ohne solche okkasionistischen Momente als Theorien intendiert werden, durch denkende, nur dem Gedanken und seinem Kriterium verantwortliche Hingabe an den objektiven Sinn des Gegenstands nicht nur richtige, sondern auch „bleibend bedeutsame" Urteilssätze produziert werden sollen? So etwas behauptet aber die juristische Dogmatik mit ihrem Anspruch auf den Wissenschaftscharakter. W i r haben nun in der Tat bei ihr keine Sammlung von Rhapsodischem, von Pensees oder geformten Aphorismen, sondern die Tendenz zum System i m oben behandelten Sinne: insbesondere die Setzung von Thesen, Bildung von Begriffen i m Bewußtsein ihrer logischen Tragweite und den dazugehörigen axiomatischen Willen: der Ableitung auf kürzestem Weg aus einem M i n i m u m prinzipiierender Voraussetzungen und Grundbegriffe, Vermeidung von Widersprüchen, Erweiterung oder Verengung des Geltungsbereichs als Ergebnis dialektischer Streit-
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gespräche. Das sind alles charakteristische Zeichen für Wissenschaftlichkeit. W i r haben auch bei der juristischen Dogmatik kein gedankliches Bemühen um etwas, was nur „angebrachtermaßen" ad hoc wichtig wäre, wie es bei der Vorbereitung eines Films geschieht, wo etwa die Geschichte eines Schlosses zu diesem Zweck aufgeklärt werden muß. Z u diesen unleugbaren Symbolen echter Wissenschaftlichkeit nun folgendes: Zunächst: Die dogmatische Jurisprudenz hat wirklich nur als unmittelbaren Sinn die Aufgabe, der Tätigkeit der Organe zu dienen; der Begriff Organ i m weitesten soziologischen Sinne verstanden! M a n kann auch, umgekehrt vorgehend, so sagen: Seht Euch die an, welche sich um die Ergebnisse der dogmatischen Rechtswissenschaft kümmern müssen, da der Sinn ihrer Tätigkeit von einer solchen Beachtung und dem entsprechenden Wissen abhängt, und ihr habt genau die verschiedenen Gruppen, für die sich die Jurisprudenz bemüht. Die Ausstrahlung solcher Kenntnisse und des ihr entsprechenden Benehmens auf weitere Kreise braucht uns als so oder so verstandenes Geltungsproblem hier nicht zu interessieren. — Aber nicht durch neue Gesetze! Der Jurist ist in dieser Hinsicht nicht autorisiert. Jedoch liegt seine Autorität in dem, was von seiner Leistung einleuchtet. Das Problem, weshalb etwas „einleuchtet", als evident hingenommen wird, „überzeugt", ist wie das Problem des „Imponierens" nur an H a n d von Fakten, die irrational einfach zu konstatieren sind, also rational nur aus Realgründen zu begreifen. Weshalb ihm etwas einleuchtet, glaubt bloß der Betreffende selbst zu wissen, der Beobachter aber w i r d die Frage nicht auf das „weshalb", sondern auf das „ w a r u m " richten. Jedenfalls muß nicht das einleuchten, was einleuchten sollte. Dieses Einleuchtende soll nun, nach juristischer Auffassung, die logische Richtigkeit der dogmatischen Lehren sein. Dieses Instrument für jene Organe hat als rechtsdogmatisches System also ein theoretisches Aussehen. Als solches w i r d es erstrebt und als solches tradiert. Es beansprucht gerade weil es die theoretischen Ansprüche erfüllen w i l l , das ö k o n o m i s c h s t e M i t t e l zu sein, woran sich das Organ orientieren kann. Durch die Aufnahme des Materials i n dieser theoretischen Form erscheint ihm, wenn er entsprechend theoretisch gebildet, also „Jurist" ist, seine rechtliche Funktion als Organ am leichtesten. Die Einheitlichkeit des Gegenstands ist durch den Rechtsbegriff und die von ihm ausstrahlenden kategorialen Momente, Prädikamente, auch bei den einzelnen rechtsdogmatischen Disziplinen gewahrt. I n W i r k lichkeit stellen natürlich die „Disziplinen" vielfach aus historischen oder
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praktischen Gründen Mischformen, vom Gegenständlichen aus gesehen, dar. „ D i s z i p l i n " hat ihren Namen ja nicht von Wissenschaft, sondern von Unterricht. Jedenfalls besteht aber bei der Jurisprudenz auch die für die Wissenschaft erforderliche einheitliche Region. Wie steht es aber m i t der Bewahrung der Ergebnisse, so wie sie für den „objektiven Geist" charakteristisch ist, den eine wirkliche Wissenschaft in A k t e n des „subjektiven Geistes" produziert? N u n steuern w i r tatsächlich auf die „verdammte" Frage zu, unsere crux, worauf der mutige Kirchmann zuerst gewiesen hat. Was wandert von der rechtsdogmatischen Arbeit in den Papierkorb? Was erhält sich, w i r k t i m wissenschaftlichen Sinne gedanklich fort? Real w i r k t auch das in den Papierkorb geworfene fort — man denke an die immer noch Beachtung heischende W i r k u n g gewiß sogleich in den Papierkorb gesteckter K o m mentare vergangener Regime, doch ist solcher Stoff auch nach ihnen nicht ausgegangen. M a x Salomon hat bekanntlich in seiner „Grundlegung der Rechtsphilosophie" 3 als Gegenstand der Rechtswissenschaft die Problematik bezeichnet. Das ist die eigentliche „Konstruktion", womit das juristische Fazit ermöglicht wird. Somit läge der wissenschaftliche „Fortschritt", mit der für ihn charakteristischen „Aufhebung" der jeweiligen Ergebnisse, in der Förderung der Rechtssystematik. — Die komplizierte Struktur des Rechtsbegriffs aber fordert hier noch genauere Betrachtung. Hervorstechend steckt in der Rechtssystematik zweierlei: Zunächst das apriorische Element in seiner verschiedenen A r t . W i r beschränken uns auf das Soziologische. D a fanden w i r : nicht nur die Richtschnur selbst, ihre möglichen Arten und Geltungsweisen, sondern den Riesenbereich aller Figuren, die die Rechtswissenschaft systemlogisch voraussetzen muß, soweit sie nicht spezifisch juristisch, auch nicht logisdi-ontisch sind. Sodann die „Möglichkeiten" der Abwandlung durch „Behandlung". H i e r sind w i r in einer anscheinend höheren D i mension dieser Sphäre, wobei der Begriff der Behandlung selbst noch in die frühere gehörte. I n dieser „gibt es" ja sdion Versprechen und die darauf gegründete Schuld und Forderung. I n der zweiten Sphäre der Behandlung sahen wir, daß das Versprechen „nichtig" sein kann oder „gültig", daß der Inhalt von Schuld und Forderung erweitert oder verengt werden kann usw. H i e r bringt man zuvor geklärte Begriffe unter andere und bestimmt dann. Aus der Mathematik erinnert man 3
2. Aufl. 1925.
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sich ja an Analoges, wenn etwa nach der Bestimmung eines Dreiecks eine Gerade durch eine Spitze gezogen wurde und nun neue Verhältnisse zu dieser Geraden ermittelt wurden. Die dritte Form kann man darin sehen, daß der Behandelnde als der höchstmögliche bestimmt wird. H i e r ist aber, wie w i r wissen, die Beziehung auf einen Raumteil nötig, um den Vergleich m i t anderen Behandelnden bilden zu können. W i r sind hier also bei diesem relativen Begriff schon i m Teleologischen, das zu der ganz anderen Begriffsschicht überleitet. Fragen w i r nun nach der Beziehung der Erforschung des soziologisch-apriorischen Bereichs zum Wissenschaftlichen, so sehen wir, daß seine Figuren eminent dafür geeignet sind, ja daß w i r hier einen rein akademischen Forschungsstoff nach A r t der rationalen Gebilde der mathematischen Disziplinen vor uns haben. Nirgends sonst freilich, abgesehen von der Arbeit Reinachs, der sich ja auch darin genetisch vom Anschauungsstoff der Rechtswissenschaft abhängig fühlen mußte, haben w i r hier die feinsten Distinctionen und subtilsten Ableitungen als dort, wo man den Charakter des Wissenschaftlichen Ergebnisses verkannte: in den als wissenschaftlich fortwirkenden Arbeiten, meist Monographien, der Jurisprudenz. Es macht dabei auch nichts aus, daß sich der Entdecker neuer Gebilde und Möglichkeiten als positiver Jurist fühlte, während er Figuren und Relationen der soziologischen Aprioristik klärte. Ebensowenig wie eine Entdeckung auf anderen etwa naturwissenschaftlichen Bereichen ihre Bedeutung dadurch einbüßt, daß man das Gefundene zunächst nicht seinem richtigen kategorialen Wesen nach erfaßt. Ganz ebenso wie es in der Mathematik, trotz Grundlagenkrisis, Fortschritte dadurch gibt, daß immer mehr Sachverhalte dieser spezifischen A r t entdeckt werden, immer neue Beziehungsformen, „Möglichkeiten". Fortschritt insofern, als das bisher Erarbeitete i n dem schon oft erwähnten Sinne „aufgehoben" bleibt, ins Neue einbezogen, verarbeitet und so konserviert, so steht es auch hier. Das A l t e erscheint genetisch als unüberspringbare Stufe, als condicio sine qua non des Späteren. Daß die Fähigkeit des Juristen zu feinsinnigen, scharfen Distinktionen anerkannt wird, beruht u. E. primär auf den Leistungen auf diesem, nur nicht erkannten Feld der apriorischen Voraussetzungen. Vermittels des römischen Rechts sind sie i m kanonischen und schließlich religiös Dogmatischen heimisch geworden, hier allerdings auch durch die typisch normativen Möglichkeiten der Richtigkeitslehre i m Theologischen. Die Akademiereife, die man dem positiven Juristen und religiösen Dogmatiker gern verweigerte, weil er doch nur Heteronomes behandle (so-
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weit er nicht Historiker war) käme beiden schon wegen der Entdeckungen i m Apriorischen zu. Können w i r also verstehen, in welchem metajuristischen Bereich die sicheren begrifflichen Fortschritte stattfinden, die wohl allein das wissenschaftliche Gepräge, Prestige bestimmen, vielleicht um so mehr, je weniger sie „auf der H a n d liegen": das an Sinn- und Bedeutungsfülle immer reicher und komplizierter werdende Begriffsfeld der soziologisch-apriorischen Maschen, das immer feiner gesponnen werden muß, je komplizierter selbst dem ungeschulten Blick die „Lebensverhältnisse" erscheinen, so w i r d nun das Problem des Wissenschaftlichen wieder schwieriger, wenn man das andere wesentliche Moment beim Rechtsbegriff hinzunimmt, das der „Aufhebung" des ganzen soziologischen Bereichs ins Logonome, maßgeblich Direktive. Gewiß ist verständlich, wo es die immer feineren begrifflichen Ziselierungen gibt, die Distinktionen, die Begriffe und Bestimmungen, die jede positive Rechtsnorm benötigt, um einen anwendungsfähigen soziologischen Sinn zu erhalten. Salomons These von der immer besseren Bewältigung der begrifflichen Problematik erwies sich jedenfalls klar als eine solche der soziologischen Problematik (und damit noch nicht auch der juristischen). Ferner erhielt sie eine Wendung ins Positive: aus dem Problematischen ins Assertorische, ja Apodiktische. Genauer gesehen, w i r d es ja wohl so sein, daß „Sein" keine Modalitäten hat 4 , daß, was „notwendig" ist, weil es sein „mußte", dieselbe Seinsbeschaffenheit haben w i r d wie das, was nur „zufällig" ist. I m Seinsbereich gibt es nur etwas oder es gibt es nicht. So auch bei unserem soziologischen Gegenstandsbereich. H i e r kann es nur Position und Negation von Seiendem geben. Nicht diese Gegenstände müssen oder können sein, sondern die Urteile darüber können verschieden sein. Wissenssoziologisch ist das jedenfalls so. Oder es interessieren die logischen Strukturen, worin das steht, was nach Salomon eine Entwicklung der Problematik ermöglicht. Es geht um Bestimmtheit und Unbestimmtheit des i m U r t e i l Ausgesagten vermittels gewisser i m Urteil selbst nicht ausgedrückter Voraussetzungen. A u f die Bestimmtheit, Definition käme es dabei an. Sieht man auf größere Begriffszusammenhänge, so w i r d man immer die Behauptung eines Problems zurückführen können auf etwas aus demselben Bereich, das bestimmt ist, mag es das auch vorher nicht gewesen sein. So gesehen, bedeutet einen Fortschritt in der Entwicklung der Problematik behaupten, 4
Dazu Baron Freytag-Löringhofi, Logik, S. 77 ff. Günther ]acoby> Deutsche Lit. Zeit 59 (1938), S. 177 ff, Kritik an einem Buch N. Hartmanns.
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dasselbe wie eine solche genauerer Bestimmung, präziserer Fassung zugrunde gelegter Voraussetzungen. So bedeutet die von uns der Jurisprudenz zugeschriebene Enthüllung von immer wieder neuen und ihrem Wesen nach genauer erfaßten Gegenständen der soziologischen Aprioristik etwas ganz Positives und nichts Problematisches. Aber das meinte vielleicht auch Salomon und wollte nur den Weg in die Zukunft unvollendbarer Möglichkeit i m Sinne der Marburger Schule gewahrt wissen. Wobei w i r ihm zustimmen. Jedenfalls sehen w i r hier bei unserem rechtsapriorisch-soziologischen Bereich keinen Strukturunterschied zu dem der schon zitierten mathematischen Gegenstände. — Aber das w i r d jetzt anders, sobald w i r die zweite wesentliche Begriffsschicht einbeziehen: die Logonome zur Rechtfertigung des heteronomen und autonomen: kurz des Angehenden. W o könnte man hier so etwas wie einen wissenschaftlichen Fortschritt erkennen? Es geht darum, die M o difikationen i n gleicher Weise zu erfassen wie eben beim Soziologischen, wo es sich doch um nicht weniger als exakte Bereiche handelt, ja um geradezu amorph erscheinende Problematik: die sich bekundet, sobald man m i t dem Teleologischen Ernst macht, es i n Hinsicht auf unser Aktuelles prüft, sich nicht m i t Allgemeinheiten abspeisen läßt. Also die Situation erwägt und den Juristen darin, den Schöpfer und Empfänger rechtsdogmatischer Theorien, i m Sinnbezirk eines teleologisch Gerichteten dazu, auch den „Laien" abhängig vom Richtenden, alle, wie w i r wissen, i m Bereich eines vom Religionsphilosophischen bedingten geschichtsphilosophischen Felds. Weil nur so der Schluß auf das Heterologe auf Grund von Heteronomen und Logonomen schlüssig w i r d , rechtswissenschaftlich ausgedrückt, sinnvolle Rechtsdogmatik dabei herauskommt und keine bloßen Spielregeln. Es ist kein Zweifel, daß die Frage nach dem Wissenschaftscharakter für ein so gesehenes Gesamtunternehmen: Jurisprudenz, schwieriger geworden ist. Unsere A n t w o r t w i r d auch weniger konventionell ausfallen. H i e r läge ein wissenschaftlicher Fortschritt nur vor, wenn die Art und die Ergebnisse der Verarbeitung gerade für die Situation und die in ihr wirkenden Organe als Funktionäre das Merkmal bleibenden wissenschafllichen Werts und der entsprechenden fortschrittlichen Entwicklung an sich trügen. Also dann, wenn man immer besser erführe, wann und wie die Verwertung der dem Inhalt nach wechselnden heteronomen Richtschnuren, der Gesetze und entsprechenden Verhaltensweisen (Präjudizien, Usancen usw.) in der sich mitverändernden Situation und den veränderten Ansprüchen der Machthaber a m b e s t e n sei.
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Einen Fortschritt auf dem Gebiet des Gerechten kann es nicht geben, weil es dieses Gerechte nur als formale Struktur gibt, die längst aufgehellt ist. A u f die analoge Untauglichkeit des Sicherheitsbegriffs ist von uns gleichfalls mehrfach hingewiesen worden. Zunächst: D a dogmatisches Recht für Menschen bestimmt ist und nicht für ein Bewußtsein überhaupt, für Menschen, die sich zwar jeweils in einander ablösenden mehr oder weniger unterschiedlich voneinander empfundenen Situationen befinden, aber doch immer wieder als Menschen m i t ihrem für Menschen charakteristischen Verhalten, ihrer Merk- und W i r k w e l t , ihren Bedürfnissen, ihrer Anpassungsfähigkeit, Fähigkeit zur Orientierung, kurz all dem, was eine empirische Anthropologie feststellt, so w i r d sich doch i m großen und ganzen mancherlei ergeben, was auch unabhängig von dem jeweiligen Aussehen einer Situation als w e r t v o l l e m p f u n d e n w i r d , als Erfüllung faktischer Richtschnuren, autonomer, die „ewig menschlich" auf Erfüllung ihrer Bedürfnisse gehen. Das klingt nach Naturrecht, steht aber hier an ganz anderer Stelle. M a n sehe sich die Thesen Leopold v. Wieses in Band 1 dieser Schriftenreihe an, w o r i n er absichtlich simple Erfahrungen zusammenfaßt. Daß diese autonomen Richtschnuren ohne weiteres auch autologe wären, hieße die faktischen Menschen, so wie sie wirklich sind, als Subjekte nicht der empirischen, sonder der philosophischen Anthropologie behandeln. Solche stehen aber nicht als reale Wesen innerhalb der Wirklichkeit aus Realursachen da, real wirkend, Wirkungen unterworfen, so wie der Jurist als Organ und der Rechtswissenschafter, beteiligt an dem faktischen Unternehmen Rechtsdogmatik seiner Zeit. H i e r haben w i r nun die systematische Stelle, wo rechtsphilosophisch zu unserem Thema der Begriff des „Interesses" auftaucht. So w i r d sich also auch wohl von hier aus ein Zugang zu der sog. Interessenjurisprudenz finden lassen, die vor allem in der Nachfolge Hecks eine praktische Enantiodromie gegenüber der sog. Begriffsjurisprudenz einleitete. Zunächst glauben w i r drei Arten der Betrachtungsweise im Juristischen unterscheiden zu dürfen. Bei der einen sieht man sich der Fülle von Interessen gegenüber, deren begriffliche Bewältigung i n einer Sozialpsychologie und empirischen Anthropologie noch aufgegeben ist. Die naturrechtlichen Ansätze mit ihrem Hinweis auf das, was „die Menschen wollen", um damit eine Prämisse zu gewinnen, hätten seiner Zeit schon dazu Anregung bieten können, zumal die systematische Tendenz, die Aprioristische, wenn auch kryptologisch, ja noch weitgehend unangefochten war. Gegenüber dieser chaotischen, zunächst nur
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beschreibbaren Stoffülle an Interessen heterogenster A r t , einander hindernd, t r i t t dann die zweite A r t mit der Verantwortung auf, die Interessen auf berechtigte und unberechtigte hin zu unterscheiden. Quis judicabit? Der positivistische Jurist, der sich dabei in seinem Element fühlt, sieht hier nun das Kriterium der Distinction i n dem, was er unter Recht versteht. D a es dieses Redit nun, von unserem Standpunkt aus nicht geben kann, ohne daß man begrifflich die Situation i n ihrer teleologisch erfaßten Bedeutung sinnvoller Gestaltung einbezieht, haben w i r einen Zirkel, insofern ja die einfach faktisch vorfindbaren Interessen, welche die Situation wesentlich mitgestalten, dazu gehören. Eine Trennung von Interessen derer, die „oben" an der Macht sind, von Interessen der anderen, die „unten" sind, beherrscht werden, läßt sich schon aus dem Grund nicht machen, weil sie das in der jeweiligen Machtsituation Zusammengehörige: besonders augenfällig in der Situation „soziologischer Geltung", auseinander risse. Unsre Unterscheidung von „soziologischer Unterlage" und „soziologischem Gegenstand" diente ja nur einer Teilungsmöglichkeit soziologisch aprioristischer Formen, kann aber zur Spaltung zusammengehöriger Realitäten kein Anlaß sein. H i e r muß man also, wenn man berechtigte von unberechtigten Interessen fürs Recht unterscheiden w i l l , bereits den Gesichtspunkt des Logonomen ins Feld führen, um so trotz mannigfacher Interessen solcher, die an der Machtkonstellation besonders hervorstechend beteiligt sind, das von ihnen real beeinflußte Heteronome i m Gesetz und seinen Entstehungsgründen, als Heterologes, nämlich rechtlich auffassen können. Wodurch das Unterscheidungsmerkmal berechtigter von unberechtigten Interessen gegeben wäre. Aber nun gibt es ja „totalitäre Tendenzen". Grob vereinfachend, indem man differierendes bereits zur Koinzidenz unter einem „höheren" Ordnungs^ prinzip bringt, kann man sagen: Bei totalitär Heteronomem gibt es als Kriterium der Berechtigung, nur ein Prinzip: eben das Konstituierende für die totalitäre Anmaßung, d e n Gott des Regimes, personell, soziologisch, nach einem Schlüssel zu finden, oder ideenmäßig verstanden. U m jetzt auf das Problem zurückzukommen, was sich hieraus, in der begrifflich zweiten Phase, der direktiven Verarbeitung der Situation als Bleibendes i m Sinne wissenschaftlichen Fortschritts ergeben könnte: M a n sehe sich die Bibliotheken von Werken an, worin jeweils die Bewältigung von „Interessen" durch die Dogmatik explizit oder implizit den Gegenstand ausmacht! W o beispielsweise erwogen wird, wie das Verhältnis des Interesses am „ W o r t " , der Kundgabe eines Ver-
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sprechens, worauf man sich verlassen kann, also an Kontinuität, Perpetuierung zu dem Interesse an der Erhaltung des sog. Inneren, des „Willens", der „Auffassung", der Beweglichkeit geistiger Vorgänge, dann wieder an der Berücksichtigung der wirtschaftlich oder anders verstandenen Lage und ihres Wandels am besten gewürdigt würde. E i n Verhältnis immer bereits von mehreren Interessen, zu deren abgeschlossener Menge sich dann bald von außen als Anwärter, Reflektanten anmelden. Mißverständnis, Irrtum, Sicherheit, Wertverhältnisse aller möglichen A r t , wie etwas des künstlerischen Produzenten gegenüber dem Eigentümerinteresse am Faßdeckel der Madonna della Sedia. M a n müßte Hunderte von Forschern ansetzen, nicht juristisch, sondern soziologisch oder kollektivpsychologisch „Interessierter"; nur m i t der A u f gabe betraut, ohne Rücksicht auf die vorgeschlagenen Lösungen das festzustellen, was als „Interesse" zur Geltung gebracht werden soll, was als solches berücksichtigt w i r d , vor allem auch das, was gegenüber dem offiziell bekannten Interesse als geheimes m i t w i r k t , wenn nicht sogar das Facit bestimmt. Gegenüber den soziologischen Aprioritäten und Formen ist das ja gerade der „Stoff", der m i t H i l f e der so oder so weit entfalteten Prädikabilien begrifflich bewältigt werden soll. Er heischt ja Beachtung. Dieser „Stoff" „stammt" aber — um uns Kantisch auszudrücken — aus der Erfahrung, er „beginnt" nicht nur m i t ihr, „hebt" nicht nur m i t ihr an. H i e r ist die Genesis, die empirische Feststellung des aus ihrer Herkunft verstandenen Befunds systemlogisch am Platz. Als Ergebnisse haben w i r also Erfahrenes, die faktischen Interessen, ihrer äußeren Form, etwa reiner Theorie entkleidet, i n der Terminologie der Richtigkeitslehre als autonome Richtschnuren empirischer, individueller oder soziologischer Auktoren, deren es ja bedarf, wenn sie autonome Anmaßung eines Richtigen und nicht Logonomes sein sollen. Dieses Material, das dann unter teleologischem Gesichtspunkt je nach den heteronomen Ansprüchen aus der Machtsituation, den Gesetzen, eine rechtliche also heterologe Verarbeitung i m positiven Recht verlangt, ist i m Wesentlichen der Niederschlag anthropologischer Eigenschaften i n der Form von Strebungen, Tendenzen, Wünschen, Ansichten usw. Wobei i m vorwissenschaftlichen Urteil verallgemeinernd meist von dem Spezifischen, Einzigen der Situation abgesehen wird. Das allgemein Verständliche am Interesse, damit durchaus noch nicht das Berechtigte. H i e r tauchen natürlich auch die realen Forderungen nach Gerechtigkeit oder Sicherheit unter verschiedenen Aspekten auf, deren Erfüllungschance man an H a n d der Doxa der Begehrenden und der
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Situation, die sie aktualisierte, feststellen kann. Ein unter Umständen erheblicher, ja ausschlaggebender Faktor der „Lage", worin der Jurist als Funktionär einmal stehen wird. I n dieser Zone der Erfahrungsimmanenz gibt es nun, unter jeweils spezifischer Perspektive: in der Richtung der Interessenbefriedigung, der Erfüllung von Wünschen, Wollungen, Bestrebungen, Tendenzen der verschiedensten A r t wieder „Fortschritt", „Rückschritt" und „Stillstand". H i e r haben w i r ja bei theoretischer Einstellung mit Ein- bzw. Ausklammerung von Interessenelementen, „Mengen"bildend abgegrenzte Welten, Mikrokosmen, grade zu empirisch wissenschaftlicher Arbeit besonders geeignet. M a n denke an den jeweiligen homo etwa oeconomicus. Freilich auch an die Folgen jener begrifflichen Mengenbildung für die Prognosen, weil man eben Momente aus der Situation isoliert hatte 5 . Aber sind w i r nun nicht m i t dem Hinweis auf die verschiedenen sozusagen gestückelten Interessensphären einfach in die Interessenjurisprudenz geraten? Engisch hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß man bei einem sich Zurückziehen auf eine „Methodenlehre für die praktische Rechtswissenschaft", so wie es Heck wollte, die rechtsphilosophischen Voraussetzungen doch nicht los wird. Bei dem „bewegten, drängenden, und fordernden Leben" sind w i r zwar angelangt, aber nur um des terminus ad quem Willens, aus dessen Sicht sich in der Tat ein zweiter Wissenschaftsbereich neben dem Apriorisch-soziologischen eröffnet. Ein concursus duarum causarum lucrativarum für die Rechtsdogmatik! Plato gibt in seinem siebenten Brief 6 eine berühmte Erläuterung der Ideenlehre. Es heißt dort: „Es gibt für jedes Seiende dreierlei, wodurch die Erkenntnis zustande kommen muß, das vierte aber ist sie selbst." Machen w i r es hier nicht ebenso, wie Plato mit „dem vierten"? Was natürlich unzulässig wäre. Das tun w i r nicht. Sondern beim Suchen nach den Bereichen, wo es wie bei jeder Wissenschaft einen immanenten Fortschritt mit seinen Momenten des Überwindens und Hineinhebens, Bewahrens in besseren Theorien gibt, ergaben sich, als Momente an der begrifflich wenigstens abbreviaturmäßig zu bewältigenden Situation, die „Interessen". Sie sind nichts anderes als ein Name für jeweils als höchste unterstellte autonome Richtschnuren. Die Bedürfnisse, die dem Menschen bewußt werden, sind nicht so mannigfaltig, als daß sie sich nicht unter großen Gesichtspunkten 5 Hiergegen richten sich heute in der Wirtschaftswissenschaft besonders die Tendenzen von Schmölders. 6 Piatons Staatsschriften, Ausgabe Wilhelm Andreae, Briefe p. 342.
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„bündeln" ließen. Wenn freilich auch eine Riesenarbeit dazu gehörte, die Spezialisierungen herauszustellen, denen dann die Gesetze Genüge tun sollten. U m den wissenschaftlichen Fortschritt klar angeben zu können, bedarf es freilich einer genauen Absteckung des Bereichs. Zum Beispiel: M a n kann fragen, in wieweit Recht und Rechtswissenschaft „der Ehe" immer besser gerecht geworden sei. Dazu gehört, daß man zuvor genau präzisiert, was unter „Ehe" verstanden werden soll: die Einehe als die „gesetzmäßige Verbindung von Mann und Frau zu gegenseitiger Lebensgemeinschaft" etwa mit manus mariti auf Grund von Manzipation oder nach einjähriger Ersitzung? M a n w i r d an Stelle dieser i n d u k t i v aus dem älteren römischen Recht gewonnenen Bestimmung eine tiefere suchen, woraus sich dann die römische und andere Formen als Ehen verstehen ließen. Schon diese Erweiterung des Blicks bekundet den „Fortschritt" in der rechtsbegrifflichen Bewältigung eines Gebiets spezieller Interessen. Grade das Beispiel von der Ehe zeigt, daß man bei der Aufrollung der Interessenbereiche auch von den verschiedenartigen Tabus ausgehen könnte, die es überall und immer gegeben hat, i m sexuellen Bereich als Inzesttabu besonders vordringlich. Daß es w o h l überall, wo Interessen behauptet werden, tabuähnliche Bereiche sind, die man für sich absteckt und deren Wahrung man fordert. Das „tägliche Leben" lehrt dann freilich, daß es Interessen nicht wie mit Mauern eingefriedigte Gärten gibt, sondern daß sie einander mannigfach überschneiden. Aber um „Interessenkonflikte" festzustellen, muß man ja vorher Interessen isoliert ermittelt haben. Systeme von nach der „ M i t t e l und Zweckpyramide" aufgebauten Ordnungswelten sui generis autonomer Richtschnuren. Wobei nichts als autolog vorausgesetzt werden darf, denn dann könnte es keine Interessenkonflikte geben. Autologes ist ja begriffsnotwendig maßgeblich. Daneben kann es nichts anderes sein. Ein Interessenkonflikt beschreibt nur einen Widerstreit i n der Doxa, vom A u k t o r aus als Faktum einer Richtschnur begreiflich. Nicht eine einfache soziologische Unterstellung unter eine geltungsmäßig stärkere Richtschnur zwecks „Behandlung" bietet hier die Lösung des Konflikts — sie schlägt ihn höchstens tot — sondern eine begriffliche Unterstellung der Konfliktsproblematik als solche von Anmaßungen, autonomer oder heteronomer unter das Logonome, unangemaßte Richtschnurprinzip, dessen Beachtung dann zur Lösung des Konflikts dadurch führt, daß die Auflage nur einer der „angebotenen" faktischen Richtschnuren als wirklich maßgeblich erkannt wird, der Anspruchscharakter der anderen dagegen als „nichtig". Unser Ergebnis,
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daß auch, abgesehen von der rein begrifflichen Arbeit: der Herausarbeitung der apriorischen Subtilitäten die Ergebnisse der Jurisprudenz, soweit sie der immer besseren Feststellung von Interessensphären, der Vermeidung von Konflikten in juristischen Formen dienen, bei Regimewechsel und Neufassung der Gesetze nicht Makulatur werden, läßt nun einen weiteren Schluß auf das Gesamtunternehmen „dogmatische Rechtswissenschaft" zu. Wie begrenzt im Einzelnen die Interessengebiete sind, darf freilich nicht vergessen werden. W i r brauchen uns nur
einen westlichen Großindustriellen
in
Gedankenaustausch
mit
einem Starez Sossima aus einem Kloster der Mönchsrepublik Athos vorzustellen! Aber die empirische Forschungsweise, darin bestehend, daß historisch wechselndes Material, das grade „herauskommt", an den bis dahin erkannten soziologischen Aprioritäten kategorial „verankert" wird, zeigt ja selbst nicht nur historische zeitbedingte Züge, so wie sie Gegenstand einer Wissenssoziologie sind, sondern
überzeitlich
B e d e u t s a m e s , wovon der Spätere Kenntnis nehmen muß, wenn er lernen w i l l . Also nicht nur in der Erforschung ments verschiedenster faltiger keit,
Art,
und komplizierter
werdenden
ihnen gerecht zu werden,
gibt
„Interessen"
Fortschritt,
sondern — die Jurisprudenz immer reicherer
als Ganze gesehen — in der
und sonstiger
Unterlage
Gewaltkonstellation
Arbeit!
und der Möglich-
Einsichten darüber, wie an Hand
stimmungen y Kundgaben der jeweiligen
Ele-
mannig-
es einen echt wissenschaftlichen
Gewinnung
besser erfaßt wird,
des apriorischen
oder der bei näherer Sicht immer
Momente
läge das bleibend wertvolle
der Be-
der soziologischen
das Belangvolle
immer
der rechtsdogmatischen
Also i m Dienste einer richtigen Gestaltung der Situation mit
H i l f e der Aufstellung teleologischer Begriffe der unübersehbaren Fülle von, w i r sagen jetzt ruhig „Interessen" vom Logonomen aus Herr zu werden, der Interessen, wie sie ja schließlich pragmatisch gesehen, jeweils ein Situation charakterisieren und sie je nach dem Modus ihrer Stärke bewegen, entwickeln. N a i v und populär ausgedrückt: Interessen „oben" und Interessen „unten". Ein Facit, das freilich i n der Terminologie der Richtigkeitslehre komplizierter klingt. Die Rechtdogmatik ermittelt begrifflich die maßgebliche Resultante, die aus der unüberschaubaren Fülle von Heteronomem und Autonomem einen heterologen Ausdruck der auf einem Raumteil vorhandenen Gewaltsituation darstellt, und zwar i n einer Form, die den jeweiligen Organen der höchsten Gewaltsituation das, was sie zu ihrer sinnvollen Funktion nötig haben,
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bietet. Ja, w i r können jetzt den Ausspruch wagen, daß die dogmatische Jurisprudenz i m Ganzen gesehen, um so mehr Wissenschaft ist, ja mehr sie i n richtigen Urteilen Einsichten darüber vorlegt, wie man den jeweils wechselnden konkreten Augenblicksbedürfnissen am besten dienen könnte, so daß ihre Ergebnisse geschichtsphilosophisch gesehen, als sinnvolles M i t t e l erscheinen. Z u dem faktischen Zustand der Dogmatischen Rechtswissenschaft wäre jetzt folgendes zu sagen: Richtig oder unrichtig am Werk bleibt sie ein Unternehmen, das die Wissenssoziologie interessiert. Unter deren Gesichtspunkt aber ist zu bedenken, w e r sich darin ausdrückt und f ü r w e n das geschieht. Die Rechtsdogmatik ist ein Unternehmen der Juristen und für Juristen. V o n Menschen einer bestimmten Berufsgruppe also, deren Bewußtseinslage und gesamtes Benehmen jeweils von Zeit- und sonstigen Umständen abhängen. Die Systematisierung und deren logisches Ziel: die Axiomatisierung sowie die prägnanteste Fassung i n einer Kunstsprache finden ihre Grenze i n der Aufgabe der Rechtswissenschaft, Organe zu erziehen. Dazu scheint nun die Systematisierung deshalb am besten geeignet, weil sie am ökonomischsten ist, Denkschritte, gedankliche Umwege erspart. Weil diese Neigung schon jeder Theorienbildung innewohnt, konnte ja der Empirismus i n der Nachfolge von Mach, Avenarius, Kirchhoff ζ. B., bei Hans Cornelius und v. Aster behaupten, daß eine bessere Theorie eine schlechtere dadurch ersetze, daß sie die Phänomene in kürzerer, prägnanterer Weise in Gleichungen darstelle, ihre gesetzmäßigen Zusammenhänge umfassender beschreibe. Geht sie aber über eine Fachsprache, Ausdrucksweise hinaus, die noch Zugang zu der natürlichen Sprache hat, wie es die der Gesetze zu sein prätendiert, so ist die Verständigung gefährdet, die Aufnahme, damit die soziologische Funktion. Anders ausgedrückt: es kann sein, daß sich ein zunächst als zweckmäßig erscheinendes M i t t e l wie die Systematisierung aus Gründen der Ökonomie verselbständigt, daß sich das M i t t e l zum Zwecke macht, seiner eigenen Idee, hier einer wissenslogischen nachläuft. Dann t r i t t eine Krise ein: der Zweckwandel hat eine Entfremdung gegenüber dem ursprünglich sinnvollen bewirkt. So gesehen, ist die Axiomatisierung, zunächst noch in ihrem ursprünglichen Sinne, entsprechend der transzendentalen Methode verstanden, zwar ein philosophisches Ziel für die Arbeit der Rechtsphilosophie, aber nicht ein solches für die Rechtsdogmatik als Ancilla der Praxis, so wenig sie es
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für die Theologie als eine Ancilla des religiösen Lebens wäre. Wie die Rechtsphilosophie verfahren soll, darf nicht auch Ideal der juristischen Dogmatik sein. Oder grade wenn sie ihre Funktion erfüllen w i l l , muß sie eine richtige Balance zwischen der rein wissenschaftlichen, ja akademischen Grundlagenforschung i m apriorisch-soziologischen, und der Wendigkeit in der Aufnahme von Interessen, situationsbedingten M o menten, Verständnismöglichkeiten, Aufnahmebereitschaften, geistigen „Horizonten" erstreben. Die „juristische L o g i k " als eine solche eines Organs ist eine andere als die, welche der Rechtsphilosoph feststellt. Das meint wohl auch Engisch 7 , wenn er für den Juristen eine Logik verlangt, „die den Typen der juristischen Begründungszusammenhänge gerecht" werde. Es sind also zu trennen die übliche formale Logik von der Problematik sowohl des Materials als auch der Prämissen, sodann der gewöhnten Argumentationsweise, schließlich der „Erkenntnis" als eines als evident Erleben von Richtigem samt den die Richtigkeit garantierenden logischen Voraussetzungen, dabei noch in H i n sicht auf eine durch Benennung vorweggenommene Bedeutungsassoziation. Die Axiomatik braucht „Stoff", d. h. bereits begrifflich nach transzendentaler Methode, also unter axiomatischem Aspekt gesichtetes Material, wenn sie sinnvoll i n Angriff genommen werden soll. Es ist ein bekannter Einwand anerkannter Axiomatiker, wenn ihnen Material vorgelegt wird, daß „es noch nicht zur Axiomatisierung reif" sei. N u n , es gibt Stoff, der das unmöglich werden kann. W i r dürfen vielleicht sagen: da, wo es unendlich viel Prämissen geben müßte! Denn auf die Prämissen kommt es ja zunächst an. Bei der dogmatischen Rechtswissenschaft — nicht bei der Rechtsphilosophie, die sich mit jener beschäftig — ist das nun tatsächlich der Fall. Diese Tatsache besteht natürlich nicht für den apriorisch-soziologischen Bereich, der sich, wie w i r anderswo gezeigt haben, wirklich aus einem M i n i m u m von Begriffen entfalten läßt, aus der „Richtigkeitslehre" erwächst. Aber da die Rechtsdogmatik ja den Situationsbegriff zu verarbeiten hat, dazu die wechselnde A u f fassungsmöglichkeit der Gesetze usw., der Fakten der „soziologischen Unterlage" treten nun die bekannten, ins Unendliche führenden Reihen, wie bei jedem empirischen Stoff hinzu. W i r hätten es also mit unendlich viel Prämissen zu tun, von denen dazu noch jede wieder ihrer Legitimation bedürfte. Eine wahre probatio diabolica. Also selbst wenn 7
Studium generale, Jahrg. 12 (1959), Aufgabe einer Logik und Methodik des juristischen Denkens, S. 81 f. 1
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und Rechtswissenschaft
Gesetzesinhalt und Situation stabil wären, ließe sich wegen der funktionellen Zusammenhänge i m Erfahrungsbereich das Dogmatische i m Sinne der Heterologen nicht axiomatisieren. N u r wenn man aus dem Gedankenbereich aussondert und sich dann Ordnungsregeln setzt, kann es spezielle Axiomatisierung geben. So aber bleibt eine nie zu bewältitigende auf einen terminus ad quem hin zu deutende Fülle. W i r scheinen uns hier m i t Engisch in Ubereinstimmung zu befinden 8 . Dagegen stünde der Axiomatisierung nicht i m Wege, daß sich die „Lebensverhältnisse" ändern, worauf sich die Gesetze als „soziologischen Gegenstand" beziehen. H i e r lassen sich „ T y p e n " bilden, „Möglichkeiten" erfassen. Die „Offenheit" hier, in die Zukunft hinein, beim soziologischen Gegenstand hindert die Systematisierung ebensowenig wie die Tatsache in der Geometrie, daß immer wieder neue Figuren ausgedacht werden können, wenn man ζ. B. die Zahlen einführt. Es ist also die Offenheit am Ausgangspunkt, i m terminus a quo, die verhindert, daß man klar Erfaßtes und Festgestelltes nun streng entfalten kann. — I m übrigen gehören natürlich auch die Auffassungen über sich selbst jeweilig zur Situation. Die betrachteten „Ismen" als soziologische Fakten von wissenssoziologischer Bedeutung! Die „herrschende Lehre" als Dogma und daher die wahre in der Rolle der Irrlehre. Es gibt für jede Wissenschaft als Faktum die gleiche Problematik wie bei einer K o n fession: Gläubige, Schismatiker, Häretiker usw. Gerade für die Entwicklung der Rechtswissenschaft spielt die „Einheit des Bewußtseins" eine Rolle, da die Einheitlichkeit des juristischen Verhaltens der Rechtsprechung dem unleugbaren, faktischen Streben nach Sicherheit entgegenzukommen scheint. „Juristische L o g i k " ernst genommen, bedeutete eine völlige Bewältigung des Stoffs von Prämissen aus, soweit sie der Rechtsfindung dient 9 . Es werden hier die bekannten Schlußformen: argumenta a simile, e contrario, a majore ad minus usw. bewußt angewandt. Es handelt sich dabei um keine eigentümliche Logik, etwa nur für den Juristen, wie man sie seinerzeit für Marsbewohner möglich hielt und was gewiß auch manchem Laien an H a n d ihn betreffender Entscheidungsbegründungen einleuchten könnte. Es handelt sich vielmehr um Anwendung eines Teils der bekannten Logik, deren gesamten Bestand man nicht 8
Engisch, a.a.O., Ernst Beling, Methodik der Gesetzgebung, 1922. Ulrich Klug: Juristische Logik, 2. Aufl. 1950, dazu Carl Engisch jetzt, Einf. i. d. jurist. Denken, 1950. 9
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braucht 10 . Gewiß fällt ζ. B. die Beurteilung eines widerspruchsvollen Gerichtsurteils darunter, Verwendung von Urteilssätzen über Tatsachen, die einander widersprechen und dergleichen. Logische Fehler machen auch die Rechtsfindung, ihrem Begründungszusammenhang nach unrichtig. M a n hat dabei m i t Recht erkannt, daß auch die sog. Freirechtsschule 11 und die sog. Interessenjurisprudenz, da sie ja Thesen für eine richtige Feststellung des Rechts behaupten, solche Prämissen implizieren, die nur den gewöhnlichen positivistischen Kurzschluß vom Gesetzesinhalt als Dezisionistischem auf das Recht als Normatives oder von einer durch höchste Gewalt gestützten Gewohnheit auf entsprechend Normatives vermeiden. Die Prämissen bleiben aber auch bei diesen beiden in der Zone positiver Richtschnuren; sie transzendieren nicht aus dem Hetero- oder Autonomen ins Logonome, um das Heterologe zu finden. Z u m Beispiel bei dem Hinweis, daß man bei einer Renitenz des Wortlauts von dem ausgehen solle, was man als Bestimmung durch den Gesetzgeber zur Zeit der Entscheidung vermuten könne. Eventuell nach „freiem Recht", wobei man an geltende Werturteile, Uberzeugungen und dergleichen denkt. Oder auch nach W i l l k ü r , wobei aber auch diese nicht einfach als „stat pro ratione voluntas", als Schuß aus der Kanone verstanden werden soll. Bei jener vermutbaren Stellungnahme ζ. B. fügt man zwar Gedanken über richtiges gesetzgeberisches Verhalten i m Sinne der von uns betonten „Geschichtsentwicklung" ein, bleibt aber doch i m Bannkreis des gesetzgeberischen H o rizonts, wenn man nichts Logonomes mitwirken läßt. Diese Werturteile usw. wären ohne jenes Logonome gleichfalls bloß faktische Richtschnuren, Anmaßungen ohne höhere Legitimation, wären „Autonomes", wie w i r wissen, selbst bei noch so echter Hingabe, Intentio. Alles untersteht, logisch gesehen, ja dem Prinzip des Richtigen. M a n weiß, daß sich selbst die so willkürlich wirkenden Zahlen bei Verjährungs-, Ersitzungs-, Versäumnisfristen usw. ebenso sehr vom Richtigen aus verbessern ließen wie eine willkürlich wirkende Straßen- und Fahrordnung mit „rechts" oder „ l i n k s " . Anstatt vierzehn Jahren bei gewissen Sittlichkeitsdelikten ließe sich schon statt der darin fixierten Vermutung die „Reife" selbst setzen, bei der Bevorzugung etwa von Redits gewohn10
Engisch hat noch als besondere logische Aufgaben genannt: Begriffseinteilungen für systemat. Zwecke, Aufgabe einer Logik u. Methodik des jur. Denkens, S. 81. Syntax und Semantik kämen als ergänzende Gebiete auch noch in Frage, Wieland, phil. Rundschau IV, S. 204 ff. 11
19
H . U. Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Fuchs, Rumpf, Stampe, Ehrlich.
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heitsmäßige Neigung auf Grund von Rechtshändigkeit usw. Freilich wissen w i r , daß die Absicht, das Richtige immer genauer bestimmen zu wollen, dazu führen kann, daß es bei Handlungen zum ennemi du bien wird. N u r für den Logos als „Weltauge", das nicht handelte, also nicht Entscheidungen fällen müßte, gälte diese Warnung nicht. So gibt es eben doch auch ein richtiges „Durchhauen". Bei der schon behandelten Interessenjurisprudenz w i r d bekanntlich verlangt, daß Interessen gegeneinander abgewogen würden 1 2 . Verschiedene Arten von Interessen melden sich da an: Stabilitätsinteresse, Fortbildungsinteresse, Kontinuitätsinteresse usw. Interessen sind aber stets in Sätzen darzustellen, die den Inhalt autonomer Richtschnuren formulieren, faktischer oder doch solcher, die i m Augenblick zwar noch nicht in Erscheinung getreten, noch nicht manifest, aber als wahrscheinlich unterstellt werden können. Sie entsprechen etwa der Behauptung, daß „das Leben, die Gesundheit usw. höchste Werte seien, allein oder jeweils in ihrem Bereich" usw. W i r dürfen unsere K r i t i k an dieser üblichen Verwendung des Wertbegriffs nicht wiederholen; es genügt an dieser Stelle, daß man die Prämissen sieht, die man eingeführt sehen möchte. Diese beiden H a u p t richtungen m i t ihren mehr oder weniger expliziten Prämissen wendeten sich bekanntlich gegen die sog. Begriffsjurisprudenz und stehen insofern in der Nachfolge Rudolf v. Iherings. Es handelte sich aber bei dieser um eine Besonderheit der Rechtsdogmatik, deren Unrichtigkeit immer wieder nur m i t logischen Gründen dargetan werden kann. Sie macht ja offenbar den Fehler N o r m als Prinzip ohne Prinzipiat aufzufassen, ignoriert also die Korrelation Richtschnur-Richtbares, damit auch den Sinn logisch-ontischer Formen in der Erfassung der Wirklichkeit und anderes mehr. Der spezifische Sinn der rechtsdogmatischen Begriffsbildung wurde somit verkannt. Deren Aufgabe nur darin bestehen kann, analog gewissen Behauptungen gesetzmäßiger Zusammenhänge, von Dingen oder Kräften i m naturwissenschaftlichen Bereich, auch in der Rechtswissenschaft, ökonomische Formulierungen zu gewinnen, woraus sich Schlüsse für die heterologe Auflage in „vorkommenden Fällen" als „rechtlich gesollt" (so wie es pragmatisch nötig ist) ziehen lassen. Die Begriffsjurisprudenz verfuhr falsch abstrakt, insofern sie die Aufgabe faktischer Einbeziehung der Belange möglicher Hinze, 12
Wir nennen Heck, M. Rümelin, Müller-Erzbach, Stoll. Wüstendörfer und dürfen auf die nähere Darstellung bei Carl Engisch: Jur. Denken, S. 212, Anm. 247, verweisen.
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und Kunze in ihrem Sinn als terminus ad quem, als Notwendigkeit, Wirkliches i n teleologischer Begriffsbildung zu antizipieren, zu leicht nahm. Es handelte sich damit bei der Bekämpfung der sog. Begriffsjurisprudenz um die Ablehnung einer bestimmten Verwertung, einer bestimmten Ausdeutung der Gesetze. D a m i t freilich auch, wie K l u g bemerkt, um K r i t i k an einem bestimmten T y p des Juristen selbst. Freilich w i r d es Juristentypen verschiedener A r t immer geben. Bedürfnisse also faktische Richtschnuren werden auch stets danach trachten, daß diese Typen nicht aussterben und nicht etwa zu solchen von Rechtsphilosophen werden, von denen es ja auch allerlei Typen gibt. Die „Logiktheorie", die die axiomatische Methode verwendet, kann nun nur die logische Bewältigung einer sozusagen endlichen Position erstreben. I m Rahmen der jeweils für das Recht belangvollen Gesamtsituation, deren teleologische Auffassung, wie beim religiösen Weltbegriff, ja die unendlichen Reihen begrifflicher Zusammenhänge apriorischer oder empirischer A r t gar nicht berührt. So w i r d dieser Logiker gewiß nicht irre gehen, denn er ist ein Meister i m Einklammern, Abstecken der Problematiken. W i r erwähnten schon, daß juristische Axiomatik mit bestimmtem Calcul genetisch eines Materials i n Gedankensätzen bedarf, deren logische Beziehungsformen zueinander bereits weitgehend geklärt sind. Nach unserer Ausdrucksweise: die „transzendentale
Methode"
muß hier schon die Sinnzusammenhänge ans Licht gebracht haben. Diese Methode wendet nun, meist unbewußt, jede rechtsdogmatische Arbeit an. W i r brauchten nur das dabei geübte Verfahren ins Bewußtsein zu heben: das eigentlich wissenschaftliche in der Bemühung um die Grundbegriffe, den stetigen Aufbau der darauf gegründeten Möglichkeiten, kurz eine dem Wesen des Begriffes gerecht werdende Entfaltung, die sich sonst nur noch von der Kategorie des Gegenstands als eines widerspruchsfreien abhängig weiß. Jedes Lehrbuch des Rechts bietet hierfür Beispiele von dem, was der Jurisprudenz einer Zeit gelingt, wenn sie systematisch intendiert ist und nicht nur Einfälle festhalten, raten, aus der H a n d i n den M u n d leben w i l l . Überall das Streben nach dem Besitz möglichst weniger dafür logisch gewichtigster Grundbegriffe, nach Ableitungen daraus, so daß nun die „ H y l e " , das noch nicht morphologisch durchgestaltete: noch vorrechtliche „Gegebene" des Gesetzes von hier aus rechtlich begriffen werden kann. So, daß es alle Möglichkeiten einschließt, die die Richtschnur teleologisch ausdrückt. Das Ganze so präzis, „ökonomisch", so daß das bekannte B i l d des Systems entsteht,
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das schon oft mathematisch interessierte als verwandt angezogen hat 1 3 . Die Axiome und Grundbegriffe ergeben so m i t H i l f e der Logik das „Feld", die spezifisch juristische Region. Einen Ubergang zu der Zeichensprache ermöglicht dabei die Fachsprache als Brücke von der natürlichen Sprache zur „reinen Systematik" mit willkürlichen Definitionen. W i r haben aber oben schon darauf hingewiesen, daß dabei die konkrete Aufgabe der Dogmatik, als solche nicht nur von Juristen, sondern auch stets für Juristen und wenn möglich auch für „gebildete" Laien, solche, denen sich überhaupt etwas klar machen läßt, was Bindungen wegen zu geschehen hat, daß diese konkrete Aufgabe aus der Funktion der Organe heraus verständliche Schranken setzt. Systematisches Ethos hat insofern seine Grenzen. Das bedingt der terminus ad quem der Dogmatik hier bei uns wie in der religiösen Dogmatik, wo es schließlich auch um Maßgeblichkeit der Thesen, entwickelt aus „Offenbarungen" für Bewußtseinslagen geht. Beide Arten von N o r men sind daher auf Ausdrucksweisen hingewiesen, die schließlich einen Hinweis auf das ergeben müssen, was der naive Mensch in seiner Sprache und deren Bedeutungen erfassen kann. Ein Satz: „ A soll Β C m i t D t u n " wäre unbrauchbar, wenn sich etwa nicht daraus ermitteln ließe, daß der H i n z als A dem Kunz als Β die K u h als D „übergeben" also C solle. Isoliert gebildete Symbole dort und organisch erwachsene, immer auch bedeutungsreichere und daher logisch weniger scharfe Zeichen aus der natürlichen Sprache hier, stets mannigfach nie ganz aufhellbaren pragmatischen Zwecken dienend, stünden einander ohne Bezug gegenüber. Es gäbe keine Möglichkeit der „Abbildung" der einen Sphäre auf die andere, keine Transformation. Worauf es ja dem Gesetzgeber und seinen Organen ankommen muß. Es wäre weniger als ein Spiel, das dodi immerhin verstanden, applaudiert werden w i l l ! M a n hat also niemals zu übersehen, daß es gerade die Rechtsdogmatik i m Letzten stets mit der „Wirklichkeit" zu tun hat, daß sie für deren sinnvolle Gestaltung nur ein M i t t e l bedeutet, kein Selbstzweck ist. Daß diese Wirklichkeit rein begrifflich zu erfassen, aus vielerlei Gründen ein zu „weites Feld" ist. Was aber nicht hindern darf, daß man zur Bewältigung der Aufgabe, der Einsicht i n die vielerlei aufgewiesenen M o 13
Die Juristen waren bekanntlich oft gute Mathematiker! Aber man sagt, daß diese damit nicht notwendig auch gute Rechner sein müßten. Nicht nur der Verfasser dürfte sich lächelnd an vergebliche Bemühungen seiner Lehrer erinnern, die reditlichen Verteilungen von Erbschaften nach Parentelen aufgehen zu lassen.
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mente an Aprioritäten und Erfahrungsstoff, zur Erfassung der logischen und empirischen Möglichkeiten der Schichten und ihres Zusammenhangs als „Recht" so wissenschaftlich verfährt, wie es sinnvoll ist. Sätze wie der: „Das Rechtsverhältnis ist das rechtlich geregelte Lebensverhältnis" dürfen nicht einfach da stehen, sondern müssen zeigen, daß es sich bei dem Begriff „Lebensverhältnis" um einen Hinweis auf eine soziologische Apriorität handelt. D a m i t ist für den Systematiker der Zugang zu der entscheidend grundlegenden Sphäre spezifischer Aprioritäten gewiesen, zu deren Klärung, wie w i r wissen, gerade die juristische Systematik das meiste beigetragen hat. Freilich ohne zu ahnen, was für Funde sie dabei machte, während der Soziologe i m Bann der Jurisprudenz diese Schicht noch immer für eine solche des Rechts hält, als gäbe es nicht auch die Zahlen ohne die tausend Sektflaschen i m Kaufhaus Soundso. So ist es möglich, vom Wortlaut eines vorgelegten, als Rechtssatz präsentierten Urteils aus „analytisch", also das Systematische damit anschneidend, zu ermitteln, was an Voraussetzungen und entsprechenden Begriffsschichten es impliziert. Was an solchen logischontisch, soziologisch, direktiv (normativ oder permittiv) und dabei apriorisch-rational und empirisch ist. Das ist l o g i s c h e Analyse des Inhalts, eines Behauptungssatzes, der als Stück Empirie an uns herangetragen wird. Solche Analyse aber führt, besonders wenn sie an einer Anzahl besonders heterogen zueinander erscheinender Sätze vorgenommen wird, schnell zu dem Orientierungsstoff für die systemlogische Bewältigung, die nun nicht mehr analytisch, sondern synthetisch, von hypothetisch i n Ansatz gebrachten Prinzipien aus geschieht. So etwas wie „artfremde Mathematik" wäre es auch nicht, wenn man die zutage tretenden Begriffsschichten zur Unterscheidung ihres verschiedenen Charakters m i t besonderen Zeichen versähe und das in jede hineingehörige weitgehend in Form von Calculen brächte. Aber die Entwicklung der Situation in einer selbst teleologisch verstandenen und insofern schon eingeschränkten „ W e l t " zum Richtigen hin, nicht „fortschrittlich" aber logonom aufgefaßt, als unendliche Menge mit ihren jeweils nur w i l l kürlich abzusteckenden Untermengen von unendlich vielen oder endlichen Elementen, gebildet durch auto- und heteronome Richtschnuren von Einzelwesen und Gruppen, zeigt die Unmöglichkeit, bei der Lösung der Aufgabe gedanklich anders als in bewußter Absteckung vorzugehen. Nach Hegelscher Ausdrucksweise „verständig", trennend, an sich setzend, doch damit noch nicht „vernünftig". Aber der menschlidie Geist ist eben kein „absoluter", kein Logos. Dies ist aber auch die
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Absicht jener axiomatischen Logik, worin man dann Meister sein kann. Zur Ergänzung noch: M a n hat schon für isolierte Bereiche, für die exakten, erkannt, daß unter sehr „weiträumigen" Voraussetzungen der Theoretisierungstechnik" gewisse unüberwindliche Grenzen gezogen sind 1 4 . Zusammengefaßt, stellen w i r fest: 1. Wegen des Situationsbegriffs, der ja teleologisch „die W e l t " bedeutet, m i t der ihm wesenseigenen „Kontingenz" seiner Momente, der jeweils nur beschränkter, ja bewußt abgesteckter Erfahrung zugänglichen funktionellen Zusammenhänge (unendliche Regresse) läßt sich das Recht als solches nicht kalkulieren. Es läßt sich nicht aus klar aufgewiesenen Prämissen auf Rechtliches schließen. 2. Dagegen läßt sich bei bewußter Absteckung, insofern eine positivistische Position beziehend, von aus der unübersehbaren Fülle des gedanklich nicht logisch erfaßbaren, also pragmatisch gleichsam mit einer Pinzette herausgepicktem und als Prämissen Statuiertem (was nicht nur Gesetze zu sein brauchen) die Rechtsfindung kalkülisieren. „ A p o l l o Sauroktonos, immer m i t dem spitzen Griffelchen in der H a n d aufpassend, eine Eidechse zu spießen 15 ." Ob das der Fall sein soll, ist zuvor i n einer auf die richtige Erfassung der Gesamtsituation bedachten Weise auszumachen, wobei also die Bewußtseinslage nicht nur der jeweiligen Juristen, der Erfolg der dogmatischen Arbeit usw. mit in jene hineingehört. Eine Weise, wofür aber kein K a l k ü l möglich ist. 3. Dagegen läßt sich die Rechtsphilosophie dann kalkülisieren, wenn sie zu einer gewissen Begriffsreihe gekommen ist. Dies ist für unabsehbar lange Zeit nicht anzunehmen. Nicht wie zur Zeit des N a t u r rechts, wo man einfach drauf los deduzierte und so wahre „Summen" vorlegte, hat die Entdeckung von Begriffsschichten die jeweils eigentümliche Unendlichkeitsprobleme enthalten, hat vor allem der Situationsbegriff der „praktischen Philosophie", wozu ja die Rechtsphilosophie gehört, ganz neue Aufgaben gestellt. Sowohl Fortschritts- wie Tugenddenken, und das diesem analoge Wertdenken haben als psychologische Mittel, um Bewußtsein zu beeinflussen, ihre spezifische Richtigkeit situationsbedingt, nur an „tieferer" Stelle, die nicht mehr in die Philo14
Scholz, Was ist Philosophie, S. 31 (Fregestudien), unter Hinweis auf Gödel: Monatshefte f. Mathemat. u. Physik 38, 1930; Erkenntnis 2, 1931; Menger, Die neue Logik in Krisis u. Neuaufbau der exacten Wissenschaften, 1933. 15
Goethe, Maximen u. Reflexionen (Krömer), 1351.
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sophie, sondern zur Sozialpsychologie, Individualpsychologie, Pädagogik gehört. Der Situationsbegriff muß aber, um teleologisch so verwendet werden zu können, wie es die Philosophie fordert, durch eine Situationsphilosophie geklärt und entwickelt werden, wie w i r sie zur Zeit noch nicht haben. V o n den Theologien sehen w i r dabei ab. Vorher kann man nur darauf deuten und sagen: H i e r müßten jetzt die Ergebnisse der Situationsphilosophie einbezogen werden, sonst sind keine Schlüsse möglich auf das, was hic et nunc, wenn auch i n allgemeinster Fassung als aktuell und damit sinnvolle Aufgabe, Richtigkeit i m Praktischen erfaßt werden soll. Freilich: Haben w i r dann einmal eine solche Situationsphilosophie, so w i r d allerdings ein radikaler Umbau der praktisch-philosophischen Systematik erfolgen müssen. Denn es handelt sich ja überall darum, das situationsgemäß Richtige zu finden. N u n w i r d man i n der praktischen Philosophie nicht mehr m i t den Fingern zählen, sondern alle Erfahrungen berücksichtigen müssen, die die Wissenschaften „ v o n den geordneten Gegenständen" (Itelson) als M i t t e l zur Verfügung stellen. So w i r d das „Mathematische" i m weitesten Sinne für die Rechtsphilosophie fruchtbar werden müssen. Der Jurist, der den Vorgang beobachtete, würde aber dann feststellen können, daß auf seinem Gebiet, dem der positiven Systematik, analog der theologischen, schon manches von jenen Wesenheiten nicht nur verwendet wurde, sondern sogar erkannt. Schon Rothacker hat in seiner Abhandlung „Über die dogmatische Denkform i n den Geisteswissenschaften" 16 hier auf von ihm freilich anders gemeinte „wechselseitige Erhellungen" hingewiesen. Aber wo derartig Dogmatisches ist, ist stets noch mehr konstituierend.
16
Akad. Abh., S. 18, 24.
§ 17 Die allgemeine soziologische Problematik der dogmatischen Rechtswissenschaft Die angelsächsische Jurisprudenz W i r betrachten hier Probleme, die gewöhnlich in anderer Hinsicht erörtert werden; ohne daß w i r sie damit ins Soziologische verweisen wollen, müssen sie doch von dort aus beleuchtet werden. D a haben w i r zunächst unser soziologisches Koordinatensystem. Seine Struktur von der Rechtsdogmatik herausgearbeitet, dem Wesen nach jedoch erst von Philosophen entdeckt. Dann sich auf jenen Aprioritäten gründend die Fakten der empirischen Soziologie. I n der Kausalkette die „Rechtsordnung" als aufweisbaren Fund der jeweils tätigen dogmatischen Rechtswissenschaft (also nicht als ihren Gegenstand, als Aufgabe), sodann als Faktum die empirisch soziologischen Tatsachen je nach dem Grad soziologischer Geltung mitverursacht. Innerhalb dieser durch die soziologische Brille gesehenen Wirklichkeit steht nun der reale Mensch: der empirischen Anthropologie (und nicht der philosophischen!), m i t dem, was er als seine Belange empfindet, den auf deren Befriedigung gerichteten autonomen Richtschnuren (und nicht den Belangen i m Sinne des ihn wirklich Angehenden und dem sie erfüllenden Autologen!). Der Mensch, vom Recht aus gesehen, stets in irgendeiner Beziehung zu ihm: als Objekt des Erfassens oder als Subjekt, dem man das Erfassen anvertraut: als Recht findendes und Recht verwirklichendes Organ. Der so oder so zum Recht stehende wirkliche Mensch fühlt sich heronom und ist heterolog mit Rechtspflichten „belegt": Jenes, sieht man ihn empirisch soziologisch, durch das, was a 1 s Recht dogmatisch ermittelt ist und nun realiter „ w i r k t " . Dieses Heterologe i m Sinne philosophischer oder ethischer Geltung, wobei es sich nicht um angebliches Recht, Rechtsdoxa, Rechtsprätention handelt, sondern um das — auf Grund des bekannten komplizierten Prozesses — wirklich Rechtsverbindliche, die Rechtsnorm in allen Beziehungen, die von ihr ausstrahlen. H i e r fehlt nun, wie w i r wissen, die Philosophie, die Situationsphilosophie, um eine wenigstens der Idee nach stetige Ableitung zu ermöglichen, welche schließlich die Folgerung zuließe: daß der H i n z hic et nunc etwas Bestimmtes rechtlich, d. h. dann auch wirklich, solle.
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So ein aus Systemgründen nötiges missing l i n k braucht die Rechtssoziologie als Wissenschaft von Fakten nicht, um den Weg von der vorgelegten Rechtsordnung über alle Organketten bis zum Galgen zu überblicken, woran schließlich der H i n z gehängt wird. Die faktische Dogmatik hat es ja immer verstanden, natürlich nur faktisch, der unendlichen Problematiken H e r r zu werden. Wie ein Tyrann seine Gesetze so hoch, unlesbar hoch anschlagen ließ, damit seine Untertanen in die Maschen gerieten, so ähnlich verfährt „das Leben", sieht man es pragmatisch m i t dem fertig werden, was es jeweils als seine Aufgaben und Nötigungen empfindet. V o m Logos aus gesehen, sind w i r insofern alle Sünder. Aber die wirkende Rechtsdogmatik ist gewiß nicht schlechter als ein von Philosophen fabriziertes ethisches System. Sie ist geschlossener als eine Sammlung von Tugenden, seien es selbst Parolen auf einem Ritterspiel; sie ist dazu immer Ergebnis gedanklicher H i n gabe. I n der Reihe jener faktischen Bemühungen haben w i r nun, wissenssoziologisch bemerkenswert, als Kennzeichen der verantwortungsvollen Besinnung auf den Sinn des eigenen dogmatischen Unternehmens die Untersuchungen über „Konkretisierung" und „rechtsfreien Raum". W i r können annehmen, daß es i m Zug gewisser Zeiten und ihres Bildungsideals lag, nach dem hinzustreben, sich bei dem zu orientieren, was man von gewissen Methoden der Psychologie und naturwissenschaftlicher Induktion her „abstrakt" nennt. „Prinzipiell" könnte es auch heißen, wobei man darunter freilich nur die Neigung zu dem verstehen dürfte, was Plato unter seinen Ideen und ihrer Funktion verstand. Einen „umgekehrten Piatonismus" 1 finden w i r nun schon seit langem, bewußt bei Nietzsche enantiodromatisch. I h m entspringt w o h l auch i m Juristischen die Neigung, das „Konkrete" als terminus ad quem herauszuarbeiten. Logisch gesehen liegt es, wie w i r wissen, nun so: Wenn w i r die Vorgänger- und Nachfolgerbeziehung von Begriffen und Urteilen ihrer logischen Dignität nach ins Auge fassen, und den Weg der „Spezifizierung" vom Prinzip aus ins Prinzipiat hinein nehmen, so geraten w i r i n einen unendlichen Prozeß. M a n kann z. B. ein Dreieck definieren, aber seine Wesensentfaltung ist ein unvollendbares Unternehmen. M a n kann sich immer wieder Voraussetzungen ausdenken, „neue einführen"; anschaulich: man kann irgendwo eine Gerade ziehen, die vorher nicht da war, und so weitere Bestimmungen treffen, w o r i n unser Dreieck mitbegriffen w i r d . Es entstehen auf diese A r t immer 1
Unsere Akademieabhandlung: Der umgedrehte Piatonismus, Anregungen Nietzsches zur Situationsphilosophie, 1950.
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neue Sätze, die immer weitere „Konkretisierung", „Spezifizierung" bedeuten. So gesehen, gibt es also „Konkretes schlechthin" oder „an sich" nicht. W i r wissen heute, daß es auch mit dem Begriff des Individuums ähnlich steht, und auch bei anderem der A r t . Carl Engisch hat diese Möglichkeiten, soweit sie ihren Niederschlag in Bestrebungen der Jurisprudenz finden, ganz i m Sinne unserer Deutung eines „umgekehrten Piatonismus" eingehend erörtert 2 . Philosophisch gesehen, geht es immer darum, ein Prinzip oder ein übergeordnetes Gesetz zu finden, das die Möglichkeit gibt, eine Stelle i n der logisch-ontischen Vorgänger-Nachfolgerbeziehung zu finden, wo man halt machen muß, wo das Weitergehen „verriegelt" w i r d 3 . Auch Einzelner und K o l l e k t i v lassen sich nicht „absolut" trennen, sondern nur „verstandesgemäß" i m Hegeischen Sinne „an sich" setzen. Was aber dessenungeachtet doch möglich ist, ist ein pragmatisches Vorgehen, wobei sich das Signal „ H a l t " zeigt. Das Pragmatische ist nun nichts anderes als eine Notwendigkeit, innerhalb der Wirklichkeit unter einer unvermeidlichen Perspektive — der Jurist würde sagen „angebrachtermaßen" — zu einem Ende zu kommen. Es gehört i n die ebenfalls noch nicht geschriebene „Philosophie der Realisierung", gewiß nicht an den Anfang eines philosophischen Systems. Aus diesen Perspektiven ergibt sich nun, daß es unzählige Pragmatismen geben muß. U n d natürlich hat auch die juristische Dogmatik ihre eben auf Grund ihrer Funktion. Unter dem Ziel des „Konkreten" bemüht man sich um einen terminus ad quem für die Entfaltung des Systems der Begriffe, an dem man dann mit gutem rechtsdogmatischen Gewissen halt machen kann. W o man dann als Wissenschafter seine Sache weitergeben kann an die „Praktiker", wie der Hungerpastor Hans Unwirsch seine „Waffen". D a nun sowohl der wissenschaftliche Jurist wie der juristische Praktiker trotz oft sehr verschiedenartiger Interessenrichtung eine homogene Bewußtseinslage haben, i n der A r t , daß Hinweise zur Subsumption verstanden werden — eine Bewußtseinslage, die nach Völkern, Berufen, Zeiten usw. durchaus nicht dieselbe ist — , w i r d es dabei bleiben, daß die Dogmatik Anregungen aus der Logik, Psychologie, Soziologie usw. aufgreift, um dadurch den erstrebten terminus ad quem als Schlußpunkt für die dog2
Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht u. Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953. 3
Burkamp, Logik § 175 und unsere Akademieabhandlung „Über die unechte Alternative zwischen dem Kollektiv und dem Einzelnen", 1953.
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matische Entfaltung zu finden. Das Ergebnis: Die Dogmatik ist in ihrem Bestreben, in der heutigen Situation (im Unterschied etwas zu der Zeit des Piatonismus, nicht des Neuplatonismus) einen solchen terminus zu finden, auf den rechten Weg. Auch, wenn sie dabei den Grundsatz befolgt: je prends le bien ou je le trouve, kann sie nur den enttäuschen, der annimmt, daß es „das Konkrete" schlechthin gäbe und die Dogmatik nicht unter einer bestimmten Aufgabe stünde, die ihr verbietet, wollüstig jeder begrifflichen Verführung nachzugeben. Das ist wohl auch der Sinn des von Carl Schmitt empfohlenen Begriffs des „konkreten Ordnungsdenkens". Driesch hat nicht ohne Grund seine Logik Ordnungslehre genannt. Jedes Denken und jedes Handeln „ordnet", jenes im gedanklichen Bereich der Psychologie, dieses i n der äußeren realen Welt, der Wirklichkeit. Beim Handeln bestimmt das eine das andere. Selbst wenn ich falsch denke, Kategorien verwechsle, ordne ich, eben vom Standpunkt der Logik aus falsch. Aber der Fehler charakterisiert ja eine Ordnungsweise, eben die mit dem Fehler behaftete. Daher besagt das W o r t „konkretes Ordnungsdenken" gar nichts, wenn man darunter nicht etwa das Verfahren eines Praktikers verstehen w i l l , der etwa im Handel zusieht, wie sich gewisse Gebräuche bilden und dabei m i t w i r k t . Eine verbindliche Ordnung bedeutete dasselbe wie Heterologes auf Grund normativer Anmaßungen, des Heteronomen, das bekanntlich der Begleiter jeder Gewohnheit ist. M a n denke an die „normative", freilich auch „permittive" Kraft des Faktischen i m Soziologischen. M a n kann aber jenes Wort i m Sinne der hier behandelten Neigung zum Konkreten dahin verstehen, daß eine Dogmatik, die so weit entfaltet ist, daß nun der Praktiker mit ihr das anfangen kann, was er fordert, wo also Rechtsdogmatiker und Praktiker richtig gegenseitig „eingepaßt" sind, Prinzipien für konkrete Ordnung wiese. Engisch ist den Beziehungen nachgegangen, die von der Bestimmung zu all dem Mannigfaltigen bestehen, was sich jenen juristischen Tendenzen anbot: „Anschauung", „Realität", „Ganzheit", „Spezifisches", „Einzelnes", „Individuelles", mannigfach „ T y p i sches". Alle diese Begriffe beschreiben, wenn sie widerspruchsvoll entwickelt sind, etwas, „was es gibt". Sie enthalten in sich, so gesehen, keinen Hinweis auf Logonomes, auf das, was belangvoll aus ihnen folge. Aber eine „verstehende Soziologie" dürfte ja auch den Juristen nicht vergessen. Schon der römische Jurist faßte ja das Zwölftafelgesetz, das Edikt, das Gutachten einer juristischen Prominenz i n einer bestimmten A r t auf. So ist es kein Widerspruch, wenn man von einer
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glücklichen Einführung eines Begriffs aus einer ganz anderen Begriffswelt, der Logik, Ontologie, ja Mathematik, Mengenlehre, Gruppentheorie i n die juristische Dogmatik spricht, der i m Verstehensbereich, auf dem Rechtsfeld, worauf Dogmatiker und Praktiker gemeinsam arbeiten, eine Lüche, und zwar diesen Beteiligten „plausibel", schließt, eines Begriffes, dessen ursprüngliche Bedeutung i n seinem eigenen Bereich dabei ganz verkannt wird. Die Gesetze führen zu Theorien, die Theorien zu Ansprüchen und Repliken, Klagen und Verteidigungen zu Entscheidungen, die ad rem und immer auch ad hominem gerechtfertigt werden, die Entscheidungen zu Exekutionen, zu Beachtung oder Mißachtung. Eine unabsehbare Reihe von Verhaltensweisen, individuell und untereinander verstehbar. Die Rechtsdogmatik beweist, daß sie sich nicht über dieser Reihe schwebend, sondern i n sie verwoben fühlt, wenn sie sich an Vorstellungen, wie der von „Konkretisierung" zu orientieren sucht. M a n sucht dabei etwas, was „wegweisend" für ihre dogmatische Arbeit sein könnte. Ebensowenig „selbstverständlich" wie das Bedürfnis nach „Konkretheit" ist das Bemühen um Klärung der Frage nach der »Geschlossenheit der Rechtsordnung". Der unmittelbare Anlaß dazu ist zwar klar: M a n fragte sich, wie der Gesetzgeber dazu komme, wie es i n positiven Rechten geschieht, dem entscheidenden Richter zuzumuten, daß er à tout prix aus dem Gesetz eine rechtliche Entscheidung heraushole. Ob er dam i t nicht „überfordert" werde, so daß er dabei mogeln müsse, oder wie ein Prestidigitateur verblüffen. Aber i m Hintergrund stecken doch w o h l auch Ideale und Bilder, die eine ganz andere Herkunft verraten, etwa ein geometrisches Bedürfnis, ein Streben nach geschlossenen Systemen, wie sie ad hoc die Naturwissenschaft bildet, die Tendenz des Juristen nach Bestimmtheit, nach Präzision noch zu überbieten u. dgl. Freilich wäre m i t der Bezeichnung „Rechtsordnung" i m Begriff O r d nung schon die Lösung vorweggenommen, wenn man sich dabei endlidie Ordnung wohlgeordneter Elemente vorstellte. Die Frage könnte nach verschiedenem gehen: nach Geschlossenheit des Rechts, nach Geschlossenheit des Feldes der Bestimmungen, der empirischen Quelle des Rechts also, der Geschlossenheit der soziologischen Figuren und ihrer Beziehungen, die das Recht bewältigen soll, der Geschlossenheit des Rechtstatsachenbereichs. Z u dem Thema können w i r auch hier wieder auf Untersuchungen Carl Engischs unter dem Titel: „der rechtsfreie Raum" verweisen, dessen Gegenstand das jener Geschlossenheit gegenüber Kon-
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verse: das offen gebliebene bedeutet 4 . Gewiß bedeutet der richterliche Ausspruch, daß ein Rechtsstreit nicht entschieden werden könne, da das Gesetz lückenhaft, widerspruchsvoll oder unklar sei, für die Parteien eine ganz bestimmte juristische Entscheidung, nämlich Klageabweisung bzw. Freisprechung 5 . Aber diese Entscheidung ergeht dann auf Grund eines angeblich lückenlosen Normengefüges, wonach diese H a l t u n g des Richters gemäß seiner Funktion, dem Prozeß- und Entscheidungswesen, Recht ist. Für diese besteht daher kein non liquet. Wenn es im code c i v i l heißt: „ E i n Richter, der sich weigert, einen Bescheid zu geben, unter dem Vorwand, daß das Gesetz den Fall unberührt lasse, daß es dunkel oder unzulänglich sei, kann auf Grund von Justizverweigerung belangt werden", so haben w i r jene oben erwähnte Auffassung über die Geschlossenheit des Feldes der Bestimmungen vor uns, die rationale Auffassung von der Konsumption, der Aufsaugung aller Möglichkeiten durch endliche Elemente und ihren Zusammenhang, wie sie i n den positiven Gesetzessammlungen vorliegen 6 . Als Satyrspiel w i r d damit eine Tendenz zu so etwas wie richterlicher Narrenfreiheit i m Recht sichtbar: „Lache Bajazzo!" Aber die Frage nach der Geschlossenheit der iîeo&taordnung w i r d dadurch doch nicht berührt, wenn man Recht nicht m i t Gesetz identifiziert. Wenn es dagegen i m Einleitungsartikel des Schweizer Civilgesetzbuchs heißt: daß der Richter i n solchen Fällen eine These anwenden solle, die er selbst als Gesetzgeber aufstellen würde, wobei er auf „bewährte" Lehre und Uberlieferung verwiesen w i r d 7 , so ist zwar eine nähere Anweisung für die Entscheidung gegeben, aber das Problem von der Geschlossenheit der iîec&isordnung bleibt auch hier offen. W i r müssen daher zu ganz Grundsätzlichem zurückkehren. Unsere Auffassung behauptet das Recht als belangvoll Angehendes, als Heterologes und so würdigen Gegenstand der Rechtsdogmatik. Was diese freilich jeweils, ein wissenssoziologisches Unternehmen, als ihr Erzeugnis vorlegt, prätendiert Recht zu sein, braucht es aber zunächst ebensowenig zu sein, wie eine Behauptung als Tatsache richtig. Geschlossenheit vom Gegenstand Recht behaupten, hieße, so gesehen, wohl nichts anderes als daß es ein regulatives Prinzip gäbe, das gesuchte nach den 4
Z. f. d. g. Staatswissensch., Bd. 108 (1952), S. 365 ff. Radbruch bereits in den Grdz. d. Rechtsphilosophie, S. 187. 6 Alte Literatur schon bei Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892), S. 372 ff.; Erich Jung, Die logische Geschlossenheit des Rechts, 1900. 7 Art. 1 Schw. ZGB. 5
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Richtigkeitsregeln des wissenschaftlichen Systems zu erstreben! Sonst würde man ja so ein fix und fertiges Recht in lückenloser Form als ein Feld stetiger Glieder für denkbar halten, ein Glaube aus dem Geist des Rationalismus der Naturrechtszeit und des Idealismus unkritischer Systeme. — Unsere Auffassung aber behauptet weiter, daß es beim Recht stets e i n e n e m p i r i s c h e n Erkenntnisgrund geben muß: den üblicherweise i n den Gesetzen, den Kundgebungen des „höchsten Gewalthabers" liegenden, als Menschenwerk also, ebenso wie es das Produkt der Rechtswissenschaft einer Zeit ist. N u n w i r d es oft so sein, daß, wie sich Cosack auszudrücken liebte und offen angab, „das Gesetz schweigt". H i e r ist also kein empirischer Erkenntnisgrund da, woran man eine Rechtsnorm verankern könnte. Es kann aber auch sein und w i r sahen bereits Beispiele, daß der Gesetzgeber so etwas voraussieht und nun in Form von Generalklauseln, Ermächtigungen usw. Organe schafft, die je nach Bedarf Allgemeines spezifizieren bzw. „Lücken" ausfüllen.Wir kennen ja von der sog. juristischen oder immanenten Geltung her die Reihe, die hier jeweils mit einem neuen Organ weiterlaufend, durch solche Organe soziologisch als Cäsuren unterbrochen, doch stetig weiterführt bis zu dem aus pragmatischen Gründen gebotenen „ H a l t " . H i e r besteht also stets die Möglichkeit, den empirischen Erkenntnisgrund zu finden. Ist es nicht so, so bleiben noch genug heterologe Orientierungsmöglichkeiten, die das Heterologe etwa aus der Sitte, der Gruppenmoral als empirischem Erkenntnisgrund ableiten, die aber damit das Heterologe nicht zum „Recht" machen. Das gleiche gilt von der Möglichkeit das Autonome als solchen empirischen Grund zu verwenden und so Autologes über das zu gewinnen, was dann wirklich zu geschehen hat. Auch das kein Recht! — Ein weiteres ist die unvermeidliche Unbestimmtheit. Wer die Rechtspflicht hat, jemand an einem gewissen Tag 100 M a r k zu bezahlen, hat große Wahlmöglichkeiten in der A r t der Ausführung. Er kann sich die Zeit wählen, die Vermittlungsweise überlegen, die A r t und Stückelung des Geldes usw. H i e r pflegt gewöhnlich die Rechtsphilosophie von „ D ü r f e n " zu sprechen. W i r haben das immer abgelehnt. Es liegt Unbestimmtheit vor, wie bei gewissen Momenten bei Partikeln der Mikrophysik. Es ist da unter der Bedingung a χ unbestimmt, unter der Bedingung b aber y. Ob es da ein Dürfen gibt, das belangvoll wäre, setzt voraus, daß der Begriff des Dürfens abgeleitet ist, um ihn anwenden zu können, ferner die direktive Verwertung der Situation, so daß sich nun innerhalb des Unbestimmten ein belangvolles Dürfen ergäbe, das seine Rechts-
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gründe ganz woanders her bezöge. Bei der unvollendbaren Aufgabe, die soziologischen Aprioritäten zu bestimmen, ebenso die jeweils unter nur erfahrbaren Voraussetzung zu ermittelnden Rechtstatsachen, bleibt jedoch die begriffliche Einheit des jeweiligen „Felds" bestehen. — Schließlich erkannten w i r , daß die Rechtsdogmatik genötigt ist, aus Gründen, die in ihrer Funktion liegen, so etwas wie „Stationen" zu bilden, die sich nach der Einheit der zwischen dem Wissenschafter und dem Praktiker — um es vereinfachend zu sagen — vorhandenen Verständnismöglichkeit, der Begreifbarkeit des dogmatisch Ausgesagten richten. — Ein wichtiger Punkt aber ist noch folgender: Bei einem noch so geschlossen wirkenden, durchdachten Bestimmungsgefüge, wie es etwa das genannte Schweizerische darstellt, sind ja immer wieder die übergeordneten hier Prozeßentscheidungsvorschriften als empirische Rechtsquelle von dem i m weitesten Sinne „sprechenden Verhalten" des „höchsten Gewalthabers" (der freilich in Wirklichkeit jeweils eine Resultante ist) abhängig. Eine Entscheidung selbst fide vel moribus einer Instanz kann unfehlbar nur innerhalb ihrer Sphäre sein. Das, was aber diese Sphäre „bedeutet", als solche eines Ganzen wie eines Staats, einer Kirche, Glaubensgemeinschaft, bestimmt daher immer den Geltungswert jeder Bestimmung, die hieraus erwächst. Es bleibt alles Anmaßung, sobald es nicht vom Logonomen her legitimiert ist. Diese Anmaßung selbst m i t höchstem Geltungsanspruch empfängt also ihren heterologen Sinn von der teleologischen Bewertung des Ganzen aus, dem Logonomen also, das so letztlich über solche Ansprüche entscheidet. Wer die Lösungsversuche der bekannten Paradoxien mit H i l f e der Typentheorie kennt, w i r d am besten verstehen, was w i r hier meinen. So ist auch jedes Interpretationsgebot oder Verbot seinerseits wieder interpretabel. I m Bereich juristischer Geltung allein sitzt unsere „Schildkröte immer wieder auf einer Schildkröte", bis es zur Wendung ins ganz Andere kommt, aus dem Kreis der Schildkröten heraus, in die andere Dimension: aus dem Kreis der sich aufeinander beziehenden soziologischen A k t e und der daraus entspringenden Gebilde ins Logonome, woher das Feld solcher Kontingenzen erst ihren Sinn bezieht. „ Z u m Teufel, wie komme ich i n diese Gesellschaft" sagt schon Schopenhauer i n einem amüsanten Beispiel, um die Tatsachenwelt gebührend zurechtzustellen. So ist die Frage nach Geschlossenheit der Rechtsordnung, nach rechtsfreiem Raum für uns infolge der Mehrschichtigkeit des Rechtsbegriffs i m guten Sinne mehrdeutig. Für die philosophische Durchleuchtung des Materials, wie es Rechtsphilosophie und Dogmatik heute aus20
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gebreitet haben, dürfen w i r wieder auf die Arbeiten Carl Engischs8 verweisen. M a n könnte uns nun den V o r w u r f machen, daß w i r unter Rechtsdogmatik nur die Erscheinungsform verstehen, wie sie sich unter der Einwirkung des rezipierten römischen Rechts, insbesondere der Pandektenwirtschaft entwickelt hat. Daher haben w i r jetzt noch eine andere A r t von Dogmatik zu betrachten, deren Ziel: Heterologes zu ermitteln auf einem Feld, wo es gleiche Auffassungsmöglichkeit gibt, freilich dasselbe ist. W o aber die empirischen Entscheidungsgründe in ganz anderer Form auftreten und auch ihre Verwertung zur Ermittlung des Rechts als Heterologen in ganz anderer Weise erfolgt: Das Muster einer Rechtsdogmatik, die Präjudizien als empirische Rechtsquelle verarbeitet, ist die angelsächsische. H i e r w i r d als „sprechendes Verhalten" i m weitesten Sinne jenes „höchsten Gewalthabers" — es könnte auch heißen: vox populi vox Dei — also als das, was w i r gewohnt sind, in den „Gesetzen" vor uns zu haben, der e i n e für das Recht unentbehrlich empirische Rechtsgrund in E n t s c h e i d u n g e n gesehen. Das logische Problem, das die Präjudizienverwertung der Rechtsphilosophie aufgibt, lautet i n nuce so: Wann liegt der gleiche Fall vor, wann nicht? Welches sind die Bedingungen, die eine Entscheidung dieser so allgemein gestellten Frage ermöglichen? Denn nur bei Kenntnis dieser kann ja analog entschieden werden. W i r haben früher 9 die grundsätzliche Frage, die auch hier gestellt ist, bei der Lehre von der „Spezifikation" erörtert. Bei dieser ist sie auf „ I d e n t i t ä t " und „Neuheit" als „Andersheit" gerichtet. Haupteinsicht: wenn man i m Zug der schon mehrmals erwähnten Vorgänger-Nachfolgerbeziehung (rein logischontisch verstanden) generalisierend von „Fällen" zurücktritt, werden sie, proportional dem Grad der Skala, zunehmend gleich. Schließlich werden „alle Kühe grau"; der Weg, der bekanntlich bei Hegel zu der bekannten Gleichung „Sein gleich Nichtsein" in seiner Logik führt. Es gibt nichts Disparates mehr, wenn man an dieser obersten Sprosse der Leiter angelangt ist. Umgekehrt: je mehr man spezifiziert, an die Fälle logisch herantritt, sie unter die Lupe der Erkenntnis nimmt, um so mehr differieren sie voneinander. U m so mehr „spezifische Differen8 9
Engischy a.a.O., schon früher „Einheit der Rechtsordnung", 1935.
Das Moment der Neuheit in § 950 BGB, Archiv f. civ. Praxis 114 (1914/15); siehe auch Engisch in dem genannten Buch über die Idee der Konkretisierung usw.
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zen" werden sichtbar. N u n liegt dieses schon überall so. Beim Recht kommt nun noch das zwiefach teleologisch Geschichtete hinzu. Erste Frage: Sind die Fälle unter dem Aspekt des sozialen Lebens aus — nach dessen fable convenue — faktisch rechtssoziologisch gleich oder verschieden? Sodann die zweite Frage: Ergibt sich Gleichheit oder Verschiedenheit, wenn man die Verbindlichkeitsfrage, die Frage nach dem Belangvollen, der Bedeutung für das Logonome aufwirft, wenn man situationsverantwortlich teleologisch unter Bewertung der, pragmatisch so konkret wie möglich, erfaßten Lage- und Gewaltkonstellation urteilt? Die Beantwortung beider benötigt man, als einheitliche Perspektive, wenn der Beurteilende rechtlich Gleichheit oder Verschiedenheit feststellen soll, als Basis für gleiche oder andersartige Konsequenz: der Rechtsfolge als eines wirklich Belangvollen. N u n kann sich aber bereits die rechtssoziologische Auffassung über das, was einmal bei einem Fall als teleologisch wichtig galt, gewandelt haben. Sodann auch die Machtkonstellation, sowie die soziologisch-gültige „weltanschauliche Meinung" ü b e r die sinnvolle Situationsgestaltung, die bei der Beurteilung des Verhältnisses jener für einen terminus ad quem nicht zu ignorieren ist 1 0 . Gewiß ergibt sich bei einem homogenen System, ausgehend von ruhenden Koordinaten, m i t statisch aufgefaßter historischer Gewaltsituation und immer wieder typischen Verhältnissen eine Einhelligkeit, wie w i r sie aus der konventionellen Rechtsdogmatik gewohnt sind. Sie kann sich aber auch ergeben, wenn eine einheitlichere Struktur des Menschen in Rechtsdingen analog reagiert, erkennt, also „bestimmt", was an zwei Fällen gleich oder verschieden, wesentlich oder unwesentlich sei. Das gilt natürlich nur vergleichsweise und für dieses Gebiet, soll also nicht etwa angelsächsischen Uniformismus, Konformismus bedeuten. Die Aufgabe einer Philosophie der Rechtswissenschaft kann nicht darin bestehen, völkerpsychologische oder geisteswissenschaftliche Feststellungen zu treffen, die ja an Realitäten gewonnen werden müßten. Auch hier interessiert nur das „Transzendentale": wie 10 Wir haben einmal früher zu Rehms Schrift von der überstaatlichen Stellung der Dynastien (auch nach den Verfassungskämpfen) im Schückingkreis in Marburg den Standpunkt eingenommen, daß hier Rechtsänderung durch Auffassungswandel eingetreten sei. Eine freilich für die Zeit des damals noch ziemlich unangefochtenen Rechtspositivismus ebenso gewagte wie unverständliche These. Die Würdigung des Situationsbegriffs für die dogmatische Rechtsauffassung, wodurch also Auffassungen über das Rechtliche, Gesollte, „Ideologien", nicht ihrem logischen Gehalt aber ihrer soziologischen Geltungspenetranz nach, bedeutsam werden, muß sich ja auch heute erst durchsetzen!
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solche Verwertung von Fällen logisch möglich sei. W i r sehen, wie sich i m Englischen gleichsam die kryptologisch auf Berücksichtigung lauernde Forderung nach Verträglichkeit auftauchender Bedeutungen ein Bewußtsein überhaupt i n dorso, vom Subjekt aus zur Geltung bringt. Die Abneigung gegen alles Grundsätzliche, Einheitliche, Systematische i m Objekt rächt sich sozusagen schmunzelnd, durch die Einheitlichkeit in der Perspektive der Urteilenden. Protagoras siegt anscheinend hier über Piaton, aber die Protagorase verstehen einander und reden wie Großinquisitoren. N u r zum Verständnis der Hinweise auf das Volkspsychologische, daß es das Ergebnis tief eingewurzelter Tendenzen war, welche das A l t e i m K a m p f gegen die Rezeption bewahrte 1 1 . So etwas wie sichere historische Instinkte bewirkten auch, daß in England bereits ein Juristenstand vorhanden war, innungsmäßig organisiert, der i m Gegensatz zum Kontinent die Erziehung des Nachwuchses in die H a n d nehmen konnte. Wieder ein wissenssoziologisch wichtiges Moment für das Unternehmen Rechtswissenschaft. Wissenssoziologisch auch zureichender Grund für den verschiedenen Charakter des „Juristenrechts"! Auch i n England kannten die in ihre Heimat zurückkehrenden Juristen das römische Recht. Wenn man an die dort noch heute gepflegte Form denkt, wie man humanistische Bildung zum Ausdruck bringt, könnte man vielleicht meinen, daß die präzisen Formulierungen römischer Rechtsgrundsätze grade für diese Juristenschicht eine besondere A n ziehungskraft gehabt hätten. Aber die Verankerung des Erlernten, bei dem Aufbau des Juristenrechts an Stelle des Volksrechts war eine andere. Der Juristenstand entwickelte sich auf dem Kontinent erst mit der Reception. A u f die Frage, wieweit das klassische römische Recht selbst case law war, können w i r hier nicht eingehen. Auch die Systole, das Einatmen, vollzieht sich auf Grund von Vorgängen, die sozialpsychische Aprioritäten voraussetzen. Es sind schließlich philosophische, systematische Tendenzen: gerichtet auf Verträglichkeit, Widerspruchslosigkeit, Allgemeinheit, die ihren Ausdruck endlich in Kodifikationen fanden, die ja stets auch wissenschaftlich Novationen sind. Wofür es freilich ein Muster in Justinians Gesetzgebung gab. M a n kann den Unterschied vielleicht so charakterisieren: Die Entfernung vom Gesetzgeber als dem A u k t o r heteronomer Richtschnuren zu dem 11
Zu obigem Radbruch, Der Geist des engl. Rechts, 2. Aufl., S. 8 ff., hier auch Hinweise auf die gefährliche byzantinische Ansicht: quod principi placuit legis habet vigorem. Verallgemeinert: was den grade an der Macht befindlichen Herren an Gesetzen gefällt, ist Recht!
Die soziologische Problematik, Angelsächsisches
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Untertan, i n der Fülle des sozialen Lebens, ist weiter als die vom Richter zu ihm. M a n könnte an den Unterschied in den Tendenzen bei Hegel und bei Goethe denken. D o r t strebte man vom Ursprung ins Konkrete 1 2 , hier suchte man bereits am Konkreten die „Bedeutsamkeit" zu ahnen, die bei genügendem Überblick, bei umfassender Schau schließlich überall zusammenführen muß. Der „ F a l l " , der die angelsächsische Rechtswissenschaft in dieser Weise in Bewegung setzt, i n ihrer Richtung bestimmt, ursächlich und katalysatorisch, ist nun kein abstrakter, kein konstruierter Schulfall. Nichts herauspräpariertes, logisch kategorial fixiertes! Er ist eine vom Leben herangetragene Realität, i n all ihrer begrifflich unerschöpflichen Fülle. Wirksame Menschen treten so nach Erledigung aller möglichen Umstände in reale Kreise vor, zum Richten berufene Menschen i m Gericht, einer Institution innerhalb vieler größerer doch immer realer, also soziologisch w i r kender Institutionen. Der Ansatz an der Realität, als einem Beziehungspunkt mannigfacher soziologischer „Interdependenzen", im I n stitutionellen darf nicht übersehen werden. V o n dem, was man Rheine gesicherte Realität hielt, ging schließlich ja auch die sog. Induktion aus. Die Beziehung des angelsächsischen rechtslogischen Vorgehens zu diesem Induktionsideal und damit zum Empirismus ist schon lang erkannt worden. Volkspsychologisch also dort, wo es auf Wirksamkeit ankommt, eine Einheitlichkeit i m Geistesleben, während w i r auf dem Kontinent mehr den Widerstreit systematischer Tendenzen und da diese ja prinzipiell sind, von Radikalismen, grade i n der Bewertung des sog. fortschrittlichen Erfahrungswissens haben. Oder auch so: Für den Engländer sind die „Formen", Aprioritäten wie eine H a u t am Körper, am „Stoff", am Empirischen ο n t i s c h offenbar. Bei anderen Völkern, insbesondere dem deutschen, steht der Form, den Aprioritäten in der l o g i s c h e n Sphäre, der allerdings auch für ihn bereits durch die Genesis der Doxa vorgeformte Stoff immer als eine unendliche A u f gabe gegenüber. Soweit jene nicht als Mittel, Instrumente, Signen zur Beschreibung von Erfahrungen dienen. Wenn es bei den mathematischen Intuitionisten heißt: „ W i r müssen erst durch endliche Schritte etwas erreicht haben, um darüber urteilen zu können", so wartet man i m Englischen lieber ab, bis das Leben in seiner Fülle konkrete Aufgaben stellt, die bewältigt werden müssen. M a n wartet bis es anklopft, um 12 Uber die Problematik dieses Begriffs ist wohl schon genug von Engisch und uns ausgeführt worden. Über das Ideal der Einhelligkeit vgl. Walter Jellineks, Schöpferische Rechtswissenschaft, 1928.
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mit einem „Herein", oder nicht, Stellung zu nehmen, „muddle through". M a n antizipiert so nicht Situationen in der Phantasie, die dann später doch ganz anders ausfallen. M a n vertraut darauf, daß die am Leben geschulten sozialpsychischen Aprioritäten: wie Geistesgegenwart, Reaktionsfähigkeit, die Kunst das Wesentliche, worauf es ankommt und das dann Anerkennung findet, zu erfassen, auch weiter bereitstehen werden. So erlangt ja auch die „Ausnahme" in der ontischen Sphäre ihre besondere Bedeutung, ja ihren eigentlichen Akzent. Während sie sich in subjektiven Bereichen grade zur Wahrung der Einheitlichkeit in oft drolligen Antithesen äußert — das Problem des englischen Dandysmus, Humors — das Subjektive sich i m Hegeischen Sinne „übertreibt", w i r k t auf der gegenständlichen Seite das Anormale jedenfalls nicht, weil es das einheitliche B i l d stört. Radbruch meint, die Rechtsschöpfung bei uns sei demgegenüber eine Rechtsschöpfung am Phantom 1 3 . Wenn w i r an unsere eigene Auffassung über die Aufgabe der Dogmatik denken, an die Vorwegnahme und Offenheit gegenüber der unendlichen Menge, von Mengen, deren Elemente jeweils einen terminus ad quem bilden, an die Antizipation der ganzen Zukunft, welcher die jeweiligen Phasen der sogleich wieder ins Vergangene gleitenden Gegenwart entgegeneilen, an das Wagnis einer Dynamik, bei der weder Richtung noch Grad der Bewegung feststehen, so müssen w i r Radbruch recht geben. Allen Ernstes regt die Vergleichung der angelsächsischen Rechtswissenschaft m i t der deutschen und Radbruchs Ausspruch vom Phantom zu folgendem an: Auch wenn man sich an Stelle des Phantoms, eines unwirklichen Wirklichen, wie es uns heute Malerei à la Ensor und Literatur à la Kafka nahlegen, ein Modell denken, woran unsere Dogmatik arbeitet, so bleibt es bei der Vorwegnahme von Zukünftigem, bei einem Künstlichen, bestenfalls wie bei dem ersten Atommodell. Denken w i r uns alle möglichen Konstellationen als soziologische „Fälle", so können w i r auch annehmen, daß sie, einander freilich mehrfach überschneidend — denn Personen können ja zur selben Zeit in mehrfachen soziologischen Beziehungen stehen — daß sie bei einem Querschnitt durch die Zeit i m Jahre Ν in einem bestimmten Zeitpunkt gleichzeitig wirklich wären. Jedenfalls eine unübersehbare Menge von „Fällen", von der w i r annehmen, daß sie grade wegen der Überschneidung keine endliche wäre. Diese Menge solcher Elemente in einem Zeitpunkt des Jahres Ν würde eine Aufgabe für die heutige teleoJ3
a.a.O., S. 14.
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logische Bewältigung sein, i m Jahre N u l l , so daß die grade auf Grund vergangner Erfahrung gesammelten Möglichkeiten ihren Ausdruck in einem dogmatischen System fänden. Sollte ein Ziel sein, zu dem unübersehbare Zeitquerschnitte ganz der entsprechenden A r t hinführen. I n einem Zeitpunkt des Jahres 1, i n einem entsprechenden des Jahres 2, dann 3 usw. bis zu unsrem N . D a aber kein System dieser A r t sich selbst für beendet erklären kann, sondern in Zukunft hinein weiter offen bleiben muß, geht die Entwicklung über Ν + 1 immer weiter. Unendliche Mengen von Mengen! Bereits die Situation der Fälle i m Querschnitt, mit unendlichen Elementen 14 . Dazu noch i m Ausgang, daß der dogmatische Querschnitt i m Jahre N u l l , dem Zeitpunkt, wo das System geschaffen w i r d , ein faktisches Ergebnis von Bemühungen sein muß, die „Fälle" ohne Überschneidung auf Grund bisheriger Erfahrungen (wenn auch vielleicht an H a n d unserer Aprioritäten) festzuhalten. Also bereits hier die Aufgabe die Menge zu verendlichen, abzuschließen. I n der Absicht, dann von einem so fixierten aus, jene kommenden Unendlichkeiten in den „teleologischen G r i f f " zu bekommen, jeden möglichen Fall als Terminus ad quem, muß das nicht dazu führen, daß man sich dabei geistig „übernimmt*, den berühmten Griff nach dem Ganzen versucht, das man doch nie haben kann? So wie wenn man anstatt die Forderung des Tags zu erfüllen, anstatt vor seiner T ü r zu kehren, sogleich die „ W e l t " , die „ K u l t u r " oder ähnliches ordnen möchte? Die Zukunft als machbar, wie ein Kunststoff, dem Rechtsdogmatiker als grade zufällig Lebenden in die H a n d gegeben oder besser in sein Laboratorium. So ein sich Ubernehmen, wie man es bei der Entwicklung der Mengentheorie erfuhr, als sich die bekannten Paradoxien einstellten, so daß man zu vorsichtigerem begrifflichen Voranschreiten genötigt war. Eine typische Hybris des Systematikers, der sich damit als solcher alten Stils entpuppte, nach A r t des N a t u r rechtlers der großen Vernunftrechtssysteme, als Ikarus, dessen Absturz unvermeidlich ist? Wie bescheiden nehmen sich gegenüber solchen juristischen Vorwegnahmen doch die durch die Tür des Gerichtssaals eintretenden „Fälle" i m englischen Recht aus. Doch werden sie auch dort zur Geltung kommen auf Grund der Penetranz, die als wesentlich am Fall empfunden wird. Auch ohne daß die Fälle i m einheitlichen Feld des Systems, wie es im Gesetzesbereich bereits die Kodifikation 14
Dabei ist noch nicht einmal die Bewegung berücksichtigt, das sich Entwickeln der Fälle in sich, aus anderen, und in andere hinein.
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Ret
und Rechtswissenschaft
entwirft, ihren Platz zu suchen brauchen, der letztlich ja doch immer solcher eines anderen, eines früheren war. W i r sind bei diesen Erwägungen unversehens ins Genetische geraten. Aber die transzendentale Betrachtungsweise vergißt ja nicht, daß das Systematische auch seinen Bezug im Gegenpart hat: das ist hier die Genesis. Beides zusammen erscheint nun schon als „Metaphysik" und so ist es auch kein Zufall, wenn einem bei dem Vergleich des so grundverschiedenen Wissenschaftsbetriebs, wie des deutschen und des angelsächsischen, Gedanken an Bergson kommen. War doch dieser immerzu bemüht die begriffliche, fixierende, festlegende Welt des Logischen der Welt des Lebensflusses, der gelobten Wirklichkeit gegenüber zu sehen. Freilich konnte auch er das wieder bloß i n Begriffen tun, wenn er nicht wie Buddha in seiner Blumenrede nur etwas wie einen Lotos vorweisen wollte. N u n , etwas von dem Bergsonschen Dualismus verspüren w i r auch bei dem Unterschied der beiden Rechtswissenschaften. Bei uns überwiegt die begriffliche Tendenz, bei den Angelsachsen die Neigung zu dem Urmaterial, wovon die Begriffe leben. Doch ist, wie w i r wissen, auch das Material, woran die systematische Arbeit ansetzt, woran sie sich „orientiert", bereits begrifflich vorgeformt, kategorial geprägt. Es gibt für den Gedanken gar nichts formlos Transzendentes. So sind also auch die „Fälle", woran das angelsächsische Rechtsdenken ansetzt, stets bereits Fälle, durchaus nicht nur des Rechts, setzen demnach als rechtsoziologische Begebenheiten den Rechtsbegriff sowie den der Gesellschaft voraus. Sie sind aber auch in den Augen der Engländer nicht nur Rechtsfälle schlechthin, sondern gehören in spezielle Rechtsbereiche, die daher schon die Entwicklung der Grundkategorie ins Spezifische voraussetzen. Schon, um aus der Fülle des gesammelten Materials an Vorgängen das Maßgebliche herauszufinden, bedarf es eines kategorialen Ausleseprinzips, und es scheint grade die Kunst des Vertreters einer Partei zu sein, hier sogleich das Passende herauszuholen, i n diesem Fall, was den Entscheidenden am meisten einleuchtet. Der Unterschied der beiden Auffassungen scheint sich auch darin zu zeigen, daß man dort, wo der Präzedenzfall eine so wichtige Rolle spielt, die Fälle gleichsam in eine Ebene ordnet. I n Rankescher Terminologie als „gleich nah zu G o t t " . Hierbei ist mari nun wieder eher platonisch, insofern die Zeitstelle in ihrer Bedeutung herabgesetzt wird. Es entfällt somit auch jede Fortschrittsgläubigkeit. Wenn es für alles Römische, faktisch auch im Kirchlichen, charakteristisch ist, den Satz „lex posterior derogat priori" auch für die Dog-
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menentwicklung als selbstverständlich gültig zu halten, haben w i r hier i m Angelsächsischen keine Bevorzugung des jüngeren, uns näher Stehenden. Es scheint uns daher auch kein Zufall, daß sich die anglikanische Kirche m i t der griechisch-orthodoxen verwandt fühlt, bei der es später ja auch keine derogierende Dogmenauffassung gibt, sondern die Glaubensäußerungen der älteren, denen der jüngsten als gleichberechtigt zur Seite stehen. Eine für die rechtliche und religiöse Dogmat i k gleich wichtige Feststellung. Wie bei der Induktion kann die Zeit, worin etwas geschieht, keine Rolle spielen. Es kommt nur auf das an, was geschieht, und wie es geschieht. So erreichte ein gewisser Thomson i m Jahre 1818 die Zurücknahme der Anklage wegen Totschlags, als sein Gegner, der Privatkläger, den Fehdehandschuh, den er ihm nach mittelalterlichem Rechtsbrauch vor die Füße geworfen, nicht aufnahm, um sich zum Zweikampf zu stellen. So w i r d also auch, ganz anders, als Savigny die Rechtsgeschichte verstand, das Historische i n den Bereich des Aktuellen gerückt. Ohne Rücksicht auf Vorgänger und Nachfolger, Verursachendes und Bewirktes, das „Recht des Lebenden" und die Blässe des Vergangenen, bietet sich alles, was einmal geschah, soweit es auf Zeichens wert erschien, als „ F a l l " unter anderen an, so daß damit die Historie zu einer aktuellen Fallsammlung wird. Insofern ist sie stets „neueste Auflage". Induktionsmaterial i m Dienste des dogmatischen Rechts! M a n hat auch darauf hingewiesen, daß die „Ausrede" eine Anerkennung der Forderung bedeutet, die man erfüllt zu haben behauptet. Sie ist so gesehen, ganz etwas anderes als das russische Bekenntnis zu den schlimmsten Dingen, wie w i r es als demütige Bestätigung des Menschlich-allzumenschlichen aus den berühmten Romanen und Selbstbiographien der Zeit vor dem Umsturz kennen. „ C a n t " einerseits, die Verachtung der Lüge andrerseits stellen für den nicht sogleich i n der rechtssoziologischen Tatsachensphäre Denkenden, für den, der sogleich unter systematischer Intentio Widersprüche ausmerzen und Verträglichkeiten à tout prix feststellen w i l l , ein schwer zu bewältigendes gegensätzliches Erfahrungsmaterial dar. Thesis und Antithesis, als edler Wettstreit, als guter Agon der guten Erisgöttin, könnte man von Nietzsche her denken. M a n hat so auch das sportliche Moment am Prozeß hervorgehoben, wobei es nicht ausbleiben kann, daß der Entscheidende v o m abstrakten „Es", dem „Rechtsbewußtsein überhaupt", zu einem eingreifenden, sich persönlich beteiligenden Menschen von Fleisch und Blut wird. Ein Zeichen dafür, daß da wo der Fall prävaliert, auch der wirkliche Mensch ins Treffen kommt. D a m i t zwar noch
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Recht und Rechtswissenschaft
nicht die Rechtsdoxa einer Gruppe, jedoch die personelle Doxa als „Uberzeugung" eine Rolle i n der Argumentation spielt. Es ist das alte: „ H i e r steh' ich, ich kann nicht anders", als Rechtsgrund verstanden, das die Persönlichkeit wie eine Figur auf dem Schachbrett des Rechts zum Zuge bringt. W i r haben Entsprechendes noch vor der Aussiedlung i m Baltik u m kennen gelernt. Die Überzeugung als Datum, als „Gegebenheit" im Sinne des Empirismus, im Beweisverfahren als eine A r t von pièce de resistance. W i r sagten schon, jeder wirkliche „ F a l l " ist als solcher des Lebens m i t dessen „Füllen" gesättigt. Wie es Husserl als Schranke der exakten Wissenschaften erkannte, daß die „Füllen" des Lebens, die Qualitäten jenseits der begrifflichen
Abbildung mittelst quantitativer
Symbole
bleiben, so t r i t t jeder wirkliche Fall beladen mit unausschöpfbaren Deutungen auf. Fälle sind Sphinxe, so lange sie nicht durch eine vorher ausgeklügelte begriffliche Tortur zu Antworten genötigt werden, die man erwartet. Diese unbegrenzte Deutungsfähigkeit beim Fall muß dort logisch interessante Alternativen zeigen, wo der Fall als Repräsentant, als Erscheinungsform, als Index, beansprucht, den heteronomen Rechtsgrund für das Heterologe des positiven Rechts dazustellen. Jeder Fall, auch wenn er sogleich als Fall von etwas ζ. B. des Rechts des Familienrechts, eines soziologischen Vorgangs wie eines Brauchs beim K a u f gelten soll, hat doch, da er sich i m zeitlichen Geschehen zugetragen hat, ein historisches Gepräge. Somit hat er den Charakter des Einzigen, ist nach der Terminologie Windelbands der idiographischen Darstellung zugänglich. So kehrt er niemals wieder. Als etwas, was sich hic et nunc vollzogen hat, ist er unwiederholbar. Schon wegen der Zeitstelle und der kausalen oder funktionellen Zusammenhänge muß das spätere, auch wenn es gleich erscheint, doch etwas verschiedenes sein. M a n kann aber als unbefangener Beobachter, von der „Perspektive des Lebens" aus, daher auch rechtssoziologisch die Fälle als gleich ansehen und dann doch in der vorausgehenden Stellungnahme etwas finden, was sie rechtlich verschieden erscheinen läßt. Die rechtliche Erfassung i m Präjudiz schafft diese Möglichkeit. Sie ging unter
Um-
ständen über das Rechtswesentliche hinaus. Sie begründete vielleicht etwas, was gar nicht i n Frage stand, gar kein „ F a l l " war. Ebenso wie es nach K i p p Doppelwirkungen im Recht geben kann, das heißt Argumente, die i m Facit zur gleichen rechtlichen Entscheidung, d. h. nur einem einzigen Gesollten führen: zu einer Verpflichtung, ebenso
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gibt es ja, wie man immer wußte, Rechtsgründe mannigfacher
Art,
die das Gleiche als rechtliches Facit haben. Jeder, der eine Klage erhebt, etwa um eine Sache vom Gegner zu erhalten, weiß, daß dafür allerlei Argumentationen bereit stehen. Er kann etwa die Sache vindizieren, also Eigentumsrecht an ihr in Anspruch nehmen oder sich auf ein obligatorisches Verhältnis stützen, etwa, daß die Leihe des Gegners abgelaufen sei usw. Also können Präjudiz und neuer Fall trotz sachlicher ja rechtssoziologischer Gleichheit infolge einer Divergenz der Rechtsauffassung damals beim ersten Fall und der zu erwartenden beim Neuen verschieden erscheinen. Niemand w i r d bei naiver Bewertung einen Unterschied der Fälle darin sehen, daß beim ersten ein Kunde i n einer Bierflasche einen Pfennig, beim zweiten i n einer Weinflasche einen Frosch fand, aber die Argumentation beim ersten läßt die A n nahme von Unterschieden zu. So betont Radbruch die Wahlmöglichkeit eines Richters zwischen mehreren „Rechtssätzen", wenn es nämlich verschiedene Voten für die gleiche Entscheidung gegeben hat. Die „Reihe" der Präjudizien ist ja auch nur durch Publikationen für die Entscheidungsmöglichkeit verendlicht; die vielen, die es einmal gegeben haben mag, stehen ja nicht alle zur Beurteilung zur Verfügung. M a n sieht, daß die Lage bei der rechtsdogmatischen Musterung der Präjudizien noch schwieriger ist als die des Empiristen, der etwa „Protokollsätze" (Carnap) oder „unmittelbar Gegebenes" (Cornelius) auswerten möchte. Es gibt hier noch viel mehr Material in der Rolle der Hypothesis am Ausgangspunkt: der empirischen „Rechtsquelle" für das Recht als Gegenstand der Dogmatik. Ja, Radbruchs Hinweis auf das liberum arbitrium i n der Auswahl der Argumente aus der Präjudizsphäre legt sogar folgenden Gedanken nah: Die moderne Naturwissenschaft ist heute i n einer Verfassung, bei der der spezifische Naturwissenschafter, der Mathematiker, Statistiker, Techniker, Praktiker, alle aufeinander angewiesen sind. Die Beobachtungen verlangen eigens zu diesen Zwecken gebaute Apparate, deren Tragweite prima facie wieder nur der am besten beurteilen kann, der dieses Material fürs Experiment geschaffen hat. Ein früher unbekanntes aufeinander
Angewiesensein
der Fachleute i n der Beurteilung der jeweiligen Leistung. H i e r scheint die angelsächsische Dogmatik ein Analogon zu bieten. I n der Rechtsdogmatik der uns vertrauten Form steckt infolge der Neigung zur begrifflichen
Verankerung
in
den bekannten Aprioritäten
dagegen
bereits schon so etwas wie eine Neigung zur Ideologie. Doch haben w i r
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Recht und Rechtswissenschaft
als Gegentendenz die oben erörterte Strebung ans „Konkrete" heranzukommen, wozu ja besonders Carl Engisch erschöpfendes Anschauungsmaterial geliefert hat. Lebte Oswald Spengler noch, so würde er vielleicht jetzt i m Angelsächsischen Ausschau halten, ob etwa grade nun eine Gegenbewegung einsetzte. Natürlich daß w i r bei der englischen Intentio auch an das denken, was zur Zeit wieder viel erörtert w i r d : die „ N a t u r der Sache". Sie ist gleichsam das „Selbstverständliche", ein Begriff, der nach Ansicht der Soziologen sämtliche Arten von „ K u l t u r " fundiert. Das Selbstverständliche, das freilich als eine A r t des Tabu durch den Intellektualismus mehr und mehr gefährdet wird. Aber soziologisch läßt sich die Frage danach klar präzisieren. Sie bedeutet einen Hinweis auf ein beschreibbares Faktum i m Rechtsbewußtsein, eine soziale Tatsache, geistig gesehen, eine „ D o x a " . Etwas, was unter einem bestimmten Aspekt, nämlich bereits teleologisch orientiert, auf etwas hinzielend, ins Bewußtsein t r i t t . Eine Folge wäre, daß man durch immer genaueres Hinsehen auf einen anscheinend noch ganz ohne Rechtsbrille zu erkennenden Sachverhalt eine Fülle von Zusammenhängen „ i n den Blick" bekäme, die sozusagen spontan, von sich aus, eine entsprechende „ I n t u i t i o n " des Beschauers erzwängen. Eine Erweiterung der „Wesensschau" in einem Bereich, der dem eigentlich Juristischen voraus läge, noch ohne juristisch-kategorische Formung als soziologisch evidente Möglichkeit. Freilich eine ganz andere als die oft genannte soziologische Apriorität als eine rationale. Psychologisch gesehen, so eine Methode, die einheitlich angewandt, zur einheitlichen Auffassung dessen führen könnte, was als bedeutsam am Sachverhalt, am „ F a l l " zu gelten hätte. Die Analogie zur englischen Verfahrensweise liegt nah. Die Phänomenologie hat aber i n den Jahrzehnten ihrer Entwicklung derart verschiedene Auffassungen über die A r t richtiger Wesensschau gezeigt, daß man hier weniger denn je naiv vorgehen kann. Zuvor bedürfte es jedenfalls eines an H a n d der so verschiedenartiger Verfahren orientierten Versuchs einer Systematisierung jener genetischen Methode, die „ N a t u r der Sachen" aufzuspüren. Dazu können „nackte Tatsachen", selbst so geschickt angepackt, daß ein Teil ihrer Fülle sichtbar würde (wegen der unendlichen funktionellen Zusammenhänge nie ohne pragmatischen Gesichtspunkt) niemals ohne heimliches M i t w i r k e n teleologischer Intentionen teleologische Ergebnisse bringen. So wie aus dem Spinozischen Deus sive natura immer nur Tatsachen herauskommen können, wenn man kein direktives A t t r i b u t ein-
Die soziologische Problematik, Angelsächsisches
schmuggelt 15 . Aufs Ganze gesehen, sorgt jedoch bereits das Beweisverfahren fürs Teleologische. Bei der Beurteilung verschiedener Rechtszustände w i r d immer mehr offenbar, daß die Teilung der Gebiete ζ. B. in Prozeßrecht, Vollstreduingsrecht, Zivilrecht usw. einseitige A b steckungen bewirkt, daß aber das dogmatische Recht als Ganzes auch die teleologische Auswertung des ganzen zusammenhängenden Gefüges fordert; von der A r t aus, wie ζ. B. seinerzeit ein eine Verfassung entwerfender und sie schließlich gebender Kreis gebildet wurde, über die fertige „Verfassung", ihre „Grundsätze", Handhabung, dann „hinunter" die Skala juristischer Geltung, sekundärer, tertiärer . . .„n"ter Normen bis zur letztmöglichen Sanktion. A u f einen weiteren Aspekt hat Radbruch für die Beurteilung des angelsächsischen Verfahrens hingewiesen 16 , der die soziologische Genesis der dogmatischen Resultate betrifft. Radbruch meint, daß das englische case law sich am Streit orientiere, und nicht am Recht i m Zustand der Ruhe. D a häten w i r ein interessantes Beispiel für die Wirksamkeit des Heraklitischen Prinzips i m Unterschied zum Parmenideischen. Wie nach Nietzsche die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik erfolgt sei, so erzeugte sich das Recht aus dem Geist des Agon. Rechtssoziologisch lassen sich ja, wie w i r wissen, in der Tat zwei agonistische Tendenzen feststellen: eine statische und eine dynamische. W i r sehen unseren Präparator einen Schnitt durch die aus der Vergangenheit in die Zukunft fließende Welt machen, und so ein statisches B i l d gewinnen: den Ausgangszustand der Situation mit den den Juristen interessierenden heteronomen Richtschnuren, die zusammen mit dem darin gerichteten als widerspruchsfrei und unveränderlich, fest angesehen würden. Gewalthaber, seine Gewaltsprüche und das Material, die soziologischen Lebensformen, insoweit gebannt, als es nur darauf ankäme, diese gemäß jenen Gewaltsprüchen zu gestalten. Denn ja auch bei statischer Auffassung bliebe zu Richtendes, bliebe der Gegensatz von Seiendem und Seinsollendem. So läßt sich das dogmatische Recht gleichsam in einer Ebene als dann geschlossenes System mit allen Begriffen denken, wie es ja manchmal versucht wurde. Freilich auch hier stets „zu praktischem Gebrauch", zur Anwendung der Dogmen. Jedoch i n der Meinung, daß sich Zukünftiges in begrifflicher Form lückenlos antizipieren, erfassen ließe. Der Systematiker als juristischer Laplace. Eine 15
Darüber hielten wir einst einen Vortrag anläßlich des Spinozajubiläums in der Judenschaft Rigas. 16
a.a.O., S. 49.
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R e t
und Rechtswissenschaft
Analogie zu dem Laplace der Naturwissenschaften, m i t dem sich K a n t auseinandersetzte. M a n kann aber auch umgekehrt immer nur einen kürzen H a l t i n der Bewegung der einander ständig ablösenden Situationen machen wollen, gleichsam, um Atem zu hollen. Ein sich Verschnaufen i n Begriffen, indem man i m Flug der Geschehnisse sie bei jeder solchen Atempause i n den rechtlichen Griff zu bekommen suchte. Alles Rechtliche jeweils nur ad hoc erfaßt. Wobei man freilich eine einheitliche gleichförmige Bewegung des einander folgenden i m Auge hätte. W i r haben ja schon Bergson erwähnt und möchten Simmel hinzufügen. Besonders an seinen Ausspruch erinnern, daß das Leben i n Formen aufgehen solle, aber niemals i n Formen aufgehen könne. Diesen Gedanken rechtlich interpretieren! Als ruhende Momente hätten w i r hier nur das Institutionelle, die Subjekte, Objekte, während die Akte die Beziehungen aktualisierten. Wozu etwa an H a n d der „Beziehungslehre" (v. Wiese) jene soziologischen Punkte auf Grund der durch die Richtschnuren also i n A k t e n der Gewalthaber gebotenen Anmaßungen als heterolog i m Weiterdenken der Juristen entwickelt würden, so das Spätere aus Früherem begreifend. Ob das englische Recht mehr die eine oder mehr die andere Form dieser beiden Möglichkeiten darstellt, scheint streitig zu sein. Dies ist auch w o h l nicht anders möglich, weil w i r dort einerseits das konservative Festhalten selbst an den ältesten Entscheidungen haben, an den Verfahrensarten und der verantwortlichen Struktur der am Recht Beteiligten, andererseits aber gerade in dem Vertrauen auf deren Spruch die gerühmte Beweglichkeit, die ihren irrationalen Grund i n der „Lebensnähe" habe. Die autoritative Persönlichkeit gegenüber dem „ F a l l " , dessen relevante Fülle, wie w i r schon sahen, ihnen ja i n den Blick kommen soll. Jedenfalls empfindet der Angelsachse bei unserer Dogmatik, das hier oft die Wollust am Begriff und System die „Fälle" i n die Luft führt. So wie nach einem alten Spruch der Bussard meint, daß es die Maus gut habe, wenn er m i t ihr i n den H i m m e l schwebt. W i r empfinden dagegen das Angelsächsische als rhapsodisch, improvisorisch, als Denken „ v o n der H a n d i n den M u n d " , besser vom Manifesten zum Spruch. Aber immer gings dann ja auch wieder abwärts vom K o p f i n die Hand, vom Spruch zum Handbeil. Ein ähnlicher Widerstreit scheint darin zu liegen, daß einerseits die Bindung an Bestehendes gefordert w i r d . W i r sagen heute, uns auf sog. „Werte" beziehend, „aus Gründen der Rechtssicherheit", als „Sicherheit des Rechts". Sozialpsychologische Untersuchungen würden
D i e soziologische Problematik, Angelsächsisches
freilich lehren, daß es ganz andere Motive i n der Tiefe sind, die sich von ältester Zeit her auswirken: die „normative K r a f t " haftet ja aus vielen Ursachen Althergebrachtem an, viel volksreligiöse Abhängigkeit, die Rolle des „Selbstverständlichen", ja Sakralen. M a n denke an den K a m p f der Altgläubigen, der Raskolniki, um die Erhaltung des, i n Wirklichkeit verdorbenen, Textes, die Gewohnheit, das Kreuz in bestimmter Form zu schlagen und derartige magische Vorstellungen mehr. Die eindeutige und zweifelsfreie Bindung an die Präzedenz nötigt den Gedanken zu allerlei Windungen, um aus dem alten unerträglich gewordenen Rechtszustand in einen passenderen hineinzukommen. Logisch gesehen, „fingiert" man also. Andererseits sehen w i r die Fertigkeit, das in Wirklichkeit Neue, das durch solche Manipulation zustande kam, als in den Kreis des Traditionellen gehörig, als dazugekommenen Präzedenzfall, die Kette fortsetzend, den Rechtsgedanken also nur neu bestätigend zur Geltung zu bringen. Was gewisse Glaubensbedingungen für die soziologische Geltung voraussetzt, Autoritatives, was sich weder ausdenken noch erzwingen läßt. Wieder darf man hier an die naturwissenschaftliche Begriffsbildung und Gesetzesfassung erinnern. W o man solide, dogmenfreie Formeln erstrebt, doch dabei alte verwertet, sie erweitert oder einschränkt, ergänzt, Bedingungen einführt — man denke schon an die entsprechend bewegliche Weiterbildung des Zwölftafelrechts i m Römischen — . Eine Analogie zur dogmatischen Fortbildung i m Angelsächsischen dort, wo man bei uns längst nach Gesetzgebungsakten ruft. Der Gedanke des „Gesetzes" ist in beiden Bereichen gewahrt. Auch heute betont der Naturwissenschafter die Fortgeltung der klassischen Gesetze für gewisse Bereiche. So wie man ja auch überall gern an Instanzen von ewiger Gültigkeit wie Logos, Ethos, die Idee des Menschen usw. appelliert. Es darf die Bemerkung gewagt werden, daß sich der Jurist, genötigt das „e vinculis sermocinari" anzuerkennen, da sein Gedankenprodukt ja sonst kein positives Recht wäre, in solcher Rolle überall oft als Vertreter eines wissenschaftlichen „ C a n t " fühlen w i r d . M a n unterstellt auch in der Gestaltung des englischen Case law, bereits geltendes Recht zu entfalten, gibt vor, es zu befolgen, auch wo man in Wahrheit Neues schafft 17 . „The fact is, that the law has been w h o l l y changed, the fiction is, that i t remains what i t always was". Soll diese Aufgabe i m Dienste einer sinnvollen Gestaltung der Situation nicht auch auf die Struktur dessen zurückwirken, auf das „Esse" dessen, das jene Aufgabe 17
Zu obigem Radbruch, s. o. S. 52 f.
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als „operari" erfüllt? Nicht nur beim case law, sondern überall i n der dogmatischen Theorienbildung, wo es gilt, m i t Vorhandenem so zu manipulieren, daß aus dem alten Kunststoff ein neuer w i r d , der die Ansprüche besser erfüllt? So gesehen, erscheinen sowohl „Gesetz" wie „ F a l l " als Katalysatoren, aber auch als Vorwände, als „gute" Ausreden nötig i n einer immer bedrohlichen Machtsituation. Der Jurist muß immer zween Herren dienen: dem realen, der die Gesetze macht und dem idealen, der ihnen ihren Sinn gibt, dem realen A u k t o r einer heteronomen Richtschnur und dem — über realen — einer logonomen. Er steht so anscheinend i n zwei Reichen, nur daß die Vorstellung solcher Reiche als getrennter Regionen aus einer Phantasie stammt, die begrifflich an sich zu setzen liebt, daß es aber in Wirklichkeit nur sinnvolle Aufgaben in einem auf den Sinn bezogenen Tatsachenbereich gibt, für den, der in seinem Beruf einen Sinn erblicht. Interessant ist, daß auch da, w o man i m Angelsächsischen den starren Zitiergesetzen etwas anderes, „ E q u i t y " , „ex aequo et bono" gegenüberzustellen sucht, sich auch hier sogleich die analoge Tendenz zur Orientierung am „Gegebenen", also den früheren precedents, zeigt. I n der A r t und dem Modalitätsgrad, m i t denen solche Anschlüsse gesucht werden, zeigt sich doch der völkerpsychologische Unterschied der beiden Nationen. H i e r ist auch die Stätte, w o die fälschlich zur Begründung rechtsphilosophischer Basen verwendeten personalistischen und transpersonalistischen A n sätze: die Hypothesen des Individualismus, des Universalismus, der transpersonalen religiös-kulturellen Auffassung ein Schlüssel zum Verständnis, also zum psychisch wichtigen Hinweis auf das Faktische, den realen Ursprung juristischer und rechtsphilosophischer Theorien werden. Philosophisch gewiß keine Instanz, kein logischer Rechtsgrund, keine Rechtfertigung von Evidenzen, aber psychologisch die Stelle, wo man H a l t macht und vielleicht — situationsverantwortlich — halt machen soll. Das Faktum auch des Gewissens als die Überzeugung von dem Besitz eines „ganz gewissen Wissens" spielt dabei je nach der Bewertung i n den Konfessionen eine Rolle 1 8 .Neben solchen faktischen I n stanzen muß natürlich bei tieferer philosophischer Besinnung die Vorstellung des „Rechtsgrundes" der all so was legitimieren könnte, die 18
„Des Kanzlers Gewissen als Maßstab für equity ist zu vergleichen mit des Kanzlers Fuß als Längenstab" (John Felden, „Tischgespräche", zitiert bei Radbruch), wobei tatsächlich an einen „historischen" Fuß als Längenmaß erinnert wird. Man könnte sagen, es käme darauf an, zu wissen, auf welchem Fuß er lebte.
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Aufgabe unseres „logonomen Prinzips" ins Bewußtsein kommen. Das ganze Naturrecht tendiert ja danach, gegenüber dem bloß Faktischen in solchen Ideen, die sich assoziativ mit den Worten „ N a t u r " , „Vernunft", „Gerechtigkeit", „ A u t o r i t ä t " und dergleichen verbinden, einen Rechtfertigungsgrund zu finden, der der faktischen Motivation eine Unterlage gäbe. So kann man dahin gelangen, schließlich so etwas wie ein spezifiziertes eben juristisches „Bewußtsein überhaupt" dort zu empfinden, wo man es mit der „Persona", der konstruierten Ratio als Hegemonicon eines Standes zu tun hat, eben des Juristenstandes. Ein „Speicherbe wußtsein", worin alles das, was sich dieser Stand durch Studium, Tradition, Erfahrung, m i t Mühe zu eigen gemacht hat, aufbewahrt w i r d und zur Verfügung steht, falls man es braucht. Analogien zu dem „Speicherbewußtsein" finden sich auch in anderen Bereichen da, wo ein Überschuß von Guttaten anderen zugute kommen soll, ζ. B. beim Karma der Bodhisattwas im Mahayana. Sogar die Parapsychologie arbeitet m i t diesen Gedanken. Der Historiker der Philosophie w i r d an Lehren der arabischen Scholastik: Averroes, sowie an die idealistische vom „objektiven Geist" denken. Eine wohl überall anzutreffende Erscheinung, daß man einerseits einen Zustand zu überwinden trachtet, wo man sich als Persönlichkeit überflüssig, sozusagen nur als Lautsprecher, empfinden müßte, als prononceur von etwas, woran man keinen Anteil hat und das doch auch nur einen sehr menschlichen Urheber hat, daß man aber andererseits bei dem Schritt über die positive Grenze wieder rasch eine Stütze sucht, keine rein geistige, sondern manifeste. Auch bei solcher Bemühung muß man ja schließlich irgendwo halt machen. Bei Äußerungen aus alter Zeit dürfen w i r freilich noch mehr von dem ursprünglich religiösen Gehalt in der Gesetzesvorstellung vermuten: dem, was seiner Zeit die Identität des göttlichen Worts m i t den von Gott in der creatio bewirkten A b läufen des Naturgeschehens bedeutete. Sonst würde das W o r t unverständlich bleiben: „neminem oportet esse sapientiorum legibus". Aber die allmähliche Säkularisierung des Prinzips des Logonomen schließlich zur Autorität i m rein weltlichen wie bei Francis Bacon und Hobbes bedeutet doch eine beachtliche Reduction der Intentio. I n dem Bestreben, die Situation juristisch zu bewältigen, insofern historisch zu denken und nicht nach irgendwelchen situationsabgewandten insofern abstrakten Tugendprinzipien, verankert man die teleologische A u f fassung der geschichtlichen Lage nicht logonom, sondern autonom in dem, was man als Resultat menschlicher Bedürfnisse zu erfassen glaubt. 2t
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V o m Gewissen, das die Vernunft, das Logonome zu erfühlen und dann zu besitzen glaubte, ist man schließlich bei einem factum brutum angelangt, das jenes einfach „setzt", dem Heteronomen, das gleichsam durch einen analytischen Satz zum Heterologen werden soll. „Lex jubeàt, non discutât." So zitiert Hobbes Seneca und meint dabei nicht den Dekalog der Bibel, auch nicht eine lex als Kundgabe eines „höheren" Universals, als das „ganz andere" der volonté générale, wenn auch ihre sichtbaren Entstehungsgründe i m K o l l e k t i v der volontés des tous läge. I n der Tat ist keine gegebene Richtschnur denkbar, keine heteronome oder autonome, ebensowenig eine „Entscheidung" eines Menschen, einer Mehrheit solcher, auch nicht des „Gewissens", worin nicht qua Factum, wenn auch als einem maßgeblichen für das Heterologe: „Recht", als Faktum das „stat pro ratione voluntas" steckte. Das voluntative Moment an jeder Behauptung, freilich damit auch das, was Goethe als die am Anfang stehende „ T a t " begrüßte. Es ist das, was w o h l Napoleon in dem Ausspruch meinte: gut sein könne doch nur der Mächtige. D a m i t eine Richtschnur richtig sein kann, muß es sie doch geben. Das Faktum trägt so den Erdenrest an sich, der dem Idealisten ein Ärgernis, aber dem Dogmatiker den empirischen Rechtsgrund des Rechts bedeutet, ohne den er selbst als Interpret auch nicht da wäre. Sind solcher Bedeutung des Faktums gegenüber, worin sich das „Dezisionistische" gründet, alle jene oben behandelten Modalitätsstufen, Gradunterschiede, die jenes Faktum zurechtzustellen suchen, indem sie die nominatio auctoris von einem Höheren aus versuchen, noch so wichtig? Schwingt nicht bereits bei dem Wort „Entscheidung", zu dér der Mensch doch überall, besonders i m Religiösen, aufgerufen w i r d , notwendig die tragische Bedeutung mit, daß die Entscheidung dem Leben gegenüber ebenso feststellt wie abtrennt? Bei dem englischen Rechtshistoriker Haie aus dem gleichen Jahrhundert wie dem der Genannten gibt es einen Gedanken, w o r i n er auf eine Verständigung der „weisen" Menschen verweist, damit alle Bestimmtes über ihre Pflichten wüßten. Er entspricht völlig einem Gedanken Goethes über die Moral, bei der ja auch die besten einer Zeit übereingekommen seien, das beste für das beste zu halten 1 9 . Den Gedanken w i r d so i n ihrem Fluge bei beiden ein H a l t zugerufen, der philosophischen Spekulation ein Ende gesetzt und zwar dadurch, daß man auf eine soziologische Tatsache verweist. Die mehr und mehr erstrebte Kontinuität, Stetigkeit, auch hier eine Analogie zu der Feldtheorie, welche in der Physik die einzelnen 19
Bei Simmel in seinem Goethebuch zitiert.
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Energiezustände erklärt, ergab schließlich auch i m englischen Recht ein zur Orientierung der „Fälle" genügend fundiertes Koordinatensystem. Es macht nichts aus, daß solche Gedanken damals denen fern lagen, die wie Bentham, an diesem Erfolg wesentliche Verdienste hatten. Jedenfalls ist auch hier eine dogmatische Basis gewonnen worden, die den am Recht Interesierten nicht weniger dient als unsere. M a n hat jedoch auch die Komplexheit dieses stabilen Zustands betont, den Nutzen, den er „divitiae pauperibus, divitiis securitas" erteilt 2 0 . Jedenfalls begünstigt sie die wendige Anpassung jener Dogmatik an die sich immer stürmischer entwickelnden Formen des „industriellen Zeitalters". Die Stabilität als backround für die bewegliche Judicatur, gewonnen aus so verschiedenartigen Momenten wie: der Fülle von Entscheidungen, in mannigfacher Weise publiziert, dem K a m p f nicht nur der Parteien, sondern auch der Instanzen, der Abneigung gegen das willküryliche Element, das überall zutage t r i t t , wo man Emotionales, als selbstverständlich Empfundenes bewußt fixiert und damit-omnis definitio est negatio — einengt, sie muß mit all dem zusammen als die positive Rechtsquelle für die englische Rechtsdogmatik angesehen werden, die i m Vergleich zu unserer — der üblichen Auffassung nach — doch ganz anders aussieht. M a n könnte sagen, daß sie reicher flösse. Daß unser „gesetztes objektives Recht" dagegen so etwas wie eine stark einengende „Fassung" des Quells darstelle. Daß es auch i m Angelsächsischen der unserigen analoge Rechtsauffassungen gibt, beweist z . B . der Gründer der sog. analytischen Jurisprudenz Austin, dessen Imperativentheorie besonders durch die Vermittlung der ungarischen Rechtsschule Somlos auch unsere Auffassungen über die „soziologische Unterlage" des Rechts beeinflußt hat. Die beim Recht unentbehrliche Machtbasis mit ihren Bekundungen dieser oder jener A r t , soziologisch ein unausschöpfbar kompliziertes Zusammenspiel von „Interdependenzen", interessiert schließlich den Juristen doch nur insoweit, als er zunächst einmal (also abgesehen von der eine teleologische Beurteilung fordernden Gesamtsituation) als positiven Rechtsgrund das aus ihr feststellen muß, was sich eben soziologisch in „heteronome Richtschnuren" transformieren 20
Dieses Material findet der geisteswissenschaftlich Interessierte vor allem in der schon zitierten Schrift Radbruchs, wo auch die vorausgehende Literatur über angelsächsisches Rechtswesen. Hier durfte es nur Anlaß zu rechtsphilosophischen Ideen über Rechtswissenschaft sein. Der dabei zu Tag tretende verschiedenartige Charakter der empirischen Rechtsquelle sollte der Anlaß dafür sein, auch bei uns die althergebrachte, durch kein historisches Ereignis erschütterte Lehre darüber zu überprüfen. 21 *
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läßt, von denen die Imperative freilidi nur einen Teil ausmachen. Die angelsächsische Auffassung über die positive Rechtsquelle, die für sie, wie w i r sahen, viel komplizierter aussieht, hat uns aber angeregt, bereits in dieser „soziologischen Unterlage" auf „sprechendes Verhalten" i m weitesten Sinne hinzuweisen, auf all das, worin sich audi neben den uns vertrauten „Rechtsquellen" die Machtsituation verstehbar bekundet. Bemerkenswert, daß auch i m englischen Recht das Interesse für Unterschiede i n der soziologischen Basis des Rechts erwacht ist. So wenn Sir Henry Sumner Maine den Unterschied von „Rechtszeitaltern" auf die verschiedene Funktion von „status" und „contractus" zu gründen sucht. M a n sieht, der später von Tönnies avisierte Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft hatte auch hier schon in parallelen Erscheinungen die Aufmerksamkeit erregt. I m Laufe der Zeit hat sich gerade die Soziologie sowohl nach der „begrifflichen" Seite als auch nach der empirischen hin gewaltig entwickelt. „Status" ist ein Gebilde auf einem reichen Feld entsprechender wesensgleicher. „Contractus" ist i m Zusammenspiel von Akten ein Instrument des sozialen Lebens, Beziehungsformen in Bewegung zu bringen. Beide w i r d es überall geben, aber die Rolle, die sie in einer historischen Situation spielen, ihre Bedeutung für den jeweiligen Rechtszustand, ist natürlich historisch bedingt und kann das eine oder andere soziologische Moment als besonders geeignet für eine Charakterisierung der Rechtsauffassungen erscheinen lassen. Geschichts- und sozialphilosophische Darstellungen wie die von Alfred Weber, Oswald Spengler, Breysig, Toynbee, Danilewski über „ K u l t u r schicksale der Menschheit" haben die rechtlichen Erscheinungen stets einbezogen und es hat, jeweils nach dem Verfasser besonders vordringlich Erscheinendem, auch ganz neue geisteswissenschaftliche Perspektiven, so etwa bei Tuka und Rüstow, gegeben. M i t der Neigung zum Soziologischen ist, wie w i r wissen, die Gefahr eines Soziologismus der Rechtsdogmatik verbunden. Der Ausspruch des Oliver Wendeil Holmes (USA) „the prophecies of what the courts w i l l do in fact, and nother more pretentions are what I mean by the l a w " zeigen das deutlich. Die fatidiken Einsichten beziehen sich auf die zukünftigen soziologischen Vorgänge, zu denen ja auch das Gebaren aller am Recht beteiligten gehören. Das rechtsdogmatische dagegen w i l l das Recht als das belangv o l l Auferlegte feststellen. Das ist ganz etwas anderes. D a nur ein extremer Determinist annehmen kann, die zukünftige Verhaltensweise der Richter zu wissen, wäre es logisch, wenn er sich ausschaltete, indem er sich in ein allschauendes Weltauge verwandelte. Aber schon sobald er
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spricht, nimmt er Stellung, sucht zu beeinflussen. Das kann natürlich auch in einem quietistischen Sinne geschehen. Auch wer die Dinge ihren Gang gehen läßt, benimmt sich relevant. Diejenigen jedoch, für die der Rechtsdogmatiker forscht, fragen diesen aber gerade, was sie rechtlich tun sollten. N u r die Tatsache, daß die wirkliche Pflicht, das geforderte Verhalten schließlich auch von wirklichen Menschen geschehen soll, ergibt, daß i m Ergebnis der gesollte „nächste Schritt" auch als Rechtspflicht nur ein Differentiale über der Tatsächlichkeit sein kann und nicht ein hoch über ihr Schwebendes, das sich nicht „konkret" realisieren läßt. A u f diese Problematik haben w i r schon mehrfach hingewiesen, auch auf die entsprechenden Tendenzen in unserer Rechtswissenschaft. Aber damit fällt doch nicht das Faktische, worin das zukünftig Eintretende: die Entscheidungen bei Holmes gehören mit dem Normativen zusammen, nicht das Autonome, Heteronome mit dem Autologen, Heterologen. N u r wenn man den Begriff der Richtschnur nicht ohne seinen Bezug: das Richtbare sieht, ist der grobe Dualismus vermieden, den offenbar der Angelsachse vermeiden w i l l , wenn er einen Monismus: ein absolutes empirisches Feld behauptet. Bei der Spezifizierung der Richtschnuren, der regulativen Konstituierung der Kontingenz bleiben Richtschnur und Richtbares als Momente ebensosehr voneinander geschieden wie als einander fordernde Korrelative aufeinander bezogen. N u r so ist das Rechtsaktuelle als Terminus ad quem der Dogmatik, das dem wirklichen Menschen ebensosehr zugemutete wie zumutbar, weil er ihm real genug tun kann. Die Betrachtung der so verschiedenartigen Auffassung über die e i n e „Quelle des Rechts", die vom Empirischen her dem Dogmatiker zuströmt, bei den Angelsachsen und uns, hat gezeigt, daß das Anschauungsmaterial, das die Rechtsvergleichung vorlegt, auch die, systematisch gesehen, von solchem unabhängige philosophische Bemühung um die Rechtswissenschaft davor bewahren kann, die eine Hypothesis zu eng zu fassen, den Begriff jener Quelle zu eng. Es würde jetzt i m Unterschied zur philosophischen Betrachtung eine geisteswissenschaftliche die Aufgabe haben, an H a n d des ungeheuren Materials aus der Geschichte sämtlicher Rechtswissenschaften Einsichten zu erzielen, wie w i r sie etwa i n der Nachfolge Diltheys bei Spranger, Rothacker und anderen finden. Die Geschichte der rechtsdogmatischen Lehrauffassung vom Altertum her über das Mittelalter bis zu den heutigen Formen! Neben der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft von ihren Anfängen an, der griechischen Rechtsdenker, der römischen Rechtslehrer bietet sich überall
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ein riesiger Anschauungsstoff ! Französische Rechtswissenschaft, nordische baltische, altrussisch-slawische, sowjetische, islamische, neutürkische, indische, chinesische usw. Nach dem Programm von Kohler und Berolzheimer sollte das Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie ein Sammelarchiv für alles das werden. Kohler fühlte sich bei diesem Interesse als Hegelianer. D a er aber das logische Vehikel der Hegeischen Systemidee ablehnte, die Dialektik, wäre bei der Materialverarbeitung keine entsprechend begrifflich dialektische „Aufhebung" des empirischen Stoffs an Wissenschaftsgeschichte in den philosophischen Bereich herausgekommen. Günstigstenfalls eine Beschreibung und Vergleichung der Daten, die, wie man weiß, die Kraft eines Einzelnen überstiegen hatte, also Sache von Akademiekommissionen ist 2 1 .
21 Zur weiteren Orientierung über das angelsächsische Recht nennen wir außer den oft zitierten Arbeiten Radbruchs und Wilhelm Dibelius „England" 1923: Goodhart Essays in jurisprudence and the common law 1931, Precedents in English and Continental law 1934, Ljewellyn Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1939, De Boor, Die Methode des angelsächsischen Rechts und die deutsche Rechtsreform 1934. Hierin vor allem ein S. 16 dargestellter Fall, wo es um das Wesen des Präjudiziellen geht, besonders instruktiv für den Streit um Identität und Verschiedenheit. M 9Allster (or Donoghue), v. Stevenson, Modern theories of law 1933, Friedmann Legal theory 1944, Angele Auburtin, Amerikanische Rechtsauffassung und die neuen amerikanischen Theorien, Ztschr. f. ausländ, öffentliches Recht u. Völkerrecht, Bd. 3 (1932), S. 529 ff., Erdsiek, Deutsche Rechtszeitschrift, Oktober 1946.
§ 18 Engere wissenssoziologische Betrachtung: Die juristische Dogmatik als Höchstform der Ideologie Nichts scheint aus psychologischen Gründen geeigneter zu sein, den Menschen bescheidener zu machen als wenn er seine Abhängigkeit gerade in dem einsieht, worauf er sich als Mensch gern etwas einbildet, i m „Geistigen" und dazu von dem, worüber er sich erhaben fühlen möchte: dem Kollektivgeist. Der Stolz des eigenständigen Denkers als den sich der Philosoph gern empfand, muß schwinden, wenn er erkennt, wie selbst seine bedeutendsten Vorgänger dem „Geist der Zeit" verhaftet waren. Ob er bei solcher Erkenntnis dann freilich gleich das zu lieben beginnen wird, dessen Fesseln er fühlt, ist eben so sehr eine besondere Frage, wie die, in welcher Weise er überhaupt die Selbständigkeit gewinnen könnte, die seine ζ. B. auf Wahrheit gerichtete Absicht vorgibt. Während sich der Mensch bei den Bemühungen um Systematisches, i m grundsätzlich dem Gewicht der Gedanken folgenden Sinne frei i n der Hinsicht fühlt, als er seine Beziehung zum Logonomen seine Determination allein durch den Logos zu empfinden glaubt, enthüllen die soziologischen und sonstigen Abhängigkeiten, die er bei der Anwendung des „Satzes vom Grunde" in den realen Bedingtheiten unausschöpfbarer A r t erkennt, seine „Bestimmung", Determination von dem, was ihm „ z u tragen peinlich ist". Naheliegend, daß er nun den Kurzschluß zieht, das in solcher Perspektive Gewonnene, unter solchen Bedingungen Vorgelegte sei nicht unter dem seiner eigentümlichen Gebietskategorie zugeordneten Kriterium als richtig zu würdigen, sondern daß er es sogleich als unrichtig, zum mindesten dogmatisch auffaßt: So wie jemand, die Zweifelhaftigkeit seiner Herkunft erkennend, nun nichts mehr von seinen Bestrebungen halten wolle. Weil die Ahnenprobe nicht gelingt. — Die Richtigkeit vorgelegter Theorien nach dem criterium veritatis und darüber hinaus die Richtigkeit seines theotischen Verhaltens „angebrachtermaßen" in einer bestimmten Situation stehen dabei ganz dahin. U m hier die soziologische Wesensart des „ U n ternehmens" dogmatische Rechtswissenschaft vom philosophischen Standpunkt aus zu betrachten, ist zu beachten, daß es sich dabei voraussetzungsgemäß nur um die gesellschaftliche Erscheinung handelt. Ge-
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rade sie sollte, ohne geschichtsphilosophische Bewertung etwa als besonderes „Kulturschicksal", allein m i t dem Blick des von der Philosophie her in kritischer Zucht gehaltenen soziologischen Empirikers betrachtet werden. Soziologischer Gegenstand an der Rechtsdogmatik ist nun die Art, wie sie mit zeitbedingter wissenschaftlicher A m b i t i o n betrieben wird. Insofern konkurrierend m i t den Unternehmungen anderer „Kollegen", mit denen man sich in akademischer Absicht verbunden fühlt, und von denen man ebenso Anregungen und K r i t i k empfängt wie man selbst ihnen auch bietet. Soziologisch ist ferner das Material, was dann als Ergebnis solchen wissenssoziologischen Unterfangens vorgelegt w i r d : das Resultat einer wiederum soziologisch bedingten A r t , Thesen aufzustellen, zu rezeptieren, zu ignorieren, zu erörtern, zu zitieren usw. Redotsdogmatische Tradition! Welche Rolle bedeuteten früher doch Thesen, als man sie formell an einer ausgezeichneten Stelle anschlagen und die Gegner gleichen akademischen Grades herausfordern konnte, zum öffentlichen Wettstreit mit eristischer Dialektik und dagegen der heutige Zustand, der von der niemals veröffentlichten Dissertation zur Unverbindlichkeit der Kongresse (nur auf gewissen Gebieten nicht!) führt. So etwas ist bereits i m internen Bereich der „Zünftigen" eine bemerkenswerte soziologische Tatsache. Dazu die „ W i r k u n g " , die A r t der „Ausstrahlung", der Emanation: eine ganze Skala wiederum soziologischer Geltung eröffnet sich, reichend vom jungen Studenten mit seinem „Abschluß" zu den Praktikern in jeder juristischen Funktion. Schließlich das, was von den rechtsdogmatisdien Ansichten in den Laienkreis „durchsickert" und dort Widerstand, Beifall oder MißVerständnis bewirkt. Das sind alles Tatsachen, für Tests geeignet, worüber sich nicht spekulieren läßt. Tatsachen, die aber erst zusammen die soziologische Realität des rechtsdogmatischen Resultats bedeuten. Dogmen und Rechtsbewußtsein! — Rezeptionen anderer Ansichten, die man freiw i l l i g glaubt aufzunehmen oder die einem aufgezwungen, zum mindesten suggeriert werden. Die Wirkungen der angelsächsischen Besetzung i m Westen ist dabei ebenso ein Stoff wie die der sowjetischen in der Ostzone. So oder so zustande gekommene „Weltanschauungen" oder „Gesinnungen" wirken sich eben, insofern abstrakt wie juristisch ein Wechsel, aus, als die Vorgänge bei der Entstehung, ob später als richtig oder unrichtig beurteilt, bei der Feststellung der erreichten Tatsachen keine alleinige Rolle spielen. Obgleich bei diesen Feststellungen wie bei jedem Tatsachenbefund und dem Versuch, ihn aus Ursachen zu
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erklären, Aprioritäten mitwirken müssen, handelt es sich doch bei dem Gegenstand nicht um soziologische Aprioritäten, sondern um wissenssoziologische Redilstatsacben. Je nach der Breite des Ansatzes werden — auch dies eine wissenssoziologische Tatsache — die Erfassungsversuche mannigfache Bedingtheiten zeigen: M a n kennt zur Genüge die idealistischen Versuche, allein die Abhängigkeit vom „Geist" zu sehen, der dabei in irgendeiner Bedeutung verstanden w i r d : von der „Idee", dem „absoluten Geist" dialektisch bewegt oder wenigstens — eine rein bürgerlich-optimistische Anschauung — vom Geist des Menschen i n reiner Hingabe an die Aufgabe der Erfassung. M a n kennt ebenso die materialistischen: von den Wirtschaftsgesetzen aus die wissenschaftlichen Ergebnisse als Moräne oder aufs Trockene am Strand geworfene Quallen anzusehen. Oder umgekehrt nur als juristisches Produkt, da es ja immer schon Rechtsformen gab, die also auch das Wissenssoziologische i m dogmatischen Bereich bedingten. Unter dem Blick der Historie insgesamt als „kultursoziologischer" Vorgang, damit leicht auch sogleich überoder unterbewertet. Bemerkenswert die Reihe: Die soziologische Bemühung um die Erfassung der soziologischen Bemühungen, genannt „Rechtsdogmatik", als Faktum, die wiederum ja i n ihrem Gegenstand soziologische Tatsachen einbeziehen muß, sie ist natürlich auch nur ein soziologisch bedingtes Faktum. Woraus jedoch keine voreiligen skeptischen Folgerungen gezogen werden dürfen. Die „Gruppendynamik" würde zu all dem ihre Gesichtspunkte und Erfahrungen beisteuern 1 . Alle ihre „plures" kommen ja hier vor. Sowohl Klasse (Juristen als Berufsklasse) wie Verband (Kommission i m Hochschulverband, Juristenvereine usw.) die Menge aller am Recht Interessierten (bis zum „Kriminalstudenten", Winkeladvokaten, von einer neuen dogmatischen Theorie Betroffenen, (etwa als Mieter), die Masse der auf einem Gebiet dem Recht Unterworfenen, also auch den Einflüssen dogmatischer Lehre! Bei jeder neuen Theorie haben w i r die Chance der Ignorierung durch die Vertreter der „herrschenden Meinung" (ein wichtiger wissenssoziologischer Begriff, vergleichbar dem vielerörterten der „öffentlichen Meinung", nur viel präziser zu fassen). Auch die Rolle von Gruppen selbst einer kleinen, die sich zur Überwindung unbequemer Lehren zusammenfindet, besonders aber der „Schule" eines Dozenten. Die A r t der Besetzung der Lehrstühle: durch Schüler oder „Outsider", „Anomien", „Zitierkartelle" usw. 1
Hofstätter, Gruppendynamik, S. 169, 171.
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Auch hier gibt es die verschiedenartigen Brückenköpfe zu entdedten, von denen die „Macheïden" (Lasker) losgelassen werden. Alles, was auf diesem Gebiet der naiv Zugehörige oder naiv Unbeteiligte als selbstverständlich annimmt, ist es als soziologisches Moment an der Kontintingenz nicht. Weder das, was man offiziell vertritt, wogegen kein Einzelner ankommt, noch was es da bei einem Schürfen nach verstechten, verdrängten, nie erkannten Motiven zu entdecken gäbe. Alles das wieder nur als Tatsache und nicht zu Lob oder Tadel. Bereits die W a h l des Themas, die A r t , wie man dazu kommt, ob es gestellt wird, spontan ergriffen, „ i n der Luft liegt", ist soziologisch bemerkenswert. M a n denke an den Streit um Correal- und Solidarobligationen, überhaupt um die merkwürdige Diskrepanz zwischen der Intensität, mit der man etwas „Ausgefallenes" behandelt — gewiß in einer bestimmten Gruppe als sehr „interessant" gewertet — und dem, was rechtssoziologisch aktuell wäre: Wie wichtig jeweilige „Meinungsforschung" etwa über die gerade vorhandene Regierungsform, wenn organisierte U m stürzler auf der Straße marschieren. Die berühmte Weltfremdheit in toto schon beim T y p , nicht in einer dogmatischen Lehre, die ja entsprechend sein dürfte. Überhaupt das „ n o l i me tangere", die „magischen" Kreise zur Abwehr! Oder auch umgekehrt erhöhtes Bedürfnis nach Publizität, ja nach journalistischer Auswertung „Popularisierungstendenzen". Dann die Form: Überschriften, Kapitel-Paragraphenwechsel, Stil, Lettern. Der Einband: trist, lustlos oder lochend mit Bildchen verziert, niedlich, etwa in einer „Reihe". Das Bedürfnis nach bestimmten Zitaten, Belegen ist besonders aufschlußreich. M a n sehe sich Zitate i n Grotius „de jure belli ac pacis" an: die Belege aus der Bibel, aus der Antike, v o m Humanismus in Erinnerung und zur Mode gebracht, und vergleiche diese Belege und Nothelfer im Geistigen m i t dem, was man heute anführt. M a n beobachte auch den Unterschied des Zitatenwesens in der Geisteswissenschaft m i t dem etwa einer mathematischen Abhandlung. Auch die Rolle des Generationenwechsels, ja der Dahingegangenen, die also nicht mehr i m akademischen Bereich mächtig sind, ist eines Studiums wert! Lexica, die A r t , wie noch nach dem H i n gang von Schulhäuptern die Richtung bei Diskussionen in Erscheinung t r i t t ! Oft wie Spinoza nach einem W o r t Jakobis. Interessant auch die A r t zu zitieren dort, wo man keine gleiche Grundauffassung, keine gemeinsame Basis voraussetzen darf, wo also schon das Philosophische entscheidend hineinspielt. So daß man sagen kann, der Streit werde nur im philosophischen Feld entschieden. Eklektizismus i m Zitieren dort, wo
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jedes Z i t a t seinen Voraussetzungen nach, eine andere Bedeutung hat, wo also eine wörtliche Zustimmung oder Ablehnung gar nicht isoliert i n ihrem Gehalt bewertet werden kann. M a n müßte denn vorher die Grundthesen des Zitierten diskutieren, was jedes Zitat zu einem Buch anschwellen ließe. So gesehen, erweisen sich oft grundsätzliche Richtungen ihrer Intentio nach als gar nicht so gegensätzlich, wie sie auf solche wirken, die von bedingteren Prämissen ausgehen als die sind, warum es bei dem Gegensatz der Richtungen geht. Wie lustig doch ein Z i t a t : „so auch Carl Fischer", „anders Carlo Fischer"! N u r wo die Streitsituation ganz klar abgesteckt wäre, der status causae et controversiae, nach Streitnormen, etwa einer sie et non Methode unterworfen, könnte man so weiter kommen. Wobei von den sog. persönlichen Kategorien noch gar keine Rede wäre. Der Geisteslage der soziologischen Verfassung, die ein Z i t a t begreiflich macht. Unter den mannigfachen Zusammenhängen, vom Logischen bis ins Individuelle, gäbe es hier Entdeckungen zu machen, die zu einer Revision der wissenschaftlichen Diskussion und Zitation führen könnten. Das für den Philosophen wichtigste Thema scheint hierbei das vom „ N u t z e n und Nachteil des Eklektikers" für die K u l t u r , Situation oder Ähnliches zu sein. Schopenhauer spricht schon von den Gelehrten, die aus drei Büchern ein viertes machten. Erst später hat dann Nietzsche, der ja i n vielem Schopenhauers Schüler blieb, dieses wissenssoziologische Problem wieder aufgegriffen: von der Bedeutung dessen, der selbst denkt und der des Anderen, der nur darstellt, zusammenfaßt, tradiert. Soziologisch gesehen, muß es natürlich beide geben und es geht dabei um das Gleichgewicht, wenn man eine Situation hinsichtlich ihrer K u l tur beurteilt, um die „Einheit des Stils", die zweifellos durch jene Eklektiker am besten gewahrt w i r d . Der „Begriff" der K u l t u r ist aber nicht identisch m i t ihrer „Idee"; auch können w i r sie heute nicht mehr von Zivilisation und dem sonstigen sozialen Leben einer Zeit trennen. W i r wagen auch nicht mehr nach ihr wie einer handfesten Ganzheit zu greifen. Für die philosophische Betrachtung der Jurisprudenz aber bietet sich hier ein soziologisches Studienobjekt i n dem Eklektiker kraft Amtes, dem Juristen, bei dem ja die Abhängigkeit zu seinen Pflichten gehört. Sowohl die deutsche Lehre vom Gewohnheitsrecht wie die angelsächsische, von der sich durch die Präjudizien hindurchziehenden höheren Rechtsweisheit zeigen, daß sich hier in einem ganzen Berufsstand Strukturierungen bilden, die bei der Bedeutung der Abhängigkeit der anderen Schichten von diesem Stand soziologisch beachtlich ist. M a n
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kann die Frage auch so formulieren: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn der Stand der rechtsdogmatisch Gebildeten prävaliert? Die Frage war früher ebenso für den Militärstand zu stellen. Soziologen wie M a x Weber haben sie gekannt. Die „Rechtssoziologie" ist heute ein Fach, worüber man schreibt, dessen Bedeutung jedoch bei weitem nicht erkannt ist. Was m i t der eben betonten Struktur der Juristen zusammenhängt, die als Inhaber von Lehrstühlen ja das Prestige bestimmen. Der so hoch geschätzte „Professor" kann heute noch kein solcher der Rechtssoziologie sein, von der Rechtsphilosophie als Hauptfach ganz abgesehen! Dabei „rückt das Leben" ja dem Einzelnen „nur dadurch auf den Pelz", daß juristische Lehren so oder so „gelten", „ w i r k e n " . Fortbestehen, Wandel und U n tergang der Staaten vollzieht sich faktisch doch nur vermittels Fakten und das sind hier die Niederschläge des Rechtsdogmatischen in toto in Bewußtsein und Verhalten der Menschen2. M a n kann wie bei allen historisch greifbaren Geschehnissen auch die Begriffe und Theorien über typische Systeme wieder typisieren. So hat Gurwitsch genetische, systematische, methodologische und différentielle Rechtssoziologie unterschieden. A u f Grund einer solchen „reinen" oder theoretischen Rechtssoziologie könne man nun jeden örtlich, zeitlich und gesellschaftlich abgrenzbaren Rechtszustand kritisch untersuchen und danach die Mittel, Möglichkeiten, Chancen zu Interventionen, die jeweiligen Wirkungen auf das soziale Geschehen als Aufgabe einer praktischen oder angewandten Rechtssoziologie bezeichnen3. So bestimmt Hirsch das rechtsdogmatische Denken, das Juristische als die, berufsmäßig m i t dem Recht befaßten Rechtspraktikern und Theoretikern durch Schulung und Gewohnheit selbstverständlich gewordene Eigentümlichkeit, die alogischen Vorgänge, Ereignisse, Beziehungen, Geschäfte und Handlungen des Soziallebens i m logischen Begriffsnetz des dogmatischen Rechtssystems denkend einzufangen. Der Frage „ w i e " galt ja unser besonderes Interesse, soweit sie philosophisch und nicht bereits psychologisch zu lösen war. D o r t w i r d auch als Ursache der sog. „Welt- und Lebens2
Ε. E. Hirsch, Artikel Rechtssoziologie im Wörterbuch der Soziologie (Bernsdorf, Bülow). 3 Der Begriff „rein" bei Gurwitsch entspricht nicht unserem des Apriorischen, sondern dem „Allgemeinen" der „Allgem. Rechtslehre". In diesem Sinne ist auch der Unterschied von Makro- und Mikrosoziologie des Rechts zu verstehen. Zu obigem M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Aufl., S. 387 ff.; J. Kraft, Handwörterbuch der Soziologie, 1931; Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947.
Juristische Dogmatik als Höchstform säkularer Ideologie
fremdheit des Juristen" eine die Realitäten des Soziallebens nicht berücksichtigende Überspannung dieser Denkungsart genannt, die in der Auffassung gipfele, das rechtlich nicht existieren was juristisch nicht gedacht werden könne. H i e r w i r d auf das Wesentliche in der Beziehung der beiden Sphären: der Rechtsdogmatischen und der Rechtssoziologischen „soziologisch" hingewiesen. Genauer: auf das Verhältnis einer wissenssoziologischen zur übergeordneten rechtssoziologischen schlechthin. Aber da das positive Recht i m Sinne der juristischen Dogmatik ihren Gegenstand, ihre Aufgabe bedeutet und das jeweils darüber Gelehrte und Vorgelegte nur Behauptungen sind, jenes Gegenständliche richtig erfaßt zu haben, dazu jene Aufgabe das mehrfach Teleologische im terminus ad quem enthält, so berührt jene Behauptung, wenn sie auch für die Beurteilung der soziologischen Situation der Dogmatik charakteristisch ist, das philosophische Problem der Methode, des Gegenstands, der Möglichkeit der rechtsdogmatischen Begriffs- und Theorienbildungen nicht. M a n steckte es denn sogleich ins Rechtssoziologische hinein! Ja auch die Beziehung der als soziale Erscheinungen wirklichen Disziplinen der Philosophie — um sich nicht gleich auf den Unterschied von Philosophie und Wissenschaft festzulegen — einer Zeit zu den Einzelwissenschaften, wie es die dogmatische Rechtswissenschaft ist, insbesondere der Rechtsphilosophie als ein mehr oder weniger als Bindestrichphilosophie betriebenes Fach, ist ein wissenssoziologisches Thema. Wie kommt es ζ. B., daß die Rechtswissenschaft in einer Zeit so unphilosophisch ist, während zugleich eine dem Anschein nach weniger problematische Wissenschaft sich immer mehr der philosophischen Grundlagen bewußt w i r d und dadurch auch auf die Philosophie einwirkt? Weshalb ignoriert man die Aprioritäten, ohne doch dabei den „Tatsachensinn" zu gewinnen, dessen Fehlen die obige Feststellung Hirschs rügt? Weshalb ignoriert man die philosophische Anthropologie, wo doch i m juristischen System der Begriff des Menschen als der des Geschäfts- und Deliktfähigen eine entscheidende Rolle spielt? Trotz K a n t in seiner kritischen Periode? Weshalb schließt sich der positive Jurist entweder herrschenden philosophischen Richtungen an oder denkt alte aus? wo doch die verschiedenartige Funktion des Juristen, die ja auch der junge Jurist auf seinen verschiedenen Ausbildungsstationen kennen lernte, die unmittelbar auf ihn eindringende „ I r r a t i o n a l i t ä t " der Lebenswirklichkeit die Grenzen des überlieferten rechtsdogmatischen Horizontes jedenfalls emotional bemerkbar machen? Weshalb liebt man es trotzdem, sich bei positivrechtlichen Forschungen m i t philosophischen Zitaten der verschiedenartigsten Denker zu schmücken, wie
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Recht u n d Rechtswissenschaft
mit Schnörkeln und Arabesken? Weshalb erkennt man nicht, wie es besonders bei K a n t und später noch bei Cohen, Schuppe der Fall war, in der juristischen Problematik ein unentbehrliches Anschauungsmaterial für das Direktive, wie es die Philosophien des Seinsbereichs i n der Mathematik, Mikrophysik sehen? W o bleibt die „wechselseitige Erhellung? Besonders wichtig scheint die Beziehung von „Vorurteil" y „Ideologie 4" zur juristischen Dogmatik. Erstere beiden Begriffe sind durchaus noch nicht so geklärt, daß man die Beziehung einfach feststellen könnte. Zunächst ist folgendes zu sagen: „Vorurteile" kann zunächst nur ein U r t e i l bedeuten, dessen Rechtsgründe ungeprüft sind! M a n braucht dabei durchaus nicht sogleich an ein falsches U r t e i l zu denken, sondern an Hingenommenes, an Dogma, Meinung, wie sie Piaton dem sichern Wissen gegenüberstellte. Es scheint da nun mancherlei Formen zu geben, die auch für das Soziale Bedeutung haben. W i r wissen, daß es im ganzen empirischen Bereich die bekannten unendlichen Regresse gibt, Reihen von Voraussetzungen, die sich gedanklich nicht vollends abschreiten lassen. Wenn w i r von Kontinuität und den Unendlichkeitsproblemen i m Apriorischen, etwa Mathematischen, absehen, hätten w i r also hier theoretische Notwendigkeiten, „Vorurteile" gelten zu lassen. Aber bestimmt nur so, weil sie aus logischen Gründen unüberwindlich sind. Andere wie den alten Begriff der Kraft hat man als überflüssiges und für den Fortgang der Forschung schädliches Vorurteil beseitigt. — Es gibt aber auch solche i m praktischen Bereich. Erinnern wie uns an Meyrinks Beispiel vom Tausendfüßler, der in dem Augenblick, als er wissen w i l l , welchen Fuß er zuerst zieht, nicht mehr voran kann. I m Künstlerischen taucht dieses uralte Problem i n der Beziehung des Grads der geistigen Einsicht zu der schöpferischen Tätigkeit auf! Bei Leonardo, Dürer, A d o l f Hildebrand konnte das Bemühen um echte Urteile über den Sinn ihres Schaffens nichts schaden, aber bei manchen anderen war das der Fall. Ja w i r könnten selbst überhaupt nicht existieren, wenn w i r nicht vieles rein i m körperlichen Bereich i m Dunkeln ließen. Sollte diese Problematik der „ I d o l e " , die Bacon v. Verula zuerst gründlicher behandelte, nicht auch im Soziologischen bestehen? Erwähnten w i r sie nicht schon bei dem Vorurteil zugunsten des Wissen4
Uber „Das Wesen der Ideologie" und die Beziehung zu Anticipation, Perspektive, Vorurteil, Ressentiment, Selbstverständlichkeit, sich übernehmende Denkansprüche hat Verf. soeben eine Abhandlung beendet.
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schaftlichen, Akademischen bei der Rechtsdogmatik? Wenn w i r hier von persönlichen absehen, die es natürlich bei jedem wenigstens i m Verborgenen gibt, so sind Ideologien i m Sozialen, „Welt-, Sozial-, Rechtsoder ähnliche sog. Anschauungen", i n Wirklichkeit ein mehr oder weniger geordnetes Gefüge, Syntagma von sehr grundsätzlich gemeinten Vorurteilen, von denen man annimmt, daß sie einen starken assoziativen Reiz, besonders aufs Emotionale ausüben. U m soziologische Geltung zu erreichen, bedient man sich ihrer, so wie gewisse Gruppen, Verbände i m religiösen Bereich, wenn es auf Festigung, Apologie, Werbung usw. ankommt. Sie bedeuten hier so etwas wie den Sinn einer Verfassung, Grundsätze für „Grundrechte". Indem sie so sozial konstituieren, helfen, benötigen sie Organe, die das Allgemeine, was jede derartige Ideologie, logisch gesehen: negativ, psychologisch gesehen: positiv auszeichnet, „auslegen", spezifizieren, demgemäß die Gruppenangehörigen belehren, „schulen", kontrollieren, exekutieren und entsprechend Sanktionen verhängen. Wenn w i r erlebten, wie sich „Weltanschauungsparteien" zu totalitären Organisationen festigten, wie sie dabei überall, trotz aller Bemühungen, ζ. B. durch Personalunion, Kollisionen zu vermeiden, m i t dem, Staat i n Konkurrenz traten, so liegt die Frage nah, ob etwa die dogmatische Rechtswissenschaft
dem jeweiligen
Staat
gegenüber eine ähnliche Funktion habe. Das hieße: Arbeitet der Rechtsdogmatiker soziologisch gesehen an einer Ideologie? Wobei der Unterschied zu den anderen Ideologiedogmatikern nur i m verschiedenen soziologischen Fundament: der „soziologischen Unterlage" läge, deren heteronome Richtschnuren zum Unterschied von den anderen, auch von den stärksten Parteiorganisationen, beim Recht die höchste soziologische Geltungschance hätten? Betrachten w i r zunächst noch einmal das Vorurteil
bei „Plures".
H i e r hat die „Gruppendynamik" grade in der K r i t i k an dem üblichen Gerede von der Vermassung doch genug Momente, i n der „Geltung" von Uberzeugungen, Gesinnungen u. dgl. festgestellt, die für den, der sie übernimmt, simple Rezeptionen, unkritische Hinnahme von U r teilen bedeuten, somit „Vorurteile" sind. Grade die von Peter H o f stätter gebrachten Beispiele für die Macht der Worte, Stereotypen, Vereinheitlichung der Meinung, Leitungsvorurteile, verweigerte Akzeptierung von Leistungen, Abschwächung i n der Normalbreite, vor allem für das Verhältnis von Standort, Selbstgefühl und Leistung zeigen deutlich, daß es Belange i m größeren Rahmen gibt, die über das emo-
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Recht und Rechtswissenschaft
rionale Moment des sich gehoben fühlens, oder als Außenseiter unwohl, die Urteile i m Sinne von Vorurteilen beinflussen, die sonst beim isolierten Denken berichtigt würden, oder jedenfalls nachgeprüft. M a n erkennt dabei, wie auch für die Gruppen, Klassen, Verbände recht verschiedenartige „Richtigkeitsfragen" auftauchen, die m i t der Frage nach der logischen Richtigkeit eines Urteils nicht erledigt sind. Es gibt ja stets die Frage nach der Richtigkeit „angebrachtermaßen", nach der situationsbedingten daneben. Auch als konstituierendes Moment das, was jenseits der Diskussion, steht, weil sonst das Ganze damit stehen und fallen müßte. Als Sonderproblem auch das aus Lessings Nathan dem Weisen von den drei Ringen. Es taucht überall auf, wo man für etwas optiert hat und nun zu seinem Kreise steht, wie der H e l d i m Gilgamesch-Epos. Goethes Wort, daß der Handelnde immer gewissenlos sei und nur der Betrachtende Gewissen habe, weist auch in die Richtung, wo jeder seine Aufgabe, seinen Beruf, seine Familie i n einer Weise behauptet, wobei er sie überschätzt. Nehmen w i r nun die Überschätzung der theoretischen H a l t u n g hinzu, der kontemplativen Voraussetzung für gewisse Einsichten, der „reinen" Wissenschaft, Momente, auf die Gehlen besonders hinweist 5 , so ergibt sich heute noch für die Kreise, aus denen der Jurist stammt und zu denen er sich hingewogen fühlt, ja m i t denen er sich identifiziert, eine durchaus nicht selbstverständliche „ A t t ü d e " i m Sinne von geistig-seelischer Einstellung und Aktionsbereitschaft 6 . H i e r haben w i r die entsprechenden nur gruppendynamisch erklärlichen Wertvorstellungen, die für die Rechtswissenschaft wichtig sind. Grade an diesem Punkt wäre anzusetzen, um zu erkennen, weshalb heute noch der sog. rechtsphilosophische Relativismus „einleuchtet". H i e r aber auch einzusehen, daß bei diesem auch inhaltlich gradezu ein Vorurteil kat exochen statuiert wird, wenn man als Grunddogma von Werturteilen ihren Bekenntnischarakter behauptet. Das heißt doch: daß über dieses Vorurteil als Urteil, gewiß vermittelst des Emotionalen bestimmte soziologische Gruppen, Parteien, Uberzeugungsgemeinschaften konstituierend, nicht diskutiert werden könne. Obgleich sich aus seinem verstehbaren Sinn ergibt, daß auch i m Werturteil ein U r t e i l vorliegt, es jedenfals den Anspruch eines solchen er5 Jetzt besonders in seinem Buch „Die Seele im technischen Zeitalter" (auch Rowohlt). 6
René König, Soziologie, S. 277, zu allem Hofstätter, Gruppendynamik, Rowohlt.
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hebt, richtig zu sein. W o m i t also die Beweislast dem obliegt, der ohne Angabe von logischen Gründen seinen reinen Bekenntnischarakter behauptet. Ein Vorurteil von fundierender Bedeutung w i r d also hier einfach als ein „ n o l i me tangere" statuiert! Das ganze Riesenkapitel der Ressentiments aller A r t ist aufzuschlagen, wo man, kollektiv bedingt, über- oder unterschätzt, je nachdem man „ h a t " oder „nicht hat", dagegen die anderen „haben" oder „nicht haben", hier von Gruppen, Berufsklassen usw. verstanden. Denken w i r an die grausigen Wirkungen, die unter das soziologische Thema „Vorurteile und Minoritäten" fallen, die hier typischen Sterotypen, wobei Überfremdungsprobleme noch gar n i d i t berührt werden. D a m i t stehen w i r bei dem zweiten Begriff,
den w i r
zur soziologischen
Erfassung
der
Rechtsdogmatik
benötigem: dem der Ideologie. Es gibt darüber bekanntlich eine gewaltige Literatur, aus der nur Folgendes herausgegriffen werden soll: René König faßt Ideologien als mehr oder weniger systematische Formulierungen vorgegebener Mentalitätsinhalte auf 7 . Die Untersuchungen über Ideologien, die es ja auch individuell gibt, begannen mit den soziologischen Forschungsobjekten, wozu ja unsere „Jurisprudenz" ihren „subjektiven Trägern" und ihren Produkten nach gehört. M a n konstatierte Arbeitsteilung, wie es sie ja auch bei den verschiedenen, an der Erfassung und Praktizierung des Rechts beteiligten Gruppen gibt. Das zur Durchsetzung erforderliche „manipulative Element", vorüber K a r l Mannheim genaue Angaben macht, führt zu einer zunehmenden Kontrolle der Mentalitäten und erlangt dadurch vergleichsweise eine besonders starke Geltung, wenn nicht ein Ubergewicht (Adorno). Mannheim spricht von „totaler Ideologie" da, wo der gesamte
„Denk-
prozeß" einbezogen wird. Erinnern w i r uns an die oben zitierte Äußerung von Hirsch, wo er Entsprechendes für das Maschennetz der dogmatischen Begriffe gegenüber der Wirklichkeit behauptet. Wenn es geboten ist, die Ideologienforschung selbst von ideologischen Annahmen frei zu halten, was man heute für die Diskussion erstrebt (René König), so bleibt für den Inhalt der Ideologie ein einfach festzustellender Komplex, eine Syntagma von Vorstellungsinhalten übrig, die „Vorurteile" sind. Als besonders dominant müssen dann die Richtschnurinhalte erscheinen, welche i n der „soziologischen Unterlage" beim Recht die notwendig empirische Rechtsquelle bilden. „Vorurteile" für die theoretisch7
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a.a.O., S. 181 f. Emge
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begriffliche aufs Teleologische hinzielende Arbeit der dogmatischen Rechtswissenschaft. Daß es daneben noch viel mehr Vorurteile, aus der Tradition der Gruppe, des Standes, der oft berufenen „Intelligenz" stammend gibt, ist wohl kein Zweifel. I m Vergleich mit anderen derartigen Gruppen kann doch hier kein wesentlicher Unterschied bestehen, wenn solchen Vorurteilen selbst die ängstlich auf Eigenständigkeit bedachten Philosophen unterliegen, zumal in Zeiten, wo sie sich sehr unabhängig vorkommen durften. Es macht dabei für das Vorhandensein von Ideologien und der entsprechenden geistigen Abhängigkeit von „Vorurteilen" nichts aus, daß die Vertreter keine Bewußtheit über ihre Metexis haben. Diese liegt jedoch beim Juristen stets mehr oder weniger stark gegenüber dem Gesetzesinhalt vor, der Organstellung, der Aufgabe, jenen Inhalt i n gewisser Weise manipulieren zu müssen. „Diener des Rechts" im Sinne eines Dieners am Heteronomen verstanden, dem man sich freilich autolog glaubt hingeben zu müssen. Die enge Verbindung des Wissenssoziologischen, zu deren Erforschung ja grade die bekannte These von K a r l M a r x den Anlaß gab, darf nur nicht wieder, wie es am Anfang geschah, als assoziatives Kampfmittel mißbraucht werden. — Damit käme man zur Frage, ob es eine Ideologie bei einer angeblich so intensiven wissenschaftlichen Intentio geben kann, wie sie gegenüber ihren so verschiedenartigen Schichten die rechtsdogmatische Arbeit zeigt. N u n : nimmt man gewisse Vorgegebenheiten hin, so w i r d es bei deren unvermeidlicher Unbestimmtheit immer noch genug wissenschaftlichen Stoff geben. Denken w i r an volkstheoretische und volkswissenschaftliche ethnologische Forschung eben i m Rahmen einer Ideologie, die „ V o l k " in seinen verschiedenen Bedeutungen w i r k lich zur Geltung bringen möchte. Kollisionen dürften dann freilich bald entstehen, weil die „Kontrolleure" selten selbst Forscher sind. M i t der Feststellung, daß es bei jeder Ideologie „wissenschaftliche" Aufgaben geben kann, das worauf heute der Seriöse so großen Wert legt: auf das Wissenschaftliche und nicht primordial auf das Richtige, dürfte der H o r r o r vor der Ideologie überwunden sein. Natürlich war es das Politische, das man als Mißbrauch empfand, wenn es sich zu sehr mit Gedanken verbrämte, gar als ideal auftrat, wenn man es nicht mochte. Macht man sich aber klar, daß jedes Recht seine Voraussetzungen hat, aus denen es seinen Sinn, jedenfalls den Rechtsgrund seiner Verbindlichkeit zu beziehen hofft, so sieht man auch, daß der dem Positiven zunächst liegende Boden, die metajuristische Tiefen-
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Schicht, aus der man unmittelbar den Saft zieht, bereits jede Verfassung auf immer weiter ins Metaphysische reichende „Schichten" deutet. W i r grade wiesen schon mehrfach darauf hin, daß das, was man heute als gemeinsames Fundament einer humanen Rechtsauffassung ahnt, das erforscht, zum Ausdruck gebracht, formuliert werden soll, nicht eine reine, sondern eine angewandte Geschichtsphilosophie liefern muß: Das unabsehbare Reich der Grund- und Menschenrechte, das demnach als Inbegriff niemals in der üblichen Weise rektifizierbarer Urteile, als „Vorurteile" das Syntagma für das Positive zu liefern hat. Sehen w i r nun, wie sich die Ideologien im Sozialen in mannigfachen Gestalten inkarnieren und zueinander verhalten, mit mehr oder weniger starkem Gedankenreservoir, Freiheit zu wissenschaftlicher Hingabe an den I n halt der Ideen, mit Funktionären aller A r t : Deutern, Formulierern, Kontrolleuren, Exekutoren usw., so beginnt man sich für die Hierarchie zu interessieren, die in dieser Schar soziologisch repräsentierter Ideologien von den dürftigsten, kümmerlichen, „nicht gekonnten" Formen an bis ins perfekteste reicht. D a das Recht auf einem Raumteil einen Machtapparat voraussetzt, der ihm vergleichsweise mit anderen auf Durchsetzung bedachten Organisationen die höchste Chance soziologischer Geltung garantiert, so haben w i r hier also das Maximum an realisierter Ideologie, die vollkommenste Form, an deren Bindung, Ziselierung, minuziöser Ausarbeitung die dogmatische Rechtswissenschaft entscheidend Anteil hat. D a alles, was man bisher als für die Ideologie wesentlich ermittelt hat, gleichfalls vorhanden ist, kommen w i r demnach unter soziologischer Perspektive zu dem Schluß: Die dogmatische Jurisprudenz dient der immer vollkommeneren Ausarbeitung der Ideologie, worauf sich der jeweilige historische Staat gründet, die ihn „mental" konstituiert 8. Die beiden wichtigsten Punkte, um das zu erkennen, scheinen zu sein: einerseits, daß man beim Recht als Voraussetzungen gedankliche Fundamente braucht, die zunächst nur als „Vorurteile" eingeführt werden. Andererseits und mit jenem zusammenhängend, daß auch beim Recht das „e vinculis sermocinari" die ganze A r t der Theorien- und Begriffsbildungen, soweit sie das Positive ausdrückt (freilich rechtsphilosophisch: nicht als alleiniges Prinzip!), 8
Wir schlagen vor, dogmatische Rechtswissenschaft, religiöse Dogmatik, Ideologie unter einem Oberbegriff „Dogmatologie" zu behandeln. Doxologie ist schon festgelegt. Verf. dankt hier für Anregungen im Terminologischen dem Historiker der Antike Joseph Vogt.
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bestimmt. Unser Ergebnis, daß die dogmatische Jurisprudenz der Ideologie dient, daß die gelehrte Dogmatik einen Ideologiengehalt in wissenschaftlich vollendeter Form vorlegt, daß die „soziologische U n terlage beim Recht" in ihren Gesetzen, heteronomen Richtschnuren und der dahinter stehenden Überzeugung der an der Macht Beteiligten „Vorurteile", wie bei jeder Ideologie, induziert, einprägt, auferlegt, ist freilich das, was sich ergibt, wenn man nur den soziologischen Aspekt beim Recht zur Geltung bringt. Der empirische Soziologe kann dann nichts anderes sehen. Die Aufgabe einer Philosophie der Jurisprudenz war aber zu zeigen, daß das Recht als Gegenstand immer noch mehr als jener ist, daher diese dogmatische Arbeit ihrem Sinngehalt nach ebenfalls mehr! Wenn w i r unser Simmelwort sehr modifizieren dürfen, das sich auf das Leben überhaupt bezieht, so können w i r sagen: Recht soll nach dem Willen der jeweiligen Machthaber in deren Ideologien aufgehen, aber es kann nicht darin aufgehen. Recht soll nach deren Intention nur Heteronomes explizieren, jedoch exakt, „ m i t wissenschaftlicher Hingabe und Methode", aber die sinnvolle Deutung des Rechts fordert, daß das Ergebnis Hetero loges wird. Die Ideologie sieht den Theoretiker und den Praktiker des Rechts nur als ihr Instrument an. Sieht in ihnen Ersatz und „Verstärker" für Organe, also Techniker, welche die Macht verstärken und die für sie verantwortlichen Personen dabei zunehmend entlasten. Diese von Gehlen für die Technik herausgearbeiteten Funktionen gelten genau so für die Vollendung, Ausbildung, Erhaltung einer ideologischen Form. Aber der Theoretiker und Praktiker des Rechts hat ja zweien Herren zu dienen, dem, woher er das Fleteronome bezieht, das ihn freilich in seiner Funktion auch konstituiert, aber auch dem ganz anders beschaffenen H e r r n — sagen w i r kurz: dem Logos — woher das Logonome stammt, das ihm ermöglicht aus dem Rohmaterial des Heteronomen das Feinprodukt des Heterologen werden zu lassen und ihn selbst aus einem Laboranten zu einem Garanten des Rechts. Die Rechtswissenschaft? Was ist sie? Ein geistiges Instrument dazu dienend, um aus zufälligen Vorurteilen Konkordanzen zu machen, aus ihnen solche Konsequenzen zu ziehen, welche die Herrscher des jeweiligen ideologischen Massivs befriedigen? Ein nachträgliches Zurechtrücken von Dingen, die von vornherein unmöglich waren, die aber nun als letzte Weisheiten gelten sollen? Damit das Gesicht gewahrt bleibt? — N u n die Rechtswissenschaft ist mehr als ein Unternehmen von Men-
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sehen, die in einer übermächtigen H a n d zappeln und nicht herauskommen. Wenn sie schon wo eingeschlossen sind, so höchstens mit beiden Füßen darin, aber den K o p f hoch nach oben draußen. So ist die Aufgabe der Juristen eine mehr als zwiespältige: Der Gegenstand durchzieht so viele Schichten, daß die mannigfachen Funktionen sie schon schizophren machen müßten, wäre nicht das, was der Philosoph aus begrifflichen Gründen trennen muß, bei der wirklichen Persönlichkeit als selbstverständliche Einheit möglich. W i r lasen neulich ein Inserat. Darin hieß es: „ E i n Tenorist, der auch Klarinette spielt, etwas frisieren kann, w i r d als Ordner für ein Theater gesucht." Ob das wohl für das große oder für das kleine Welttheater war?