Wollen Und Lassen: Zur Ausdifferenzierung, Kritik Und Rezeption Des Willensparadigmas in Der Philosophie Schellings (Beitrage Zur Schelling-forschung, 10) (German Edition) 3495491120, 9783495491126

Die Untersuchung analysiert erstmals umfassend die Entwicklung und den Stellenwert des Willenskonzepts im Werk F. W. J.

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German Pages 488 [489] Year 2020

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Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Die unbeachtete Vielschichtigkeit von Schellings Willensphilosophie: Zur Diskussionslage
2. Zwischen Aufwertung und Kritik des Willens: Zu Thema und These der Untersuchung
3. Vorgehen und Aufbau der Untersuchung
Teil I: Schellings anfängliche Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas gegenüber Kant und Fichte (1795–1806)
1. Die Ausgangsbedingungen Schellings: Kants und Fichtes Aufwertung des Willensparadigmas sowie Spinozas Zurückweisung desselben
2. ›Sei!‹ – Schellings Aufwertung des Willensparadigmas im Übergang von der Ichschrift zur Neuen Deduction des Naturrechts
2.1. Die Zurückweisung des Willens angesichts eines spinozistisch überformten absoluten Ichs in Vom Ich als Princip der Philosophie
2.2. Die Endlichkeit und Tragik des Willens in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus
2.3. Die Ausweitung des Willensparadigmas in der Neuen Deduction des Naturrechts
3. Die ambivalente Ausweitung des Willensbegriffes in der Allgemeinen Uebersicht von 1797/98
3.1. Schellings Ausdifferenzierung des Willensparadigmas im Zuge seiner Besprechung von Kants und Reinholds Willenskonzeptionen
3.2. Die Problematik von Schellings Ausweitung und Ontologisierung des Willens in der Allgemeinen Uebersicht
3.3. Die Randständigkeit des Wollensbegriffes und die zunehmende Eigenständigkeit der Naturphilosophie in den Schriften von 1797 bis 1799
4. Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt im System des transscendentalen Idealismus
4.1. Die unbewusste Produktion in der Natur als Vorform und Voraussetzung des Wollens
4.2. Der ›absolute Willensakt‹ als zweiter, verbürgter Anfang
4.3. Die partielle Zurücknahme des Wollens in der Genieproduktion und der Kunstanschauung
5. Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas in der ›absoluten Identität‹
5.1. Die Zurückweisung des Wollens mit Blick auf die spinozistisch interpretierte ›absolute Identität‹
5.2. Die Aufwertung des Wollens I: Zum Motiv des Tragischen ab 1802
5.3. Die Aufwertung des Wollens II: Die Ontologisierung des Wollens in der Naturphilosophie ab 1806
6. Systematische Überlegungen I: Schelling und die gegenwärtigen Debatten um Willensfreiheit
Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas im Zeichen des Tragischen und das Denken der Gelassenheit (1809–1821)
1. Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift
1.1. Ausweitung und Pluralisierung des Wollens
1.1.1. ›Wollen ist Urseyn‹: Die Unterscheidung von Wollen und Wille im Zuge der Dynamisierung der spinozistischen Substanz
1.1.2. Die Willenstriplizität in Gott: Die Auflösung der idealistischen Identifikation von Wille und Verstand
1.1.3. Die verkehrbare Willensdualität im Menschen: Zur Uminterpretation der kantischen ›intelligiblen Tat‹
1.2. Die Tragik und Unfreiheit im Bösen: Zur Kritik bestimmter Wollensformen
1.3. Ungrund, Wollen und Liebe: Zur internen Spannung der Konzeption von 1809
2. Die Negativität und Überwindung des tragischen Wollens in den Weltaltern
2.1. Der ›unbedingte‹ Einheitsgarant des Ganzen: Die überzeitliche Freiheit als ›nicht(s) wollender Wille‹
2.2. Die Zeit des Immergleichen als Kennzeichen einer Negativität des Wollens
2.2.1. Die Wirklichkeit des Wollens: Zur Struktur des ›ersten Anfangs‹ als ›Kontraktion‹ und unwillkürlicher, tragischer Akt
2.2.2. Die Tragik des Wollens: Die negative Zeiterfahrung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen
2.3. Die Selbstzurücknahme des Wollens in der ›Scheidung von sich selbst‹
2.3.1. Wirkliche Gegenwart als Resultat eines bewussten ›zweiten Anfangs‹: Zur Überwindung der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹
2.3.2. Die sich im Menschen realisierende ›ewige Freiheit‹: Zum Ineinandergreifen individueller und überindividueller Strukturen
2.4. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Verneinung des ›Willens zum System‹ in den Weltaltern
3. Exkurs I: Die Puralisierung und Hierarchisierung der Willensformen bei Hegel
4. Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821
4.1. Das Systemprinzip: Gleichgültigkeit, Indifferenz, ruhender Wille
4.2. Entfaltung des Systems I: Die dem Wollen und Wissen immanente Tragik
4.2.1. Das ›Wissenwollen‹ und die Verabsolutierung des Willensparadigmas im Falle des Menschen
4.2.2. Die immanente Tragik in der Selbstvermittlung des Absoluten als Vergegenständlichung von Freiheit
4.3. Entfaltung des Systems II: Die zweifache Forderung nach Gelassenheit in der ›Krisis‹ des Absoluten und der ›Ekstase des Ich‹
4.3.1. Die Auflösung des Widerstreites im Absoluten durch ›innere Überwindung‹
4.3.2. Die ›Ekstase des Ich‹ und die Einsetzung des eigentlichen Subjekts
5. Exkurs II: Generelle Kritik des Wollens und Gelassenheit bei Schopenhauer
6. Systematische Überlegungen II: Pluralisierung, Negativität und Zeitlichkeit des Wollens
Teil III: Die abschließende Zusammenfassung und partielle Aufwertung des Willensdenkens in der Münchener und Berliner Zeit (1827–1842)
1. Der ›Herr des Seins‹: Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen
1.1. Die zufällige ›innere Tatsache‹ und das Wollen als Ursache vernünftiger Wirklichkeit
1.2. Der Wille als ›Herr des Seins‹
1.3. Pluralisierung und Hierarchisierung im Wollen als der ›Materie, woraus alles gemacht ist‹
2. Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin
2.1. Die negative Philosophie als Einführung in die Gelassenheit
2.1.1. Die Tragik des Vernunftwillens
2.1.2. Die Forderung nach einer gelassenen Vernunft und der Übergang zur positiven Philosophie
2.2. Die positive Philosophie als Willensmetaphysik
2.2.1. Vom unvordenklichen Sein zum Ursein als Wollen
2.2.2. Der endliche Wille als allein freier und die Kenosis
3. Systematische Überlegungen III: Schelling und der ›hermeneutische‹ Willensdiskurs
Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der schellingschen Willenskonzeption in seiner Metaphysikkritik
1. Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit
1.1. Die ontologische Unterordnung des Willensparadigmas unter die Struktur der Sorge
1.2. Das voluntative Moment in der Gewissens- und Entschlossenheitsanalyse: Das ›Gewissen-haben-Wollen‹
2. Daseinsanalyse mit Kant: Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft
2.1. Die Selbstheit als Sorge und das kantische Subjekt
2.2. Die Selbstzweckhaftigkeit des Subjekts und das ›Umwillen‹ des Daseins
2.3. Vom Wesen des Grundes und der ›umwillentliche Überstieg‹ im ›Willen‹ des Daseins
2.4. Von der produktiven Einbildungskraft zur ursprünglichen Zeitlichkeit
3. Fundamentalontologische Spurensuche in der Transzendentalphilosophie: Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929
3.1. Die Umkehrung der drei Grundsätze und die Einbildungskraft bei Fichte
3.2. Die naturphilosophische Fundierung des Selbstbewusstseinsparadigmas bei Schelling
4. Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling: ›Sein überhaupt‹ sowie ›Wollen‹ und ›Lassen‹
4.1. Die Frage nach dem ›Sein überhaupt‹: Der ›Ungrund‹ als Wollen
4.2. Wollen und Lassen
5. Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik
5.1. Heroische Tragik als Seinseröffnung: Zur Entdifferenzierung und Ausweitung des Willensbegriffes
5.2. Die in Hölderlin ›eingezeichnete‹ Pluralität von Wollen und ›Lassen‹
6. In der ›Nähe der wahrhaft metaphysischen Bezüge zwischen Seyn und Werden‹: Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936
6.1. Von der Willensfreiheit zur ›Teilhabe an der Freiheit‹ des ›Seyns‹: Die Kontinuität von Schellings Denken im notwendigen ›Scheitern‹ an der nicht fassbaren ›Sache‹ seines Denkens
6.2. Die interne Spannung in Schellings Freiheitsbegriffen und die ›Metaphysik des Bösen‹: Das ›Scheitern‹ jeder Philosophie
6.3. Der ›Wille zum System‹: Heideggers Kritik an Schellings ›Scheitern‹ hinsichtlich der ›Seyns‹-Frage
7. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche: Von der Aufwertung zur radikalen Kritik des Willensparadigmas
7.1. Die Kontinuität von Schelling zu Nietzsche: Der ›Wille zur Macht‹ als ›Sein des Seienden‹ und als ›Ent-schlossenheit‹
7.2. Kritik des Willens: Die Verleugnung des ›zeithaften Wesens‹ des Seins in der ›Beständigkeit und Anwesenheit‹
8. Rückfall in die ›Metaphysik der Subjektivität‹: Heideggers Schelling-Kritik 1941
8.1. Vom ›existenziellen‹ zum ›existenzialen‹ Existenz- und Todesbegriff: Heideggers Kierkegaard-Referat von 1941
8.2. ›Sein ist Wollen‹: Die Freiheitsschrift als ›Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus‹
9. ›Der lautere Wille, der weder will noch nicht will‹: Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen« zu Schelling im Spiegel seines Gelassenheitsdenkens
10. Abschließende systematische Überlegungen: Das Potenzial und die Grenzen von Heideggers und Schellings Willensdiskursen
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1. Primärliteratur
2. Forschungsliteratur
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Wollen Und Lassen: Zur Ausdifferenzierung, Kritik Und Rezeption Des Willensparadigmas in Der Philosophie Schellings (Beitrage Zur Schelling-forschung, 10) (German Edition)
 3495491120, 9783495491126

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10

BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Philipp Höfele

Wollen und Lassen Zur Ausdifferenzierung, Kritik und Rezeption des Willensparadigmas in der Philosophie Schellings

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820834

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

In dieser Studie werden erstmals systematisch die Entwicklung und der Stellenwert des Willenskonzepts im Werk F. W. J. Schellings untersucht. Zugleich wendet sie sich der Rezeption des schellingschen Willensdenkens durch M. Heidegger zu. Zum einen wird in Schellings Philosophie das Willensparadigma gegenüber der kantisch-fichteschen Tradition in entscheidender Weise ausdifferenziert. Zum anderen reflektiert Schelling, ähnlich wie Heidegger, auf die kritischen Potentiale des Voluntativen und macht als dessen Korrektiv Motive wie Liebe, ›Nicht-Wollen‹ und Gelassenheit geltend, die dieses fundieren und relativieren.

Der Autor: Philipp Höfele studierte Philosophie, Germanistik und Theologie in Freiburg und Paris. 2018 wurde er im Rahmen einer Cotutelle de thèse mit vorliegender Arbeit an den Universitäten Freiburg und Strasbourg promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des interdisziplinären Exzellenzclusters »livMatS« und Redakteur der internationalen Zeitschrift Schelling-Studien.

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Philipp Höfele Wollen und Lassen

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

10

BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Herausgegeben von Lore Hühn (Freiburg) Philipp Schwab (Freiburg) Paul Ziche (Utrecht)

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Philipp Höfele

Wollen und Lassen Zur Ausdifferenzierung, Kritik und Rezeption des Willensparadigmas in der Philosophie Schellings

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49112-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82083-4

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Vorwort

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Wintersemester 2017/18 von der Philosophischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg und der Université de Strasbourg angenommen wurde. Danken möchte ich allen, die an der Entstehung dieser Arbeit im Rahmen einer Cotutelle de thèse in Freiburg und Strasbourg direkt oder indirekt mitgewirkt haben. Mein erster und herzlicher Dank gilt Frau Prof. Dr. Lore Hühn (Freiburg), die das Entstehen der Arbeit von Anfang an unterstützt hat und mir stets mit Rat, Ermutigung und Kritik zur Seite stand. Ebenso herzlich danken möchte ich meinem französischen Betreuer Herrn Prof. Dr. Gérard Bensussan (Strasbourg) für seine unermüdliche Unterstützung und Gesprächsbereitschaft während des Entstehungsprozesses der Arbeit. Herrn Prof. Dr. Pascal David (Brest) und Herrn Prof. Dr. Oliver Müller (Freiburg) danke ich des Weiteren für die Abfassung der Rapports préliminaires sowie Herrn Prof. Dr. Magnus Striet (Freiburg) für die spontane Bereitschaft zur Übernahme des Drittgutachtens. Danken möchte ich außerdem der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk für die Gewährung eines Stipendiums, der DeutschFranzösischen Hochschule für die Zuwendung zur Durchführung einer Cotutelle de thèse, Herrn Trabert vom Verlag Karl Alber in Freiburg für die Aufnahme in das Verlagsprogramm ebenso wie den Herausgebern der Reihe. Nicht zuletzt möchte ich den Freiburger Kollegen Alexander Bilda, Jan Kerkmann und Moritz May meinen herzlichen Dank aussprechen, die mich bei der Korrektur der Druckvorlage wie auch mit manch gutem Hinweis inhaltlicher Art unterstützt haben. Ein solches Buch wäre schließlich nicht möglich gewesen ohne den Austausch mit Freunden und Bekannten im Rahmen von Seminaren, Tagungen und bei vielfältigen anderen Gelegenheiten. Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mich immer in jeder Hinsicht unterstützt haben und denen dieses Buch gewidmet ist. Freiburg, im Sommer 2019

VII https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die unbeachtete Vielschichtigkeit von Schellings Willensphilosophie: Zur Diskussionslage . . . . 2. Zwischen Aufwertung und Kritik des Willens: Zu Thema und These der Untersuchung . . . . 3. Vorgehen und Aufbau der Untersuchung . . . .

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Teil I Schellings anfängliche Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas gegenüber Kant und Fichte (1795–1806) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Ausgangsbedingungen Schellings: Kants und Fichtes Aufwertung des Willensparadigmas sowie Spinozas Zurückweisung desselben . . . . . . . . 2. ›Sei!‹ – Schellings Aufwertung des Willensparadigmas im Übergang von der Ichschrift zur Neuen Deduction des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Zurückweisung des Willens angesichts eines spinozistisch überformten absoluten Ichs in Vom Ich als Princip der Philosophie . . . . . . . . . 2.2. Die Endlichkeit und Tragik des Willens in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus . 2.3. Die Ausweitung des Willensparadigmas in der Neuen Deduction des Naturrechts . . . . . . 3. Die ambivalente Ausweitung des Willensbegriffes in der Allgemeinen Uebersicht von 1797/98 . . . . . . . 3.1. Schellings Ausdifferenzierung des Willensparadigmas im Zuge seiner Besprechung von Kants und Reinholds Willenskonzeptionen . . . . . . . .

19

27

29 33 37 44

46 IX

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Inhalt

3.2. Die Problematik von Schellings Ausweitung und Ontologisierung des Willens in der Allgemeinen Uebersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Randständigkeit des Wollensbegriffes und die zunehmende Eigenständigkeit der Naturphilosophie in den Schriften von 1797 bis 1799 . . . . . . . . . 4. Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt im System des transscendentalen Idealismus . 4.1. Die unbewusste Produktion in der Natur als Vorform und Voraussetzung des Wollens . . . . . . . . . . . 4.2. Der ›absolute Willensakt‹ als zweiter, verbürgter Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die partielle Zurücknahme des Wollens in der Genieproduktion und der Kunstanschauung . . . . 5. Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas in der ›absoluten Identität‹ . . . . 5.1. Die Zurückweisung des Wollens mit Blick auf die spinozistisch interpretierte ›absolute Identität‹ . . . 5.2. Die Aufwertung des Wollens I: Zum Motiv des Tragischen ab 1802 . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Die Aufwertung des Wollens II: Die Ontologisierung des Wollens in der Naturphilosophie ab 1806 . . . . 6. Systematische Überlegungen I: Schelling und die gegenwärtigen Debatten um Willensfreiheit . . . . .

51

58 64 66 69 75 80 81 85 89 96

Teil II Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas im Zeichen des Tragischen und das Denken der Gelassenheit (1809–1821) . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Ausweitung und Pluralisierung des Wollens . . . . 1.1.1. ›Wollen ist Urseyn‹: Die Unterscheidung von Wollen und Wille im Zuge der Dynamisierung der spinozistischen Substanz . 1.1.2. Die Willenstriplizität in Gott: Die Auflösung der idealistischen Identifikation von Wille und Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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106

114

Inhalt

1.1.3. Die verkehrbare Willensdualität im Menschen: Zur Uminterpretation der kantischen ›intelligiblen Tat‹ . . . . . . . . . 1.2. Die Tragik und Unfreiheit im Bösen: Zur Kritik bestimmter Wollensformen . . . . . . . 1.3. Ungrund, Wollen und Liebe: Zur internen Spannung der Konzeption von 1809 . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Negativität und Überwindung des tragischen Wollens in den Weltaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der ›unbedingte‹ Einheitsgarant des Ganzen: Die überzeitliche Freiheit als ›nicht(s) wollender Wille‹ 2.2. Die Zeit des Immergleichen als Kennzeichen einer Negativität des Wollens . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Die Wirklichkeit des Wollens: Zur Struktur des ›ersten Anfangs‹ als ›Kontraktion‹ und unwillkürlicher, tragischer Akt . . . . . . . 2.2.2. Die Tragik des Wollens: Die negative Zeiterfahrung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Selbstzurücknahme des Wollens in der ›Scheidung von sich selbst‹ . . . . . . . . . . 2.3.1. Wirkliche Gegenwart als Resultat eines bewussten ›zweiten Anfangs‹: Zur Überwindung der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Die sich im Menschen realisierende ›ewige Freiheit‹: Zum Ineinandergreifen individueller und überindividueller Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Verneinung des ›Willens zum System‹ in den Weltaltern . . . . 3. Exkurs I: Die Puralisierung und Hierarchisierung der Willensformen bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821 . 4.1. Das Systemprinzip: Gleichgültigkeit, Indifferenz, ruhender Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Entfaltung des Systems I: Die dem Wollen und Wissen immanente Tragik . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Das ›Wissenwollen‹ und die Verabsolutierung des Willensparadigmas im Falle des Menschen

125 134 141 150 154 162

163

179 190

190

195 201 207 213 214 220 221 XI

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Inhalt

4.2.2. Die immanente Tragik in der Selbstvermittlung des Absoluten als Vergegenständlichung von Freiheit . . . 4.3. Entfaltung des Systems II: Die zweifache Forderung nach Gelassenheit in der ›Krisis‹ des Absoluten und der ›Ekstase des Ich‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die Auflösung des Widerstreites im Absoluten durch ›innere Überwindung‹ 4.3.2. Die ›Ekstase des Ich‹ und die Einsetzung des eigentlichen Subjekts . . . . . . . . . 5. Exkurs II: Generelle Kritik des Wollens und Gelassenheit bei Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Systematische Überlegungen II: Pluralisierung, Negativität und Zeitlichkeit des Wollens . . . . . . . .

. 227 . 234 . 234 . 237 . 241 . 247

Teil III Die abschließende Zusammenfassung und partielle Aufwertung des Willensdenkens in der Münchener und Berliner Zeit (1827–1842) . . . . . . . . . . . . . 253 1. Der ›Herr des Seins‹: Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die zufällige ›innere Tatsache‹ und das Wollen als Ursache vernünftiger Wirklichkeit . . . . . . . . 1.2. Der Wille als ›Herr des Seins‹ . . . . . . . . . . . . 1.3. Pluralisierung und Hierarchisierung im Wollen als der ›Materie, woraus alles gemacht ist‹ . . . . . . 2. Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin 2.1. Die negative Philosophie als Einführung in die Gelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Die Tragik des Vernunftwillens . . . . . . . 2.1.2. Die Forderung nach einer gelassenen Vernunft und der Übergang zur positiven Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die positive Philosophie als Willensmetaphysik . . . 2.2.1. Vom unvordenklichen Sein zum Ursein als Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Der endliche Wille als allein freier und die Kenosis . . . . . . . . . . . . . . . . . XII https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

255 256 262 267 274 276 276

279 283 284 287

Inhalt

3. Systematische Überlegungen III: Schelling und der ›hermeneutische‹ Willensdiskurs . . . . . . . . . . .

289

Teil IV Heideggers reduktionistische Aufnahme der schellingschen Willenskonzeption in seiner Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1. Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit 1.1. Die ontologische Unterordnung des Willensparadigmas unter die Struktur der Sorge . 1.2. Das voluntative Moment in der Gewissens- und Entschlossenheitsanalyse: Das ›Gewissen-habenWollen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Daseinsanalyse mit Kant: Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft . . . . 2.1. Die Selbstheit als Sorge und das kantische Subjekt . 2.2. Die Selbstzweckhaftigkeit des Subjekts und das ›Umwillen‹ des Daseins . . . . . . . . . . . . . 2.3. Vom Wesen des Grundes und der ›umwillentliche Überstieg‹ im ›Willen‹ des Daseins . . . . . . . . . 2.4. Von der produktiven Einbildungskraft zur ursprünglichen Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . 3. Fundamentalontologische Spurensuche in der Transzendentalphilosophie: Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929 . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Umkehrung der drei Grundsätze und die Einbildungskraft bei Fichte . . . . . . . . . . . 3.2. Die naturphilosophische Fundierung des Selbstbewusstseinsparadigmas bei Schelling . . . 4. Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling: ›Sein überhaupt‹ sowie ›Wollen‹ und ›Lassen‹ . . . . . . . 4.1. Die Frage nach dem ›Sein überhaupt‹: Der ›Ungrund‹ als Wollen . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Wollen und Lassen . . . . . . . . . . . . . . . . .

297 299

304 311 312 316 323 326

335 338 343 346 348 360

XIII https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Inhalt

5. Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Heroische Tragik als Seinseröffnung: Zur Entdifferenzierung und Ausweitung des Willensbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Die in Hölderlin ›eingezeichnete‹ Pluralität von Wollen und ›Lassen‹ . . . . . . . . . . . . . . 6. In der ›Nähe der wahrhaft metaphysischen Bezüge zwischen Seyn und Werden‹: Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936 . . . . . . . . 6.1. Von der Willensfreiheit zur ›Teilhabe an der Freiheit‹ des ›Seyns‹: Die Kontinuität von Schellings Denken im notwendigen ›Scheitern‹ an der nicht fassbaren ›Sache‹ seines Denkens . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Die interne Spannung in Schellings Freiheitsbegriffen und die ›Metaphysik des Bösen‹: Das ›Scheitern‹ jeder Philosophie . . . . . . . . . . 6.3. Der ›Wille zum System‹: Heideggers Kritik an Schellings ›Scheitern‹ hinsichtlich der ›Seyns‹-Frage . 7. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche: Von der Aufwertung zur radikalen Kritik des Willensparadigmas . 7.1. Die Kontinuität von Schelling zu Nietzsche: Der ›Wille zur Macht‹ als ›Sein des Seienden‹ und als ›Ent-schlossenheit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Kritik des Willens: Die Verleugnung des ›zeithaften Wesens‹ des Seins in der ›Beständigkeit und Anwesenheit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Rückfall in die ›Metaphysik der Subjektivität‹: Heideggers Schelling-Kritik 1941 . . . . . . . . . . . . . 8.1. Vom ›existenziellen‹ zum ›existenzialen‹ Existenzund Todesbegriff: Heideggers Kierkegaard-Referat von 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2. ›Sein ist Wollen‹: Die Freiheitsschrift als ›Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus‹ . . . . . 9. ›Der lautere Wille, der weder will noch nicht will‹: Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen« zu Schelling im Spiegel seines Gelassenheitsdenkens . . . 10. Abschließende systematische Überlegungen: Das Potenzial und die Grenzen von Heideggers und Schellings Willensdiskursen . . . . . . . . . . . . . . . XIV https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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Inhalt

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister

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Einleitung

1. Die unbeachtete Vielschichtigkeit von Schellings Willensphilosophie: Zur Diskussionslage Die Phänomene des Willens und Wollens können ohne Zweifel seit der Spätantike und insbesondere seit Augustinus, wenn nicht sogar schon früher, zu den Hauptgegenständen philosophischen Forschens gerechnet werden. 1 Gleichwohl bildet sich die Auffassung des Willens und Wollens als eines einheitlichen und eigenständigen Vermögens erst allmählich heraus. Unter dem Phänomen des Willens werden so nicht allein derart unterschiedliche Aspekte wie »rationales Streben«, »Dezisionsvermögen« sowie ein »psychisches Antriebspotential« zusammengefasst, vielmehr wird das Willensvermögen gleichzeitig häufig einem anderen Vermögen wie Verstand und Vernunft untergeordnet oder – so etwa bei Kant und Hegel – mit ihm gar in eins gesetzt. 2 Weit davon entfernt, dass der Wille und das Wollen schlicht die Fähigkeit meinen, bewusst und mit Überlegung gesteckte Ziele zu verfolgen und als Urheber des damit in Gang gesetzten Strebens gelten zu können, erweist sich das Voluntative bei genauerem Hinsehen vielmehr als ein Phänomenbereich, der unscharfe Grenzen besitzt und nur angemessen begriffen werden kann, sofern diese Grenzen

Vgl. etwa die Bemerkung M. Heideggers an H. Arendt, 19. November 1973, Heidegger/Arendt 1999, 246: »Für die schwierige Frage nach dem ›Willen‹ gibt immer noch das III. Buch von De anima des Aristoteles die erste Erleuchtung, von der die ganze nachfolgende Metaphysik zehrt.« Vgl. zu einer ähnlichen Position, allerdings mit Blick auf die Nikomachische Ethik, III, Ricœur 1970; außerdem Seebaß 2004 u. Heiden/Schneider 2007, die für die Beantwortung der Frage nach der Willensfreiheit bis zu Platon und Aristoteles zurückgehen. – Augustinus’ bedeutende Rolle in Bezug auf die ›Entdeckung‹ des Willens betonen hingegen etwa Arendt 1978, 84–110 u. Noller 2015, 63–71. 2 Vgl. zu einem historischen Überblick Horn/Ramelow/Hühn/Gabriel/Schlotter/ Roughley 2001, Zitat 763. 1

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Einleitung

und ›Ränder‹ als für diesen Phänomenbereich ebenso konstitutiv mitreflektiert werden. Umso mehr erstaunt es, dass maßgebliche Arbeiten zu diesen Phänomenen – wie beispielsweise die Untersuchungen von Paul Ricœur, Hannah Arendt oder auch Gottfried Seebaß 3 – zum einen nicht in gleicher Weise derartige ›Rand‹-Phänomene wie das Nicht(s)-Wollen, das ›Lassens‹ oder die Gelassenheit in den Blick nehmen, welche mit dem Wollen traditionell in Gegensatz stehen. Die zuletzt genannten Phänomene werden, häufig vom Wollen losgelöst, zumeist in anderen Bereichen behandelt – so etwa insbesondere im Rahmen mediävistisch-theologischer Forschungen, 4 der Medizinethik 5 sowie einer, um mit Pierre Hadot zu sprechen, ›Philosophie als Lebensform‹ 6 oder gerade auch im Kontext einer explizit ›negativen Ethik‹. 7 Dabei wird meist nur am Rande reflektiert, dass der Begriff der Gelassenheit seit seiner erstmaligen Verwendung bei Meister Eckhart 8 und dann auch später bei Schelling sowie in dessen Nachfolge bei Schopenhauer und schließlich bei Heidegger als Gegenbegriff zum Wollen etabliert wird – wenn er nicht gar, wie gerade bei Schelling, als voluntatives Grenzphänomen in Form eines ›nicht(s) wollenden‹, 9 ›gelassenen Willens‹ (vgl. z. B. WA I, 15 f.; WA II, 132–134; WA III, 217) noch zum Bereich des Voluntativen selbst gerechnet wird. Zum anderen steht der Phänomenbereich des Willentlichen in gegenwärtigen Debatten fast ausschließlich unter einem bestimmten Gesichtspunkt zur Diskussion: nämlich dem der Willensfreiheit. 10 Vgl. Ricœur 1950, 1960 u. 1970; Arendt 1978; Seebaß 1993. So ist ja der etymologische Ursprung des Begriffs ›Gelassenheit‹ auf das Mittelalter, genauer auf Meister Eckharts Erfurter Reden der unterscheidunge (zwischen 1294 u. 1298), zurückzuführen (vgl. die erstmalige Verwendung des Abstraktums ›gelâzenheit‹ in Eckhart 1993, Bd. 2, 412; vgl. zur Datierung Eckhart 1993, Bd. 2, 790). Vgl. hierzu etwa Hasebrink/Bernhardt/Früh 2012; außerdem Voigt/Meck 2005. 5 Vgl. etwa Rehbock 2005, 76–103 sowie gerade mit Blick auf die Palliativmedizin z. B. Begemann/Berthold/Hillmann 2013; Maio 2014, 173–194. 6 Vgl. neben der Philosophie der antiken Stoa ist hier unter neueren Ansätzen etwa zu verweisen auf Spaemann 1982; Kambartel 1989; Schmid 2014. 7 Vgl. Ottmann 2014. 8 Vgl. Eckhart 1993, Bd. 2, bes. 338–343 u. 412 f. Vgl. auch Eckhart 1993, Bd. 1, 150 f. 9 Zu Schellings Differenzierung zwischen einem das äußere Korrelat verneinenden ›Nichts-Wollen‹ und einem ›Nicht-Wollen‹, das den voluntatien Charakter selbst negiert, vgl. unten, Teil II, Kap. 2.1 Anm. 134. 10 Vgl. exemplarisch bes. Kane 2005; außerdem Pothast 1978 u. Hermanni/Koslowski 2004. Vgl. auch die Stanford Encyclopedia of Philosophy, die bezeichnenderweise nur einen Artikel zu »Free Will« beinhaltet (O’Connor 2010). Eine Ausnahme bildet 3 4

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Zur Diskussionslage

Man muss, um den tendenziell selektiven Blickwinkel dieser Debatten zu bemerken, keineswegs so weit wie Heidegger gehen und behaupten, dass »Freiheit […] mit dem Willen nichts zu tun [hat] und umgekehrt« (HGA 73.1, 731; vgl. dazu auch HGA 42, 14 f. u. 26). So formuliert Heidegger diese Notiz doch primär mit Blick auf eine Form von Freiheit, die nicht mehr auf den Willensbegriff rekurriert, um diesen gleichzeitig generell zurückzuweisen. Es genügt, sich klarzumachen, dass Freiheit zum einen sowie Wille und Wollen zum anderen nicht deckungsgleiche Phänomenbereiche bezeichnen – und zwar nicht allein insofern es auch einen unfreien, tragischen Willen geben und Freiheit auch im ›Ablassen‹ vom Wollen angetroffen werden kann, sondern gerade auch insofern der Wille zugleich als Operationsfigur in anderen Bereichen der Philosophie jenseits der Freiheitsdebatte fruchtbar gemacht wird. So wird unter Bezugnahme auf den Willensbegriff die Frage nicht nur nach dem »obersten Prinzip […] der Moralität« (GMS, AB XV), sondern sogar nach dem Ausgangspunkt und Prinzip aller Teilbereiche der Philosophie ausgehandelt – nämlich sowohl der praktischen als auch der theoretischen Philosophie sowie der Natur- und Geistesphilosophie. Drittens wird schließlich in den Arbeiten, die den Phänomenen von Wille und Wollen unter systematischen Gesichtspunkten gewidmet sind, gerade ein Autor mehr oder weniger ausgespart oder nur in kritischer Absicht in den Blick genommen, der, wie die vorliegende Untersuchung zu zeigen unternimmt, sich in seinen Strukturanalysen des Willens und Wollens gerade in dem besagten Spannungsfeld zwischen Wollen und ›Lassen‹ bewegt, und der darüber hinaus im Gegenzug zu dem Gedanken eines unbedingten Willensprimats im idealistischen Kontext eine für das 19. und 20. Jahrhundert bedeutsame ›Wende‹ im Willensdenken einläutet – nämlich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. 11 Doch auch in der Forschung zu Schelling selbst wurde das Thema des Willens und Wollens wie auch der Gelassenheit bisher eher selten und lediglich mit Blick auf einzelne seiner Schriften behandelt. Allen Bourke 1964, der allerdings Schelling nur am Rande und Heidegger gar nicht erwähnt. 11 Eine Ausnahme bildet hier die allerdings ältere Arbeit von Knauer 1907, bes. 34– 37. Selbst der Schelling-Forscher Miklos Vetö spart in seiner Untersuchung zum Begriff des Willens Schelling aus (vgl. Vetö 2002), obgleich seine systematischen Überlegungen zum Willensbegriff eine deutliche Nähe zu Schelling erkennen lassen (Vetö 2012, 327–437). Dazu Höfele 2016c.

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Einleitung

voran standen dabei die Willensreflexionen in der Freiheitsschrift von 1809, 12 aber auch – zusammen mit den Konzepten von ›Lassen‹ und Gelassenheit – in den Weltaltern sowie der Erlanger Vorlesung im Zentrum der Aufmerksamkeit. 13 Die Willensreflexionen der Frühphilosophie, insbesondere in der Allgemeinen Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur von 1797/98, wurden dabei lediglich im Blick etwa auf die Freiheitsschrift in den Blick genommen. 14 Eine eingehende Betrachtung der späten Ausführungen Schellings zum Wollen in seiner zweiten Münchener und seiner Berliner Zeit steht nach wie vor aus – wenn man einmal von den nur kurzen Bemerkungen Buchheims 15 und der kritischen Perspektive Osterwalds absieht. Augenscheinlich von Heidegger beeinflusst, interpretiert Letzterer die späten schellingschen Überlegungen zum Wollen und die damit einhergehende Zurückweisung der »Vernunft als Ort der Anwesenheit des Wirklichen in seiner Wirklichkeit« als ›Vorstufe‹ des ›Willens zur Macht‹, der bei Nietzsche die Vernunft und den ›wahrheitslosen Schein‹ des von ihr Gewussten begründe. 16 Zwar ist es anerkennenswert, dass Osterwald derart gegenüber Löwith den »Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«, 17 wenn nicht zu überwinden, so doch durch das Aufzeigen eines ›Vermittlungsgliedes‹ in Schelling verständlich zu machen sucht. Doch geht der Autor sicher im ›Fahrwasser‹ Heideggers zu weit mit seinem kritischen »Aufweis der geschichtlichen Dimension der Willensmetaphysik, innerhalb deren die Umkehrung der gesamten philosophischen Tradition durch Nietzsche als die geschichtliche Konsequenz der inneren Widerwendigkeit der Willensmetaphysik selbst für uns heute verständlich« werde. 18 So versammelt doch gerade der späte Schelling, wie zu zeigen sein wird, beinahe nochmals das gesamte, in sich plurale Willensdenken seiner vorausgehenden Philosophie, sodass es zumindest problematisch ist,

Vgl. etwa Eidam 2007; Ferrer/Pedro 2012, bes. 145–173; Noller 2015, 293–344; Egloff 2016. 13 Vgl. Hühn 1994a, 206–212 u. Hühn 2006b; Oser 1999, bes. 189–191, 200–203 u. 209–212; Norman 2002; Bensussan 2015a, 91–98. Unter dem Aspekt des Willens nimmt die gesamte ›mittlere‹ Philosophie Schellings in den Blick lediglich Cattin 2010 [erneut abgedruckt in: Cattin 2012, 57–75]. 14 Vgl. Peetz 1995, 193–202; Noller 2015, 300–309. 15 Vgl. Buchheim 1992, 149–160. 16 Osterwald 1972, 6. 17 Vgl. Löwith 1941. 18 Osterwald 1972, 9. 12

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Zur Diskussionslage

von einer ›geschichtlichen Konsequenz‹ von Schelling hin zu Nietzsche zu sprechen. Es ist nicht verwunderlich, dass neben Untersuchungen zur Konstellation ›Schelling –Schopenhauer‹ 19 insbesondere die Arbeiten zum Verhältnis ›Schelling – Heidegger‹ 20 meist zugleich auch auf die Interpretationen dieser Denker von Wille und Wollen sowie der Gelassenheit zu sprechen kommen. Während jedoch die erste größere Monographie auf diesem Forschungsfeld von Ryōsuke Ōhashi bei Schelling fast ausschließlich den Begriff der ›Ekstase‹ beleuchtet und die Pluralität der von Schelling aufgezeigten Willensformen außen vor lässt, 21 fokussieren zahlreiche andere Arbeiten zum Willensdenken bei Schelling und Heidegger beinahe ausschließlich auf die schellingsche Schrift von 1809 – und folgen darin der fast ausnahmslos der Freiheitsschrift geltenden Schelling-Rezeption Heideggers, 22 obgleich sich auch eine Rezeption der Weltalter sowie der Erlanger Vorlesung bei Heidegger in den vierziger und fünfziger Jahren nachweisen lässt. 23 Schließlich besteht bei den vorliegenden Arbeiten zu Schelling und Heidegger zumeist die Problematik, dass sie sich bei der Interpretation von Wollen und Lassen zu stark die Perspektive von Heidegger vorgeben lassen, sodass darin die gerade gegenüber Heidegger zu betonende Vielschichtigkeit von Schellings Willensdenken unterbelichtet bleibt. 24 Damit soll indessen die Fruchtbarkeit der heideggerschen Schelling-Rezeption für ein besseres Verständnis bestimmter Aspekte des schellingschen Willensdenkens sowie seiner Aktualität keineswegs grundsätzlich bestritten, sondern lediglich die Gefahr einer ›einseiti-

Vgl. die Beiträge zum Wollen sowie zur Willensverneinung bei Schelling und Schopenhauer in Hühn 2006a, 149–221 u. 427–521 sowie Berg 2003 u. Kisner 2016, 300–373, die die Interpretation der schopenhauerschen sowie der idealistischen Ansätze zu einer Willensmetaphysik mit einer Analyse der Ding-an-sich-Problematik und -Kritik verknüpft. 20 Vgl. zur Forschungsliteratur zu Schelling und Heidegger insgesamt die Bibliographie in Hühn/Jantzen 2010, 465–478. 21 Vgl. Ohashi 197, bes. 11–85 (zu Schelling). 22 Vgl. etwa Davis 2007, bes. 100–121 (zu Schelling); Friedrich 2009; Hühn 2010 u. 2012; Sommer 2015, bes. 54–177 (zu Schelling); Hildebrandt 2015. 23 Vgl. dazu Höfele 2015, 67–75. 24 Dies gilt etwa auch für die vielschichtige und aspektreiche Arbeit von Gourdain (2017), die sich dem voluntativen Aspekt nur auf wenig Raum und in kritischer Weise zuwendet (vgl. Gourdain 2017, bes. 105–113 u. 149–164). 19

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Einleitung

gen‹ Lesart betont werden, die sich allein von Heideggers Perspektive aus auf Schelling zubewegt. 25 Allein eine durch Nähe und Distanz gegenüber Heideggers Schelling-Interpretationen charakterisierte Interpretationsperspektive vermag die Heidegger-kritischen Potentiale Schellings angemessen als Alternativen zu ersterem zur Geltung zu bringen – und damit den Phänomenbereich des Voluntativen in seiner Vielschichtigkeit und unter Berücksichtigung seiner ebenfalls wesentlichen ›Ränder‹ und Grenzen adäquat zu erfassen.

2. Zwischen Aufwertung und Kritik des Willens: Zu Thema und These der Untersuchung Trotz aller häufig nicht unberechtigten Kritik an Martin Heidegger ist es dessen Verdienst, den Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling als zentralen Vertreter einer ›Philosophie des Willens‹ ins Gespräch gebracht zu haben. Bereits in seinem vermutlich ersten Schelling-Seminar von 1927/28 sieht Heidegger in der Formulierung »Wollen ist Urseyn« aus Schellings Freiheitsschrift von 1809 (AA I,17, 123) den Ansatzpunkt für eine »Interpretation und Kritik des Idealismus«. 26 Dies impliziert für Heidegger aber nicht nur, dass man mit Schelling die denkerischen Ansätze des deutschen Idealismus kritisch reflektieren kann, insofern er – so Heidegger in seiner Vorlesung von 1936 – diesen »von innen her über seine eigene Grundstellung hinaustreibt.« (HGA 42, 6) In Heideggers Vorlesungen der folgenden Jahre zeigt sich vielmehr immer deutlicher, dass diese von Heidegger artikulierte ›Kritik des Idealismus‹ selbst vor dem Idealisten Schelling nicht Halt macht und auch gegen diesen in kritischer Absicht gewendet wird – als dem Vertreter einer ›Metaphysik des Willens‹ in der Vorläuferschaft zu Schopenhauer und insbesondere zu Nietzsches ›Willen zur Macht‹. In all diesen Willenskonzeptionen werde, so Heideggers Kritik, »das Seiende als ein solches in das Offene von Beständigkeit und Anwesenheit« gebracht (HGA 6.2, 7), mit der Konsequenz, dass in der Neuzeit »das Seiende im Ganzen entdeckt, verfügbar und beherrschbar gemacht« werde Heidegger betont 1936 denn auch selbst die »Ein-seitigkeit« seiner Interpretation der Freiheitsschrift, die auf »die Sammlung aller Fragen auf die Seynsfrage« hin ausgerichtet sei (HGA 42, 185). 26 Heidegger 1927/28, 322 / HGA 86, 52. 25

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Zu Thema und These der Untersuchung

(HGA 6.2, 152), ohne noch nach der unverfügbaren Zeithaftigkeit und Kontingenz desselben zu fragen. Angesichts dieser kritischen Perspektive Heideggers auf Schelling soll in der vorliegenden Untersuchung zunächst einmal der Versuch unternommen werden, ›Schelling ohne Heidegger‹ zu lesen und damit Heideggers einseitige Lesart zu korrigieren. 27 Gleichwohl schließt sich die hier entfaltete Interpretationsperspektive zugleich Heidegger insofern an, als sie den Überlegungen zum Willen und Wollen wie auch zu dem damit einhergehenden ›Lassen‹ vom Wollen in Schellings Denken nicht allein eine ausgezeichnete Bedeutung für ein mögliches Verständnis des schellingschen Philosophierens als einer Kontinuität zuspricht, sondern zugleich auch als wegbereitend für das auf den Willensbegriff rekurrierende nachidealistische Philosophieren ansieht. In der vorliegenden Untersuchung ist infolgedessen eine doppelte These zu entfalten: Einerseits soll gezeigt werden, dass in Schellings Philosophie das Willensparadigma durchaus eine zentrale Rolle spielt und in entscheidender Weise gegenüber der kantisch-fichteschen Tradition weiterentwickelt und ausdifferenziert wird. Andererseits muss aber ebenso hervorgehoben werden, dass Schelling gleichzeitig auf die kritischen Potentiale des Willensparadigmas reflektiert und gleichsam als dessen Korrektiv dieses flankierende und relativierende Motive geltend macht – wie Liebe, ›Nicht(s)Wollen‹ und Gelassenheit. Hierbei leistet Schelling, um eine Differenzierung Paul Ricœurs heranzuziehen, 28 nicht nur einen Beitrag zu einer ›Phänomenologie‹ verschiedener Willensfomen sowie darauf aufbauend zu einem ›Diskurs sinnhafter Handlungen‹ oder rational geleiteter Tätigkeiten, sondern bietet zugleich auch einen Ansatzpunkt für einen gleichsam ›hermeneutischen Diskurs‹, der das Wollen als eine mögliche, damit aber zugleich zurückweisbare, kontingente Auslegung des Seins in seiner Gesamtheit begreift, ohne damit bereits gänzlich die heideggersche Konzeption einer ›Seinsgeschichte‹ oder auch die ricœursche Annahme einer »Tiefengeschichte der Erscheinungsweisen von Sein (depth history of modes Vgl. hierzu, mit Blick allerdings nur auf die Freiheitsschrift, bereits Zöller 2012. Vgl. Ricœur 1970, worin dieser infolge einer ›Unzufriedenheit‹ (dissatisfaction) mit seiner eigenen rein phänomenologischen Willensanalyse in Ricœur 1950 drei verschiedene, philosophiegeschichtlich nachweisbare Diskurse mit Blick auf den Willen unterscheidet: nämlich einen ›phänomenologischen Diskurs‹, einen ›Diskurs über sinnhafte Handlungen‹ (discourse about meaningful action) und einen ›hermeneutischen Diskurs‹. 27 28

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Einleitung

of being)« 29 zu antizipieren. Auch wenn Heidegger dies nicht eingesteht, ist es gerade die von Schelling erstmals gegenüber dem Frühidealismus in Stellung gebrachte Willenskritik, die Heidegger selbst in gleichwohl verengter Form im zwanzigsten Jahrhundert im Zuge seiner Metaphysikkritik aus der Perspektive einer ›Seinsgeschichte‹ aufnimmt und dabei sogar noch gegen Schelling selbst wendet. Zwar ist es zweifellos richtig, dass Schelling auf das durch Kant und Fichte etablierte Willensparadigma zurückgreift, das schon bei diesen nicht nur als Garant von Freiheit sowie als »oberste[s] Prinzip […] der Moralität« (GMS, AB XV), sondern gerade bei Fichte auch als Prinzip der Philosophie als ganzer fungiert, aus dem sich sowohl praktische als auch theoretische Philosophie ableiten lassen sollen. 30 Jedoch weitet erstmals Schelling das Willensparadigma in einer spezifischen Weise aus, die auf Schopenhauer, wenn nicht sogar auf Nietzsche vorausweist. So ist bereits in Schellings Frühphilosophie eine Überbietung und Korrektur des kantisch-fichteschen Willensbegriffes dahingehend zu beobachten, dass er nicht mehr lediglich für vernunftbegabte Wesen reserviert wird. Indem nämlich ein umfassendes, in sich plurales und dynamisches System etabliert werden soll, wird für Schelling ein als Prinzip fungierender Willensbegriff nötig, welcher zum einen nicht vermögenstheoretisch auf den Menschen beschränkt werden kann und der zum anderen von vornherein jeder statischen Substanzontologie vorbeugt, welche die innere Pluralität und Dynamik des Systems konterkarieren würde. Spätestens seit der Freiheitsschrift lässt sich bei Schelling des Weiteren eine Problematisierung bestimmter Ausprägungen des Willens beobachten, die jedoch im Gegensatz etwa zu Schopenhauer und vor allem zu Heidegger zu keiner gänzlichen Desavouierung oder Verabschiedung des Willensbegriffes führt, wie gerade die schellingsche Spätphilosophie zeigt. Vielmehr geht es Schelling nur um die Verabschiedung eines ›reinen‹, gänzlich überzeitlichen Willens, indem er zum einen dessen wesenhaften Bezug zu Formen der ›Neigung‹ wie etwa der ›Sehnsucht‹ herausstellt und indem er zum anderen dessen Zeitlichkeit unterstreicht. Schelling bietet darüber hinaus auch insofern eine ergänzende Perspektive zu traditionellen wie teilweise auch gegenwärtigen Diskussionen des Willensparadigmas, 31 als 29 30 31

Ricœur 1970, 289. Vgl. dazu unten, Teil I, Kap. 1. Vgl. hierzu unten Einleitung zu Teil II.

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Zu Thema und These der Untersuchung

er nicht zuletzt auf die von seinen idealistischen Vorgängern und Zeitgenossen großteils ausgeblendeten negativen Seiten von Wille und Wollen aufmerksam macht und eine interne Differenzierung und Flankierung dieses Phänomens vornimmt. Zum einen zeigt er nämlich die tragischen Momente eines einseitig aufgefassten, monistischen Willensbegriffes und stellt zum anderen gleichzeitig diesem Willensbegriff ergänzende oder korrigierende Momente von Nicht(s)Wollen und Gelassenheit gegenüber, die er als das notwendige Andere desselben vorstellig macht. Das Wollen, so die Einsicht des ›mittleren‹ und späten Schelling, ist in seiner Potentialität nur im Kontext und im Verbund mit einer durch es anzuerkennenden Unverfügbarkeit oder Alterität denkbar, die er etwa als ›ewige Vergangenheit‹, ›Unvordenkliches‹ oder ›unvordenkliches Sein‹ umschreibt. Es ist das Anliegen der vorliegenden Untersuchung, diese Ausdifferenzierung, Flankierung und Kontextualisierung des Willensparadigmas durch Phänomene, die dieses ergänzen und gar fundieren, in der Philosophie Schellings herauszustellen und dabei zugleich paradigmatisch zu zeigen, wie diese Konzeption in gleichwohl verengter Form im zwanzigsten Jahrhundert in Heideggers Kritik an der Metaphysik und insbesondere an der ›Willensmetaphysik‹ des 19. Jahrhunderts implizit Nachwirkungen zeitigt. In methodischer Hinsicht verfährt die Untersuchung zum einen exegetisch-werkgeschichtlich sowie problemorientiert, indem sie die Motive von Willen, Wollen und ›Lassen‹ im Rückgriff auf eine exemplarische und zugleich repräsentative Textbasis des schellingschen Œuvres aufzuzeigen sucht. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der ›mittleren‹ Philosophie Schellings, insofern dort das ›Spezifikum‹ des schellingschen Willensdenkens am deutlichsten greifbar ist. Zum anderen verfolgt die Untersuchung zugleich ein doppeltes systematisches Interesse, insofern einerseits die mit jenen Motiven einhergehende Frage nach der Grundlegung eines philosophischen Systems und somit eines philosophischen Begreifens des Seienden im Ganzen aus einem einheitlichen Prinzip erörtert und problematisiert wird. Andererseits wird gleichzeitig dem systematischen Zusammenhang von Wille, Willenskritik und ›Lassen vom Wollen‹ sowie den damit verknüpften Figuren des Tragischen und der Alterität nachgegangen. Gerade in der Hinsicht versteht sich diese Studie als Ergänzung zu bereits vorliegenden Untersuchungen jener Phänomene, die jedoch zumeist die Gegenkonzeptionen zu Wille und Wollen ausklammern oder als ›Willensschwäche‹ meinen abhandeln zu können 9 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Einleitung

und in der Herausstellung der Autonomie des Willens dessen Einhergehen mit Phänomenen der Andersheit und Alterität sowie, damit zusammenhängend, der Endlichkeit und Zeitlichkeit abblenden. Schließlich und nur ausblicksartig verfährt die Untersuchung rezeptionsgeschichtlich und konstellativ, indem sie auch zum Ziel hat, im Rückgang auf Heideggers Metaphysik- und Willenskritik im Allgemeinen und auf seine ab den 1930er Jahren zumeist kritischen Bezugnahmen auf Schelling als zentralen Vertreter einer ›Willensmetaphysik‹ im Besonderen die ausdrücklichen wie impliziten Nachwirkungen des schellingschen Willens- und Gelassenheitsdenkens aufzuzeigen. Denn Heidegger selbst wird gerade im Zuge seiner SchellingRezeption auf die Phänomene des Willens und Wollens aufmerksam, wendet die dabei gewonnenen Erkenntnisse schließlich aber gegen den Idealismus und insbesondere gegen Schelling. So ist es denn zum Verständnis der heideggerschen ›Interpretationsstrategie‹ unerlässlich, die rezeptionsgeschichtliche Perspektive auch im Falle Heideggers Hand in Hand mit einer exegetisch-werkgeschichtlichen Perspektive gehen zu lassen: Greift Heidegger auf das Wollen Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre noch affirmativ und in eigener Sache zu einer Reformulierung der ›Entschlossenheits‹-Konzeption aus Sein und Zeit zurück, so wird er ähnlich wie Schelling in den folgenden Jahren auch auf die negativen Seiten des Willensparadigmas sowie auf die Notwendigkeit einer Korrektur und gar Überwindungsbedürftigkeit desselben aufmerksam. In vergleichbarer Weise wie Schelling sieht auch Heidegger in der Verabsolutierung des Wollens die Gefahr einer Verleugnung der Endlichkeit und damit einhergehend eines dem Wollen unverfügbaren ›Außen‹, auf welches das Wollen gleichzeitig immer als seine Ermöglichungsbedingung angewiesen bleibt. Das praktische Moment des Wollens ist mithin grundsätzlich auf ein ›theoretisches‹ Moment verwiesen, das jenes relativiert und als etwas wesentlich Begrenztes begreifbar werden lässt. Beide Denker betonen denn auch gegenüber einem gleichsam in allem seine Spuren hinterlassenden verabsolutierten Willensparadigma gerade dessen Kontingenz, dass dieses, um mit Ricœur zu sprechen, nur eine der ›Erscheinungsweisen von Sein‹ ausmacht. Während sich mithin anhand von Schellings systematischer Nähe zu Heidegger und dessen Modernekritik die Aktualität des ersteren zur Geltung bringen lässt, so kann man doch über diese Parallelität hinaus zugleich auch einen ›Mehrwert‹ des schellingschen Willens10 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Vorgehen und Aufbau der Untersuchung

denkens erkennen: Weist Heidegger im Zuge seiner Konzeption einer ›Seinsgeschichte‹ nicht allein das Willensdenken, sondern zugleich auch jede Seinsauslegung als eine dieses Sein ›verdeckende‹ grundsätzlich zurück, so ist es hingegen Schelling, der trotz der Einsicht in die Kontingenz des auf den Willensbegriff rekurrierenden ›hermeneutischen Diskurses‹ an diesem festhält und dabei allen drei der von Ricœur angeführten Diskursebenen gerecht zu werden versucht. Ist Heideggers Ansatz beständig der Gefahr eines entdifferenzierenden Denkens des Seins ausgesetzt, entgeht Schelling, wie zu zeigen sein wird, durch die in sich differenzierte voluntative Interpretation von Sein im generellen Bewusstsein von deren bloßem Auslegungscharakter gerade dieser Problematik.

3. Vorgehen und Aufbau der Untersuchung Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Die ersten drei stellen die verschiedenen Ausprägungen von Schellings Interpretation und Kritik des Willens – einschließlich des damit einhergehenden Gelassenheitsdenkens – im systematischen Durchgang durch eine einschlägige Auswahl aus seinem Gesamtwerk dar. In einem vierten und letzten Teil werden schließlich noch die Nachwirkungen der schellingschen Willenskritik exemplarisch anhand der Schelling-Rezeption Heideggers und seiner Kritik der Willensmetaphysik des 19. Jahrhunderts untersucht. Dass gegenüber diesem abschließenden, Heidegger gewidmeten Teil die sich mit Schelling beschäftigenden Abschnitte der Arbeit in drei Teile untergliedert sind, hat seinen Grund in Schellings zweimaliger ›Neujustierung‹ seiner Interpretation des Willensparadigmas: Während sich in seinem Frühwerk eine Ausweitung und Radikalisierung des kantisch-fichteschen Willensbegriffes vom Anthropozentrischen zum Physiozentrischen hin – unter gleichzeitiger Kritik der frühidealistischen Einseitigkeit desselben – bemerkbar macht, artikuliert Schelling spätestens seit 1809 eine vehemente Kritik am Willensparadigma, indem er es zugleich auszudifferenzieren beginnt. Erst die Spätphilosophie wird jedoch im Zusammenhang mit der erstmals 1827 zu findenden Figur des ›Herrn des Seins‹ 32 wieder in aller Schelling spricht zwar auch in Erlangen bereits von einem »Herr[n] von allem Sein«, wie die Nachschrift Enderleins notiert (Schelling 1821, 121); diese Redeweise

32

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Einleitung

Deutlichkeit einen positiv konnotierten Willensbegriff ins Zentrum stellen, ohne dass allerdings die in der ›mittleren‹ Philosophie gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich möglicher Deformationen im Willen und Wollen ausgeklammert würden. Um diese ›Bewegung‹ sichtbar zu machen, geht die Untersuchung in ihrem ersten Teil von dem durch Kant und Fichte geprägten Willensbegriff aus. Dass Schelling diesen aufgreift und zugleich transformiert, tritt aufs deutlichste im Übergang von Schellings Neuer Deduction des Naturrechts von 1796/97 zu dessen 1797 veröffentlichter Allgemeiner Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur hervor. Übernimmt Schelling in seinem Naturrechtsaufsatz noch relativ ungebrochen die insbesondere mit Fichte verbundene prinzipientheoretische Aufwertung des Willensparadigmas, so nimmt er in der unmittelbar folgenden Uebersicht eine Ausweitung desselben vor, welche die etwa noch von Heidegger unterstellte Verknüpfung mit dem subjektivitätstheoretischen Paradigma aufzulösen beginnt. Schon früh in Schellings Denken, nämlich bereits seit 1795, macht sich im Zuge seiner Spinoza-Rezeption des Weiteren eine Skepsis und Distanzierung gegenüber dem Willensbegriff geltend. Auch wenn dies, einhergehend mit dem Verlassen des subjektivitätstheoretischen Paradigmas im Zuge der ab 1801 einsetzenden Identitätsphilosophie, sogar zu einem kurzzeitigen Verschwinden aller voluntativen Begrifflichkeiten führt, bestätigt letztendlich auch die identitätsphilosophische Phase des schellingschen Denkweges jene Ausweitung des Willensparadimas ohne Abstriche und verbindet sie sogar – wie sich insbesondere 1806 zeigt – mit einem auf Schopenhauer vorausweisenden Willensmonismus, der alles menschlich-individuelle Wollen zu etwas bloß Scheinhaftem degradiert. Erst ab 1809 zeigt sich unverkennbar, wie der den Schwerpunkt der Untersuchung ausmachende zweite Teil nachzuweisen unternimmt, eine Ausdifferenzierung des Willensparadigmas, die eine grundsätzliche und bruchlose Vorläuferschaft Schellings zu Schopenhauers Willensmonismus und zu Nietzsches ›Willen zur Macht‹ – wie Heidegger dies gleichwohl unterstellt – als zumindest fragwürdig erscheinen lässt. Denn mit dieser Binnendifferenzierung im Haushalt des Wollens als einer in sich pluralen Struktur macht Schelling zum ist 1821 allerdings weder konzeptualisiert, wie dann 1827 mit Bezug auf Gott, noch primär als eine unveräußerliche Eigenschaft der Potenz des ›Seinkönnenden‹ verstanden, auf die sie sich in Erlangen bezieht.

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Vorgehen und Aufbau der Untersuchung

einen auf die negativen und sogar tragischen Facetten desselben aufmerksam und flankiert es zum anderen durch die Momente von Liebe, Nicht(s)-Wollen und Gelassenheit. Während die Freiheitsschrift zumindest zwei aus dem ›Ungrund‹ hervorbrechende Willen geltend macht, unterscheidet Schelling in den sich anschließenden Weltaltern eine Mehrzahl von Willensmomenten in allem Lebendigen, die allerdings allesamt zu keiner gelingenden Existenzform zu führen vermögen und eine diese überwindende, gleichwohl aber noch voluntativ strukturierte ›Scheidung von sich‹ oder – so 1821 – eine allem willentlichen entsagende ›Ekstase des Ich‹ auf den Plan rufen. Gerade mit Blick auf diese Negativierung des Wollens im Kontext der Forderung einer ›Ekstase des Ich‹ legen sich dabei zwei Seitenblicke auf zu Schelling mehr oder weniger zeitgenössische Denker nahe, die dieser möglicherweise in Erlangen sogar rezipiert hat: nämlich zum einen auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen Philosophie des Rechts mit ihrer einleitenden systematischen Exposition des Willensbegriffs bei Beginn der Erlanger Vorlesung 1821 gerade frisch erschienen war, sowie zum anderen auf Arthur Schopenhauer, dessen 1819 publiziertes Hauptwerk sich erstaunlicherweise sogar in Schellings Nachlassbibliothek findet. Der dritte Teil der Untersuchung führt gegenüber dieser Schopenhauer-affinen Abwertung des Voluntativen aus, wie Schelling im Übergang zur Spätphilosophie ab 1827 mit der Figur eines ›Herrn des Seins‹ das Wollen an systematisch signifikanter Stelle wieder partiell rehabilitiert. Zwar kritisiert Schelling im Kontext seiner späten ›negativen Philosophie‹ nach wie vor vehement jedes sich aus sich selbst generierende Wollen als bodenlos und fordert in der Figur einer ›Ekstase der Vernunft‹ eine radikale Absage hiervon. Indem Schelling aber gleichzeitig die von Kant vorgegebene Verklammerung von Autonomie und reinem Willen löst, macht er auf ein essentielles heteronomes Moment in allem wahrhaften Wollen aufmerksam, das es ihm ermöglicht – deutlicher als in seiner ›mittleren‹ Philosophie – auch bestimmte Formen des Wollens, die diesem Moment Rechnung tragen, zu honorieren. Gleichgültig ob man auf den Menschen oder sogar auf Gott selbst blickt, ist das Wollen Schelling zufolge als solches nämlich nur möglich vor dem Hintergrund der Anerkennung eines vorausgehenden gelassenen und ›unvordenklichen‹ Seins. Dies versetzt Schelling im Gegensatz zu Heidegger denn auch in die Lage, das wahrhafte Wollen noch über die Unentschiedenheit einer ursprünglichen Gelassenheit zu setzen. 13 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Einleitung

Wenn der vierte und letzte Teil der Untersuchung sich abschließend noch Martin Heidegger zuwendet, so geschieht dies nicht allein, um die Bedeutsamkeit der schellingschen Willensphilosophie durch ein zweifellos zentrales Beispiel ihrer Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert zu belegen, sondern vielmehr um von Heideggers bisweilen einseitiger Perspektive aus nochmals einen bündelnden Rückblick auf Schellings vielgestaltiges und differenziertes Willensdenken zu werfen. Indem nämlich Heidegger Schelling einerseits als einen der zentralen Initiatoren der Willensmetaphysik des 19. Jahrhunderts geltend macht und derart sich im Voraus gegenüber dem von Löwith behaupteten »Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« 33 positioniert, verkennt er doch andererseits, dass Schelling gleichzeitig gewissermaßen noch als deren ›Überwinder‹ anzusehen ist, indem er den Willensbegriff in sich ausdifferenziert und bestimmte Deformationen desselben vor dem Hintergrund der Motive von Nicht(s)-Wollen, Liebe und Gelassenheit einer vehementen Kritik unterzieht. Insofern vermag die Einbeziehung des heideggerschen Willensdenkens als zentrales Zeugnis für eine Rezeptionsgeschichte des schellingschen Ansatzes im 20. Jahrhundert zugleich auch nochmals das systematische Potential der schellingschen Willensphilosophie in ihrem Mehrwert gerade gegenüber Heideggers Verständnis von Wille und Wollen herauszustellen. Bereits die ersten Zeugnisse von Heideggers Schelling-Rezeption – nämlich die Seminarnotizen und -protokolle des im Wintersemester 1927/28 in Marburg veranstalteten Schelling-Seminars – legen einen Akzent auf die Konzeptionen von Wollen und Lassen in Schellings Freiheitsschrift. Heideggers Interpretation des Willensparadigmas wandelt sich erst allmählich im Laufe dieser Rezeption, unter anderem angeregt durch Schellings Freiheitsschrift, zum Ausgangspunkt für eine Kritik der Moderne insgesamt. Auch wenn Heidegger bereits im Sommersemester 1928 34 anhand von Leibniz’ Monadologie die Hauptmomente seines späteren Willensbegriffes entwickelt – nämlich in Gestalt der Einheit von appetitus und perceptio –, so greift Heidegger doch zunächst Anfang der dreißiger Jahre affirmativ auf den Willensbegriff zurück. Nach 1933 – und vor allem im Kontext seiner Schelling-Vorlesungen – geht diese Aufwertung des Willensparadigmas in Heideggers Philosophieren schließlich jedoch sowohl 33 34

Vgl. Löwith 1941. Vgl. HGA 9, 79–101 u. HGA 26, 86–123.

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Vorgehen und Aufbau der Untersuchung

mit einer Selbstkritik seiner eigenen Philosophie bis 1933 als auch mit einer Distanzierung und entschiedenen Kritik nicht nur des deutschen Idealismus und insbesondere Schellings einher, welcher doch gerade einer der Stichwortgeber für diese Kritik war. Vielmehr wird auch noch die Willensmetaphysik des 19. Jahrhunderts, allen voran Schopenhauers und Nietzsches, als Verlängerung des schellingschen Willensdenkens zum einen und als Vorläuferfigur zur modernen Technik zum anderen kritisiert, die ebenfalls durch einen ›Willen zum Willen‹ gekennzeichnet sei. Heidegger selbst sucht daher – als erster, wie er zu Unrecht beansprucht – das Denken eines zweiten, durch Gelassenheit gekennzeichneten Anfangs als Alternative zu der diagnostizierten Verabsolutierung des Willens in der Moderne zu entwickeln. Lediglich in den frühen und späten Zeugnissen seiner Schelling-Rezeption, die uns in Form von Seminarnotizen und privaten Aufzeichnungen vorliegen und die bereits von der literarischen Gattung her einen anderen Status als die zu einer Selbstpositionierung genutzten Vorlesungen in Heideggers Denken haben, wird Heidegger ansatzweise auf die willenskritischen Motive im Denken des ›mittleren‹ Schelling aufmerksam. So gesteht Heidegger hier Schelling in viel höherem Maße ein Denken des ›Lassens‹ sowie des sich Entziehenden und damit auch eine Vorläuferschaft zu seinem eigenen Denken des ›anderen Anfangs‹ zu, als dies in den Vorlesungen nachzuweisen ist. Indem aber Heidegger in seinem eigenen Denken des ›Lassens‹ insbesondere der fünfziger Jahre eine strikte Opposition zwischen Wollen und ›Lassen‹ sieht, muss er, wie abschließend auszuführen sein wird, beinahe notwendigerweise die Differenziertheit des Willensdenkens bei Schelling verkennen. Im Gegensatz zu Heidegger findet Letzterer hierbei trotz aller Kritik bestimmter Deformationen des Wollens gerade in seiner Spätphilosophie wieder zu einem positiv konnotierten Willensbegriff zurück, indem er diesen aber nur als eine, um mit Ricœur zu sprechen, geschichtlich kontingente ›Erscheinungsweise von Sein‹ versteht und damit auch dem heideggerschen Vorwurf einer ›seinsgeschichtlichen‹ Verabsolutierung des Willens gewissermaßen immer schon zuvorkommt.

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Teil I Schellings anfängliche Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas gegenüber Kant und Fichte (1795–1806)

Gleichsam wie in einem Brennglas bringt Schelling in den Augen Heideggers mittels des programmatischen Satzes »Wollen ist Urseyn« aus der Freiheitsschrift von 1809 (AA I,17, 123) einen Grundgedanken des deutschen Idealismus auf den Punkt und überbietet diesen sogar noch. Anders als in den Vorlesungen der dreißiger und vierziger Jahre, in denen Heidegger im Rückgriff auf diesen Satz vehement die Willenszentriertheit der neuzeitlichen Philosophie kritisiert, verbindet indessen Heidegger damit zunächst noch keine Kritik Schellings. Die Bemerkung des vermutlich ersten Schelling-Seminars in Marburg von 1927/28, dass in diesem Satz Schellings das Potenzial einer »Interpretation und Kritik des Idealismus« im Ganzen liege, 1 lässt noch unentschieden, ob Heidegger damit lediglich die Intention Schellings anzuzeigen beabsichtigt oder ob er hier bereits seine spätere entschiedene Kritik an Schelling und dem Idealismus insgesamt vorwegnimmt, 2 welche das »Wollen als Titel der neuzeitlichen Auslegung des Seins« herausstellt und zugleich als Verengung des Seinsbegriffes anprangert (HGA 49, 101). 3 Unabhängig von der Antwort auf diese von Heidegger 1927/28 noch offengelassene Frage sollen die ersten drei Teile dieser Arbeit im Rückgang auf Schellings Interpretationen des Willensparadigmas zeigen, dass Letzterer mittels dieses Satzes durchaus den Idealismus und damit einhergehend auch sein eigenes Philosophieren zu interpretieren sowie zu kritisieren sucht. Zwar lässt sich die vorliegende Heidegger 1927/28, 322 / HGA 86, 52. Weder in Heideggers eigenen Notizen noch in den Seminarprotokollen wird dieser Gedanke aus der »Nota bene« ausführlicher entfaltet und zur Klarheit gebracht (vgl. in den Protokollen Heidegger 1927/28, 333 f. / HGA 86, 530 f.). Wie an späterer Stelle (vgl. unten, Teil II, Kap. 1.1.1) noch auszuführen sein wird, sucht nämlich auch Schelling selbst mit diesem Satz die Fortschritte des Idealismus zu artikulieren und zugleich dessen Grenzen in kritischer Absicht sichtbar zu machen. 3 Vgl. dazu ausführlich unten, Teil IV. 1 2

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

Untersuchung damit von Heidegger den Fokus vorgeben, insofern hier Schellings frühe, ›mittlere‹ und selbst noch seine späte Philosophie am Leitfaden seiner Interpretationen des Willensparadigmas betrachtet wird. Gleichwohl soll hierbei zugleich über Heideggers Interpretation in kritischer Absicht hinausgegangen werden, da – wie als Ergebnis bereits vorweggenommen werden kann – die Rolle des Willensparadigmas bei Schelling durchaus vielschichtiger und ambivalenter einzustufen ist, als Heidegger dies darstellt. Denn bereits die erste Periode von Schellings Willensdenken, zu welcher die Schriften vor dem Erscheinen der Freiheitsschrift 1809 gezählt werden sollen, steht zwar zum einen für eine Ausweitung des durchweg nicht problematisierten Willensparadigmas ein, sie weist zum anderen aber zugleich auch eine Entwicklung auf, die als Distanzierung vom kantisch-fichteschen Willensbegriff zu begreifen ist und welche keineswegs in der Perspektive Heideggers durch einen uniformen, die ganze Neuzeit prägenden Willensbegriff adäquat reformuliert werden kann. Um diese Entwicklung des Willensbegriffes in den schellingschen Schriften vor 1809 nachzuvollziehen, ist es zum einen notwendig, zunächst in aller Kürze auf Kant und dessen für den nachfolgenden Idealismus entscheidende Prägung des Willensbegriffes sowie auf Fichte einzugehen, der den kantischen Willensbegriff heranzieht, um ein in den Augen der Idealisten zentrales Defizit von dessen Philosophie zu beheben – nämlich deren Auseinanderbrechen in eine theoretische und eine praktische Philosophie. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang aber auch ein weiterer Denker zu berücksichtigen, der auf Schellings Frühphilosophie sowie auf seine Identitätsphilosophie in entscheidender Weise Einfluss ausgeübt hat – nämlich Spinoza, auch wenn dieser durch seine Kritik des Willensvermögens eher in gleichsam negativer Weise auf Schellings Willensdenken eingewirkt hat, sodass Schelling immer mehr die Absolutheit des Willensparadigmas zurückweist (Kap. 1). Das Anliegen, theoretische und praktische Philosophie aus einem einheitlichen Prinzip zu begründen, greift Schelling im Ausgang von Fichte schon früh auf, verbindet es aber zugleich mit der weitergehenden Frage danach, wie es zwischen dem auch als Unbedingtes oder spinozistisch als Substanz bestimmten Prinzip und dem daraus Begründeten, dem Endlichen und Bedingten, einen Übergang geben könne. Während Schelling zunächst unter dem Einfluss seiner Spinoza-Lektüre das Willensparadigma zur Erklärung jenes Übergangs strikt vom Konzept des Absoluten fern18 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Die Ausgangsbedingungen Schellings

hält, kommt er schließlich im Zuge einer kleineren, im Kontext der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus entstandenen Schrift, nämlich der Neuen Deduction des Naturrechts, erstmals auf das Willensparadigma ausführlich zu sprechen, um die in den Briefen aufgeworfene Frage nach dem Übergang vom Endlichen zum Unendlichen aus kritizistischer Perspektive nochmals einer genaueren Untersuchung zu unterziehen (Kap. 2). Verbleibt der Naturrechtsaufsatz jedoch noch ganz im Rahmen des von Fichte vorgegebenen Ansatzes und behält den Willensbegriff allein dem Kritizismus vor, so nimmt Schelling 1796/97 in der Allgemeinen Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur erstmals eine auch die Naturphilosophie in sich einbegreifende Ausweitung und Ausdifferenzierung des Begriffs des Wollens vor, der es Schelling erlaubt, einen in sich konsistenten Übergang vom Unendlichen zum Endlichen und nicht mehr nur umgekehrt zu konstruieren (Kap. 3), auch wenn er diesen Wollensbegriff 1800 schließlich in den des ›Produzierens‹ zurücknimmt, um demgegenüber das spezifisch menschliche Wollen als Selbstbestimmung abgrenzen zu können (Kap. 4). Die sich dem ›Indifferenzpunkt‹ von Natur- und Transzendentalphilosophie unter Vernachlässigung der Endlichkeit zuwendende Identitätsphilosophie klammert den Willensbegriff dagegen zunächst fast gänzlich aus, um ihn erst 1806 mit Bezug auf das Absolute wieder einzuführen (Kap. 5).

1. Die Ausgangsbedingungen Schellings: Kants und Fichtes Aufwertung des Willensparadigmas sowie Spinozas Zurückweisung desselben Will man die Ausgangsbedingungen von Schellings Willensdenkens im Sinne eines Rahmens benennen, innerhalb dessen sich die ›Bandbreite‹ der von diesem angesprochenen Wollensformen einzeichnen lässt, so sind als gleichsam äußerste ›Eckpunkte‹ an systematisch möglichen Optionen zum einen die frühidealistische Aufwertung des Willensparadigmas durch Kant und insbesondere Fichte sowie zum anderen die gänzliche Zurückweisung des Willens als eines Vermögens und der Willensfreiheit bei Spinoza oder im ›Dogmatismus‹ zu nennen, anhand dessen Schelling Spinozas Position in seinen Frühschriften reformuliert:

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

(1) In seiner Allgemeinen Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur von 1797/98 fasst Schelling die diesbezüglichen Ansätze sowie die Leistungen Kants und Fichtes folgendermaßen zusammen: Beide Philosophen sind einig in der Behauptung, daß der Grund unserer Vorstellungen nicht im Sinnlichen, sondern im Uebersinnlichen liege. Diesen übersinnlichen Grund muß Kant in der theoretischen Philosophie symbolisiren, und spricht daher von Dingen an sich, als solchen, die den Stoff zu unsern Vorstellungen geben. Dieser symbolischen Darstellung kann Fichte entbehren, weil er die theoretische Philosophie nicht, wie Kant, getrennt von der praktischen behandelt. Denn eben darin besteht das eigenthümliche Verdienst des Letztern, daß er das Princip, das Kant an die Spitze der praktischen Philosophie stellt (die Autonomie des Willens) zum Princip der gesammten Philosophie erweitert, und dadurch der Stifter einer Philosophie wird, die man mit Recht die höhere Philosophie heißen kann, weil sie ihrem Geiste nach weder theoretisch noch praktisch allein, sondern beides zugleich ist. (AA I,4, 136)

Schelling spielt hier unverkennbar auf das an, was Dieter Henrich einmal als »die erste kopernikanische Wendung Kants« bezeichnete 4 – nämlich die Erkenntnis, dass »überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich [ist], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«, wie es gleich zu Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 heißt (GMS, AB 1). Diesen Willen hat Kant in Gestalt der Autonomie bekanntlich zum »obersten Prinzip[…] der Moralität« (GMS, AB XV) und damit der ›praktischen Philosophie‹ insgesamt erhoben, wie auch Schelling betont. 5 Gleichzeitig hatte Kant Henrich 2001, 16. Das Verhältnis dieser ersten ›kopernikanischen Wendung‹ zu der von Kant selbst als solche eingeführten (vgl. KrV, B XVIf.) erläutert Henrich wie folgt: »Lange bevor er [Kant, P. H.] auf den Gedanken kam, die Gegenstände der Erkenntnis könnten sich auch nach den Gesetzen unserer Anschauung richten, hatte er bemerkt, daß es mit der Erklärung der Sittlichkeit aus bestimmten Gegenständen des Willens ›nicht gut fort wollte‹ ; und er fand, daß es ›besser gelinge‹, wenn er annahm daß die Gegenstände dem Willen selbst entspringen« (Henrich 2001, 16). 5 Zwar hat Kant schon in der Grundlegung 1785 im Blick, dass »zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft« erforderlich sei, »daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können« (GMS, AB XIV), und er spricht in diesem Zusammenhang sogar von der »Anwendung desselben Prinzips [nämlich des obersten Prinzips der Moralität, P. H.] auf das ganze System«, um sogleich die Durchführung dieser ›Anwendung‹ mangels eines sicheren Beweises noch zurückzustellen: »[A]llein ich mußte mich dieses Vortheils begeben, der auch im Grunde mehr eigenliebig, als gemeinnützig sein würde, weil die Leichtigkeit im Gebrauche und die scheinbare Zulänglichkeit 4

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Die Ausgangsbedingungen Schellings

aber in seiner theoretischen Philosophie den freien, autonomen Willen derart bestimmt, dass er nur »als frei gedacht« werde, insofern er »als einem Dinge an sich selbst angehörig« begriffen werde, während er um der Widerspruchsvermeidung willen »in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern nicht frei« zu betrachten sei (KrV, B XXVII f.). Da des Weiteren nach Kant »Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der That sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen«, und die darüber hinaus »selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind« (KrV, A 537/B565), so konnte die ›Autonomie des Willens‹ in der theoretischen Philosophie gerade nicht als letztes, höchstes Prinzip ›erscheinen‹, sondern gewissermaßen nur, wie Schelling sich 1797 ausdrückt, ›symbolisiert‹ werden. 6 Schon 1793 in der zweiten Auflage zu seinem Versuch einer Critik aller Offenbarung zeigt Fichte als Eröffnung von § 2 »Theorie des Willens, als Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt« klar seine Intention an, über Kants Willensbestimmung hinauszugehen: »Sich mit dem Bewußtseyn eigner Thätigkeit zur Hervorbringung einer Vorstellung bestimmen, heißt Wollen« (GA I,1, 135). Selbst wenn Fichte hier das Wollen auf die ›Hervorbringung einer Vorstellung‹ beschränkt und derart die kantische Unterscheidung zwischen Naturkausalität und intelligibler oder ›innerer‹ Ursächlichkeit zunächst einmal bestätigt, geht er doch zugleich einen Schritt weiter als Kant, insofern er im Wollen das praktische Moment der ›Hervorbringung‹ explizit mit dem theoretischen Moment des ›Bewusstseins eigener Tätigkeit‹ verbindet und darüber hinaus nachdrücklich das »Wollen […] vom Begehrungsvermögen[…] wie das Wirkliche vom Möglichen« unterscheidet (GA I,1, 135). 7 Dabei nennt Fichte neben der eventuellen Gegebenheit der »hervorzubringenden Vorstellung« gleichzeitig ausdrücklich die Möglichkeit, dass die voeines Princips keinen ganz sicheren Beweis von der Richtigkeit desselben abgiebt, vielmehr eine gewisse Parteilichkeit erweckt, es nicht für sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die Folge, nach aller Strenge zu untersuchen und zu wägen« (GMS, AB XV). 6 Vgl. dazu KrV, A 537/B565: »Eine solche intelligibele Ursache aber wird in Ansehung ihrer Causalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen und sie durch andere Erscheinungen bestimmt werden können. Sie ist also sammt ihrer Causalität außer der Reihe, dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden.« 7 Vgl. hierzu genauer Zöller 1995, 104–107.

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

luntative »Selbstthätigkeit […] sie [die Vorstellung, P. H.] auch sogar ihrem Stoffe nach hervor[bringt]« (GA I,1, 135). Diese eingeschlagene Richtung fortführend, betont sodann das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftlehre von 1798, dass »[n]ur zufolge des praktischen Triebes […] überhaupt Objecte für uns da« sind (GA I,5, 158). Fichte setzt hierfür zum einen eine Unterscheidung zwischen ›reinem Trieb‹ und vom Willen in Bewegung gesetztem ›Naturtrieb‹ voraus, der die Kausalität des ersteren in der Natur sicherstellen soll (GA I,5, 135–138). Zum anderen führt er Kants Überlegungen zum »Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen« (vgl. KpV, A 215–219) derart weiter, dass er Kants Auffassung von »unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft« gehörenden »Sätze[n]« als ein der theoretischen Vernunft zwar »fremdes Angebot«, das ihr aber gleichwohl nicht widerspricht und sie folglich ›annehmen‹ kann, 8 in der Weise deutet, dass »es auch in der That keine Erkenntniß giebt, die nicht wenigstens mittelbar auf unsre Pflichten sich bezöge« (GA I,5, 158). 9 Somit behauptet Fichte nicht allein eine bloße »Beziehung des Sittengesetzes auf die theoretische Venunft«, sondern vielmehr »ein Primat des erstern vor der letztern« (GA I,5, 154), worauf auch bereits Schelling in dem eingangs angeführten Zitat von 1797 wohl mit Blick vor allem auf die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 hinweist, die diesen Primat der praktischen Vernunft – wenn auch nicht im Zusammenhang einer Analyse des Willens 10 – ebenfalls bereits unterstreicht (vgl. GA I,2, 282). Doch schon in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre von 1796 deutet sich – nicht von ungefähr gerade im Kontext seiner Lehre von der ›Anerkennung‹ als Möglichkeitsbedingung eines jeden ›Vernunftwesens‹ (vgl. bes. GA I,3, 351) – Vgl. KpV, A 218: »Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori urtheilt, und da ist es klar, daß, wenn ihr Vermögen in der ersteren gleich nicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen, indessen daß sie ihr auch eben nicht widersprechen, eben diese Sätze, so bald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist, annehmen und sie mit allem, was sie als speculative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen müsse«. 9 Vgl. dazu ausführlich Zöller 1995, 107–112. 10 Vgl. lediglich die kurzen Ausführungen GA I,2, 424. 8

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Die Ausgangsbedingungen Schellings

gleichzeitig eine Relativierung dieses Primats des Wollens an, der die von Günter Zöller für die Spätphilosophie diagnostizierte Tendenz teilweise antizipiert, der zufolge »[d]ie Spontaneität von Denken und Wollen beim Jenaer Fichte […] beim Berliner Fichte in transzendentale Aisthesis gekehrt« wird. 11 Zwar unterstreicht Fichte auch 1796 in den »Corollaria« zu § 1, dass »[d]as Wollen […] der eigentliche wesentliche Charakter der Vernunft« ist und »das Vorstellen […] gesetzt [wird] als das zufällige« (GA I,3, 332). Gleichwohl muss Fichte unmittelbar folgend zugleich zugestehen, dass das praktische Wollen einerseits und das theoretische Vorstellen sowie Anschauen andererseits »in steter nothwendiger Wechselwirkung [stehen], und keines von beiden ist möglich, ohne daß das zweite zugleich sey« (GA I,3, 333): »Durch diese Wechselwirkung zwischen Anschauen und Wollen des Ich wird erst das Ich selbst, und alles, was für das Ich (für die Vernunft) ist, d. h. alles, was überhaupt ist, möglich.« (GA I,3, 333) 12 Zwar ist dieses theoretische Moment in der Konstitution des Ich hier ebenfalls wie in dem Versuch einer Critik aller Offenbarung allein auf das von der ›äußeren‹ Naturkausalität abzuhebende Vorstellen bezogen; gleichwohl gewinnt dieses als ein das praktische Wollen einschränkendes theoretisches Moment im Zusammenhang der ›Aufforderung‹ eine entscheidende Bedeutung, die wiederum als Konstitutionsbedingung von Selbstwusstsein fungiert. Denn die durch die ›Aufforderung‹ angemahnte »Selbstbeschränkung […] war bedingt durch die, wenigstens problematische, Erkenntniß vom Subjekte, als einem möglicher Weise freien Wesen« (GA I,3, 351). Insofern aber diese ›Anerkennung‹ eines Subjektes als eines ›freien Wesens‹ (vgl. GA I,3, 351) konstitutiv für den »Begriff des Rechts als Bedingung des Selbstbewußtseyns« ist (GA I,3, 322), so gehört folglich auch das theoretische Moment der ›Erkenntnis vom Subjekte als einem möglicher Weise freien Wesen‹ unter die Bedingungen des Selbstbewusstseins. Diese die voluntative Selbstbegründungsleistung des Subjekts einschränkende Perspektive, auf die gerade auch Schelling in seinem Philosophieren abhebt, 13 wie noch zu zeigen sein wird, deutet sich Zöller 2000, 298. Vgl. auch GA I,3, 333: »Das Anschauen und Wollen geht dem Ich weder vorher noch nachher, sondern es ist selbst das Ich; es geschieht beides nur, inwiefern das Ich sich selbst sezt, es geschieht nur in diesem Setzen, und durch dieses Setzen, daß es geschehe«. 13 Gleichwohl ist es bemerkenswert wie auch kennzeichnend für die noch nicht end11 12

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

ansatzweise ebenfalls bei Kant an, wenn man neben dessen Konzeption der Autonomie des Willens auch diejenige der ›Achtung vor dem Gesetz‹ berücksichtigt, die zumindest am Rande zugleich die Annahme eines ›Jenseits‹ des doch eigentlich gänzlich autonomen Willens anzudeuten und sogar zu erfordern scheint: So wird zwar bei Kant die Achtung als ein nicht »durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl eingeführt«, und das Gesetz mithin dahingehend verstanden, dass es »als uns von uns selbst auferlegt […] doch eine Folge unsers Willens« sei (GMS, AB 16 Anm.). Gleichzeitig spricht Kant aber von der »Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze«, nämlich dem Sittengesetz, und versteht als »Gegenstand der Achtung […] das Gesetz«, dem wir gerade »[a]ls Gesetz […] unterworfen« sind (GMS, AB 16 Anm.). Es zeigt sich hier mithin, um mit Henrich zu sprechen, eine »Einheit von Distanz und Wesensgleichheit« 14 oder eine »merkwürdig gegenstrebige Doppelrichtung in der intentionalen Struktur der Achtung als ein sichunterwerfendes Sicherheben« (HGA 24, 192), wie Heidegger dies im Sommersemester 1927 ausdrückt. 15 In der späten Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie hält angesichts dieser Ambivalenz in der kantischen Konzeption auch Schelling kompromisslos fest: »Moral in Kants Sinn aus bloßer Achtung gibt es nicht« (SW XI, 555 Anm.). Darüber hinaus schlussfolgert er, dass das Ich »keine andere Absicht [hat], als der Unseligkeit des Handelns sich zu entziehen, vor dem Drängen des Gesetzes ins beschauliche Leben sich zu flüchten«, – und dass »das Gewissen« mithin den Menschen »vom sich selbst Wollen abzieht« (SW XI, 556). 16

gültig festgelegte Positionierung Schellings, dass er in seinem eigenen Naturrechtsaufsatz von 1796/97 eine solche voluntative Selbstbeschränkung des Subjekts gerade noch nicht annimmt, vgl. dazu unten, Teil I, Kap. 2.3. 14 Henrich 2001, 44. Walter Schulz bezeichnet dieses gerade in der kantische Konzeption der ›Achtung‹ sich zeigende Moment sogar ein »dialektisches Paradox« (Schulz 1972, 360). 15 Vgl. dazu, auch im Bezug auf Sein und Zeit, Figal 1988, 268. Die ›Entschlossenheits‹-Analyse in Sein und Zeit lässt sich in gewisser Weise als eine Antwort auf diese Problematik bei Kant verstehen, vgl. dazu untern Teil IV, Kap. 1.2. 16 Schelling kritisiert hier Kant ganz im Sinne Schillers, wie erst aus der vollständig zitierten Anmerkung ersichtlich wird: »Moral in Kants Sinn aus bloßer Achtung gibt es nicht; dazu gehört, wie Luther sagt […], ›ein freiwillig lustig Herz.‹ Selbstachtung bewahrt uns vor Unglück, aber macht uns nicht glücklich. Dieß gesteht Kant selbst zu, indem er die Glückseligkeit als etwas Fremdes hinzukommen läßt« (SW XI, 555

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Die Ausgangsbedingungen Schellings

(2) Wie zu Anfang dieses Kapitels bereits angedeutet, hat indessen diese späte, gänzlich anti-kantische Deutung des Gesetzes und des Wollens mit einer der idealistischen Linie gewissermaßen gänzlich entgegengesetzten ›zweiten Quelle‹ 17 von Schellings Willensinterpretationen zu tun. Diese deutet sich in der transzendentalphilosophischen Früphilosophie bereits an und verschafft sich vor allem in seiner Identitätsphilosophie Geltung, spielt aber auch noch in der Berliner Spätphilosophie eine Rolle – nämlich die Ethica Ordine Geometrico demonstrata Spinozas. 18 So hebt Schelling selbst 1841/42 in seiner Berliner Antrittsvorlesung zur Philosophie der Offenbarung auf diese Kontinuität seines Philosophierens hinsichtlich der Betonung des spinozistischen oder, wie er formuliert, ›dogmatischen‹ Momentes darin ab, insofern er in dieser Vorlesung darauf insistiert, dass er »[s]chon in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1795) behauptete […], dass, dem Kriticismus gegenüber, auch ein mächtigerer, herrlicherer Dogmatismus sich erhebe« (Schelling 1841/42, 137). Letzterer sei dabei »nichts Anderes als die positive Philosophie« gewesen, die zugunsten des reinen ›Dass-Seins‹ alles Wollen der ›negativen Philosophie‹ zunächst einmal zurückweise und die schon Spinoza in gewissem Maße entdeckt habe. 19 Analog zu der späten Unterscheidung zwischen einer ›negativen‹ und einer ›positiven Philosophie‹ hatte so auch Schelling schon in den Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus von 1795 ein Gegeneinander von ›Kritizismus‹ und ›Dogmatismus‹ angenommen, was mit einer Zurückweisung der Willensfreiheit und möglicherweise gar eines jegAnm.). Vgl. zu Schillers Kant-Kritik und Schellings Anschlussnahme hieran auch in der Freiheitsschrift unten, Teil II, Kap. 1.1.2. 17 Natürlich wären hier noch zahlreiche weitere ›Quellen‹ der schellingschen Willensphilosophie zu nennen: so insbesondere Reinhold (vgl. unten, Teil I, Kap. 3.1), in der ›mittleren‹ Philosophie Schellings auch Plotin, Böhme und Oetinger (vgl. unten, bes. Teil I, Kap. 5.3 u. Teil II, Kap. 1.2) sowie möglicherweise sogar Schopenhauer (vgl. unten, Teil II, Kap. 4.3.1 u. Kap. 5). Jedoch geht es diesem Kapitel gleichsam nur um eine ›Absteckung des Rahmens‹ für die ›Bandbreite‹ von Schellings Willensdenken. 18 Vgl. hierzu bes. den Schwerpunkt »Schelling und Spinoza« in den Schelling-Studien, Bd. 1 (Hühn/Schwab/Ziche 2013, 125–188). 19 Vgl. dazu Schellings ambivalente Würdigung Spinozas in Schelling 1841/42, 155: »Auch bei Spinoza ist der wahre Gehalt dieses [des ontologischen, P. H.] Arguments der Anfang einer neuen Philosophie; Spinoza aber ergreift diesen Anfang, um sofort mit ihm in das nothwendige Denken zurückzufallen. Obwohl Spinoza diese logische Nothwendigkeit nur versichert hat, machte er doch damit einen Eindruck, den die Philosophie nicht wieder verwinden konnte.«

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

lichen Willens im Absoluten 20 im Rahmen des mit Spinoza identifizierten ›Dogmatismus‹ einherging, während Schelling dem ›Kritizismus‹ zumindest als praktische ›Annäherung‹ zugestand, »zur Freiheit des Willens zurückzukehren« (AA I,3, 110). 21 So erklärt Spinoza in seiner Ethica, und zwar in einer von Schelling auch nachweislich rezipierten Stelle (vgl. etwa AA I,2, 122), unmissverständlich, dass der »Wille […] nicht eine freie, sondern nur eine nothwendige Ursache genannt werden« kann. 22 Denn der Wille sei »nur ein gewisser Modus des Denkens (certus tantùm cogitandi modus)« und könne als solcher nur zum Wirken gelangen, wenn er durch eine Ursache bestimmt werde. 23 Insofern spricht Spinoza selbst Gott ein Wirken aus »Willensfreiheit (libertate voluntatis)« ab.24 Dabei leugnet Spinoza jedoch den Willen nicht gänzlich, sondern lediglich, dass es eine »unbeschränkte Fähigkeit zu wollen oder nicht zu wollen (absolute facultas volendi, et nolendi)« gebe, da er es für eine Täuschung erachtet, »wenn wir das Allgemeine mit dem Einzelnen (universalia cum singularibus), und die Vernunftwesen und Abstractionen mit dem Realen vermengen«. 25 Er gesteht denn auch lediglich die Existenz von »einzelne[n] Willensakte[n] (singulares volitiones)« zu, worin ihm Schelling 1804 auch folgen wird (vgl. SW VI, 541 f.). 26 Darüber hinaus sieht er diese voluntativen Akte als ›Bejahung‹ (affirmatio) oder ›Verneinung‹ (negatio) immer an eine ›Vorstellung‹ (idea) als ein Moment derselben gebunden, sodass die damit verbundene Stellungnahme Folge oder genauer Implikat der Vorstellung ist und nicht als Akt der Freiheit angesehen werden kann. 27 Doch diese Determiniertheit der Willensakte schließt Freiheit nach Spinoza nicht gänzlich aus, sondern diese kann gerade in der Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit noch gedacht werden, wie bereits die siebte Definition des ersten Teils anzeigt. 28 Im Vorgriff auf den erst im fünften Teil entfalteten Amor Dei intellectualis, der aus der ›dritVgl. dazu die Diskussion unten, Teil I, Kap. 1.2.2 Anm. 42. Vgl. dazu genauer unten, Teil I, Kap. 2.2. 22 Spinoza 1677, 134 f. (pars I, prop. 32): »Voluntas non potest vorcari causa libera; sed tantùm necessaria.« 23 Spinoza 1677, 134 f. (pars I, prop. 32, dem.). 24 Spinoza 1677, 134 f. (pars I, prop. 32, coroll.). 25 Spinoza 1677, 240 f. u. 252 f. (pars II, prop. 49, dem. u. schol.). 26 Vgl. dazu unten, Teil I, Kap. 5.1. 27 Spinoza 1677, 240 f. (pars II, prop. 49, dem.). Vgl. dazu auch Röd 2002, 268–270. 28 Vgl. Spinoza 1677, 88 f. (pars I, def. 7): Ea res libera dicitur, quæ ex solâ suæ naturæ existit, et à se solâ ad agendum determinatur. / Dasjenige Ding heißt frei, das aus der 20 21

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ten Erkenntisart‹, der cogitatio intuitiva, entspringe und worin »unser Heil oder unsere Glückseligkeit oder Freiheit besteht«, 29 bemerkt Spinoza dann auch in der dem Willensbegriff gewidmeten Propositio 49 des zweiten Teils, dass die Vollkommenheit unserer Handlungen davon abhänge, »dass wir blos nach dem Willen Gottes handeln (ex solo Dei nutu agere) und der göttlichen Natur theilhaftig (participes) sind«; so sei mithin »der Dienst Gottes (Dei[…] servitus) […] die höchste Freiheit (summa libertas)«. 30 Es wird sich im Durchgang durch Schellings ›Willensphilosophie‹ zeigen, dass die beiden hier skizzierten, einander gänzlich entgegengesetzten Positionen hinsichtlich der Deutung von Willen und Wollen für Schelling fast durchgehend von zentraler Bedeutung sind und von diesem in unterschiedlichen Weisen herangezogen werden. So lässt sich einerseits ganz im Sinne der von Kant und Fichte vorgezeichneten Linie eine Aufwertung des Willensparadigmas beobachten, die aber andererseits gleichzeitig von einer Zurückweisung desselben vor allem im Rahmen des Gelassenheitsdenkens seiner ›mittleren‹ Philosophie flankiert wird. Selbst wenn Schelling auch in seiner Spätphilosophie das Voluntative nicht gänzlich zurückweist, so sieht er dessen unangefochtene Priorisierung doch als inadäquat an und sucht es mit Blick auf es infragestellende Paradigmen zumindest zu flankieren und zu relativieren.

2. ›Sei!‹ – Schellings Aufwertung des Willensparadigmas im Übergang von der Ichschrift zur Neuen Deduction des Naturrechts Betrachtet man Schellings Frühschriften bis 1796, verhält es sich in der Tat so, wie Christian Iber bemerkt, dass »Schellings Fichteanismus« darin besteht, »daß er in Spinozas Absolutes Fichtes Ich einzeichnet«. 31 Zwar greift Schelling von Anfang an den fichteschen Begriff des ›absoluten Ich‹ auf, ohne dieses jedoch im Sinne Fichtes zu verstehen; so trägt dieses absolute Ich stellenweise doch vielmehr – blossen Nothwendigkeit seiner Natur da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird.« 29 Spinoza 1677,542 f. u. 546 f. (pars V, prop. 33 u. prop. 36, schol.). 30 Spinoza 1677, 252 f. (pars II, prop. 49, schol.). Vgl. dazu ausführlicher Röd 2002, 276–283 u. Wiehl 2007. 31 Iber 1994, 35.

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wie anhand der Ichschrift zu zeigen sein wird – Züge der spinozistischen Substanz, insofern ihm Wille und Bewusstsein abgesprochen werden. Die ganze Spannung dieser Fichte und Spinoza amalgamierenden Rezeptionsgeschichte zeigt sich gerade in dem berühmten Brief Schellings an Hegel vom 4. Februar 1795, in welchem ersterer seinem Tübinger Studienkollegen schreibt, dass er »indessen Spinozist geworden« sei, indem er wie dieser »[v]om Unbedingten« ausgehe, ohne dieses aber im »absoluten Objekt oder Nicht-Ich« zu situieren, sondern vielmehr wie Fichte im »Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesetzt ist.« 32 Fragt man sich hierbei, inwiefern sich Schelling angesichts dieser Fichte-affinen Interpretation des Unbedingten als Spinozist bezeichnen könne, so findet sich die Antwort hierauf unmissverständlich am Ende des Briefes. Dort führt Schelling aus, dass das mit Gott gleichgesetzte absolute Ich, insofern es durch kein Objekt bedingt sei, ohne Persönlichkeit sei und mithin unser »höchstes Bestreben« in der »Zerstörung unserer Persönlichkeit«, im »Uebergang in die absolute Sphäre des Seins, der aber in Ewigkeit nicht möglich ist«, bestehe. 33 Diese in sich spannungsvolle Konzeption eines apersonalen, willensund bewusstseinslosen absoluten Ichs zeigt sich erstmals in der Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie (Kap. 2.1), die Spinoza auch explizit als Quelle für diese Konzeption anführt. Die Briefe über Dogmatismus und Kriticismus führen diesen Ansatz, dem zufolge im Absoluten kein Wille zu finden sei, zwar weiter, eröffnen aber zugleich die grenzbegriffliche Perspektive einer im tragischen Untergang noch sich beweisenden Willensfreiheit, die zugleich auf das Zusammenbestehen von Freiheit und Notwendigkeit im Absoluten verweise (Kap. 2.2). Erst die Neue Deduction des Naturrechts, die die kritizistische Position weiterführt, stellt das Willensparadigma sodann ins Zentrum (Kap. 2.3). Gleichwohl werden die damit einhergehenden Probleme erst in der folgenden Allgemeinen Uebersicht durch eine Ausweitung und Ausdifferenzierung des Willensparadigmas gelöst, womit gleichzeitig auch die spinozistische Willenskritik auf ein Minimum zurückgedrängt wird.

32 33

F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, Plitt I, 76. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, Plitt I, 77.

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2.1. Die Zurückweisung des Willens angesichts eines spinozistisch überformten absoluten Ichs in Vom Ich als Princip der Philosophie Es ist auffällig, dass in Schellings ersten, der fichteschen Transzendentalphilosophie noch stark verpflichteten Schriften das Willensvermögen nur sehr peripher und allein in negativer Hinsicht behandelt wird, wohingegen Fichte den Willensbegriff aufs Engste mit der Selbstbestimmung des absoluten Ich als Prinzip der Transzendentalphilosophie verknüpft. 34 In dem Werk Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie findet der Willensbegriff erst gar keine ausführlichere Erwähnung. In der Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie wird er in § XIV nur kurz gestreift, um ihn als Charakteristikum des absoluten Ich sogleich zurückzuweisen. Schelling betrachtet in diesem Paragraphen das absolute Ich mit Blick auf die Kategorie der Kausalität, deren Verständnis als Form der Notwendigkeit gerade alles Voluntative ausschließt. Bereits im unmittelbar vorausgehenden § XIII charakterisiert er das Ich als »eine Ursache, die nichts ausser sich, alles in sich selbst, sich gleich sezt«, und damit als »immanente Ursache alles dessen, was ist.« (AA I,2, 121) Im folgenden § XIV identifiziert er dann die Idee jener Kausalität mit der von ›absoluter Macht‹ im Sinne Spinozas: 35 Die höchste Idee, welche die Kaussalität der absoluten Substanz (des Ichs) ausdrükt, ist die Idee von absoluter Macht. […] […] Diese Idee ist so ferne von allem Empirischen, daß sie sich nicht nur weit darüber erhebt, sondern es sogar vernichtet. – Auch für Spinoza war sie einzige Bezeichnung der Kaussalität der absoluten Substanz. Die absolute Macht der einigen Substanz ist ihm das Lezte, ja vielmehr das Einige. In ihr ist, nach Spinoza, keine Weisheit; denn ihr Handeln selbst ist Gesez: kein Wille, denn sie handelt, aus der Selbstmacht ihres Wesens, aus der Nothwendigkeit ihres Seyns. Sie In der Wissenschaftslehre von 1794 geht Fichte zwar nur kurz auf den Willen als eine Struktur ein, von der »das System unsrer Vorstellungen […] abhänge« (GA I,2, 424). In den ein Jahr zuvor, nämlich 1793, abgefassten Eigenen Meditationen über Elementarphilosophie finden sich hingegen deutlich ausführlichere Reflexionen zum Willen (vgl. GA II,3, 183 f. u. 232 f.), die diesen als »ein Streben, sich selbst zu bestimmen«, fassen und ihn diesbezüglich auch noch gegenüber der Urteilskraft profilieren: »Die Abhängigkeit der Urtheilskraft ist, daß ihr etwas zu ordnendes gegeben seyn muß; der Wille aber bringt das selbst hervor« (GA II,3, 233). 35 Schelling verweist hier auf Spinoza 1677, 132–143 (pars I, prop. 31–33). Vgl. zu dieser Stelle bei Schelling ansatzweise Sandkaulen-Bock 1990, 48. 34

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handelt nicht zufolge einer Bestimmung, durch irgend eine ausser ihr vorhandene Realität, (ein Gut, eine Wahrheit); sie handelt nach ihrem Wesen, nach der unendlichen Vollkommenheit ihres Seyns aus unbedingter Macht. Ihr Wesen selbst ist nur diese Macht. (AA I,2, 122)

Infolge der Gleichsetzung der spinozistischen ›absoluten Substanz‹ mit dem absoluten Ich, wie er es in den vorausgehenden Paragraphen entwickelt hat, 36 verknüpft Schelling hier den Begriff der Kausalität mit dem von ›absoluter Macht‹. Dabei ist es mit Blick auf die durch Kant und Fichte vorgegebene Tradition weniger verwunderlich, dass Schelling den Gedanken einer durch ›absolute Macht‹ ausgezeichneten Kausalität allem Empirischen entgegensetzt und dieses durch jenen Gedanken sogar ›vernichtet‹ sieht – betrachtet doch auch bereits Kant in seiner dritten Antinomie die »Kausalität durch Freiheit« im Sinne einer transzendentalen Freiheit, die alles Empirische übersteigt (KrV, A 445/B473). Auch dass diese absolute Kausalität das ›Einige‹ sei, hätte Schelling anstatt mit Bezug auf Spinoza auch ohne Weiteres mit Fichte formulieren können, insofern diesem zufolge »man die Identität des Ich aufgeben müsse, wenn man die Forderung einer absoluten Kausalität nicht annehmen wolle« (GA I,2, 404). Eine eigene Akzentuierung des Kausalitätsbegriffes nimmt Schelling allerdings insofern vor, als er der Kategorie der Kausalität, die bei Kant immerhin unter dem Oberbegriff der Relation, also als ein Beziehungsbegriff eingeführt wird, alle Ausrichtung auf etwas Äußeres und damit alle Relationaltät abspricht. Fordert Fichte in seiner praktischen Philosophie innerhalb der Wissenschaftslehre 1794 »Kausalität des Ich auf das Nicht-Ich« (GA I,2, 391), die in einem ›Streben‹ zu verwirklichen sei, so insistiert Schelling hingegen darauf, dass als »letzte[s] Ziel« dieses Strebens »absolute Macht« vorausgesetzt werden müsse, »die aus innerer Nothwendigkeit ihres Wesens schlechthin handelt, die nicht mehr Wille, nicht mehr Tugend, nicht mehr Weisheit, nicht mehr Glükseligkeit, sondern Macht schlechthin ist« (AA I,2, 123). Den Begriff des Willens weist Schelling für diese ›absolute Macht‹ des Ich dabei insofern zurück, als er den Willen als relationalen, auf etwas ihm gegenüber Anderes Bezug nehmenden Begriff auffasst und er somit dem Bereich des Endlichen und Beschränkten angehöre, während jene ›absolute Macht‹ gerade nicht gemäß einer äußeren »Bestimmung, durch irgend eine außer ihr vorhandene Realität, (ein Gut, eine Wahrheit)« handle (AA I,2, 122). 36

Vgl. dazu ausführlicher Grün 1993, 93–103.

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Deutlich wird dies vor allem in der dem kantischen Verständnis von Moralität gewidmeten folgenden Anmerkung. So habe Kant, als er »von Moralität und verhältnißmäßiger Glückseligkeit als dem höchsten Gut und dem letzten Endzwecke gesprochen« habe, durchaus gewusst, »daß Moralität ohne höhern Endzwek selbst keine Realität habe, daß sie Einschränkung, Endlichkeit vorausseze, und nicht als leztes Ziel selbst, sondern nur als Annäherung zu demselben denkbar seye.« (AA I,2, 123) Schelling gesteht daher dem moralischen Gesetz allein für das endliche Ich Geltung zu, welches sich dem Endzweck lediglich ›annähern‹ könne, während für das absolute Ich dieser Endzweck schon immer als erreicht gedacht werden müsse: Das absolute Ich nemlich fordert schlechthin, daß das endliche Ich ihm gleich werde, d. h. daß es alle Vielheit und allen Wechsel in sich schlechthin zernichte. Was für das endliche, durch ein Nicht-Ich beschränkte, Ich moralisches Gesez ist, ist für das unendliche Naturgesez, d. h. es ist zugleich mit und in seinem blossen Seyn gegeben. Das unendliche Ich ist bloß insofern, als es sich selbst gleich, als es durch seine bloße Identität bestimmt ist; es soll nicht erst sein Seyn bloß durch Identität mit sich selbst bestimmen. Das unendliche Ich also kennt gar kein Moralgesetz, und ist seiner Kaussalität nach bloß als absolute, sich selbst gleiche, Macht bestimmt. Aber moralisches Gesez, obgleich es blos in Bezug auf Endlichkeit statt findet, hat doch selbst keinen Sinn und Bedeutung, wenn es nicht als Endzwek alles Strebens Unendlichkeit des Ichs und seine eigene Umwandlung in ein bloßes Naturgesez des Ichs aufstellt. […] Da nun das höchste Gesez, wodurch das Seyn des unendlichen Ichs bestimmt ist, das Gesez seiner Identität ist […], so muß das Moralgesez im endlichen Wesen diese Identität nicht als Seyend, sondern als Gefordert vorstellen, und das höchste Gesez für das endliche Wesen ist demnach dieses: Seye absolut-identisch mit dir selbst. (AA I,2, 125 f.)

Auch wenn Schelling selbst hier die Differenz zu Kant zu bagatellisieren sucht, insofern dieser selbst gewusst habe, dass ›Moralität ohne höhern Endzwek selbst keine Realität habe‹, so nimmt Schelling doch zugleich in aller Deutlichkeit gegenüber Kant nicht nur eine Umformulierung des Moralgesetzes vor, sondern sucht dieses darüber hinaus noch in einer Weise aufzuheben, die auf die Konzeption der Briefe über Dogmatismus und Kriticismus vorausweist. 37 So wird das Moralgesetz als Forderung nach absoluter Identität mit sich selbst reformuliert, insofern das endliche Ich angesichts des moralischen Gesetzes immer auf ein noch zu verwirklichendes, mit ihm noch nicht 37

Vgl. dazu Courtine 2012, 13–21.

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identisches Gut ausgerichtet sei. Werde dieses Gesetz aber wie im Falle des absoluten Ich als verwirklicht betrachtet, dann sei es auch nicht mehr Moralgesetz, sondern vielmehr Naturgesetz, da das unendliche Ich in seiner absoluten Kausalität und sich selbst gleichen Macht auf nichts mehr ihm Äußerliches willentlich ausgerichtet sei, sondern aus immanenter Notwendigkeit agiere. 38 Doch indem Schelling in der Ichschrift Fichtes absolutes Ich mit der aus immanenter Notwendigkeit agierenden ›absolute Substanz‹ spinozistischer Provenienz zu amalgamieren versucht, 39 handelt er sich zugleich das Problem ein, dass er diesem substanzhaften Ich zum Zwecke seiner radikalen Einheit und Unbedingtheit jegliche Subjekt-Objekt-Relation und damit auch jedes auf eine solche Relation angewiesene Willens- und Bewusstseinsmoment absprechen muss. 40 Dies hat zwar einerseits zur Folge, dass Schelling gegenüber der kantisch-fichteschen Tradition schon früh auf die Bedingtheit und Nichtabsolutheit des Willensparadigmas aufmerksam wird, die es – zumindest bis 1797 – nicht als Kandidaten für das Absolute in Frage kommen lassen. In negativer Hinsicht hat diese spinozistische Einfärbung des Unbedingten andererseits aber auch zur Konsequenz, dass dieses Unbedingte aus der Perspektive des kantisch-fichteschen Kriti-

Zwar differenziert auch Kant in der Grundlegung von 1785 zwischen einem Willen, der »zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden« muss (GMS, AB 39), einerseits und einem »heiligen Willen« (GMS, AB 39) andererseits, bei dem »die Vernunft den Willen bestimmt« und dessen »Handlungen […], die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig [sind], d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft […] als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt« (GMS AA36 f.). Aber Kant versteht auch das Handeln des letzteren ›nur‹ als ein Handeln »nach der Vorstellung der Gesetze«, das er von einem Wirken »nach Gesetzen« (der Natur) strikt unterschieden wissen will (GMS, AB 36). Selbst die Naturgesetz-Formel des Kategorischen Imperativs geht lediglich von einem ›als ob‹ aus: »handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (GMS, AB 52; Herv. v. Verf.). 39 Vgl. dazu Schellings Bemerkung in AA I,2, 95 (§ V): »Der Erste, der es einsah, daß Spinoza’s Irrthum nicht in jener Idee [der absoluten Substanz, P. H.], sondern darinn liege, daß er sie ausserhalb alles Ich’s sezte, hatte ihn verstanden und den Weg zur Wissenschaft gefunden.« Vgl. hierzu genauer Iber 1994, 32–37. 40 Diese Problematik hatte Hölderlin allerdings allein in Bezug auf Fichte auch bereits in einem Brief an Hegel von Januar 1795 auf den Punkt gebracht. Hölderlin zufolge ist nämlich in Fichtes »absolute[m] Ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) nichts« (F. Hölderlin an G. W. F. Hegel, 26. Januar 1795, StA 6,1, 155). Vgl. dazu auch Denker 1997, 56. 38

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zismus nur als Grenzbegriff aufscheinen kann, welcher in seiner Relationslosigkeit zudem keine Erklärung eines Übergangs vom Unbedingten zum Bedingten zulässt, wie vor allem die Briefe über Dogmatismus und Kriticismus zeigen, die daher im Folgenden noch kurz zu betrachten sind.

2.2. Die Endlichkeit und Tragik des Willens in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus Die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, die Schelling – wie ein Brief an Hegel aus dem Juli 1795 nahelegt 41 – in direktem Anschluss an die am 29. März 1795 vollendete Ichschrift verfasst hat und die 1795/96 in zwei Teilen in Niethammers Philosophischem Journal erschienen sind, schließen nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich unmittelbar an die Ichschrift an. Wie in § XIV der Ichschrift wird auch im neunten der Philosophischen Briefe jede Vorstellung eines Willens, der auf ein selbstgegebenes oder ihm äußerliches Gesetz ausgerichtet ist, mit Blick auf das Absolute zurückgewiesen: Wer über Freiheit und Nothwendigkeit nachgedacht hat, fand von selbst, daß diese Principien im Absoluten vereinigt seyn müssen – Freiheit, weil das Absolute aus unbedingter Selbstmacht, Nothwendigkeit, weil es eben deßwegen nur den Gesetzen seines Seins, der innern Nothwendigkeit seines Wesens gemäß, handelt. In ihm ist kein Wille mehr, der von einem Gesetze abweichen könnte, aber auch kein Gesetz mehr, das es sich nicht selbst erst durch seine Handlungen gäbe, kein Gesetz, das, unabhängig von seinen Handlungen, Realität hätte. Absolute Freiheit, und absolute Nothwendigkeit sind identisch. (AA I,3, 101)

Auch wenn Schelling hier nicht mehr von einem Handeln gleichsam aus einem Naturgesetz heraus spricht, so ist die Nähe zu der oben interpretierten Passage aus der Ichschrift unverkennbar – zumal Schelling auch hier wieder Spinoza zur Bekräftigung seiner ArguVgl. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 21. Juli 1795, Plitt I, 80: »Niethammers philosophisches Journal ist erschienen: es enthält zum Theil vorzügliche Abhandlungen. – Er hat mich um Beiträge gebeten; – im 5ten Stück – wenn Du das Journal lesen kannst – wirst Du philosophische Briefe finden, die von mir sind.« Der erste Teil der Briefe ist allerdings dann erst im November 1795 im siebten Stück des Philosophischen Journals erschienen. Vgl. dazu den editorischen Bericht von Annemarie Pieper in AA I,3, 6 f.

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mentation anführt (vgl. AA I,3, 101 Anm.), der zufolge das Absolute aus Freiheit im Sinne ›unbedingter Selbstmacht‹ handle, die aber zugleich eine ›innere Notwendigkeit‹ darstelle, insofern das Absolute nur ›den Gesetzen seines Seins‹ folge, ohne dass dahinter ein sich auf ein bestimmtes Ziel bewusst ausrichtender Wille stünde. 42 Anders als in der Ichschrift setzt Schelling jedoch in den Briefen diese Struktur nicht mehr mit dem ›absoluten Ich‹ gleich, sondern spricht nun vielmehr von dem »Absoluten« oder gar der ›absoluten Identität‹ (vgl. AA I,3, 97 f.) und entgeht damit der in der Ichschrift diagnostizierten Problematik, etwas als (absolutes) Ich zu bezeichnen, was jenseits aller Subjekt-Objekt-Relation anzusiedeln ist und weder durch Bewusstheit noch durch ein auf etwas ausgerichtetes Wollen charakterisiert werden kann. Auch wenn Schelling derart nicht mehr Momente der spinozistischen Substanz mit dem fichteschen absoluten Ich zu amalgamieren versucht, so sieht er gleichwohl jene ›absolute Identität‹ immer noch als gemeinschaftlichen Grenz- und Zielpunkt von Kritizismus und Dogmatismus oder als dasjenige an, in dem »alle widerstreitenden Principien vereinigt, alle widersprechenden Systeme identisch werden« (AA I,3, 101). Wenn aber beide Systemalternativen erst in einem Absoluten sich aufheben, das weder als absolutes Objekt im Sinne des Dogmatismus noch kritizistisch als absolutes Subjekt bestimmt werden kann, dann wird zugleich auch eine explizite Abhebung des Kritizismus vom Dogmatismus und damit der kantisch-fichteschen Position von der spinozistischen notwendig, die den Dogmatismus als Alternative und eigenständige PoAnders als in der Ichschrift, in der ein Wille innerhalb des Absoluten klar zurückgewiesen wird (vgl. AA I,2, 122), ist die Formulierung der Briefe doppeldeutig, dass im Absoluten »kein Wille mehr [sei, P. H.], der von einem Gesetze abweichen könnte« (AA I,3, 101): Einerseits könnte hier gemeint sein, dass lediglich die Möglichkeit eines vom Gesetz abweichenden Willens, nicht aber der Wille an sich mit Blick auf das Absolute zurückgewiesen wird; diese Konzeption würde tendenziell derjenigen eines »göttlichen oder überhaupt […] heiligen Willen[s]« bei Kant entsprechen, für den auch »keine Imperative« gelten, »weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist.« (GMS, A 39/B 38) – Andererseits und mit größerer Wahrscheinlichkeit könnte darunter aber auch die Zurückweisung jedes Willensmomentes innerhalb des Absoluten verstanden werden, was nicht nur die zeitliche und inhaltliche Nähe zur Ichschrift, sondern auch Schellings Verweis auf Spinoza 1677, 88 f. u. 128 f. (pars I, def. 7 u. prop. 27) in der direkt folgenden Anmerkung nahelegen. So spricht Spinoza selbst der Substanz lediglich ›Macht [potentia]‹ zu und weist die Vorstellung nicht-determinierter Willensakte gänzlich zurück (vgl. hierzu Röd 2002, 139–142 u. 266–270; Deleuze 1981, 128 f.).

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sition gegenüber dem Kritizismus aufwertet und nicht einfach als sich selbst widersprechend zurückweist, wie dies noch in der Ichschrift geschieht (vgl. AA I,2, 94). 43 Im Zuge der Aufwertung des Dogmatismus in den Briefen wird indessen die Frage »desto dringender«: »Was denn der Kriticismus vor dem Dogmatismus voraus habe, wenn beide doch in demselben letzten Ziele – dem Endzweck alles Philosophirens – zusammentreffen?« (AA I,3, 101) Für Schelling ist diese Frage durch die theoretische Philosophie nicht beantwortbar, da für beide Systeme das Absolute in gleicher Weise »nicht Gegenstand des Wissens« (AA I,3, 103) werden kann. Der Unterschied beider Systeme werde mithin lediglich im Blick auf die Art der »Realisirung« (AA I,3, 103) jenes Zieles oder auf den »Geist« (AA I,3, 104) der jenes Absolute zu realisieren suchenden Handlung sichtbar: Löst nun der Dogmatismus den theoretischen Widerstreit zwischen Subject und Object durch die Forderung, daß das Subject aufhöre, für das absolute Object Subject, d. h. ein ihm Entgegengesetztes zu sein, so muß umgekehrt der Kriticismus den Widerstreit der theoretischen Philosophie durch die praktische Forderung lösen, daß das Absolute aufhöre, für mich Object zu sein. (AA I,3, 104 f.)

Dabei ist es für Schelling von zentraler Bedeutung, dass beide Handlungen als bloße Forderungen aufzufassen sind und mithin Postulatcharakter besitzen, ohne dass eine der Forderungen, nämlich »jede freie Causalität in mir zu vernichten« oder »das Absolute in mir selbst zu realisiren« (AA I,3, 104 f.), jemals gänzlich umgesetzt werden darf. Wäre das letzte Ziel realisiert und »alle objective Causalität durch die meinige vernichtet«, so würde »der Kriticismus […] in Schwärmerei verfallen« und notwendig dogmatisch werden (AA I,3, 105 f.; vgl. AA I,3, 102). Es geht Schelling zufolge lediglich darum, sich jenem Ziel ›anzunähern‹: »Sei! ist die höchste Forderung des Kriticismus«, was aber nur bedeute: »Strebe, nicht dich der Gottheit, sondern die Gottheit dir ins Unendliche anzunähern.« (AA I,3, 106) Für Schelling ist allein durch diese Forderung bereits sichergestellt, dass die Menschheit, nachdem sie lange alle Fesseln des Aberglaubens getragen hat, endlich einmal das, was sie in der objectiven Welt suchte, in sich selbst finden dürfte, um damit von ihrer gränzenlosen Ausschweifung in eine fremde

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Vgl. dazu auch Hühn 1998a.

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Welt – zu ihrer eignen, von der Selbstlosigkeit – zur Selbstheit, von der Schwärmerei der Vernunft – zur Freiheit des Willens zurückzukehren. (AA I,3, 110)

Schelling zufolge lässt sich zwar nicht theoretisch, sondern allein im niemals in sein Ziel gelangenden praktischen Streben der Dogmatismus widerlegen, wodurch die Menschheit wieder von der ›Selbstlosigkeit zur Selbstheit‹ und damit auch zur Anerkennung der eigenen Willensfreiheit zurückkehre. Ausgenommen von diesem ›Zurückkehren zur Freiheit des Willens‹ wäre nur jemand, »dem der Gedanke erträglich ist, an seiner eigenen Vernichtung zu arbeiten, jede freie Causalität in sich aufzuheben« (AA I,3, 109). Dass jenes zuletzt genannte, dem Kritizismus entgegengesetzte Streben in sein Ziel gelangen könnte, wäre zwar nach Schelling auch denkbar, wie er mit Blick auf die griechische Tragödiengestalt des König Ödipus bemerkt, der dem Schicksal unterlag und doch »willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen [sich anschickte, P. H.], um so durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen.« (AA I,3, 107) Doch ein solches »System des Handelns«, wie es Ödipus vor Augen führe, setze »ein Titanengeschlecht« voraus (AA I,3, 108), insofern hier die Willensfreiheit nur im tragischen Konflikt um den Preis der gleichzeitigen Vernichtung dieser Freiheit in ihrer Besonderheit im Untergang des Helden aufscheine: Die Willensfreiheit behaupte sich hier in ihrer Absolutheit nämlich nur dadurch, dass der Held die unvermeidliche Notwendigkeit als identisch mit und sogar als Ausdruck seiner Freiheit interpretiert. 44 Schellings Plädoyer gilt denn auch mit Blick auf die eigene Gegenwart vielmehr einer Freiheit des Willens, die ihre Absolutheit nur in der Annäherung an jene Forderung zu behaupten sucht und dabei das System des Dogmatismus als ewig von sich »verschieden« (AA I,3, 106) bestehen lässt. Dieses Bestehenlassen des Dogmatismus hat dabei allerdings zur Konsequenz, dass das voluntative Moment des Kritizismus noch deutlicher als in der Ichschrift seinen Absolutheitscharakter einbüßt und mithin 1795 – 14 Jahre vor der Freiheits-

Vgl. auch den erneuten, zum Teil wortgleichen Vortrag dieser Interpretation in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst in AA II,6,1, 371–375, welche dort allerdings in den Kontext der Identitätsphilosophie eingebettet ist. Vgl. dazu unten, Teil I, Kap. 5.2.

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Schellings Aufwertung des Willensparadigmas

schrift – bereits im Ansatz die »conditions concrètes de la mise en oeuvre de la liberté humaine finie« 45 hervorgekehrt werden. Allerdings wird die folgende Schrift, nämlich die Neue Deduction des Naturrechts, diese Perspektive nur teilweise fortführen, weil hier zum einen lediglich auf die kritizistische Perspektive reflektiert wird und zum anderen das Wollen in ethischer Perspektive derart verabsolutiert wird, dass es den Rahmen des (Natur-)Rechts zu sprengen droht. Eine ähnliche Begrenzung und Flankierung des Wollens wie in den Briefen wird erst wieder das System des transscendentalen Idealismus vornehmen, das dann wohl nicht zufälligerweise auch wieder den Begriff einer ›absoluten Identität‹ einführt.

2.3. Die Ausweitung des Willensparadigmas in der Neuen Deduction des Naturrechts Die Neue Deduction des Naturrechts, die wie die Briefe in Niethammers Philosophischem Journal 1796/97 in zwei Teilen erschien, dürfte Anfang des Jahres 1796 direkt nach dem Abschluss der Arbeit an den Briefen entstanden sein. 46 Auch inhaltlich knüpft die Schrift unmittelbar an die Thematik der Briefe an: Wie im neunten der Briefe so heißt es auch gleich zu Beginn der Neuen Deduction, dass, »[w]as ich theoretisch nicht realisiren kann, […] ich praktisch realisiren« soll; auch der Neuen Deduction zufolge ist nämlich das Unbedingte »durch theoretische Vernunft unerreichbar« (AA I,3, 139 (§ 1)). Allerdings fokussiert der Naturrechtsaufsatz im Gegensatz zu den Briefen ausschließlich auf die Position des Kritizismus, welcher der Forderung folgt: »Sei! im höchsten Sinne des Worts: höre auf, selbst Erscheinung zu sein: strebe, ein Wesen an sich zu werden! – dies ist die höchste Forderung aller praktischen Philosophie.« (AA I,3, 139 (§ 3)) Anders als in den Briefen insistiert Schelling dabei nun nicht mehr auf dem reinen Strebenscharakter jener Forderung, die, wie es 1795 noch heißt, niemals realisiert werden dürfe, da ansonsten dem einzelnen Subjekt zugleich mit dem Erweis seiner absoluten Freiheit ein tragischer Untergang drohe. Vielmehr soll nun 1796/97 ohne Vorbehalt an der Realisierung der absoluten Kausalität des Subjektes Courtine 2012, 16. Vgl. dazu den editorischen Bericht von Wilhelm G. Jacobs in AA I,3, bes. 125–128. Vgl. zu einer ausführlichen Interpretation dieser Schrift außerdem Osten 1969.

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gearbeitet werden und »alles, was meinem Streben entgegengesetzt ist, durch mein Streben schlechthin bestimmt werden« (AA I,3, 140 (§ 6)). Zwar wird durchaus die »Uebermacht der Natur über meine physische Kraft« anerkannt: »ich beuge mich vor ihr als Sinnenwesen, ich kann nicht weiter.« (AA I,3, 141 (§ 12)) Jedoch müsse ich überall, »[w]o meine physische Macht hinreicht, […] allem Existirenden meine Form [geben, P. H.], ihm meine Zwecke auf[dringen]« und »es als Mittel meines unbeschränkten Willens« gebrauchen (AA I,3, 141 (§ 10)). Selbst wenn ein unüberwindbarer »physischer Widerstand« gegeben sei, so könne es doch »keinen moralischen für mich in der Natur geben« (AA I,3, 141 (§ 11)). Schelling offenbart sich hier in einem solchen Sinne als Fichteaner, wie er ihn in seinem Anti-Fichte 1806 dann gerade vehement kritisieren wird. Auch in den Briefen hatte Schelling zwar den Menschen bereits als »Herr[n] der Natur« apostrophiert, »der die objective Welt in ihre bestimmte Schranken, über die sie nicht treten darf«, weist (AA I,3, 107). Jedoch hatte er dort noch ganz in der Tradition des kantischen ›Dynamisch-Erhabenen‹ (vgl. KU, AA V, 260–265) über die Möglichkeit einer Aufhebung jener Schranken reflektiert, wodurch das »Object nicht mehr vorstellbar« sei und den Menschen mithin die »Schrecken der objectiven Welt überfallen« (AA I, 3, 107). 1796/97 hingegen wird eine solche Möglichkeit gänzlich aubgeblendet. Mit seiner Behauptung eines »unbeschränkten Willens« (AA I,3, 141 (§ 10)) geht Schelling an Radikalität sogar noch über Fichte hinaus, welcher im Zuge seiner Anerkennungslehre in der Grundlage des Naturrechts von 1796 gerade eine Selbstbeschränkung des individuellen Wollens fordert, wovon Schelling aber zum Zeitpunkt der Abfassung seines eigenen Naturrechtsaufsatzes noch keine Notiz nehmen konnte. 47

Vgl. Fichte, GA I,3, 351: »Durch diese Selbstbeschränkung des anderen Wesens nun ist zuförderst die Erkenntniß des Subjekts von ihm, als selbst einem vernünftigen und freien Wesen bedingt. Denn lediglich zu Folge der geschehenen Aufforderung zur freien Thätigkeit, mithin zu Folge der geschehenen Selbstbeschränkung hat, erwiesener Maassen, das Subjekt ein freies Wesen ausser sich gesezt. Seine Selbstbeschränkung aber war bedingt durch die, wenigstens problematische, Erkenntniß vom Subjekte, als einem möglicher Weise freien Wesen. Demnach ist der Begriff des Subjekts von dem Wesen ausser ihm, als einem freien, bedingt durch den gleichen Begriff dieses Wesens von ihm, und durch ein durch diesen Begriff bestimmtes Handeln.« Vgl. zu Schellings diesbezüglicher Rezeption Fichtes Osten 1969, 73–75 u. Denker 1997, 59.

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Zwar kennt auch Schelling in seinem Naturrechtsaufsatz noch einen »Widerstand« für die ›moralische Macht‹, die stille stehen lässt und ruft: »Hier ist Menschheit! […] ich darf nicht weiter« (AA I,3, 142 (§ 13)). 48 Jedoch deduziert Schelling anders als Fichte dieses ›Nicht-weiter-Dürfen‹ keineswegs als wesentliches Konstituens für ein Vernunftsubjekt. Vielmehr ist dieses ›Nicht-weiter-Dürfen‹ der eigentlich unbeschränkten Kausalität nur eine Folge der Tatsache, dass »ihr Streben empirisch« ist (AA I,3, 143 (§ 17)): »Hätten alle moralischen Wesen das höchste Ziel erreicht, so wäre ihre Causalität Eine und dieselbe, kein Widerstreit, sondern absolute Uebereinstimmung.« (AA I,3, 143 (§ 19)) Indessen bleibt weiterhin die »Forderung: Strebe nach Unbedingtheit!« bestehen (AA I,3, 143 (§ 23)). Schelling sucht das Dilemma so zu lösen, dass er in der Tradition der rousseauistischen ›volonté générale‹ einen zweiten, allgemeinen Willen einführt, der im Gegensatz zum individuellen Willen unbeschränkte Gültigkeit hat. Das moralische Wesen müsse denn auch »aufhören, sich durch sein Streben, insofern es empirisch ist, als Individuum zu erklären, um sich durch sein Streben überhaupt als solches zu behaupten« (AA I,3,144 (§ 28)) – und umgekehrt müsse das »allgemeine Streben aller moralischen Wesen nach Individualität überhaupt« oder, wie es im folgenden § 30 heißt, das »allgemeine Wollen aller moralischen Wesen das empirische Wollen jedes einzelnen Individuums so einschränken, dass das Wollen aller übrigen zugleich mit seinem Wollen bestehen könne« (AA I,3,144 f. (§§ 29 f.)). Allerdings nimmt Schelling gegenüber Rousseau 49 eine bezeichnende Umkehrung des Verhältnisses beider Willen vor, welche er 1809 in der Freiheitsschrift schließlich sogar als Verkehrung eines eigentlich anzustrebenden Verhältnisses von Partikular- und Univer-

Fichte selbst verweist im System der Sittenlehre auf diese Sätze aus § 13 des schellingschen Naturrechtsaufsatzes sogar zustimmend, ohne jedoch die entscheidenden Differenzen zu seinem eigenen Ansatz zu sehen (vgl. GA I,5, 204). Vgl. dazu auch Denker 1997, 59 f. 49 Vgl. dazu die Verhältnisbestimmung von Freiheit allererst garantierender ›volonté générale‹ und ihr klar untergeordneter ›volonté particulière‹ im Contrat social von 1762: »Chaque individu peut comme homme avoir une volonté particulière contraire ou dissemblable à la volonté générale qu’il a comme citoyen. […] Afin donc que le pacte social ne soit pas un vain formulaire, il renferme tacitement cet engagement qui seul peut donner de la force aux autres, que quiconque refusera d’obéir à la volonté générale y sera contraint par tout le corps : ce qui ne signifie autre chose sinon qu’on le forcera d’être libre« (Rousseau 1762, 363 f.). 48

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salwille kritisieren wird. 50 Denn das den »Ausdruck des allgemeinen Willens« (AA I,3, 145 (§ 32)) enthaltende »Gebot der Ethik (§. 32) ist doch nur abhängig von dem höhern Gebot der Moral (§. 3)« (AA I,3, 145 (§ 33)), welches »nichts als die absolute Selbstheit des Individuums fordert« (AA I,3, 145 (§ 31)): »Die Ethik stellt nur deßwegen den allgemeinen Willen als Gesetz auf, um durch den allgemeinen Willen den individuellen zu sichern.« (AA I,3, 145 (§ 33)) Doch ist diese ›Sicherung‹ des individuellen Willens nur möglich, wenn individueller und allgemeiner Wille »Wechselbegriffe« (AA I,3, 147 (§ 40)) werden. Denn zum einen ist es nicht möglich, dass »der Wille aller übrigen mit meinem Willen, als solchem, identisch« werde, da ich »dadurch den Willen aller übrigen, als Individuen, auf[höbe]« und mithin »der allgemeine Wille […] nicht bedingt durch den individuellen Willen« wäre (AA I,3, 146 (§ 38)). Zum anderen kann aber auch nicht umgekehrt »mein Wille, insofern er individueller Wille ist, durch den Willen aller übrigen bestimmt werden«, da hierbei »der individuelle Wille bedingt durch den allgemeinen« wäre (AA I,3, 146 (§ 39)), was der Grundforderung des Naturrechtsaufsatzes nach ›absoluter Selbstheit des Individuums‹ wiederspräche. Die Lösung kann Schelling zufolge nur darin bestehen, dass beide Willen in Einklang gebracht werden und die Absolutheit des individuellen Willens gerade durch den allgemeinen Willen sichergestellt wird. Die Folge dieses Lösungsansatzes ist denn auch eine ähnliche Umformulierung des kantischen Kategorischen Imperativs, wie sie bereits in der Anmerkung zu § 14 der Ichschrift begegnete: [H]andle so, daß dein Wille absoluter Wille sey; handle so, daß die ganze moralische Welt deine Handlung (ihrer Materie und Form nach) wollen könne« (AA I,3, 148 (§ 45)). Diese Umformulierung des Kategorischen Imperativs, die diesen genau umkehrt, erlaubt es Schelling in den §§ 49–51 die ›Individualität meines Willens‹ sowohl »gegen den allgemeinen Willen« (AA I,3, 148 (§ 49)) als auch »gegen den individuellen Willen« (AA I,3, 149 (§ 50)) wie auch »gegen Willen überhaupt« zu behaupten; denn durch die Identifikation meines individuellen Willens mit dem allgemeinen sei meinem Willen »kein andres Wollen entgegengesetzt«, womit er folglich »zur absoluten, unbeschränkbaren Macht werde« (AA I,3, 149 (§ 51)).

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Vgl. hierzu unten, Teil II, Kap. 1.1.3.

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Doch indem die Ethik derart darauf abhebt, den individuellen Willen mit dem allgemeinen zu identifizieren, und ihn dadurch, was seine »Materie« anbelangt – »das was durch sie [die Handlung, P. H.] geschieht« (AA I,3, 148 (§ 49)) –, tendenziell entindividualisiert, wird neben der Ethik zugleich »eine andre Wissenschaft« notwendig, »welche Individualität des Willens der Form nach behauptet.« (AA I,3, 150 (§ 52)) Dies sei nach Schelling Aufgabe des Rechts, dessen ›oberster Grundsatz‹ laute: »Ich habe ein Recht zu allem, was der Form des Willens überhaupt gemäß ist, (ohne welches der Wille aufhören müsste, Wille zu sein).« (AA I,3, 153 (§ 68)) Diesen an Reinhold orientierten Gegensatz von auf Pflichten basierender Ethik und individuelle Freiheit garantierendem Recht 51 spitzt Schelling schließlich folgendermaßen zu: Die Ethik löst das Problem des absoluten Willens dadurch, daß sie den individuellen Willen mit dem allgemeinen, die Rechtswissenschaft dadurch, daß sie den allgemeinen Willen mit dem individuellen identisch macht. Hätten je beide ihre Aufgabe vollkommen gelöst, so würden sie als entgegengesetzte Wissenschaften aufhören. (AA I,3, 154 (§ 72))

Zwar verschärft Schelling den von Reinhold betonten Gegensatz insofern, als er die Absolutheit des Willens im Falle der Ethik dem allgemeinen Willen zuschreibt, während das Recht diese Absolutheit gerade dem individuellen Willen zukommen lassen soll. Allerdings sieht Schelling – in ähnlicher Weise wie er dies bereits in den Briefen angesichts des freilich anders gearteten Gegeneinanders von Dogmatismus und Kritizismus tat – beide Wissenschaften in ihrer Bemühung um Absolutheit am Ende letztlich ineinander fallen. Gleichwohl macht es gerade die Problematik des Naturrechtsaufsatzes aus, dass dieses Zusammenfallen von Ethik und Recht sowie von allgemeinem und individuellem Willen auf zwei Ebenen scheitern muss – nämlich zum einen hinsichtlich der Frage nach wirklicher Individualität des Willens und zum anderen im Blick auf die Freiheit nicht moralischer Willenshandlungen. Ähnlich wie im Falle der Paragraphen zur Ethik weist auch der zweite Teil des Naturrechtsaufsatzes, der der »Analyse des obersten Grundsatzes, und Deduction der ursprünglichen Rechte« gewidmet ist (AA I,3, 155), den Primat des 51 Vgl. Reinhold 1792, 147: »Allein in der genauer bestimmten Bedeutung muß Recht gerade das Gegentheil von Pflicht bezeichnen; durch Pflicht wird die Willkühr in Rücksicht auf den eigennützigen Trieb jederzeit eingeschränkt; durch Recht wird sie jederzeit sich selbst überlassen.«

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individuellen Willens aus der Perspektive des Rechts nach. Schelling sucht dies über den Begriff des Dürfens aufzuzeigen: So sei »[a]lles […] praktisch-möglich, wodurch praktische Möglichkeit überhaupt (Individualität des Willens der Form nach) behauptet wird; oder: Ich darf alles, wodurch ich das Dürfen überhaupt (der Form nach) behaupte.« (AA I,3, 156 (§ 80)) Ohne dass die Argumentationsschritte im Einzelnen nachgezeichnet werden können, soll hier nur konstatiert werden, dass Schelling daraus drei oberste Rechte deduziert, die wie schon im Falle der Ethik den Vorrang des individuellen Willens gegenüber dem allgemeinen, dem fremden individuellen und dem Willen überhaupt sicherstellen sollen, nämlich das Recht 1) im Gegensatz gegen den allgemeinen Willen, Recht der moralischen Freiheit, d. h. Recht der völligen Freiheit des individuellen Willens […]. 2) Recht im Gegensatz gegen individuellen Willen, Recht der formalen Gleichheit – Recht meine Individualität im Gegensatz gegen jede andre (der Form und Materie nach) zu behaupten. 3) Recht im Gegensatz gegen Willen überhaupt – Recht auf die ErscheinungsWelt, auf Sachen, auf Objecte überhaupt, NaturRecht im engern Sinn. (AA I,3, 170 (§ 140))

Indem Schelling derart die »absolute Macht« des individuellen Willens gegenüber der Natur oder auch einem anderen individuellen Willen und, »so bald es Rettung der Freiheit gilt«, selbst gegenüber dem allgemeinen Willen behauptet (AA I,3, 171 (§ 144)), untergräbt er doch gleichzeitig hierbei die »Individualität« und »Selbstheit meines Willens«, die es doch gerade um jeden Preis zu ›retten‹ oder zu verteidigen gilt (AA I,3, 170 (§ 141)). Zwar bemerkt Schelling im § 138 selbst ausdrücklich, dass, wo »meine Freiheit uneingeschränkt ist, […] sie identisch mit der Freiheit überhaupt« ist und folglich »individuelle Freiheit zu seyn« aufhört (AA I,3, 169 (§ 138)). 52 Jedoch zieht er anders als in den Briefen daraus keineswegs die Konsequenz, dass der Aufstieg zu einem absoluten Standpunkt alle individuelle Form generell vernichtet. Vielmehr hebe infolge der Identität »meine[r] individuelle[n] Freiheit […] mit der Freiheit überhaupt« lediglich »jede Aeußerung meiner Selbstthätigkeit jede fremde Freiheit auf«; dies tangiere jedoch in keiner Weise »[m]ein[en] Wille[n], insofern er der meinige ist«, wie gleichwohl wenig plausibel im unmittelbar folgenden Paragraphen behauptet wird (AA I,3, 169 (§ 139)).

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Vgl. zu einer ähnlichen Kritik auch Osten 1969, 58 f.

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Die angedeutete Problematik kommt jedoch auch noch auf einer weiteren Ebene zum Tragen, die nochmals vor Augen führt, dass eine Erhaltung der Individualität durch Ausübung jener ›absoluten Macht‹ im Sinne einer ›zwingenden Übermacht‹ im Rahmen des Rechts, wie Schelling es versteht, nicht denkbar ist. Wenn nämlich ein anderes Wesen »die Form des Willens in mir aufhebt«, zum »bloße[n] NaturWesen« wird (AA I,3, 174 (§ 160)) und mir somit ein »Recht« zukommt, »das ich nach bloßen NaturGesetzen behaupte« (AA I,3, 174 (§ 161)), so werde dadurch das »NaturRecht in seiner Consequenz, (insofern es zum ZwangsRecht wird), zerstört« und »alles Recht auf[gehoben]. Denn das Letzte, dem es die Erhaltung des Rechts anvertraut, ist physische Uebermacht.« (AA I,3, 174 (§ 162)) Schelling betont nämlich in § 153 gerade, dass eben jenem Recht, welches doch eigentlich nur die Freiheit eines jeden individuellen Willens sichern, aber nicht beschneiden soll, »nie ein ZwangsRecht gegen irgend einen Willen zukommen« kann und mithin auch »meine unmoralische Handlung als solche nicht aufgehoben werden [kann, P. H.], weder durch den Willen eines andern Individuums; […] noch durch den allgemeinen Willen« (AA I,3, 173 (§ 153)). 53 Beide zuletzt genannten Willensausprägungen würden derart nämlich im Zuge der Ausübung ihrer ›physischen Übermacht‹ die fremde individuelle Freiheit, die selbst als unmoralische eine solche bleibt, einerseits zu einem bloßen Naturobjekt degradieren – und andererseits infolgedessen die allgemeine ›Form‹ des Willens, d. h. dessen Freiheit, aufheben, was also zugleich die Freiheit der beiden anderen Willensausprägungen in deren Unhintergehbarkeit zurücknähme. 54 Um der AbsolutSchelling orientiert sich mit dieser Position vermutlich an P. J. A. von Feuerbach, der 1795 in einem im Philosophischen Journal (Bd. 2, H. 6) publizierten Aufsatz folgende These vertrat: »Endlich läßt sich auch […] nicht wohl begreifen, wie aus einem bloßen Erlaubtsein ein Vermögen zum Zwang entspringen könne […] [D]er Satz: ›ich darf und habe darum ein Recht zum Zwang,‹ ist kein analytischer, sondern ein synthetischer Satz. Recht zum Zwang ist mit dem bloßen Erlaubtsein, und in demselben noch gar nicht gegeben« (Feuerbach 1795, 12; vgl. dazu Osten 1969, 66). – Gleichzeitig wendet sich Schelling mit dieser Abkehr von einer einfachen Gleichsetzung von Recht und Macht auf Kosten der Freiheit gegen Spinoza (vgl. dazu Osten 1969, 37–40 u. 68 f.). 54 So betont Schelling, dass die mit der Freiheit gleichzusetzende »Form des Willens […] überall identisch [ist]. Wird also die Form meines Willens durch den Willen irgend eines Individuums aufgehoben, so hebt dieses eben damit selbst die Form seines Willens auf.« (AA I,3, 173 (§ 155). Es zeigt sich gerade hier die Notwenidgkeit des erst von Fichte in die Naturrechtsdebatte eingeführten Anerkennungsbegriffs: So 53

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heit der Freiheit willen muss denn auch die individuelle Freiheit – selbst in ihrer Nichtübereinstimmung mit dem allgemeinen Willen – bestehen bleiben und kann es doch nicht, wenn die im Recht hinterlegte Freiheit oberstes und unhintergehbares Prinzip sein soll. Dieses Dilemma ruft Schelling zufolge denn auch eine »neue[…] Wissenschaft« auf den Plan, bei der »auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist« (AA I,3, 174 (§ 163)). Diese Wissenschaft hat Schelling allerdings – möglicherweise aufgrund der 1796 ebenfalls erschienenen fichteschen Grundlage des Naturrechts – zumindest in Gestalt eines weiteren Beitrages zur Rechtsphilosophie nicht mehr skizziert. Stattdessen modifiziert Schelling in seiner folgenden Schrift den problematischen Willensbegriff des Naturrechtsaufsatzes in solcher Weise, dass er mit dem Begriff des Absoluten nun gänzlich vereinbar wird, indem er ihn nämlich seiner anthropozentrischen Einschränkung entkleidet. Damit nimmt Schelling aber gegenüber dem kantisch-fichteschen Willensbegriff eine fundamentale Neujustierung des Willensparadigmas vor.

3. Die ambivalente Ausweitung des Willensbegriffes in der Allgemeinen Uebersicht von 1797/98 Wenn Schelling 1809 erklärt, dass es »in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen gebe«, mithin »Wollen […] Urseyn« sei und dass genau »[b]is zu diesem Punkt […] die Philosophie zu unserer Zeit durch den Idealismus gehoben worden« sei (AA I,17, 123), so nimmt er mit dieser Bestimmung des Wollens als des Grundcharakters von Sein nicht zuletzt auf seine eigene Frühphilosophie Bezug – und insbesondere auf die Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur. Diese erschien erstmals 1797/98 im von Fichte und Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal (Bd. 5–8) und wurde dann 1809 im ersten Band der Philosophischen Schriften zusammen mit der Freiheitsschrift erneut, nun allerdings unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Ideabasiert nach Fichte die Anerkennung als freies Vernunftwesen nicht auf einer uneinschränkbaren Freiheit, sondern gerade auf einer Freiheit in der ›Aufforderung‹ zur ›Selbstbeschränkung‹ (vgl. etwa GA I,3, 351), die im Weiteren auch die Ableitung eines ›Zwangsrechts‹ ermöglicht.

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lismus der Wissenschaftslehre, veröffentlicht. Dass die Aufnahme dieser Abhandlungen in die Philosophischen Schriften weniger – wie bei der Akademierede Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (vgl. AA I,17, 26) – auf die schwere Zugänglichkeit zurückzuführen ist, sondern vielmehr der angedeuteten Parallele zur Freiheitsschrift hinsichtlich der Bestimmung des Urseins als Wollen geschuldet ist, darauf deutet vor allem die »Vorrede« des 1809 erschienenen Bandes hin. Darin bemerkt Schelling, dass »die deutlichen Keime späterer und mehr positiver Ansichten« sich vor allem und »bestimmter« als in den Briefen von 1795 »in den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre« zeigten, welche »unstreitig viel zum allgemeinen Verständniß dieses Systems beigetragen haben, besonders in der dritten derselben« (AA I,17, 25). Die Rede von einem »schlechthin positiven« findet sich denn auch gerade in Bezug auf die als »Wollen« charakterisierte »SelbstBestimmung des Geistes« in der von Schelling 1809 explizit erwähnten dritten der Abhandlungen bzw. in dem Abschnitt der Allgemeinen Uebersicht, der dem »Zusammenhang der theoretischen und der praktischen Philosophie« gewidmet ist (AA I,4, 121). Schelling sucht über den Begriff des Wollens eine Bestimmung des als Geist verstandenen Absoluten zu gewinnen, die in der Tat ›positiver‹ ist als in den 1795 veröffentlichten Briefen, insofern hierdurch einerseits nun ein Übergang vom Unendlichen zum Endlichen ermöglicht wird, dessen Konstruktion 1795 noch für unmöglich gehalten wurde, 55 und andererseits das Absolute dadurch nicht mehr als nur rein negativ bestimmter Grenzbegriff betrachtet werden muss. Bevor jedoch diese auf das System des transscendentalen Idealismus von 1800 vorausweisende Konzeption näher entfaltet wird, soll zunächst – die Chronologie der Allgemeinen Uebersicht durchbrechend – der hierauf folgende Abschnitt Betrachtung finden, in welchem Schelling, Reinholds Willenskonzeption mit derjenigen Kants vergleichend, eine Pluralisierung und Hierarchisierung innerhalb des Willensbegriffes vornimmt, die für die oben aufgezeigte Problematik des Naturrechtsaufsatzes eine Lösung andeutet (Kap. 3.1). Erst im Anschluss daran soll gezeigt werden, wie diese Konzeption durch die Ausweitung des Willensbegriffes im vorausgehenden Abschnitt eine Fundierung erfährt, dabei gleichzeitig aber selbst wieder eine interne prinzipien-

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Vgl. hierzu den siebten der Briefe von 1795, AA I,3, 82–84.

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theoretische Spannung aufweist, die im System von 1800 eine Korrektur bei gleichzeitiger Fortschreibung des Problems in verwandelter Form erfährt (Kap. 3.2).

3.1. Schellings Ausdifferenzierung des Willensparadigmas im Zuge seiner Besprechung von Kants und Reinholds Willenskonzeptionen Der 1797 im zweiten Heft des siebten Bandes des Philosophischen Journals erschienene Abschnitt der Allgemeinen Uebersicht, der 1809 als vierte der Abhandlungen wieder abgedruckt wurde, ist von seinem Anspruch her eine Auseinandersetzung mit der »neueste[n] Litteratur«, zu der Schelling »einige aus Veranlassung derselben gemachte Bemerkungen« mitteilen will (AA I,4, 130). Im Blick hat Schelling dabei vor allem Reinholds 1797 in seiner Auswahl verschiedener Schriften erschienene Abhandlung »Ueber den gegenwärtigen Zustand der Metaphysik und der transcendentalen Philosophie überhaupt« (vgl. AA I,4, 136); gleichwohl fokussiert die Abhandlung im Zuge dieser Auseinandersetzung mit Reinhold insbesondere auf dessen Kritik und Gegenentwurf zum kantischen Willensbegriff, welchem gegenüber Schelling eine zwischen Kant und Reinhold vermittelnde Position einzunehmen sucht. 56 Schelling geht hierbei von der von »manche[n]« geäußerten Kritik am Idealismus aus, dass es diesem an Realismus mangle, um darauf mit einer zwar nicht »dem Buchstaben«, wohl aber »dem Geiste« Kants entsprechenden Interpretation des ›Dinges an sich‹ zu antworten, nämlich »daß wir wirklich die Dinge, wie sie an sich sind, erkennen, d. h. daß zwischen dem vorgestellten und dem wirklichen Gegenstand gar kein Unterschied statt finde.« (AA I,4, 130 f.) Allerdings verhalte es sich in der Philosophie derart, dass »[j]eder kühne Ausdruck« derselben »symbolisirt, was er gar nicht versinnlichen kann.« (AA I,4, 132) Mit dem Begriff des ›Ding an sich‹ habe Kant So sind im Jahr 1797 auch Kants zwischen Wille und Willkür klar differenzierende »Einleitung« zu seiner Metaphysik der Sitten (MS, AA 6, 211–228, bes. 213 f.) sowie Reinholds ›letzte‹ Stellungnahme zum kantischen Willensbegriff unter dem Titel »Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freyheit des Willens« (Reinhold 1797) erschienen. Vgl. dazu auch Stolzenberg 2004, Schmidt 2012 u. Noller 2015, 300–310.

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denn auch lediglich auf den »Schlummer des Empirismus« aufmerksam machen wollen, in welchem »das Symbol für das Object selbst« genommen werde (AA I,4, 132 f.). 57 Denn wie Schelling unter durchaus fragwürdiger gleichzeitiger Berufung auf Kant und Jacobi bemerkt, 58 könne der letzte Grund des Sinnlichen, insofern es generell bedingt sei, nicht wieder im Sinnlichen, sondern nur in einem Übersinnlichen liegen. Diesen »symbolisirte Kant durch den Ausdruck: Dinge an sich« (AA I,4, 133) – allerdings lediglich in der theoretischen Philosophie, wie Schelling wenig später hinzufügt: »In der praktischen Philosophie aber erscheint auf einmal als Princip unsers Handelns – die Autonomie des Willens, und als das einzige Uebersinnliche, wovon wir Gewissheit haben, die Freiheit in uns« (AA I,4, 135). In diesem Zusammenhang kommt Schelling auch erstmals auf Reinhold zu sprechen. Schelling erkennt darin eine Übereinstimmung zwischen Kant und Fichte, dass beide die »Autonomie des Willens« zum Prinzip erhoben haben, und sieht die Differenz zwischen ihnen lediglich darin, dass Kant jenes Prinzip nur »an die Spitze der praktischen Philosophie« gestellt habe, während Fichte es »zum Princip der gesammten Philosophie« erhoben habe, die mithin »weder theoretische noch praktisch allein, sondern beides zugleich« sei (AA I,4, 136). Zwar konstatiert Schelling bei Reinhold ebenfalls die Tendenz, sich auf den »praktischen StandPunkt des Idealismus« zu stellen und »den theoretischen StandPunkt beiseite« zu lassen (AA I,4, 137). Jedoch treibe Reinhold gleichzeitig gleichsam einen ›Keil‹ zwischen den Willen und die (praktische) Vernunft: So behaupte Reinhold in den »Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freyheit des Willens« von 1797, dass »die Freiheit des Willens […] von der reinen (praktischen) Vernunft total verschieden« sei (AA I,4, 137). 59 Die Absicht, die Reinhold mit dieser Vgl. zum Begriff des Empirismus beim späten Schelling insgesamt Roux 2016. Schelling bezieht sich hier auf Kants Schrift Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (AA VIII, 215) sowie vermutlich auf Jacobis Abhandlung David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (Jacobi 1787, 108 f.). Diese doppelte Berufung auf Kant und Jacobi zeigt indirekt bereits die ganze Amivalenz der schellingschen Konzeption, insofern Kant die ›Dinge an sich‹ zwar in theoretischer, nicht aber in praktischer Hinsicht für unerkennbar hält, während Jacobi diesen übersinnlichen Grund partout für unzugänglich erklärt. 59 Vgl. Reinhold 1797, 144: »Die Praktische Vernunft […] wird vom guten und vom bösen Willen gemeinschaftlich vorausgesetzt, und kann daher kein Wille seyn.« 57 58

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aus der Perspektive Kants und Schellings undenkbaren Abhebung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft verfolgt, besteht indessen gerade darin, die Frage nach der Möglichkeit eines bösen Willens oder eines unmoralischen Handelns zu lösen, welche auch Schelling am Ende seines Naturrechtsaufsatzes mit Blick auf dessen Kompatibilität mit dem Recht stellte, ohne dort allerdings eine letztgültige Antwort auf diese Frage formulieren zu können. Denn, so spitzt Reinhold das Problem zu, »[w]äre die praktische Vernunft der Wille, so müßte entweder der sittlichböse Mensch gar keinen Willen haben, oder seine Praktische Vernunft das Böse thun«. 60 Gleichwohl sucht Schelling gleichzeitig die kantisch-fichtesche Position aufrechtzuerhalten, insofern ihm »eine vom Willen, der doch selbst gesetzgebend seyn soll, v e r s c h i e d e n e praktische (d. h. gesetzgebende) Vernunft« nicht plausibel erscheint (AA I,4, 137). Um diese Einheit zu gewährleisten, bestimmt Schelling das Prinzip der Autonomie als eine interne Duplizität, ein »ursprüngliche[s] Handeln des Geistes auf sich selbst«, welches, »vom theoretischen StandPunkt aus angesehen, ein Vorstellen, oder, was dasselbe ist, ein Construiren endlicher Dinge, vom praktischen StandPunkt aus ein Wollen ist.« (AA I,4, 141) Sind jedoch beide Standpunkte in der beschriebenen Weise wirklich identisch und gewissermaßen nur die Kehrseiten einer Medaille, so muss sich auch ein Übergang vom theoretischen Vorstellen zur praktischen Selbstbestimmung nachweisen lassen, sodass man »aus dem Zustand des Vorstellens in den Zustand des freien Handelns übergehen könne« und »der Geist des Menschen absolut-frei sey« (AA I,4, 155). Den »Zustand des Vorstellens« könne der Geist aber »nicht selbstthätig verlassen, ohne durch diese Handlung zugleich alle Materie des Vorstellens für sich aufzuheben«, was jedoch aufgrund der Bezogenheit alles Wollens auf etwas nur möglich sei, insofern »jene Handlung von selbst zum Wollen, d. h. zum selbstthätigen Bestimmen der Materie seines Handelns« werde (AA I,4, 155). Bewusst werde sich der Geist in seinem Wollen aber nur, wenn »das Objekt seines Wollens er selbst in seiner reinen Thätigkeit« sei (AA I,4, 155). Wie schon in der Ichschrift verwandelt sich mithin für Schelling der »eigentliche Sinn des kategorischen Imperativs oder des MoralGesetzes« in die Forderung nach Identität des Geistes mit sich selbst, die besagt, dass »k e i n e (moralische) Duplicität in ihm stattfinden« soll (AA I,4, 156). Da sich der Geist aber nur im Wollen sei60

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ner selbst bewusst werde, so stelle auch der Wille »die Quelle des MoralGesetzes« als Forderung nach Identität dar (AA I,4, 156). Weiß sich Schelling, abgesehen von der Uminterpretation des Moralgesetzes, hier noch weitestgehend mit Kant einig, so lässt die folgende Wendung hingegen ein deutliches Zugeständnis an Reinhold erkennen. So erklärt Schelling zwar, dass das »absolut Gute« als der reine Wille nur »aus einem Wollen, d. h. aus einer positiven Handlung« erklärbar sei; bewusst werde man sich eines »Positiven aber […] nie anders […] als durch ein Entgegengesetztes Positives (das insofern das Negative des Ersteren ist).« (AA I,4, 156) Schelling folgt hier ganz dem »Grundgesetz des Gegensatzes« (AA II,8, 98) – wie er es 1810 explizit benennt und schon 1797 mit Bezug auf Kants Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) begründet hat (vgl. AA I,4, 156) –, wenn er davon ausgeht, dass wir »keine positiv moralische Handlung denken können, ohne ihr eine positiv unmoralische entgegenzusetzen.« (AA I,4, 157) Erst jenes »Bewusstseyn real entgegengesetzter, d. h. gleichmöglicher Handlungen« mache »den Willen zur Willkür« (AA I,4, 157). Durch diese Konzeption sieht sich Schelling in die Lage versetzt, »den Widerstreit auszugleichen« (AA I,4, 157), welcher zwischen Kant und Reinhold hinsichtlich des Willensparadigmas besteht. Wenn nämlich Kant den »Wille[n] und die praktische d. h. gesetzgebende Vernunft« (AA I,4, 157; vgl. KpV A 52, 58 f.) einfachhin gleichsetze und Reinhold eine »sowohl von der Selbstthätigkeit der Vernunft als von dem Streben der Begierde verschiedene[…] Freyheit des Willens« 61 annehme, so sprechen aus der Sicht Schellings beide von graduell zu unterscheidenden Willensformen. So können wir das ursprüngliche Sollen, (dessen Grund im Willen selbst liegen muß), in Begriffen auffassen, ohne daß wir desshalb dieses abgeleitete Sollen mit dem ursprünglichen, oder das bloße Organ, wodurch das Gesetz zu uns spricht, mit der Quelle des Gesetzes selbst verwechseln. (AA I,4, 159)

Aufgrund dieses Ableitungsverhältnisses gelange denn auch die Stimme des »ürsprünglichen Willens […] nur durch das Medium der Vernunft« (AA I,4, 159) und deren in Begriffe zu fassendes Gesetz zu uns, sodass das Willensmoment in der Forderung der Ver-

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Reinhold 1797, 141.

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nunft durchaus übersehen werden könne und ausschließlich das untergeordnete, erscheinende Willensvermögen, dem das Gesetz gebiete, in den Blick komme. Daher rede Kant »offenbar vom Willen, insofern er gar nicht Object des Bewusstseyns ist, dieser [Reinhold, P. H.] vom Willen, in sofern er im Bewusstseyn vorkommt.« (AA I,4, 161) Während jedoch der erstere Wille als eine »That, die an sich selbst gar nicht empirisch ist«, »weder frei noch unfrei [sey], weil er lediglich auf das Gesetz gehe« (AA I,4, 162 f.), so könne der letztere Wille für das Bewusstsein gar nicht anders als im Gegensatz zu etwas erscheinen. Die Entstehung der daraus folgenden Handlung könnten wir mithin »vom StandPunkt des Bewusstseyns aus nicht weiter erklären, als aus einer freien Wahl, der wir den Namen Willkür geben« und die als liberum arbitrium lediglich Erscheinungsform oder »Phänomen des Willens« sei (AA I,4, 163). Auch wenn Schelling Reinhold für dessen Stehenbleiben »auf dem StandPunkt des Bewusstseyns« (AA I,4, 167) kritisiert, die ihn die von Kant betonte Absolutheit des gesetzgebenden Willens zugunsten einer in der libertas indifferentiae verharrenden Willkürfreiheit verkennen lässt, so gesteht er Reinhold doch immerhin zu, dass er mit seiner Konzeption trotz all ihrer Mängel den Standpunkt der Endlichkeit, »das so tief in uns liegende Gefühl unsrer moralischen Endlichkeit« (AA I,4, 166) hervorgekehrt habe. Zwar habe auch Kant in seiner späten Religionsschrift den »Mangel der Uebereinstimmung der Willkür mit dem Gesetze« (AA I,4, 168) als eine – so Kant 1793 – »realiter entgegengesetzte[n] Bestimmung der Willkür […] durch eine böse Willkür« (Rel., A 10/B10 Anm.) in Betracht gezogen. Gleichwohl hat er sich doch in den Augen Schellings auf die »Vermittlung des Sinnlichen und Uebersinnlichen durch das Transscendentale des Wollens nirgends« eingelassen (AA I,4, 168). Zwar sei der Wille – wie Schelling mit Kant formuliert – »frei, insofern der Mensch intellectuell ist, aber diese Freiheit wird transscendental« in dem Sinne, dass sie sich auf das Empirische beziehe, – also »nur inwiefern er [der Wille, P. H.] zugleich sinnlich« und damit endlich ist (AA I,4, 168), wie Schelling wiederum Reinhold zugesteht, auch wenn dieser ersteres geleugnet habe. Überzeugender als in seinem Naturrechtsaufsatz vermag Schelling so im Rekurs auf Kant und Reinhold auch zwischen absolutem, allgemeinem Willen und individuellem, endlichem Willen zu differenzieren und zugleich beide – durch die Korrespondenzbegriffe von ›transzendental‹ und ›empirisch‹ sowie ›unbewusst‹ und ›bewusst‹ – aufeinander zu beziehen, 50 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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ohne dass Letzterer dabei entindividualisiert oder Ersterer seiner Allgemeinheit beraubt würde. Nur indem der ursprünglich unbewusste, »absolute (reine) Wille […] durch einen entgegengesetzten beschränkt« werde, könne man sich »seiner Freiheit bewusst« werden (AA I,4, 167), so bemerkt Schelling in Vorwegnahme eines für die Freiheitsschrift wie auch die Weltalter grundlegenden Gedankens, wonach sich ein absoluter Wille nur in Form einer Willensduplizität entfalten kann. Doch indem Schelling als »erstes Princip« oder als »das Geistige im Menschen« dasjenige ansieht, »was jenseits des Bewusstseyns liegt« (AA I,4, 169), kann er nicht nur schlussfolgern, dass dieses Prinzip nur im Zuge einer Verendlichung zur Erscheinung gelangen kann. Vielmehr bietet dieses jenseits des Bewusstseins situierte Wollen ihm auch die Möglichkeit, es über Kant und Fichte hinausgehend als der Natur ebenfalls zugrundeliegendes Prinzip zu verstehen, wie Schelling in dem vorausgehenden Abschnitt der Allgemeinen Uebersicht ausführt.

3.2. Die Problematik von Schellings Ausweitung und Ontologisierung des Willens in der Allgemeinen Uebersicht In den Philosophischen Briefen von 1795 hatte Schelling noch einerseits die Realisierung eines »Uebergang[s] vom Unendlichen zum Endlichen« (AA I,3, 83) mit Blick sowohl auf den Kritizismus als auch auf den Dogmatismus für unmöglich erklärt und beiden umgekehrt nur den Übergang vom Endlichen zum Unendlichen in Gestalt einer praktischen Forderung zugestanden, auch wenn er gleichzeitig die Vorstellung der Erreichbarkeit jenes »letzte[n] Ziel[s]« im Falle beider Systeme als »Schwärmerei« verurteilte. 62 Denn »[i]n beiden Fällen ist für mich Alles Object, eben damit aber auch das Bewußtsein meiner selbst als eines Subjects verloren.« (AA I,3, 97) Mit dieser jedenfalls philosophischen Unerreichbarkeit des Absoluten als einer »absolute[n] Identität« (AA I,3, 97) ging andererseits nur eine negative Darstellung der letzteren einher – verschwindet doch dem neun-

Vgl. AA I,3, 96 »Der Kriticismus ist vom Vorwurf der Schwärmerei so wenig zu retten, als der Dogmatismus, – wenn er mit diesem über die Bestimmung des Menschen hinausgeht und das letzte Ziel als erreichbar vorzustellen versucht.«

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ten der Briefe zufolge »im Absoluten aller Widerstreit […] oder vielmehr alle Systeme müssen als widersprechende Systeme in ihm aufhören« (AA I,3, 99), und die Darstellung absoluter Identität kann somit nur »für die Kunst – für das Höchste in der Kunst – aufbewahrt werden«, wie es im zehnten Brief in Anspielung auf die Tragödie als jener ›höchsten‹ Kunstform heißt (AA I,3, 106). Diesem gleichsam negativen Resultat der Briefe, die, abgetrennt von der Identität des Absoluten, die »Philosophie in der Entzweiung« 63 situieren, sucht die Allgemeine Uebersicht durch eine Neukonzeption des Absoluten zu entkommen – und zwar genau in dem Abschnitt, der dem »Zusammenhang der theoretischen und praktischen Philosophie« sowie dem »Uebergang von der Natur zur Freiheit« gewidmet und 1797 im ersten und zweiten Heft des sechsten Bandes des Philosophischen Journals erschienen ist. Dazu greift Schelling zum einen auf Fichtes Selbstbewusstseinstheorie zurück, um diese zum anderen mit Leibniz Monadenlehre 64 zu einer sowohl auf die Subjekt- wie auf die Objektseite sich erstreckenden Form von Willensmetaphysik zu erweitern, wie sie noch die Freiheitsschrift als bisheriges höchstes Resultat des Idealismus feiert (vgl. AA I,17, 123), 65 auch wenn sie dieses zugleich durch interne Differenzierungen im Willensparadigma zu korrigieren strebt. 66 Bereits in dem im dritten Heft des fünften Bandes des Philosophischen Journals publizierten Abschnitt der Allgemeinen Uebersicht geht Schelling hierbei von dem durch das kantische ›Ding an sich‹ hervorgerufenen erkenntnistheoretischen Dualismus aus, um diesen Iber 1994, 68. Vgl. dazu etwa Schellings Bemerkung, dass »[i]n der Leibnizischen Philosophie […] die Dinge an sich etwas ganz anderes [waren, als man von Kant herkommend meine, P. H.]. Leibniz wußte von keinem Daseyn, als nur von einem solchen, das sich selbst erkennt, oder von einem Geiste erkannt wird. Das letztere war ihm bloße Erscheinung. Was aber mehr als Erscheinung seyn sollte, daraus machte er nicht ein todtes, selbstloses Objekt. Darum begabte er seine Monaden mit Vorstellkräften, und machte sie zu Spiegeln des Universums, zu erkennenden, vorstellenden, und nur insofern nicht ›erkennbaren‹, nicht ›vorstellbaren‹ Wesen. […] – Den Dingen an sich Vorstellung zu geben, dazu waren unsere Halbköpfe zu aufgeklärt« (AA I,4, 76). 65 Vgl. dazu auch Iber 1994, 83 u. 188 f. Diese Ausweitung des Willensparadigmas über die Subjektseite hinaus auch auf diejenige des Objekts und der Natur ist dabei die Kehrseite jener ›naturphilosophischen Fundierung‹ des Selbstbewusstseinsparadigmas, mit der Schelling entschieden über Fichte hinausgeht. Vgl. dazu genauer Hühn 1994b. 66 Vgl. dazu unten, Teil II, Kap. 1.1. 63 64

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zunächst scheinbar ganz im Anschluss an Fichte unter Rückgriff auf das Selbstbewusstseinsparadigma zu überwinden: Das einzige Beispiel einer absoluten Identität der Vorstellung und des Gegenstandes finden wir also in uns selbst. […] Ich aber bin ursprünglich nicht etwa für ein erkennendes Subject außer mir, wie die Materie, sondern für mich selbst da, in mir ist die absolute Identität des Subjects und des Objects, des Erkennens und des Seyns. Da ich mich nicht anders kenne als durch mich selbst, so ist es widersinnisch, vom Ich noch ein anderes Prädicat, als das des Selbstbewußtseyns zu verlangen. Eben darinn besteht das Wesen eines Geistes, daß er für sich kein anderes Prädikat hat, als sich selbst. Nur in der SelbstAnschauung eines Geistes also ist Identität von Vorstellung und Gegenstand. (AA I,4, 84 f.)

Mit den letzten beiden Sätzen, in denen er den Ichbegriff durch den des Geistes ersetzt, geht Schelling allerdings zugleich, ohne dass er dies deutlich kennzeichnete, über den von Kant und Fichte vorgegebenen Horizont hinaus. Dass nämlich mit dieser Ersetzung des Ichbegriffes durch den Begriff des Geistes eine wichtige semantische Verschiebung einhergeht, dies zeigt die dem »Wort Geist« gewidmete Anmerkung. Darin wendet sich Schelling gegen eine von »Kantianer[n]« möglicherweise vorzubringende Kritik an seiner Philosophie, nämlich »daß sie dogmatisch verfahre« und »von dem Geist als Ding an sich spreche« (AA I,4, 85 Anm.), während Kant im Paralogismenkapitel der Critik der reinen Vernunft doch gerade die durch die »Spiritualität« zur »Immortalität« erhobene »Animalität« der »denkende[n] Substanz« (KrV, A 345/B 403) kritisiert und daher auch ansonsten in seinem Werk zumeist das Wort ›Geist‹ gemieden hatte. 67 Schelling sucht sich gegen diesen möglichen Vorwurf abzusichern, indem er betont, dass Geist für ihn das sei, was »ursprünglich überhaupt kein Object« sei (AA I,4, 85 Anm.), sondern – wie Schelling in Anklang an Fichtes Definition der ›Thathandlung‹ bemerkt (vgl. GA I,2, 259) – »nur durch sich selbst, durch sein eignes Handeln« (AA I,4, 87). Jedoch beabsichtigt Schelling durch die Heranziehung des Geistbegriffes zugleich eine Überbietung von Fichtes Selbstbewusstseinstheorie ins Werk zu setzen, welche schon ihrerseits den erkenntnistheoretischen Dualismus Kants durch den Erweis des Selbstbewusstseins als des unhintergehbaren Ausgangspunkts allen

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Vgl. dazu Marquard 1974, 182 f.

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Objektbewusstseins zu überwinden suchte. Da jedoch auch das fichtesche Ich qua Selbstbewusstsein durch einen irreduziblen ›Anstoß‹ bedingt ist (vgl. GA I,2, 356 f.), unternimmt Schelling zur Begründung der ›Identität von Vorstellung und Gegenstand‹ den Versuch, nochmals auf eine begründende Tiefenstruktur des Selbstbewusstseins zurückzuschließen, welche eine Letzterem analoge Verfasstheit aufweist und von Schelling als ›Geist‹ bezeichnet wird. 68 Dieser Rückschluss Schellings, der die »Realität unsres Wissens« sichern soll (AA I,4, 85), verdankt sich nicht zuletzt einem Rückgriff auf Leibniz’ Monadenlehre, dessen mangelnde oder zumindest durch Kants kritisches Urteil 69 verdunkelte Rezeption Schelling schon wenige Seiten zuvor beklagt (AA I,4, 76). So seien denn auch Leibniz, wie Schelling in einer Kritik an dem kantischen Dualismus bemerkt, »die Dinge an sich Etwas ganz anders« gewesen (AA I,4, 76): »Leibnitz wußte von keinem Daseyn, als nur von einem solchen, das sich selbst erkennt, oder von einem Geiste erkannt wird«, wobei er Letzteres zwar als »bloße Erscheinung« auffasste, ohne dieser gegenüber jedoch noch ein »todtes, selbstloses Object« annehmen zu wollen, weshalb er auch »seine Monaden mit VorstellKräften« begabte und damit gewissermaßen »den Dingen an sich Vorstellung zu geben« vermochte (AA I,4, 76). Vor diesem Hintergrund meint Schelling denn auch unter Rekurs auf Leibniz die Selbstbewusstseinsstruktur gleichsam noch über dieses selbst hinaus zur Anwendung bringen zu können. Auch wenn die Stichhaltigkeit dieser Argumentation durchaus als fraglich gelten kann und auch Schelling selbst sich später zu einer Korrektur seines Ansatzes veranlasst sieht, so vermag Schelling mit dieser Argumentationsfigur gleichwohl das Problem des Übergangs »[v]om Unendlichen zum Endlichen« zu lösen, da der Geist »die ursprünglichste Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit« darstelle; denn er sei »nur insofern Geist, als er für sich selbst Object, d. h. insofern er endlich wird« (AA I,4, 86). 70 Unter der VoraussetSchelling antizipiert mit dieser Verwendung des Geistbegriffes, auch wenn er ihn in dieser Gestalt wenig später wieder fallen lässt (vgl. Marquard 1974), in gewisser Hinsicht Hegels Geistbegriff, insofern nämlich auch Schellings Geistbegriff 1797/98 – wie wenig später bei Hegel – eine überindividuelle, geschichtlich verfasste sowie durch eine ›Verendlichung im Selbstwerdungsgange‹ und ›Voluntativität‹ ausgezeichnete Struktur bezeichnet (vgl. Blasche 2004, 721). 69 Vgl. den Abschnitt »Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe«, in dem sich Kant kritisch mit Leibniz auseinandersetzt (vgl. KrV, A 270–289/B326–346). 70 Infolge dieses ›Mittelbegriffs‹ kann Schelling aber gleichzeitig weiterhin der schon 68

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zung aber, dass der Geist für sich selbst Objekt werden solle und daher ursprünglich nicht allein endlich sein könne, ist er nach Schelling ein »ewiges Werden« oder ein »absolutes Subject«, das »nur durch sich selbst, durch sein eignes Handeln« sich Objekt wird (AA I,4, 85 f.). Jedoch kann der Geist in seiner ursprünglichen Selbstobjektivierung, oder »indem er sich selbst anschaut, […] sich nicht zugleich von sich selbst unterscheiden« (AA I,4, 88) und sich mithin auch nicht seiner selbst in dieser Selbstunterscheidung bewusst werden. In der Selbstanschauung hat er sich gleichsam im angeschauten Objekt verloren. Und selbst wenn er sich dieser Selbstanschauung bewusstwerden will und sich mithin in einer ›Abstraktionsbewegung‹ vom angeschauten Objekt distanziert, so kann er dies nicht, ohne sich »in Ansehung derselben gezwungen zu fühlen.« (AA I,4, 90) Er erkennt nur ein fremdes, endliches Objekt und nicht sein eigenes freies Handeln, was Schelling wenig später dazu führt, einen zeitlichen Aspekt mit Blick auf die verschiedenen Handlungen des Geistes einführen: Da »der Grund seines beschränkten Producirens nicht in seiner jetzigen Handlung liegen« kann, so »findet sich [der Geist, P. H.] beschränkt; oder, was dasselbe ist, er fühlt sich beschränkt« (AA I,4, 108). Diese Selbstentfremdung führt nach Schelling in der Folge dazu, dass der Geist »ins Unendliche fort sich selbst […] reproducirt« (AA I,4, 107), was allerdings nicht als eine progressionslose, sondern vielmehr als eine teleologisch ausgerichtete Bewegung verstanden wird: Das in Objekten der Natur sich ›kondensierende‹ Anschauen bezeuge denn auch »nur eine fortgehende Handlung des unendlichen Geistes, in welcher er erst zum Selbstbewußtseyn kömmt«, wie Schelling bereits 1797 im Kontext eines Kant-Referates anmerkt (AA I,4, 79). Das 1800 publizierte System des transscendentalen Idealismus teilweise sogar im Wortlaut antizipierend (vgl. AA I,9,1, 25), spitzt Schelling diesen Gedanken sodann nochmals in der Redeweise von einer »Geschichte des SelbstBewusstseyns« oder einer »Geschichte des menschlichen Geistes« zu, die nichts anderes darstelle als »die Geschichte der verschiedenen Zustände, durch welche hindurch er [der menschliche Geist, P. H.] allmählich zur Anschauung seiner selbst, zum reinen SelbtBewusstseyn, gelangt.« (AA I,4, 109) Möglich sei dies aber erst im »Uebergang von der Natur zur Freiheit« (AA I,4, in den Briefen formulierten Einsicht Geltung zusprechen: »Vom Unendlichen zum Endlichen – kein Uebergang!« (AA I,4, 86).

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102), wenn der Geist »von allem Product sich losreißt, sich selbst in seinem Thun ergreift, und nun nichts weiter anschaut als sich selbst in seiner absoluten Thätigkeit« (AA I,4, 110), wodurch zugleich der »Zusammenhang der theoretischen und der praktischen Philosophie« (AA I,4, 102) aufgezeigt werde. Denn dieser Akt des Sich-Losreißens von der Natur oder der Abstraktion von dem angeschauten Produkt sei nichts Anderes als eine »SelbstBestimmung des Geistes«, die Schelling auch als ein »schlechthin positive[s]«, ein schlechthinniges Handeln sowie als »Wollen« bezeichnet, mit dem der Geist sich »seines Handelns unmittelbar bewusst« werde (AA I,4, 121 f.). Indem aber diese Handlung eines sich selbst bestimmenden Losreißens von der Natur gleichsam das Reich der Natur von dem der Freiheit trennt, stellt sie zugleich diejenige Handlung dar, »welche theoretische und praktische Philosophie vereinigt« (AA I,4, 122), indem sie sie gleichsam aus einem einzigen Gründungsakt hervorgehen lässt. Das Neuartige dieses Ansatzes verbirgt Schelling dabei eher, wenn er diese Handlung zum einen an Kants »Idee der Autonomie« einfachhin rückbindet, auch wenn dieser zu zeigen vergessen habe, dass »diese Idee in seinem System der Punkt ist, durch welchen theoretische und praktische Philosophie zusammenhängen« (AA I,4, 123). Zum anderen ist es zwar korrekt, dass Fichte – wie Schelling wenig später ausführt – »das Princip, das Kant an die Spitze der praktischen Philosophie stellt, (die Autonomie des Willens) zum Princip der gesammten Philosophie erweitert« hat; gleichwohl hatte Fichte selbst dabei – wie Schelling unterstellt – keine »höhere Philosophie« im Sinn, die »ihrem Geiste nach weder theoretisch noch praktisch allein, sondern beides zugleich« sei (AA I,4, 136). Fichte geht es mit seinem Programm hingegen – wie man gegen Schellings Ausführungen anmerken muss – um eine Einheit der Philosophie unter rein praktischem Vorzeichen, wenn er 1794 etwa betont, dass »das praktische Vermögen erst das theoretische möglich mache« (GA I,2, 286). Vielmehr ist es denn auch Schelling selbst, der 1797/98 eine »höhere Philosophie« anstrebt, die jenseits der Differenz von praktischer und theoretischer Philosophie, von Natur und Freiheit zu situieren sei – wie der Titel des Abschnittes bereits andeutet – und die er dann 1800 im sechsten Hauptabschnitt des Systems zunächst unter dem Titel der Kunstphilosophie 71 und schließlich ab 1801 in gewandelter Form unter dem der Identitätsphilosophie vorstellig macht. 71

Schon in der Allgemeinen Uebersicht verweist Schelling in einer Anmerkung da-

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Augenfällig wird dies gerade an der Uminterpretation des Wollens, mit der Schelling sowohl gegenüber seinem eigenen Willensdenken vor 1797 als auch gegenüber demjenigen der (kantisch-fichteschen) Tradition eine entscheidende Korrektur vornimmt. Verbürgt nämlich das Wollen gerade die Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie, des Reichs der Natur und desjenigen der Freiheit, so kann nur – wie Schelling wenig später zu präzisieren sucht – ein »absolute[s] Wollen« (AA I,4, 128) das seiner selbst bewusste Ich der praktischen Philosophie begründen und kennzeichnen. Nur jenes Wollen im absoluten Sinne wäre mithin noch mit dem Wollen im kantischen oder auch im Sinne Fichtes gleichzusetzen, wie Letzterer es etwa in § 2 der zweiten Auflage seines Versuchs einer Critik aller Offenbarung von 1793 paradigmatisch bestimmt: »Sich mit dem Bewußtseyn eigner Thätigkeit zur Hervorbringung einer Vorstellung bestimmen«, so Fichte 1793, »heißt Wollen« (GA I,1, 135). Das Wollen im allgemeinen Sinne, das Schelling hier vor Augen hat, kann jedoch nicht mehr nur Kennzeichen »alle[r] moralischen Wesen überhaupt« (AA I,3, 145) sein, wie Schelling 1796 selbst noch in § 30 seiner Neuen Deduktion des Naturrechts schreibt. Vielmehr avanciert 1797/98 das Wollen zum Charakteristikum der das Bewusstsein fundierenden Struktur des Geistes selbst und damit auch zum Kennzeichen jener »Zustände«, durch die hindurch der Geist erst »zum reinen SelbtBewusstseyn, gelangt« (AA I,4, 109): »Der Geist ist ein ursprüngliches Wollen. Dieß Wollen muß daher so unendliche seyn, als er selbst« (AA I,4, 122). Trotz der dadurch ermöglichten Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie, von Natur und Freiheit leistet dieses ausgeweitete Willensparadigma hierbei aber nicht das, was es soll: Vielmehr weist diese »ontologische Willensmetaphysik des Geistes«, 72 wie bereits angedeutet, einen fehlerhaften Begründungszirkel in sich auf: 73 So wird auf der einen Seite das ›ursprüngliche Wollen‹ des Geistes als ein Sich-selbst-Objekt-Werden aus der Subjekt-Objekt-Identität des Selbstbewusstseins als einem ›absoluten Wollen‹ abstrahierend abgeleitet, während auf der anderen Seite die Geiststruktur selbst wiederum die ›transzendentale Vorgeschichte‹ zur Berauf, dass »die ganze Untersuchung in die Aesthetik« gehöre: »Denn diese Wissenschaft zeigt erst den Eingang zur ganzen Philosophie« (AA I,4, 129 Anm.). 72 Iber 1994, 83. 73 Vgl. zu dieser Kritik bereits Sandkaulen-Bock 1990, 66–93 sowie Iber 1994, 71–86.

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gründung des Selbstbewusstseins liefern soll. Angesichts von Schellings uniformer Ausweitung des Willensparadigmas auf das Ganze des Seienden stellt sich dabei nicht zuletzt auch der Verdacht der »Anthropomorphie« ein, wie er in prononcierter Weise insbesondere von Heidegger im Rahmen des Aufweises einer für ihn bereits mit Leibniz anhebenden Willensmetaphysik erhoben wurde (HGA 6.1, 590). 74 Auch die lediglich stellenweise von Schelling herangezogene Differenzierung zwischen ›ursprünglichem Wollen‹ des Geistes und ›absolutem Wollen‹ des selbstbewussten Ichs (vgl. AA I,4, 122 u. 128) vermag die Problematik nicht zu überwinden, die sich angesichts der Beschreibung des Ganzen von Natur und Selbstbewusstsein durch ein einheitliches Willensparadigma ergibt. Ungeachtet dieser Ansätze zur Lösung der angezeigten Problematik gerät die Beschreibung der dem Selbstbewusstsein vorausliegenden Naturgeschichte unter die ihr äußerliche Botmäßigkeit des Ersteren und wird nicht mehr in ihrer Eigentümlichkeit und Eigenständigkeit gegenüber dem Selbstbewusstsein betrachtet. 75

3.3. Die Randständigkeit des Wollensbegriffes und die zunehmende Eigenständigkeit der Naturphilosophie in den Schriften von 1797 bis 1799 Schelling selbst scheint das angezeigte Problem einer Vereinnahmung der Natur durch das Selbstbewusstseinsparadigma und damit auch der Naturphilosophie durch die Transzendentalphilosophie in Gestalt einer indifferenten Ausweitung des Willensparadigmas durchaus aufgefallen zu sein. Denn zum einen findet sich der WilZu Heideggers Rückführung der ›Willensmetaphysik‹ auf Leibniz vgl. etwa HGA 6.2, 1 u. 212 f. 75 Die aufgezeigte Problematik zeigt sich auch in analoger Weise anhand der mit dem ›absoluten Wollen‹ gleichgesetzten »intellectuale[n] Anschauung«: Zwar ist diese unvermittelte Anschauung gerade insofern »intellectual«, als sie »eine Thätigkeit zum Object hat« und »Thätigkeit nur von Thätigkeit aufgefasst« werden könne (AA I,4, 128); gleichwohl unterläuft Schelling hierbei eine Vermengung zu unterscheidender Sphären von ›Tätigkeit‹ – ist doch die ›intellektuale Anschauung‹ an das Selbstbewusstseinsparadigma gebunden und kann als solche nicht eine vor diesem zu situierende, Subjekt wie Objekt transzendierende Handlung des Geistes einsehen, da hierzu das Selbstbewusstsein nochmals von sich als Subjekt abstrahieren müsste, wie es dann auch die Identitätsphilosophie mit allen dazu gehörenden Konsequenzen fordert (vgl. dazu Hühn 2005a). 74

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Die ambivalente Ausweitung des Willensbegriffes

lensbegriff in den folgenden, vornehmlich naturphilosophischen Schriften der Jahre 1797 bis 1799 nur noch selten oder, sofern er doch herangezogen wird, zumindest unter dem Vorbehalt einer lediglich analogischen, vergleichenden Anwendung jenes Begriffes auf den jenseits des Selbstbewusstseins liegenden Bereich der Natur. Zum anderen gesteht Schelling nun der Naturphilosophie – in ähnlicher Weise wie bereits 1795 dem Dogmatismus 76 – immer entschiedener eine Eigenständigkeit gegenüber der Transzendentalphilosophie zu. 77 So wird in den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 die ›Philosophie der Natur‹ noch deutlich der Transzendentalphilosophie oder genauer der ›reinen theoretischen Philosophie‹ als deren ›angewandter‹ Teil untergeordnet: Die reine theoretische Philosophie beschäftigt sich bloß mit der Untersuchung über die Realität unseres Wissens überhaupt; der angewandten aber, unter dem Namen einer Philosophie der Natur, kommt es zu, ein bestimmtes System unsers Wissens (d. h. das System der gesammten Erfahrung) aus Principien abzuleiten. (AA I,5, 61)

Der ›reinen theoretischen Philosophie‹, die ganz im Sinne der Transzendentalphilosophie sich der ›Realität unseres Wissens überhaupt‹ zuwendet, wird hier die Naturphilosophie als deren bloß ›angewandter‹ Teil, als lediglich ›bestimmtes System unsers Wissens‹ angegliedert. 78 Zwar wird hier noch die Naturphilosophie unübersehbar von der Transzendentalphilosophie vereinnahmt, indem hier nicht die Frage im Zentrum steht, wie der Zusammenhang der Erscheinungen und die Reihe von Ursachen und Wirkungen, die wir Naturlauf nennen, außer uns, sondern wie sie für uns wirklich geworden, wie jenes System und jener Zusammenhang der Erscheinungen den Weg zu unserm Geiste gefunden, und wie sie in unserer Vorstellung die Nothwendigkeit erlangt haben, mit welcher sie zu denken wir schlechthin genöthigt sind? (AA I,5, 84 f.) 79 Mit dem bezeichnenden Unterschied jedoch, dass es nun nicht mehr um eine Alternative zwischen zwei an sich unvereinbaren Systemen geht, vielmehr sucht Schelling nach einer Möglichkeit Natur- und Transzendentalphilosophie trotz ihrer jeweiligen Eigenständigkeit als vereinbar erscheinen zu lassen. 77 Vgl. hierzu genauer Schwenzfeuer 2012, 43–48. 78 Vgl. ähnlich Schwenzfeuer 2012, 44 f. 79 Zu diesem noch deutlich transzendentalphilosophisch geprägten Ansatz innerhalb seiner Naturphilosophie passt es auch, dass er Spinozas dogmatischen Ansatz kritisiert, der die ›Idee des Unendlichen außer uns‹ ansetze: »Anstatt aber in die Tiefen seines Selbstbewußtseyns hinabzusteigen und von dort aus dem Entstehen zweyer 76

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

Es geht Schelling mithin nicht darum, wie die Naturphänomene und deren Zusammenhang an sich oder ›außer uns‹, sondern wie sie – ganz transzendentalphilosophisch gefragt – ›für uns wirklich geworden‹ sind. Auffällig ist 1797 in den Ideen jedoch zugleich, dass Schelling an keiner Stelle von einem Willen oder Wollen im Bereich der Natur spricht. In den folgenden naturphilosophischen Schriften der Jahre 1798/99 vermeidet Schelling zwar den Begriff des Wollens mit Bezug auf die Natur nicht mehr gänzlich, jedoch wird er durchweg lediglich in analogischer Weise herangezogen – unter beständigem Hinweis darauf also, dass dieser Begriff, ohne Verkennung der Differenzen, nur im Zusammenhang eines Vergleichs mit dem Bereich des ›Idealen‹ auf den des ›Realen‹ übertragen werde. In der 1798 erschienen Schrift Von der Weltseele – eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus spricht Schelling denn auch im fünften Abschnitt des den »negativen Bedingungen des Lebensprocesses« (AA I,6, 196) gewidmeten Kapitels von einem ›Willen‹ der Natur. Dabei erscheint es zunächst einmal als wenig plausibel, das Wollen als eine Struktur, die generell auf etwas als ihm äußerlichen Zweck seines Strebens ausgerichtet ist, auf die Natur anwenden zu wollen. So sei doch der »unmittelbare Zweck der Natur bey dem jetzt beschriebnen Processe« des Lebens »nur der Proceß selbst«; was dagegen hierbei »unter der Hand gleichsam« entstehe, sei »für den Proceß selbst zufällig, und nicht unmittelbarer Zweck der Natur« (AA I,6, 203). Insofern allerdings der Lebensprozess selbst immer zu einem Gleichgewicht hinstrebt, bei dessen Erreichen jede Entwicklung aufhören und mithin ›Ruhe‹ einkehren müsse, könne jener Prozess sich darin nicht erschöpfen: 1) […] Der belebten Materie wohnt also wie jeder andern ein continuirliches Bestreben nach Gleichgewicht bey; wo aber das Gleichgewicht erreicht ist, ist Ruhe. Es muß also in jedem Körper, in welchem die Natur einen organisirenden Proceß unterhält, ein Ansatz todter Masse geschehen können, (Wachsthum, Ernährung). Dieser Ansatz aber ist nur das begleitende Phänomen des Lebensprocesses, nicht der Lebensproceß selbst. Der Ursprung der thierischen Materie im Lebensproceß ist sonach ganz und gar zufällig, und so muß es auch (dem Begriff der OrgaWelten in uns – der idealen und realen – zuzusehen, überflog er sich selbst; anstatt aus unsrer Natur zu erklären, wie Endliches und Unendliches, ursprünglich in uns vereinigt, wechselseitig aus einander hervorgehen, verlor er sich sogleich in der Idee eines Unendlichen außer uns« (AA I,5, 90; Herv. v. Verf.).

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nisation nach) seyn, Ernährung und Ansatz der todten Masse […] sind eine blinde Naturwirkung, die wider die eigentliche Absicht, und gleichsam wider den Willen der Natur (invita natura) als eine Folge, die sie nicht verhindern kann, aus nothwendigen in der anorgischen wie in der organischen Welt herrschenden Gesetzen, hervorgeht. (AA I,6, 203 f.)

Der in Wachstum und Ernährung bestehende ›Ansatz todter Masse‹ stelle lediglich eine ›blinde Naturwirkung‹ dar, die – wie Schelling durch die lateinische Wendung nochmals ausdrücklich unterstreicht – ›gleichsam wider den Willen der Natur‹ sei. Im ›zufälligen‹ und mithin in den Bereich der Freiheit fallenden Ursprung der organischen und insbesondere ›tierischen Materie‹ erkennt Schelling hingegen ein dem Wollen vergleichbares Streben der Natur: 2) Gleichwohl überläßt die Natur die organische Materie nicht ganz den todten Kräften der Anziehung, sondern in diesem Streben und Widerstreben der trägen, nach Gleichgewicht verlangenden Materie, und der belebenden, das Gleichgewicht hassenden Natur, wird die todte Masse gezwungen, wenigstens in bestimmter Form und Gestalt anzuschießen, welche eben deßwegen der menschlichen Urtheilskraft als Zweck der Natur erscheint […]. Daß thierische Materie überhaupt entsteht, kann uns nicht als Zweck der Natur erscheinen, weil ein solches Entstehen nur nach blinden nothwendigen Gesetzen geschieht. Daß aber diese Materie zu bestimmter Gestalt sich bildet, können wir uns nur als zufälligen Naturerfolg, und insofern nur als Zweck einer personificirten Natur denken, weil der Naturmechanismus eine bestimmte Bildung nicht nothwendig hervorbringt. Der eigentlich-chemische Proceß des Lebens erklärt uns also nur die blinden und todten Naturwirkungen, welche im belebten Körper wie im todten erfolgen, nicht aber wie die Natur selbst in diesen todten Wirkungen blinder Kräfte im belebten Wesen noch gleichsam ihren Willen behält, was sich durch die zweckmäßige Bildung der thierischen Materie verräth, und offenbar nur aus einem Princip erklärbar ist, das außer der Sphäre des chemischen Processes liegt und in ihn nicht eingeht. (AA I,6, 204 f.)

Auch wenn Schelling hier generell von einem ›Willen‹ der Natur nur unter Verwendung des Adverbs ›gleichsam‹ spricht, 80 so meint er darauf doch zumindest unter Bezugnahme auf die ›menschliche UrteilsAuffälligerweise spricht Schelling innerhalb seiner der zweiten Auflage der Weltseele von 1806 beigefügten Abhandlung »Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts« (SW II, 357–378) sehr viel ungeschützter und ohne distanzierende Vergleichpartikel von einem »sich-selber-Wollen« oder

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

kraft‹ insistieren zu können. Denn Kant bemerkt in der Critik der Urtheilskraft, dass wir »subjectiv für den Gebrauch unserer Urtheilskraft in ihrer Reflexion über die Zwecke in der Natur« darzutun imstande sind, dass diese »nach keinem anderen Princip als dem einer absichtlichen Causalität einer höchsten Ursache gedacht werden« könne (KU, B 335). So ist es für Schelling denn auch gerade die ›zweckmäßige Bildung der tierischen Materie‹, die auf einen Willen in der Natur schließen lasse. Denn dass die tote Masse ›gezwungen‹ sei, eine bestimmte ›Form und Gestalt‹ anzunehmen, dies gehe über das ›Entstehen nur nach blinden notwendigen Gesetzen‹ hinaus, da diesen zufolge nur Gleichgewicht und Ruhe angestrebt werden dürfte; das Sich-Bilden einer ›bestimmten Gestalt‹ sei vielmehr ein ›zufälliger Naturerfolg‹, der nur als auf einen frei gesetzten ›Zweck einer personifizierten Natur‹ zurückgehend gedacht werden könne und als gleichsam willentliche Handlung über die Notwendigkeit eines nach bestimmten Gesetzen ablaufenden chemischen Prozesses hinausgehe. Die lediglich analoge Rede von einem ›Willen‹ der Natur behalten auch die beiden naturphilosophischen Schriften des Jahres 1799 bei, auch wenn sich die Zielrichtung jenes Willens ändert und er nun nicht mehr auf die individuelle Form, sondern auf die alle Individualität vernichtende Identität abzielt. So liest man im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, dass »[d]as Leben, wo es zu Stande kommt, […] gleichsam wider den Willen der äußeren Natur (invita natura externa), durch ein Losreißen von ihr, zu Stande« komme (AA I,7, 126). 81 Denn – wie Schelling in seinen wohl im Sommer 1799 formulierten Eintragungen seines Handexemplars bemerkt 82 – ist es der Natur gerade »um Vernichtung des Individuums zu thun« (AA I,7, 287 Anm.):

»ewige[n] Wollen« des auch die Natur umfassenden Absoluten (SW II, 362 f.). Vgl. dazu ausführlich unten, Teil I, Kap. 5.3. 81 Gleichwohl sieht Schelling das »Ankämpfen der äußern Natur« als dasjenige an, das, ohne dies zu beabsichtigen, das Leben zugleich »erhält«; der »äußre Einfluß auf das Lebende, welcher es chemischen Kräften zu unterwerfen« und damit als Individuelles zu vernichten »droht« (AA I,7, 127), werde so gerade – wie Schelling im Rückgriff auf einen Begriff J. D. Brandis’ bemerkt (Brandis 1795, 32) – »zum Irritament«, wodurch »gerade die entgegengesetzte Wirkung« des von der Natur Gewollten hervorgerufen werde (AA I,7, 127). 82 Vgl. zu den Eintragungen im Handexemplar und deren Datierung den editorischen Bericht von Wilhelm G. Jacobs und Paul Ziche in AA I,7, 37–40, bes. 40.

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Die Natur strebt beständig die Dualität aufzuheben und in ihre ursprüngliche Identität zurückzukehren. Dieses Streben aber eben ist der Grund aller Thätigkeit in der Natur. – Die Dualität, die ihr den Zwang einer beständigen Thätigkeit auferlegt, ist, wo sie ist, gleichsam wider den Willen der Natur […]. (AA I,7, 287 f.)

Denn das eigentliche ›Wollen‹ der Natur gilt »dem allgemeinen Streben […] nach Indifferenz« (AA I,7, 288 Anm.), 83 wie es bereits in Antizipation auf die 1801 einsetzende Identitätsphilosophie sowie deren alles organisierendes Prinzip heißt und wie analog auch noch in der kurz nach dem Ersten Entwurf erschienenen Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie zu lesen ist. Dieser zufolge sei denn auch das »einzelne[…] Product[…]« als ein unaufhörlich »productiv[es]« ein »Widerspruch in der Natur« (AA I,8, 73) und damit »das Leben« insgesamt, so die Zuspitzung einer Anmerkung des Handexemplars, »ein höchst künstlicher und der Natur gleichsam abgedrungener – wider ihren Willen bestehender – Zustand« (AA I,8, 86). Auffällig ist, um auf die Überlegungen zum zunehmenden Autonomiestatus der Naturphilosophie zurückzukommen, welche mit der gerade beschriebenen Zurücknahme des Willensbegriffes einhergehen, dass Schelling in der Einleitung zu seinem Entwurf zugleich mit diesem reflektierten, analogischen Gebrauch des Willensbegriffes mit Bezug auf die Natur – anders als noch in den Ideen von 1797 – nun auch der Naturphilosophie ausdrücklich eine Eigenständigkeit neben der Transzendentalphilosophie einräumt. So dürfe man die Naturphilosophie nicht »als einen Theil der Transcendentalphilosophie ansehen […], da sie doch eine ganz eigne, von jeder andern ganz verschiedene und unabhängige Wissenschaft bildet.« (AA I,8, 37) Dabei verhalten sich beide Wissenschaften in einer Weise komplementär und gewissermaßen spiegelbildlich zueinander, die auch noch für das System von 1800 bestimmend sein wird: 84

Von einem »Willen« der Natur ist in genau diesem Sinne auch die Rede in zwei weiteren Handexemplar-Einträgen zur zu überwindenden »Trennung der Geschlechter« (AA I,7, 289 Anm.) und bezüglich des individuellen Lebens als »fortwährende[r] Krankheit«, wovon »der Tod nur die Genesung« sei (AA I,7, 349 Anm.). Dass die Natur das Geschlecht »haßt« und dessen Entstehen »wider ihren Willen« sei, dieser Gedanke findet sich auch in der wenig später publizierten Einleitung zu seinem Entwurf (AA I,8, 74 Anm. d. Orig.). 84 Vgl. auch Schwenzfeuer 2012, 46–48. 83

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

Wenn es nun Aufgabe der Transcendentalphilosophie ist, das Reelle dem Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphilosophie, das Ideelle aus dem Reellen zu erklären; beyde Wissenschaften sind also Eine, nur durch die entgegengesetzten Richtungen ihrer Aufgaben sich unterscheidende Wissenschaft […]. (AA I,8, 30)

Zwar wird die Einheit beider ›Wissenschaften‹ betont, gleichzeitig sind sie aber bezüglich ihrer ›Aufgaben‹ klar unterschieden und autonom, insofern die eine das Reelle aus dem Ideellen, die andere das Ideelle aus dem Reellen abzuleiten sucht. Es kann in gewisser Weise als damit einhergehende Konsequenz angesehen werden, dass das System von 1800, das diese ›Aufgabentrennung‹ zumindest dem Anspruch nach beibehält, gleichzeitig wie schon in den Ideen von 1797 die Rede von einem ›Wollen‹ innerhalb des theoretischen, naturphilosophischen Systemteiles gänzlich ausspart und damit bereits auf begrifflicher Ebene eine Selbständigkeit dieses Systemteils anzeigt, die, wie in der Allgemeinen Uebersicht geschehen, durch eine systemübergreifende Rede vom ›Wollen‹ gerade konterkariert werden könnte.

4. Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt im System des transscendentalen Idealismus Das System des transscendentalen Idealismus aus dem Jahr 1800 kann zum einen als Zusammenfassung der mit dem Willensdenken einhergehenden Motive aus den Jahren 1795 bis 1799 angesehen werden. Zum anderen lässt es in einigen zentralen Motiven wie denen eines mit dem Willensakt einhergehenden Abstandnehmens oder auch eines dem Wollen partout entzogenen Bereichs, der sich nur in rein passiver Einstellung eröffnet, bereits in den Grundzügen die ›reife‹ Willensphilosophie der Weltalter erkennen. Wie jedoch der Versuch einer Zusammenfassung solch unterschiedlicher Motive bereits vermuten lässt, weist die Schrift damit einhergehend zugleich eine gewisse thematische Heterogenität auf, die Schelling letztlich dazu führt, in seiner folgenden identitätsphilosophischen Phase der Jahre 1801 bis 1804 zunächst das Wollen als Vermögen gänzlich zu leugnen, bevor dann – vorbereitet durch einen Aufsatz von 1806 – in der Freiheitsschrift 1809 schließlich eine ausgearbeitete Willensmetaphysik vorgelegt wird.

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Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt

Dass Schelling unmittelbar an seine Überlegungen zur Naturphilosophie der Jahre 1797 bis 1799 anschließt, zeigt sich in aller Ambivalenz sogleich in den methodischen Vorüberlegungen der »Vorrede« sowie der »Einleitung« des Systems und sodann in dessen theoretischem Teil, der zugleich die Naturphilosophie behandelt (Kap. 4.1). So wird darin zum einen, wie in den Ideen, die Naturphilosophie als Teil der Transzendentalphilosophie behandelt und zum anderen wie in der Einleitung zu seinem Entwurf zugleich behauptet, dass die Naturphilosophie als selbständige Wissenschaft außerhalb der Transzendentalphilosophie zu situieren sei. Allein zu Letzterem passt es auch, dass Schelling nun wieder ganz den Begriff des Wollens im Kontext der theoretischen sowie der Naturphilosophie vermeidet und stattdessen im Anschluss an die 1799 einsetzende Rede von einer »Produktivität« in der Natur 85 das Vokabular des »Producirens« im Bereich der Natur nunmehr extensiv heranzieht (vgl. AA I,9,1, 39 passim). Das Wollen und der Willensakt werden erst in dem der praktischen Philosophie gewidmeten »Vierten Hauptabschnitt« thematisch (Kap. 4.2), in dem jedoch nun – im Anschluss an die spinozistisch geprägten Schriften von 1795 und in kritischer Abstoßung von Fichte – einerseits das Wollen von dem ›Setzungsakt‹ eines Ich und Welt umspannenden Absoluten partout ausgeschlossen und damit die generelle Endlichkeit und Bedingtheit des Wollens unterstrichen wird. Andererseits ›entdeckt‹ Schelling dabei ein für die spätere Weltalter-Philosophie zentrales Motiv – nämlich, dass gerade dem Wollen die Fähigkeit zukommt, in der Abstoßung und im Abstandnehmen von einer ihm vorausliegenden Struktur diese als unverfügbare Vorgeschichte oder ›Vergangenheit‹ sichtbar werden zu lassen. Dass jedoch diese Vorgeschichte die eigene ist, dies einzusehen ist 1800 auch dem Wollen und der praktischen Philosophie nicht möglich, sondern allein dem Genie und der Kunstanschauung, die beide mit einem passiven Moment einhergehen (Kap. 4.3), das Schelling ab den Weltaltern schließlich zu einem Gelassenheitsdenken als Korrektur seiner Willensphilosophie ausformulieren wird.

85 Von einer »Produktivität« der Natur spricht Schelling erstmals 1799 in der Einleitung zu seinem Entwurf (vgl. I,8, 34, 40 passim) sowie in den vermutlich aus der selben Zeit stammenden Anmerkungen zum Ersten Entwurf (vgl. AA I,7, 275 Anm. passim); vgl. dazu den editorischen Bericht von Wilhelm G. Jacobs in AA I,8, 10.

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4.1. Die unbewusste Produktion in der Natur als Vorform und Voraussetzung des Wollens Mit dem System von 1800 verfolgt Schelling, wie er in der »Vorrede« ankündigt, das Projekt, »den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen«, indem er »alle Theile der Philosophie in Einer Continuität und die gesammte Philosophie als das[,] was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns« vorträgt (AA I,9,1, 24 f.). Was Kant in seinen drei Critiken noch getrennt präsentiert hat, beabsichtigt Schelling kontinuierlich innerhalb eines Systems als ›fortgehende Geschichte des Selbstbewusstseins‹ darzustellen, womit er jedoch keineswegs einfach Fichtes transzendentalphilosophisches Programm einer »pragmatische[n] Geschichte des menschlichen Geistes« (GA I,2, 365) und die selbst 1797 skizzierte »Geschichte des SelbstBewusstseyns« (AA I,4, 109) aufzugreifen und weiterzuführen beabsichtigt. Dies zeigt schon allein der Sachverhalt, dass das System anders als die Wissenschaftslehre und die Allgemeine Uebersicht nicht die praktische Philosophie als das Höchste ansieht, 86 sondern vielmehr die Kunstphilosophie zu ihrem Zielpunkt hat. 87 Anders als Fichte will Schelling des Weiteren auch eine transzendentalphilosophische Vereinnahmung der Natur vermeiden – habe ihn doch zu der im System formulierten »Darstellung jenes Zusammenhangs« gerade »der Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten« bewogen, auf welchen er bereits in der Einleitung zu seinem Entwurf 1799 aufmerksam gemacht hatte (vgl. AA I,8, 30) und »welchen vollständig darzustellen weder der Transscendental- noch der Natur-Philosophie allein, sondern nur beyden Wissenschaften möglich ist, welche ebendeßwegen die beyden ewig entgegengesetzten seyn müssen, die niemals in Eins übergehen können« (AA I,9,1, 25). Allerdings deuten sich hiermit zugleich auch die Probleme dieser Systemkonzeption an. 88 Denn einerseits behauptet Schelling ganz im Sinne der Einleitung zu seinem Entwurf, mit dem System des transscendentalen Idealismus ein System vorzulegen, das »[n]icht das Vgl. dazu bei Fichte etwa GA I,2, 286 sowie bei Schelling AA I,4, 123. Wenn Letzterer gleichwohl 1797 von einer »höhere[n] Philosophie« (AA I,4, 136) spricht, so steht diese doch wieder – wie oben in Teil I, Kap. 3.2 gezeigt wurde – unter der Ägide des Selbstbewusstseinsparadigmas und damit letztlich der praktischen Philosophie. 87 Vgl. Jähnig 1966/69. 88 Vgl. zu dieser konzeptionellen Unstimmigkeit bei Schelling genauer Schwenzfeuer 2012, v. a. 107–118. 86

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Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt

ganze System der Philosophie, sondern nur die Eine Grundwissenschaft desselben« aufstellt – nämlich das »System der Transscendentalphilosophie«, bei dessen »Vollendung […] man der Nothwendigkeit einer Natur-Philosophie, als ergänzender Wissenschaft, inne werde[…]« (AA I,9,1, 32). Beide Wissenschaften sind diesen Bemerkungen zufolge somit als ›niemals in Eins übergehend‹ zu denken. Insofern jedoch andererseits auch die Transzendentalphilosophie für sich allein bereits als System vorgestellt wird, das – wie Schelling definiert – »ein Ganzes [sey], was sich selbst trägt, und in sich selbst zusammenstimmt« (AA I,9,1, 44), so kann das aus dem »Ich bin« als »Princip aller Philosophie« (AA I,9,1, 68) abgeleitete System der Transzendentalphilosophie auch nicht ergänzungsbedürftig sein. Folgerichtig enthält das Transzendentalsystem auch selbst wiederum in seinem theoretischen Teil eine Naturphilosophie. Wie Schelling selbst explizit eingesteht, seien denn auch »die Deductionen […], welche von den Hauptgegenständen der Natur, der Materie überhaupt und in ihren allgemeinen Functionen, dem Organismus u. s. w. in dem vorliegenden Werk geführt worden sind, […] idealistische« (AA I,9,1, 26). Damit tritt die Naturphilosophie gewissermaßen in doppeltem Stellenwert auf: einerseits als der Transzendentalphilosophie gegenüberstehendes, eigenständiges System, andererseits als der Transzendentalphilosophie inhärenter Teil. Die Eigenständigkeit und Autonomie der Naturphilosophie bleibt somit auch 1800 fragwürdig. Indem Schelling nämlich beide ›Erscheinungsformen‹ der Naturphilosophie in ein Verhältnis zu setzen sucht, bringt er zugleich Natur- und Transzendentalphilosophie inhaltlich in der Weise zur Deckung, dass er sie als sich spiegelbildlich zueinander verhaltend betrachtet, womit – abgesehen von der ›umgekehrten‹ Darstellung der Inhalte – jeder ›Überschuss‹ der Naturphilosophie gegenüber der Transzendentalphilosophie verloren geht: Während die Naturphilosophie die Frage zu beantworten habe, wie »zu der Natur das Intelligente hinzu[komme]« (AA I,9,1, 30) und derart das »Objective zum Ersten zu machen, und das Subjective daraus abzuleiten« habe, so verfolge die Transzendentalphilosophie die »entgegengesetzte Richtung […], vom Subjectiven als vom Ersten und Absoluten auszugehen, und das Objective aus ihm entstehen zu lassen.« (AA I,9,1, 32) Dass dabei Letzterer über die inhaltliche Deckung mit der Naturphilosophie hinaus sogar noch eine Vorrangstellung zukommt, bemerkt Schelling außerdem wenige Seiten später: So sei durch § 1 der »Einleitung« bereits 67 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

bewiesen worden, daß selbst, wenn das Objective willkürlich als das Erste gesetzt wird, wir doch nie über das Selbstbewußtseyn hinauskommen. Wir werden alsdann in unsern Erklärungen entweder ins Unendliche zurückgetrieben, vom Begründeten zum Grund, oder wir müssen die Reihe willkürlich abbrechen, dadurch, daß wir ein Absolutes, das von sich selbst die Ursache und die Wirkung – Subject und Object – ist, und da dieß ursprünglich nur durch Selbstbewußtseyn möglich ist, dadurch, daß wir wieder ein Selbstbewußtseyn als Erstes setzen; dieß geschieht in der Naturwissenschaft, für welche das Seyn eben so wenig ursprünglich ist, wie für die Transscendental-Philosophie […]. (AA I,9,1, 46)

Zum Beleg dieser These, dass selbst in der Naturwissenschaft dem Selbstbewusstsein die Priorität zuzugestehen sei, verweist Schelling zugleich zurück auf den ein Jahr zuvor erschienenen Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, auch wenn dort nur die Einheit von Sein und Tätigkeit behauptet wurde (vgl. AA I,7, 78). Gleichwohl fällt das System von 1800 nicht wieder in die Problematik der Allgemeinen Uebersicht von 1797 zurück, in der vom ›absoluten Wollen‹ des im Menschen erwachenden Selbstbewusstseins einfach auf ein ›ursprüngliches Wollen‹ des diesem vorausliegenden Geistes zurückgeschlossen wurde. Zwar zeichnet Schelling die dem Selbstbewusstsein abgelesene Tendenz zu einem »beständigen sichselbst-Object-werden des Subjectiven« (AA I,9,1, 35) selbst noch dem Bereich des Theoretischen und damit auch der Natur ein und behauptet, dass »[d]ie todten und bewußtlosen Producte der Natur […] nur mißlungene Versuche der Natur sich selbst zu reflectiren [sind], die sogenannte todte Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewußtlos schon der intelligente Charakter durchblickt.« (AA I,9,1, 31) Jedoch vergisst Schelling keineswegs, zugleich auf die Differenzen zum einen der auf Selbstobjektivierung ausgerichteten ›produktiven Tätigkeiten‹ in der Natur und zum anderen der Intelligenz deutlich hinzuweisen: So bemerkt Schelling, dass die in der Natur situierte Thätigkeit, durch welche die objektive Welt producirt ist, ursprünglich identisch ist mit der, welche im Wollen sich äußert, und umgekehrt. Nun ist es allerdings eine productive Thätigkeit, welche im Wollen sich äußert; alles freye Handeln ist productiv, nur mit Bewußtseyn produktiv. Setzt man nun, da beyde Thätigkeiten doch nur im Princip Eine seyn sollen, daß dieselbe Thätigkeit, welche im freyen Handeln mit Bewußtseyn productiv ist, im Produciren der Welt ohne Bewußtseyn produktiv sey, […] so wird jene ursprüngliche Identität der im Produciren der Welt geschäftigen Thätigkeit mit der, welche im Wollen sich äußert,

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in den Producten der ersten sich darstellen, und diese Produkte werden erscheinen müssen als Produkte einer zugleich bewußten und bewußtlosen Thätigkeit. (AA I,9,1, 38 f.)

Schelling setzt beide Tätigkeiten – nämlich die Produktivität der Natur und des freien Handelns der Intelligenz – gleich, insofern sie ein Produzieren darstellen, dessen Produkte sich innerweltlich manifestieren. Er unterscheidet sie jedoch zugleich dahingehend, dass die natürliche Tätigkeit bewusstlos und notwendig, das Handeln der Intelligenz hingegen frei und bewusst und außerdem zu seiner Verwirklichung auf die Produkte angewiesen sei, die durch bewusstlose Tätigkeit der Natur entstanden seien. 89 Das praktische Wollen findet somit in der Produktivität der Natur eine Vorform seiner selbst, die zugleich seine unverfügbare Voraussetzung ist, die das menschliche Wollen als seine Möglichkeitsbedingung immer schon annehmen muss, wie gerade der der praktischen Philosophie gewidmete »vierte Hauptabschnitt« zeigen wird. Gleichzeitig wird damit aber wieder der Natur – trotz aller Vereinnahmungstendenzen derselben durch das transzendentalphilosophische Paradigma – ein Eigenrecht zugestanden, welches das seiner selbst bewusste Wollen sogar als seinen Ermöglichungsgrund anzuerkennen hat.

4.2. Der ›absolute Willensakt‹ als zweiter, verbürgter Anfang Das Ziel des Transzendentalsystems besteht darin, dass in und für die transzendentale Betrachtungsart »auch das, was in allem andern Denken, Wissen oder Handeln das Bewußtseyn flieht, und absolut nicht-objectiv ist, zum Bewußtseyn gebracht, und objectiv wird, kurz, in einem beständigen sich-selbst-Object-werden des Subjectiven.« (AA I,9,1, 35) Jedoch ist nach Schelling die Produktivität der Natur wie auch die Tätigkeit der theoretischen Philosophie durch ein beständiges ›Misslingen‹ einer solchen Selbstobjektivierung oder Selbstanschauung der eigenen subjektiven Tätigkeit charakterisiert – ein ›Misslingen‹, das, insofern es die verfolgte Intention in ihr genauNoch in Zur Geschichte der neueren Philosophie von 1833/34 setzt Schelling diese Unterscheidung voraus, wenn er vor allem im Rückblick auf sein System von 1800 und gegen Fichte gewendet bemerkt, dass angesichts der unleugbaren Notwendigkeit der Außenwelt »wenigstens ein blindes, nicht in dem Willen sondern in der Natur des Ich gegründetes Produciren« anzunehmen sei (SW X, 93). 89

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es Gegenteil verkehrt, mit Blick auf analoge Figuren in den Weltaltern sowie der Erlanger Vorlesung geradezu als tragisch bezeichnet werden kann. 90 Denn die anschauende Tätigkeit setzt hierbei gleichsam immer zu spät ein und das Produkt der Objektivierung kann somit nur in Differenz zu der nicht-objektivierbaren Tätigkeit betrachtet werden, was sich denn auch in allen drei ›Hauptakten‹ oder ›Epochen‹ der theoretischen Philosophie wie auch, damit einhergehend, der Natur selbst nachverfolgen lässt: Die theoretische Philosophie wurde durch drey Hauptacte vollendet. Im ersten, dem noch bewußtlosen Act des Selbstbewußtseyns, war das Ich Subject-Object, ohne es für sich selbst zu seyn. Im zweyten, dem Act der Empfindung, wurde ihm nur seine objective Thätigkeit zum Object. Im dritten, dem der productiven Anschauung, wurde es sich als empfindend, d. h. als Subject zum Object. Solange das Ich nur producirend ist, ist es nie als Ich objectiv, eben weil das anschauende immer auf etwas anderes als sich geht, und als das, wofür alles andere objectiv ist, selbst nicht objectiv wird; deßwegen konnten wir durch die ganze Epoche der Production hindurch nie dahin gelangen, daß das Producirende, Anschauende sich als solches zum Object wurde […]. (AA I,9,1, 232)

Diese ›Entfremdung‹ zwischen Produkt und ihm zugrundeliegender Produktivität kann nur durch eine begleitende Anschauung gleichsam zweiten Grades aufgehoben werden, die Schelling gerade für das Wollen, wie es die praktische Philosophie postuliert, nachweist: »Erst im Wollen wird auch diese [Selbstanschauung, P. H.] zur höheren Potenz erhoben, denn durch dasselbe wird das Ich als das Ganze, was es ist, d. h. als Subject und Object zugleich, oder als Producirendes, sich zum Object.« (AA I,9,1, 232) Dadurch dass in diesem mit dem Wollen einhergehenden Selbstanschauen das ›Ich als das Ganze‹ zu Bewusstsein gehoben werde, sei dieses Wollen zugleich ein »Selbstbestimmen der Intelligenz« und damit der »ursprüngliche […] Freyheitsact« (AA I,9,1, 231). Denn während für das Ich der theoretischen Philosophie »Begriff und That, Entwerfen und Realisieren Eins und dasselbe« sind (AA I,9,1, 234) und dessen Tätigkeit somit aufgrund der fehlenden Fähigkeit zur Selbstdistanzierung bewusstlos und notwendig ist, tritt im Falle des praktischen Ichs als eines wollenden gerade die »Duplicität des idealisierenden (Ideale entwerfenden) und des realisierenden Ichs« (AA I,9,1, 233) hervor, wodurch dieses sich erstmals frei zu seinem Tun verhalten kann, in90

Vgl. Höfele 2010, 130–132.

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Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt

dem es nicht mehr nur das Produkt seines Tuns, sondern das Produkt gleichzeitig mit dem eigenen Produzieren zu betrachten vermag. Auch wenn auf diese Weise das praktische Wollen das »Absolute […] in der Intelligenz« (AA I,9,1, 231) zum Vorschein bringt, so ist die wollende Intelligenz doch zugleich in zweifachem Sinne begrenzt und damit wesentlich durch Endlichkeit ausgezeichnet – wie Schelling in einer Revision der Ansätze seines frühen Naturrechtsaufsatzes und der Allgemeinen Uebersicht bemerkt, die beide noch die Uneingeschränktheit des menschlichen sowie, 1797, des der Natur immanenten Wollens behaupteten. In einem ersten Sinne sieht Schelling 1800 das Wollen – ganz im Sinne von Fichtes Naturrechtsaufsatz, der ja ebenfalls die Selbstsetzungsfigur von 1794 einer diese einschränkenden Uminterpretation unterzieht, 91 – durch das Wollen anderer Intelligenzen beschränkt, deren Anerkennung für die Intelligenz geradezu konstitutiv sei. Denn soll, so Schelling, jenes Selbstbestimmen ein freier Akt sein, »so muß ich gewollt haben, was mir durch diese Handlung entsteht« (AA I,9,1, 239). Jedoch sei »das, was mir durch diese Handlung entsteht, das Wollen selbst (denn das Ich ist ein ursprüngliches Wollen)«, woraus ein Zirkel resultiere, insofern das Wollen schon vor seinem erstmaligen Entstehen bereits gewollt werden müsse. Die Lösung kann Schelling zufolge nur darin bestehen, dass »ein solches Handeln außer der Intelligenz« angenommen wird, »durch welches ihr der Begriff des Wollens entsteht« (AA I,9,1, 239) und das Schelling als reine »Forderung« (AA I,9,1, 240) beschreibt, die der Intelligenz lediglich einen Begriff eines in der Zukunft realisierbaren Objekts gibt, ohne dass diese Realisierung deswegen geschehen müsste. Mithin muss ich – wie Schelling in deutlicher Anlehnung an Fichtes Naturrechtsaufsatz bemerkt 92 – »andere Intelligenzen […] als unabhängig von mir existirend anerkennen« (AA I,9,1, 248). Deren »freye Thätigkeiten«, welche »Gräntzpuncte meiner freyen Thätigkeit setzen«, seien des Weiteren auch dafür verantwortlich, dass ich generell, »um überhaupt wollen zu können, […] etwas Bestimmtes wollen« muss (AA I,9,1, 244). Für Schelling ist diese Begrenzung durch andere Intelligenzen, durch welche die Intelligenz zum »bestimmte[n] Individuum« werde Vgl. Fichte, GA I,3, bes. 351 (§ 4). Vgl. das Zitat oben, Teil I, Kap. 2.3 Anm. 47. Vgl. hierzu Fichtes analoge Überlegungen in dessen Grundlage des Naturrechts von 1796 (GA I,3, 340–360) sowie in dessen System der Sittenlehre von 1798 (GA I,5, 199–209).

91 92

71 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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(AA I,9,1, 242), dabei notwendig und unumgänglich, da »nur Intelligenzen außer dem Individuum, und eine nie aufhörende Wechselwirkung mit solchen, das ganze Bewußtseyn mit allen seinen Bestimmungen vollendet.« (AA I,9,1, 254) Nach Schelling ist diese »Begräntzheit […] der Individualität« und damit auch die Herausstellung der Endlichkeit des sie konstituierenden Wollens denn auch erst der »Wendepunct der theoretischen und practischen Philosophie«, mit welchem man »eigentlich auf dem Gebiet der letzteren angelangt« sei (AA I,9,1, 249). 93 Doch ist dies nicht die einzige Begrenztheit, die Schelling als konstitutiv für das Wollen und das damit verknüpfte Selbstbestimmen herausstellt. Das mit dem Selbstbestimmen einhergehende Wollen ist nämlich noch in einem zweiten Sinne wesentlich begrenzt, womit Schelling nun deutlich – anders als im Falle der Begrenzung durch andere, anzuerkennende Intelligenzen – über Fichte hinausgeht, oder vielmehr nochmals hinter diesen zurückgeht: 94 Die mit dem Selbstbestimmen einhergehende Selbstanschauung (der Intelligenz) ist nämlich nach Schelling gemessen an ihrem ursprünglichen Anspruch eines vollständigen ›Sich-selbst-Objekt-Werdens des Subjektiven‹ zugleich – wie schon im Bereich der Natur – durch ein Misslingen gekennzeichnet. Obwohl das »Wollen […] die Handlung [ist], wodurch das Anschauen selbst vollständig ins Bewußtseyn gesetzt wird« (AA I,9,1, 254), gilt dies dennoch nur für die mit dem Bewusstsein gesetzte neue, gegenwärtige Reihe: Durch die ganze theoretische Philosophie hindurch sahen wir das Bestreben der Intelligenz, ihres Handelns als solchen bewußt zu werden, Im Zuge der Lösung der sich anschließenden »Aufgabe: zu erklären, wodurch dem Ich das Wollen wieder objectiv werde?« behandelt Schelling denn auch erst die Themen der praktischen Philosophie, die er auch bereits in ähnlicher Form in der Allgemeinen Uebersicht behandelte, wie etwa den »Naturtrieb« als das notwendige Andere für die »Erscheinung der absoluten Freyheit (im absoluten Willen)« (AA I,9,1, 270), das »Sittengesetz«, durch das das Wollen oder »das reine Selbstbestimmen […] dem Ich zum Object« werde (AA I,9,1, 272), sowie den gegen Reinhold gerichteten Gegensatz von »absolute[m] Willen« und »Willkühr« als »Erscheinung des absoluten Willens« (AA I,9,1, 275). 94 Schelling spricht hierbei sogar – in Abgrenzung zur »Bestimmtheit der Individualität« als »dritte[r] Beschränktheit« – von einer »ersten« und »zweyten […] Beschränktheit« (AA I,9,1, 241), insofern durch die ›absolute Abstraktion‹ zu Anfang der praktischen Philosophie lediglich die in der theoretischen Philosophie bereits konstatierten Beschränktheiten (durch das ›Ding an sich‹ und die Zeit) erneut festgeschrieben werden (vgl. AA I,9,1, 199–201). 93

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fortwährend mislingen. Dasselbe ist auch hier der Fall. […] Denn eben dadurch, daß die Intelligenz sich als producirend anschaut, trennt sich das bloß ideelle Ich von demjenigen, welches ideell und reell zugleich, also jetzt ganz objectiv und vom blos ideellen unabhängig ist. In derselben Anschauung wird die Intelligenz producirend mit Bewußtseyn, aber sie sollte sich ihrer selbst als bewußtlos producirend bewußt werden. Dieß ist unmöglich, und nur darum erscheint ihr die Welt als wirklich objectiv, d. h. ohne ihr Zuthun vorhanden. (AA I,9,1, 234 f.)

Denn das willentliche Selbstbestimmen geht notwendig mit einer »absolute[n] Abstraction« als »Anfang des Bewußtseyns« einher (AA I,9,1, 230). Nur indem die Intelligenz »über das Objective absolut sich erhebt« (AA I,9,1, 230), vermag sie auch absolut frei und selbstbestimmt zu handeln. Die Folge hiervon ist jedoch, dass sie sich ›ihrer selbst als bewusstlos produzierend‹ nicht bewusst werden kann, weshalb die Intelligenz auch nicht den einheitlichen Ursprung ihrer selbst und der Natur einzusehen vermag und Letztere vielmehr als ›ohne ihr Zutun vorhandene‹ Welt begreift. Mittels dieses durch eine Loslösungsbewegung gekennzeichneten ›Selbstbestimmens‹ grenzt sich Schelling entschieden von der fichteschen Selbstsetzungsfigur ab. Denn selbst dem die Wissenschaftslehre von 1794 revidierenden Ansatz des fichteschen Naturrechtsaufsatzes zufolge »sezt, und bestimmt das Vernunftwesen eine Sinnenwelt ausser sich« (GA I,3, 135). Für Schelling repräsentiert jedoch jene ›erste Welt‹ etwas, dessen ›Ursprung hinter dem Bewusstsein‹ liegt und das für dessen Begründung konstitutiv ist: Die erste Welt, wenn es erlaubt ist so sich auszudrücken, d. h. die durch das bewußtlose Produciren entstandene, fällt jetzt mit ihrem Ursprung hinter das Bewußtseyn gleichsam. Die Intelligenz wird also auch nie unmittelbar einsehen können, daß sie jene Welt gerade ebenso aus sich producirt, wie diese zweite, deren Hervorbringung mit dem Bewußtseyn beginnt. (AA I,9,1, 235)

Schelling zeigt hier gleichsam eine in der Natur situierte Vorgeschichte der Genese des Selbstbewusstseins auf, die diesem im Akt seiner Selbstbestimmung, wenn auch nur als von ihm entfremdete, vor Augen tritt. Er weist damit einerseits gegenüber Fichte einen Bereich der Natur aus, der dem ursprünglichen, Bewusstsein konstituierenden Wollen als es fundierendes und begründendes vorausgeht und ihm entzogen ist. Mittels jenes Autonomie und Selbstbestimmung begründenden Abstraktionsaktes wird das Wollen dabei zugleich, um es paradox zu formulieren, als ein bedingtes, heteronomes 73 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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charakterisiert. Widerspruchslos denkbar ist dies aufgrund der damit einhergehenden ›Scheidung‹ von bewusstlos produzierter und bewusst hervorgebrachter Sphäre oder von theoretischer und praktischer Philosophie. Andererseits macht Schelling dadurch gleichzeitig noch, insofern dieser dem Wollen entzogene Bereich für dessen Genese verantwortlich ist, einen Zug zum Geschichtlichen in seiner Philosophie geltend, den er nicht zu Unrecht noch 1833/34 in seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie als solchen feiern wird, wenn er darin bezüglich des Systems von 1800 anmerkt: Ich suchte also mit Einem Wort den unzerreißbaren Zusammenhang des Ich mit einer von ihm nothwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transscendentale Vergangenheit dieses Ich zu erklären, eine Erklärung, die sonach auf eine transscendentale Geschichte des Ichs führte. Und so verrieth sich schon durch meine ersten Schritte in der Philosophie die Tendenz zum Geschichtlichen wenigstens in der Form des sich selbst bewußten, zu sich selbst gekommenen Ich. (SW X, 94 f.)

Das Besondere und auf Späteres Vorausweisende dieser »Vergangenheit, jenseits meines jetzigen Bewußtseyns« (AA I,4, 89), wie Schelling bereits 1797 schreibt, besteht dabei darin, dass sie eine gewissermaßen ›gemachte‹ oder ›hergestellte‹ ist, die im Zuge einer ›Abstraktions‹-Bewegung oder – um einen zentralen Begriff der Weltalter heranzuziehen – einer ›Scheidung‹ von sich selbst zustande kommt. 95 Auch wenn das Willensmoment in der 1811 postulierten ›Scheidung‹ vor dem dortigen Hintergrund eines verfehlten Wollens sehr viel impliziter ist, so greift Schelling elf Jahre später doch unverkennbar auf jenen Gedanken einer ›absoluten Abstraktion‹ im Wollen zurück, wenn er konstatiert: »Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine« Vergangenheit (WA I, 11). Der ›Akt der Scheidung‹ wird dabei sogar zum Konstituens der Zeit, durch die selbst wiederum das Geschiedene wesentlich charakterisiert und bedingt ist. Dass jedoch diese ›hergestellte Vergangenheit‹ in ihrer Unverfügbarkeit für das Wollen, welche im System des transscendentalen Idealismus mit dem Einsatz der praktischen Philosophie verknüpft wird, auch als die eigene, selbst ›hergestellte‹ erkannt wird, dazu ist auch schon 1800 das praktische Vermögen des Wollens nicht imstande. Vielmehr ist diese Erkenntnis

95

Vgl. dazu auch Hühn 1994a, 39 f.

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1800 – in ähnlicher Weise wie in den Briefen von 1795 – allein der Kunst vorbehalten.

4.3. Die partielle Zurücknahme des Wollens in der Genieproduktion und der Kunstanschauung In der »Allgemeinen Anmerkung zu dem ganzen System« fasst Schelling jene Bewegung, der zufolge das im ›absoluten Willensakt‹ Abgespaltene erst in der Kunstproduktion als ein unverfügbares Moment des Bewusstseins selbst vorstellig wird, folgendermaßen zusammen: Dem Ich wird der absolute Willensact selbst wieder zum Object, dadurch, daß ihm das Objective, auf ein äußeres Gerichtete im Wollen, als Naturtrieb, das Subjective, auf die Gesetzmässigkeit an sich Gerichtete, als absoluter Wille, d. h. als categorischer Imperativ zum Object wird. Aber dieß ist wiederum nicht möglich, ohne eine Thätigkeit, welche über beyden ist. Diese Thätigkeit ist die Willkühr, oder die mit Bewußtseyn freye Thätigkeit. Wenn nun aber auch diese mit Bewußtseyn freye Thätigkeit, welche im Handeln der objectiven entgegengesetzt ist, ob sie gleich mit ihr Eins werden soll, in ihrer ursprünglichen Identität mit der objectiven angeschaut wird, welches durch Freyheit schlechthin unmöglich ist, so entsteht dadurch endlich die höchste Potenz der Selbstanschauung, welche, da die selbst schon über die Bedingungen des Bewußtseyns hinausliegt, und vielmehr das von vorn sich schaffende Bewußtseyn selbst ist, wo sie ist, als schlechthin zufällig erscheinen muß, welches schlechthin zufällige in der höchsten Potenz der Selbstanschauung das ist, was durch die Idee des Genie’s bezeichnet wird. (AA I,9,1, 333 f.)

Schelling zufolge ist es einerseits zwar möglich, dass der ›absolute Willensakt‹ objektiv wird und somit zu Bewusstsein kommt. Wie Schelling analog bereits in der Allgemeinen Uebersicht betonte, ist dies durch eine Entgegensetzung möglich – durch einen »Gegensatz zwischen dem, was die sich durch das Sittengesetz zum Objekt werdende, nur auf das Selbstbestimmen an sich gerichtete Thätigkeit [verlangt, P. H.], und dem, was der Naturtrieb verlangt« (AA I,9,1, 274). Denn nur durch jenen »Gegensatz gleich möglicher Handlungen« werde der »absolute Freyheitsact« in Gestalt der Willkür dem »gemeine[n] Bewußtseyn« wieder zum Objekt – nämlich als Bewusstsein der Möglichkeit »einer Wahl zwischen Entgegengesetzten«

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(AA I,9,1, 275), also mithin als Wahlfreiheit. Schelling kommt damit in gewisser Weise Reinhold noch einen Schritt mehr entgegen, als er dies bereits in der Allgemeinen Uebersicht durch seine Vermittlung der kantischen und reinholdschen Willenskonzeption tat: So fasst Schelling 1800 die Willkür nicht mehr allein als »Erscheinung des absoluten Willens« (AA I,9,1, 276), sondern versteht sie vielmehr zugleich als ›mit Bewusstsein freie Tätigkeit‹, die über Naturtrieb und ›absolutem Willen‹ des kategorischen Imperativs ›schwebt‹ und insofern »das sich selbst Bestimmende in der zweyten Potenz, welchem allein die Freyheit zugeschrieben wird«, darstellt (AA I,9,1, 277), womit Schelling die Verhältnisbestimmung von Wille und Willkür in Kants Metaphysik der Sitten (vgl. MS, AA 6, 213) und der Allgemeinen Uebersicht (AA I,4, 161–163) zugunsten der Willkür geradezu umkehrt. 96 Andererseist jedoch ist es im System von 1800 weder der ›potenzierten Reflexionsform‹ der Willkür noch der praktischen Philosophie insgesamt möglich, einen Punkt zu finden, an dem die »mit Bewußtseyn freye Thätigkeit […] in ihrer ursprünglichen Identität mit der objectiven angeschaut« und damit objektiv wird (AA I,9,1, 333). So macht sich in der praktischen Philosophie immer wieder ein allen Formen und Ausprägungen des Wollens entzogenes Moment geltend, das die bereits in der theoretischen Philosophie beobachtete, geradezu tragische »Odyßee des Geistes […], der […], sich selber suchend, sich selber flieht« (AA I,9,1, 328), nochmals eindrücklich vor Augen führt. Zwar postuliert Schelling, dass das »unmittelbare Object alles Strebens […] nicht der reine Wille« sein solle, sondern vielmehr »das äußere Object als Ausdruck des reinen Willens« erscheinen solle (AA I,9,1, 280). Doch dieses »schlechthin Identische« von Außenwelt und reinem Willen (AA I,9,1, 280) kann auch nicht einfach dadurch als gesichert erscheinen, dass etwa eine »rechtliche Verfassung« als »nothwendige Bedingung der in der Aussenwelt bestehenden Freiheit« angenommen wird (AA I,9,1, 383). Denn zur Etablierung einer solchen rechtlichen Verfassung müsste man Schel-

Zwar bemerkt auch Kant 1797, dass »[n]ur« die auf Maximen ausgrichtete »Willkür […] frei genannt werden« kann; doch der Wille der praktischen Vernunft kann nur deshalb »weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht«, insofern aber der Willkür gerade übergeordnet ist (MS, AA 6, 226). Vgl. dazu Noller 2015, 272–275 u. 307–309.

96

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ling zufolge bereits ein von dem Willen des Einzelnen »Unabhängiges, nämlich, den Willen aller andern«, als »nothwendiges Supplement« voraussetzen (AA I,9,1, 283), was Schelling – hierin von Hobbes sichtlich beeinflusst – nicht einfach anzunehmen bereit ist. Vielmehr unterstellt Schelling stattdessen ein der »tragischen Kunst« (AA I,9,1, 293) abgelesenes Motiv, wonach jene rechtliche Ordnung gerade gegen den bewussten Willen der Individuen und doch ohne ein Übergehen von deren Freiheit errichtet werde, indem »der Mensch zwar, was das Handeln selbst betrifft, frey, was aber das endliche Resultat seiner Handlungen betrifft, abhängig sey von einer Nothwendigkeit, die über ihm ist, und die selbst im Spiel seiner Freyheit die Hand hat« (AA I,9,1, 294). Schelling sieht sich mithin zur Garantierung jener Ordnung gezwungen, ein »schlechthin Objectives« anzunehmen, das zwar unabhängig, aber, insofern es gerade die rechtliche verbürgte Freiheit garantieren soll, nicht gegen das freie Wollen deren Durchsetzung sicherstellen solle und das somit nur »das Bewußtlose« als »das einzig objective im Wollen« selbst darstelle (AA I,9,1, 296; Herv. v. Verf.). Schelling verortet mithin im Wollen selbst ein bewusstloses Moment, das im Gegensatz zum bewusst und frei Zwecke setzenden und verfolgenden Subjektiven als das Wollen ergänzendes objektives Moment angesehen werden kann. Diese Objektive oder [d]iese Nothwendigkeit selbst aber kann nur gedacht werden durch eine absolute Synthesis aller Handlungen, aus welcher alles, was geschieht, also auch die ganze Geschichte sich entwickelt, und in welcher, weil sie absolut ist, alles zum voraus so abgewogen und berechnet ist, daß alles, was auch geschehen mag, so widersprechend und disharmonisch es scheinen mag, doch in ihr seinen Vereinigungsgrund habe und finde. Diese absolute Synthesis selbst aber muß in das Absolute gesetzt werden, was das Anschauende, und ewig und allgemein Objective in allem freyen Handeln ist. (AA I,9,1, 297)

Diese Einheit oder ›absolute Synthesis‹ muss jedoch als strikte »absolute Identität« das »ewig Unbewußte« bleiben, da Subjektives und Objektives, Bewusstes und Bewusstloses »zum Behuf der Erscheinung im freyen Handeln« sich immer schon getrennt haben und sich als voneinander unabhängig zeigen (AA I,9,1, 299). Eine Ausnahme hiervon deutet sich lediglich zum einen im Naturprodukt, das »zweckmäßig ist, ohne zweckmäßig hervorgebracht zu seyn« (AA I,9,1, 306), sowie zum anderen – wie schon 1795 – insbesondere im Kunstprodukt und der Kunstanschauung an, bei wel77 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

cher der Grund jener Identität von Bewusstlosem und Bewusstem darüber hinaus noch als »im Ich selbst« liegend erfahren werde (AA I,9,1, 310). Erst die künstlerische Produktion vermag dabei zu kompensieren, was dem Selbstbestimmen im Wollen zu Beginn der praktischen Philosophie versagt blieb: Durch die […] Bestimmung, nämlich daß bewußte und bewußtlose Thätigkeit in einer und derselben Anschauung objectiv werden, unterscheidet sich diese Anschauung von der, welche wir in der practischen Philosophie ableiten konnten, wo die Intelligenz nur für die innere Anschauung bewußt, für die äussere aber bewußtlos war. (AA I,9,1, 311)

Dasjenige, was sich jener freien und bewussten Tätigkeit des Selbstbestimmens, jenem Willen zur Selbstobjektivierung in der praktischen Philosophie von Anfang an permanent entzieht und sich nur als äußeres, fremdes Objektives darstellt, zeigt sich in der Kunstproduktion gerade als zu jenem bewussten Willen hinzugehörend. Während das bewusstlose Objektive in der gesamten praktischen Philosophie den Individuen nur als etwas »wider ihren Willen« (AA I,9,1, 293, 297 u. 303) bestehendes oder wirkendes erscheint, erkennt einzig das Genie in ihm eine im und zugunsten des Willens sich durchsetzende Tätigkeit, mit deren Anschauung im Kunstprodukt das Wollen in sein Ziel geführt wird. Nahezu in Vorwegnahme der späteren Überlegungen zur Gelassenheit kommt Schelling zufolge das Genie dabei zu einer geradezu gelassenen »Ruhe« (AA I,9,1, 320). Zwar müssen, analog zum Handeln in der praktischen Philosophie, die bewusste und bewusstlose Tätigkeit in der künstlerischen Produktion »getrennt seyn zum Behuf des Erscheinens, des Objectivwerdens der Production«, jedoch ende die künstlerische Produktion »in Bewußtlosigkeit«, an dem »Punkt« also, wo bewusste und bewusslose Tätigkeit »in Eins zusammenfallen« und »die Production aufhören [muß], als eine freye zu erscheinen« (AA I,9,1, 314): »Wenn dieser Punct in der Production erreicht ist, so muß das Produciren absolut aufhören, und es muß dem Producirenden unmöglich seyn weiter zu produciren«; stattdessen wird die Intelligenz zu »einer vollkommenen Anerkennung der im Product ausgedrückten Identität, als einer solchen, deren Princip in ihr selbst liegt«, getrieben, was, da nun das Streben nach einer »vollkommenen Selbstanschauung« in sein Ziel geführt worden ist, mit dem »Gefühl einer unendlichen Befriedigung« einhergeht (AA I,9,1, 314 f.). Da aber »mit der Vollendung des Products […] alle Erscheinung der Freyheit hinweggenommen« 78 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Unbewusste Produktion und ›absolute Abstraktion‹ als Willensakt

ist, erscheint das Produkt der künstlerischen Produktion zugleich als etwas vom Künstler Unabhängiges und nicht von ihm Erzeugtes, und der Künstler werde sich somit »durch jene Vereinigung [der entgegensetzten Tätigkeiten, P. H.] überrascht und beglückt fühlen, d. h. sie gleichsam als freiwillige Gunst einer höheren Natur ansehen« (AA I,9,1, 315). Obgleich jene ›Gunst‹ ähnlich wie in der praktischen Philosophie als gleichsam »wider unsern Willen« (AA I,9,1, 316) wirkend erscheint, stellt sie doch nichts dar, was nochmals willentlich anzueignen wäre. Vielmehr setzt sie ›absichtslos‹ »die objective und die bewußte Tätigkeit in unerwartete Harmonie« (AA I,9,1, 315): Wird also jenes Absolute reflectirt aus dem Product, so wird es der Intelligenz erscheinen als Etwas, das über ihr ist, und was selbst entgegen der Freyheit zu dem, was mit Bewußtseyn und Absicht begonnen war, das Absichtslose hinzubringt. (AA I,9,1, 315)

Ohne dass hier das Willentliche und ›Absichtliche‹ gänzlich verabschiedet würde – steht es doch gerade am Anfang des künstlerischen Tuns – und ohne dass hier von einem ›Lassen‹ die Rede wäre, deutet sich hier gleichwohl im Ansatz bereits Schellings späteres Gelassenheitsdenken an. Indem derart aber das Absolute oder, wie Schelling hier schon sagt, die »absolute Identität« (AA I,9,1, 299) 97 als etwas beschrieben wird, das ›wider unsern Willen‹ und wie eine höhere Notwendigkeit ›über‹ der Intelligenz agiert und sie erst – ›das Absichtslose hinzubringend‹ – zu ihrem eigentlichen Ziel führt, so verwundert es nicht, dass Schelling in seiner unmittelbar folgenden identitätsphilosophischen Phase das Wollen zunächst einmal völlig ausblendet oder als nur scheinbar bestehendes Vermögen abstempelt. Jene sich 1800 bereits abzeichnende Spannung zwischen unbewusster und bewusster Produktivität im Wollen einerseits und ›wider den Willen‹ sich durchsetzendem, gleichsam willenlosem Absolutem andererseits wird Schelling denn auch selbst noch 1809 in den Motiven

Dass das System von 1800 ein Übergangswerk von der Transzendentalphilsoophie zur Identitätsphilosophie darstellt, zeigt sich insbesondere an einem gewissen Changieren des für die Letztere zentralen Begriffs des ›unveränderlich Identischen‹ bzw. der ›absoluten Identität‹, welche zum einen – wie bereits in der Ichschrift (vgl. AA I,2, 103) – noch klar mit dem ›Ich‹ identifiziert wird (vgl. AA I,9,1, 120 u. 177), zum anderen aber auch bereits deutlich vom Ich und allem (Selbst-)Bewusstsein abgelöst wird und diesem gegenüber als etwas ›Höheres‹ und es Fundierendes erscheint (vgl. AA I,9,1, 46, 299, 316 f.), womit sich Schelling ganz auf der Linie der Fichte-Kritik Hölderlins in Urtheil und Seyn bewegt (vgl. Frank 1995, 61–70).

97

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von ›Wollen als Ursein‹ und gleichsam willenlosem ›Ungrund‹ ungelöst reformulieren. 98

5. Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas in der ›absoluten Identität‹ Die Identitätsphilosophie ist durch eine ›willenstheoretische Transformation‹ gekennzeichnet: 99 Der Begriff des Wollens taucht denn auch in den ersten identitätsphilosophischen Schriften Schellings zwischen 1801 und 1804 in Bezug auf das Absolute zunächst gar nicht auf und wird in Folge zumeist auch selbst dem Endlichen abgesprochen. Wenn der Willensbegriff doch auf das Absolute angewandt wird, so wird zugleich – ähnlich wie in den naturphilosophischen Schriften zwischen 1797 und 1799 – deutlich die bloß analogische Sprechweise unterstrichen (Kap. 5.1). Gleichzeitig findet sich ab 1802 im Zuge der kunstphilosophischen Behandlung des Phänomens des Tragischen – ähnlich wie bereits in den Schriften von 1795 – in Bezug auf das Endliche die Rede von einem Wollen, in welchem sich dieses gegenüber dem Absoluten zu behaupten sucht, auch wenn Schelling diese Form von Selbständigkeit des Endlichen insbesondere in den Schriften von 1804 als nichtigen ›Abfall‹ vom Absoluten desavouieren wird (Kap. 5.2). Erst 1806 in der kurzen Schrift Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts wird schließlich das Wollen zum Charakteristikum des Absoluten im Zuge einer Transformation der Identitätsphilosophie erhoben, die es Schelling über den Einbezug einer prinzipieninternen Dynamik erlaubt, auch das Endliche in seiner Eigenständigkeit zu begreifen (Kap. 5.3). Damit sind die grundlegenden Momente des schellingschen Willensdenkens benannt, das Schelling ab 1809 zwar in seiner ganzen Ambivalenz und Pluralität noch weiter ausarbeiten und durch ergänzende Motive anreichern wird, dabei aber in vielen Punkten nur weiter vertieft und systematisiert.

98 99

Vgl. dazu unten, Anschnitt II.1.3. Vgl. dazu auch Berg 2004.

80 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas

5.1. Die Zurückweisung des Wollens mit Blick auf die spinozistisch interpretierte ›absolute Identität‹ In der Darstellung meines Systems von 1801, in der Schelling erstmals den von den »ganz entgegengesetzten Richtungen« der Naturund Transzendentalphilosophie her konstruierten »Indifferenzpunct« seines Systems darzustellen beansprucht (AA I,10, 110), findet das Wollen auffälligerweise gar keine Erwähnung. Dies dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass Schelling sich 1801 stärker als etwa 1795 inhaltlich wie formal an Spinoza orientiert: Die Weise der Darstellung betreffend, so habe ich mir hierinn Spinoza zum Muster genommen, nicht nur, weil ich denjenigen, welchem ich, dem Inhalt und der Sache nach, durch dieses System am meisten mich anzunähern glaube, auch in Ansehung der Form zum Vorbild zu wählen den meisten Grund hatte, sondern auch weil diese Form zugleich die größte Kürze der Darstellung verstattet und die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt. (AA I,10, 115)

Obgleich die Anlehnung an Spinozas auf Grundsätzen und Ableitungen beruhender Traktatform wohl ohne Zweifel ›die größte Kürze der Darstellung verstattet‹, so ist jedoch dessen ›geometrische Methode‹, 100 die Schelling hier vor Augen hat, in ihrer streng rationalen und geradezu statischen Notwendigkeit gerade nicht offen für die ›dynamischen‹ Phänomene von Freiheit und Wollen. Damit einhergehend wird zum anderen der schlechthinnigen Einheit der Vernunft oder der ›absoluten Identität‹ folgerichtig auch alles bloß Subjektive abgesprochen, selbst wenn derselben eine zu ihrer Form gehörende »ursprüngliche Erkenntniß« ihrer selbst (AA I,10, 123) attestiert wird. 101 Denn die ›absolute Identität‹ ist nur begreifbar im Zuge einer doppelten Abstraktionsbewegung, die nicht nur vom gedachten Objekt, sondern zugleich auch noch vom denkenden Subjekt abstrahiert, 102 um derart zum »Indifferenzpunct des Subjectiven und Objektiven« zu gelangen: Das Denken der Vernunft ist jedem anzumuthen; um sie als absolut zu denken, um also auf den Standpunct zu gelangen, welchen ich fordere, Zu Spinozas ›geometrischer Methode‹ bzw. ›Ordnung‹ vgl. Röd 2002, 44–53. Zu dieser Selbsterkenntnis gleichsam ohne erkennendes Subjekt vgl. Schwenzfeuer 2014a. 102 Vgl. dazu und zum damit einhergehenden Dissens zwischen Schelling und Fichte, der diese ›doppelte Abstraktion‹ gerade nicht für möglich hält, genauer Hühn 2005a. 100 101

81 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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muß vom Denkenden abstrahirt werden. Dem, welcher diese Abstraction macht, hört die Vernunft unmittelbar auf etwas Subjectives zu seyn, wie sie von den meisten vorgestellt wird, ja sie kann selbst nicht mehr als etwas Objectives gedacht werden, da ein Objectives oder Gedachtes nur im Gegensatz gegen ein Denkendes möglich wird, von dem hier völlig abstrahirt ist; sie wird also durch jene Abstraction zu dem wahren An sich, welches eben in den Indifferenzpunct des Subjectiven und Objectiven fällt. (AA I,10, 116 f.)

Demzufolge ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn 1801 mit Blick auf die ›absolute Identität‹ von einem Wollen gar nicht die Rede ist. Denn ein Wollen würde, wenn es nicht sogar ein handelndes Subjekt voraussetzt, so doch zumindest die Möglichkeit einer Relation erfordern. In den Schriften von 1802 wird denn auch das Wollen zwar als Charakteristikum des Absoluten diskutiert, dabei aber zugleich als dem Endlichen entstammende und nichts zum Begreifen des Absoluten beitragende Metapher abgetan. In Schellings Dialog Bruno etwa spricht die Figur Anselmos der mit Gott gleichgesetzten ›Idee aller Ideen‹ (vgl. AA 11,1, 439), welche dem Dialogpartner Bruno zufolge »der einzige Gegenstand aller Philosophie« sei und »die Ungetrenntheit des Verschiedenen vom Einen, des Anschauens vom Denken ausgedrückt« enthalte (AA 11,1, 365), zwar explizit ein Wollen zu, um es aber sogleich wieder als nicht zum ›An-sich‹ derselben gehörend zurückzuweisen: Was sich aber wie das Gegenbild verhält, hat immer und nothwendig eine bestimmbare Natur, das aber, welchem es entspricht, eine bestimmende. Da nun in der Idee aller Ideen beyde schlechthin Eines sind, sie selbst aber das Leben des Lebens, das Thun alles Thuns ist (denn nur weil sie das Thun selbst ist, kann von ihr nicht gesagt werden, daß sie handle), so kann jenes zwar an ihr als das Wollen, dieses aber als das Denken betrachtet werden. So daß, indem an jedem Ding einiges bestimmbar, anderes bestimmend ist, jenes der Ausdruck des göttlichen Wollens, dieses des göttlichen Verstandes ist. Wille jedoch und Verstand ist das eine wie das andre nur sofern es sich an den geschaffenen Dingen offenbaret, nicht aber an sich selbst. (AA 11,1, 436)

Zwar kann nach Anselmo das bestimmende ›Vorbild‹ innerhalb der ›Idee aller Ideen‹ wie auch an ›jedem Ding‹ als Denken oder Verstand bezeichnet werden, während das endliche, bestimmbare ›Gegenbild‹ mit dem Wollen identifiziert werden könne, doch würden diese Be82 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas

zeichnungen nur für die ›Offenbarung‹ oder das Sichtbarwerden der Idee aller Ideen ›an den geschaffenen Dingen‹ und nicht ›an sich selbst‹ zutreffen. 103 In der kleinen, aus demselben Jahr stammenden Schrift Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt spricht Schelling sogar angesichts der »wahrhaft speculative[n] Frage […], nämlich wie das schlechthin Eine sich in eine Vielheit und aus der Vielheit wiedergeborene Einheit – eine moralische Welt – ausbreite«, von dem »schlechthin einfach ewige[n] Wille[n], aus dem alles ausfließt« (SW V, 114). Doch, so fügt Schelling gleich hinzu, »zur Auflösung dieser Frage thut es nichts, daß das schlechthin Eine als ein Wille dargestellt wird; solche ideelle Bestimmungen sind für die Philosophie gänzlich zufällig und bringen die Speculation nicht von der Stelle« (SW V, 114). 1804 im Würzburger System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere geht Schelling sogar noch weiter und verneint die Existenz eines Willens nicht nur ausdrücklich in Bezug auf das Absolute, 104 sondern spricht darüber hinaus sogar noch dem 103 In der Würzburger Propädeutik der Philosophie vermutlich von 1804 stellt Schelling ebenfalls im Zuge einer Rekapitulation der spinozistischen Position das Wollen als eine der im Absoluten vorkommenden Formen dar, die der Spinozismus allerdings »nur aus der Erfahrung aufnehmen« könne (SW VI, 98), auch wenn hierbei nun der Wille neben dem Verstand als eine dem Attribut des Denkens unterzuordnende Form beschrieben wird: »Wie sich nun Ruhe und Bewegung zur unendlichen Ausdehnung wieder als die zwei gleich ewigen Attribute derselben verhalten, so Verstand und Wille zum unendlichen Denken; beide sind Formen des unendlichen Denkens, die so ewig sind als dieß selbst. Bis hierher war nichts als Unendliches: aus der absoluten Substanz folgen unmittelbar die zwei unendlichen Attribute des Denkens und der Ausdehnung, so wie aus jeder von diesen wieder zwei gleichfalls unendliche Formen, aus dem Denken Verstand und Wille, aus der Ausdehnung Ruhe und Bewegung. Nun aber soll das Verhältniß des Endlichen und Wirklichen zu diesem Unendlichen eingesehen werden. Es ist nun zwar offenbar, daß der endliche Verstand oder der endliche Wille nur durch eine Affektion, eine Begrenzung, d. h. durch eine Negation des Unendlichen gesetzt werden kann; ebenso, daß das einzelne wirkliche Ding nur durch eine Negation der unendlichen Ruhe und Bewegung und mittelbar der unendlichen Ausdehnung gesetzt seyn kann. Aber woher nun diese Negationen, wodurch die eigentlichen Nichtwesen, die sinnlichen und wirklichen Seelen oder Dinge gesetzt werden? Jede bestimmte Seele ist nur eine Affektion, d. h. eine Modification des unendlichen Denkens, so wie ihr Verstand und Wille nur ein Begriff oder eine Negation des unendlichen Verstandes und des unendlichen Willens« (SW VI, 98 f.). 104 Gleichwohl geht damit nicht einher, dass Schelling auch Freiheit generell leugnen würde; vielmehr nimmt er eine Freiheit in Gott »kraft des Gesetzes der Identität« an, womit allerdings einhergeht, »daß alle andere Freiheit außer der, die im Göttlichen ist,

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Menschen und damit dem Bereich des Endlichen, dem in den vorausgehenden Schriften dies zumindest immer noch zugestanden worden ist, jegliches Willensvermögen ab: Es gibt keine Vermögen, die etwa in der Seele ruhten, nicht ein besonderes Erkenntniß- und ein besonderes Willensvermögen, wie die falsche psychologische Abstraktion dichtet, sondern es ist nur Ein Wesen, nur Ein An-sich der Seele, in welchem alles ein und dasselbe ist, was die Abstraktion trennt; und nur, was aus diesem An-sich der Seele quillt, es sey nun im Wissen oder im Handeln, ist absolut, ist wahr, ist zugleich frei und nothwendig. (SW VI, 540)

Schelling zufolge ist das aus dem Wesen oder ›An-sich‹ der Seele ›hervorquellende‹ Handeln insofern zugleich frei und notwendig, als dieses Handeln – wie es Schelling auch schon in der Ichschrift gefordert hatte 105 – dem »Gesetz der Identität« folgt (SW VI, 539). Dieses Handeln geht somit weder einfach aus dem »Gesetz der Causalität« hervor, das jenes Handeln einer äußeren Notwendigkeit unterwürfe, noch aus einer »freien Selbstbestimmung«, durch die »das Bestimmte nicht an sich, sondern eben nur durch den Akt des Bestimmens ihm gleich würde«, womit aber – wie Schelling dies 1800 doch gerade noch angenommen hatte – die Identität des Selbstbewusstseins erst entstünde und folglich noch nicht von vornherein »das Bestimmte im Handeln mit dem Bestimmenden an sich harmoniren« könne (SW VI, 539). Im Zuge dieser Zurückweisung jeglicher Relationalität zugunsten eines mit sich selbst identischen Handelns geht Schelling nun allerdings sogar so weit, dass er alles endliche Handeln allein im Absoluten respektive Gott entspringen lässt: In der Seele als solcher gibt es keine Freiheit, sondern nur das Göttliche ist wahrhaft frei, und das Wesen der Seele, sofern es göttlich ist. (Aber in dem Sinn gibt es dann auch kein Individuum). – Der menschlichen Seele Freiheit zuzuschreiben, wurde man vorzüglich dadurch verleitet, daß man ihr erst einen besondern Willen als ein eignes Vermögen zuschrieb, welches ein bloßes Produkt der Imagination ist. In der Seele als solcher finden wir wahrhaft nichts als einzelne Akte des Wollens; aber außer diesen einzelnen Akten des Wollens gibt es so wenig noch einen besondern Willen, als es etwa außer den einzelnen ausgedehnten Dingen noch nichtig sey, und Gott allein wahrhaft frei heißen könne. Denn das Handeln Gottes ist das Wesen Gottes selbst, und umgekehrt, und nichts kann aus ihm folgen, das nicht aus der bloßen Idee seines Wesens von selbst folgte und diesem gleich wäre« (SW VI, 539). 105 Vgl. oben, Teil I, Kap. 2.1.

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eine besondere Ausdehnung, oder außer den körperlichen Dingen noch eine besondere Körperlichkeit gibt. Die einzelnen Akte des Wollens sind aber in der Seele als Seele jederzeit nothwendig bestimmt, und also nicht frei, nicht absolut. Dieß ist ganz allgemein einzusehen. Unter der Seele (als solcher) nämlich ist ein Modus der unendlichen Affirmation zu verstehen, der sich auf ein besonderes Ding bezieht, so daß von ihr dasselbe gilt, was von dem Ding selbst gilt. So wie nun dieses in jedem Augenblicke bestimmt ist, das zu seyn, was es ist, oder sich auf diese Weise zu bewegen, wie es sich bewegt, so nothwendig auch die Seele als Seele. In der Seele als solcher ist also keine Freiheit des Wollens. (SW VI, 541 f.)

Schelling leugnet hier jegliches Willensvermögen, das in absoluter Freiheit einen Akt des Wollens aus sich hervorgehen lassen könnte, da die Seele als Initiator desselben nur ein ›Modus der unendlichen Affirmation‹ darstelle und wie im Falle jedes ›besonderen Dinges‹ ihr Sein und ihre Bewegungen durch das Absolute vorgegeben und bestimmt seien. Indem Schelling hier zwar erstmals einen Unterschied zwischen Wille als seiner selbst bewusstem Vermögen und Wollen als daraus folgendem, einzelnem Akt macht, gesteht er zwar die Möglichkeit ›einzelner Akte des Wollens‹ durchaus zu, jedoch seien diese ohne zugrundliegendes Willensvermögen unfreie und nicht absolute Akte, deren Vollzug in und durch die ›unendliche Affirmation‹ des Absoluten immer schon determiniert sei. Ein wahrhaftes Wollen ist somit innerhalb der anfänglichen, augenscheinlich stark spinozistisch geprägten Konzeption der Identitätsphilosophie von vornherein ausgeschlossen.

5.2. Die Aufwertung des Wollens I: Zum Motiv des Tragischen ab 1802 Neben dieser geradezu statischen Konzeption der Identitätsphilosophie kommt jedoch immer stärker eine gleichsam dynamische Konzeption derselben zum Vorschein, die über eine Pluralisierung und Ausweitung des Wollens die nicht zu verleugnenden konzeptionellen Probleme der ersteren zu lösen sucht. So ist doch gerade eine Abkunft und Selbständigkeit des Endlichen gegenüber dem dann erst wahrhaft existierenden Absoluten, 106 geschweige denn eine befriedigende Er106 Vgl. dazu Buchheim 1997, XXII–XXV, der sogar die These vertritt, dass Schelling bereits in der Darstellung meines Systems auf dieses Problem aufmerksam werde.

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klärung des Bösen und der Korrumpiertheit der Schöpfung insgesamt, im Zuge dieser alle Urheberschaft im Absoluten situierenden Systemkonzeption nicht denkbar. Schelling wird darauf bereits kurze Zeit nach der ersten Darstellung der Identitätsphilosophie von 1801 aufmerksam und reagiert hierauf, indem er zum einen dem Endlichen einen eigenen Willen gegenüber dem Absoluten zugesteht und dabei auch 1804 von der Möglichkeit eines »Abfall[s] von dem Absoluten« (SW VI, 38) ausgeht; zum anderen nimmt Schelling 1806 – wieder anschließend an die Allgemeine Uebersicht von 1797/98 – nun auch ein Wollen auf der Ebene des Absoluten an, das dem Naturganzen zugrunde liege und aus dem die Einzeldinge hervorgingen, 107 bevor er dann 1809 schließlich die unterschiedlichen Wollensformen auf der Ebene des Endlichen und des Absoluten zu einer systematisch weitestgehend stimmigen Gesamtkonzeption zusammenführt. Dass auch dem Endlichen ein eigener Wille zuzugestehen ist, zeigt sich indirekt bereits – ohne dass dies in Schellings damalige Konzeption passen würde und diese gleichsam unterminiert – in dessen 1802/03 in Jena und 1804/05 nochmals in Würzburg vorgetragenen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst innerhalb des zentralen, der Tragödie gewidmeten Abschnittes. 108 Ganz im Sinne von Schellings philosophischem Programm dieser Jahre soll die vorgetragene »Geschichte der Kunst […] am offenbarsten ihre unmittelbaren Beziehungen […] auf jene absolute Identität zeigen« (AA II,6,1, 117); gerade die Tragödie soll im tragischen Streit zwischen Freiheit und Notwendigkeit »beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen« lassen (AA II,6,1, 371) und derart als gleichwohl gewordenes Moment auf jene ursprüngliche potenzlose Einheit der ›absoluten Identität‹ anschaulich verweisen. 109 Dabei betont Schelling zwar ganz in Einklang mit dem Würzburger System, dass »wahrhaft tragisch« allein jener Streit zwischen Freiheit und Notwendigkeit sei, »wo das Unglück nicht im Willen und in der Freiheit selbst liegt« und also auch nicht – wie gerade die aristotelische Poetik betont 110 – in einem bloßen Irrtum oder Fehler (ἁμαρτία), sondern wo das geschehene Unglück »Werk des Schicksals« Vgl. dazu im Folgenden, Teil I, Kap. 5.3. Vgl. dazu auch ausführlicher Höfele 2016a, 73–78 u. Höfele 2019a. 109 Vgl. zu Schellings Differenzierung zwischen ›Identität‹ als urspünglicher, potenzloser Einheit und ›Indifferenz‹ als gewordener, anschaulicher Einheit ab 1804 in Würzburg Unger 2019. 110 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1453b10 (Aristoteles 2002, 38 f.). 107 108

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(AA II,6,1, 373) oder einer »höhere[n] und absolute[n]« Notwendigkeit (AA II,6,1, 376) sei, die »den Willen selbst untergräbt, und die Freiheit auf ihrem eignen Boden bekämpft« (AA II,6,1, 373). Gleichwohl ist Schellings Ausführungen zufolge damit der menschliche Wille gerade nicht vollständig negiert. Indem nämlich – wie das Beispiel des sophokleischen König Ödipus zeige – dem Tragödienheld die unfreie Tat als zu bestrafende Schuld angerechnet werde, beweise er gerade »im Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit« (AA II,6,1, 373). Denn erst in diesem tragischen Widerstreit zwischen einer höheren Notwendigkeit und der Freiheit des Subjekts werde eine »Aeußerung der Freiheit« unverkennbar sichtbar, insofern der Held mit einer »Erklärung des freien Willens« untergehe (AA II,6,1, 373), die wie im Falle des Ödipus durch eine Selbstblendung und somit durch eine freiwillige Schuldübernahme unter Beweis gestellt werde. 111 So ist denn die Negation und ›Untergrabung‹ des menschlichen Willens nur eine partielle und vorübergehende. Das tragische »Unglück ist nur, so lange der Wille der Nothwendigkeit noch nicht entschieden und offenbar ist« (AA II,6,1, 374). Sobald aber dem tragischen Helden dieses über ihn verhängte Geschick – ganz im Sinne der aristotelischen ›Anagnorisis‹ – bewusst werde, könne auch dessen »absolut-groß[e]« Macht gebrochen und durch Anerkennung und Übernahme ihrer Folgen »von dem Willen überwunden« werden, wodurch dieser zum Symbol einer »erhabenen Gesinnung« werde (AA II,6,1, 374). Das Tragische wird derart gewissermaßen in eine leidvolle Bewusstwerdungsgeschichte integriert – vergleichbar derjenigen, die Schelling bereits 1800 im System des transscendentalen Idealismus vorgelegt hat. Deren Ende markiert dabei eine gleichsam positive ›Peripetie‹, da der Tragödienheld »im Moment des höchsten Leidens […] zur höchsten Befreiung und [in, P. H.] die höchste Leidenslosigkeit über[gehe]« (SW V, 698), insofern er durch die Erkenntnis des über ihn verhängten Schicksals dessen Wirkung willentlich annehmen könne und das anfangs blinde Schicksal als ›zugeteiltes‹ im Sinne der griechischen ›Moira‹ nun nur noch »realtiv-groß« wirke (SW V, 698).

111 Mit dieser Figur ruft Schelling den kantischen Begriff des »Erhabene[n]« (AA II,6,1, 375) auf – ist doch auch Kant zufolge das ›Dynamisch-Erhabene‹ dadurch gekennzeichnet, dass es »ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken« lässt, »welches uns Muth macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können« (KU, AA V, 261).

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Dass Schelling in seiner Kunstphilosophie den endlichen Willen im Gegensatz zu den identitätsphilosophischen Schriften jener Jahre derart aufwertet, dürfte nicht allein auf die behandelte Gattungsform der Tragödie zurückzuführen sein, deren Konfliktpotenzial sich eben erst durch den willentlichen Widerstand des Tragödienhelden entfalten kann, sondern zum Teil auch der bisweilen sogar wörtlichen Anschlussnahme an die Briefe von 1795 112 geschuldet sein, deren Konzeption durchaus noch einen solchen Willen außerhalb des Absoluten zuließ. Schelling sucht daher auch in seiner Kunstphilosophie zwischen 1802 und 1805 dieses Motiv gerade durch den indirekten Aufruf der Tradition der ›ataraxia‹ im Verweis auf die ›höchste Leidenslosigkeit‹ als Ziel jener Bewegung wieder abzuschwächen. Erstaunlicherweise findet sich denn auch jene Aufwertung des endlichen Willens bis 1809 nicht mehr. Stattdessen wird vielmehr die Verselbständigung des Endlichen gegenüber dem Absoluten durchweg als nichtige Absonderungsbewegung oder gar negativ als ›Abfall‹ vom Absoluten charakterisiert, ohne dass hierbei allerdings dem Endlichen ein eigener Wille zugestanden würde. 113 So heißt es im Bruno, dass die »Trennung, zusamt dem, was mit ihr gesetzt wird, […] wieder begriffen in jener Idee« ist (AA I,11,1, 380); in den Ferneren Darstellungen liest man sogar, dass »ein Herausgehen des Absoluten aus sich selbst […] schlechthin undenkbar sey« (SW IV, 390). Allein in Philosophie und Religion ist diesbezüglich erstmals eine vorsichtig auf die Freiheitsschrift vorausweisende Änderung zu verzeichnen, auch wenn diese durchaus ambivalent ist und eine »doppelte Seite« (SW VI, 41) besitzt, wie Schelling selbst bemerkt, da zwar »der Grund der Wirklichkeit« des Abfalls »einzig im Abgefallenen selbst« liege, das daher aber – vergleichbar einem tragischen, die eigene Intention verkehrenden Umschlag – »nur durch und für sich selbst das Nichts der sinnlichen Dinge producirt« (SW VI, 40). Zwar 112 Es ist denn auch auffällig, dass in AA II,6,1, 373 gerade jene Passage bezüglich der »Erklärung des freien Willens« wörtlich von 1795 übernommen ist – nämlich dass der Held sich anschicke, »willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen« (AA I,3, 107). Lediglich die Formulierung »durch den Verlust seiner Freiheit« hat Schelling in den kunstphilosophischen Vorlesungen zu »im Verlust seiner Freiheit« abgeändert, womit er möglicherweise noch deutlicher den Zusammenfall von Freiheit und Notwendigkeit akzentuieren wollte. 113 Vgl. AA I,11,1, 380–385; SW IV, 389–394; SW VI, 38–44; SW VI, 197–199 u. 551–553.

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gesteht Schelling dem Endlichen nun einerseits eine Selbständigkeit und Freiheit zu, charakterisiert diese aber andererseits nur negativ als ›Abfall‹ und bloßes »Scheinleben« (SW VI, 41), sofern es sich als getrennt vom Absoluten begreife. 114 Das Würzburger System schließt sich diesbezüglich der Schrift Philosophie und Religion an, auf die es auch ausdrücklich verweist, und bezeichnet den ›Abfall‹ sogar als »defectio«, und »die Besonderheit im eignen vom All abgetrennten Leben« gar als »nichts« (SW VI, 552).

5.3. Die Aufwertung des Wollens II: Die Ontologisierung des Wollens in der Naturphilosophie ab 1806 Möglich wird Schelling eine ausdrückliche Bejahung des Endlichen und eines diesem zukommenden eigenen Willens erst durch einen entscheidenden Zwischenschritt, den er bereits 1797/98 – damals allerdings noch infolge eines Zirkelschlusses erfolglos 115 – auszuarbeiten versucht hatte: nämlich die Ausweitung des Willensparadigmas über das endliche Bewusstsein hinaus auf das alles umgreifende und begründende Absolute. Denn erst durch die Etablierung eines Willensmomentes im Absoluten selbst wird dieses relationsfähig und erhält die Möglichkeit, etwas Anderes als von ihm unabhängiges und damit allererst wirkliches Produkt aus sich zu entlassen. Allerdings ist aufgrund dieses relationalen Momentes im Absoluten zugleich auch die Absolutheit des Absoluten in Gefahr – ein Problem, dem dann auch die Freiheitsschrift und die Weltalter durch eine Unterscheidung eines anfänglichen und eines gleichsam gewordenen Absoluten sowie eine damit einhergehende Entwicklung desselben begegnen werden. Diejenige Schrift, die – allerdings noch ohne die angezeigte Problematisierung – erstmals jene Dynamisierung des Absoluten anhand eines diesem inhärenten Willens vornimmt, hat Schelling 1806 unter dem Titel Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an 114 Ganz in diesem Sinne kritisiert Schelling hier auch Fichtes Figur der ›Thathandlung‹ als »zum Princip der Welt gemachte[s] Nichts der Ichheit«, auch wenn er gleichzeitig positiv vermerkt, dass Fichte nicht »vor diesem Nichts zurückbebend seine Realität in einem Substrat […] zu fixiren« versucht habe (SW VI, 43 f.). Vgl. dazu auch Hühn 1998b, 92. 115 Vgl. dazu oben, Teil I, Kap. 3.2.

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den Principien der Schwere und des Lichts der zweiten Auflage der Schrift Von der Weltseele beigefügt. Dass Schelling gerade 1806 diese gleichsam willensmetaphysische Wende vollzieht, dürfte erstens mit den bereits angedeuteten Problemen im Zuge der anfänglichen Konzeption der Identitätsphilosophie zu tun haben, auf die in zentralen Punkten nicht zuletzt Eschenmayer in seiner 1803 erschienenen Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie aufmerksam gemacht hatte, in der dieser gerade kritisierte, dass »[d]er Standpunkt des Ewigen […] nicht blos eine Identität von Form und Wesen, von Endlichem und Unendlichem, von Denken und Seyn, sondern auch eine Identität von Wollen und Handeln« sei. 116 Zweitens dürfte diese Transformation auf die 1806 sich verstärkende Rezeption Böhmes und Oetingers und insbesondere von deren auch auf die Natur ausgreifenden Willenskonzeptionen 117 zurückzuführen sein. Beide Autoren studierte Schelling denn auch laut eigener Aussage intensiviert nach seinem Umzug nach München nicht zuletzt infolge des damit verbundenen persönlichen Zusammentreffens mit Franz von Baader. 118 Außerdem dürfte drittens für diese Dynamisierung der Natur Schellings Rezeption des Neuplatonismus sowie in erster Linie Plotins von Bedeutung gewesen sein – charakterisiert doch Letzterer das Universum wie auch die Natur als ›Sucht [ἔφεσις]‹ nach Sein oder Substantialität und schreibt dem über und in allem waltenden Einen gar einen ›Willen [ϑέλησις]‹ zu. 119 Auch erklärt diese Bezugnahme, weshalb Schelling 1806 jenen kurzen Aufsatz gerade zusammen mit Von der Weltseele abdrucken ließ – ist diese Schrift Eschenmayer 1803, 90. Vgl. dazu ausführlich Peetz 1995, 181–192, bes. 191 f. Vgl. hierzu z. B. Böhme 1620a, 97–100 (Kap. 1–4), Böhme 1622, 18–20 (Kap. 3,2– 12) sowie zu Oetinger den Artikel »Wille, Thelema« in Oetinger 1776, 685–688. 118 Vgl. dazu die gegen Fichtes Schwärmerei-Vorwurf gerichtete Bemerkung Schellings im Anti-Fichte von 1806: »Ich schäme mich des Namens vieler sogenannter Schwärmer nicht, sondern will ihn noch laut bekennen und mich rühmen von ihnen gelernt zu haben, wie auch Leibniz gerühmt hat, sobald ich mich dessen rühmen kann. Meine Begriffe und Ansichten sind mit ihren Namen gescholten worden, schon als ich selbst nur ihre Namen kannte. Dieses Schelten will ich nun suchen wahr zu machen: habe ich ihre Schriften bisher nicht ernstlich studirt, so ist es keineswegs aus Gründen der Verachtung geschehen, sondern aus tadelnswerther Nachlässigkeit, die ich mir ferner nicht will zu Schulden kommen lassen« (SW VII, 120). Vgl. hierzu insgesamt Buchheim 1997, XL–XLVIII. 119 Zum Begriff der ›Sucht [ἔφεσις]‹ vgl. Plotin, Enneade III,6, 7, 13; III,7, 4, 29–31 u. zum Begriff des ›Willens [ϑέλησις]‹ vgl. Plotin, Enneade VI,8, 13. Vgl. dazu Beierwaltes 1972, 211 u. Peetz 1995, 139. 116 117

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doch nicht allein in Schellings Œuvre die erste, die – wenn auch verknüpft mit einem distanzierenden Vergleichspartikel – von einem »Willen der Natur« (AA I,6, 204) spricht, 120 sondern die durch ihren Titel zugleich die Anschlussnahme an die platonisch-neuplatonische Konzeption eines durch eine ›Seele [ψσυχή]‹ belebten Kosmos anzeigt. 121 Die zweifellos wichtigste Voraussetzung für die Möglichkeit jener willensmetaphysischen Wende besteht jedoch viertens darin, dass Schelling im Zuge seiner Identitätsphilosophie das Prinzip des Wissens nicht mehr an ein wissendes Ich als dessen Träger zurückbindet, sondern Letzteres vielmehr zu einer Funktion des Ersteren degradiert und etwa 1804 – wohl angeregt durch Jacobi und Eschenmayer 122 – erklärt: »Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir« (SW VI, 140), 123 wodurch Schelling nun der 1797/98 noch erlegenen Gefahr entgeht, das Wollen des endlichen Selbstbewusstseins zum erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt und damit zur Grundlage von etwas zu machen, das seinerseits das Erstere wiederum begründen soll. Vor diesem rezeptionsgeschichtlichen wie werkgenetischen Hintergrund kann Schelling denn auch 1806 das in der Materie wie in der Vernunft sich zeigende »Band«, 124 das für »die ewige Einheit des Unendlichen mit dem Endlichen« steht (SW II, 360), Vgl. dazu oben, Teil I, Kap. 3.3. Vgl. insbes. Platon, Timaios, 34b–37c u. Plotin, Enneade, IV,3,6, 13–17. Schellings Aufnahme dieses Begriffes wurde dabei nicht nur wie etwa von Goethe, der ihn – von Schelling inspiriert – in seinen Gedichten Weltseele (um 1801) und Eins und Alles (1821) heranzog, positiv aufgenommen, sondern gab Eschenmayer etwa auch Anlass zu kritischen Überlegungen, insofern dieser gerade die durch den Begriff ›Weltseele‹ angezeigte organische Einheit für eine unzulässige, vereinnahmende Vermengung der Sphären von Geist und Natur hielt (vgl. bes. Eschenmayer 1801, 21–23; vgl. dazu Vater 2014, 128). Vgl. dazu insgesamt Zachhuber 2004. 122 Vgl. Jacobi 1785/1789, 259: »Um diese etwas sonderbar klingende Frage entscheiden zu können, müssen wir eine andre, noch sonderbarer klingende aufwerfen; diese nehmlich: hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?« – Angeregt durch Jacobis Position kritisiert Eschenmayer 1803 außerdem Schelling, was diesen ebenfalls zu einer expliziteren Herausstellung seiner eigenen Position einer von aller Subjektivität freien absoluten Vernunft veranlasst haben durfte. So schreibt Eschenmayer in § 61 von Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie, die Vernunft »ist nicht mehr das Absolutvermittelnde, sondern vielmehr das Vermittelte jenes Gegensatzes […] zwischen Wollen und Erkennen auf einer Seite, und dem Glauben auf der andern« (Eschenmayer 1803, 55). Vgl. dazu Peetz 1995, 184 f. 123 Vgl. Schwenzfeuer 2014a, bes. 109–111. 124 Zu diesem 1806 erstmals auftauchenden Begriff des ›Bandes‹ vgl. genauer Peetz 1995, 122–126. 120 121

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ausdrücken als die unendliche Liebe seiner selbst (welche in allen Dingen das Höchste ist), als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren, nur daß das Wesen des Absoluten nicht von dieser Lust verschieden gedacht werde, sondern als eben dieses sich-selber-Wollen. Eben das sich-selbst-Bejahen ist, unangesehen der Form, das an sich Unendliche, welches daher nie und in nichts endlich werden kann. Das Absolute ist aber nicht allein ein Wollen seiner selbst, sondern ein Wollen auf unendliche Weise, also in allen Formen, Graden und Potenzen von Realität. (SW II, 362)

Das Absolute als Einheit von Unendlichem und Endlichem wird hier von Schelling selbstreferentiell als ›unendliche Liebe seiner selbst‹, ›unendliche Lust sich selbst zu offenbaren‹, ›sich-selbst-Bejahen‹ und insbesondere als ›sich-selber-Wollen‹ bestimmt. Dabei seien diese Charakteristika des Absoluten allerdings nicht als dessen Eigenschaften aufzufassen, sondern vielmehr mit dessen eigenstem, von ihm nicht nochmals abzuhebendem Wesen identisch, wie Schelling betont. Auch wenn es sich hierbei um ein ›Wollen auf unendliche Weise‹ handelt, stellt dieses des Weiteren nichts gegenüber dem Endlichen zu Situierendes dar; vielmehr zeigt es sich ›in allen Formen, Graden und Potenzen‹ der endlichen Realität. Zwar seien die »Formen, in denen das ewige Wollen sich selber will, […] für sich betrachtet ein Vieles«; gleichwohl fungiere das ›Band‹ generell als deren Einheit, weshalb die Welt als ganze einen »Abdruck dieses ewigen und unendlichen sich-selber-Wollens« darstelle, der »von dem Absoluten selbst nicht verschieden, sondern nur die vollständige und in fortschreitender Entwicklung ausgebreitete Copula« sei (SW II, 362 f.). Nur durch die »Einheit (identitas)« des Bandes sei die Welt in ihrer Vielgestaltigkeit »Universum, wirkliche Ganzheit (totalitas)«, wie auch umgekehrt die »Einheit des Bandes […] die durchgängige Ganzheit desselben« fordere (SW II, 362 f.). Zwar bewegt sich Schelling mit der zuletzt genannten Bestimmung noch ganz im Rahmen der Darstellung von 1801. 125 Neu ist hingegen zum einen die dieser nochmals zugrundegelegte Bestimmung des Absoluten als eines in sich bewegten, autoreferentiellen ›Sich-selber-Wollens‹. Zum anderen findet sich hier erstmals die sich daraus ergebende dezidiert dynamische Wechselwirkung zweier 125 Vgl. AA I,10, 127: »Die absolute Identität ist absolute Totalität. – Denn sie ist alles, was ist, selbst, oder, sie kann von allem, was ist, nicht getrennt gedacht werden […]. Sie ist also nur als alles, d. h. sie ist absolute Totalität. Erklärung. Universum nenne ich die absolute Totalität.«

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Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas

»Wesen« (SW II, 368), die erst zusammen die »eigentlich produktive und schaffende Natur selbst« (SW II, 372) ausmachen und für die »vollendete Geburt der Dinge« (SW II, 363) verantwortlich zeichnen, auch wenn Schelling 1801, wie er noch in der Freiheitsschrift anmerkt (vgl. AA I,17, 129 Anm.), die beiden Prinzipien als solche bereits benennt (vgl. etwa AA I,10, 163). 126 Jene ›Geburt‹ der Einzeldinge kann denn auch nur, so Schelling 1806, durch das Zusammenwirken von »Identität in der Totalität« und »Totalität in der Identität« erfolgen, die sich aus jener Selbstreferentialität des Absoluten als dessen »ursprüngliche[s] und in keiner Art trennbare[s] und auflösbare[s] Wesen« ergeben (SW II, 363). Während Erstere, die ›Identität in der Totalität‹ oder das reelle Prinzip, nach Schelling »in der Natur als Schwere« wirkt (SW II, 364), sucht er hingegen das »zweite Wesen«, die »Allheit in der Einheit« oder das ideelle Prinzip, als »allgegenwärtige[s] Lichtwesen« oder mit »der Alten Begriff von der Weltseele« genauer zu bestimmen (SW II, 368 f.). 127 Das »Dunkel der Schwere« (SW II, 369) sorge für die »Negation des für-sich-Bestehens«, indem es die »Form der Endlichkeit, die Zeit«, setze (SW II, 364) und damit »Bewegung in die Ruhe« bringe (SW II, 366), dabei gleichzeitig aber den Raum als die Dinge scheidende Ausdehnung negiere (vgl. SW II, 368). Im Gegensatz dazu hebe der »Glanz des Lichtwesens« als »Lebensblick im allgegenwärtigen Centro der Natur«, vergleichbar der »Zeitlosigkeit des Gedankens«, die Zeit auf und bringe als ideeller Gegenpol zum reellen der Schwere »Ruhe in die Bewegung« (SW II, 369 f.); zugleich fördere das Licht die im Einzelnen »gegenwärtige Ewigkeit« (SW II, 369) zutage und rufe »an dem Ding das wirkliche für-sich-Seyn und damit den realen Raum oder die Ausdehnung, die Simultaneität und mit Einem Wort dasjenige hervor[…], wodurch es eine Welt für sich ist« (SW II, 368). Erst »[d]er beiden Principien ewiger Gegensatz und ewige Einheit« (SW II, 371), deren – um mit Heidegger zu sprechen – »widerwendige Identität« (HGA 42, 237) 128 126 Der Gedanke einer Zweiheit an Kräften in der Materie, die Schelling allerdings zu einer »Triplicität« (SW II, 359) erweitert, geht auf Kants Schriften Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) und Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) zurück. Vgl. dazu Rang 2000, 116–129, 194–198 u. 216 f. 127 Vgl. zum Begriff der ›Weltseele‹ oben, Anm. 121. Vgl. des Weiteren zum als ›Seele‹ der Dinge verstandenen Lichtbegriff bei Schelling Leinkauf 1995, 153–164 sowie zum Verhältnis von Licht und Schwere Rang 2000, 216–222. 128 Zwar bezieht Heidegger diese Figur auf die von ihm so genannte »Seynsfuge«;

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vermag »als Drittes und als vollständige[r] Abdruck des ganzen Wesens jenes sinnliche und sichtbare Kind der Natur, die Materie« (SW II, 371) hervorzubringen. Schelling sucht das Zusammenwirken beider Prinzipien oder ›Wesen‹ durch das Bild einer sich entfaltenden und dabei doch als Einheit weiterbestehenden Pflanze zu veranschaulichen: Die Schwere wirkt auf den Keim der Dinge hin; das Lichtwesen aber strebt die Knospe zu entfalten, um sich selbst anzuschauen, da es als das All in Einem, oder als absolute Identität, sich nur in der vollendeten Totalität selbst erkennen kann. (SW II, 371)

Da jedoch der »Lebensquell der allgemeinen oder großen Natur […], von dem alles ausfließt«, nämlich jenes Wollen seiner selbst als »die Copula zwischen der Schwere und dem Lichtwesen«, »in der allgemeinen Natur verborgen, nicht selbst wieder sichtbar ist« (SW II, 374), so kann jenes Absolute – wie Schelling bezüglich des Wollens in freilich anderem Zusammenhang bereits 1797/98 (vgl. AA I,4, 156) und in Antizipation des 1810 als solches formulierten »Grundgesetz[es] des Gegensatzes« (AA II,8, 98) anmerkte 129 – nur im Zuge einer Selbstdifferenzierungsbewegung und damit eines Gegensatzes zum Vorschein kommen. Diese Selbstdifferenzierung vollzieht das Absolute dabei über jene zwei Prinzipien, deren jedes ein »Selbstganzes« darstellt und »für sich seyn könnte und doch nicht ist ohne das andere« (SW II, 376), wie Schelling in Vorwegnahme des Verhältnisses des ›Grundes der Existenz‹ zum ›Existierenden‹ in der Freiheitsschrift erklärt. 130 Erst über jene Differenzierungsbewegung kann sich das Absolute jedoch merkt er zugleich an, dass hiermit die »Bewegtheit des Lebendigen überhaupt« erfasst werden könne, zu deren Erläuterung er »die von Schelling selbst gestaltete Naturphilosophie beiziehen« müsste (HGA 42, 237). 129 Vgl. oben, Teil I, Kap. 3.1. 130 Vgl. AA I,17, 172: »Der Ungrund theilt sich aber in die zwey gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwey, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe eins werden, d. h. er theilt sich nur, damit Leben und Lieben sey und persönliche Existenz. Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern, (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen), dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere. Darum sowie im Ungrund die Dualität wird, wird auch die Liebe, welche das Existirende (Ideale) mit dem Grund zur Existenz verbindet.« – Schelling verweist hier selbst auf die Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie von 1805 (vgl. AA I,15, 123), nicht jedoch auf das oben angeführte Zitat aus der im selben

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in Einem finden, und sich nur von diesem Punkt aus, in wiederholter Entfaltung, aufs Neue zu einer unendlichen Welt ausbreiten. Jenes Eine ist der Mensch, in welchem das Band das Verbundene vollends durchbricht und in seine ewige Freiheit heimkehrt. (SW II, 375)

Denn erst dem Menschen kann »[w]ie aus einer unabsehlichen Tiefe emporgehoben […] die Substanz schon in Pflanzen und Gewächsen« erscheinen, bis schließlich »in thierischen Organismen hypostasirt das erst grundlose Wesen dem Betrachter immer näher und näher tritt, und ihn aus offnen, bedeutungsvollen Augen anblickt.« (SW II, 378) Schelling zufolge vermag allererst der Mensch die bis zu ihm fortschreitende ›Stufenleiter‹ der Natur als eine Bewegung zunehmender ›Entfaltung‹ sowie als ein deren Dunkelheit ›lichtender‹ Bewusstwerdungsprozess zu begreifen. Das darin liegende Streben des Absoluten nach einer Selbsterkenntnis im Menschen werde Letzterem aber nur durch ein ›Verstummen‹ oder eine Zurücknahme seiner selbst bewusst, worin sich bereits das spätere willenskritische Denken von Lassen und Gelassenheit andeutet: »Denn in dem Maß, als wir selbst in uns verstummen, redet sie [die Vernunft, P. H.] zu uns« (SW II, 378). 131 Das ›reife‹ Willensdenken der Freiheitsschrift und der Weltalter wird denn auch genau an diese hier in nuce entwickelte Willenskonzeption anknüpfen, indem es zugleich das vorausgegangene Willensdenken sowohl in seinen affirmativen wie auch kritischen Zügen in das hier vorgelegte Konzept eines Willens, der alles Sein fundiert, zu integrieren sucht. So erlaubt es jene Basis, welche der Aufsatz Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur durch das Konzept eines auf die Naturphilosophie ausgeweiteten Willens liefert, nicht nur einen endlichen Willen positiv zu denken, sondern sie ermöglicht gleichzeitig noch – trotz der Ausweitung des Willensparadigmas auf alles Sein – eine Problematisierung bestimmter, anthropozentrischer Willensformen, deren Verabsolutierung Schelling zum Anlass einer entschiedenen Gegenwartskritik nehmen wird, die an Radikalität derjenigen Heideggers keineswegs nachsteht. Jahr erschienenen Schrift Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, auch wenn diese inhaltlich der Freiheitsschrift sogar noch nähersteht (vgl. dazu genauer unten, Teil II, Kap. 1.3). 131 Insofern Schelling diesen Gedanken des ›Verstummens‹ mit dem Imperativ verbindet: »Kommet her zur Physik und erkennet das Ewige!« (SW II, 378), so kann man bereits 1806 bei Schelling dasjenige finden, was Paul Ziche mit Blick auf 1810 als die Konzeption einer ›Passiven Wissenschaft‹ bezeichnet hat (vgl. Ziche 2014).

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

6. Systematische Überlegungen I: Schelling und die gegenwärtigen Debatten um Willensfreiheit Will man Schellings ›frühes‹ Denken von Wille und Wollen zwischen 1795 und 1806 in systematischer Hinsicht auswerten, um es nicht zuletzt auch für moderne Debatten im Kontext dieser Begriffe argumentativ fruchtbar zu machen, sieht man sich vor ein doppeltes Problem gestellt: Zum einen wird dieses Willensdenken vornehmlich in einer Abstoßungsbewegung zu anderen Willenskonzeptionen wie insbesondere denjenigen Kants, Reinholds und Fichtes ausformuliert. Zum anderen ist es noch in einer gleichsam tastenden und suchenden Formierung begriffen, die sich in der Nicht-Festgelegtheit vieler Begriffe Schellings zeigt und diesen selbst vor gänzlichen Kehrtwenden nicht zurückschrecken lässt. Gleichwohl lassen sich bereits produktive und innovative Ansätze erkennen, die zum einen Schelling vielfach auch selbst in seinem ›mittleren‹ und späten Willensdenken aufgreifen und weiter ausformulieren wird, und die zum anderen sogar gegenwärtige Debatten zum Thema der Willensfreiheit antizipieren und bisweilen um noch ungenügend beachtete Perspektiven ergänzen: (1) Zunächst ist hier der Gedanke einer Pluralisierung und Hierarchisierung innerhalb des Willensbegriffes zu nennen, der in aktuelle Diskussionen in einer Weise, die durchaus Anknüpfungspunkte an Schelling aufweist, 132 erneut vor allem von Harry Frankfurt eingebracht wurde: Im Ansatz vergleichbar zu Frankfurts Konzeption eines hierarchischen Willensmodells, das zwischen »first-order desires« und »second-order volitions« unterscheidet, die sich reflexiv auf die ersteren beziehen und allererst den Personenstatus sowie Willensfreiheit sicherstellen, 133 wird auch schon früh Schelling im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der kantisch-reinholdschen Debatte um den Willensbegriff auf die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen verschiedenen Willensformen aufmerksam. In der Allgemeinen Uebersicht wird von Schelling denn auch zunächst zwischen einem weder freien noch unfreien Willen, der auf das moralische Gesetz ausgerichtet sei, und einem aus freier Wahl zur Handlung schreitenden, ersterem untergeordneten Willen als Willkür unterschieden (vgl. AA I,4, 162 f.). Im System von 1800 geht Schel132 133

Vgl. dazu ansatzweise Noller 2015, 316, 337 u. 351–356. Frankfurt 1988, 16. Vgl. zur Diskussion auch Kane 2005, 281–334.

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Systematische Überlegungen I

ling dann sogar soweit, die über Naturtrieb und ›absolutem Willen‹ des kategorischen Imperativs ›schwebende‹ Willkür als »das sich selbst Bestimmende in der zweyten Potenz, welchem allein die Freyheit zugeschrieben wird« (AA I,9,1, 277), zu bestimmen. Auch noch in der Freiheitsschrift von 1809 und den ihr folgenden Werken wird Schelling etwa in Gestalt des ›Willens der Sehnsucht‹ und des ›Willens des Verstandes‹ diese, mit Frankfurt formuliert, »capacity for reflective self-evaluation« 134 beibehalten und dabei sogar noch im Hinblick auf von Frankfurt nicht beachtete negative Phänomene hin weiter ausbuchstabieren, welche Schelling zufolge auftreten, sobald jene höherstufigen Volitionen und damit die Fähigkeit zur evaluativen Selbstdistanzierung ausbleibt. Ansatzweise zeigt sich dieser Gedanke bei Schelling auch schon 1800 in dem Motiv einer sogar im ›absoluten Willensakt‹ misslingenden Selbstobjektivierung, der gegenüber Schelling im Rahmen seiner kunstphilosophischen Überlegungen am Ende des Systems bereits Momente seines späteren Gelassenheitsdenkens anklingen lässt – stellt doch das ›Lassen‹ gerade die äußerste Form einer solchen Selbstdistanzierung dar, die allererst den gesamten ›Haushalt‹ aus bewusstloser und willentlicher Tätigkeit vor Augen zu führen erlaubt. (2) Mit dem Verweis auf Schellings Gelassenheitsdenken, das generell auch auf die Frage der Vereinbarkeit von Freiheit und den Willen entmachtender Notwendigkeit zu reagieren sucht, ist aber bereits eine weitere Facette von dessen Willensdenken angesprochen, die ebenfalls Parallelen zu einer aktuellen Debatte im Rahmen der Diskussion um Willensfreiheit aufweist: nämlich der Debatte um Kompatibilismus, Inkompatibilismus und Determinismus, 135 die bei Schelling ein gewisses Pendant in dem Gegenüber von Kritiszismus und ›Dogmatismus‹ oder Spinozismus findet. Nachdem Schelling in seinem frühen Naturrechtsaufsatz eine geradezu inkompatibilistische Position einnimmt, die in der Radikalität ihrer Leugnung der Vereinbarkeit von Freiheit und Bedingtheit sogar noch den Ansatz Peter van Inwagens übertreffen dürfte, 136 findet man bei Schelling im Rahmen der anfänglichen Fassung seiner Identitätsphilosophie, die das Willensvermögen gänzlich leugnet, aber auch eine letztlich deterministiFrankfurt 1988, 12. Vgl. dazu Kane 2005, 85–277. 136 Vgl. van Inwagen 1983. Vgl. auch die Diskussion von Tomis Kapitan in Kane 2005, 127–157. 134 135

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Teil I: Schellings Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas

sche Position, obgleich Schelling doch immer wieder zu einer mehr oder weniger kompatibilistischen Position zurückkehrt. Auf eine aus der Perspektive gegenwärtiger Debatten sicherlich ungewöhnliche Weise zeigt sich eine solche Position bereits in den Briefen von 1795 und daran anschließend in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, in denen Schelling am Beispiel des König Ödipus gerade im tragischen Widerstreit mit einer höheren Notwendigkeit eine ›Äußerung der Freiheit‹ aufscheinen sieht (vgl. AA I,3, 107; AA II,6,1, 373). In anderer Form, die bereits auf die Weltalter-Philosophie vorausweist, tritt eine kompatibilistische Position Schellings aber auch im System von 1800 zu Beginn des Teiles zur praktischen Philosophie zutage. Denn die dort postulierte willentliche Selbstbestimmung im Sinne einer »absolute[n] Abstraction« von allem natürlich Gewordenen (AA I,9,1, 230) findet gerade in letzterem seine unabdingbare Bedingung, die Schelling im Kontext der Weltalter-Philosophie sogar durch die paradoxe Figur einer ›hergestellten‹ Vergangenheit, mithin einer gleichsam selbstgesetzten Bedingtheit, im Zuge einer ›Scheidung von sich selbst‹ weiter entfalten wird. (3) Etwas genuin Eigenes gegenüber den modernen Debatten um die Freiheit des menschlichen Willens liegt jedoch in Schellings physiozentrischer Ausweitung des Willensbegriffes vor, die im Kontext der idealistischen Systemphilosophie und ihrer Frage nach einem alles begründenden und fundierenden Prinzip zu sehen ist. Zwar nimmt Schelling nach einem ersten Versuch in der Allgemeinen Uebersicht von 1797/98, das Willensparadigma auch über das endliche Bewusstsein hinaus als Systemprinzip zu etablieren, die Rede von einem Willen in der Natur zunächst zurück. Da diese Ausweitung infolge eines Zirkelschlusses aus dem Selbstbewusstsein erfolglos ist, entscheidet sich Schelling in den Folgejahren zugunsten einer bloß analogen Rede vom Wollen innerhalb der Natur sowie für dessen generelle Ersetzung durch den Begriff der ›Produktivität‹ im theoretischen Teil des Systems von 1800. Ab 1806 erhebt Schelling das Wollen schließlich aber zum alles umgreifenden und begründenden Entwicklungsprinzip der Naturphilosophie. Möglich ist dies Schelling zum einen aufgrund der in den vorhergehenden Schriften etablierten, in sich differenzierten Rede vom Wollen wie auch zum anderen infolge eines veränderten Selbstbewusstseinsbegriffes, der von einer vollkommenen Autonomie desselben gegenüber allem Nichtbewussten Abstand nimmt. Gefolgt sind Schelling bezüglich dieser Ausweitung des Willensbegriffes im 19. Jahrhundert insbeson98 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Systematische Überlegungen I

dere Schopenhauer, 137 aber auch in gewisser Weise Nietzsche, 138 wohingegen diese Position im 20. Jahrhundert nur in Einzelfällen 139 oder indirekt etwa im Zuge der Debatte um den sogenannten ›Panpsychismus‹ Nachfolger gefunden hat. 140

137 Vgl. etwa Schopenhauers 1846 erstmals erschienende Schrift Über den Willen in der Natur, die bereits im Titel diese physiozentrische Ausweitung anzeigt, der zufolge »nicht allein die willkürlichen Aktionen tierischer Wesen, sondern auch das organische Getriebe ihres belebten Leibes, sogar die Gestalt und Beschaffenheit desselben, ferner auch die Vegetation der Pflanzen, und endlich selbst im unorganischen Reiche die Kristallisation und überhaupt jede ursprüngliche Kraft, die sich in physischen und chemischen Erscheinungen manifestiert, ja die Schwere selbst – an sich und außer der Erscheinung, welches bloß heißt außer unserm Kopf und seiner Vorstellung, geradezu identisch sind mit dem, was wir in uns selbst als Willen finden« (Schopenhauer 1836, 321). 138 Vgl. etwa Nietzsches Aufzeichnung N 38[12], KSA 11, 611: »Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« Vgl. insgesamt Gerhard 1996 u. 2011. 139 Vgl. etwa Hans Jonas’ Bemerkung »über die Art des ›Wollens‹, das […] der Natur zugeschrieben wird«: »Es ist ein Über-sich-Hinauswollen, doch braucht es nicht mt ›Wissen‹ verbunden zu sein, gewiß nicht mit Vorauswissen und Zielvorstellung: wohl aber mit Unterscheidungsvermögen – so, daß beim Antreffen der physisch günstigen Konfiguration die Kausalität ihrer Einladung nicht indifferent gegenübersteht, sondern ihr mit Vorzug Folge leistet und in die dargebotene Ordnung einschließt, um sich dann durch jeweils weitere Gelegenheiten ihr Bett zu bahnen« (Jonas 1979, 143). 140 Vgl. z. B. Whiteheads Annahme einer ›bipolaren‹, materiell-geistigen Struktur aller Wirklichkeit in Whitehead 1929, 108: »Each actuality is essentially bipolar, physical and mental, and the physical inheritance is essentially accompanied by a conceptual reaction partly conformed to it, and partly introductory of a relevant novel contrast, but always introducing emphasis, valuation, and purpose.« Vgl. zum Begriff Hildebrandt 2005.

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Teil II Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas im Zeichen des Tragischen und das Denken der Gelassenheit (1809–1821)

Auch wenn das Willensparadigma bereits in der Frühphilosophie und insbesondere in der frühen Transzendentalphilosophie zwischen 1796 und 1800 eine wichtige Rolle spielt und in seinen unterschiedlichen Facetten erörtert wird, so kann man doch mit Fug und Recht behaupten, dass Schellings ausgearbeitetes, eigentliches Denken des Willens und Wollens erst in dessen ›mittlerer‹ Philosophie ab 1809 zur Entfaltung kommt. Dies lässt sich allein schon rein äußerlich an der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ablesen – greifen doch gerade diejenigen Denker, die in ihrem Willensdenken an Schelling anschließen, wie etwa Arthur Schopenhauer, 1 Eduard von Hartmann 2 oder auch Martin Heidegger, 3 insbesondere auf Schellings ›reife‹ Willensphilosophie ab 1809 zurück. Erst hier präsentiert Schelling denn auch eine umfassende und systematisch ausgearbeitete Konzeption von Wille und Wollen, während er in seinen vorausgegangenen philosophischen Schriften immer nur einzelne Willensaspekte beleuchtet – wie etwa das endliche Wollen 1795 (vgl. Teil I, Kap. 2), das Wollen als Absolutes 1797/98 (vgl. Teil I, Kap. 3), das Wollen als die praktische Philosophie begründende Abstraktionsbewegung 1800 (vgl. Teil I, Kap. 4) und das Wollen als Entwicklungsprinzip der Naturphilosophie 1806 (vgl. Teil I, Kap. 5). Insofern kann die Willensphilosophie ab 1809 zwar nicht für sich beanspruchen, etwas in allen Punkten gänzlich Neues zu entwickeln. Vielmehr handelt es sich in vielen Punkten um eine Systematisierung, Zusammenfassung und Umstrukturierung der in den vorangegangenen Werken dargestellten Willensaspekte. Gleichzeitig – und hier liegt vielleicht die entscheidende Neuheit – unternimmt die Willensphilosophie ab 1809 einen Rückblick auf den 1 2 3

Vgl. unten, Teil II, Kap. 5. Vgl. auch Hühn 2005b. Vgl. Hartmann 1870, 691, 696 u. 701. Vgl. ausführlich unten, Teil IV. Vgl. auch Iber 2013.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

›Idealismus‹ und dessen Willensphilosophie insgesamt wie auch insbesondere auf Schellings eigenes Denken von Wille und Wollen, mittels dessen er sich zu dieser zu verhalten und gleichsam eine Bilanz über deren Leistungen wie auch Defizite zu erstellen sucht. So blickt Schelling zu Beginn der Freiheitsschrift unter Bezugnahme auf den Begriff des Wollens zurück und glaubt in dem Satz »Wollen ist Urseyn« denjenigen »Punkt« benennen zu können, bis zu dem »die Philosophie zu unsrer [d. h. Schellings, P. H.] Zeit durch den Idealismus gehoben worden« ist (AA I,17, 123). Es wird sich denn auch mit Blick auf die Schriften des ›mittleren‹ Schelling zwischen 1809 und 1821 zeigen, dass Schelling hier erstmals ein reflektiertes Verhältnis zu seinem früheren Willensdenken einzunehmen sucht – jedoch nicht, um es in seiner Gänze als kritikwürdig zurückzuweisen, sondern vielmehr um es als differenzierungs- und komplettierungsbedürftig durch andere Formen des Wollens herauszustellen. Dabei wird zugleich aber eine tendenziell eher negative Einschätzung der in sich pluralen Struktur von Wille und Wollen in den Vordergrund treten, die dazu führt, dass Schelling von der Freiheitsschrift über die verschiedenen Entwürfe der Weltalter bis hin zur Erlanger Vorlesung den voluntativen Phänomenen ein positiv konnotiertes Nicht-Wollen in Gestalt eines nicht wollenden, gelassenen Willens, einer ›Scheidung von sich‹ sowie einer ›Ekstase‹ gegenüberstellen wird. Aufbauend und im beständigen Rückgriff auf den ersten Teil der Untersuchung wird daher in einem ersten Schritt mit Blick auf die Freiheitsschrift zu zeigen sein, wie Schelling hier auf in früheren Schriften bereits entwickelte Momente des Willensbegriffes zurückgreift und zugleich die problematischen Potentiale desselben in Form einer Theorie des Bösen zum Vorschein bringt (Kap. 1). Insofern die Freiheitsschrift den Fokus vornehmlich auf den ideellen Teil des philosophischen Systems legt, wird daran anschließend anhand der zwischen 1811 und 1815 entstandenen Weltalter-Fragmente auszuführen sein, in welcher Weise Schelling das Ganze seiner Theogonie und Kosmogonie umfassenden Systementwürfe anhand einer Willenskonzeption strukturiert, die nicht nur die Gegenwart als Ganze einer radikalen Kritik unterwirft, sondern zugleich auch noch in den Motiven von ›Scheidung von sich‹ und der Liebe einen Gegenentwurf zu dieser intramundanen Negativität bereithält (Kap. 2). Auf die Spitze treibt diese Kritik schließlich die Erlanger Vorlesung von 1821, die – beinahe in Vorwegnahme der heideggerschen Metaphysikkritik – selbst noch das ›Wissenwollen‹ der Kritik unterziehen und zusam102 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift

men mit jeglichen voluntativen Momenten zurückweisen, um demgegenüber ein radikales ›Lassen‹ sowohl auf der Ebene des Absoluten wie auch des Menschen zu postulieren (Kap. 4). Wie in zwei kurzen Exkursen angezeigt werden soll, tritt hier zugleich auch am deutlichsten Schellings Opposition zu Hegels in der Encyclopädie und der Rechtsphilosophie entwickelter Willenskonzeption zutage, die Schelling aller Wahrscheinlichkeit nach zur Kenntnis genommen hat und gegen die er wohl unter anderem auch in Erlangen Stellung bezieht (Kap. 3), während er gleichzeitig hinsichtlich seiner Willenskritik größte Nähen zu Schopenhauers insbesondere 1819 artikulierter Willensauffassung erkennen lässt (Kap. 5).

1. Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift In der »Vorrede« zum ersten Band seiner Philosophischen Schriften von 1809, in dem Schelling neben anderen, bereits früher erschienenen Werken auch die Freiheitsschrift publiziert hat, betont er keineswegs den neuen Ansatz dieser Schrift. 4 Stattdessen insistiert er vielmehr allein schon durch die Zusammenstellung mit bereits erschienenen, älteren Schriften auf der Kontinuität seines Philosophierens. In den ebenfalls 1809 nochmals veröffentlichten Briefen über Dogmatismus und Kriticismus sieht er dabei insofern eine Vorwegnahme des späteren, als die zu Beginn des neunten Briefes (vgl. AA I,3, 97 f.) zu findenden »Bemerkungen über das Verschwinden aller Gegensätze widerstreitender Prinzipien im Absoluten die deutlichen

Die Frage der Kontinuität oder Diskontinuität der Freiheitsschrift im Verhältnis zu den vorausgegangenen Schriften der Identitätsphilosophie wird in der Forschung allerdings kontrovers diskutiert: Während einerseits mit Blick auf die Selbstcharakterisierung Schellings und auf verschiedene Motive deren Zugehörigkeit zur Identitätsphilosophie behauptet wird (vgl. etwa Buchheim 1995, Schwenzfeuer 2012 u. Danz 2014, 143–145), wird andererseits insbesondere unter Verweis auf die Figuren von ›Ungrund‹ und Entzug auf einer Neuorientierung der Freiheitsschrift gegenüber der Identitätsphilosophie insistiert (vgl. bes. Heidegger, HGA 42, 1–7, aber auch z. B. Schwab 2014, 49–52). Die folgenden Überlegungen suchen in gewisser Weise beiden Positionen Recht zu geben, indem gezeigt werden soll, dass die Freiheitsschrift zwar auf das Vorangegangene zurückgreift, dass sie aber gleichzeitig, indem sie hierzu Stellung nimmt, entschieden darüber hinausgeht. 4

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

Keime späterer und mehr positiver Ansichten« seien (AA I,17, 25). 5 »Bestimmter« (AA I,17, 25) zeigten sich diese ›Keime‹ jedoch im dritten Teil der nun unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre erscheinenden Allgemeinen Uebersicht, in dem sich gerade jene Ausführungen zum ›Wollen‹ als theoretische und praktische Philosophie vereinigendem Absoluten finden (vgl. AA I,4, 121 f.), die Schelling in der Freiheitsschrift nicht zuletzt mit der Bestimmung »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) aufzugreifen sucht. Insbesondere und ganz explizit versteht Schelling aber die Freiheitsschrift als Anknüpfung und Fortsetzung der Darstellung meines Systems von 1801, deren damals nicht ausgeführter ›ideeller Teil‹ die Freiheitsschrift nach dessen Aussage nun fortsetze: 6 Da der Verfasser nach der ersten allgemeinen Darstellung seines Systems (in der Zeitschrift für spekulative Physik), deren Fortsetzung leider durch äußere Umstände unterbrochen worden, sich bloß auf naturphilosophische Untersuchungen beschränkt hat, und nach dem in der Schrift: Philosophie und Religion gemachten Anfang, der freylich durch Schuld der Darstellung undeutlich geblieben, die gegenwärtige Abhandlung das Erste ist, worin der Verfasser seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit vorlegt: so muß er, wenn jene erste Darstellung einige Wichtigkeit gehabt haben sollte, ihr diese Abhandlung zunächst an die Seite stellen, welche schon der Natur des Gegenstandes nach über das Ganze des Systems tiefere Aufschlüsse, als alle mehr partiellen Darstellungen, enthalten muß. (AA I,17, 26 f.)

So ist es zwar durchaus korrekt, dass Schelling 1801, wie er dort selbst am Ende bemerkte, seine »Darstellung unterbrechen« musste (AA I,10, 211 Anm.) und infolgedessen bis 1809 nur der naturphilosophische, reelle Teil des Identitätssystems der Öffentlichkeit zugänglich war – mit Ausnahme der Schrift Philosophie und Religion, deren ›Undeutlichkeit‹ und Unausgearbeitetheit aufgrund einer geforderten Reaktion auf Äußerungen Eschenmayers er aber selbst bereits 1804 eingestand (vgl. SW VI, 13). 7 Gleichwohl ist es zweifellos eine Untertreibung, wenn Schelling behauptet, dass er lediglich »über die Hauptpunkte, welche in derselSchelling könnte hierin möglicherweise die ersten ›Keime‹ bezüglich der Ausführungen zum ›Ungrund‹ in der Freiheitsschrift erblicken (vgl. AA I,17, 170–172). 6 Vgl. dazu Jantzen 1995, 61 f. u. 79–83; Buchheim 1997, XXI–XXV; Schwenzfeuer 2012, 220–226. 7 Vgl. Schwenzfeuer 2012, 221. 5

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Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift

ben [der Freiheitsschrift, P. H.] zur Sprache kommen, über Freyheit des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit u. s. w. sich bisher nirgends erklärt hatte, (die einzige Schrift Philosophie und Religion ausgenommen)« (AA I,17, 27). Schelling verschweigt damit gerade seine 1806 vollzogene willensmetaphysische Wendung der Identitätsphilosophie, die 1801 infolge einer gleichsam in sich ruhenden ›absoluten Identität‹ noch strikt ausgeschlossen war und welche es ihm 1806 erstmals erlaubte, ohne die Gefahr einer Vereinahmung durch das Selbstbewusstseinsparadigma auch angesichts der Dynamik in der Natur von einem Wollen zu sprechen. So ist es gerade diese ›Wende‹ von 1806, die Schelling 1809 gleichzeitig zu einer Binnendifferenzierung und Pluralisierung des Willensparadigmas und insbesondere zu einer sich davon abgrenzenden Definition der menschlichen ›Freiheit des Willens‹ veranlasst (Kap. 1.1). 8 Jene Pluralisierung im ›Haushalt‹ des Wollens führt Schelling aber gleichzeitig zu einer Hierarchisierung desselben sowie zu einer Kritik bestimmter verabsolutierter Willensformen, die er im Rückgriff auf Strukturen des Tragischen zu desavouieren sucht (Kap. 1.2). Zugleich führt Schelling 1809, wie zu zeigen ist, Motive der Zurücknahme des Wollens in Gestalt etwa der Liebe und des Lassens sowohl auf der Ebene des Absoluten als auch des Endlichen an. Dabei eröffnet sich allerdings eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Bestimmungen des Absoluten als Wollen, Liebe und alle Relationalität und Dynamik an sich abprallen lassendem ›Ungrund‹, welche Schelling in der Freiheitsschrift noch nicht unter einen einheitlichen Zugriff zu stellen vermag (Kap. 1.3). Letzteres wird erst den Weltaltern im Zuge einer gleichsam genetischen Systemkonzeption gelingen.

1.1. Ausweitung und Pluralisierung des Wollens Dass Schelling eine interne Pluralisierung des Willensparadigmas in der Freiheitsschrift für notwendig erachtet, wird erst vor dem Hintergrund seiner Einschätzung der Leistung des Idealismus insbesondere

Schelling plante sogar einen eigenen ›Aufsatz über Willensfreiheit‹ ; so hält er in dem Jahreskalender-Eintrag zum 13. April fest, ohne dass sich allerdings hierzu etwas im Berliner Schelling-Nachlaß findet: »Nachmittags Anstalten zur Fortsetzung des Aufsatzes über Willensfreiheit für die Akademie« (vgl. Tagebücher 1809–1813, 17). Vgl. dazu auch Knatz 1993, 472.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

kantisch-fichtescher Provenienz verständlich, den Schelling ebenso wie das »einseitig-realistische[…] System« (AA I,17, 123) des Pantheismus für ergänzungsbedürftig hält. So habe der Idealismus nämlich »einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit« gegeben, weshalb sich Schelling 1809 veranlasst sieht, diesem noch einen »reale[n] und lebendige[n] Begriff« der Freiheit in Form des menschlichen »Vermögen[s] des Guten und des Bösen« zur Seite zu stellen (AA I,17, 125) und mithin die »unendliche Substanz oder den Urwillen selbst« (AA I,17, 125) nicht als den einzigen und alleinigen Willen zu behaupten (Kap. 1.1.1). Um Gott nämlich nicht als gänzlich für das Böse Verantwortlichen abzustempeln, nimmt Schelling einerseits in Gott selbst in Form des »ahndende[n] Wille[ns]« der Sehnsucht (AA I,17, 131), der auch als »Wille des Grundes« bezeichnet wird (AA I,17, 144), des Verstandes als des »Wille[ns] in dem Willen« (AA I,17, 131) und des »Wille[ns] der Liebe« (AA I,17, 144) eine Mehrheit an Willen an (Kap. 1.1.2). Gleichzeitig beschreibt er aber andererseits auch auf der Ebene des Menschen eine Pluralität insbesondere zweier Willen, nämlich von »Universalwille« und »Eigenwille« (AA I,17, 131 f.), die erst in der Verkehrung ihres ursprünglich vorgesehenen Verhältnisses das Böse bildeten (Kap. 1.1.3). 1.1.1. ›Wollen ist Urseyn‹: Die Unterscheidung von Wollen und Wille im Zuge der Dynamisierung der spinozistischen Substanz Schellings Freiheitsschrift beginnt nicht unmittelbar mit einer Erörterung und Kritik des Willensparadigmas. Vielmehr präsentiert Schelling die Schrift zunächst einmal als gleichsam verspäteten Beitrag zur Debatte um den Begriff des Pantheismus, 9 um erst in der Diskussion dieses Begriffes und seiner Vereinbarkeit mit dem der Freiheit auf die Notwendigkeit eines differenzierteren Verständnisses von Wille und Wollen aufmerksam zu machen. Hierzu unternimmt Schelling zwei argumentative Hauptschritte, indem er zunächst auf einem Differenzen und Partialisierungen zulassenden Konzept von Identität insistiert und daraufhin aufzeigt, dass Letzteres nur vor dem Hintergrund eines dynamischen Fundamentes des ganzen Systems möglich ist. Zweifellos stellt es eines der Hauptanliegen der Freiheitsschrift 9

Vgl. dazu Hennigfeld 2001, 37–46.

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Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift

dar, auf jene in Schellings Augen völlig falsche Schlussfolgerung zu reagieren, der zufolge »das einzig mögliche System der Vernunft […] Pantheismus [sey], dieser aber unvermeidlich Fatalismus« (AA I,17, 113), – eine Schlussfolgerung, die in dieser Härte erstmals Jacobi 1785 in seinem Spinoza-Büchlein gezogen hat 10 und die Schelling auch wieder aus dem gerade 1808 erschienenen Indierbuch Friedrich Schlegels herauszulesen meint. 11 Genau vor diesem Hintergrund diskutiert Schelling denn auch 1809 zunächst verschiedene Formen von Pantheismus, um zuletzt für einen gleichsam willensmetaphysisch dynamisierten Spinozismus zu plädieren, dessen Etablierung er ansatzweise erstmals in dem oben diskutierten naturphilosophischen Aufsatz von 1806 verfolgte, in dem er den »statischen Substantialismus der Identitätsphilosophie« von 1801 in Willens- und »Tätigkeitsstrukturen« umformulierte. 12 Mit dieser willensmetaphysischen ›Verflüssigung‹ identitätsphilosophischer Begrifflichkeiten meint Schelling denn auch Pantheismus und Freiheit als vereinbar erweisen zu können. Für diesen Nachweis wendet sich Schelling zuerst dem Verständnis des Pantheismus als der »Lehre von der Immanenz der Dinge in Gott« zu, mit welcher der »fatalistische Sinn« allerdings nicht notwendig und »nicht wesentlich […] verbunden sey« (AA I,17, 113). Vielmehr beuge der Gedanke der Immanenz zunächst einmal nur dem auch bereits in den Briefen von 1795 begegneten Problem vor (vgl. AA I,3, 104 f.), dass »[a]bsolute Causalität in Einem Wesen […] allen andern nur unbedingte Passivität übrig[läßt]« (AA I,17, 113), und ›rette‹ gerade dadurch die Freiheit des Menschen, dass er sie mit derjenigen Gottes ›verknüpfe‹. Es komme mithin lediglich auf die Vgl. Jacobi 1785/89, 123: »Die Leibniz-Wolfische Philosophie, ist nicht minder Fatalistisch, als die Spinozistische, und führt den unabläßigen Forscher, zu den Grundsätzen der letzteren zurück. […] Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.« 11 Vgl. Schlegel 1808a, 243: »Der Pantheismus ist das System der reinen Vernunft, und insofern macht er schon den Übergang von der orientalischen Philosophie zur europäischen. […] Ist einmal diese große Entdeckung gemacht, diese alles umfassende, alles vernichtende, und doch so leichte Wissenschaft und Vernunft-Weisheit, daß Alles Eins sei, gefunden, so bedarf es weiter keines Suchens und Forschens; alles was andre auf andren Wegen wissen oder glauben, ist nur Irrthum, Täuschung und Verstandesschwäche, so wie alle Veränderung und alles Leben ein leerer Schein.« 12 Iber 1994, 189. Iber vertritt diese These allerdings erst mit Blick auf 1809, ohne zu bemerken, dass Schelling bereits 1806 diese Umformulierung der Identitätsphilosophie vornimmt, wie wir oben gesehen haben (vgl. Teil I, Kap. 5.3). 10

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richtige Auffassung des Pantheismus an, der nicht, wie man gerade »dem für jene Lehre als klassisch angenommenen Spinoza« unterstellt habe, als »völlige[…] Identification Gottes mit den Dingen« (AA I,17, 114) aufgefasst werden dürfe. Hier liege ein »Mißverständniß des Gesetzes der Identität oder des Sinns der Copula im Urtheil« vor (AA I,17, 115). 13 Es werde nämlich »in keinem möglichen Satz, der der angenommenen Erklärung zufolge die Identität des Subjekts mit dem Prädikat aussagt, eine Einerleiheit oder auch nur ein unvermittelter Zusammenhang dieser beiden ausgesagt« (AA I,17, 115). Eine solche Annahme einer bloßen ›Einerleiheit‹ verrate geradezu einen »Grad von dialektischer Unmündigkeit […], über welchen die griechische Philosophie fast in ihren ersten Schritten hinaus ist« (AA I,17, 116). So habe die »alte tiefsinnige Logik« bereits »Subjekt und Prädicat als vorangehendes und folgendes (antecedens et consequens)« 14 unterschieden: Wer da sagt: der Körper ist Körper, denkt bei dem Subjekt des Satzes zuverlässig etwas anderes als bei dem Prädikat; bei jenem nämlich die Einheit, bei diesem die einzelnen im Begriff des Körpers enthaltenen Eigenschaften, die sich zu demselben wie Antecedens zum Consequens verhalten. Eben dieß ist der Sinn einer andern ältern Erklärung, nach welcher Subjekt und Prädikat als das Eingewickelte und Entfaltete (implicitum et explicitum) entgegengesetzt wurden. (AA I,17, 115) 15

Ähnlich wie Hegel, der im Zuge der Theorie des ›spekulativen Satzes‹ in der »Vorrede« seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Phänomenologie ebenfalls von einer dialektischen Bewegung und keiner bewegungslosen ›Einerleiheit‹ ausgeht (vgl. Phän., GW 9, 42–45), 16 so begreift auch Schelling das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Satz nicht als bloße ›Einerleiheit‹, sondern vielmehr als eine Be-

Zu Schellings Interpretation der Kopula in der Freiheitsschrift vgl. ausführlich Peetz 1995, 90–107 u. Thomas 2014. 14 Vgl. dazu etwa Aristoteles, Analytica priora, A, 47a28–34 sowie Leibniz’ Schrift Primae veritates, worin dieser erläuert: »Immer ist […] das Prädikat oder das consequens in dem Subjekt oder dem antecedens, und gerade darin besteht allgemein das Wesen der Wahrheit oder die Verknüpfung von Ausdrücken der Aussage, wie schon Aristoteles beobachtete« (Leibniz 1960, 439). 15 Zu den sich vermutlich auf Leibniz, Giordano Bruno und Nikolaus von Kues beziehenden Anspielungen vgl. den Kommentar von T. Buchheim in Schelling 1997, 97 u. Hennigfeld 2001, 42. 16 Vgl. dazu und zum Verhältnis der schellingschen Freiheitsschrift zur Phänomenologie Hegels insgesamt Schwab 2018a. 13

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wegung, die allerdings – im Gegensatz zu Hegels gleichsam in sich oszillierendem ›spekulativen Satz‹ – ein Grund-Folge-Verhältnis oder eine Bewegung der Ausdifferenzierung beschreibt, die den Gliedern des Urteils Selbständigkeit und Eigenwertigkeit zusichern soll. Das Identitätsgesetz drücke denn auch »keine Einheit aus, die sich im Kreis der Einerleiheit herumdrehend, nicht progressiv, und darum selbst unempfindlich und unlebendig wäre«; vielmehr sei die »Einheit dieses Gesetzes […] eine unmittelbar schöpferische« (AA I,17, 119), weshalb Schelling »das Gesetz des Grundes« als »ebenso ursprünglich[…] wie das der Identität« ansieht (AA I,17, 119), welches auch dem mit sich selbst identischen Absoluten und Ewigen beigelegt wird: 17 »Das Ewige muß deßwegen unmittelbar, und so wie es in sich selbst ist, auch Grund seyn.« (AA I,17, 119) Das aus jenem Grund Folgende sei dann zwar ein Abhängiges, das jedoch keineswegs der Selbständigkeit entbehren müsse: »Aber Abhängigkeit hebt Selbständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht auf«, wie Schelling unter Berufung auf das Beispiel des »organische[n] Individuum[s]« betont, das »als ein Gewordenes nur durch ein anderes, und insofern abhängig dem Werden, aber keineswegs dem Seyn nach« sei; so impliziere der damit zusammenhängende Begriff der »Zeugung« gerade das »Setzen eines Selbständigen« (AA I,17, 120), weshalb Schelling diese Begrifflichkeit dann auch ins Zentrum seines Weltalter-Entwurfes von 1811 stellen wird (vgl. z. B. WA I, 56–59). 18 Leugne man dieses Moment der Selbständigkeit in dem dem ›Werden‹ nach Abhängigen, verwickle man sich hingegen in Widersprüche, da man dann »eine Abhängigkeit ohne Abhängiges, eine Folge ohne Folgendes (Consequentia absque Consequente)« annehme (AA I,17, 119), was in den Augen Schellings gerade die Vorstellung einer »mechanische[n] […] Folge der Wesen aus Gott« oder die Lehre von der »Emanation« unter Beweis stellen (AA I,17, 120). Diese Wendung lässt sich bei Schelling auch werkimmanent erklären, wenn man die Spannung zwischen logischem und praktischem ›Gesetz der Identität‹ berücksichtigt. Letzteres setzt Schelling bereits 1795 in Vom Ich (vgl. AA I,2, 125 f. u. oben, Teil I, Kap. 1.2.1) wie auch im Würzburger System von 1804 (vgl. SW VI, 539 u. oben, Teil I, Kap. 5.1) dem kantischen Moralgesetz entgegen und bezieht es 1804 auch gleichzeitig auf das logische ›Gesetz der Identität‹ (vgl. SW VI, 145 passim), das aber als in sich ruhende ›Gleichheit‹ unvermeidlich in Spannung zum praktischen ›Gesetz der Identität‹ stehen muss, insofern dieses als Handlungsgesetz auch immer Grund für etwas von ihm zu Unterscheidendem sein muss. 18 Vgl. dazu unten, Teil II, Kap. 2.3.1. 17

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Schelling geht daher so weit, geradezu den »Mittelbegriff der ganzen Philosophie« in dem »Begriff einer derivirten Absolutheit oder Göttlichkeit« zu sehen (AA I,17, 120). Allein in diesem Sinne einer ›derivierten Absolutheit oder Göttlichkeit‹ komme auch der Natur »Göttlichkeit« zu (AA I,17, 120), die sie folglich nicht unmittelbar mit Gott identifiziere und damit auch nicht alle Freiheit auflöse. Somit sei denn auch »die Läugnung formeller Freyheit mit dem Pantheismus nicht nothwendig verbunden« (AA I,17, 120). Damit jedoch eine solche ›derivierte Absolutheit‹ und damit Selbständigkeit der Dinge gegenüber Gott angenommen werden könne, sei darüber hinaus ein derartiges dynamisches Verständnis des Weltganzen nötig, wie es nach Ansicht Schellings der Idealismus durch sein Verständnis von Freiheit erstmals ermöglicht habe, wohingegen Spinoza genau dies zu entwickeln unterlassen habe. Dessen »Fehler« liege nämlich gerade nicht darin, »daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind – in dem abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen Substanz selber, die ihm eben auch ein Ding ist.« (AA I,17, 122) Insofern vergleicht Schelling auch den »Spinozismus in seiner Starrheit« mit der »Bildsäule des Pygmalion […], die durch warmen Liebeshauch beseelt werden müßte« (AA I,17, 122). Letzteres beansprucht dabei Schelling, bereits geleistet zu haben – und zwar in Form seines Programms einer »Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus« (AA I,17, 123), wie es etwa die »Vorerinnerung« der Darstellung von 1801 entwickelte (vgl. AA I,10, 110 f.). Vor dem Hintergrund dieses Programms lobt Schelling zugleich aufs Höchste das Verdienst des Idealismus um den »vollkommnen Begriff der formellen Freyheit« (AA I,17, 123), auch wenn Schelling diesen zugleich in zwei Hinsichten kritisiert und damit – wie bereits im Falle des »einseitig-realistische[n] System[s]« des Spinozismus (AA I,17, 123) – dessen Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit anprangert. So sei zum einen der kantisch-fichtesche Idealismus in der Ausweitung des Freiheitsbegriffes nicht weit genug gegangen. Kant habe zwar in der Critik der practischen Vernunft den »einzig möglichen positiven Begriff des An-sich« entwickelt, indem er mit Blick auf das menschliche Subjekt »Unabhängigkeit von der Zeit und Freyheit wirklich als correlate Begriffe behandelt« habe (AA I,17, 124; vgl. KpV, A 169–185), ohne aber diesen Begriff »auch auf die Dinge überzutragen« (AA I,17, 124). Ähnliches wirft Schelling auch dem »subjective[n] […] Idealismus Fichtes« vor, für den zwar – wie Schelling mit Schlegels Worten bemerkt 110 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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– »›Thätigkeit, Leben und Freiheit allein das wahrhaft Wirkliche seyen‹« (AA I,17, 351), 19 der sich allerdings nicht dazu durchgerungen habe, zu erklären, »daß nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey« (AA I,17, 124), wie Schelling in der Darstellung von 1801 beinahe wortgleich, 20 der Sache nach aber auch schon 1795 in der Ichschrift erklärte. 21 Zumindest der Idealismus schellingscher Provenienz hätte damit vor 1809 den ›formellen‹ Freiheitsbegriff zum »allgemeinsten« erweitert (AA I,17, 125), den Schelling auch in jener berühmten, Wollen und Sein gleichsetzenden Formel resümierend aufzugreifen sucht: 22 Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden. (AA I,17, 123)

Zwar greift Schelling etwa mit dem Wollen und Freiheit zugeschriebenen Prädikat der ›Unabhängigkeit von der Zeit‹ auf Kant zurück (vgl. KrV, A551 f./B 579 f.); auch das Prädikat der ›Grundlosigkeit‹ ließe sich auf Fichte und auch Schellings eigene Frühphilosophie zurückbeziehen. 23 Gleichwohl nimmt Schelling hier mit dem die allgemeine Freiheit ausdrückenden Begriff des Wollens zugleich eine Vgl. Schlegel 1808a, 229. Vgl. AA I,10, 111: »Fichte könnte sich mit dem Idealismus auf dem Standpunct der Reflexion halten, ich dagegen hätte mich mit dem Princip des Idealismus auf den Standpunkt der Production gestellt: um diese Entgegensetzung aufs verständlichste auszudrücken, so müßte der Idealismus in der subjectiven Bedeutung behaupten, das Ich seye Alles, der in der objektiven Bedeutung umgekehrt: Alles seye = Ich, und es existire nichts als was = Ich seye, welches ohne Zweifel verschiedene Ansichten sind, obgleich man nicht leugnen wird, daß beide idealistisch sind.« 21 Vgl. AA I,2, 101: »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« – Zugegebenermaßen spricht Schelling hier noch in klarer Anlehnung an Fichte von einem ›absoluten Ich‹. Folgt man hingegen der oben vertretenen These, dass es sich hierbei um ein spinozistisch überformtes ›absoluten Ich‹ handelt (vgl. oben, Teil I, Kap. 2.1), dann ginge auch 1795 schon ansatzweise Schelling über den ›subjektiven Idealismus‹ Fichtes hinaus. 22 Vgl. dazu Jantzen 1995, bes. 66–69. 23 Zu Fichte vgl. GA I,2, 255: »Wir haben den absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absoluterster Grundsaz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken; die unter den empirischen Bestimmungen unsers Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewustseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.« – Zu Schelling vgl. AA I,2, 101 (§ VI.): 19 20

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entscheidende Akzentverschiebung vor, indem er – wie bereits in der kleinen naturphilosophischen Schrift von 1806, auf die Schelling nicht zuletzt mit dem Prädikat der ›Selbstbejahung‹ zurückgreift 24 – das Wollen zur Grundlage der ganzen Natur hypostasiert und dabei den spinozistischen Substanzbegriff in einer Weise voluntativ uminterpretiert, die gerade das Konzept der ›derivierten Absolutheit‹ ermöglichen soll. Dies zeigt gerade die der oben zitierten Passage unmittelbar vorausgehende ›Systemskizze‹ Schellings: 25 Der Spinozische Grundbegriff, durch das Prinzip des Idealismus vergeistigt […], erhielt in der höheren Betrachtungsweise der Natur und der erkannten Einheit des Dynamischen mit dem Gemüthlichen und Geistigen eine lebendige Basis, woraus Naturphilosophie erwuchs, die als bloße Physik zwar für sich bestehen konnte, in Bezug auf das Ganze der Philosophie aber jederzeit nur als der eine, nämlich der reelle Theil, derselben betrachtet wurde, der erst durch die Ergänzung mit dem ideellen, in welchem Freyheit herrscht, der Erhebung in das eigentliche Vernunftsystem fähig werde. In dieser (der Freyheit) wurde behauptet, finde sich der letzte potenzirende Akt, wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre. (AA I,17, 123)

Könnte der erste Teil des Zitates, in dem Schelling die ›Vergeistigung‹ des ›spinozistischen Grundbegriffes‹ erwähnt, noch den Anschein erwecken, als handle es sich hier lediglich um ein Aufgreifen von He»Der lezte Punkt, an dem unser ganzes Wissen, und die ganze Reihe des Bedingten hängt, muß schlechterdings durch nichts weiter bedingt seyn.« 24 Vgl. SW II, 362: »Wir können das Band im Wesentlichen ausdrücken als die unendliche Liebe seiner selbst (welche in allen Dingen das Höchste ist), als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren, nur daß das Wesen des Absoluten nicht von dieser Lust verschieden gedacht werde, sondern als eben dieses sich-selber-Wollen. Eben das sich-selbst-Bejahen ist, unangesehen der Form, das an sich Unendliche, welches daher nie und in nichts endlich werden kann.« 25 H. M. Baumgartner verweist angesichts dieser ›Systemskizze‹ durchaus zu Recht auf das System des transscendentalen Idealismus von 1800, in dem sich insbesondere die zuletzt genannten ›Stufen‹ von ›Empfindung‹, ›Intelligenz‹ und ›Wille‹ finden (vgl. Baumgartner 1995, 46). Auch wenn Schelling 1800, wie gesehen (vgl. oben, Teil I, Kap. 4.1), es noch strikt vermeidet, in der Natur und damit im theoretischen Teil des Systems von einem ›Wollen‹ zu sprechen, um stattdessen die Metaphorik der ›Produktivität‹ in der Natur um so exzessiver heranzuziehen, so ist doch zu betonen, dass Schelling ab 1809 und insbesondere in den Weltaltern noch in einer weiteren Hinsicht an das System von 1800 anschließen wird – nämlich bezüglich der ›absoluten Abstraktion‹ als Willensakt, auf den im folgenden Zitat mit dem Verweis auf den »letzte [n] potenzirende[n] Akt, wodurch sich die ganze Natur […] endlich in Willen verkläre« (AA I,17, 123), angespielt sein könnte.

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gels zwei Jahre zuvor in der Phänomenologie artikuliertem Programm, dass »das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken« sei (Phän., GW 9, 18), so zeigt die folgende Bewegung der Ausdifferentierung und ›Potenzierung‹ doch zugleich, dass Schelling hier ganz Anderes im Sinne hat. Wie schon im Falle seiner von Hegels ›spekulativem Satz‹ sich abgrenzenden Deutung der Kopula und des Urteils zeichnet Schelling hier eine Entwicklungs- und Entfaltungsbewegung nach, die nicht auf eine »sich wiederherstellende Gleichheit« (Phän., GW 9,18) abzielt, sondern die in der Ausfaltung dem Entfalteten eine Selbständigkeit und gar Höherwertigkeit zugesteht. Dies zeigt sich hier insbesondere an den Begriffen des Wollens, das mit dem Ursein insgesamt identifiziert wird, einerseits und des Willens als eines davon abgegrenzten, ›potenzierenden Akts‹ andererseits, die Schelling mithin hier in ähnlicher Weise wie 1804 im Würzburger System voneinander abhebt, wo er zum einen den einfachen Akt des Wollens und das in sich reflektierte Vermögen des Willens zum anderen unterschied, Letzteres dabei aber noch als bloßes »Produkt der Imagination« abtat (SW VI, 541 f.). 26 Zwar ist der Schrift von 1809 zufolge alles Sein ›Wollen‹, doch erst im ›letzten potenzierenden Akt‹ des ideellen Teils des philosophischen Systems ›verklärt‹ sich dieses zum ›Willen‹. Mit anderen Worten gesagt, nimmt Schelling hier zwar einerseits den ›allgemeinen‹ und ›formellen‹ idealistischen Freiheitsbegriff auf. Da er aber diesen durch einen ›reellen‹ Begriff der Freiheit zu ergänzen und auszudifferenzieren trachtet, nimmt er hier andererseits bereits eine Modifikation in demselben vor, die ihm im Folgenden gerade diese Ausdifferenzierung ermöglichen wird. Damit schlägt – mit Heidegger gesprochen – gerade »der reale und demzufolge lebendige Begriff der menschlichen Freiheit« auf »das Prinzip der Systembildung« zurück (HGA 42, 166), das zwar dem äußeren Anschein nach noch idealistisch formuliert wird, ohne dass aber noch in idealistischem Sinne alles aus ihm a priori deduziert werden könnte. Wie sich zeigen wird, wird das mit dem ›Ursein‹ gleichgesetzte Wollen nämlich gerade mit geschichtlich-kontingenten Momenten einhergehen, die es allererst zulassen, dass daraus verschiedene Willen und damit auch die menschliche Freiheit und das Böse hervorgehen können.

26

Vgl. oben, Teil I, Kap. 5.1.

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1.1.2. Die Willenstriplizität in Gott: Die Auflösung der idealistischen Identifikation von Wille und Verstand Dass damit einhergehend – beinahe in Antizipation eines eigentlich erst mit Nietzsche verbundenen Gedankens – auch für Schelling das »Wollen […] etwas Complicirtes« 27 und in sich Plurales darstellt, das keineswegs mehr mit einem einheitlichen monistischen Prinzip gleichzusetzen ist, selbst wenn dies der Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) zunächst insinuiert, dies zeigt sich in aller Deutlichkeit wenig später, wenn Schelling die »einzelne[n] Willen, die in einem Urwillen begriffen sind« (AA I,17, 124), entwickelt. Gleichwohl führt das vorangegangene Zitat zugleich bereits die ganze Ambivalenz der schellingschen Schrift von 1809 vor Augen, indem zum einen noch ganz im Sinne des frühidealistischen Prinzipienmonismus von einem »Urwillen« (AA I,17, 124, 125, 134 f., 139) gesprochen wird, andererseits aber die Annahme darin begriffener, ebenso freier und absoluter ›Willen‹ den Monismus des ersteren notwendig infrage stellen muss. Dies macht sich in erster Linie bemerkbar, wenn Schelling den internen ›Willenshaushalt‹ Gottes selbst beschreibt; dann aber auch nochmals, wenn er auf der Ebene des Geschaffenen, nämlich im Falle des Menschen, gleichfalls eine solche Mehrheit an Willen nachweist. Interessanterweise entwickelt Schelling diese Willenspluralität in Gott im Anschluss an die berühmte »Unterscheidung […] zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«, welche laut Schellings eigener Aussage »so alt als die erste wissenschaftliche Darstellung« seiner Naturphilosophie sei (AA I,17, 129). Tatsächlich findet sich denn auch in dem von Schelling 1809 ausdrücklich genannten § 54 der Darstellung von 1801 genau diese Unterscheidung im Bezug auf die Materie. In Form der Schwerkraft sei die »absolute Identität […] unmittelbarer Grund der Realität von A und B in dem primum Existens«, wobei »A und B als seyend in dem pr[imum] E[xistens]« nichts anderes als »Attractivund Expansivkraft«, nämlich die die Materie konstituierenden Kräfte, repräsentierten (AA I,10, 146). Insofern Schelling 1801 dabei eine wechselseitige Angewiesenheit von ›Grund‹ und ›primum Existens‹ denkt, liegt mithin in der Tat ein Rückbezug der Freiheitsschrift auf die Schrift von 1801 vor, 28 welchen jene vermittelt über die spinozisJGB 17, KSA 5, 32. Vgl. dazu – allerdings erst mit Blick auf die Weltalter – Hay 2012, 225. 28 Vgl. dazu genauer Jantzen 1995, 79–81. 27

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tische Figur der causa sui 29 dann gerade mit Blick auf Gott fruchtbar macht: D[er] Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existirt; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen. (AA I,17, 129)

Schelling unterscheidet zwar den ›Grund der Existenz‹ Gottes, dessen ›Natur‹, von ihm als ›Existierendem‹, indem er aber zugleich beide ›Wesen‹ als voneinander ›unabtrennliche‹ behauptet, um der causa sui-Figur Rechnung zu tragen, da »nichts vor oder ausser Gott« sein kann (AA I,17, 129). Schelling nutzt die 1801 getroffene Unterscheidung durch ihre Anwendung auf Gott gewissermaßen als eine ›Operationsfigur‹ zur Lösung der Theodizeefrage, 30 insofern nach Schelling »die Dinge ihren Grund« genau »in dem haben, was in Gott selbst nicht Er Selbst ist, d. h. in dem, was Grund seiner Existenz ist« (AA I,17, 130). Entscheidend für unsere Überlegungen ist nun, dass Schelling hier eine Wendung vollzieht, die scheinbar nur die Darstellungsebene betrifft, indem er »uns dieses Wesen menschlich näher bringen« will (AA I,17, 130). 31 Doch die folgende willenstheoretische Darstellung jenes Verhältnisses der beiden Prinzipien in Gott unternimmt nun auch inhaltlich gerade jene willensmetaphysische Wendung, von der 29 Vgl. Spinoza 1677, 86 f. (pars I, def. 1): »Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentia; sive id, cujus natura non potest concipi, nisi existens. / Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen das Daseyn in sich schliesst, oder das, dessen Natur nicht anders als daseyend begriffen werden kann.« 30 Vgl. dazu insbes. Hermanni 1994. 31 Schelling dürfte sich im Hinblick auf diese Sprechweise »nach Menschen-Art« an Oetinger orientiert haben, der diese mangels anderer Begriffe für Jacob Böhme wie auch für sich selbst reklamiert (Oetinger 1765, 108). In dem Antwortschreiben an Eschenmayer von April 1812 rechtfertigt Schelling außerdem ausführlich seine anthropomorphistische Methode, indem er sie gegen Kants kritische abgrenzt, für welche »alle Anwendung von menschlichen Verstandesbegriffen auf Gott unstatthaft und thöricht ist.« (F. W. J. Schelling an K. A. Eschenmayer, April 1812, SW VIII, 167) Gegen eine solche sich selbst begrenzende Vernunft führt Schelling jedoch ins Feld: »Wenn […] meine Vernunft in dem, was Sie von Gott bejaht, sich über Gott gestellt hätte […], so würde ja die Ihrige [die von Eschenmayer angeführte, sich selbst bescheidende Vernunft, P. H.] in dem, was Sie von Gott verneint, es ebenso, ja noch weit entschiedener thun, indem sie sich a priori, ohne alle Untersuchung, bloß subjektiv über Gott abzuurteilen erlaubt« (SW VIII, 167 f.). Vgl. hierzu Heidegger, HGA 42, 282–285 u. Habermas 1954, 225–231.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

1801 noch mit keiner Zeile die Rede war und die sich erstmals in dem kleinen Aufsatz von 1806 andeutete, der von einem »sich-selberWollen« (SW II, 362) sprach und auch bereits eine daraus hervorgehende dynamische Wechselwirkung zweier »Wesen« (SW II, 368) annahm, ohne diese aber bereits – wie nun explizit 1809 – als ›Willen‹ im Plural anzusprechen. Indem Schelling ein zweites Mal ansetzt und nochmals gleichsam einen ›zweiten Anfang‹ macht, ›übersetzt‹ er nun das zuvor mit dem ›Urseyn‹ gleichgesetzte Wollen (vgl. AA I,17, 123) zunächst in die Metapher der Sehnsucht, die allerdings kein in sich ruhendes Ganzes, sondern vielmehr eine ergänzungsbedürftige Struktur darstellt. So sei »dieses Wesen« – nämlich das, »was in Gott selbst nicht Er Selbst ist« (AA I,17, 130), der »Grund seiner Existenz« – nichts anderes als die »Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären«, eine Sehnsucht, welche »für sich betrachtet auch Wille« sei (AA I,17, 130). 32 Drei Punkte sind hinsichtlich dieser ›Übersetzung‹ hervorzuheben. Erstens belegt sie, dass mit dem Satz ›Wollen ist Urseyn‹, wie oben bereits angedeutet, in der Tat Schellings Urteilstheorie zu verbinden ist, der zufolge das Urteil keine einfache Identität, sondern vielmehr ein Grund-Folge-Verhältnis oder eine Entfaltungsbewegung darstellt. Das Wollen respektive die Sehnsucht sind nicht einfach mit dem ›Urseyn‹ respektive dem wirklichen ›Geborensein‹ identisch, sondern letzteres stellt vielmehr erst eine Folge des ersteren dar. Zweitens unterstreicht diese Passage aber auch nochmals, dass die anfängliche Struktur noch nicht als in sich reflektierter Wille zu fassen ist, sondern lediglich, mit Frankfurt gesprochen, ein ›first-order desire‹. 33 Auch wenn Schelling hier nicht wie zuvor zwischen allem Sein zugesprochenem ›Wollen‹ und ›Wille‹ als lediglich ›letztem poSchelling greift hier vermutlich zum einen auf Plotins Bild einer »ὑποστάσεως ἔφεσις [Sucht nach Stofflichkeit]« zurück (Plotin, Enneade III,6, 7, 13); zum anderen dürfte er sich an Böhmes Vorstellung einer mit dem »ewigen Anfang« verbundenen »Sucht nach Etwas« oder »begehrende[n] Sucht« (Böhme 1620a, 97 (Kap. 1)) sowie an Oetingers Bemerkung, dass »von Ewigkeit […] Sehnen, Wollen, Begehren« seien (Oetinger 1765, 102), orientiert haben. Dass Schelling von ›Sehnsucht‹ und nicht von ›Sucht‹ spricht, hat sicherlich nicht zuletzt mit seiner davon abzugrenzenden Bestimmung des Bösen als »Selbstsucht« (AA I,17, 155) zu tun. Vgl. dazu auch Buchheims Anmerkung in Schelling 1997, 122 f. 33 Frankfurt 1988, 16. Vgl. auch Noller 2015, 316 f. 32

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tenzierendem Akt‹ begrifflich unterscheidet (vgl. AA I,17, 123), so behält er doch diese Differenzierung der Sache nach bei, wenn er jene Sehnsucht als einen »Wille[n]« versteht, »in dem kein Verstand ist«, der also »nicht ein bewußter, sondern ein ahndender Wille« ist und der »darum auch nicht [als, P. H.] selbständiger und vollkommener Wille« anzusehen ist (AA I,17, 130 f.). Letzteres sei jener verstandlose Wille der Sehnsucht erst zusammen mit dem Verstand als dem gleichsam ›potenzierenden‹ »Wille[n] in dem Willen« (AA I,17, 131), aus deren Verbindung erst der »freyschaffende[…] und allmächtige […] Wille« hervorgehe (AA I,17, 132). Mit jener Struktur eines verstandlosen Willens löst Schelling – darin bereits auf Schopenhauer vorausweisend 34 – nichts weniger als die von Kant bis Hegel durchgehend behauptete Verklammerung von Wille einerseits sowie Verstand und Vernunft andererseits auf, ohne diese Verklammerung dabei aber einfach gänzlich zurückzuweisen – bezeichnet doch jener verstandlose Wille nur die erste Stufe in Schellings ›Phänomenologie des Willens‹ von 1809. 35 Gleichwohl verhält es sich umgekehrt nach Schelling aber auch nicht so, dass dieser erste, verstandlose Wille einmal gänzlich durch den Verstand als »Wille[n] in dem Willen« (AA I,17, 131) überwunden werden könnte. Vielmehr liege »immer […] noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen« (AA I,17, 131) Dieses ›Regellose‹ sei daher gar »die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt« (AA I,17, 131). Schelling geht hierbei sogar noch einen Schritt weiter, wenn er jene ›unergreifliche Basis aller Realität‹ zugleich als eine der Sichtbarkeit entzogene Struktur begreift, aus der allererst das Sichtbare und Unterscheidbare hervorgehe: »Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht. […] Der Mensch wird im Mutterleibe gebildet; und aus dem Dunkeln des Verstandlosen (aus Gefühl, Sehnsucht, der herrlichen Mutter der Erkenntniß) erwachsen erst die lichten Gedanken.« (AA I,17, 131) Schelling übernimmt hier zwar ein Bild Oetingers, der ebenfalls von einer »Geburt, oder Transformation der Finsterniß in Licht« ausgeht. 36 Gleichwohl

Vgl. unten, Teil IV, Kap. 5. Vgl. dazu Horn/Ramelow/Hühn/Gabriel/Schlotter/Roughley 2001, 784–789. 36 Oetinger 1765, 8. Vgl. auch Oetinger 1765, 5: »Wir sind im Finstern gebohren, und unser denckendes Leben entzündet sich in Mutter-Leib aus der Finsterniß; und wann wir geboren sind, so ist der Verstand nicht gleich da, sondern er wird formirt und 34 35

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findet sich das Motiv einer ursprünglichen, in sich indifferenten »Nacht des Absoluten«, die sich erst durch die ›Form‹ des Absoluten »für die Erkenntniß in Tag verwandele« (SW IV, 404), 37 bereits in Schellings Ferneren Darstellungen von 1802 – also erstaunlicherweise fünf Jahre vor Hegels Kritik derselben in der Phänomenologie. 38 Darüber hinaus bringt Schelling 1809 dieses gleichsam erste ›Moment‹ des Absoluten als einer indifferenten und daher ›dunklen‹ Sehnsucht mit der platonischen ›χώρα‹ in Verbindung: 39 So also müssen wir die ursprüngliche Sehnsucht uns vorstellen, wie sie zwar zu dem Verstande sich richtet, den sie noch nicht erkennt, wie wir in der Sehnsucht nach unbekanntem namenlosem Gut verlangen, und sich ahndend bewegt, als ein wogend wallend Meer, der Materie des Platon gleich, nach dunkelm ungewissem Gesetz, unvermögend etwas Dauerndes für sich zu bilden. (AA I,17, 131 f.)

Doch wie die vorausgehenden Zitate bereits andeuten, ist diese verstandlose, dunkle, formlose Sehnsucht nur das eine zweier von Schelling angenommener ursprünglicher Prinzipien, die in ihrer Gegensätzlichkeit gerade nicht aufeinander reduzierbar sind. Diese

gebildet durch die Sprache aus der Dunckelheit in das Licht, das wir potentialiter in Mutter-Leib vor den Thieren zu unserm Erbtheil empfangen.« 37 Vgl. auch SW IV, 404 f.: »Das Wesen des Absoluten an und für sich offenbart uns nichts, es erfüllt uns mit den Vorstellungen einer unendlichen Verschlossenheit, einer unerforschlichen Stille und Verborgenheit, wie die ältesten Formen der Philosophie den Zustand des Universums schildern, ehe der, welcher das Leben ist, durch den Akt seiner selbstanschauenden Erkenntniß hervorging in eigener Gestalt. Diese ewige, dem Absoluten selbst gleiche Form ist der Tag, in welchem wir jene Nacht und die in ihr verborgenen Wunder begreifen, das Licht, in dem wir das Absolute klar erkennen, der ewige Mittler, das allsehende und alles offenbarende Auge der Welt, der Quell aller Weisheit und Erkenntniß.« 38 Vgl. Phän., GW 9, 17: »Dieß Eine Wissen, daß im Absoluten Alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntniß entgegenzusetzen, – oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntniß.« 39 Vgl. Platon, Timaios, 48e–50b. Die platonische ›χώρα‹ interpretiert Schelling bereits 1794 in seinem Timaios-Aufsatz als eine ungeformte Urmaterie, als »etwas der reinen Form der Gesezmäßigkeit im göttlichen Verstande widersprechendes« (AA II,5, 154). Platon durch die ›Brille‹ Kants lesend, versteht Schelling in der Frühschrift diese ›dritte Seinsart‹ jedoch wenig später zugleich als »allem Wechsel zu Grund liegende[…] Substanz, ohne doch jemals zu dieser selbst hindurchdringen zu können, weil sie nämlich bloße Form des Verstandes ist, die wir in die Erscheinungen hineinlegen« (AA II,5, 195). Vgl. dazu auch Hutter 2002, 332 f.

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Nichtreduzierbarkeit beider Willensformen gegeneinander verweist denn auch auf den dritten bezüglich jener ›Übersetzung‹ zu betonenden Punkt. Schließlich und insbesondere belegt diese ›Übersetzung‹ somit auch, dass das Wollen oder der Wille hier nicht mehr als monistisches Prinzip interpretiert werden kann und dass somit ein Prinzipienmonismus von vornherein ausgeschlossen ist. Denn die Sehnsucht wird hier als von dem noch nicht wirklich existierenden ›Einen‹ abzuhebende ›Empfindung‹ eingeführt. Die Sehnsucht sei – so betont Schelling – »nicht das Eine selbst, aber doch mit ihm gleich ewig« (AA I,17, 130). Zwar scheint es stellenweise so, als würde Schelling immer noch einem Prinzipienmonismus das Wort reden wollen, was dann auch zumindest die frühen Weltalter-Entwürfe nochmals explizit zu versuchen unternehmen werden. 40 Dies zeigt sich etwa gerade, wenn Schelling 1809 sagt, »das ewige Eine empfinde[…]« jene Sehnsucht (AA I,17, 130), verstand doch Schelling zumindest 1800 das ›Empfinden‹ sogar noch als ein bloßes ›In-sich-Finden‹ im Gegensatz zu einem wahrhaften ›Entgegengesetzt-Sein‹. 41 Auch heißt es wenig später, dass sich »das Höhere [der Verstand, P. H.] aus ihm [dem Wesen der Sehnsucht, P. H.] erhoben« habe (AA I,17, 131). Jedoch ist zum einen bezüglich jenes nicht mit dem Verstand zu identifizierenden ›Einen‹ 42 zu bemerken, dass dieses einen durchaus prekären Status hat, insofern es sich erst noch »selbst […] gebähren« muss (AA I,17, 130) und es damit einer Wirklichkeit zu entbehren scheint, auf deren Fehlen gerade die Sehnsucht hinweist. Zum anderen lässt die Rede von einem ›Sich-erheben‹ des Verstandes aus der Sehnsucht immer noch offen, von woher gleichsam der Entstehungsimpuls hierzu kommt, kann dieser doch nicht einfach wieder ›Produkt‹ jenes ›empfundenen‹ Mangels in Form der Sehnsucht sein. Vgl. unten, Teil II, Kap. 2.1. Vgl. AA I,9,1, 97 f.: »Es wird nicht behauptet, es sey im Ich Etwas ihm absolut entgegengesetztes; sondern das Ich finde in sich Etwas als ihm absolut entgegengesetzt. Das Entgegengesetzte ist im Ich, heißt: es ist dem Ich absolut entgegengesetzt; das Ich findet Etwas als sich entgegengesetzt, heißt: es ist dem Ich entgegengesetzt nur in Bezug auf sein Finden, und die Art dieses Findens; und so ist es auch.« 42 Jenes ›Eine‹, das Schelling explizit von »Gott« als der in sich differenzierten, »unergründliche[n] Einheit« abhebt (AA I,17, 130; Herv. v. Verf.), scheint als ein solch prekärer Einheitsgarant bereits auf die Struktur des ›Ungrundes‹ vorauszuweisen (vgl. AA I,17, 170–172). 40 41

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Bei der ausdrücklichen Einführung des zweiten Prinzips, nämlich des Verstandes als des »Wille[ns] in dem Willen« (AA I,17, 131), wählt Schelling dann auch eine die beiden Prinzipien ausdrücklich auf eine Stufe stellende Formulierung, nämlich dass »entsprechend der Sehnsucht« in Gott das zweite Prinzip ›sich erzeuge‹ (AA I,17, 132). Schelling beschreibt dieses Prinzip dabei zunächst als »reflexive Vorstellung«, die jedoch »zugleich der Verstand« sei (AA I,17, 132). Denn der Verstand ›antwortet‹ ja gerade – als »Wort 43 des Räthsels« (AA I,17, 132 Anm.), wie Schelling verdeutlichend hinzufügt – auf das Streben der Sehnsucht nach einer Selbstverwirklichung, die im Falle des nichts außer sich habenden Absoluten nur im Akt einer Selbstreflexion liegen kann, 44 weshalb Schelling den Verstand auch als ›potenzierte‹ Form des Willens der Sehnsucht, nämlich als »Wille in dem Willen« (AA I,17, 131) bezeichnen kann. Doch nach Schelling geht diese ›reflexive Vorstellung‹ nicht im Verstand auf, sondern bezeichnet zugleich ein Doppeltes – ganz im Sinne der Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes ›Vorstellung‹, das sich sowohl auf den Vorstellungsakt als auch auf den Vorstellungsinhalt beziehen kann: Diese [reflexive, P. H.] Vorstellung ist das erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst, sie ist im Anfange bei Gott, und der in Gott gezeugte Gott selbst. Diese Vorstellung ist zugleich der Verstand – das Wort jener Sehnsucht,* und der ewige Geist, der das Wort in sich und zugleich die unendliche Sehnsucht empfindet, von der Liebe bewogen, die er selbst ist, spricht das Wort aus, daß nun der Verstand mit der Sehnsucht zusammen freyschaffender und allmächtiger Wille wird und in der anfänglich regellosen Natur als in seinem Element oder Werkzeuge bildet. [*In dem Sinne, wie man sagt: das Wort des Räthsels.] (AA I,17, 132)

Jene ›reflexive Vorstellung‹ ist nur in einer Hinsicht der Verstand, nämlich als das auf die bewusstlose Sehnsucht antwortendes ›Wort‹, das deren Strebenstendenz auf den Begriff und somit zu Bewusstsein bringt. Die Anspielung auf den Johannesprolog 45 zeigt indessen: In Mit der Bestimmung des Verstandes respektive jener ›reflexiven Vorstellung‹ als »im Anfange bei Gott« seiendes ›Wort‹ (AA I,17, 132), das unverkennbar auf Joh 1,1 anspielt, bezieht Schelling natürlich gleichzeitig auch Überlegungen zur einer spekulativen Interpretation der Trinität mit ein. Vgl. dazu Hennigfeld 2001, 67 f. 44 Vgl. zu diesem ›Erwachen der Reflexion‹ auch Hennigfeld 2001, 66–68, der diese Struktur pointiert in folgenden Worten beschreibt: »Absolute Reflexion ist Selbstzeugung« (Hennigfeld 2001, 67). 45 Vgl. Joh 1,2. 43

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anderer, weiterer Hinsicht – nämlich den Vorstellungsinhalt mit einbeziehend – ist nach Schelling diese Vorstellung zugleich ›das Erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist‹, also jener ›ewige Geist‹ selbst, der die beiden anderen Willensformen des ›Willens der Sehnsucht‹ und des ›Willens des Verstandes‹ zusammenführt, woraus nach Schelling dann allererst der ›freischaffende und allmächtige Wille‹ zu entstehen vermag. 46 Erst dieser dritte, zusammengesetzte Wille, den Schelling auch als ›Willen der Liebe‹ bezeichnet, da er durch die von sich selbst absehende Liebe ›bewogen‹ ist, führt Schelling zufolge zu wirklicher ›Handlung und Tat‹ und setzt somit einen zweiten, wirklichen Anfang gegenüber jenem sich noch selbst suchenden Willen der Sehnsucht, nämlich – im Falle Gottes – einen Anfang der Schöpfung: Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebähren, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen wird, und durch den Gott sich erst persönlich macht. Der Wille des Grundes kann daher nicht frey seyn in dem Sinne, in welchem es der Wille der Liebe ist. Er ist kein bewußter oder mit Reflexion verbundener Wille, obgleich auch kein völlig bewußtloser, der nach blinder mechanischer Nothwendigkeit sich bewegte, sondern mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust, und am ehesten dem schönen Drang einer werdenden Natur vergleichbar, die sich zu entfalten strebt, und deren innere Bewegungen unwillkürlich sind (nicht unterlassen werden können), ohne daß sie doch sich in ihnen gezwungen fühlte. Schlechthin freyer und bewußter Wille aber ist der

Schelling behält diese Triplizität von Wille, Verstand und Geist übrigens bis in die zweite Münchener Zeit (1827–1841) bei, wie das laut Aussage des Sohnes (vgl. SW X, VII) aus dieser Zeit stammende Anthropologische Schema zeigt, in welchem jedoch Verstand und Geist nicht mehr als Willensformen beschrieben werden (vgl. SW X, 287–294). Auch in der Georgii-Nachschrift der Stuttgarter Privatvorlesungen wird sie noch klarer als in der Freiheitsschrift expliziert: »Das Allgemeine des Geistes ist bewusste Begierde, und Wille, in dem eine dreifache Seite zu betrachten ist! a.) der Eigenwille, oder das Untergeordnete, wodurch der Mensch gegen sich selbst gekehrt ist. (reale Seite). Er ist nicht an sich selbst das Böse, sondern das nothwendige Organ des Guten, insofern alles einen Gegensaz erfordert. Daher eine Nothwendigkeit des Bösen im Guten eintritt. Das wahre Gute ist, was der überwältigte Eigenwillen enthält. b.) Der Verstand, als das Ideale, stehet dem Eigenwillen entgegen. Ohne ihn wäre der Eigenwille blind, durch ihn erhält er sich zum besonnenen Willen. c.) der eigentliche Wille ist der Indifferenz Punkt zwischen Verstand und Eigenwillen.« (AA II,8, 159) Vgl. zu dieser – zumeist übersehenen – Willenstriplizität auch Pieper 1995, 93–102.

46

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Wille der Liebe, eben weil er dieß ist; die aus ihm folgende Offenbarung ist Handlung und That. Die ganze Natur sagt uns, daß sie keineswegs vermöge einer bloß geometrischen Nothwendigkeit da ist; es ist nicht lautere reine Vernunft in ihr, sondern Persönlichkeit und Geist (wie wir den vernünftigen Autor vom geistreichen wohl unterscheiden); sonst hätte der geometrische Verstand, der so lange geherrscht hat, sie längst durchdringen und sein Idol allgemeiner und ewiger Naturgesetze mehr bewahrheiten müssen […]. (AA I,17, 161)

Während der ›Wille des Grundes‹ oder der Sehnsucht ›kein bewusster‹ und reflektierter Wille sei, ohne jedoch ›völlig bewusstlos‹ zu sein, ist der ›Wille der Liebe‹ hingegen ›frei und bewusst‹, ohne jedoch mit einer ›lauteren reinen Vernunft‹ oder einem ›geometrischen Verstand‹ identisch zu sein, integriert er doch vielmehr den ersten Willen, den ›Willen des Grundes‹ als seine von ihm unabtrennbare Voraussetzung in sich. Wenn auch in einem anderen Kontext situiert, so weist doch diese Konzeption eines ›freien und bewussten Willens‹, der – wie Schelling betont – dem eines ›geistreichen Autors‹ ähnele, eine Analogie zu dem bewusste und bewusstlose Tätigkeit in sich vereinigenden Handeln des Künstlers auf, wie es 1800 im sechsten Hauptabschnitt des Systems des transscendentalen Idealismus beschrieben wurde. 47 Schelling selbst betont 1809 ausdrücklich die Parallelität dieses göttlichen Schöpfungshandelns zu dem nicht allein künstlerischen, sondern menschlichen Handeln überhaupt: Die erste Wirkung des Verstandes in ihr [der anfänglich regellosen Natur als seinem Element oder Werkzeug, P. H.] ist die Scheidung der Kräfte, indem er nur dadurch die in ihr unbewußt, als in einem Samen, aber doch nothwendig enthaltene Einheit zu entfalten vermag, so wie im Menschen in die dunkle Sehnsucht, etwas zu schaffen, dadurch Licht tritt, daß in dem chaotischen Gemenge der Gedanken, die alle zusammenhängen, jeder aber den andern hindert hervorzutreten, die Gedanken sich scheiden und nun die im Grunde verborgen liegende, alle unter sich befassende Einheit sich erhebt […]. (AA I,17, 132)

Jener ›freischaffender Wille‹ entsteht mithin aus der Sicht Schellings sowohl in Gott als auch im Menschen dadurch, dass der ›Wille des Verstandes‹ – genauso wie Schelling es bereits 1794 in seinem Timaeus-Aufsatz mit Blick auf die platonischen ›χώρα‹ beschrieben hatte 48 – in der ›anfänglich regelosen Natur‹ der Sehnsucht wirkt, 47 48

Vgl. oben, Teil I, Kap. 4.3. Vgl. AA II,5, 154: »Insofern sich nun die Form, die Gott der Welt mitteilte, nur auf

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und zwar derart, dass der Verstand gleichsam zwischen den ›chaotischen Gedanken‹ differenziert, sie ›scheidet‹ und dabei der ja bereits vorhandenen Strebenstendenz der Sehnsucht ein strukturiertes, ›einheitliches‹ Ziel gibt. Abgesehen von der damit verfolgten, auf Leibniz aufbauenden Lösung der Theodizeefrage, 49 schließt Schelling mit dieser in sich pluralen Willenskonzeption indirekt zugleich in doppelter Hinsicht an Schiller an. Zum einen bezieht Schelling sich mit dieser sowohl in Gott als auch im Menschen angenommenen Dreiheit an Willen, dem ›Willen der Sehnsucht‹, dem ›Willen des Verstandes‹ und dem beide vereinigenden ›freischaffenden Willen‹, auf Schillers Konzeption von ›Stofftrieb‹, ›Formtrieb‹ und ›Spieltrieb‹, wie dieser sie in seinen Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen entwickelte; 50 zum anderen antwortet er mit dieser Konzeption implizit aber auch auf Schillers Kritik an Kants scheinbar alle Neigung ausschließenden Pflichtbegriff, welche jener etwa programmatisch in den berühmten beiden Distichen der zusammen mit Goethe verfassten Xenien sowie insbesondere in Ueber Anmuth und Würde artikulierte. 51 Denn die Form der B e w e g u n g der Welt bezog, so mußte die Welt u r s p r ü n g l i c h , unabhängig von Gott ein eigentümliches Princip der Bewegung haben, das als Princip, das der Materie angehört, aller Regel- und Gesezmäßigkeit wiedersprach und erst durch die Form (περας) die der göttliche Verstand ihm gab, in die Schranken der Gesezmäßigkeit gebracht wurde.« 49 Vgl. dazu unten, Teil II, Kap. 1.2. 50 Vgl. Schiller 1795, 614–616 (15. Brief). – Gleichwohl sind neben dieser Parallelität auch zwei gewichtige Unterschiede beider Konzeptionen zu benennen: Während zum einen für Schiller der dritte Trieb, der ›Spieltrieb‹, erst gleichsam nachträglich wirksam wird, ist bei Schelling der dritte Wille von Anfang an präsent, was wiederum mit der zweiten Differenz beider Konzeptionen zu tun hat; denn zum anderen ermöglicht für Schelling im Gegensatz zu Schiller – zumindest im Falle des Menschen – der dritte Wille gerade die Etablierung eines Verhältnisses zu den beiden ersten und damit auch eine variable Hierarchisierung derselben, die entweder zum Tun des Guten oder des Bösen führen kann. Vgl. zu diesem Schillerbezug auch Pieper 1995, 95 Anm. 51 Vgl. Goethe/Schiller 1797, 299 f.: »Gewissensskrupel / Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin. / Decisum / Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, / Und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.« Ausführlicher legt Schiller diese Kritik an Kants Moralkonzeption bekanntlich in Ueber Anmuth und Würde dar: »Aber so wie die Grundsätze dieses Weltweisen [Kants, P. H.] von ihm selbst und auch von Andern pflegen vorgestellt zu werden, so ist die Neigung eine sehr zweideutige Gefährtin des Sittengefühls, und das Vergnügen eine bedenkliche Zugabe zu moralischen Bestimmungen. Wenn der Glückseligkeitstrieb auch keine blinde Herrschaft über den Menschen behauptet, so wird er doch bei dem sittlichen

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

Schelling zeigt 1809 mit seiner nicht nur für Gott, sondern auch den Menschen Geltung beanspruchenden Konzeption auf, dass ›Neigung‹ und ›Pflicht‹ oder, mit Schelling gesprochen, ›Wille der Sehnsucht‹ und ›Wille des Verstandes‹ sowie – wie es bei Schelling wenig später mit Blick auf den Menschen heißt – ›Eigenwille‹ und ›Universalwille‹ zum Tun des Guten in der richtigen Hierarchisierung gerade zusammenwirken müssen. Für Schelling kommt mithin dem unverrückbar auf das Gute ausgerichteten Handeln Gottes und dessen internem Willenshaushalt die Rolle eines Ideals zu, das der Mensch im Bösen immer schon verfehlt – und zwar nicht, indem er allein der Neigung des ›Eigenwillens‹ folgt, sondern indem er eine falsche Hierarchisierung beider Willen vornimmt, wie im Folgenden noch darzulegen sein wird. Damit ist aber die Annahme einer Willenspluralität in Gott nicht allein als anthropomorphistische Übertragung zu werten, sondern fungiert gleichzeitig auch durch ihre generell richtige, nämlich auf das Gute bezogene Binnenhierarchisierung als Korrektiv für die verfehlte Freiheit im Falle des Menschen. Wie Schelling nämlich noch zeigen wird, ist diese in Gott als notwendig angenommene Vereinigung des ›Willens des Verstandes‹ mit dem ›Willen der Sehnsucht‹, der ihm ursprünglich untergeordnet ist und als »Werkzeug[…]« (AA I,17, 132) dient, im Falle des Menschen – im Unterschied zu Gott – eine durchaus prekäre, die daher auch zum Phänomen des ›radikal Bösen‹ führen kann.

Wahlgeschäfte gerne mitsprechen wollen und so der Reinheit des Willens schaden, der immer nur dem Gesetze und nie dem Triebe folgen soll. Um also völlig sicher zu sein, daß die Neigung nicht mitbestimmte, sieht man sie lieber im Krieg, als im Einverständniß mit dem Vernunftgesetze, weil es gar zu leicht sein kann, daß ihre Fürsprache allein ihm seine Macht über den Willen verschaffte. Denn da es beim Sittlichhandeln nicht auf die Gesetzmäßigkeit der Thaten, sondern einzig nur auf die Pflichtmäßigkeit der Gesinnungen ankommt, so legt man mit Recht keinen Werth auf die Betrachtung, daß es für die erste gewöhnlich vorteilhafter sei, wenn sich die Neigung auf Seiten der Pflicht befindet.« (Schelling 1793, 463 f.) Schiller selbst geht es hingegen um einen »Zustand des Gemüths, wo Vernunft und Sinnlichkeit – Pflicht und Neigung zusammenstimmen«, und der allein »die Bedingung sein [wird], unter der die Schönheit des Spiels erfolgt« (Schiller 1793, 463). – Zu Schillers Kant-Kritik vgl. auch Henrich 2001, 25–28 u. 45–47, Höffe 2007, 201–206 u. Noller 2015, 236–260.

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Die Pluralisierung und Kritik des Wollens in der Freiheitsschrift

1.1.3. Die verkehrbare Willensdualität im Menschen: Zur Uminterpretation der kantischen ›intelligiblen Tat‹ Dass Schelling – geradezu einen nietzscheschen Gedanken antizipierend 52 – auch im Falle des Menschen eine Mehrheit an Willen annimmt, 53 ist eine Folge aus Schellings oben bereits angedeuteter Fortbestimmung des »formellen Begriff[s] der Freiheit« zu einem »reale[n] und lebendige[n] Begriff« derselben, welchen er als »Vermögen des Guten und des Bösen« fasst (AA I,17, 125). Diese Neudefinition der spezifisch menschlichen Freiheit ergibt sich für Schelling aus der Tatsache, dass Wille und Freiheit durch den Idealismus – und insbesondere in Gestalt von Schellings eigener Frühphilosophie – zum »positive[n] Begriff des An-sich« ausgeweitet worden sind, 54 wodurch die Frage nach der »spezifische[n] Differenz« zwischen allgemeiner und spezifisch menschlicher Freiheit erneut virulent wird (AA I,17, 124). Denn erst wenn auch die individuelle Freiheit des Menschen sichergestellt ist, kann die von Schelling gleich zu Beginn der Freiheitsschrift aufgestellte Behauptung als argumentativ eingelöst gelten, »daß, da die individuelle Freyheit doch auf irgend eine Weise mit dem Weltganzen […] zusammenhängt, irgend ein System, wenigstens im göttlichen Verstande, vorhanden seyn muß, mit dem die Freyheit zusammenbesteht« (AA I,17, 111). Wie wir gesehen haben, sucht Schelling diese Position 1809 in zwei Argumentationsschritten gegen Jacobis und Schlegels Schlussfolgerung zu verteidigen, welcher zufolge »das einzig mögliche System der Vernunft […] Pantheismus [sey], dieser aber unvermeidlich Fatalismus« (AA I,17, 113): So hatte Schelling zunächst im Rückgang auf das Wesen der Kopula ein Konzept von Identität angeführt, das auch eine ›derivierte Absolutheit‹ zuließ, um daraufhin aufzuzeigen, dass dieses wiederum nur vor dem Hintergrund eines dynamischen Systemfundamentes möglich ist. Doch ein solches Freiheit und System vereinigendes Fundament ist nach Schelling nicht in der von Fichte vorgeschlagenen Weise eines theoretisch alles aus sich deduzierenden ›absoluten Ichs‹ zu finden, welches praktisch nur durch ein perennierendes Sollen mit dem unerreichbaren Ziel eines Nach-

52 53 54

Vgl. JGB 19, KSA 5, 31–34. Vgl. dazu auch Pieper 1995, 93–102. Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.1.1.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

weises, dass »die Ichheit alles« sei (AA I,17, 124), denkbar wäre. 55 Schelling zufolge ist eine adäquate Vereinigung von Freiheit und System nur in der Fichte genau entgegengesetzten Weise möglich, indem man den Begriff der Freiheit nicht auf den der Ichheit restringiert, sondern zeigt, »daß alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Thätigkeit, Leben und Freyheit zum Grund habe« (AA I,17, 124). Diesen von Schelling selbst in seiner Frühphilosophie entwickelten ›allgemeinen Begriff der Freiheit‹, den er 1809 in dem Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) rekapituliert, muss er dabei aber als systematisch vereinbar mit »in einem Urwillen« begriffenen »einzelne[n] Willen« (AA I,17, 124) und insbesondere mit dem spezifisch menschlichen freien Willen erweisen, da nur so auch Freiheit für ›alles Wirkliche‹ und nicht allein für das alles bestimmende Prinzip garantiert ist, wie dies etwa noch 1804 für Schellings Identitätsphilosophie galt. 56 Die Möglichkeitsbedingung hierfür hat Schelling bereits im Konzept der ›derivierten Absolutheit‹ sowie durch die Annahme einer Pluralität an Willen in Gott selbst grundgelegt, welche allesamt grundlos sind, ohne dass sie sich aber gegeneinander ausschließen, sondern vielmehr einander bedürfen. Daran anknüpfend sucht nun Schelling auch den menschlichen ›Willenshaushalt‹ in seinem Verhältnis zum göttlichen zu konturieren. Zugleich mit dieser Neudefinition der menschlichen Freiheit, die vereinbar sein soll mit dem von Schelling aufgestellten Systemganzen, will Schelling aber das von Kant vorgegebene Reflexionsniveau in der Freiheitsfrage unter allen Umständen beibehalten. Denn in den Augen Schellings hat insbesondere der kantische »Idealismus […] die Lehre von der Freyheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein verständlich ist«, indem er nämlich das »intelligible Wesen […] des Menschen […] außer allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit« situiert hat (AA I,17, 151; vgl. auch SW VII, 124 f.). Gleichwohl ist für eine Übernahme des kantischen Begriffes der menschlichen Freiheit in Gestalt der »intelligibele[n] That« (vgl. Rel., A 23/B 26) eine Modifikation desselben erforderlich, insofern Kant eben nicht mehr die von Schelling gestellte Frage des Zusammen-

Zu Schellings Fichtekritik in der Freiheitsschrift vgl. insbes. Jacobs 1995, 135–148 sowie generell Hühn 1994a, 225 f. 56 Vgl. etwa SW VI, 539. Vgl. dazu oben, Teil I, Kap. 5.1. 55

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hangs und der Vereinbarkeit dieser ›That‹ mit dem ganzen System im Blick gehabt hat. 57 Es handelt sich bei Schellings Reformulierung des kantischen Freiheitsbegriffes mithin nicht um eine bloße Abweichung auf ›Ausdrucks‹-Ebene um der besseren ›Verständlichkeit‹ willen, wie Schelling selbst glauben machen möchte. 58 Zwar schließt sich Schelling zunächst einmal grundsätzlich der von Kant in seiner späten Religionsschrift formulierten Konzeption des »Hang[es] zum Bösen« als eines »subjektiven Bestimmungsgrund[es] der Willkür, der vor jeder Tat vorhergeht« (Rel., A 22/B 25) und daher »bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar« sei (Rel., A 23/B 26), an. 59 Schelling übernimmt auch Kants Bestimmung, der zufolge durch jene ›intelligible Tat‹ »die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen« werde und diese Tat mithin streng von allen empirischen »Handlungen selbst«, die »jener Maxime gemäß ausgeübt werden«, zu unterscheiden sei – und zwar derart streng, dass die mit der ersteren Tat möglicherweise eingegangene »Verschuldung bleibt, wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) vielfältig vermieden würde« (Rel., A 24/B 25). Schelling spielt auf diese kantische Position explizit an, wenn er bemerkt, dass Kant, der sich zu einer transcendentalen alles menschliche Seyn bestimmenden That in der Theorie nicht erhoben hatte, durch bloße treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urtheils in späteren Untersuchungen auf die Anerkennung eines, wie er sich ausdrückt, subjektiven, aller in die Sinne fallenden That vorangehenden Grundes der menschlichen Handlungen, der doch selbst wiederum ein Aktus der Freiheit seyn müsse, geleitet wurde […]. (AA I,17, 155)

Selbst die kantische Schlussfolgerung, dass eine grundsätzlich Korrektur jener ›intelligiblen Tat‹ durch das auf empirischer Ebene verortete Handeln unmöglich sei, übernimmt Schelling in sogar noch verschärfter Form, wenn er betont, dass jene Tat »alle Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, für dieses Vgl. dazu Jacobs 1995, 147. Vgl. AA I,17, 151: »Wir drücken nämlich den Kantischen Begriff nicht eben genau mit seinen Worten, aber doch so aus, wie wir glauben, daß er, um verständlich zu seyn, ausgedrückt werden müsse.« 59 Dies zeigt sich bereits daran, dass Schelling Kants Rede von einem ›Hang zum Bösen‹ übernimmt (vgl. AA I,17, 149, 154). 57 58

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Leben wenigstens abschneide«, weshalb zur Umwendung »jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser und kein anderer ist«, der Mensch gar »einer Hülfe bedarf« (AA I,17, 156). 60 Doch hierin deutet sich bereits der entscheidende Schritt über Kant hinaus an: Schelling interpretiert nämlich anders als Kant jene außerzeitliche Tat als menschliche Entscheidung für ein bestimmtes Verhältnis zu einem diesem vorausgehenden Grund. So liege ebenfalls »schon in jener anfänglichen Handlung«, dass der Mensch »dem guten Geist jene Einwirkung verstattet, sich ihm nicht positiv verschließt« (AA I,17, 156). Doch fällt Schelling damit keineswegs hinter die – wie Dieter Henrich es einmal nannte – »erste kopernikanische Wendung« 61 Kants hinsichtlich der Willensautonomie zurück. So wird doch ausdrücklich betont, dass jenes »gute Princip« nichts dem Menschen Äußerliches und ihn zur Heteronomie Führendes sei, sondern vielmehr »die innere Stimme seines eignen, in Bezug auf ihn, wie er jetzt ist, besseren Wesens«, welche »nie aufhört ihn dazu aufzufordern« (AA I,17, 156). Gleichwohl kehrt Schelling gleichzeitig – deutlicher als Kant – die gerade auch der ›Achtung vor dem Gesetz‹ 62 eingeschriebene »Einheit von Distanz und Wesensgleichheit« 63 hervor, indem er betont: Es ist im strengsten Verstande wahr, daß, wie der Mensch überhaupt beschaffen ist, nicht er selbst, sondern entweder der gute oder der böse Geist in ihm handelt; und dennoch thut dieß der Freyheit keinen Eintrag. Denn eben das in-sich-handeln-Lassen des guten oder bösen Princips ist die Folge der intelligiblen That, wodurch sein Wesen und Leben bestimmt ist. (AA I,17, 156)

Schelling schließt mit der Rede von einem ›guten und bösen Princip‹ zwar unverkennbar an Kants Religionsschrift an (vgl. Rel., A 61–116/ B 67–124). Jedoch verleiht er ihr eine ganz eigene Akzentuierung, Zu dem damit einhergehenden tragischen Zug der ›intelligiblen Tat‹ bei Schelling vgl. genauer unten, Teil II, Kap. 1.2. 61 Henrich 2001, 16. 62 Vgl. dazu bei Kant insbes. GMS, AB 16 f. Anm. So ist zwar Kant zufolge Achtung »kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl«; gleichwohl sei »Gegenstand der Achtung […] das Gesetz«, dem wir gerade »[a]ls Gesetz […] unterworfen« sind (GMS, AB 16). Heidegger spricht angesichts dieser Gleichzeitigkeit von selbstgewirkter Einheit und Distanz implizierender Unterwerfung sogar von einer »gegenstrebige[n] Doppelrichtung in der intentionalen Struktur der Achtung als ein sichunterwerfendes Sicherheben« (HGA 24, 192). 63 Henrich 2001, 44. 60

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indem er nicht wie Kant diese sittlichen Prinzipien einfach mit einer durch den Menschen willentlich einzunehmenden ›Gesinnung‹ identifiziert, sondern vielmehr als ›in-sich-handeln-Lassen des guten oder bösen Princips‹ bestimmt – in bis in die Formulierung hinein vergleichbarer Weise übrigens mit Martin Heidegger, der 1927 in Sein und Zeit das Verstehen des Gewissensrufes als »In-sich-handelnlassen des eigensten Selbst aus ihm selbst« deutet (HGA 2, 391 f.). 64 Mit dieser von Kant abweichenden Bestimmung geht es Schelling keineswegs darum, ›der Freiheit Eintrag zu tun‹ und sie etwa wie Luther in De servo arbitrio gänzlich zu leugnen. 65 Vielmehr zielt er auf eine Umbestimmung des in der ›intelligiblen That‹ vollzogenen Freiheitsaktes von einem Akt der Willensautonomie zu einem solchen der ›Zu-lassung‹ ab, der ein bestimmtes Verhältnis zu einem dem Menschen vorgegebenen Ganzen von Schöpfung und Welt impliziert. 66 Zwar hatte auch schon Kant selbst lediglich in der »Annehmung der Maximen […] den ganze Gebrauch der Freiheit« sehen wollen (Rel., A 12/B 14; Herv. v. Verf.), doch strebte dieser damit im Gegensatz zu Schelling weder eine Interpretation der ›intelligiblen Tat‹ als Einnahme eines Verhältnisses zu einem vorausliegenden Grund an, noch ginge es ihm um ein Moment des willentlichen ›Lassens‹ oder ›Zulassens‹ in dieser Tat. Schelling selbst beabsichtigt mit dieser Umdeutung praktischer Vernunft im Speziellen wie auch der Vernunft im Ganzen zu einem mit einem passiven, ›zulassenden‹ Moment einhergehenden Vermögen – dem ›Primum passivum‹ der Mystiker vergleichbar 67 – Vgl. zu dieser möglichen Bezugnahme Heideggers 1927 auf die Freiheitsschrift genauer unten, Teil IV, Kap. 1.2 u. Kap. 4.2. 65 Vgl. Luther 1525, 290 f.: »Sic humana voluntas in medio posita est, ceu jumentum, si insederit Deus, vult et vadit quo vult Deus […]. Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio, ad utrum sessorem currere aut eum quærere, sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum. / So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will […]. Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten.« – Schelling erwähnt Luthers Schrift zweimal in seinem Jahreskalender von 1809, vgl. Tagebücher 1809–1813, 6 f. (Einträge vom 15. u. 22. Januar 1809). 66 Vgl. hierzu auch Egloff 2016, 106–109, die v. a. die mit dieser ›Zulassung‹ einhergehende Tragik betont. 67 Vgl. AA I,17, 178: »Die Vernunft ist in dem Menschen das, was nach den Mystikern das Primum passivum in Gott oder die anfängliche Weisheit ist […]. Sie ist nicht 64

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nichts weniger als eine Reinholds Kantkritik Zugeständnisse machende Korrektur der kantischen Konzeption. Schon 1797 hatte Schelling in der Allgemeinen Uebersicht, die 1809 vermutlich nicht zuletzt deswegen auch unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre in den Philosophischen Schriften wieder abgedruckt wurde, Reinholds und Kants Willenskonzeptionen mit der Absicht einer Vereinigung beider Ansätze parallel behandelt. 68 Zwar hatte Schelling 1797, darin Kant folgend, Reinholds Versuch einer Abhebung des Willens von der praktischen Vernunft, welche dieser als Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit eines bösen Willens oder einer unmoralischen Handlung vorgeschlagen hatte, 69 als undenkbar zurückgewiesen. Doch Reinholds Behauptung, dass »[d]ie Praktische Vernunft […] vom guten und vom bösen Willen gemeinschaftlich vorausgesetzt« wird, 70 scheint Schelling durchaus akzeptiert zu haben. Auch wenn 1797 Schelling das »absolut Gute« nur »aus einem Wollen« für erklärbar hält, so kann man sich Tätigkeit, wie der Geist, nicht absolute Identität beyder Prinzipien der Erkenntniß, sondern die Indifferenz, das Maß und gleichsam der allgemeine Ort der Wahrheit, die ruhige Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen wird, nach welcher, als dem Urbild hinblickend, der Verstand bilden soll.« Diese Charakterisierung der Vernunft findet sich auch in den ein Jahr später gehaltenen Stuttgarter Privatvorlesungen (1810): »Bei dem Verstand ist offenbar etwas mehr Aktives, Thätiges, in der Vernunft mehr etwas Leidendes, sich Hingebendes. Daher es eine ganz verschiedene Sache ist, ob man von jemand sagt, er sey ein verständiger oder ein vernünftiger Mensch. Sagt man von jemand, er habe viele Vernunft gezeigt, so ist darunter immer mehr gemeint, daß er Submission unter höhere Beweggründe als daß er Aktivität gezeigt habe. Da also im Wesen der Vernunft offenbar etwas Hingebendes, Leidendes liegt, von der andern Seite aber doch Verstand und Vernunft wahrhaft nur Eines seyn können, so werden wir sagen müssen: Vernunft sey nichts anderes als der Verstand in seiner Submission unter das Höhere, die Seele. Daher sich auch in der wahren Wissenschaft die Vernunft wirklich leidend verhält, und eigentlich die Seele thätig ist. Die Vernunft ist nur das Aufnehmende der Wahrheit, das Buch, worein die Eingebungen der Seele geschrieben werden, aber zugleich auch ein Probierstein der Wahrheit.« (AA II,8, 164–166) Ähnlich heißt es dann auch in der Erlanger Vorlesung: »Hieraus erhellt die potentielle, die bloß leidende Natur der Vernunft, aber eben daraus auch, daß die Vernunft nicht das thätige Princip in der Wissenschaft seyn kann.« (SW IX, 236 / vgl. Schelling 1821, 52 f.) Schelling übernimmt diese Charakterisierung der Vernunft von Jacobi: »Von Vernunft ist die Wurzel, Vernehmen« (Jacobi 1799, 201). 68 Vgl. dazu oben, Teil I, Kap. 1.3. Zu den impliziten Bezugnahmen der Freiheitsschrift auf Reinhold vgl. auch Peetz 1995, 202–216. 69 Denn, so stellt Reinhold das Problem pointiert dar, »[w]äre die praktische Vernunft der Wille, so müßte entweder der sittlichböse Mensch gar keinen Willen haben, oder seine Praktische Vernunft das Böse thun« (Reinhold 1797, 144). 70 Reinhold 1797, 144.

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doch, wie er hinzufügt, des »Positiven« in jenem Wollen lediglich »durch ein Entgegengesetztes Positives« bewusst werden, sodass wir »keine positiv moralische Handlung denken können, ohne ihr eine positiv unmoralische entgegenzusetzen« (AA I,4, 156 f.). Schon 1797 nimmt Schelling mithin mit Reinhold und gegen Kant eine Pluralisierung im Willensparadigma vor, ohne aber wie Reinhold der praktischen Vernunft das Voluntative gänzlich abzusprechen. 1809 nun weist Schelling zumindest partiell den voluntativen Aspekt innerhalb der praktischen Vernunft in die Schranken – und dies vor allem aus drei Gründen: erstens, um stärker als Kant den Phänomenen von ›Achtung‹ und ›Annehmung der Maximen‹ Rechnung zu tragen, und zweitens, um eine Systemkonformität der Struktur der ›intelligiblen Tat‹ als Verhalten zu einem vorgegebenen Ganzen zu garantieren, ohne dass dieses durch Aktivität wie Passivität gekennzeichnete Verhalten zum Ganzen in Form eines ›In-sich-handeln-Lassens des guten oder bösen Prinzips‹ als Heteronomie verstanden werden müsste, auch wenn drittens – wie im folgenden Kapitel noch zu zeigen sein wird – dieses willentliche ›Zulassen‹ zu einer geradezu tragischen, da unvorhergesehenen Entmachtung des Willens mit Blick auf die Möglichkeit einer Korrektur jener ›intelligiblen Tat‹ führt. Denn unbestreitbar bezieht sich das initiale ›In-sich-handeln-Lassen‹ als ›intelligible Tat‹ zunächst einmal auf ein freies und willentliches ›Zulassen‹ einer bestimmten Konstellation im internen Willenshaushalt von ›Eigenwille‹ und ›Universalwille‹, als dessen bloße »Folge« Schelling sodann das ›In-sich-handeln-Lassen‹ als sich bindendes ›Bestimmen‹-Lassen versteht (AA I,17, 156). Dieses außerzeitliche, freie ›Zulassen‹ ist dabei gewissermaßen das »Dritte«, welches, wie man mit Kierkegaard sagen könnte, die Art der »Synthesis« beider Willen bestimmt, 71 die entweder zum Bösen oder zum Guten führen kann. Wie im Falle Gottes und aller anderen »in der Natur entstandnen Wesen« (AA I,17, 133) nimmt Schelling derart zwar auch im Menschen eine Mehrheit an Willen an: nämlich zum einen das aus dem ›Grund‹ in Gott stammende Prinzip oder den »Eigenwille[n] der Creatur, der […] bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille ist« und der mithin – wie bereits im Bezug auf den göttlichen Willenshaushalt beschrieben – ein im Gegensatz zu Kant 72 angenomVgl. BA, 41. Zu dieser Parallele zwischen Schelling und Kierkegaard vgl. genauer Pieper 1995, 93–102, bes. 94 f. 72 Vgl. etwa GMS, AB 36: »Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der 71

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mener ›Wille ohne Verstand‹ darstellt, und zum anderen den »Verstand als Universalwille[n] […], der jenen gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet« (AA I,17, 134). Doch allein im Menschen ist »[d]iejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, […] zertrennlich […] – und dieses ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen« (AA I,17, 134). Über diese Möglichkeit verfügt der Mensch nicht nur, weil er aus dem von Gottes Liebe ›zugelassenen‹ 73 »Grunde entspringt« und damit »ein relativ auf Gott unabhängiges Princip in sich« hat, sondern insbesondere da er sich als »Geist« oder »Wille, der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt«, zu der Art der internen »lebendige[n] Identität beyder Prinzipien« (AA I,17, 134) verhalten und daher selbst entweder das Gute oder das Böse ›zulassen‹ kann. Das Gute oder Böse liegt nämlich nach Schelling nicht einfach in einem der beiden Willen oder Prinzipien – weder der ›Universalwille‹ noch der ›Eigenwille‹ ist an sich gut beziehungsweise böse 74 –, sondern vielmehr im durch den ›dritten‹ »Willen«, den ›Geist‹, ›zugelassenen‹ Verhältnis der beiden anderen Willen: Denn als »Geist« ist »die Selbstheit frey von beyden Prinzipien« (AA I,17, 135), wodurch sich zwei möglich Hierarchisierungen derselben ergeben: Wenn […] der Eigenwille des Menschen als Centralwille im Grunde bleibt, so daß das göttliche Verhältniß der Prinzipien besteht (wie nämlich der Wille im Centro der Natur nie über das Licht sich erhebt, sondern unter demselben als Basis im Grunde bleibt), und wenn statt des Geistes der Zwietracht, der das eigne Prinzip vom allgemeinen scheiden will, der Geist der Liebe in ihm waltet, so ist der Wille in göttlicher Art und Ordnung. (AA I,17, 135)

Diese mit einem Inklusionsverhältnis einhergehende Subordination des Eigenwillens unter den Universalwillen, der in einer naturphiVorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft.« 73 Vgl. AA I,17, 144: »Wollte nun die Liebe den Willen des Grundes zerbrechen: so würde sie gegen sich selbst streiten, mit sich selbst uneins seyn, und wäre nicht mehr die Liebe. Dieses Wirkenlassen des Grundes ist der einzig denkbare Begriff der Zulassung, welcher in der gewöhnlichen Beziehung auf den Menschen völlig unstatthaft ist.« 74 Ganz im Sinne von Schillers Kant-Kritik favorisiert damit auch Schelling eine Position, welche die ›Neigung‹ oder den ›Eigenwillen‹ zusammen mit dem unter ihm begriffenen »Heer der Begierden und Lüste« (AA I,17, 136) nicht einfach jenseits des Guten zu situieren sucht. Vgl. zu der mit dieser Position einhergehenden Korrektur an Kant auch oben, Teil II, Kap. 1.1.2, bes. Anm. 51.

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losophischen Analogie mit dem Licht parallelisiert wird, entspricht sowohl dem ›göttlichen Verhältnis der Prinzipien‹ als auch demjenigen, das in der Natur allgemein angetroffen wird, und bezeichnet mithin das Gute oder das, was ›in göttlicher Art und Ordnung‹ ist. Die zweite Hierarchisierungsmöglichkeit, die das Böse kennzeichnet, besteht hingegen im genauen Gegenteil hierzu: Dadurch aber, daß sie den Geist hat […][,] kann die Selbstheit sich trennen von dem Licht, oder der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu seyn, das, was er nur ist, inwiefern er im Centro bleibt […], auch in der Peripherie oder als Geschöpf zu seyn […]. Daß aber eben jene Erhebung des Eigenwillens das Böse ist, erhellt aus Folgendem. Der Wille, der aus seiner Uebernatürlichkeit heraustritt, um sich als allgemeinen Willen zugleich partikular und kreatürlich zu machen, strebt das Verhältniß der Prinzipien umzukehren, den Grund über die Ursache zu erheben, den Geist, den er nur für das Centrum erhalten, außer demselben und gegen die Kreatur zu gebrauchen, woraus Zerrüttung in ihm selbst und außer ihm erfolgt. (AA I,17, 136)

Das Böse stellt mithin ein Losreißen des Eigenwillens aus seiner ursprünglichen ›Identität mit dem Universalwillen‹ dar, um derart den eigentlich nur als ›Grund‹ fungierenden Eigenwillen über den Universalwillen zu ›erheben‹, wodurch denn auch das ursprünglich vorgesehene ›Verhältnis der Prinzipien umgekehrt‹ werde. Da derart das partikulare Interesse über das universale gestellt wird, impliziert diese »positive[…] Verkehrtheit oder Umkehrung der Principien« zugleich ein Lossagen vom Ganzen zugunsten eines »eigne[n] und absonderliche[n] Leben[s]« (AA I,17, 136), das Schelling in Anlehnung an den medizinischen Diskurs der Zeit sowie insbesondere an Franz Baader mit einer Krankheit vergleicht (vgl. AA I,17, 137 Anm.). 75 Doch dieses ›Zulassen‹ einer bestimmten Hierarchisierung der Prinzipien oder Willen, die entweder für eine auf das Gute oder das Böse ausgerichtete Charakterdisposition des Menschen sorgt, geht in mehrfachem Sinn mit einer Tragik einher, deren Nachzeichnung Schelling zugleich zu einer entschiedenen Kritik gewisser Formen des Wollens führt, wie im anschließenden Kapitel zu zeigen ist.

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Vgl. dazu Müller 2014.

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1.2. Die Tragik und Unfreiheit im Bösen: Zur Kritik bestimmter Wollensformen Schellings fundamentale ›Kehre‹ in seiner Willensauslegung 1809 besteht nicht allein in einer dezidierten Ausweitung und Pluralisierung des Willensparadigmas, die ihn in Antizipation Nietzsches selbst zur Annahme mehrerer Willen in ein und demselben Wesen führt und ihn in Vorwegnahme Schopenhauers und gegen Kant auch irrationale Willensmomente annehmen lässt. Die Neuerung liegt insbesondere auch in der Betonung einer Tragik, die bestimmten Deformationen des endlichen Willens immanent sei. Zwar widmet Schelling schon wesentlich früher seine Aufmerksamkeit Phänomenen des Tragischen, die mit dem endlichen menschlichen Willen einhergehen, wenn er etwa 1795 in den Briefen oder zwischen 1802 und 1805 in seinen kunstphilosophischen Vorlesungen am Beispiel des Ödipus die Willensfreiheit allererst im Zuge einer tragischen Kollision wahrhaft zum Vorschein kommen sieht. Zur Sprache kommt in diesen früheren Konzeptionen jedoch immer nur eine Form von Tragik, die als, wenn auch möglicherweise notwendig zustoßendes, äußeres Schicksal über den Willen hereinbricht. Nie ist davon die Rede, dass das Tragische auch einer bestimmten Willensform immanent sein könnte und ihr wesentlich zuzuschreiben wäre. Letzteres beschreibt Schelling erstmals 1809, wenn er nach der Diskussion der allein dem Menschen zugestandenen »Möglichkeit des Bösen« zu derjenigen von dessen »Wirklichkeit […] im einzelnen Menschen« (AA I,17, 142) übergeht 76 und dabei auch auf den »realen Begiff[…]« der Freiheit (AA I,17, 150) zu sprechen kommt. Zunächst geht Schelling dabei nochmals auf das »formelle Wesen der Freyheit« (AA I,17, 150) ein, welche gerade der Idealismus und insbesondere Kant mit seiner »Lehre von der Freyheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein verständlich ist« (AA I,17, 151), insofern hier das vor allem mit Jean Buridan verbundene aequilibrium arbitrii als »System des Gleichgewichts der Willkühr« (AA I,17, 151) entschieden zurückgewiesen worden sei. Doch übernimmt Schelling diese von ihm posi-

Zu den für den hier verfolgten Gedankengang weniger zentralen und daher hier ausgesparten Überlegungen Schellings zur »universelle[n] Wirksamkeit« des Bösen, »oder wie es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem Guten überall im Kampf liegendes Princip aus der Schöpfung habe hervorbrechen können« (AA I,17, 143), vgl. genauer Hennigfeld 2001, 86–93.

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tiv konnotierte idealistische Freiheitskonzeption keineswegs einfachhin, auch wenn er, wie er erklärt, den kantischen Begriff derselben lediglich auf ›Ausdrucks‹-Ebene um der besseren ›Verständlichkeit‹ willen abwandle (vgl. AA I,17, 150 f.). Die von Schelling vollzogene Umbestimmung besteht dabei nicht nur, wie bereits im vorangegangenen Kapitel gezeigt, 77 in der Deutung der kantischen ›intelligiblen Tat‹ als Verhalten zu einem vorausgehenden Grund, das ein ›In-sichhandeln-Lassens des guten oder bösen Prinzips‹ zur ›Folge‹ habe, sondern vor allen Dingen in der gegenüber Kant viel entschiedeneren Unterstreichung einer »höhere[n]« oder »innere[n], aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Nothwendigkeit« (AA I,17, 151), die jener ursprünglichen, außerzeitlichen Freiheitshandlung aber zugleich auch eine interne Tragik verleiht: 78 Das intelligible Wesen kann […], so gewiß es schlechthin frey und absolut handelt, so gewiß nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Nothwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freyheit ist; denn frey ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist. (AA I,17, 152)

Zwar ist auch für Kant gerade die »eigene Gesetzgebung […] der reinen und als solche praktischen Vernunft […] Freiheit im positiven Verstande« (KpV, A 59), womit auch Kant von der »Nothwendigkeit einer freien Handlung unter dem kategorischen Imperativ der Vernunft« (MS, AA 6, 222) ausgeht. Doch dass es Schelling hier nicht nur um die mit dem kantischen Sittengesetz einhergehende Notwendigkeit zu tun ist, deutet nicht allein die Rede vom ›Gesetz der Identität‹ 79 und den ›Gesetzen seines eignen Wesens‹ an, sondern ins-

Vgl. dazu auch oben, Teil II, Kap. 1.1.3. Vgl. dazu auch Peetz 1995, 215 f. Anm., welcher diese Verbindung der kantischen ›intelligiblen Tat‹ mit einem tragischen Zug aber Schelling eher anlastet, als es als ein fruchtbares Hinausgehen über Kant zum Zwecke einer aufschlussreichen Beschreibung der Gefährdungen anzusehen, die dem endlichen menschlichen Willen generell drohen. 79 Vgl. dazu auch Courtine 2012, 14 f., der darauf hingewiesen hat, dass Schelling schon 1795 das moralische Gesetz auf das der Identität zum Zwecke der ›Verabsolutierung der Freiheit‹ (absolutisation de la liberté) zurückführe. Mit Blick auf 1809 könnte man ergänzen, dass Schelling mit dieser Rückführung des moralischen Gesetzes auf das Identitätsgesetz auch einen tragischen Zug der damit einhergehenden Freiheit offenzulegen sucht. 77 78

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besondere auch die damit einhergehende, unverkennbar auf Spinoza rekurrierende Bestimmung, dass ›frei ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist‹, die Schelling bereits 1795 für das ›absolute Ich‹ in Anspruch genommen hatte. 80 Zwar kann Schelling mit diesen Ausführungen zu »jene[r] innere[n] Nothwendigkeit«, die »selber die Freiheit« ist, zurecht im Einklang mit Kants Konzeption der ›intelligiblen Tat‹ und Fichtes ›Tathandlung‹ erklären, dass »das Wesen des Menschen […] wesentlich seine eigne That« ist (AA I,17, 152). Gleichwohl nimmt er dabei zugleich eine zweifache Umakzentuierung jener ›Tat‹ gegenüber Kant und Fichte vor, die er allerdings nur mit Blick auf Fichte als solche kenntlich macht: Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That; Bewußtseyn ist Selbstsetzen – aber das Ich ist nichts von diesem verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber. Dieses Bewußtseyn aber, inwiefern es bloß als selbst-Erfassen oder Erkennen des Ich gedacht wird, ist nicht einmal das Erste, und setzt wie alles bloße Erkennen das eigentliche Seyn schon voraus. Dieses vor dem Erkennen vermuthete Seyn ist aber kein Seyn, wenn es gleich kein Erkennen ist; es ist reales Selbstsetzen, es ist ein Urund Grundwollen, das sich selbst zu Etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist. (AA I,17, 152)

Ganz im Sinne seiner früheren, insbesondere naturphilosophischen Schriften 81 unterscheidet Schelling hier ein ›reales Selbstsetzen‹ von einem mit Fichtes ›Tathandlung‹ identifizierten idealen ›Selbst-Erfassen oder Erkennen des Ich‹, welches ›nicht einmal das Erste‹ darstelle, sondern vielmehr in jenem ›realen Selbstsetzen‹ nochmals eine natürliche Vorgeschichte besitze – ähnlich wie schon 1800 der das Selbstbewusstsein konstituierende ›absolute Willensakt‹ zu Anfang der praktischen Philosophie. 82 Wie 1800 bestimmt er diese natürliche Vorgeschichte dabei als eine nicht ins Bewusstsein fallende: »In dem Bewußtseyn, sofern es bloßes Selbsterfassen und nur idealisch ist, Vgl. Spinoza 1677, 88 f. (pars I, def. 7): »Ea res libera dicitur, quae ex solâ suae naturae necessitate existit, et à se solâ ad agendum determinatur / Dasjenige Ding heisst frei, das aus der blossen Nothwendigkeit seiner Natur da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird«. Vgl. dazu auch den Kommentar von T. Buchheim in Schelling 1997, 146 sowie oben, Teil I, Kap. 2.1. 81 Vgl. hierzu auch Schwenzfeuer 2012, 76 f. u. 84. 82 Vgl. oben, Teil I, Kap. 4.2. Dass Fichte gleichwohl selbst im System der Sittenlehre eine ähnliche Auffassung vertritt, dazu vgl. Binkelmann 2015, 121–123. 80

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kann jene freye That, die zur Nothwendigkeit wird, freylich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht« (AA I,17, 153). Hatte er jedoch 1800 bezüglich dieser vorbewussten Struktur nur von einem ›Produzieren‹ gesprochen, so wird sie nun nach der seit 1806 vollzogenen Ontologisierung des Wollens 83 unmissverständlich als ›Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht‹, bezeichnet. Das ›Sich-zu-etwas-Machen‹ zeigt dabei auch schon den zweiten, über Kant und Fichte hinausgehenden Schritt an: In Anlehnung an Böhme und Oettinger, die beide den Übergang des ursprünglichen ›Nichts‹ des ›freien Willens‹ zu ›Etwas‹ als etwas Negatives ansehen, 84 weist Schelling nämlich eine dem ›Ur- und Grundwollen‹ immanente Tragik auf, wie er sie in vergleichbarer Weise bereits 1800 an der Figur des ›Misslingens‹ der produzierenden Tätigkeit des Ichs beschrieben hatte. 85 Ganz im Sinne der aristotelischen Definition der in der Tragödie anzutreffenden ›Peripetie‹ als »Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil [ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολή]« 86 ereignet sich hier nämlich ein unbeabsichtigter Umschlag »jene[r] freie[n] That, die zur Nothwendigkeit wird« (AA I,17, 153; Herv. v. Verf.). Zwar spricht auch Kant im Zuge jener mit der ›intelligiblen Tat‹ möglicherweise eingegangenen »Verschuldung« von einer ›ersten Tat‹, die »bleibt, wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) vielfältig vermieden würde« (Rel., A 24/B 25). Doch hat Kant damit keineswegs im Blick, »daß die Handlungen des Menschen von Ewigkeit bestimmt seyn müssten« – und zwar nicht durch göttliche Prädestination, sondern durch eine »ewige[…], mit der Schöpfung gleichzeitige[…], HandVgl. dazu oben, Teil I, Kap. 5.3. Vgl. Böhme 1620a, 97 (Kap. 2,1): »So dann nun also eine Sucht im Nichts ist, so machet sie ihr selber den Willen zu Etwas: und derselbe Wille ist ein Geist, als ein Gedancke, der gehet aus der Sucht, und ist der Sucht Sucher, dann er findet seine Mutter als die Sucht.« Vgl. auch Böhme 1622, 11 (Kap. 2,10): »[D]ann also findet er [der Wille, P. H.] sich ietzt aus dem Nichts in Etwas, und das Etwas ist doch sein Wiederwille, dann es ist eine Unruhe, und der freye Wille ist eine Stille.« Außerdem Oetinger 1776, 354: »[H]ernach aber macht sie [die Bildungs-Kraft, P. H.] sich Wesen, und ist nicht ein Nichts, sondern ein erwachsenes doch selbst gebohrenes Etwas, dafür hüte dich.« Vgl. dazu auch den Kommentar von Buchheim in Schelling 1997, 146 f., der allerdings die sowohl bei Böhme und Oetinger als auch bei Schelling damit einhergehende Negativität ausblendet. 85 Vgl. genauer oben, Teil I, Kap. 4.1. 86 Aristoteles, Poetik, 1452a22 f. (Aristoteles 2002, 34 f.). 83 84

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lung, die das Wesen des Menschen selbst ausmacht« (AA I,17, 154). So ist der Mensch zwar, wie Schelling in Einvernehmen mit Kant und Fichte formuliert, »schon anfänglich Handlung und That«, und es verhält sich in seinen Augen keineswegs so, »daß er als geistiges Wesen ein Seyn vor und unabhängig von seinem Willen habe« (AA I,17, 155). Ganz im Sinne von Schellings Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123), der vor dem Hintergrund seiner Urteilstheorie als GrundFolge-Verhältnis zu interpretieren ist, muss man vielmehr umgekehrt über Kant und Fichte hinausgehend sagen, dass der Mensch ein Sein habe, das dem ›Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht‹, notwendig und unabänderlich folgt, und dass mithin bereits für Schellings Interpretation der ›intelligiblen Tat‹ gilt, was er in den Weltaltern mit Bezug auf die ›ewige Freiheit‹ behauptet, »dass Die Nothwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt« (WA I, 14). Die ganze Negativität und Tragik dieser Uminterpretation oder gar Weiterentwickliung der kantischen ›intelligiblen Tat‹ tritt allerdings erst zutage, wenn Schelling 1809 auf die derart ermöglichte Erscheinung des Bösen zu sprechen kommt. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel dargelegt worden ist, besteht die »Möglichkeit des Bösen« in einer willentlichen Umkehrung des ursprünglich vorgesehenen Verhältnisses von ›Eigen-‹ und ›Universalwille‹, »daß der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum Herrschenden und zum Allwillen zu erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann.« (AA I,17, 156) Doch dieses ›Sich-Aufschwingen‹ »an die Stelle, da Gott seyn sollte«, als gleichsam »umgekehrte[r] Gott« (AA I,17, 156) ruft noch auf einer weiteren Ebene als der oben skizzierten eine Tragik hervor, welche in der Konterkarierung der im Bösen verfolgten Intentionen besteht: So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in das Nichtseyn, aus der Wahrheit in die Lüge, aus dem Licht in die Finsterniß übertritt, um selbst schaffender Grund zu werden, und mit der Macht des Centri, das er in sich hat, über alle Dinge zu herrschen. Denn es bleibt auch dem aus dem Centro gewichenen immer noch das Gefühl, daß er alle Dinge gewesen ist, nämlich in und mit Gott; darum strebt er wieder dahin, aber für sich, nicht wo er es seyn könnte, nämlich in Gott. Hieraus entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und

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immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, Alles zu seyn, in’s Nichtseyn fällt. (AA I,17, 157)

Aus dem in einem ›Gefühl‹ hinterlegten Wissen, ›in und mit Gott‹ einmal ›alle Dinge gewesen‹ zu sein, strebe der Mensch im Bösen ›wieder dahin‹, aber nunmehr ›für sich‹. Doch hierin tritt Schelling zufolge gerade der tragische, ›sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch‹ zutage, wonach der Mensch ›aus Übermut, alles zu sein, ins Nichtsein‹ falle; denn ›selbst schaffender Grund zu werden‹ ist ein Privileg, das nur dem Göttlichen zukommt und von dem Kreatürlichen nur um den Preis der ›Vernichtung des Bandes der Kreatürlichkeit‹ erstrebt werden kann, woraus ein per definitionem nicht zu stillender ›Hunger der Selbstsucht‹ resultiere, der wie im Falle eines Suchtkranken diesen in seinem Streben nur selbst ›aufzehre‹. 87 Schelling verleiht der aufgezeigten Tragik im Bösen nun umso mehr Gewicht, als er sie nicht nur als etwas Potentielles ins Spiel bringt, das nur hin und wieder einmal Wirklichkeit werden könnte. Ganz im Gegenteil sieht Schelling das Böse als eine durch den Menschen immer schon ergriffene Wirklichkeit an: 88 Nachdem einmal in der Schöpfung, durch Reaktion des Grundes zur Offenbarung, das Böse allgemein erregt worden, so hat der Mensch sich von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen, und alle, die geboren werden, werden mit dem anhängenden finstern Prinzip des Bösen geboren, wenn gleich dieses Böse zu seinem Selbstbewußtseyn erst durch das Eintreten des Gegensatzes erhoben wird. […] Dieses ursprüngliche Böse im Menschen, das nur derjenige in Abrede ziehen kann, der den Menschen in sich und außer sich nur oberflächlich kennen gelernt hat, ist, obgleich in Bezug auf das jetzige empirische Leben ganz von der Freyheit unabhängig, doch in seinem Ursprung eigne That, und darum allein ursprüngliche Sünde […]. (AA I,17, 155)

Schelling geht mithin davon aus, dass ›der Mensch sich von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen‹ und sich damit immer schon zum Bösen entschlossen habe. Wie schon Kant, der »den förmlichen Beweis«, dass »ein solcher verderbter Hang [zum Bösen, P. H.] im Menschen gewurzelt sein müsse«, sich »bei der Menge schreiender Beispiele […] ersparen« zu können glaubte (Rel., A 25/B 27 f.), so 87 88

Vgl. dazu Jantzen 2004. Vgl. auch Jacobs 1995, 130.

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bemüht auch Schelling zur Stützung seiner These kein apriorisches Argument, sondern vielmehr ein empirisches oder gleichsam aposteriorisches – könne doch das ›ursprüngliche Böse im Menschen nur derjenige in Abrede ziehen, der den Menschen in sich und außer sich nur oberflächlich kennen gelernt‹ habe. Dieses Argument ist jedoch keineswegs als Verlegenheitsargument Schellings anzusehen, stellt doch allein dieses ›aposteriorische Argument‹ sicher, dass es sich bei dieser immer schon und generell vollzogenen Entscheidung des Menschen um dessen ›eigne Tat‹ handelt. Nur indem der Übergang von der Möglichkeit zur allgemeinen Wirklichkeit des Bösen oder der Schuld als, um mit Ricœur zu sprechen, etwas »Absurdes« begriffen wird, das einer apriorischen »Eidetik des Menschen« unzugänglich ist, 89 ist auch trotz der Allgemeinheit dieser Wirklichkeit des Bösen die Entscheidung des Menschen hierfür als eine gänzlich freie verbürgt. 90 Damit einhergehend ist aber über diese freie, aber falsche Entscheidung für das Böse auch die Tragik des daraus folgenden, unumkehrbaren Zustandes vorgezeichnet. Obgleich einer außerzeitlichen, den Charakter des Menschen formenden Tat entspringend, ist doch das ›Böse im Menschen in Bezug auf das jetzige empirische Leben ganz von der Freiheit unabhängig‹. Diese verhängnisvolle Folge der ›intelligiblen Tat‹ schneidet denn auch Schelling zufolge »alle Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, für dieses Leben wenigstens« ab (AA I,17, 155 f.). Doch so fügt Schelling hinzu: Allein es sey nun, daß menschliche oder göttliche Hülfe – (einer Hülfe bedarf der Mensch immer) – ihn zu der Umwandlung ins Gute bestimme, so liegt doch dieß, daß er dem guten Geist jene Einwirkung verstattet, sich ihm nicht positiv verschließt, ebenfalls schon in jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser und kein anderer ist. (AA I,17, 156)

Allein die in der ›intelligiblen Tat‹ möglicherweise ebenfalls hinterlegte ›Verstattung einer Einwirkung des guten Geistes‹ oder, mit anderen Worten, die zulassende Offenheit für einen äußeren Anstoß Ricœur 1950, 45; Übers. v. Verf. In ähnlicher Weise wie Ricœur (1960, 205–577) unternimmt Schelling daher auch in seiner späteren Philosophie der Mythologie (1842) einen gleichsam aposteriorischen Beweis jenes ›Falls‹ im Rückgang auf mythische Erzählungen (vgl. SW XII, 144–151). 89 90

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zur ›Umwandlung ins Gute‹ kann nach Schelling – vergleichbar dem Deus ex machina der griechischen Tragödie – jene tragische Situation abwenden, indem sie die Unumkehrbarkeit jener ursprünglichen, den Charakter prägenden Freiheitsentscheidung auflöst. Doch soll eine solche zulassende Offenheit für einen äußeren Anstoß überhaupt möglich sein, dann muss es noch etwas jenseits des ›Ur- und Grundwollens‹ und damit des ›Wollens als Ursein‹ geben, das eine solche in der ›intelligiblen Tat‹ hinterlegte Selbstbeschränkung des Wollens allererst erlaubt. Dass dieses Erfordernis von Schelling 1809 zwar gesehen wird, aber gleichzeitig zu einer internen Spannung des Gesamtentwurfes führt, die erst 1811 aufgelöst wird, soll im folgenden Kapitel noch anhand der Schlusspassagen der Freiheitsschrift gezeigt werden.

1.3. Ungrund, Wollen und Liebe: Zur internen Spannung der Konzeption von 1809 Die Tragik, die Schelling im menschlichen Willen nachzeichnet, zeitigt – so könnte man die Problematik der Freiheitsschrift zusammenfassen – Rückwirkungen mit Blick auf die Einheit des Systemganzen. Denn in der Tragik des menschlichen Bösen wird paradigmatisch durchgespielt, was es heißt, wenn ein Wille, im Falle des Menschen der ›Eigenwille‹, sich zum allein herrschenden zu erheben sucht. Zwar ist die durch eine interne Tragik gekennzeichnete Problematik dieser Erhebung des ›Eigenwillens‹ im Falle des menschlichen Bösen primär darauf zurückzuführen, dass hier die Kreatürlichkeit des Menschen geleugnet wird. Doch offenbart diese tragische Konstellation für ein System, das sich zum Ziel setzt zu beschreiben, wie mit demselben »die Freyheit zusammenbesteht« (AA I,17, 111), auf einer tieferen Ebene noch eine weitere Problematik, die nicht allein das Endliche in seiner Kreatürlichkeit betrifft. Wie schon in den Briefen von 1795 (vgl. AA I,3, 104 f.) so bemerkt Schelling auch zu Beginn der Freiheitsschrift, dass »[a]bsolute Kausalität in Einem Wesen […] allen andern nur unbedingte Passivität übrig[läßt]« (AA I,17, 113). Dies bedeutet jedoch, dass Schelling 1809, will er »die individuelle Freiheit« wirklich sicherstellen (AA I,17, 113), nicht mehr von der ›absoluten Kausalität‹ eines einzigen Willens ausgehen kann, welcher wie etwa in der Neuen Deduction des Naturrechts von 1796/97, der Allgemeinen Uebersicht von 1797/98 oder 1806 in Ueber das Ver141 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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hältniß des Realen und Idealen in der Natur als monistisches Prinzip fungiert. Wenn Schelling jedoch 1809 zunächst erklärt, dass es »in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen« gebe (AA I,17, 123), so sucht er nochmals das ›Wollen‹ zum Prinzip zu erheben, dem auch alle traditionellen Prädikate desselben zugesprochen werden. 91 Zwar versucht Schelling gleichzeitig eine interne Differenzierung im Wollensbegriff vorzunehmen, indem er jenes allem zugrunde liegende ›Wollen‹ von einem »Willen« abhebt, in den im »letzte[n] potenzirende[n] Akt […] sich die ganze Natur […] verkläre« (AA I,17, 123). Doch vermag auch diese Anwendung der naturphilosophischen Potenzenlehre auf das Wollen nicht die gegenseitige Unabhängigkeit und Freiheit mehrerer Willen zu garantieren, wie sie dann anschließend, wie gezeigt, in Form einer Willenstriplizität sowohl in Gott als auch im Menschen entwickelt werden. Das anfangs noch als monistisches Prinzip angesetzte Wollen bricht hier unverkennbar auseinander und kann mithin nicht mehr die Einheit des Systems verbürgen. Es ist daher letztlich nicht verwunderlich, dass Schelling im letzten Teil der Freiheitsschrift das Prinzip des Systems gewissermaßen nochmals ›tiefer‹ zu verankern sucht, indem er den Geist, welcher auch als »Wille, der sich selbst in der völligen Freyheit erblickt«, bestimmt wurde (AA I,17, 135), nun expliziter als zuvor 92 von der Liebe abhebt und jenen durch diese fundiert sein lässt: [D]er Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen? (AA I,17, 170)

Schelling spricht hier klar der Liebe die Superiorität zu; der Geist als bloßer ›Hauch der Liebe‹ und damit auch Grund und Existierendes Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.1.1. Vgl. die folgende, oben in Teil II, Kap. 1.1.2 bereits interpretierte Textstelle, die zwar von einem ›Bewogensein‹ des Geistes durch die Liebe spricht und beide damit zumindest begrifflich schon voneinander abhebt, zugleich aber wieder Geist und Liebe miteinander identifiziert: »[D]er ewige Geist, der das Wort in sich und zugleich die unendliche Sehnsucht empfindet, von der Liebe bewogen, die er selbst ist, spricht das Wort aus, daß nun der Verstand mit der Sehnsucht zusammen freyschaffender und allmächtiger Wille wird und in der anfänglich regellosen Natur als in seinem Element oder Werkzeuge bildet« (AA I,17, 132).

91 92

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sind nur Prinzipiate jener. Gleichwohl kommt der Liebe zumindest ›als Liebe‹ nicht zugleich auch die Priorität zu. Beide Momente des Prinzips oder der ›Arché‹ fallen hier auseinander, insofern die Priorität gleichsam einer Vorläuferstruktur der Liebe überantwortet wird, die Schelling nach einem in eine Frage mündenden Anakoluth schließlich als den ›Ur-‹ oder ›Ungrund‹ bezeichnet: Wir treffen hier endlich auf den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung. Schon lange hörten wir die Frage: wozu soll doch jene erste Unterscheidung dienen, zwischen dem Wesen, sofern es Grund ist und inwiefern es existirt? Denn entweder gibt es für die beiden keinen gemeinsamen Mittelpunkt: dann müssen wir uns für den absoluten Dualismus erklären. Oder es gibt einen solchen: so fallen beide in der letzten Betrachtung wieder zusammen. Wir haben dann Ein Wesen für alle Gegensätze, eine absolute Identität von Licht und Finsterniß, Gut und Bös und alle die ungereimten Folgen, auf die jedes Vernunftsystem gerathen muß, und die auch diesem System vorlängst nachgewiesen sind. Was wir in der ersten Beziehung annehmen, haben wir bereits erklärt: es muß vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgend eine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beyder bezeichnet werden. (AA I,17, 170)

Die als ›Urgrund oder vielmehr Ungrund‹ bezeichnete Struktur soll mithin nochmals dem ursprünglichen Dualismus von Grund und Existierendem vorangehen, um derart die Einheit des Systems sicherzustellen, weshalb diese Struktur von Schelling auch ganz im Sinne idealistischer Systemphilosophie als das »schlechthin betrachtete Absolute« (AA I,17, 172) bezeichnet wird. Gleichwohl nimmt Schelling hier gleichzeitig auch eine Neubestimmung jenes ›Absoluten‹ vor: Erstens stellt nämlich der ›Ungrund‹ als die Einheit des Systems ›begründende‹ Struktur paradoxerweise gerade die Verneinung alles Grundhaften dar. Zweitens ist diese Struktur als ›absolute Indifferenz‹ und somit als Zurückweisung einer verschiedene Momente zusammenführenden ›Identität‹ zu denken, die etwa der Dialog Bruno 1804 in der Figur einer »Einheit der Einheit und des Gegensatzes« (AA I,11,1, 362, 415 u. 418) gerade für das Absolute beansprucht hatte; 93 sie kann damit weder durch eine Bezugnahme auf etwas An93

Zu den damit einhergehenden Bezügen zu Hegel, der in der Differenzschrift struk-

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deres noch auf sich selbst – etwa als »sich-selber-Wollen«, mit dem 1806 noch das »Wesen des Absoluten« bestimmt wurde (SW II, 362) – gekennzeichnet sein. Ganz zu schweigen davon, dass von dem Ungrund drittens nur die »Prädikatlosigkeit« ausgesagt werden kann, wohingegen dem ›Wollen als Ursein‹ ja gerade Prädikate zugesprochen wurden (vgl. AA I,17, 123), und dieses mithin nicht mit jenem identifiziert werden kann. 94 Will Schelling jedoch nicht den Ungrund in einer absoluten, zu allem Folgenden durch einen Hiatus getrennten Jenseitigkeit versinken lassen, so ist er indessen gezwungen, den Ungrund in eine Beziehung zum Grund und Existierendem und den diesen zugeschriebenen Wollensformen zu setzen. Schelling führt insofern den Begriff der Liebe ein, der gerade diese ›In-Beziehung-Setzung‹ leisten soll, der dabei aber – als Nachfolgebegriff des ›prädikatlosen‹ und daher sich der Urteilsstruktur notwendig entziehenden Ungrundes – selbst ›schillernd‹ und begrifflich nicht eindeutig festlegbar bleiben muss. So findet der Liebesbegriff in der Freiheitsschrift auf mindestens drei systematisch voneinander zu unterscheidenden Ebenen Verwendung: zum einen als Bezeichnung für eines der beiden Prinzipien in Gott, wobei ihm als ›Wille der Liebe‹ im Gegensatz zu dem ›Willen des Grundes‹ gleichzeitig zumeist ein voluntatives Moment zugesprochen wird (vgl. AA I,17, 144, 149, 161 u. 167); zum zweiten als mit dem Geist gleichzusetzendes Moment, das beide Prinzipien in sich vereinigt (vgl. (AA I,17, 132, 144), 95 auch wenn bei der Formulierung »Geist der Liebe« oder »Geist der ewigen Liebe« (AA I,17, 135) offen bleiben muss, ob auch hier eine Identifikation des Geistes mit der turell analog von einer »Identität der Identität und Nichtidentität« (DS, GW 4, 64) spricht, vgl. Schwab 2014, 42–52. 94 Vgl. dazu auch bereits Osterwald 1972, 93 u. Gabriel 2012, bes. 178. Hennigfeld 2001, 131 f. widerspricht zwar dieser Position mit Blick auf den Ungrund zu Unrecht. Gleichwohl behält er zum einen darin Recht, dass die Abweisung des Wollens, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, nicht auch für die Liebe als gleichsam Nachfolgestruktur des Ungrundes gilt; zum anderen ist ihm auch darin zuzustimmen, dass Schelling eigentlich aus systematischen Gründen um der Einheit des Gesamtentwurfs willen auch dem Ungrund eine ›Form‹ von Wollen zuschreiben müsste, was Schelling dann ab den Weltaltern in gewisser Weise auch tut, indem er den systematischen Ort des Ungrundes mit der hybriden ›Zwischenstruktur‹ eines ›nicht wollenden Willens‹ besetzt (vgl. dazu unten, Teil II, Kap. 2.1). 95 Eine Gleichsetzung von Geist und Liebe (φιλία) findet sich auch bei Plotin, worauf sich Schelling möglicherweise beziehen könnte. Vgl. Beierwaltes 2001, 71–83 u. zu den Plotin-Bezügen bei Schelling insgesamt ebd., 182–227.

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Liebe vorliegt oder die Liebe im Sinne ihrer dritten Bedeutung nochmals von dem Geist abzuheben ist. Zum dritten wird nämlich bisweilen, wie bereits oben erwähnt, der Liebesbegriff klar von dem Geistbegriff nochmals als diesem gegenüber höherwertig abgehoben (vgl. AA I,17, 169 f.). 96 Weit davon entfernt, Schelling diesbezüglich eine nicht intendierte begriffliche Ungenauigkeit vorwerfen zu müssen, scheint es sich vielmehr so zu verhalten, dass Schelling hier – wie bereits anhand des Ungrundes – mit dem Begriff der Liebe auf eine Struktur zurückgreifen will, die – mit Friedrich Schlegel gesprochen – außerhalb »jener gemeinen mathematisch-dialektischen Wissenschaftlichkeit« 97 steht. Anders als Fichte in seiner 1806 erschienenen Schrift Anweisung zum seeligen Leben fällt denn auch Schelling nicht unter die Kritik Schlegels an Fichte, die dieser 1808 in einer Rezension des genannten fichteschen Werkes artikulierte – dass nämlich das »Prinzip der Liebe«, »wenn dieses jenseits aller Reflexion und über aller Vernunft ist, […] auch kein Gegenstand des eigentlich so zu nennenden Wissens sein« könne. 98 Auch wenn es, ohne dass dies hier näher erörtert werden kann, durchaus fragwürdig ist, ob Schlegels Kritik an Fichte berechtigt ist, 99 so kann zumindest mit Bezug auf Schelling festgehalten werden, dass dieser eine deutliche Differenz zwischen dem in einem System artikulierbaren Wissen und der allein durch die Liebe zu bewerkstelligenden Einheit zieht: In dem göttlichen Verstande ist ein System: aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben […]. Alle Existenz fordert eine Bedingung, damit sie wirkliche, nämlich persönliche Existenz werde. Auch Gottes Existenz könnte ohne eine solche nicht persönlich seyn, nur daß er diese Bedingung in sich, nicht ausser sich hat. Er kann die Bedingung nicht aufheben, indem er sonst sich selbst aufheben müßte; er kann sie nur durch Liebe bewältigen und sich zu seiner Verherrlichung unterordnen. (AA I,17, 164)

Diese Zuordnung des Liebesbegriffes zu mehreren Stufen oder ›Potenzen‹ findet sich auch in den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810: Dort wird die Liebe einerseits mit der zweiten Potenz identifiziert (»die Liebe = zweiter oder höherer Potenz«; AA II,8, 108). Zugleich ist Schelling zufolge andererseits »das A3 aber die göttliche Liebe, inwiefern sie das Band der Schöpfung = Identität des Nichtseyenden und Seyenden, des Endlichen und Unendlichen ist« (AA II,8, 168). 97 Schlegel 1808b, 84. 98 Schlegel 1808b, 83 f. 99 Vgl. zu dieser Frage genauer Janke 1993, 525–531. 96

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Zwar hält Schelling ein System noch grundsätzlich ›in dem göttlichen Verstande‹ für gegeben, womit nicht zuletzt auch dessen Objektivität verbürgt ist, jedoch sei Gott selbst ›ein Leben‹ oder eine ›persönlich Existenz‹, die – wie jede Persönlichkeit 100 – dadurch gekennzeichnet sei, dass ihr eine ›nicht aufhebbare Bedingung‹ ihrer selbst zukomme, welche im Falle Gottes als unverfügbarer ›Grund seiner Existenz‹ in diesem selbst situiert sei und lediglich ›durch Liebe bewältigt‹ oder ihm ›untergeordnet‹, aber keinesfalls negiert werden könne. Doch diese ›Bewältigung‹ oder ›Unterordnung‹ des Grundes durch die Liebe geschieht keineswegs in Form einer Unterwerfung oder gleichsam gewaltsamen Zähmung desselben. Vielmehr beschreibt Schelling diesen Akt des »Wille[ns] der Liebe« im Bezug auf den »Willen des Grundes« wenige Seiten zuvor ausdrücklich als »Zulassung« oder »Wirkenlassen des Grundes«: Wollte nun die Liebe den Willen des Grundes zerbrechen: so würde sie gegen sich selbst streiten, mit sich selbst uneins seyn, und wäre nicht mehr die Liebe. Dieses Wirkenlassen des Grundes ist der einzig denkbare Begriff der Zulassung […]. (AA I,17, 144)

So unauffällig Schelling diesen dem ›Willen der Liebe‹ zugeschriebenen Akt des ›Lassens‹ hier auch einführt, so fundamental neu und wegweisend ist er doch gleichzeitig für sein folgendes Philosophieren, insbesondere im Rahmen der Weltalter, die dieses ›Lassen‹ dann auch ausführlicher und wesentlich präziser analysieren werden. Doch auch hier zeigen sich bereits die für das Weitere entscheidenden Bestimmungen: Denn dieses ›Wirkenlassen‹ des Grundes, das die Liebe gleichsam zu einem Moment neben dem Grund degradiert, ist nur eine der Wirkungsweisen, die in für ein reines ›Vernunftsystem‹ geradezu widersprüchlicher Weise der Liebe zugesprochen werden. Gleichzeitig fungiert die Liebe nämlich auch als Einheitsgarant – und zwar in anderer Weise als der Geist, obwohl auch dieser als ›Hauch der Liebe‹ (vgl. AA I,17, 170) selbst als Wirkungsweise der Liebe aufzufassen ist. In dem Geist ist zwar »das Existirende mit dem Grunde zur Existenz eins; in ihm sind wirklich beide zugleich, oder er ist die absolute Identität beider«; aber, wie die erste Einführung der Geiststruktur bereits zeigte, ist diese Einheit nur eine äußere, zu beiden hinzukommende, insofern der Geist diese in Gestalt des 100 Es sei nur an Schellings wenige Seiten später gleichsam definitorische Bemerkung erinnert: »Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde« (AA I,17, 177). Vgl. dazu auch Jantzen 2004.

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›Wortes‹ und der ›unendlichen Sehnsucht‹ lediglich »in sich […] empfindet« (AA I,17, 132), ohne deren zugrunde liegendes Prinzip zu sein. 101 Die Liebe hingegen repräsentiert als Nachfolgefigur des »anfängliche[n] Ungrund[es]«, der lediglich transzendente, bezugslose »Indifferenz« war, »die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freye und doch alles durchwirkende Wohlthun, mit Einem Wort die Liebe, die Alles in Allem ist« (AA I,17, 172), wie Schelling in Anspielung auf Kor 15,28 bemerkt. Selbst wenn Schelling erst 1821 in Erlangen von dem Systemprinzip dies sagen wird, so ist auch hier bereits die ›alles durchwirkende‹ und ›Alles in Allem‹ seiende Liebe ein »Subjekt, das in allem ist, und in nichts bleibt« (SW IX, 215) – und dabei gleichzeitig geradezu Widersprüchliches miteinander in Einklang bringt: Denn die Liebe sei »weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern […] dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere« (AA I,17, 172). 102 Wie schon im Falle des Prinzips der ›Zulassung‹ beschreibt Schelling hier die Struktur der Liebe als eine solche, bei der nicht – wie etwa in dem von Aristophanes in Platons Symposion erzählten Mythos 103 – an sich unvollständige Teile eines Ganzen wieder zusammengeführt werden, sondern als eine Verbindung, bei welcher, wie es schon 1804 in beinahe gleichem Wortlaut heißt, »jedes ein Ganzes ist, und doch das andere will und das andere sucht« (SW VI, 408). Die Liebe bezeichnet mithin die Struktur einer nicht notwendigen Einheit an sich selbstgenügsamer Ganzheiten, die in dieser Einheit keineswegs ihrer Eigenheit und Andersheit verlustig gehen, – mit den Weltaltern gesprochen, also eine geradezu paradoxale Struktur, in der »Zweyheit soll seyn, und die Einheit nichtsdestoweniger bestehen« Vgl. dazu auch oben, Teil II, Kap. 1.1.2. Schelling verweist hier ausdrücklich zurück auf den § 163 seiner Aphorismen über die Naturphilosophie von 1806, in denen sich diese Bestimmung der Liebe bereits findet: »Dieß ist das Geheimniß der ewigen Liebe, daß, was für sich absolut seyn möchte, dennoch es für keinen Raub achtet, es für sich zu seyn, sondern es nur in und mit den andern ist. Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern nur Theil des Ganzen, so wäre nicht Liebe: darum aber ist Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere« (AA I,15, 123). Vgl. auch das System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere von 1804 (SW VI, 407 f.). 103 Vgl. Platon, Symposion, 188d–193c. 101 102

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soll (WA I, 55): »Liebe ist, wenn bey existentieller Unabhängigkeit Freyes zu Freyem gezogen wird.« (WA I, 64) Auch wenn Schelling letztlich bei der »endlichen gänzlichen Scheidung« den Grund ›sich auflösen‹ sieht und ihm zufolge »das Falsche nämlich und Unreine, auf ewig in die Finsterniß beschlossen, um als ewig dunkler Grund der Selbstheit, als Caput mortuum seines Lebensprocesses und als Potenz zurückzubleiben, die nie zum Actus hervorgehen kann«, so bleibt doch nach Schelling bis zu diesem Ereignis innerhalb der Einheit der Liebe »der Grund […] frey und unabhängig von dem Wort« als dem zweiten Prinzip (AA I,17, 172). Bezüglich des Liebesbegriffes in der Freiheitsschrift lässt sich so zusammenfassend sagen: Zwar schließt sich Schelling mit der Bestimmung der Liebe als dem ›Höchsten‹ (vgl. AA I,17, 170) einer bis in die griechische Antike zurückreichenden Tradition an, die den ›Eros‹ nicht zuletzt als ein kosmogonisches Prinzip begriff; derart sehen auch Hesiod, Empedokles, Platon sowie Plotin und selbst noch der frühe Hegel 104 und der spätere Fichte 105 in ähnlicher Weise wie Schelling in der Liebe das ›Höchste‹ und das alles organisierende Prinzip. 106 Doch es ist vermutlich nicht zu weit gegriffen, wenn man die Behauptung aufstellt, dass keine dieser Konzeptionen die Liebe zu einer derart paradoxalen Struktur ausformt, die als höchster, alles durchwaltender Einheitsgarant zugleich eine nicht aufhebbare Alterität in und gar neben sich gelten lässt. Selbst Hegels Liebeskonzeption, an der, Michael Theunissen zufolge, ihm nichts weniger als die Dialektik ›aufgegangen‹ sei, 107 vollzieht diesen Schritt in derart radikaler Form nicht, wenn er 1797/98 zwar einerseits schreibt, dass »[i]n der Liebe das Getrennte noch [ist] aber nicht mehr als Getrenntes, [sondern] als Einiges«, um aber andererseits wenig später hinzuzufügen: »die Liebe ist unwillig über das noch Getrennte, über ein Eigentum« (TWA 1, 246 f.). Auch wenn Hegel die Trennung in der Liebe ›aufgehoben‹ und nicht absolut negiert sieht, so hebt er doch keineswegs wie Schelling darauf ab, dass die Liebe gerade auf eine

104 Vgl. dazu die von Herman Nohl herausgegebenen Entwürfe Hegels über Religion und Liebe von 1797/98, wieder abgedruckt in TWA 1, 239–254. 105 Vgl. bei Fichte etwa GA I,9, 167: »Die Liebe […] ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft, und die Wurzel der Realität, und die einzige Schöpferin des Lebens, und der Zeit«. 106 Vgl. dazu Nusser 1980, bes. 290–294 u. 312–316. 107 Vgl. Theunissen 1994, 42–46.

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Anerkennung der Andersheit und Eigenheit abzielt und damit trotz ihrer einigenden Funktion ein Unabhängiges in sich und neben sich bestehen zu lassen sucht. Schelling schafft es mithin, um auf die Ausgangsfrage des Kapitels zurückzukommen, anhand der Begriffe des Ungrundes und insbesondere der Liebe ein Systemprinzip zu etablieren, das im Unterschied zu dem frühidealistischen ›Wollen als Ursein‹ auch eine Andersheit und Unabhängigkeit diesem gegenüber zu denken erlaubt – allerdings um den Preis einer begrifflich und logisch nicht mehr möglichen Ausweisbarkeit dieses Prinzips, insofern der ›prädikatlose‹ Ungrund sich jeder Urteilsstruktur von vornherein entzieht und das für diesen eintretende Prinzip der Liebe ›in allem ist, und in nichts bleibt‹, womit es einer definitorisch es eingrenzenden Urteilsstruktur ebenfalls entgleitet. Gleichwohl bleibt in der Freiheitsschrift eine interne Spannung bestehen: Ähnlich der Spannung im System von 1800 zwischen der unbewussten und voluntativ-bewussten ›Produktivität‹ einerseits und der Zurückweisung des Wollens durch das ›absolut Identische‹ andererseits, ist nämlich auch 1809 das ›Wollen als Ursein‹ nicht gänzlich mit dem alles Voluntative von sich abweisenden Ungrund sowie der Liebe vereinbar ist, auch wenn letzterer bisweilen ein Wille zugeschrieben wird und das ›Wirkenlassen des Grundes‹ selbst noch als ein Akt des ›Willens der Liebe‹ aufgefasst wird. Schelling wird in seinen folgenden Schriften denn auch das 1809 als ›Ungrund‹ oder ›Liebe‹ umschriebene Prinzip anhand unterschiedlicher Strategien genauer zu bestimmen und mit dem Willensparadigma in Verbindung zu setzen suchen: Neben einer Reflexion über die Darstellungsweise des philosophischen Systems wird er erstens insbesondere wieder auf eine ›Phänomenologie‹ eines in sich pluralen Wollens zurückgreifen und diese noch weiter auszudifferenzieren suchen. Hierbei wird er zweitens die bereits anhand der Liebe aufgezeigte Struktur einer Selbstzurücknahme des Wollens, die teilweise gleichwohl noch voluntativ kontrolliert ist, weiter ausbuchstabieren und in seinen unterschiedlichen Ausprägungen darstellen. Anstatt einer pauschalen Zurückweisung und Kritik des Wollens das Wort zu reden, ermöglicht dies zugleich eine sehr viel differenziertere Einschätzung des in sich ambivalenten Willensparadigmas. Schließlich wird Schelling drittens diese prinzipienimmanente Pluralität und Dynamik zeittheoretisch zu reflektieren versuchen – und zwar nicht, indem er das Prinzip einfachhin verzeitlicht und damit verendlicht, sondern indem er Zeitlichkeit allererst aus einer Differenzierungs149 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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bewegung desselben sowohl auf der Ebene des Absoluten wie auch des Menschen hervorgehen lässt (vgl. WA I, 73–87).

2. Die Negativität und Überwindung des tragischen Wollens in den Weltaltern Es ist auffällig, dass das unmittelbar auf die Freiheitsschrift folgende Werk, nämlich die 1810 im Hause des Oberjustizrats Eberhard Friedrich von Georgii vorgetragenen Stuttgarter Privatvorlesungen, auf jene differenzierte Willensmetaphysik wie auch auf deren Zusammenhang mit einem als ›Ungrund‹ oder ›Liebe‹ bestimmten Prinzip nicht weiter eingehen. Zwar wird, wie die Georgii-Nachschrift der Vorlesung zeigt, von einem göttlichen »Willen zur Offenbahrung« gesprochen, der »die Existenz selbst« sei, und der somit wie das ›Wollen als Ursein‹ in der Freiheitsschrift gleichsam die Realität als ganze begründet (AA II,8, 77–79). 108 Doch gehen die Vorlesungen von 1810 weder auf die Figur eines sich logischem Begreifen entziehenden ›Ungrundes‹ 109 noch auf die 1809 ebenfalls zu findende Unterscheidung verschiedener, nicht aufeinander zurückführbarer Willen und deren Bezug zum Systemganzen ein. 110 Dies mag wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass 1810 das »Schellingische[…] Sÿstem« oder die »Schellingsche[…] Philosophie« (AA II,8, 69 u. 93) in ihrer Ganzheit mit allen Systemteilen dargestellt werden soll, wohingegen in der Freiheitsschrift, »wenn auch die äußre Form des Gesprächs fehlt, doch alles wie gesprächsweise entsteht« (AA I,17, 174 Anm.) und letztlich nur ein einzelner Begriff, nämlich der der menschlichen Freiheit, erörtert werden soll, 111 der gleichwohl in »Zusammenhang […] mit dem Ganzen« stehe (AA I,17, 111). Insofern liegt es nahe, dass 108 Vgl. hierzu Müller-Lüneschloß 2012, 160, die aber auf die entscheidenden Differenzen zur Konzeption der Freiheitsschrift nicht eingeht. 109 Vgl. hierzu Schwab 2014. 110 Lediglich nebenbei, und ohne dies auf das Systemganze zurückzubeziehen, geht Schelling 1810 auf verschiedene Momente des menschlichen Willens ein: »Der Wille hat aber wieder zwei Seiten, eine reale, die sich auf die Individualität des Menschen bezieht, den Eigenwillen, und eine allgemeine oder ideale Seite, den Verstand.« (AA II,8, 158) Die Georgii-Nachschrift spricht gar – darin noch näher an der Willenskonzeption der Freiheitsschrift – von dem »Wille[n], in dem eine dreifache Seite zu betrachten ist!« (AA II,8, 159.) Vgl. dazu auch oben, Teil II, Kap. 1.1.2. Anm. 46. 111 Vgl. dazu auch Hegels kurze Bemerkung zur Freiheitsschrift in GeschPh III, TWA 20, 444.

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Schelling im Zuge der öffentlichen Darstellung seines Systems nur einige Monate nach der Publikation der Freiheitsschrift um einer mehr oder weniger stringent-einheitlichen Darstellung des Ganzen willen die genannten Momente bewusst ausgespart hat, während in der Freiheitsschrift die Frage nach dem Zusammenhang mit dem Systemganzen zumindest noch nicht im Zentrum stand und in allen Details ausformuliert werden musste. 112 Zwar leisten auch die Stuttgarter Vorlesungen für die 1809 eröffnete Problemstellung zumindest in einer Hinsicht einen wichtigen Beitrag, welche allerdings mit dem in sich pluralen Wollen und dem Motiv eines alles Willentliche an sich abprallen lassenden Entzugs auf den ersten Blick gar nicht zusammenzuhängen scheint – nämlich hinsichtlich des der jüdischen Kabbala entlehnten Motivs des ›Zimzum‹, der freiwilligen Selbsteinschränkung Gottes. 113 Doch die eigentliche Ausformulierung des Zusammenhangs der in der Freiheitsschrift neu aufkommenden Motive mit dem Systemganzen unternehmen ab 1811 in aller Deutlichkeit und in immer wieder neu ansetzenden ›Anläufen‹ oder Versuchen 114 erst die Weltalter. Dieser unmittelbaren thematischen Fortsetzung der Freiheitsschrift durch die Welt112 Dass die Stuttgarter Vorlesungen gleichwohl nicht frei von internen systematischen Spannungen sind, dazu vgl. Schwab 2014, bes. 52–64. 113 Vgl. dazu unten, Teil II, Kap. 2.2.1. Vgl. hierzu auch Schulte 1994. 114 Schellings Weltalter-Philosophie ist in zahlreichen Fragmenten und Vorlesungen überliefert, so insbesondere durch die 1946 von Manfred Schröter veröffentlichten Fragmente von 1811 und 1813 (WA I–III, 3–184) sowie das in den Sämmtlichen Werken erschienene, durch Schellings Sohn herausgegebene Fragment von 1814/15 (SW VIII, 195–344). Über diese drei großen und wohl wichtigsten Fragmente hinaus liegen außerdem einige der zahlreichen im Berliner Nachlass lagernden Textkonvolute der Weltalter-Philosophie (vermutlich von 1811–1819) in gedrucker Form vor (Schelling 2002 u. Schelling 1974, 30–52). Des Weiteren sind auch noch die Erlanger Vorlesung von 1821 sowie – wie bereits deren Titel anzeigt – die Münchener Vorlesungen von 1827/28 und von 1833 (Schelling 1827/28 u. Schelling 1832/33, 278–488) zum Weltalter-Projekt zu zählen, wenn man nicht gar dem französischen Schelling-Forscher Xavier Tilliette darin zustimmen will, dass das Weltalter-Projekt letztlich realisiert sei, »plus ou moins méconnaissable, dans l’imposant édifice des cours de Munich et de Berlin« (Tilliette 1987, 241). Gleichwohl sollen in diesem Teil aus thematischen Gründen nur die der ersten Münchener (Kap. 2.) und der Erlanger Phase (Kap. 3.) angehörenden Weltalter-Texte herangezogen werden, da die Münchener Vorlesung von 1827/28, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. unten, Teil III, Kap. 1), die schellingsche ›Willensphilosophie‹ nochmals um ein gänzlich neues Motiv bereichern wird – nämlich die Figur Gottes als ›Herrn des Seins‹ – und dabei gewissermaßen eine ›Kehre‹ vollzieht, welche die Abwertung des Wollens gerade in Erlangen zumindest wieder partiell zurücknimmt.

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alter entspricht auf formaler Ebene zudem Schellings Charakterisierung derselben als eines »Gespräch[s]« oder einer »innere[n] Unterredungskunst«, die »das eigentliche Geheimniß des Philosophen« sei (WA II, 114; SW VIII, 201; vgl. WA I, 5). Denn damit greift Schelling unmittelbar den 1809 geäußerten Gedanken einer »wie gesprächsweise«, wenn auch ohne »die äußre Form des Gesprächs«, sich entfaltenden philosophischen Darstellung auf, von welcher er auch schon damals bemerkte, dass er sie »künftig beybehalten« werde (AA I,17, 174 Anm.). 115 Insofern dürfte es durchaus gerechtfertigt sein, im Folgenden unmittelbar mit der Darstellung der Willensproblematik in den Weltaltern fortzufahren, 116 zumal die Stuttgarter Privatvorlesungen bezüglich des genannten Aspektes gleichwohl noch berücksichtigt werden (Kap. 2.2.1). Im Zentrum soll im Folgenden vor allem das Fragment von 1811 stehen, das die voluntativen Bestimmungen in seinen Ausführungen stärker heranzieht als die anderen beiden großen Fragmenten von 1813 und 1814/15, die die anthropomorphistischen Beschreibungen zumindest teilweise zugunsten einer abstrakteren, auf die Begrifflichkeiten der ›Potenzenlehre‹ rekurrierenden Sprache zurückzudrängen suchen. 117 Hierin wird die anhand der Freiheitsschrift herausgearbeitete Konstellation von Pluralisierung des Wollens, Kritik bestimmter Willensformen und gänzlichem ›Lassen‹ vom Wollen nochmals vertieft und weiter systematisiert – und dies, wie schon im Falle der Freiheitsschrift, sowohl auf der Ebene des Menschen wie auch der des Absoluten. Um dies nachzuvollziehen, ist zunächst darauf einzugehen, wie Schelling in den Weltaltern jenen 1809 durch die Figur des ›Ungrunds‹ umschriebenen Ort, der dort noch unverbunden den verschiedenen Willensformen gegenüberstand, nun mittels der Struktur eines ›nichts wollenden Willens‹ um-

115 Zwar spricht auch die Georgii-Nachschrift bezüglich der Privatvorlesungen von »Unterredungen« (AA II,8, 67). Doch dürfte dieser Ausdruck hier allein auf die ›äußere Form‹ bezogen sein, um die es Schelling 1809 mit seiner Bemerkung ja explizit nicht geht; so erwähnt der Sohn Schellings im »Vorwort« zum siebten Band der Sämmtlichen Werke mit Blick auf die Vorlesungen von 1810, dass Schellings »jedesmalige[…] Mittheilungen die Thesis für eine dem Vortrag folgende Unterredung bildeten« (SW VII, VI). 116 Vgl. zum folgenden, den Weltaltern gewidmeten Kapitel mit Blick auf die voluntativen und tragischen Aspekte auch Höfele 2016a, 79–86. 117 Vgl. zu einer gedrängten, gegenüberstellenden Zusammenfassung dieser drei Fragmente Lanfranconi 1992, 294–346.

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besetzt, um derart gerade jenen 1809 nicht erläuterten Übergang und damit die Einheit des Systemganzen aufzeigen zu können (Kap. 2.1). Doch um jenen Übergang sowohl in Bezug auf das Absolute wie auch den ›sich selbst überwindenden Charakter‹ des Menschen (vgl. WA I, 94) gänzlich explizieren zu können, muss Schelling zugleich zeittheoretische Überlegungen in die Argumentation mit einbinden: Schelling verknüpft denn auch die prinzipientheoretischen Reflexionen in den Weltaltern mit der gegenwartskritischen Zeitdiagnose eines sich gegen seine eigenen Grundlagen richtenden und infolgedessen in sich selbst kreisenden Wollens, welche er auch bereits ansatzweise – wenn auch nicht explizit zeittheoretisch gewendet – in der Freiheitsschrift anhand der Erörterungen zum menschlichen Bösen angedeutet hat und nun auf das Ganze von Welt und Geschichte hin universalisiert (Kap. 2.2). Dieser negativen Diagnose hinsichtlich des intramundanen Zustands setzt Schelling gleich auf zweifacher Ebene die Forderung einer Selbstzurücknahme des Wollens oder eines ›Sichvon-sich-Scheidens‹ entgegen, das jene Negativität überwinden oder zumindest ›verwinden‹ soll, wie man mit einem Ausdruck Heideggers sagen könnte: So artikuliert Schelling nämlich in den Weltaltern nicht allein mit Blick auf die unterschiedlichen, aus dem Absoluten hervorbrechenden Willenstendenzen, auf die jene allumfassende innerweltliche Negativität des Immergleichen zurückgeführt wird, die Notwendigkeit einer ›Scheidung‹ oder eines ›Ablassens‹ der unterschiedlichen Willenstendenzen voneinander. Auch mit Blick auf den Menschen im Besonderen führt Schelling aus, dass gerade die Selbstzurücknahme des Wollens als beständiges Korrektiv zumindest regulativ die Aussicht auf ein gelingendes Selbst- und Weltverhältnis offen zu halten verspricht. Über jene dem Voluntativen gegenüber geltend gemachten Motive des ›Lassens‹ zeigt er nicht allein eine notwendige Anerkennung der Endlichkeit innerhalb seiner Willensreflexionen auf, sondern führt gleichzeitig noch die Konstitution sowohl positiver als auch negativer Zeitlichkeits- und sogar Ewigkeitsformen auf bestimmte Willensformationen zurück (Kap. 2.3). Rückwirkungen zeitigen diese schellingschen Überlegungen zur Endlichkeit und Zeitlichkeit des Wollens dabei nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Methode und die Form der Weltalter, worauf das abschließende Kapitel dieses Teiles zu den Weltaltern hinweisen soll (Kap. 2.4). So kann sich, um mit Heidegger zu sprechen, der ›Wille zum System‹ hier lediglich in mehrfacher Weise ›gebrochen‹ artikulieren: Zwar habe, wie Schelling in den Einleitungsentwürfen zu den 153 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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Weltaltern bemerkt, »nicht der Dichter allein«, sondern »auch der Philosoph […] seine Entzückungen«; doch da wir »nicht im Schauen« leben und »unser Wissen […] Stückwerk [ist], d. h. […] stückweis, nach Abtheilungen und Abstufungen erzeugt werden [muß], welches nicht ohne alle Reflexion, geschehen kann«, so muss das in solchem ›Schauen‹ Enthaltene generell als nicht willentlich Erzeugtes aufgenommen 118 sowie fortwährend »entfaltet und theilweis auseinandergelegt« werden (WA I, 6 f.; WA II, 115; SW VIII, 203). Schellings 1809 aufkommende neue Sicht des Wollens hat mithin sogar auf performativer Ebene Konsequenzen für eine sich ›gesprächsweise‹ oder als »innere Unterredungskunst« entfaltende Systemdarstellung, die infolgedessen auch Brüche und Begrenztheiten in ihrer argumentativen Stringenz nicht scheut (WA I, 5; vgl. WA II, 113 f.; SW VIII, 201).

2.1. Der ›unbedingte‹ Einheitsgarant des Ganzen: Die überzeitliche Freiheit als ›nicht(s) wollender Wille‹ Anders als die Freiheitsschrift beginnen Schellings Weltalter-Fragmente fast durchgängig mit einem einer ›Prinzipienreflexion‹ vergleichbaren Abschnitt. Schon dies allein deutet darauf hin, dass Schelling mit dem Weltalter-Projekt eine Darstellung des ›System‹Ganzen unter Einbezug der insbesondere in der Freiheitsschrift neu herausgestellten konstitutiven Momente von Wille und Wollen verfolgt. Gleichwohl ist mit Blick auf die in der Freiheitsschrift angesprochenen Phänomene klar, dass dieses ›System‹ und dessen alles zusammenhaltendes ›Prinzip‹ nicht mehr in der Weise arikuliert werden können, wie Schelling dies etwa noch in paradigmatischer und beinahe klassischer Weise 1800 im System des transcendentalen Idealismus getan hatte (vgl. AA I,9,1, 23–67). Hieß es 1800 noch zum einen, dass »das System des Wissens nur alsdann als vollendet zu betrachten [ist], wenn es in sein Princip zurückkehrt« (AA I,9,1, 39), welches mithin als in sich gleich bleibend betrachtet wurde, so wird 1811 das »Princip« als »Ein Subjekt, Ein Lebendiges, das sich in ihm [dem Sys118 Dies hat denn nicht zuletzt auch im Blick auf die Form eines philosophischen Werkes die Forderung nach einer »Scheidung«, der »Verdoppelung unsrer selbst« oder jenem »geheime[n] Verkehr« zur Folge, »in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein wissendes oder vielmehr das die Wissenschaft selber ist, und ein unwissendes nach Klarheit ringendes« (WA I, 5; vgl. WA II, 113 f.; SW VIII, 201).

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tem, P. H.] entwickelt« (WA I, 47), verstanden. 119 Zum anderen ging Schelling 1800 noch davon aus, dass »jedes wahre System, (wie z. B. das des Weltbaues), den Grund seines Bestehens in sich selbst haben muß«, und »wenn es ein System des Wissens giebt, das Princip desselben innerhalb des Wissens selbst liegen« muss (AA I,9,1, 44). 1811 aber wird die durch »Dialektik« im ursprünglichen Sinne des Wortes gekennzeichnete Philosophie gerade als »Gespräch« begriffen, dem das »wissende[…]« Wesen oder Prinzip äußerlich ist und in dessen Zuge dieses allererst angeeignet werden muss (WA I, 5; WA II, 114; SW VIII, 201). Dieses Prinzip bestimmt Schelling dabei in sämtlichen erhaltenen Weltalter-Entwürfen als »ewige Freyheit«, die »über allem Seyn ist« und zugleich »der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen [ist], was über aller Zeit ist.« (WA I, 14) 120 Zwar ist die Behauptung einer Zeit- und Welttranszendenz der Freiheit mit Blick auf Kant zunächst nicht allzu verwunderlich, postuliert doch dieser ebenfalls die transzendentale Freiheit als der Empirie sowie der Zeit nicht unterworfen (vgl. KrV, A 551–553/B 579–581). Gleichwohl ist es nicht gänzlich selbstverständlich, dass ein augenscheinlich gerade auch der Zeitphilosophie gewidmetes Werk seine Darstellung mit einer jenseits von Zeit und Sein situierten Struktur eröffnet – weist doch Schelling bereits 1810 in seinem philosophischen Tagebuch auf jene zeitphilosophische Thematik unter dem Stichwort »3 Weltalter« hin (Tagebücher 1809–1813, 52), womit, wie das so genannte »Früheste Conzeptblatt« erläutert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »als drei wirkliche von einander verschiedene Zeiten« gemeint sind, »die ich [Schelling, P. H.] mir auch Weltalter zu nennen erlaube« (WA III, 188). Jedoch ist diese Transzendenz der ›ewigen Freiheit‹ zum einen weniger im Sinne einer radikalen, gänzlich beziehungslosen Jenseitigkeit als vielmehr im Sinne einer Erhabenheit derselben über Zeit und Sein zu verstehen. So spricht Schelling davon, dass sie dasjenige sei, das »in aller Entwicklung sich offenbaren will« (WA I, 14). Schel-

119 Diese ›Wende‹ in der Bestimmung des Systemprinzips deutet sich 1810 in Stuttgart zwar schon an, ohne dass Schelling allerdings bereits die Spannung zwischen einem als Identität bestimmten Prinzip und einem Differenz und Werden integrierenden Prinzip aufzulösen weiß (vgl. AA II,8, 76 f.; vgl. dazu Schwab 2014, bes. 60– 62). 120 Vgl. auch WA II, 150; SW VIII, 234; Schelling 2002, Bd. 1, 117 u. 174 passim.

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ling greift 1811 mit dieser Herausstellung der Transzendenz absoluter Freiheit gegenüber dem Sein, wie Jens Halfwassen gezeigt hat, somit nicht zuletzt auch auf die platonistische »Metaphysik des Einen« 121 oder genauer auf dessen Beschreibung der ›Idee des Guten‹ zurück, welche »über das Sein an Ursprünglichkeit und Einfluss hinausrage«. 122 In Anlehnung an Platon erklärt denn auch Schelling, »daß sein [des Wesens der ewigen Freiheit, P. H.] urerster unbedingter Zustand über allem Seyn ist« (WA I, 14). Damit ist jedoch Schelling zufolge zum anderen das Sein »schon ein tieferer Zustand des Wesens« (der Freiheit), da in ihm in Gestalt des Werdensprozesses als eines ununterbrochenen Fortschreitens von einem endlichen und bedingten Zustand zum nächsten eine Notwendigkeit herrsche, welche die Unbedingtheit der ursprünglichen Freiheit nur gleichsam ex negativo zur Geltung bringe: So wohne einem jeden von uns »das Gefühl bei, daß Die Nothwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt. […] [A]lles Seyende hat den Stachel des Fortschreitens, des sich Ausbreitens in sich, Unendliches ist in ihm verschlossen, das es aussprechen möchte«, ohne dies aber als solches aussprechen zu können (WA I, 14). Die ›ewige Freiheit‹ als Systemprinzip ist so zwar das alles Organisierende, das jedoch – ähnlich wie der ›Ungrund‹ 1809 123 – in dem durch es Prinzipiierten nicht im Sinne eines offen vorliegenden Grundes nachgewiesen werden kann und nur gleichsam horizonthaft als ein ›Seinsollendes‹ aufscheint. 124 In analoger, wenn auch weniger radikaler Form hatte Schelling bereits im System des transscendentalen Idealimus von 1800 davon gesprochen, dass das »Seyn überhaupt […] nur Ausdruck einer gehemmten Freyheit« sei (AA I,9,1, 70). Jedes Seiende ist nach Schelling als misslungener Ausdruck oder unvollkommene Verwirklichung jener ursprünglichen Freiheit zu interpretieren. Der allem Seienden innewohnende ›Stachel des Fortschreitens‹ hat Schelling zufolge mithin seinen Grund darin, dass das allem Endlichen inhärierende Unendliche über jenes permanent hinaustreibt und sich derart in eine ›ewig‹

Halfwassen 2004, 476. Platon, Politeia, 509b (Platon 2005, Bd. 4, 544): »ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος«. 123 Schelling selbst zieht diesen Vergleich, wenn er in dem Fragment NL 80 von der »Begründng d. Princips welches = Ungrund ist« spricht (Schelling 2002, Bd. 1, 117). 124 Vgl. zu den hiermit einhergehenden negativistischen Ansätzen in Schellings Weltaltern unten, Teil II, Kap. 2.2. 121 122

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das Gleiche perpetuierende Zeitform verstrickt, wie unten noch genauer zu zeigen sein wird. 125 Schelling radikalisiert damit ein sich von der Freiheitsschrift herschreibendes doppeltes Problem, das zu lösen Aufgabe und Thema der Weltalter ist: Einerseits gilt es ein Prinzip zu installieren, das angesichts der beschriebenen tragischen Umbruchs- und Negativitätsstrukturen auch in der Lage ist, geradezu gegensätzliche Zustände aus sich zu generieren. Andererseits stellt sich damit einhergehend auch auf der Ebene des Menschen die Frage nach der Möglichkeitsbedingung einer, mit der Freiheitsschrift gesprochen, »Transmutation«, nachdem die von Kant modifiziert aufgegriffene Struktur der ›intelligiblen Tat‹ ja »alle Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, für dieses Leben wenigstens« abschneidet (AA I,17, 155 f.). Schelling sucht diese beiden aus der Freiheitsschrift ererbten Probleme in den Weltaltern anhand einer spezifischen Zeittheorie zu lösen. Zeit wird dabei nicht mehr kantisch als bloße ›Anschauungsform‹ verstanden, sondern in Anlehnung an Aristoteles 126 anhand einer Bewegung (κίνησις), die gleichwohl von ihr zu unterscheiden ist, oder genauer als Folge einer bestimmten willentlichen Handlungsweise. Erst diese spezifische Verbindung der Prinzipienreflexionen und Überlegungen zum ›(intelligiblen) Charakter‹ mit zeittheoretischen Erörterungen vermag denn auch in argumentativ konsistenter Weise Konstellationen des Umbruchs zu erklären, wozu weder ein statisch sich durchhaltendes Prinzip noch ein unveränderlicher, zeitenthobener ›intelligibler Charakter‹ in der Lage wäre. Indem die Weltalter sowohl diese Zeitenthobenheit wie die Statik eines sich durchhaltenden Prinzips zurückweisen, vermögen sie die Möglichkeit eines Übergangs zwischen verschiedenen negativen wie positiven Zeit- und Ewigkeitsformen und insbesondere die Möglichkeit der Überwindung jener angezeigten Notwendigkeitserfahrung in Form einer in sich kreisenden Zeit zugunsten eines freien Verhältnisses zu Zeit und Welt zu erklären.

Vgl. unten, Teil II, Kap. 2.2. Vgl. Aristoteles, Physik, IV,10, 218b. Vgl. hierzu Böhme 1974, 159–194, bes. 171, sowie, auch kritisch, Figal 2006, 308–318. Schelling folgt allerdings nur mit Blick auf diese Gedankenfigur Aristoteles’ Zeitbegriff; hinsichtlich seiner Kritik an der linearen Zeitvorstellung wendet er sich hingegen neben Kant auch gegen Aristoteles. 125 126

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Hierzu greift Schelling auf eine Willensphänomenologie zurück, die, insofern sie Formen der Zeitkonstitution in sich einbegreift, nicht allein nochmals den Ansatz der eigenen Freiheitsschrift überbietet, sondern gleichzeitig auch noch deutlich mit der kantisch-fichteschen Bestimmung des Willens bricht. Zunächst insistiert Schelling darauf, dass jene als Absolutes fungierende Freiheit weder als ein »Seyendes« (WA I, 14) – im Sinne der Spinoza zugeschriebenen Annahme einer »todten Substanz« (SW VIII, 341), wie Schelling im Weltalter-Fragment von 1814/15 kritisch hervorhebt – noch als ein »Subjekt« (WA I, 14) etwa in Gestalt des ›absoluten Ichs‹ fichtescher Provenienz aufzufassen sei. 127 Vielmehr sei diese Freiheit »die wahre, die absolute Einheit von Subjekt und Objekt, da keins von beyden und doch die Kraft zu beyden ist« (WA I, 15 f.). Doch indem sie weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr – wie der ›Ungrund‹ in der Freiheitsschrift 128 – die gegenüber allen Gegensätzen indifferente, unfassbare Einheit von Subjekt und Objekt darstellt, ist sie Schelling zufolge gleichzeitig »ein Nichts« (WA I, 15). Die ewige Freiheit ist, so bemerkt Schelling präzisierend in einem geradezu paradoxen Rückgriff auf den Willensbegriff, »wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird« (WA I, 15). Im Anschluss an einen »älteren deutschen Schriftsteller[…]« – wohl Meister Eckhart, Angelus Silesius oder eventuell auch Thomas von Kempen 129 – nennt er einen solchen Wil127 So habe Fichtes »Grundgedanke des Ich«, wie Schelling in dem Fragment von 1814/15 erklärt, zu Unrecht die »Hoffnung eines ins Lebendige geführten, erhöhten Spinozismus« erweckt (SW VIII, 342). Gleichwohl lässt die schellingsche Beschreibung der »ewigen Freyheit« als einer solchen, die »ganz Eins mit ihrem Tun, und es selber« ist (WA I, 15), von Ferne an Fichtes Forderung denken, »den Begriff der Thätigkeit sich hier [bei der Thathandlung, P. H.] ganz rein zu denken« (GA I,2, 293). 128 Vgl. AA I,17, 170 f.: »Die Indifferenz [des Ungrundes, P. H.] ist nicht ein Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in ihr enthalten, sondern sie ist ein eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen, das nichts andres ist als eben das Nichtseyn derselben, und das darum auch kein Prädicat hat als eben das der Prädicatlosigkeit, ohne daß es deßwegen ein Nichts oder ein Unding wäre.« Zwar spricht Schelling 1809 von dem ›Ungrund‹ als ›Nichtsein‹ aller Gegensätze, doch will er diese Struktur noch nicht wie 1811 als ein ›Nichts‹ bezeichnen. 129 Auch wenn die Figur der ›geistigen Armut‹ auf Meister Eckhart zurückgeht, so könnte auch der Cherubinische Wandersmann des Angelus Silesius hier gemeint sein, auf den als einen »Sinndichter des 16. Jahrhunderts« Schelling einmal in dem SW-Fragment der Weltalter anspielt (SW VIII, 200). Auch Silesius kennt nämlich, wenn auch nicht auf den Willen bezogen, dieses Motiv der ›Armut‹ (vgl. die Distichen in Silesius 1657, 14 (»65. Armut ist göttlich«), 59 (»148. Der Arme im Geiste«) u. 135

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len »arm« (WA I, 15). In seiner sogenannten Armutspredigt charakterisiert Eckhart den ›armen Menschen‹ nämlich durch eine Selbstgenügsamkeit, in der man »niht enwil«: 130 »Dô wolte ich mich selben und enwolte kein ander dinc; […] hie stuont ich ledic gotes und aller dinge.« 131 Wie für Eckhart so ist auch für Schelling dieser ursprüngliche Zustand durch eine Gleichgültigkeit oder, mit Eckhart gesprochen, ›Gelassenheit‹ gegenüber allen äußeren Dingen gekennzeichnet. Indessen enthält ein derartiges ›Nichts‹, verstanden als ruhender Wille, gleichzeitig auch wieder alles: »Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles« (WA I, 15). In Gestalt einer, wie Jens Halfwassen anmerkt, »Methodenreflexion« 132 macht Schelling im Folgenden nun deutlich, dass die in dem Begriff des ›Nichts‹ ausgesprochene Negation nur auf das Fehlen eines jenen ruhenden Willen allererst fassbar machenden ›Äußeren‹ verweise, wohingegen die Affirmation des ›Alles‹ sich auf dessen ›Inneres‹ beziehe: »Was alles in sich hhati, kann hesi eben darum hnichti hzugleichi äußerlich haben.« (WA I, 15) 133 Gerade die Tatsache, dass dieser Wille nichts ihm Äußerliches besitzt, verleiht ihm eine Selbstgenügsamkeit, die erst gar nicht wirksam zu werden begehrt: »So ist die Ewigkeit ebendarum, weil sie nach außen reinste Wirkungslosigkeit ist, in sich selbst die höchste Wesentlichkeit« (WA I, 15). Der ›nicht(s) wollende Wille‹ ist damit nicht allein durch eine Zurückweisung jedes möglichen Objektes gekennzeichnet, sondern besteht paradoxerweise in einer Verneinung des ihn charakterisierenden voluntativen Aspektes selbst. 134 (»210. Was die Armut des Geistes ist«).) Auch P. David geht von einer Anspielung auf Silesius aus (vgl. Schelling 1992, 27 Anm.); C. Jung verweist neuerdings mit überzeugenden Argumenten auf die pseudo-taulerische Schrift De imitatione Christi des Thomas von Kempen als mögliche Quelle (vgl. Jung 2019). Jedenfalls dürfte es sich ohne Zweifel um einen Autor aus dem Kontext der deutschen Mystik handeln. 130 Eckhart 1993, Bd. 1, 552. 131 Eckhart 1993, Bd. 1, 554. Auch von einem ›Lassen Gottes‹ spricht Schelling einige Jahre später 1821 in Erlangen: »[S]elbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will.« (SW IX, 217) Doch bereits 1811 nimmt dies Schelling von der Sache her an, wenn er erklärt, dass »jene Einfalt des Wesens über Gott zu setzen« sei (WA I, 16). 132 Halfwassen 2004, 470. Vgl. dazu auch Oser 1999, 189–191. 133 Schelling ersetzt, die Aussage des Satzes sprachlich präzisierend, die durch spitze Klammern angezeigten Streichungen nochmals wie folgt: »Was alles in sich ist, kann eben darum nichts äußerlich haben.« 134 Schelling verwendet in den Weltalter-Entwürfen sowohl die Formulierung ›Wille, der nichts will‹, womit nur die Objektbezogenheit verneint wird (WA I, 15, 17 f., 22,

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

Eine mögliche Beantwortung der Frage, inwiefern diese Struktur vollkommener Selbstgenügsamkeit dazu gelangt, wirkender Wille zu werden und sich auf ein bestimmtes Sein zu richten sowie sich als dieses zu verwirklichen, 135 deutet sich indessen anhand dieser in sich paradoxen Struktur bereits an. Denn einen wirklichen Willen repräsentiert jene Struktur nur, wenn sie den voluntativen Aspekt aktualisiert. Doch hat diese Aktualisierung für Schelling zwei fundamentale Implikationen: Zum einen geht sie nämlich mit einem Zeitmoment einher, weshalb die Verwirklichung dieses noch rein potentiellen, ruhenden Willens mit dem Anfang des »langen dunkeln Weg[s] der Zeiten« (WA I, 14) gleichzusetzen ist, den darzustellen sich Schelling schon mittels des Titels Weltalter seit spätestens 1810 zur Aufgabe gestellt hat. 136 Zum anderen kann aber diese sich in der Zeitlichkeit und somit auch der Endlichkeit vollziehende Aktualisierung des ursprünglich ›Nichts und Alles‹ seienden Willens – gemessen an ihrem Ausgangspunkt – nur eine ungenügende und daher negative sein. Wie bereits zu Anfang dieses Kapitels angedeutet, geht denn auch in den Augen Schellings diese Aktualisierung mit einer in sich kreisenden Bewegung einher, die in Form einer geradezu ›zwanghaften‹ Notwendigkeit jenen Anfang zu reproduzieren sucht. Allein die anerkennende Wiederbewusstmachung des Ursprunges jener durch Notwendigkeit charakterisierten Bewegung kann zu deren Überwindung führen, da – wie Jürgen Habermas resümiert – nur »mit dem geschichtlichen Ursprung von Herrschaft […] auch die Möglichkeit ihrer Aufhebung« 137 gegeben ist. Dass jene ›Herrschaft‹ nicht als grundsätzlich alternativlos zu bezeichnen ist, vermag nämlich lediglich der Nachweis sicherzustellen, dass und in welcher Weise jene 77, 89; WA II, 132–134, 137 f. u. 170; WA III, 210, 217 u. 227; SW VIII, 235 u. 239), als auch den Ausdruck ›Wille, der nicht will‹, oder ›nichtwollender Wille‹, der das Voluntative schlechthin verneint (vgl. WA III, 215 u. 217; SW VIII, 237 u. 298 f.). Die letztere Formulierung taucht indessen erst und verstärkt in den späteren WeltalterEntwürfen auf; im Manuskript der Erlanger Vorlesung von 1821 ist schließlich nur noch vom ›Willen, der nicht will‹ bzw. vom ›Willen, inwiefern er nicht will‹ die Rede (vgl. etwa MS 9b, 11c u. 84a; SW IX, 222). Trotz des Paradoxalen dieser letzteren Formulierung scheint Schelling – bis selbst in die Wortwahl hinein – im Zuge seiner ›mittleren‹ Philosophie zwischen 1809 und 1821 die Zurückweisung des voluntativen Vollzuges immer mehr betonen zu wollen. 135 Vgl. Challiol-Gillet 1998, 184. 136 In Schellings Tagebüchern findet sich erstmals am 15. September 1810 ein Hinweis auf die »3 Weltalter« (Tagebücher 1809–1813, 52). 137 Habermas 1982, 182.

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durch Notwendigkeit gekennzeichnete ›Herrschaft‹ einer Zeit des Immergleichen ihren Ursprung in einer zugleich zeitlosen und Zeit konstituierenden Freiheit hat, von der »ein Laut in allen höheren und besseren Lehren« sei, obgleich sie die »meisten […] nie empfanden« (WA I, 14). Um diesen Nachweis zu erbringen, geht Schelling folglich in den Weltaltern zwar zunächst scheinbar in Einklang mit Kant 138 von einem der Zeit und der Erscheinungswelt enthobenen, absolut freien Willen aus, der allerdings paradoxerweise ein nichts wollender, ›ruhender‹ und damit rein potentieller Wille ist, dessen Verwirklichung noch aussteht und nur über eine Pluralisierung desselben in verschiedene Willensmomente geleistet werden kann, die nach Schelling allererst Raum und Zeit eröffnen und infolgedessen auch allererst räumlich-zeitlich strukturiert sind. Schelling weist derart gegen Kant nicht nur eine generelle Zeitbezogenheit wirklichen Wollens nach, sondern widerspricht zugleich, insofern die Aktualisierung des Wollens – selbst aus dessen Autonomie heraus – auch in inadäquater Weise erfolgen kann, der generellen und wesentlichen Gutheit des reinen Willens in fundamentaler Weise. 139 Schließlich vermag Schelling über diese auch bezüglich der Freiheitsschrift neue Grenzbestimmung eines ›nichts wollenden Willens‹ den dort noch nicht geleisteten Übergang von der Struktur des ›Ungrundes‹ als gänzlicher Indifferenz zu der Duplizität etwa von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ oder ›Willen des Grundes‹ und ›Willen der Liebe‹ erstmals zu explizieren, womit zugleich die Behauptung ›Wollen ist Ursein‹ (vgl. AA I,17, 123) wieder Geltung erhält. 140

138 Vgl. Ramelow 2004, 65–67, der auf das Problem hinweist, dass bei Kant »der Wille […] nicht sinnlich zur Erscheinung kommen kann« (Ramelow 2004, 65). 139 Vgl. hierzu Schellings Bemerkung in WA I, 90: »Daß im Guten selbst, also auch im höchsten Guten ein Princip liegt, das, wenn es sich aus der Verborgenheit oder Unterordnung erhöbe, dem Licht und der Liebe widerstrebte, und daß eben in der Bewältigung dieses immer wenn gleich nur potentiell vorhandenen Bösen die wirkliche Güte besteht, geben wir nach unsern Begriffen nicht bloß zu, sondern behaupten es als eine unwiderlegliche Wahrheit.« 140 Schelling kann aufgrund dieser Uminterpretation des Wollens den Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) aus der Freiheitsschrift auch selbst noch in seiner Berliner Spätphilosophie affirmativ aufgreifen (vgl. SW XI, 388 u. Schelling 1841/42, 179). Vgl. dazu genauer unten, Teil III, Kap. 2.2.1.

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2.2. Die Zeit des Immergleichen als Kennzeichen einer Negativität des Wollens Schelling beschreibt in den Weltaltern zwar in erster Linie »das Urlebendige […], das Wesen, dem kein anderes vorausgeht, also das älteste der Wesen« (WA I, 3; WA II, 111; SW VIII, 199). Doch die Darstellung dieses Wesens und seines Wollens »menschlich nehmen[d]« (WA I, 17), liefert Schelling zugleich eine Beschreibung des menschlichen ›Willenshaushaltes‹. Schelling zeigt hierbei, wie sich jener gerade beschriebene rein potentielle Wille nur anhand verschiedener Willensmomente aktualisieren kann, denen in ihrer Verschiedenheit und gar Gegenläufigkeit generell Rechnung zu tragen ist. Denn das Streben nach Verabsolutierung einer der gegenläufig ausgerichteten Willensintentionen, die gleichwohl einem gemeinsamen Grund entstammen, hat unvermeidlich, wie Schelling betont, einen Streit zur Folge, in dem beide Willensmomente in dem jeweils anderen gegen ihre eigenen Voraussetzungen ankämpfen. Aufgrund der Unmöglichkeit dieser Absicht begründe dies aber eine negativ konnotierte Zeitform, die Schelling als »Rad einer unablässig in sich selbst gehenden Bewegung« beschreibt (WA I, 39), welche weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und in ihrer Eigendynamik ein immer stärkeres Verlangen »nach Befreyung und nach Errettung aus der Nothwendigkeit« (WA I, 35) dieses sich unablässig perpetuierenden Zustandes hervorruft. Schelling formuliert derart eine Kritik des modernen Subjekts, dessen durch eine voluntative Selbstbezogenheit gekennzeichneter Herrschaftsanspruch mit einem Absolutheitsimperativ einhergeht, der Schelling zufolge auf die mythologische Figur einer ›Wiederkehr des Gleichen‹ hin transparent gemacht und von ihr aus kritisiert werden kann. Um mithin den ›Machbarkeitssimperativen‹ der eigenen Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten, zeichnet Schelling in den Weltaltern eine Genese der unterschiedlichen Willensmomente des Subjektes und der daraus resultierenden Welt- und Zeiterfahrungen nach. Anders als Kant geht Schelling dabei nicht von einer generellen Gutheit reinen Wollens in seiner Bezogenheit auf das Sittengesetz aus, 141 sondern zeigt vielmehr auf, wie das Wollen gerade aus seiner zeitenthobenen Autonomie heraus in tragischer Weise einen ›nichtseinsollenden‹ Zustand generieren kann. Um diese Kritik der Weltalter an 141

Vgl. Prauss 1983, 144–146.

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der kantischen Willenskonzeption und damit einhergehend insbesondere auch an der fichteschen Konzeption der Selbstsetzung als eines voluntativen Aktes verständlich zu machen, ist zunächst im Rückgang auf den von Schelling bereits 1810 eingeführten Begriff der ›Kontraktion‹ aufzuzeigen, in welcher Weise Schelling im Wollen einen Übergang von der Potentialität zur Aktualität und damit auch, wie auszuführen sein wird, den Akt einer Selbstdifferenzierung zu denken anstrebt (Kap. 2.2.1). Erst im Anschluss daran ist der nach Schelling daraus resultierende ›nichtseinsollende‹ Zustand zu entwickeln, der nicht allein das nach reiner Selbstverwirklichung strebende Wollen desavouiert, sondern zugleich auch noch die Diagnose einer zukunftslos in sich kreisenden Gegenwart zur Folge hat (Kap. 2.2.2). 2.2.1. Die Wirklichkeit des Wollens: Zur Struktur des ›ersten Anfangs‹ als ›Kontraktion‹ und unwillkürlicher, tragischer Akt In ihrer 1974 erschienenen Doktorarbeit stellte Barbara Loer die sicherlich nicht unproblematische 142 These auf, dass Schelling die »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten« (SW VI, 28) letztlich »für das entscheidende Movens seines Philosophierens gehalten hat, daß folglich in allen Werken Schellings explizit oder implizit eine Antwort auf jene Frage zu finden sein muß«. 143 Wie auch immer man diese These letztlich bewerten mag, hinsichtlich der Weltalter muss man jedenfalls zugestehen, dass sie eine Antwort auf jene Frage zu formulieren suchen, indem sie, wie Jürgen Habermas herausstellte, 144 im Anschluss an Traditionen der jüdischen und der protestantischen Mystik – insbesondere an Isaak Luria und Jakob Böhme – von einer ›Kontraktion‹ des Absoluten ausgehen, das hierbei einen Raum für etwas Anderes neben sich freigibt. Innerhalb der Stuttgarter Privatvorlesungen greift Schelling erstProblematisch ist diese These zumindest mit Blick auf Schellings Bemerkung von 1802, wonach es ein »Irrthum der Vorstellungen« sei, »das ganze Geschäft und Werk der Philosophie […] in ein Ableiten, es sey aus dem Absoluten oder welchem andern Princip sonst, oder in ein Deducieren der wirklichen, erscheinenden Welt, als solcher« setzen zu wollen (SW IV, 396). Vgl. zur Kritik an Loers These auch Lanfranconi 1992, 110. 143 Loer 1974, 145. Vgl. auch ähnlich Courtine 1990, 240. 144 Vgl. Habermas 1982, 184 f. 142

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mals auf jenen Gedanken einer Kontraktion des hier noch einfachhin mit Gott identifizierten Absoluten zurück, mittels derer letzterer sich selbst einschränkt, um derart einen Freiraum für die Schöpfung der Welt zu eröffnen. Im Gegensatz zu einer passiven Einschränkung, die »Unvollkommenheit, relative[n] Mangel an Kraft« bedeute (AA II,8, 86), hat diese aktive und bewusste Einschränkung Gottes für Schelling nichts von Schwäche oder Machtlosigkeit an sich, vielmehr sei sie Zeichen einer ursprünglichen Freiheit: »In der Kraft sich einzuschließen liegt die eigentliche Originalität, die Wurzelkraft« (AA II,8, 86) und somit das Vermögen zu einem wirklichen Anfang, der lediglich im Zuge einer definitiven Ablehnung unzähliger alternativer Möglichkeiten Realität zu werden vermag. Folglich ist »Contraction […] der Anfang aller Realität« (AA II,8, 86). Sie stellt nicht nur den Ursprung der Schöpfung dar, sondern ist selbst im Falle Gottes »condition de son être véritable«, 145 da Gott in seinem Bestreben, ein »aktuelles, wirkliches Wesen« zu werden, sich über sein in der Selbstkontraktion entstandenes Gegenteil – als das ›Andere seiner selbst‹ 146 – begreiflich machen und damit »sich offenbaren, […] in der Existenz sich zeigen« muss (AA II,8, 76): So vermag nämlich Schelling zufolge »alles nur in seinem Gegentheil offenbar [zu] werden, also Identität in Nicht-Identität, in Differenz« (AA II,8, 76). 147 Challiol-Gillet 1998, 166. Dieser schellingsche Gedanke weist durchaus Parallelen zu der These Hegels auf, wonach – wie Dieter Henrich formuliert – »jedes […] Eines nur [ist], insofern es auch das Andere seiner selbst ist« (Henrich 2001, 199). Allerdings wird Schelling ab 1811 im Rückgriff auf diesen Gedanken einer vorschnellen Identifizierung der Alterität mit Identität ohne Anerkenntnis einer unverfügbaren Differenz gerade seine Hegel-Kritik entwickeln. So ist in Schellings Augen nämlich die Selbstverwirklichung des Absoluten im Bereich von Sein und Geschichte gerade nicht als progressive Selbstvermittlung der Idee wie bei Hegel zu verstehen, sondern als unbeabsichtigte Bewegung einer Selbstverstrickung des Absoluten, in der dessen ursprüngliche Freiheit und Gelassenheit verdeckt wird, sodass sie erst wieder im Zuge einer ›Scheidung‹ oder ›Krisis‹ zum Vorschein kommen kann (vgl. dazu unten, Teil II, Kap. 2.2.2). 147 Ganz im Sinne jenes 1812 in einem Brief gegenüber Eschenmayer verteidigten Anthropomorphismus mit Blick auf Gott, mit welchem Schelling die im Gefolge einer sich selbst begrenzenden Vernunft propagierte radikale Trennung der Bereiche des Göttlichen und des Menschlichen zu überwinden trachtet, weist denn auch schon der Autor der Stuttgarter Privatvorlesungen strikt jede Vorstellung eines »metaphysisch hinaufgeschraubte[n] Gott[es]« zurück. So heißt es in dem Antwortschreiben an Eschenmayer von April 1812: »Um Gott recht hoch und fern von allem Menschlichen zu stellen, nehmen Sie [gemeint ist Eschenmayer, P. H.] ihm sorgfältig alle verständigen und verständlichen Eigenschaften, Kräfte und Wirkungen ab« (F. W. J. Schelling 145 146

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Indessen wird gerade seit 1811 in den Weltalter-Fragmenten diese zuvor noch durchweg positive Einschätzung einer Selbstkontraktion im Falle des Absoluten – wie auch alles Endlichen und damit auch des Menschen – in radikaler Weise infrage gestellt. Schelling zerschlägt hier gewissermaßen jenen »Zirkel, daraus alles wird« (AA I,17, 130), wie es noch in der Freiheitsschrift geheißen hat, in seine Elemente, um aus diesen das Werden »genetisch« 148 zu rekonstruieren: Indem Schelling alles intramundan und innerzeitlich Seiende der Herrschaft einer absoluten Notwendigkeit unterworfen sieht, die es jenem Prinzip absoluter Freiheit gänzlich entfremdet und diese somit abblendet, ist er gleichzeitig dazu gezwungen, jener generell mit dem Anfang alles wirklich Seienden gleichgesetzten Kontraktion eine negative Variante derselben zur Seite zu stellen. 149 Genau dieser 1811 neu eingeführten Form der Kontraktion zeichnet Schelling denn auch die ›Negativität des ersten Anfangs‹ ein, welcher in seiner Verfehlung immer schon einen ›zweiten‹ fordert. 150 Denn allein der letztere vermag, wie noch zu explizieren sein wird, durch die Eröffnung einer unverstellten Zukunft und damit eines Raums wirklicher Freiheit im Zuge einer ›Scheidung von sich selbst‹ eine Korrektur des ersten, durch reine Notwendigkeit charakterisierten Anfangs ins Werk zu setzen. Im Folgenden wird allerdings zunächst die Struktur jenes ›ersten Anfangs‹ zu beschreiben sein, der erstens das Konzept einer negativ konnotierten Kontraktion einführt und dieses zweitens anhand einer an K. A. Eschenmayer, April 1812, SW VIII, 166.). Gleichzeitig weist er in Anspielung auf die christliche ›Kenosis‹-Lehre darauf hin, dass eine Kontraktion oder eine freiwillige »Herablassung Gottes […] nichts [ist], was Gott unwürdig wäre« (AA II,8, 86). Nach Schelling muss nämlich nicht notwendigerweise ein »recht hoch und fern von allem Menschlichen« (SW VIII, 166) situierter Gott mehr Größe besitzen, attestiert doch Schelling diesem Gottesbild der sich selbst bescheidenden Vernunft eine ebenso große Vorentscheidung wie dem des Anthropomorphismus: »Wenn […] meine Vernunft in dem, was Sie von Gott bejaht [nämlich den Anthropomorphismus, P. H.], sich über Gott gestellt hätte […], so würde ja die Ihrige [die von Eschenmayer angeführte, sich selbst bescheidende Vernunft, P. H.] in dem, was Sie von Gott verneint, es ebenso, ja noch weit entschiedener thun, indem sie sich a priori, ohne alle Untersuchung, bloß subjektiv über Gott abzuurteilen erlaubt« (SW VIII, 167 f.). Vielmehr zeigt sich in den Augen Schellings in der freiwilligen Einschränkung der eigenen unbegrenzten Möglichkeiten oder, anders gesagt, in der Selbstbescheidung die wahre Erhabenheit. – Vgl. hierzu auch Bensussan 2015, 85–90, der für diese Methode, den Menschen zum Maßstab zu nehmen, den Begriff ›anthropothétie‹ heranzieht. 148 Oser 1999, 156. 149 Vgl. Habermas 1982, 184–193. 150 Vgl. auch Hühn 2009, 230.

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Willenskonzeption ausbuchstabiert, die mit einer Zeitsetzung einhergeht, obgleich sich drittens auch dieses Konzept für die Entfaltung eines Systemprinzips als nicht tragfähig erweist, wie anhand eines kurzen Durchgangs durch die umfangreichsten und wichtigsten Weltalter-Fragmente gezeigt werden kann. (1) Wie Schelling im Zuge der Weltalter-Philosophie betont, stellt die aktive Selbstbeschränkung nicht allein das Privileg »ur- und grundkräftige[r] Naturen« dar (AA II,8, 86), die sich willentlich und bewusst für die Realisation einer der ihnen zu Gebote stehenden Möglichkeiten entscheiden und somit in reflektierter Weise die ihnen anvertraute Freiheit nutzen, sondern jene nach ihrem Vollzug unumkehrbare Selbstbeschränkung kann eben auch, wie Schelling in aller Deutlichkeit 1821 erklärt, 151 der Sache nach aber auch schon seit 1811 annimmt, Ausdruck einer »unwillkürlich[en]« Handlung sein, bei welcher gewissermaßen »der Wille nicht zur Besinnung gekommen sei und […] die Tat dem Willen zuvorkam« (Schelling 1821, 135). Doch ist diese Handlung nach Schelling deswegen keineswegs als unfrei, sondern vielmehr als tragisch zu bezeichnen. Das Tragische besteht hierbei gerade darin, dass jene Handlung zwar ein frei handelndes Subjekt voraussetzt, dieses aber gerade nicht – man denke etwa an König Ödipus – die verhängnisvollen und von ihm nicht gewollten Konsequenzen seines Handelns zu überblicken vermag: »in diesem Sinne waltet über dieser Tat ein Verhängnis; denn nie konnte sich jener Wille vorstellen, was aus dieser Tat entspringen würde« (Schelling 1821, 135). Innerhalb der Weltalter-Philosophie sowohl der ersten Münchener Phase als auch der Erlanger Zeit sucht Schelling diese »Verstrickung der Freiheit« (SW IX, 235) insbesondere auf zwei Ebenen nachzuweisen: 152 Zum einen verhält es sich nämlich – wie Schelling 1821 ausführt – mit dem endlichen Bewusstsein des Menschen ursprünglich derart, dass es »nur die Grundlage des absoluten oder allgemeinen Bewußtseyns« (SW IX, 235), nämlich der ewigen Freiheit, bildet. Vgl. dazu genauer unten, Teil II, Kap. 4.2.2. Insofern nach Schelling »[d]ie Nothwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt« und »alles Seyende […] den Stachel des Fortschreitens, des sich Ausbreitens in sich« hat, da »Unendliches ist in ihm verschlossen [ist], das es aussprechen möchte« (WA I, 14), ist vorauszusetzen, dass prinzipiell jedes Seiende Ausdruck jener ursprünglichen ›Verstrickung‹ der Freiheit ist, auch wenn Schelling dies nicht eigens ausführt. 151 152

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Doch kann es – wie Schelling in Anspielung auf Gen 3,3 bemerkt 153 – »nicht fehlen, daß der Mensch jene ewige Freiheit, die er ist (der er Subjekt [im Sinne von Grundlage, P. H.] ist), sich anziehe, sie für sich wolle« (SW IX, 235) und sie dabei gewissermaßen als eine ursprünglich unendliche in ein Endliches zu ›kontrahieren‹ trachte. Insofern das endliche menschliche Bewusstsein jedoch nur als passive ›Grundlage‹ für die Freiheit fungieren soll und, anstatt absolute Freiheit zu ›sein‹, nur Anteil an dieser ›hat‹, verkennt es in diesem hybriden ›Anziehen‹ oder Ergreifen absoluter Freiheit seine eignen Grenzen sowie die Konsequenzen seines Handelns. Denn indem der Mensch »das Universalbewußtseyn als sein individuelles« (SW IX, 235) beansprucht, setzt er eine, um eine prägnante Formulierung Lore Hühns heranzuziehen, »sich selbst reproduzierende Bewegung in Gang, die es gleichsam in die eigenen Hände nimmt, ihre Selbstdementierung zu betreiben«: 154 »Hier also der Widerspruch, daß der Mensch das, was er will, durch sein Wollen zunichtemacht. Aus diesem Widerspruch entsteht jene innere umtreibende Bewegung, indem das Suchende das, was es sucht, gleichsam in einer beständigen Flucht vor sich her treibt.« (SW IX, 235) Im hybriden Streben nach absoluter Autonomie verkehrt sich mithin in geradezu tragischer Weise das Handeln des Menschen zu einem solchen, das nur noch von zwanghafter Notwendigkeit Zeugnis ablegt. Gerade diese Figur einer der menschlichen Hybris innewohnenden Tragik macht denn auch – wie Lore Hühn gezeigt hat 155 – das Zentrum der Fichte-Kritik des ›mittleren‹ Schellings aus. Wenn nämlich Fichte etwa in Ueber die Würde des Menschen fordert, dass der Mensch solange handeln solle, »bis alle Materie das Gepräg seiner Einwirkung trage« (GA I,2, 88), so greift er in den Augen Schellings, ohne sich dessen bewusst zu sein, gerade auf jenes Handlungsmuster zurück, gemäß dem sich das Streben nach einer Verwirklichung absoluter Freiheit geradewegs in die den Menschen von seinem eigenen Wesen entfremdende Herrschaft des Immergleichen verkehrt. Zum anderen sucht Schelling jedoch bereits 1811 diese Herrschaft des Immergleichen nicht nur als eine allein den Menschen betreffende herauszustellen, sondern vielmehr als eine allumgreifende, welche 153 Zur sündentheologischen Lesart des neuzeitlichen Autonomiegedankens vgl. Hühn 2009, 230 f. 154 Hühn 1994a, 198. 155 Hühn 1994a, 225 f.

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das Ganze von Zeit und Welt umspannt. So wohnt Schelling zufolge »[e]inem jeden von uns […] das Gefühl bei, daß Die Nothwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt« (WA I, 14). In der Zeit seiner Arbeit an den Weltaltern wendet Schelling den Gedanken einer negativ einzustufenden Kontraktion damit zugleich auf das Sein annehmende Absolute 156 wie auch die gesamte ›gegenwärtige Welt‹ 157 an. Der Übergang ins Sein wird, gemessen an der ursprünglichen Intention einer adäquaten Selbstergreifung oder Selbstanschauung, als gänzlich negativ eingestuft und als »ein Herabsteigen, ein Fallen« sowie ein »Herabsinken in einen tieferen Zustand« charakterisiert, wie in einem der von Klaus Grotsch edierten Fragmente zu lesen ist (Schelling 2002, Bd. 1, 205 f.). Sobald nämlich jene oben beschriebene Struktur eines noch ruhenden, freien Wollens ins Sein übertritt, um sich darin zu aktualisieren, fällt sie in den Augen Schellings der verhängnisvollen ›Verstrickung‹ eines »Zurückmüssen[s] und Nicht-Zurückkönnen[s]« 158 in den erinnerten Ausgangszustand anheim: »Dieß ist das Verhängniß alles Lebens, daß es erst nach der Einschränkung und aus der Weite in die Enge verlangt, um sich faßlich zu werden; hernach, nachdem es in der Enge ist und sie empfunden hat, wieder zurückverlangt in die Weite und gleich wiederkehren möchte in das stille Nichts, darinn es zuvor war, und doch nicht kann, da es sein eigen selbstgegeben Leben aufheben müßte« (WA I, 34; vgl. auch Schelling 1821, 141). (2) Schelling beschreibt innerhalb des Weltalter-Fragmentes von 1811 diesen Übergang von der überzeitlichen Freiheit in die negative Zeit einer permanenten und unausweichlichen Wiederkehr des Gleichen nun genauer anhand der Struktur zweier im Absoluten erwachender Willen. »Wodurch«, so fragt Schelling 1811, »wurde diese Seligkeit bewogen, ihre Lauterkeit zu verlassen und herauszutreten 156 Vgl. WA I, 14 (vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 2.1). Prägnant bemerkt Schelling noch 1821 in Erlangen, dass, »nachdem es [das Absolute, P. H.] einmal Gestalt angenommen, […] nicht fähig [ist], unmittelbar wieder in seine ewige Freiheit durchzubrechen, sondern nur indem es durch alle Gestalten hindurchgeht« (SW IX, 219). 157 So heißt es in WA IV, 256, dass »die gegenwärtige äußere Welt durch ein hwirkliches Erniedrig Herabsetzungi Niederwerfen (per dejectionem) entstand, u. überhaupt ohne eine Katabole, […] d. h. ohne einen Prozeß, wodurch […] ein zuvor hhöheresi daseyendes zum Grund gelegt oder gemacht wird, gar kein Anfang denkbar ist«. 158 Hühn 1994a, 217.

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in das Seyn?« (WA I, 16) Um diesen Übergang nachzeichnen zu können, muss Schelling in jener reinen ›Lauterkeit‹ selbst »die Möglichkeit einer Differenz« 159 aufzeigen. Zwar sei es »unmöglich, daß diese Lauterkeit je aus sich selbst heraustrete, unmöglich, daß sie etwas von sich absondere, ausstoße, oder daß sie überhaupt nach außen wirke«, doch – so räumt Schelling ein – »innere Bewegungen lassen sich in solcher Innigkeit denken« (WA I, 17). Infolge einerseits des Zugeständnisses ›innerer Bewegungen‹ im Absoluten sowie andererseits unter dem Vorsatz, diesen Sachverhalt ›menschlich zu nehmen‹, sind Schelling die unter streng logischen Gesichtspunkten gleichwohl noch ungenügenden Mittel an die Hand gegeben, die Genese einer Differenz im Absoluten zu denken: Laßt es uns auch hier wieder menschlich nehmen; vielleicht daß es uns gelingt, jenes Verhältniß, das in der Abgezogenheit der Begriffe schwer zu fassen ist, anschaulicher zu erkennen. Wer vermag es, die Regungen einer Natur in ihren Uranfängen genau zu beschreiben, wer diese geheime Geburtsstätte des Wesens zu enthüllen? Doch läßt sich soviel einsehen, daß eine jede Natur im Zustande der ersten Innigkeit nichts sey als ein stilles Sinnen über sich selbst, das aber, weil sie es nicht von sich abzusondern vermag, seiner selbst nicht bewußt seyn kann; ein In-sichgehen, ein Sich-suchen und Sich-finden, das je inniger desto wonnevoller ist, und die Lust erzeugt, sich zu haben und sich äußerlich zu erkennen, welche Lust sodann den Willen empfängt, der der Anfang zur Existenz ist. Nur empfangen wird dieser Wille, nicht gezeugt, denn in dem lauteren Wesen ist keine hzeugende,i nach außen wirkende Kraft. Also zeugt jener andre Wille, der der Wille zur Existenz ist, sich selbst, und ist darum der ewige Wille zu nennen. (WA I, 17)

Schelling erläutert die Genese einer Differenz im Absoluten anhand einer Klimax zunächst als ein ›stilles Sinnen über sich selbst‹, das schließlich übergeht zu einem ›In-sich-gehen, einem Sich-suchen und Sich-finden, das die Lust erzeugt, sich zu haben und sich äußerlich zu erkennen, welche Lust sodann den Willen empfängt, der der Anfang zur Existenz ist‹. In unumkehrbarer Weise wird hier die anfängliche ›Innigkeit‹, die noch kein Außen kennt, zugunsten einer ›Lust, sich zu haben und sich äußerlich zu erkennen‹, aufgebrochen. Da die anfängliche ›Innigkeit‹ nämlich nicht nach außen zu wirken vermag, weil sie ja ursprünglich »Nichts und […] Alles« (WA I, 15) ist, kann sie das Gesuchte – eine äußere Erkenntnis ihrer selbst – nur 159

Oser 1999, 195.

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finden, indem sie für ein Anderes, nämlich für den ›Willen zur Existenz‹, empfänglich wird. Wirkliches Wollen, das zur Existenz führt und dabei für eine Entwicklung sorgt, wird derart zum einen im Sinne eines ursprünglichen Prinzipiendualismus klar von jenem noch ruhenden Wollen abgesondert. Zum anderen wird dieser »bestimmte Wille, der Etwas will« (WA I, 18), entgegen der kantischen Willensinterpretation als essentiell mit der Zeit verknüpft gedacht. Er sei das »erste Setzende der Möglichkeit einer Zeit« (WA I, 18), die sich im weiteren Fortgang des Fragmentes von 1811 zudem als eine negative, in sich kreisende Zeit erweist, insofern sie Ausdruck des Versuches ist, das nicht beabsichtigte Ergebnis der ersten Willensäußerung rückgängig zu machen, ohne dass dies allerdings möglich ist – so die noch näher auszuführende tragische Konzeption von 1811. 160 Während der erste noch ruhende Wille »mehr das Wollen der Ewigkeit selber war« (WA I, 17), wie Schelling anmerkt, so ist zwar der »andre Wille […] in der Ewigkeit und schon darum ein seiner Natur nach ewiger Wille« (WA I, 18). Insofern aber »mit dem Seyn Streben zur Offenbarung und zur Entwicklung kommt: so ist dieser andre Wille das erste Setzende der Möglichkeit einer Zeit« (WA I, 18). Ganz im Sinne von Aristoteles nimmt so auch Schelling an, dass Zeit »nicht mit Bewegung gleichzusetzen ist« 161 ist und folglich in Abhebung gegen letztere verstanden werden kann, obgleich Schelling einen entscheidenden Schritt auch über Aristoteles hinausgeht, wenn er die Willensbewegung zudem zu einer Möglichkeitsbedingung der Zeit macht. Zur genaueren Charakterisierung dieses Verhältnisses zwischen in sich ruhendem Willen der Ewigkeit und Zeit setzendem Willen sowie, damit einhergehend, zur Erläuterung des »Widerspiel[s] und Gegensatz[es]« zwischen Zeit und Ewigkeit als Nicht-Zeit führt Schelling das Bild eines sprießenden Samenkorns ein, das »als das Werk einer anderen Zeit unabhängig von der Zeit der zukünftigen Pflanze [ist] und […] beziehungsweise auf diese wohl als ewig angesehen werden« könnte (WA I, 18): »[A]ber kaum wirken die Kräfte der Erde und des Wassers in ihm, so greift es in die Zeit der werdenden Pflanze ein, nicht dadurch, daß es in ihr fortbesteht, sondern daß es als Samenkorn aufhört zu seyn und als Vergangenheit gesetzt wird.« (WA I, 18) Genauso wie die Zeit der Pflanze aus dem mit der Ewigkeit gleichge160 161

Vgl. dazu auch Höfele 2016a. Aristoteles, Physik, IV,10, 218b18 (Aristoteles 1987, 209; i. Orig. Herv.).

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setzten Samenkorn entsprießt, so ist dem Fragment von 1811 zufolge auch der zweite, »andere Wille« von der »Ewigkeit nicht absolut getrennt«, sondern »auf andere Weise wieder Eins mit ihr«, sodass man Schelling zufolge auch sagen kann, dass die als Samenkorn dargestellte Ewigkeit die Zeit gewissermaßen »schon als Möglichkeit enthielt« (WA I, 18). Doch diese Aufspaltung oder ›Übersetzung‹ der Ewigkeit in die zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit und Gegenwart infolge wirklichen Wollens kann nicht allein auf die ›Initiative‹ des ruhenden Willens der Ewigkeit zurückgeführt werden. Auch wenn es um die Aktualisierung einer in jener Potentialität der Ewigkeit ruhenden Möglichkeit geht, so kann das ›In-sich-Gehen‹, ›Sich-Suchen‹ und ›Sich-Finden‹, einhergehend mit der ›Lust, sich zu haben und sich äußerlich zu erkennen‹, doch gleichwohl nicht gänzlich aus sich heraus diese Intention erfüllen. Entsprechend dem Spiegelbild des Narcissus im ovidschen Mythos, welches die fatale Eigenliebe des Jünglings befriedigen soll, aber keineswegs zu befriedigen vermag, 162 kann nur ein zweiter Wille, der »sich selbst« zeugt und »darum der ewige Wille zu nennen« ist (WA I, 17), die narzisstische Selbstliebe 163 des ersten einer Erfüllung zuzuführen versuchen, was aber, wie Schelling darlegt, in einen nahezu ausweglosen Prozess hineinführt, der den ersten Gebrauch der Freiheit als deren Missbrauch herausstellt. 164 Es ist Schelling 1811 mithin keineswegs gänzlich gelungen, durch die Etablierung eines ›nichts wollenden Willens‹ »einen absoluten Dualismus als Grundlage der gesamten Wirklichkeit nicht nur [zu] vermeiden, sondern ausdrücklich aus[zu]schließen«, wie Barbara Loer die Intention Schellings reformuliert. 165 Schelling selbst gesteht durchaus zu, dass der Wille zur Existenz »in seiner Art eben so absolut seyn muß, als der Wille der nichts will«; 166 zugleich betont er aber auch, dass »vor dem andern Willen […] die Ewigkeit als ein Nichts Vgl. Ovidius Naso 1964, 104–113. Vgl. ähnlich Hühn 1994a, 216, die von »(narzißtischer) Selbstbespiegelung« spricht. 164 Hühn 2006b, 150. 165 Loer 1974, 201. 166 So konstatiert auch Jean-François Marquet, dass »toute la philosophie de la liberté suppose inévitablement un double point de départ«, denn, so seine Begründung, »il faudra […] qu’elle [die absolute Freiheit, P. H.] ait été engendrée dans l’existence, non par elle-même – car sa pureté la condamne au non-vouloir et au non-agir – mais par un autre terme qui […] devra être une autre volonté« (Marquet 1973, 452). 162 163

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[war]; sie war, hwasi dein Ich war, ehe es sich selbst gefunden und empfunden; 167 sie war, aber sie war als wäre sie nicht, und konnte darum auch nichts anderem thätig vorausgehen« (WA I, 17). Von einem Prinzipiendualismus kann man mithin erst von dem Augenblick des Tätigseins oder der Wirksamkeit des Wollens sprechen, wohingegen dem ›nichts wollenden Willen‹ der Ewigkeit, solange er noch – vergleichbar einem sich selbst noch nicht ›empfindenden‹ Ich – »reinste Wirkungslosigkeit« ist (WA I, 15), der Platz eines alleinigen Absoluten in keiner Weise streitig gemacht wird. Wie in dem aristotelischen Beispiel der träumenden Sardinier, für die Zeit im Traum nicht verfließt, so existiert der wollende Wille und damit die Zeit auch noch nicht, solange der ruhende Wille nicht zur Wirksamkeit ›erwacht‹ ist. 168 Allerdings wirft diese Struktur Fragen auf: Wie kann nämlich jener ›nichts wollende Wille‹ als alleiniges Absolutes fungieren, aus welchem alles Andere – mithin auch jener zweite Wille – erst entsteht, wenn er doch ursprünglich ›reinste Wirkungslosigkeit‹ ist? Sicher räumt Schelling »innere Bewegungen […] in solcher Innigkeit« ein und spricht im Zuge seiner anthropomorphistischen Darstellung sogar von einer »Lust«, die »den Willen empfängt, der der Anfang zur Existenz ist« WA I, 17). Doch vermag dieser Nachweis jenes ersten Willens als »gleichursprünglich relationsfrei und relational verfaßt«, 169 wie Thomas Oser festhält, keineswegs den Ursprung des aktiven zweiten Willens aus dem gänzlich passiven ersten Willen vollständig zu erklären. Vielmehr scheint in Anspielung auf eine For167 Obgleich Schelling an anderer Stelle die Struktur einer absoluten Freiheit deutlich von Fichtes Gedanken eines absoluten Ichs unterschieden wissen will, wenn er betont, dass diese nicht als ein »Subjekt« (WA I, 14) in Gestalt des ›absoluten Ich‹ fichtescher Provenienz aufzufassen sei, so bemerkt er hier gleichwohl – in unverkennbarer Anspielung auf Fichtes rhetorische Frage: »was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewusstseyn kam?« (GA I,2, 260) – bezüglich der ewigen Freiheit: »sie war, wie dein Ich war, ehe es sich selbst gefunden und empfunden« (WA I, 17). Die Pointe dieser schellingschen Anspielung liegt allerdings gerade darin, dass Fichte eine Hinterfragung jener Struktur des seiner selbst bewussten Ichs im Sinne einer genetischen Aufklärung für unmöglich hält (vgl. dazu auch Hühn 1994a, 64), während Schelling eine ewige Freiheit oder ein Ich, das sich selbst noch nicht ›gefunden und empfunden‹, durchaus für denkbar hält. In ähnlicher Weise hatte Schelling bereits 1800 die fichtesche ›Tathandlung‹ nochmals zu fundieren versucht (vgl. dazu oben, Teil I, Kap. 4 u. bes. Kap. 4.2). 168 Vgl. Aristoteles, Physik IV,11, 218b. 169 Oser 1999, 194.

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mulierung Jacques Derridas hier geradezu der Vorwurf angebracht, Schelling »accueille l’autre dans l’identité à soi«. 170 (3) Vergleicht man die unterschiedlichen Anfangsentwürfe der erhaltenen Weltalter-Fragmente, so zeigt sich denn auch deutlich, dass Schellings Konzeptionen des Hervorgangs des zweiten Willens aus dem ersten sich wandeln, und er mithin diesen Übergang als revisionsbedürftig angesehen hat. Noch 1809 erklärt Schelling innerhalb der Freiheitsschrift unmissverständlich, dass sich die Vorstellung einer Emanation als geradezu klassisches Modell eines solchen Hervorgangs niemals mit der Annahme eines zweiten, völlig autonomen Prinzips vereinbaren lasse: »Wie man auch die Art der Folge der Wesen aus Gott sich denken möge, nie kann sie eine […] Emanation [sein], wobei das Ausfließende dasselbe bliebe mit dem, wovon es ausgeflossen, also nichts Eigenes, Selbständiges« (AA I,17, 120). In dieser Weise aber verschwindet nach Schelling »im System der Emanation jeder eigentliche Gegensatz des Guten und Bösen« (AA I,17, 127). Nur zwei Jahre später rehabilitiert Schelling jedoch die 1809 so entschieden verworfene Emanationslehre, indem er sie zugleich in der Weise abzuwandeln sucht, dass sich mit ihr die Vorstellung einer Autonomie des Emanierten oder, um den Ausdruck der Freiheitsschrift zu verwenden, einer »derivirten Absolutheit« (AA I,17, 120) in Einklang bringen lässt: 171 Unläugbar ist, daß in gewissem Sinn ein jedes System der Emanation zum Anfang bedarf, indem das Erste, das auf die Ewigkeit folgt, nie durch eine Bewegung in dieser, sondern nur aus eigener Macht entspringen kann, wie das Ueberfließende sich selbst trennt von dem, aus welchem es überfließt. (WA I, 88 f.)

Schellings Strategie besteht gewissermaßen darin, die ›Materialursache‹, wie man im Anschluss an Aristoteles sagen könnte, dem ›nichts wollenden Willen‹ zuzusprechen, die ›Wirkursache‹ jedoch ganz auf die Seite des Emanierten zu ziehen, welches »nur aus eigeDerrida 1967, 73. Derrida bezieht diese Kritik zwar auf Husserl, unter rein systematischen Gesichtspunkten kann sie aber auch auf die von Schelling vorgelegte Konzeption angewandt werden. 171 Gang Xian bemerkt zwar gleichfalls Schellings Verständniswandel hinsichtlich der Emanation, ohne jedoch die Widersprüchlichkeit im Emanationsbegriff der Weltalter zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb vermag er auch nicht zu erklären, weshalb Schelling ab 1821 den negativ gefassten Emanationsbegriff von 1809 wieder aufgreift. Vgl. Xian 2005, 99 f. 170

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ner Macht« aus der Ewigkeit entspringe und darin »das erste Setzende der Zeit« darstelle (WA I, 18). Doch besteht das unabweisbare Problem dieser Konzeption darin, dass die Emanation, wie Schelling 1833/34 in seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie schon sehr viel vorsichtiger bemerkt, zwar »ein äußeres Getrenntwerden des Ausfließenden von seiner Quelle« (SW X, 52) zu erklären imstande ist, dass sie aber keineswegs als Grundlage für jene 1811 erstmals eingeführte negative Form der Kontraktion zu dienen vermag. 172 Dazu müsste dem ausgeflossenen zweiten Prinzip über sein ›Getrenntwerden‹ vom Absoluten hinaus auch die Fähigkeit zukommen, sich in radikaler Weise gegen seinen Ursprung zu wenden. Kein grundsätzlich anderes Bild ergibt sich für das Fragment von 1813: Unter dem bereits bekannten Vorsatz, »alles so menschlich und natürlich zu nehmen als möglich« (WA II, 145), wird auch hier das Absolute als »die Gelassenheit, die an nichts denkt und sich freut ihres Nichtseyns« (WA II, 134), bestimmt; »ein unbewußtes stilles Sich-selber-suchen sey das Zweyte« (WA II, 137). Doch, so heißt es weiter, »[i]ndem nun die Ewigkeit sich selbst bewußtlos zu suchen gedrungen ist, erzeugt sich in ihr, unabhängig von ihr, und ohne daß sie auch dessen sich bewußt ist, auf eine für sie unbegreifliche Weise, ein selbständiger Wille« (WA II, 137). Zwar führt hier Schelling das ›Bewusstlose‹ als Mittelbegriff ein, welcher nichts weniger als eine Erklärung für die Entstehung eines zweiten, autonomen Willens in jener tragisch-narzisstischen Selbstbespiegelung leisten soll. Doch gesteht Schelling selbst zu: »Die unbewußte Sehnsucht ist seine [des wirkenden Willens, P. H.] Mutter, aber sie hat ihn nur empfangen« (WA II, 137). Dadurch dass Schelling hier noch entschiedener als 1811 (vgl. WA I, 17) gegen Fichte Stellung bezieht und darauf insistiert, dass »nicht […] eine That, eine unbedingte Thätigkeit oder Handlung, das Erste« sein kann, sondern nur die Ruhe der »übergöttliche[n] Gleichgültigkeit« (WA II, 132), nimmt sich Schelling zugleich jede Möglichkeit die Genese jenes zweiten Willens aus dem

172 Mit Blick insbesondere auf Spinoza, aber auch auf alle Systeme, die sich bisher für die Emanation ausgesprochen hätten, erklärt Schelling 1833/34: »[A]uch behauptet er [Spinoza, P. H.] freilich nicht ein äußeres Getrenntwerden des Ausfließenden von seiner Quelle, wie man die Emanation gewöhnlich versteht (denn ob sie je und in irgend einem System, z. B. dem der jüdischen Cabbala, so zu verstehen gewesen sey, ist noch eine große Frage), sondern das aus Gott Folgende bleibt in Gott, und man kann insofern seine Lehre eine immanente Emanationslehre nennen.«

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ersten als Emanation begreiflich zu machen. Ein Prinzipiendualismus als Grundlage aller Realität scheint damit unvermeidlich. Aufs Deutlichste benennt Schelling die mögliche Alternative in dem nach Klaus Grotsch zwischen 1813 und 1817 verfassten Fragment NL 81. 173 So gebe es denn »zwei mögliche Erklärungen jenes Anderen« (Schelling 2002, Bd. 1, 221): Entweder führe man gleich zu Anfang einen unhintergehbaren Prinzipiendualismus ein oder man nehme – im Sinne der schellingschen Fassung des Emanationsgedankens von 1811 – an, »daß das Andere, ohne Zuthun der lauteren Gottheit, sich selbst von ihr abgesondert oder von ihr ausgeflossen, wodurch sie also in ihrer Stille und Freiheit blieb« (Schelling 2002, Bd. 1, 224). Während sich Schelling in dem Fragment NL 81 nochmals wie schon 1811 für die zweite Option entscheidet, zögert er 1814/15 nicht mehr, gleich zu Anfang einen Prinzipiendualismus einzuführen. 174 Infolge der Einsicht, dass »[u]nbegreiflich […] ein Uebergang von der Einheit zum Widerspruch« sei (SW VIII, 219), hält Schelling denn auch in dem Fragment von 1814/15 fest, dass in Gott ursprünglich zwei Prinzipien, nämlich »Nothwendigkeit und Freiheit« (SW VIII, 209), angenommen werden müssten. Da nach Schelling der Notwendigkeit in Gott als dessen Natur weiterhin eine Lebendigkeit zuzusprechen ist, sind auch »im Nothwendigen Gottes zwei Principien« (SW VIII, 211) zu finden. In keiner Weise sucht Schelling hier wie noch in den Jahren zuvor eine genetische Erklärung des Anfangs nach Maßgabe eines strikten Monismus zu liefern. Nichtsdestotrotz wagt sich Schelling in dem von Barbara Loer auf den Zeitraum zwischen 1817 und 1827 datierten Fragment 175 erneut an eine genetische Erklärung des Anfangs, ohne aber zugleich die Einsicht von 1814/15 in die Unhintergehbarkeit eines ursprünglichen Prinzipiendualismus infrage zu stellen. Wiederum fragt Schelling nach der Möglichkeit einer inneren Bewegung des hier auch als »Überschwenglichkeit« (Schelling 1974, 31) bestimmten Absoluten. Es geht mit anderen Worten darum, jenes »unendlich Wollen […] das nicht will« (Schelling 1974, 33), »jene an sich unbesiegbare Kraft der

Vgl. zur Datierung des Fragments Schelling 2002, Bd. 1, 163. Dies bestätigt nicht zuletzt auch nochmals die von Gang Xian vorgeschlagene Datierung des Fragmentes NL 81 auf den Zeitraum zwischen 1813 und 1815 (vgl. Xian 2005, 21). 175 Vgl. zur Datierung des Fragments Loer 1974, 143. 173 174

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Selbstheit […] herauszulocken aus ihrer Innerlichkeit« (Schelling 1974, 32). Schellings hier formulierte Antwort zielt klar auf einen ursprünglichen Prinzipiendualismus ab: Aber es [das Überschwengliche, P. H.] kann auch seiner inne werden nicht durch sich selbst, denn dieses wäre schon ein sich selbst Anziehen, ein sich selbst wissen wollen. Also nur eine Macht außer ihm kann es dazu bringen – nicht daß es sich wirklich anzieht, sondern nur daß es sich inne wird, als das sich selbst nicht hat und sich haben kann. (Schelling 1974, 33 f.)

Auch wenn »jene oben angenommene Macht […] nur eine solche seyn [kann, P. H.], die ewig außer dem Seyn bleibt, selbst nie in das Seyn hereintritt, aber eben darum die bewegende Macht alles Seyns ist« (Schelling 1974, 34), so repräsentiert sie doch keineswegs mehr das verselbständigte Produkt einer Emanation. 176 Als »das alles richtende (πάντα κρινῶν), ur-theilende, in Scheidung oder Krisis ziehende«, das »will daß alles klar lauter und entschieden sey und keine Möglichkeit verborgen bleibe« (ebd.), stellt dieses zweite Prinzip nichts Anderes dar als jene Macht, die die anfangs vollkommen in sich ruhende ›Überschwenglichkeit‹ gleichsam dazu ›anstachelt‹, im Zuge einer narzisstischen Selbstbespiegelung sich selbst zu ergreifen und jenem tragischen Verhängnis zum Opfer zu fallen, das darin besteht, dass das Unendliche, ohne dies expressis verbis gewollt zu haben, sich letztlich als im Endlichen eingeschlossen vorfindet. Wie Schelling 1821 in Erlangen erklärt, ist diese Macht, die schon 1811 in dem Begriff der über allem Sein als Verhängnis waltenden »Nothwendigkeit« (WA I, 14) präsent ist, somit »gleichbedeutend mit dem Begriff der Αναγκη« (Schelling 1821, 112) – also jener, mit Thomas Oser gesprochen, »kosmologische[n] Schicksalsmacht«, 177 von welcher bereits Parmenides in seinem Lehrgedicht Über das Sein spricht. 178 An den auch für Fichte unleugbaren »Anstoß […], durch welchen das Ich zur Intelligenz wird« (GA I,2, 387), erinnernd, besteht die Aufgabe jenes zweiten Prinzips bei Schelling einzig und allein darin, das sich selbst gegenüber gänzlich gleichgültige ›Überschwengliche‹ gleichsam auf sich selbst aufmerksam zu machen: 176 So betont Schelling in dem von B. Loer edierten Fragment zugleich, dass ein Wille, um sich überhaupt erst bilden zu können, eines »Bild[es]« bedarf, »durch welches der Wille […] entzündet werden kann« (Schelling 1974, 35). 177 Oser 1999, 188. 178 Vgl. Parmenides 1981, 14 (DK 28 B 10, 6).

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»Indem aber das Gesetz [jenes zweite Prinzip, P. H.] ihm sagt: Laß dich nicht gelüsten 179 deiner Freyheit, wird es sich eben dadurch inne als diese Freyheit, zuerst sich selbst gewahr und gleichsam ansichtig seiner selbst« (Schelling 1974, 34 f.). Geradezu konträr zum kantischen Sittengesetz führt hier Schelling in Rückgriff auf Röm 7,7 die Vorstellung eines Gesetzes ein, das eine gewissermaßen dialektische Wirkung entfaltete: Die Gutheit des ›Sich-nicht-gelüsten-Lassens‹ fordernd, macht es gerade auch auf die Möglichkeit des abweichenden Freiheitsgebrauches in der Gesetzesübertretung aufmerksam. Obgleich auch die tragischen Motive von »Verblendung, Betrug und Überraschung« (Schelling 1974, 34) in diesen Anfang eingehen, so ist dieser Anfang, der in jene verhängnisvolle Herrschaft einer Zeit des Immergleichen führt, damit zugleich, wie Schelling betont, mit dem »Ursprung der Sünde« (Schelling 1974, 35) zu identifizieren und folglich als selbstverschuldet anzusehen. Es zeigt sich hier nochmals in aller Deutlichkeit, weshalb Schelling im Verlauf seiner Arbeit an den Weltaltern notwendig von der Vorstellung einer unmittelbaren Emanation des zeitlich Seienden und sogar der Zeit selbst aus der überzeitlichen Ewigkeit eines ›nicht(s) wollenden Willens‹ abrückt: Noch 1811 verwendet Schelling zur Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Zeit und Ewigkeit, wie oben bemerkt, das Bild eines sprießenden Samenkorns. Genauso wie die Zeit der Pflanze aus dem mit der Ewigkeit gleichgesetzten Samenkorn entsprießt, so sollte 1811 auch der zweite, »andere Wille« als »das erste Setzende der Möglichkeit einer Zeit« von der »Ewigkeit nicht absolut getrennt«, sondern »auf andere Weise wieder Eins mit ihr seyn« (WA I, 18). Ist jedoch dieses ›erste Setzende der Möglichkeit einer Zeit‹ als ein radikal Negatives aufzufassen, das die Ewigkeit in die Negativität einer Zeit des Immergleichen verkehrt, so ist die Situierung des Ursprungs jenes der Ewigkeit absolut Entgegengesetzten in der emanierenden Ewigkeit selbst problematisch, da doch »im System der Emanation jeder eigentliche Gegensatz« (AA I,17, 127) verschwindet, wie Schelling 1809 konstatiert. 180 Wenn man jenes Zeitsetzende aber auch nicht als ein autonomes Prinzip außerhalb der

Vgl. Röm 7,7. Auch 1821 kritisiert Schelling die Emanationslehre: »Die Lehre der Emanation ist darum unzugänglich, weil sie Gott […] völlig in Untätigkeit setzt« (Schelling 1821, 152). Erst ein ihm Widerstrebendes zwinge Gott zur Verwirklichung seiner selbst und somit dazu, tätig zu werden. 179 180

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Ewigkeit des ›nicht(s) wollenden Willens‹ ansetzen möchte, so besteht – will man gleichzeitig nicht den absoluten Gegensatz dieses zweiten Prinzips zum ersten und die aus ihm resultierende radikale Negativität innerzeitlichen Seins leugnen 181 – allein noch die Möglichkeit, es als solches immer schon als in der Ewigkeit selbst vorhanden anzusehen. Damit würde man allerdings in der Tat, wie etwa Barbara Loer Schelling vorwirft, »die Absolutheit des Absoluten« 182 zerstören, da jenes Absolute in dieser Weise – über das implizite Vorhandensein jenes für die zeitliche Negativität verantwortlichen Prinzips – ja immer schon in seine eigene negative Geschichte verstrickt wäre. Nur ein außerhalb des in sich ruhenden Willens der Ewigkeit situiertes Anderes, das, wie Schelling erstmals in dem von Loer edierten Fragment geltend macht, diese Ewigkeit im Sinne eines äußeren ›Anstoßes‹ dazu ›anstachelt‹, sich in der oben skizzierten tragischen Weise zu verzeitlichen, vermag sicherzustellen, dass dem ›nichts wollenden Willen‹ zugleich das Potential innewohnt, in seiner »Stille und Freiheit« (SW VIII, 257) zu bleiben und mithin eine gewisse Unabhängigkeit und Erhabenheit gegenüber jenem radikal negativen geschichtlichen Prozess beweisen zu können. Denn allein wenn der ›nichts wollende Wille‹ in seinem ›Lassen‹ von allem Willentlichen nicht immer schon in jene im folgenden Kapitel zu beschreibende Negativität einer Zeit des Immergleichen verstrickt ist, die sich aus der nicht einzulösenden Intention des ›Willens zur Existenz‹ ergibt, ist er auch imstande, die Möglichkeit einer Umwendung jener dem Willentlichen entspringenden negativen Zeitherrschaft zu verbürgen. Insofern derart aber, aristotelisch gesprochen, eine nicht mit der Zeit einfach identische ›Bewegung‹ angenommen wird, nämlich eine dem Willen immanente Bewegung, kann Zeit auch nicht mehr kantisch als eine alles umfassende, äußeren wie inneren Sinn bestimmende ›Anschauungsform‹ begriffen werden, wie im Anschluss an die Darstellung jener negativen Zeitform noch auszuführen sein wird.

181 Würde man diese Option wählen und somit den absoluten Gegensatz zwischen einer in sich negativen Zeit und einer in sich erfüllten Ewigkeit dadurch einebnen, dass man die Ewigkeit als die Zeit gänzlich in sich enthaltend denkt, so würde damit allerdings, wie Wolfgang Wieland bemerkt, die »Realität des Geschichtsprozesses« zweifelhaft (Wieland 1956, 19). 182 Loer 1974, 218.

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2.2.2. Die Tragik des Wollens: Die negative Zeiterfahrung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen Wenn Schelling in den Weltaltern in Anlehnung an Kohelet 1,9 die negative Gegenwartsdiagnose stellt, dass »nichts neues unter der Sonne« oder »in der Welt geschehe« (WA III, 192 u. WA I, 11), 183 so liegt es zunächst nahe, bereits für Schelling jenen nietzscheschen Gedanken von der ›ewigen Wiederkunft des Gleichen‹ zu veranschlagen, wonach, wie Nietzsche in dem Aphorismus »Das grösste Schwergewicht« aus der Fröhlichen Wissenschaft seinen Leser sich vorzustellen auffordert, jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens […] dir wiederkehren [muss, P. H.], und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen und ebenso dieser Augenblick und ich selber. 184

Konstatiert man diese Nähe zwischen beiden Ansätzen, so ist man allerdings gleichzeitig dazu angehalten, auch die entscheidenden Differenzen zwischen beiden Konzeptionen einer ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ hervorzuheben: Dass nämlich, wie Nietzsche sich ausdrückt, selbst ›diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen‹ und mithin alles bis ins kleinste Detail unverändert wiederkehren, macht Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkehr letztlich zu einer »Apotheose der Einmaligkeit«: 185 Unter der Voraussetzung, dass alles exakt und ohne Ausnahme so wiederkehrt, wie es schon einmal gewesen ist, kann nämlich »die Erfahrung der Wiederkehr nicht in das Wiederkehrende gehören« und mithin ist »das Wiederkehrende nicht als solches erfahrbar«, wie Günter Figal zu Nietzsches Konzeption bemerkt. 186 Nur als »Gedankenexperiment« 187 vermag es denn auch zum ›größten Schwergewicht‹ zu werden. Damit eine Wiederholung auch als reelle erfahren werden kann, ist es folglich unerlässlich, dass in ihr, um Gilles Deleuze zu zitieren, »se déguise et se déplace un ›différentiel‹«. 188

183 184 185 186 187 188

Vgl. WA II, 120; WA III, 188 u. 202; SW VIII, 223. FW 341, KSA 3, 570. Figal 2006, 351. Ebd. Figal 2001, 261. Deleuze 1968, 2.

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Genau diese streng genommen ›unvollkommene‹ Form einer reellen ewigen Wiederkehr des Gleichen ist es, auf welche Schelling 1814/15 mit Bemerkungen wie der folgenden abzielt: Die ganze Thätigkeit der Pflanze geht auf Erzeugung des Samens, nur um in diesem wieder von vorn anzufangen und durch neuen fortschreitenden Proceß wieder nur Samen zu erzeugen und wieder zu beginnen. Aber die ganze sichtbare Natur scheint zu keiner Beständigkeit gelangen zu können und in einem ähnlichen Cirkel unermüdlich umzuwandeln. (SW VIII, 231)

Nach Schelling ist alles zeitlich verfasste Leben von dem kleinsten Organismus bis hin sogar zum göttlichen ›Urwesen‹ in einem solchen ›Zirkel‹ gefangen, sofern ihm noch nicht »sein ganzes Seyn bloßes Werkzeug geworden ist« (WA I, 85). Doch Letzteres ist Schelling zufolge nur möglich, wenn es gelingt, in einer Art Selbstüberwindungsund Bewusstwerdungsprozess das Sein der ›ersten Natur‹ auf Abstand zu bringen und im Zuge einer innerlichen ›Scheidung‹ als ein Vergangenes, das gleichwohl immer noch als ein überwundenes präsent ist, hinter sich zu ›lassen‹. Wer sich hingegen, wie Schelling 1811 erläutert, »der Scheidung in sich widersetzt«, demjenigen »erscheint die Zeit als strenge, ernste Nothwendigkeit« (WA I, 85). Gleichsam den freudschen Gedanken eines »Zwange[s] zur Wiederholung« 189 antizipierend, mündet für Schelling die Unfähigkeit, sich seiner eigenen Vergangenheit in Form einer erinnernden Bewusstmachung entgegenzusetzen und sie derart zu überwinden, unausweichlich in eine permanente Gegenwart des Vergangenen, die von dem Einzelnen in Gestalt einer geradezu zwanghaften ›Wiederkehr des Gleichen‹ erfahren wird, wie im Folgenden noch auszuführen ist. 190 Schelling zufolge macht sich in allem Leben, das, unfähig zu jener ›Scheidung‹, passiv in sich verharrt und dabei im Strom ewigen Werdens und Vergehens sich treiben lässt, die »Drangsal« (Schelling 1974, 50) einer »immer

189 Freud 1914, 130. So spricht Freud davon, dass ein Patient gerade während der psychoanalytischen Behandlung und unmittelbar vor der Heilung verstärkt das »Vergessene[…] und Verdrängte[…] […] nicht als Erinnerung, sondern als Tat« reproduziere (Freud 1914, 129), es wiederhole. »Solange er [der Patient, P. H.] in der Behandlung verbleibt, wird er von diesem Zwange zur Wiederholung nicht mehr frei; man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern« (Freud 1914, 130). Zur Antizipation freudscher Motive in den Weltaltern vgl. auch Bensussan 2015b. 190 Von einer Antizipation freudscher Gedanken in den Weltaltern spricht, wenn auch in anderer Hinsicht, ebenfalls Wolfram Hogrebe (vgl. Hogrebe 2006).

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schnellere[n] Wiederkehr des Selben« 191 geltend, insofern das dabei verspürte Ungenügen diese ›Wiederkehr‹ sogar noch forciert. »Die sichtbare Natur ist«, wie Schelling 1814/15 anmerkt, »im Einzelnen und Ganzen ein Gleichniß dieser immer Vor- und Zurückgehenden Bewegung« (SW VIII, 231). Im Gegensatz zu Nietzsches späterer Konzeption einer ›ewigen Wiederkunft‹ begreift Schelling mithin jene permanente Wiederkehr des Selben nicht allein als ein, von Nietzsche gleichwohl nur als »Gedanke« 192 eingeführtes, Geschehen kosmischen Ausmaßes, 193 sondern gerade im Falle höheren, bewussten Lebens eben auch und vor allem als Ausdruck eines von den einzelnen Subjekten jeweils an sich selbst vollzogenen ›Zwangshandelns‹, 194 welches Schelling in den Weltaltern in Gestalt eines »immer heftigeren Streit[es]« (WA I, 37) zweier Willen zur Darstellung bringt, die im göttlichen ›Urwesen‹ wie auch in allem Lebendigen erwachen. Der entscheidende Unterschied zu Nietzsches Konzeption liegt jedoch vor allem darin, dass Schelling – in genauem Gegensatz zu Nietzsches radikaler Inversion allen Seins in jene ›ewige Wiederkehr‹ – immer noch ein ›Außerhalb‹ gegenüber jenem rotatorischen Kreisen kennt, auf das hin jene entfremdende Zeit des Immergleichen in Form einer ›Umwendung‹ jener Zeit wie jenes willentlichen ›Zwangshandelns‹ generell überschritten werden kann. Da diese Zeitform nämlich auf einen sie konstituierenden, willentlichen Bewegungsvollzug zurückgeht, ist sie nicht allumfassend, sondern durch eine Korrektur jener Willenshandlung als einer nichtseinsollenden überwindbar. Hierzu ist aber erstens die willenstheoretische Genese dieser negativen Zeitform aufzuzeigen sowie zweitens die Rotationsstruktur derselben genauer zu entfalten. (1) Auch wenn Schelling in den frühen Weltalter-Fragmenten, wie wir oben gesehen haben, noch eine Emanation jenes als »das erste Setzende der Möglichkeit einer Zeit« (WA I, 17 f.) charakterisierten zweiten Prinzips zu denken sucht, so zeigt sich doch auch hier schon indirekt die Widersprüchlichkeit dieses Versuchs, der jenem zweiten Prinzip entweder zu einem gewissen Grade die eigene Autonomie absprechen oder aber die Ewigkeit als immer schon von jenem sie 191 192 193 194

Oser 1999, 224. FW 341, KSA 3, 570. Vgl. hierzu Hühn/Theunissen 2004, 738. Vgl. Theunissen 1991, 256–262.

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kontrahierenden zweiten Prinzip ergriffen ansehen muss. Aufgrund seiner ›Selbstzeugung‹, die mit der ›Empfänglichkeit‹ des ersten Willens einhergeht, kann der zweite Wille nämlich nicht als ein aus dem ersten Willen hervorgegangener angesehen werden. Da jenes »Wesen der Ewigkeit […] nicht sich selbst verwirklichen« kann, wie es in einem vermutlich relativ spät entstandenen Entwurf zu den Weltaltern heißt, muss es »durch eine von ihm unabhängige Bewegung, die ihren eigenen Grund, eine nicht von ihm herstammende Wurzel hat«, verwirklicht werden (WA III, 229). Nenne man »diese Bewegung als den Gegensatz der Ewigkeit die ewige Zeit«, so könne man sogar davon sprechen, dass »die Ewigkeit das Kind der Zeit« sei, die der Ewigkeit »als ein selbständiges Principium« entgegentrete (WA III, 229 f.). Dass, wie Schelling sich ausdrückt, die Ewigkeit und damit das Nicht-Zeitliche ›das Kind der Zeit‹ sei, verweist auf einen für das Weltalter-Unternehmen insgesamt zentralen Gedanken – gleichgültig ob ein Fragment von einem emanationstheoretischen oder einem prinzipiendualistischen Anfang ausgeht: Denn Schelling zufolge wird zwar die nicht- oder überzeitliche Ewigkeit nur innerzeitlich verwirklicht und stellt somit das gegenüber der Zeit ›Spätere‹ dar. Gleichwohl würde das chiastische Begründungsverhältnis von Zeit und Nicht- oder Überzeitlichkeit eine Verkehrung erfahren, würde man damit einhergehend die Superiorität der letzteren ignorieren und derart die Zeit zum ursprünglich alles Beherrschenden und Umgreifenden erheben. Während mithin der Zeit mit Blick auf die innerzeitliche Verwirklichung der zeitlosen Ewigkeit die Priorität zuzusprechen ist, ist der Nicht- und Überzeitlichkeit der Ewigkeit hingegen, die vom Gesichtspunkt ihrer Verwirklichung her gleichwohl ›später‹ als die Zeit ist, generell die Superiorität zuzusprechen. Sobald der Bereich des Zeitlichen indessen diese allein dem Nicht- und Überzeitlichen eigene Superiorität zu okkupieren sucht und sich derart verabsolutiert, führt dies nach Schelling zu der bereits angezeigten Negativität einer ausweglos in sich rotierenden Zeit des Immergleichen, in dem diese gewissermaßen alternativlos auf Dauer gestellt wird. Innerhalb des ersten Weltalter-Fragmentes erläutert Schelling in differenzierter Weise dieses chiastische Begründungsverhältnis von Zeit und Nicht- oder Überzeitlichkeit anhand der Struktur zweier einander entgegengesetzter Willen, deren Verhältnis analog zu den beiden Prinzipien oder ›Kräften‹ im Kontext der Materiekonstruktion verstanden werden, wie sie Schelling schon in seiner Frühphilosophie 182 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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von Kant übernimmt: 195 Zwar sei, wie es in dem Weltalter-Fragment von 1811 heißt, der zweite Wille als »der bestimmte Wille, der Etwas will« (WA I, 18) und der insofern »einschränkender, zusammenziehender, verneinender Natur« sei, »im Beginne dem ersten […] untergeordnet« (WA I, 19 f.). Obgleich dieser Wille – in der Nachfolge des »Grund[es] von Existenz« (AA I,17, 129) aus der Freiheitsschrift – dafür verantwortlich sei, »daß die Gottheit als solche existiere« (WA I, 19), so sei er doch lediglich »ein beziehungsweise Nichtseyendes«; er fungiere »nur als Grund ihrer Existenz, […] damit die Liebe als das wahre Wesen seyn könne« (WA I, 20), die als relationale Erscheinungsform des ursprünglich relationsfreien, ›lauteren‹ ersten Willens zu begreifen ist. 196 Doch, so erklärt Schelling weiter, »Nichtseyendes ist es [das zweite Prinzip, P. H.] nicht wegen Mangel an Licht oder Wesen, sondern als aktive Verschlossenheit, thätiges Zurückstreben in die Tiefe und Verborgenheit, also als wirkende Kraft, die in ihrer Art ebenfalls ein Wille, also nothwendig ein seyendes […] ist« (WA I, 21). Indessen stellt diese ›Willenskraft‹ nach Schelling nicht nur ein in gewisser Weise ›Seiendes‹, sondern zugleich das Prinzip jeglicher Seinskonstitution dar, insofern »[a]lles Seyn […] Contraktion und die zusammenziehende Grundkraft die eigentliche Original- und Wurzelkraft der Natur« ist (WA I, 23 f.). Wie Schelling darüber hinaus betont, repräsentiert jener zweite Wille selbst im Falle des höchsten Wesens »die ewige Kraft schlechthin, die Stärke Gottes, wodurch vor allem anderen Er selbst als Er selbst ist« (WA I, 20), mithin Gott allererst wirkliche Persönlichkeit ist. Schließlich ist dieser zweite Wille nach Schelling aber auch mit dem der Zeit innewohnenden ›widerstrebenden‹ Moment zu identifizieren, das nur eine sukzessive Verwirklichung der zeitlosen Ewigkeit zulässt 197 und da195 Zu Schellings bereits früher Anschlussnahme an Kants Materie-Begriff aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft hinsichtlich der Annahme zweier Prinzipien oder ›Kräfte‹ in der Natur vgl. insbes. Marquet 1973, 112–114; Jantzen 1998, 91 f. u. 106; Höfele 2016b, 281–283. 196 Vgl. dazu Oser 1999, 194 f. 197 Analog zu jener Kraft der Kontraktion des zweiten Willens, der den nichts wollenden Willen der ›ewigen Freiheit‹ zum Zwecke ihrer Verwirklichung einschränkt und verendlicht, nimmt auch Schelling in der Zeit ein der Entwicklung ›widerstrebendes‹, ›hemmendes‹ Prinzip an, das die zeitliche Sukzession allererst begründet: »Wer die Zeit auch nur nimmt, wie sie sich darstellt, fühlt in ihr einen Widerstreit zweyer Principien; eines das vorwärts strebt, zur Entwicklung treibt und eines anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung widerstrebenden. Leistete dieses andere nicht Widerstand, so wäre keine Zeit, weil die Entwicklung im Nu, ohne Absatz und Folge geschä-

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durch »jedem großen Ereigniß, jeder folgenvollen That ihr Tag, ihre Stunde, ja ihr Augenblick bestimmt« (WA I, 14). Zeit wird damit von Schelling von einer konfliktuösen Willenstruktur her verstanden, die von ersterer abzuheben ist und ihr als deren Konstituens zugrundeliegt. Wie Schelling im Zuge der 1811 noch vertretenen Emanationslehre sagt, entsteht dabei jener zweite Wille als der »Wille zur Existenz« in dem »Willen, der nichts will«, »als wie sich ein Wille im Gemüth des Menschen erzeugt«, und ist »in so fern von ihm umfangen und gehalten« (WA I, 22). Doch bereits der anthropomorphe Vergleich macht die dieser Struktur immanente Dialektik offenbar: »Wie aber der Wille des Gemüths das Gemüth selbst fesselt und bindet: so hält der eigene oder zusammenziehende Wille auch die Liebe fest« (WA I, 22). Gleich einem dem menschlichen Innern eine konkrete Gestalt verleihenden Willen sorge der zweite Wille für eine Konkretion der Liebe, die im Gegensatz zum zweiten Willen nun insofern als Erscheinungsform des ›nichts wollenden Willens‹ gefasst wird, als sie »das Nichts der Eigenheit« darstelle: »[S]ie sucht nicht das ihre und kann darum auch von sich selbst nicht existirend seyn« (WA I, 19). Obgleich sie derart »in sich wirkungslos ist«, so komme aber doch zugleich »von ihr […] alle Kraft« (WA I, 22). Wie bereits in der Freiheitsschrift stellt so die Struktur der Liebe zwar nicht das Erste dar – sie ist als solche erst im Verhältnis zum ›Willen der Existenz‹ –, gleichwohl kann sie aber immer noch als das ›Höchste‹ bezeichnet werden (vgl. AA I,17, 170), 198 das sich 1811 indessen in einen tragischen Prozess verstrickt, in dem ihm dieser Status streitig gemacht wird und welcher derart die zu Kapitelanfang erwähnte negative Gegenwartsdiagnose Schellings genetisch plausibilisieren soll. Zwar komme von der Liebe, die »unendliches Ausquellen und Bejahen ihrer selbst ist« (WA I, 18 f.), »alle Kraft« (WA I, 22), aus der nicht zuletzt auch der zweite Wille gespeist wird, wodurch dieser sich als ein von der Liebe abhängiger erweist. Jedoch macht sich hier eine geradezu verhängnisvolle Verkehrung geltend: »In der Zusammenziehung [des zweiten Willens, P. H.] kehrt sich dieß aber in so fern

he; würde aber auch nicht dieses andere beständig von dem ersten überwunden, so wäre absolute Ruhe, Tod, Stillstand und darum wieder keine Zeit. […] Also sind die Principien, die wir in der Zeit wahrnehmen, die eigentlichen innern Principien alles Lebens« (WA II, 122 f.; vgl. auch ähnlich Schelling 1821, 152). 198 Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.3.

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um, als hier das bejahende Prinzip in Bezug auf die contrahirende Urkraft zwar Objektives, aber nicht Wirkendes noch frey Ausfließendes, sondern Leidendes, Eingeschlossenes, Latentes wird« (WA I, 22). Doch Schelling geht es nicht allein um die ›Latentsetzung‹ der Liebe, indem der ›Wille zur Existenz‹ »sich selbst zum Objekt oder Wirkenden von ihr, sie aber zum Subjekt, zum Innern, Latenten von sich« macht (WA I, 22), vielmehr läuft Schelling zufolge die ganze Struktur geradezu auf eine Verabsolutierung des zweiten Willens hinaus: Die Mitte aber, oder das Band zwischen Subjekt und Objekt ist eben der zusammenziehende Wille selber, inwiefern er sich nach oben zum Objekt 199 macht und dadurch die Liebe festhält, daß sie seyend wird; nach unten aber sich selbst zum Subjekt macht und mit der von oben genommnen Kraft das Wesen zum Seyn zusammenzieht. Also haben wir von nun an nicht mehr zwey Willen, sondern den Einen aus beyden zusammengewachsnen Willen zu betrachten, den ich den ersten wirkenden Willen, oder seiner Ganzheit nach auch schlechtweg das erste Wirkliche nennen werde. (WA I, 22)

Indem der zweite Wille sich sowohl ›zum Subjekt‹ als auch ›zum Objekt macht‹ und sich dergestalt »zum Mittelpunkt der Existenz, zum Herrschenden« innerhalb jener ›Verklammerung‹ beider Willen erhebe (WA I, 23), scheint er selbst allein den ›ersten wirkenden Willen‹ oder das ›erste Wirkliche‹ zu repräsentieren. Letzteres gleicht daher einerseits zwar der »wirkliche[n] Indifferenz«, der »völligste[n] Einheit«; doch sei es andererseits »als ein Doppelwesen […], das gleichsam aus zwey Willen zusammengewachsen« wiederum »von jener lauteren [Einheit, P. H.] des Wesens verschieden […], inwiefern diese ohne alle Zweyheit war« (WA I, 29). Im Gegensatz zur anfänglichen Struktur des Absoluten als einer »Lauterkeit« (WA I 15 f.), die anthropomorph als überzeitlicher, noch nicht konkretisierter Wille genauer gefasst wurde, handle es sich hier folglich um eine »fühlend geworden[e]« Einheit (WA I, 29): »Die Lauterkeit empfindet nicht ohne Wonne ihre erste und reinste Realität«, indem sie ein Anderes ›in‹ oder neben sich ›findet‹ (WA I, 30). 200 Die anfängliche Forderung nach einer Fasslichwerdung des Absoluten scheint damit »in holdem 199 Wie Thomas Oser zurecht bemerkt, ist der Ausdruck ›Objekt‹ hier wörtlich zu verstehen: Der andere Wille ›werfe‹ sich dem ersten Willen hier ›entgegen‹ (vgl. Oser 1999, 208). 200 Bereits im System des transscendentalen Idealismus von 1800 interpretiert Schelling das Verb ›empfinden‹ als »in sich […] finden« (AA I,9,1, 99). Vgl. hierzu auch Marquet 1973, 491.

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Wechselspiel« (WA I, 30) der beiden Willen eine Erfüllung gefunden zu haben. Doch kann es sich hierbei nur um eine vorläufige und scheinbare Erfüllung des anfangs geforderten ›Sich-Habens‹ handeln (vgl. WA I, 17), insofern jede Konkretion dieser Struktur inadäquat ausfallen muss. (2) In der anthropomorphistischen, willenstheoretischen Fassung dieser Struktur verdeutlicht Schelling die Ambivalenz dieser Konkretisierungs- oder Verwirklichungsbewegung dabei in folgender Weise: So kann Schelling zufolge »auch das höchste Leben […] im gegenwärtigen Moment nicht stehen bleiben« (WA I, 33). Die »urerste Lauterkeit«, die »noch immer verborgener Weise das eigentlich Existirende« sei (WA I, 33), ›erinnere‹ sich nämlich an ihren vormaligen Zustand, in welchem sie noch die »über dem Seyn« wohnende »wahre, die ewige Freyheit« (WA I, 14) sowie reine »gelassene Wonne« (WA I 16) war: »Sie fühlt die Milde ihrer ursprünglichen Natur im Gegensatz […] mit der Strenge des zusammenziehenden Willens« (WA I, 34). Indem sie in jene Natur zurückzukehren verlange, zeige sich jedoch das Verhängniß alles Lebens, daß es erst nach der Einschränkung und aus der Weite in die Enge verlangt, um sich faßlich zu werden; hernach, nachdem es in der Enge ist und sie empfunden hat, wieder zurückverlangt in die Weite und gleich wiederkehren möchte in das stille Nichts, darin es zuvor war, und doch nicht kann, da es sein eigen selbstgegeben Leben aufheben müßte. (WA I, 34)

Das Streben nach einer Rückkehr in das ›stille Nichts‹ der Lauterkeit des ersten Willens komme in dem »Verlangen nach Scheidung dieser beyden« Willen zum Ausdruck (WA I, 34), das allerdings allein von dem ersten Willen ausgehe, wohingegen der andere Wille – angewiesen auf den ersten – immer mehr die Vereinigung einfordere, die indessen die ›ewige Freiheit‹ des ersten Willens völlig ins Sein einschließe und diesen dabei seiner ihm wesentlichen Freiheit beraube. Das vorläufige Resultat dieses Zurückwollens und Nicht-Zurückkönnens des ersten Willens in den ›erinnerten‹ Ausgangszustand ist eine »nie aufhörende[r] Systole und Diastole«, die zwar nach Schelling »das schlagende Herz der Gottheit« wie auch alles Lebendigen ausmacht (WA I, 35), 201 dieses aber darum noch nicht anders als rein 201

Vgl. Hühn 1994a, 217–220.

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»vegetativ-animalisch[…]« 202 existieren lässt, indem kein bewusster Abstand gegenüber diesem Geschehen gegeben ist. Denn die Tiefenstruktur jener pulsierenden Bewegung bilde das gleichsam ›besinnungslose‹ Nichtlassenkönnen der beiden Willen voneinander und damit zugleich von ihrem gegenwärtigen Zustand, der denn auch in einen »immer heftigeren Streit« (WA I, 37) beider Willen um die Herrschaft über den jeweils anderen übergehe und infolgedessen die entfremdende Herrschaft einer »anfanglose[n] und […] ewige[n] Zeit« etabliere (WA I, 77). Wie im Falle des Willens der ›Sehnsucht‹ in der Freiheitsschrift, dem ebenfalls noch das Moment der Bewusstheit im Sinne des Verstandes als ›Willen in dem Willen‹ fehlt (vgl. AA I,17, 131), 203 besitzt auch diese hier von Schelling beschriebene in sich verklammerte Willensdualität noch keinen Abstand von sich selbst. Darin gleicht sie, um eine Differenzierung Michael Theunissens heranzuziehen, dem »biologisch analysierbare[n] Leben«, das ein bloßes »Nach-vorn-Leben« darstellt und aufgrund der nicht gegebenen Möglichkeit, Zukunftsentwürfe zu formulieren, nur sich selbst zu reproduzieren vermag. 204 Schelling geht hier denn auch zugleich über den Ansatz von 1809 hinaus, indem er nicht allein die Struktur der ›Sehnsucht‹ als in sich komplex begreift, sondern zugleich auch noch einen daraus resultierenden Zeitvollzug beschreibt. Indem keiner der beiden Willen »bleibend die Oberhand gewinnt« (WA I, 37), geht diese Struktur über in eine »immer schnellere[n] Wiederkehr des Selben«, 205 die Schelling zufolge mit dem von »Angst« (WA I, 41) 206 und »Wahnsinn« heimgesuchten »Innere[n] des in diesem Widerstreit existirenden Wesens« (WA I, 39) einhergeht. Schelling identifiziert dieses zukunftslose Rotieren mit all »jene[n] Geschöpfe[n] […], die der letzten Zeit des Kampfes zwischen Scheidung und Einung, Bewußtsein und Bewußtlosigkeit, angehören« (WA I, 42). Im Falle des Menschen bezeichnet dieser Zustand, um nochmals Theunissens Unterscheidung heranzuziehen, gerade

Theunissen 1991, 306. Vgl. oben, Teil II, Kap. 1.1. 204 Theunissen 1991, 306. Michael Theunissen hebt von dieser Form des Lebens das allein dem Menschen vorbehaltene »existentiell-praktische« Leben ab, das »gleichsam ein Von-vorn-Leben« sei, »eines, das auf einem Entwurf von Zukunft beruht und sich erst im Einholen dieses Entwurfs verwirklicht« (ebd.). 205 Oser 1999, 224. 206 Vgl. hierzu genauer Oser, 1999, 222–224. 202 203

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das Übergangsmoment von dem ›biologisch analysierbaren‹ zum ›biographisch beschreibbaren Leben‹, in dem allein »Zeit existierend gelebt wird«, 207 oder, so Schelling, jenen Moment, in dem die »erste Persönlichkeit anfängt, die Angst und jene tiefen inneren Schmerzen alles Lebens zu empfinden«, angesichts derer der Mensch sich gezwungen fühlt, »will er anders nicht im chaotischen Zustand bleiben oder einem innern verzehrenden Feuer anheimfallen, sich den Erretter, die andere höhere und bessere Persönlichkeit [zu] zeugen, welche die erste zur Entscheidung, zur Aufschließung, zur Besonnenheit bringt« (WA I, 57). Der Mensch empfindet Schelling zufolge unmittelbar vor der ›Scheidung von sich selbst‹ und damit von seiner eigenen Vergangenheit, jene ›Angst‹ als Reaktion auf die ›immer schnelleren Wiederkehr des Selben‹, welche ihn an der Eröffnung einer wahrhaften Zukunft hindert, obgleich dieser »Zwange zur Wiederholung« ganz im Sinne wie Siegmund Freud es 100 Jahre später beschreibt, eine »Art zu erinnern« darstellt. 208 Die damit einhergehende ›Angst‹ lässt Schelling zufolge dabei indirekt zugleich die Möglichkeit einer Alternative zu jenem Konflikt aufscheinen, insofern diese ›Angst‹ ja nur in Abhebung gegen den verlorengegangenen Ausgangszustand erfahren wird und sie insofern über sich hinausweist auf eine Alternative zu jenem zukunftslosen Rotieren. Wie die Figur einer »Angst des Lebens« in der Freiheitsschrift (AA I,17, 149) verweist auch das Phänomen der ›Angst‹ in den Weltaltern auf einen als gefährdet erfahrenen »Willen zur Selbsterhaltung«, der hier nun aber gerade nicht als reine »Artikulation der Selbstheit« aufgefasst wird: 209 Hatte 1809 die ›Angst‹ »den Menschen aus dem Centrum« getrieben, da »dieses als das lauterste Wesen alles Willens […] für jeden besondern Willen verzehrendes Feuer« sei (AA I,17, 149), so wird nun das »inner[e] verzehrende[…] Feuer« gerade in jenem »chaotischen Zustand« der ›Rotation‹ gesehen (WA I, 57), die jenes ›lauterste Wesen‹ des Willens einzuengen sucht. Führte die ›Angst‹ 1809 in die Negativität des Bösen, so fungiert sie 1811 als dasjenige, was diese Negativität zu überwinden hilft. Zwar betont Schelling 1811 ähnlich wie 1809 210 die Differenz zwiTheunissen 1991, 306 f. Freud 1914, 130. 209 Vgl. Egloff 2016, 143–152, Zitat 149. 210 Vgl. AA I,17, 156: »Allein es sey nun, daß menschliche oder göttliche Hülfe – (einer Hülfe bedarf der Mensch immer) – ihn zu der Umwandlung ins Gute bestimme, so liegt doch dieß, daß er dem guten Geist jene Einwirkung verstattet, sich ihm 207 208

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schen dem Menschen und dem göttlichen Wesen im Blick auf die konkrete Verwirklichung des Ausgangs aus jener entfremdenden Herrschaft einer Zeit des Immergleichen: »Dem Menschen«, so erläutert Schelling, »hilft der Mensch, hilft selbst Gott; dem Urwesen aber in seiner schrecklichen Einsamkeit kann nichts helfen; es muß diesen chaotischen Zustand allein und für sich durchkämpfen« (WA I, 43). 211 Da das göttliche Wesen »eine[…] sich aus eigenen Kräften und ganz für sich selbst entwickelnde[…] Natur« darstellt (WA I, 43), kann es nicht auf eine von außen kommende Hilfe vertrauen, die es aus seinem geradezu »dionysische[n] Traum« 212 erweckt, wie Wolfram Hogrebe jenen inneren Konflikt bezeichnet. Die beiden Willen müssen mithin gänzlich für sich einen Ausgang aus jenem Konflikt finden. Es zeigen sich hier indessen gerade die beiden entscheidenden Unterschiede zur Konzeption von 1809: Denn 1809 war erstens diese äußerste Möglichkeit der »Transmutation« (AA I,17, 156) nur für den Menschen als Umwendung der immer schon zum Negativen tendierenden Entscheidung der ›intelligiblen Tat‹ angedacht, die nun gleichsam auf alles Sein hin ausgeweitet wird. Dies hat aber zweitens zur Folge, dass die Möglichkeit einer solchen Umwendung begrifflich genauer gefasst werden muss. Weder eine gänzlich zeittranszendente Tat noch eine völlig auf das Innerzeitliche verpflichtete Handlung ist einer solchen Umwendung fähig, 213 sondern allein eine solche, die in nicht positiv verschließt, ebenfalls schon in jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser und kein andrer ist.« 211 Mit Blick auf diese Stelle muss man sowohl Wolfgang Wieland, der die Scheidung gänzlich auf die Selbsttätigkeit des Menschen zurückgeführt wissen will (vgl. Wieland 1956, 33), als auch Hartmut Rosenau widersprechen, der sie völlig auf die göttliche Dimension, genauer auf Christus, beziehen will (Rosenau 1985, 97 f.). Die Scheidung im Falle des Menschen beruht vielmehr auf dem, was Schelling »Mitwissenschaft« (WA I, 4) nennt, also auf der Teilhabe an der ›ewigen Freiheit‹, welche durch den Menschen hindurch wirkt (vgl. auch Hühn 1994a, 224). 212 Hogrebe 2006, 302. 213 Das erstere ist aufgrund des kantischen Verdikts nicht möglich: »Hier füge ich noch hinzu, daß der Begriff der Veränderung und mit ihm der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist« (KrV, B 48). Aufgrund der Monotonie linearer Zeit ist aber nach Schelling eine solch radikale Umwendung ebenfalls nicht denkbar (vgl. WA I, 10 f.). Eine dazwischen gleichsam vermittelnde Lösung soll gerade die von Schelling beschriebene Dynamik der beiden Willen bieten, insofern diese – analog zur aristotelischen Bewegung, von der her Zeit zu verstehen sei – von der Zeit abgehoben wird und diese aus jener begriffen wird, sodass eine innerzeitliche Umwendung von der Nicht-Zeitlichkeit der Willensdynamik aus denkbar wird.

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der Zeit gleichsam auf dieser gegenüber transzendente Tiefenschichten rekurrieren kann, was für Schelling denn auch die Konzeption einer von Kant abweichenden Zeittheorie erforderlich macht.

2.3. Die Selbstzurücknahme des Wollens in der ›Scheidung von sich selbst‹ Der skizzierten Tragik des Wollens, die – so Schellings negative Gegenwartsdiagnose – auf den gesamten Bereich des Intramundanen in Gestalt einer Zeit des Immergleichen zurückwirke, setzt Schelling eine doppelte Forderung der Selbstzurücknahme des Wollens oder des ›Sich-von-sich-Scheidens‹ entgegen, die zu einer Überwindung oder vielmehr, um mit Heidegger zu sprechen, ›Verwindung‹ jenes tragischen Zustandes führen soll: Ähnlich wie einerseits bereits in der Freiheitsschrift von einem »Wirkenlassen des Grundes« (AA I,17, 144) im Genitivus obiectivus mit Blick auf die unterschiedlichen, aus dem Absoluten hervorbrechenden Tendenzen die Rede war, so geht es auch in den Weltaltern um eine ›Scheidung‹ oder Ablassen der unterschiedlichen Willenstendenzen voneinander, wodurch allererst »die Freyheit oder das Wesen der uranfänglichen Lauterkeit in einem verzehrenden Glanze« (WA I, 41) hervorbreche (Kap. 2.3.1). Wie Schelling aber auch bereits 1809 von einem Zulassen oder ›Verstatten‹ der »Einwirkung« des ›guten Geistes‹ (AA I,17, 156) ausgegangen war, so erhebt er auch 1811 mit Blick auf den Menschen andererseits die Forderung nach einer, »durch Scheidung von sich selbst entstandene[n], Gegenwart« (WA I, 11), welche mit einem ›Lassen‹ von der eigenen Vergangenheit als einer sich dem eigenen willentlichen Zugriff entziehenden einhergehe. Schelling weist derart nicht allein auf die Notwendigkeit einer Anerkennung von Endlichkeit und zeitlicher Verfasstheit des Wollens hin, sondern bindet umgekehrt vielmehr die Konstitution positiver Zeitlichkeits- und Ewigkeitserfahrungen an bestimmte Willenseinstellungen zurück (Kap. 2.3.2). 2.3.1. Wirkliche Gegenwart als Resultat eines bewussten ›zweiten Anfangs‹: Zur Überwindung der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ Zu den zentralen Fragen innerhalb der Weltalter, um deren Beantwortung sich gewissermaßen das ganze, der Vergangenheit gewidme190 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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te erste Buch jenes Werkes bemüht, gehört die Frage danach, auf welche Weise es all »jene[n] Geschöpfe[n] […], die der letzten Zeit des Kampfes zwischen Scheidung und Einung, Bewußtsein und Bewußtlosigkeit, angehören«, gelingt, »jenes drehende Rad der Geburt« zu überwinden (WA I, 42 f.). Dabei sind auch Schellings Prinzipienreflexionen sowie seine Überlegungen zum Ursprung jener Rotationsbewegung als Voraussetzung zum Verständnis ihrer Überwindung zu begreifen. 214 Bereits in der Freiheitsschrift von 1809 hatte Schelling bezüglich der Überwindung der Negativität des Bösen das Motiv der »Transmutation« (AA I,17, 156) angeführt, und 1810 in den Stuttgarter Privatvorlesungen ist die Antwort auf diese Umwendung in dem zu suchen, was Schelling als »Krisis« oder »Scheidung in der Natur« bezeichnet (AA II,8, 82–84), die eine Umwendung jener innerweltlichen Negativität in Bezug auf das Weltganze ermöglichen soll, ohne dass der Mensch aber hierauf in irgendeiner Weise Einfluss hätte und der Übergang begrifflich konsistent von Schelling erklärt werden könnte. 215 Gleichwohl sei es dem Menschen als einzelnem, so Schelling 1810, schon jetzt möglich, »der Gattung vorauszueilen und 214 Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 2.1. Jürgen Habermas spricht insofern auch davon, dass nur »mit dem geschichtlichen Ursprung von Herrschaft […] auch die Möglichkeit ihrer Aufhebung« gegeben sei (Habermas 1982, 182). 215 In den Stuttgarter Privatvorlesungen erklärt Schelling nämlich: »Für die Natur war der Mensch als Mittler bestimmt, und dieser hatte ihr gefehlt«, weshalb nun sogar »der Mensch eines Mittlers« bedarf (AA II,8, 150). Insofern der Mensch sich derart seiner Statthalterfunktion für die Einheit des Ganzen entäußert hat, ist sein Schicksal nun losgelöst von demjenigen seiner Gattung als auch des Schöpfungsganzen. Hatte der Sündenfall des Menschen zwar einen Abfall des Schöpfungsganzen zur Folge, so hat 1810 zufolge hingegen umgekehrt der mit der ›Scheidung von sich selbst‹ vollzogene Neuanfang keine Rückwirkung auf die Verkehrung des Weltganzen. Zwar »ist es dem Einzelnen möglich, wie es der Mensch im Anfang in Bezug auf die Erde gethan, so jetzt der Gattung vorauszueilen und das Höchste für sich zum voraus zu nehmen« (AA II,8, 154). Dieser Perspektive einer je individuellen Erlösung aus der innerweltlichen Negativität steht hingegen den Stuttgarter Privatvorlesungen zufolge die radikale Entmachtung des Menschen hinsichtlich eines autonomen Vorantreibens innerweltlicher Geschichte gegenüber. So betrachtet Schelling etwa jeden Staat als einen letztlich misslingenden und daher ohnmächtigen »Versuch die bloß äußerliche Einheit hervorzubringen« (AA II,8, 100). Nachdem der Mensch selbst im Sündenfall zugleich den Abfall der ganzen Schöpfung provoziert hat, ist ihm eine Umwendung innerweltlicher Negativität in Bezug auf das Weltganze von Grund auf verwehrt: »Der Mensch ist hierin ein Opfer für die Natur, wie sie erst für ihn ein Opfer war. Er muß mit seinem vollkommenen Daseyn auf das ihrige warten.« (AA II,8, 182) Genau spiegelbildlich zum Sündenfall des Menschen, in welchem die Natur »für ihn [den Menschen, P. H.] ein Opfer war«, muss nun der Mensch, seiner ur-

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das Höchste für sich zum voraus zu nehmen« (AA II,8, 154). Doch setzt diese Annahme wie auch die insbesondere 1811 dem Menschen offen zugestandene Möglichkeit einer Überwindung der negativen Zeit des Immergleichen mittels einer ›Scheidung von sich selbst‹ grundsätzlich die These von der »allgemeine[n] Subjektivität« (WA I, 78) oder Innerlichkeit der Zeit voraus, die zumindest auf den ersten Blick nicht mit der überindividuell beobachtbaren Negativität einer Zeit des Immergleichen vereinbar zu sein scheint. Dass Schelling unter gleichzeitiger Anerkennung der »furchtbar […] empfunden[en]« Realität der Zeit (WA III, 203) gleichwohl eine absolute Innerlichkeit derselben denken will, zeigt nicht zuletzt seine gleichsam ›mythische‹ Erzählung von den zwei Willen, die Schelling zufolge ja gerade das »Innere des in diesem Widerstreit existirenden Wesens« ausmachen (WA I, 39) und in Form eines Freud geradezu antizipierenden ›Zwanges zur Wiederholung‹ jene in sich kreisende Zeitform konstituieren. Denn der in jenem ›Urwesen‹ angenommene rein ausfließende Wille sowie sein Pendant, der kontrahierende Wille, repräsentierten die beiden Zeit konstituierenden Prinzipien – nämlich das Prinzip, »das vorwärts strebt, zur Entwicklung treibt«, und das »anhaltende[n], hemmende[n], der Entwicklung widerstrebende[n]« Prinzip (WA II, 122), welches Schelling auch als das »Setzende der Möglichkeit einer Zeit« (WA I, 18) im engeren Sinne bezeichnet, da es verhindere, dass alles ›zumal‹ gesetzt wird und damit unmittelbar in Ewigkeit übergehe (vgl. WA I, 74). Der im vorangegangenen Kapitel beschriebene »immer heftigere […] Streit« (WA I, 37) zwischen jenen beiden Prinzipien oder Willen im Absoluten resultiert, wie gesehen, aus einer Verkehrung des ursprünglichen Strukturverhältnisses zwischen den beiden Willen, insofern der zweite, kontrahierende Wille gegenüber dem höherwertigen ersten Willen als dem »Wollen der Ewigkeit selber« (WA I, 17), zum »Herrschenden« zu werden strebt, obgleich er sich eigentlich »nur als untergeordnetes, nicht seyendes verhalten könne« (WA I, 23). Die Folge dieses hybriden Bestrebens ist, wie gezeigt, eine »ewige Zeit« des Immergleichen, die insofern zugleich als eine »anfanglose« bezeichnet werden kann (WA I, 77), als sie ihren eigenen in der Ewigkeit oder Nicht-Zeitlichkeit liegenden Ursprung verdrängt. Ein Ausgang aus dieser zukunftslosen Zeit des Immergleichen kann folglich sprünglichen Freiheit völlig entledigt, auf die »Scheidung in der Natur« warten, »wodurch sich die lange Krankheit entscheidet« (AA II,8, 182) und überwunden wird.

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nur ins Werk gesetzt werden, wenn eine erneute, nunmehr positive Verkehrung jenes verkehrten ›Herrschafts‹-Verhältnisses erfolgt. Sich seines ursprünglichen Seins als reine ›Lauterkeit‹ erinnernd, strebt der erste Wille als das ursprünglich Höherwertige die ›Scheidung‹ beider Willen und damit die Aufhebung der Kontraktion des zweiten Willens an: »Aber immer wiederkehrend gewinnt die Scheidung immer mehr an Gewalt und droht, ihr [der Contraction, P. H.] gleichwerdend, endlich das Übergewicht über sie zu erhalten« (WA I, 37). Allein das Anwachsen der um die Scheidung bemühten Willenskraft ist fähig, eine wahrhafte Vergangenheit zu setzen: Denn »dieser Urzustand der All-Einheit und Allverschlossenheit ist es, welcher durch die folgende Zeit immer mehr verdrungen und als Vergangenheit gesetzt werden soll« (WA I, 53). Der Konflikt zwischen den beiden Willen, der diese in eine zukunftslose Rotationsbewegung eingeschlossen hat, wird immer mehr als Vergangenheit gesetzt, wohingegen hinsichtlich der zwei Willen eine freie, auf einer Trennung beider basierende Interaktion sich immer mehr Geltung verschafft und zum Garant und Kennzeichen einer wahrhaften Gegenwart wird. Wie aber die Einleitungsentwürfe zu den Weltaltern zeigen, ist diese ›ideale‹ Interaktion von Schelling keineswegs als eine solche gedacht, bei der sich die zwei Willen oder Prinzipien ›auf Augenhöhe‹ bewegen, sondern vielmehr als eine Interaktion mit einem ›Dependenzgefälle‹, die »ein fragendes und ein antwortendes, ein wissendes oder vielmehr das die Wissenschaft selber ist, und ein unwissendes nach Klarheit ringendes« Prinzip oder ›Wesen‹ impliziert. 216 In dem Bild des zweiten Willens, der sich ursprünglich zum allein Herrschenden zu erheben sucht, stellt Schelling dabei eine Struktur dar, die sich durch eine Absage an die eigenen Autonomieansprüche zugunsten einer Anerkennung seiner Dependenz auszeichnet, indem der zweite Wille den ersten Willen als einen unabdingbar notwendigen neben sich anerkennt, da er ohne diesen den eigenen Ursprung repräsentierenden Willen letztlich nicht zu existieren vermag. Als das »Setzen eines andern außer sich, wobey das Setzende in seiner Ganz216 Vgl. WA I, 5: »Diese Scheidung, diese Verdoppelung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein wissendes oder vielmehr das die Wissenschaft selber ist, und ein unwissendes nach Klarheit ringendes, diese innere Unterredungskunst, das eigentliche Geheimnis des Philosophen ist es, von welcher die äußere, die davon Dialektik heißt, nur das Nachbild, und wo sie zur bloßen Form geworden, der leere Schein und Schatten ist.« Vgl. auch WA II, 113 f.; WA III, 207; SW VIII, 201.

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heit bleibt« (WA I, 56), vermag Schelling diese Struktur weiterhin anhand des Bildes der »Zeugung« des Sohnes aus dem Vater innerhalb des trinitarisch verfassten Gottes zu begreifen (WA I, 56 passim). Mit jenem Bild der ›Zeugung‹ – als unverkennbare Nachfolgefigur der »derivirten Absolutheit« von 1809 (AA I,17, 127) – verfügt Schelling gewissermaßen über eine Struktur, die es ihm erlaubt, von der Entstehung eines unabhängig Seienden zu sprechen, das in seiner relativen Unabhängigkeit gleichwohl aber nicht seinen eigenen Ursprung verleugnet. Konnte der oben beschriebene erste Anfang aufgrund des Verdrängens seines eigenen in der Ewigkeit oder Nicht-Zeitlichkeit liegenden Ursprungs nur ein ewiges, gleichsam in sich selbst rotierendes »Suchen des Anfangs« (WA I, 76) zur Folge haben, so tritt mit dem hier gemachten zweiten Anfang insofern ein »erste[r] wirkliche[r] Anfang« zutage (WA I, 77), als dieser Anfang gerade anerkennt, dass er eine Vorgeschichte besitzt, die er nicht mittels einer letztlich hybriden Verdrängungsleistung unterschlagen kann. Führt doch jenes Verdrängen der eigenen Vergangenheit und mithin der Abhängigkeit von einer an sich unverfügbaren Vorgeschichte dazu – wie Schelling nicht müde wird zu betonen –, dass man »nie aus ihr heraus [kommt]« (WA I, 11) und somit niemals zu einer wahrhaften, freiem Handeln Raum gewährenden Gegenwart durchbricht: »Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart« (WA I, 11) gibt es denn auch keine Vergangenheit – zumindest keine solche, auf die man ›ruhigen Auges‹ und unbeschwert zurückblicken könnte, sondern lediglich eine solche, die als unabgeschlossene permanent auf der Gegenwart lastet und den Menschen folglich daran hindert, einer wirklichen Zukunft entgegenzugehen. Nur ein solcher die eigene Abhängigkeit anerkennender Anfang eröffnet einen Raum wahrhafter Freiheit. Indessen markiert die Überwindung jenes durch Notwendigkeit charakterisierten Konfliktes durch die ›Scheidung‹ der beiden Willen Schelling zufolge noch kein definitives Ende desselben. Vielmehr wird er lediglich als ein alles beherrschender Zustand zurückgedrängt oder, mit Heidegger gesprochen, ›verwunden‹ und im Zuge einer Dimensionierung der Zeit als Vergangenheit gesetzt. So ist es Schelling zufolge geradezu augenfällig, »daß jenes drehende Rad der Geburt […] noch jetzt das Innerste aller Dinge, und nur beherrscht und gleichsam zugutgesprochen durch das Licht eines höheren Verstandes, die eigentliche Kraft der Natur und aller ihrer Hervorbringungen 194 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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ist« (WA I, 43). Nach Schelling legt die ganze physische Natur – in Gestalt der Herrschaft einer ewigen Wiederkehr des Gleichen – Zeugnis ab von jenem zukunftslos in sich kreisenden ›Urkonflikt‹. Auch im Menschen verschaffe sich jene negative Herrschaft des Immergleichen Geltung, sofern er sich nicht über das ihm bloß gewordene Sein zu erheben vermöge. Doch auch wenn er dazu fähig sein sollte, von seiner eigenen Vergangenheit zu ›lassen‹ und sich von ihr zu ›scheiden‹, bleibt immer das »Entsetzen, […] womit der Mensch erfährt, daß seine friedliche Wohnung über dem Herd eines uralten Feuers erbaut ist« (WA I, 13) und dass mithin – um Wolfram Hogrebe zu zitieren – »das gärende Chaos in der Tiefe aller Ordnung« 217 immer präsent ist. 2.3.2. Die sich im Menschen realisierende ›ewige Freiheit‹: Zum Ineinandergreifen individueller und überindividueller Strukturen Schellings Weltalter gehen, wie gesehen, 218 von einer negativen Zeitund Welterfahrung aus, die dieser in Anspielung auf das Buch Kohelet 219 in der Überlegung zusammenfasst, »daß nichts Neues in der Welt geschehe« und dass somit »die Welt in sich keine Vergangenheit und keine Zukunft habe« (WA I, 11; WA II, 120; vgl. WA III, 192). 220 Doch ein solches Verständnis der Zeit als einer »rück- und vorwärts ins Endlose laufende[n] Kette von Ursachen und Wirkungen« (WA I, 10 f.), die als lückenlose Kausalkette gerade keine unvorhersehbare Zukunft und damit ›nichts Neues‹ kennt, widerlegt Schelling zufolge sich selbst. Dieses Zeitverständnis sollte denn auch insofern bereits »verschwunden seyn« (WA I, 11), als gerade anhand der internen Widersprüchlichkeit dieser verkehrten Zeit im Modus ihres Entzugs die ›wahre Zeit‹ sich bekundet: 221 Insbesondere diejenigen, die keine von der Gegenwart absolut geschiedene »eigentliche Vergangenheit« kennen und mithin einer rein linearen Zeitvorstellung das Wort reden, sind es nämlich, welche die Verkehrtheit und Defizienz einer Hogrebe 1989, 80. Vgl. hierzu auch bereits Höfele 2015, 56–58. 219 Vgl. Koh 1,9. 220 Vgl. dazu auch Hühn 1994a, 218–226. 221 Insofern rechnet M. Theunissen Schellings Weltalter-Projekt auch zur Vorgeschichte seiner Konzeption einer ›negativen Theologie der Zeit‹ (vgl. Theunissen 1991, 66 Anm.). 217 218

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reinen Sukzessionszeit dadurch bekunden, dass sie »immer die Vergangenheit zurückwünschen, […] nicht fortwollen, indeß alles vorwärts geht« (WA I, 11). Sie sehnen sich mithin gerade nicht nach einer Vergangenheit im Sinne einer bloß verflossenen und stets aufs Neue verfließenden Gegenwart, sondern nach einer wahrhaften Vergangenheit, die als definitiv vergangene gleichwohl noch präsent zu sein vermag. Diese Ambivalenz der in sich verkehrten ›chronologischen‹ Zeit, die aber in ihrer Verkehrtheit noch auf die eigentliche Zeit verweist, sucht Schelling dabei im Rückgriff auf das Bild des seine eigenen Kinder verschlingenden und sich dabei seine Zukunft verschließenden Gottes Kronos zu veranschaulichen, in dessen Natur zwey Vorstellungen verbunden werden, die der ewig gebährenden, ewig verschlingenden Zeit, des unabläßig in sich selbst laufenden Rads der Geburt, und die der goldenen Zeit, welcher zuletzt immer jene Eintracht der Dinge zum Vorbild diente, in welcher sie vor dem Anfang der jetzigen Zeiten zusammenlebten. Denn es bleibt dem Menschen in dem lebhaftesten Gefühl der Entzweyung mit sich und der ganzen Welt noch die Ahndung, einmal im Ganzen und selber mit das Ganze gewesen zu seyn […]. (WA I, 68 f.)

Selbst innerhalb der ›chronologischen‹ Zeit, die in ihrem beständigen Verfließen für das ›Gefühl‹ einer steten ›Entzweiung‹ sorgt, ist mithin noch die ›Ahndung‹ einer ganzheitlichen, Vergangenheit und Zukunft in je spezifischer Weise präsent haltenden Zeit vorhanden. 222 Für Schelling verhält es sich mit der Zeit in Wahrheit denn auch nicht derart, dass sie nur ein kontinuierliches Verfließen darstellt, sondern – wie bereits der Plural im Titel des Werkes Die Weltalter andeutet – vielmehr derart, »daß die eigentliche Vergangenheit, die Vergangenheit schlechthin, die vorweltliche ist; die eigentliche Zukunft, die Zukunft schlechthin, die nachweltliche« (WA I, 11). Jene 222 Im Anschluss an M. Theunissen könnte man jene nur noch ›geahndete goldene Zeit‹ mit dem von Schelling selbst als griechische Übersetzung für ›Weltalter‹ (vgl. Schelling 1832/33, 487) herangezogenen Begriff des ›aion‹ identifizieren, in dem noch »Zeit und Leben […] freundlich vereint sind«, während die mit der Vorstellung des ›chronos‹ anvisierte Zeitform als eine Zeit zu verstehen ist, »die über Leben verfügt« und derart einen »geradezu lebensfeindlichen Charakter« besitzt (Theunissen 1991, 300–303, Zitat 301). Auch Gadamer beschreibt jene »Zeit vor der Verzeitlichung, vor der Negativität des Einen und des Anderen, vor dem Fortgang vom Einen zum Anderen« mit Verweis auf Schelling durch den Begriff des ›aion‹ (Gadamer 1969, 147). T. Oser spricht hingegen im Rückgriff auf die entsprechenden lateinischen Begriffe hier von einer Umwandlung der ›aeternitas‹ in ›sempernitas‹ im Sinne von ›Allzeitigkeit‹ (vgl. Oser 1999, 197 f.).

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monotone Sukzessionszeit besitzt nach Schelling mithin nur für ein isoliert betrachtetes ›Weltalter‹ Geltung. Erkennt man dies, so vermag man gerade in der noch unbegriffenen Andersheit einer wahrhaften oder ›eigentlichen Vergangenheit‹ ein immer noch gegenwärtiges Reservoir an Alternativen zur ›nichts Neues‹ kennenden Eintönigkeit der Gegenwart zu entdecken. Allein die »Erinnerung« (WA I, 4) und Anschlussnahme an die nach wie vor präsenten Alteritätspotenziale einer solchen vor- oder überzeitlichen Vergangenheit sind denn auch imstande, eine wahre Zukunft zu eröffnen. Genau in diesem Zusammenhang erhebt Schelling die Forderung nach einer ›Scheidung von sich‹: »Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine« wahrhafte, sich gegenüber der Gegenwart behauptende Vergangenheit (WA I, 11). Laut Schelling ist daher nur derjenige Mensch, welcher sich von sich zu »scheiden«, von seiner eigenen Vergangenheit zu ›lassen‹ und sich dabei im ursprünglichen Sinne des Wortes ›Ekstase‹ 223 »über sich selbst zu erheben« vermag, »fähig, eine wahre Vergangenheit sich zu erschaffen; ebendieser genießt auch allein einer wahren Gegenwart, wie er allein einer eigentlichen Zukunft entgegensieht« (WA II, 119). Im Vollzug jener ›Scheidung‹ entsteht folglich jedes Mal aufs Neue »Zeit, und zwar als ganze Zeit, als Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dynamisch auseinander gehalten, aber eben damit zugleich verbunden sind.« (WA I, 74) Die drei Zeitdimensionen stehen somit nach Schelling nicht in einem Sukzessionsverhältnis, sondern sind in ihrer gleichwohl je spezifischen Präsenz immer gleichzeitig gegenwärtig, weshalb Schelling auch von einer »ewige[n] Gegenwart« sprechen kann, welcher »eine ewige Vergangenheit zu Grunde liegt.« (SW VIII, 260) Die im Zentrum der Weltalter-Philosophie stehende Forderung nach einer ›Scheidung von sich selbst‹, die jene zukunftslose, beständig sich selbst reproduzierende Zeit in qualitativ unterschiedene Zeiten aufspalten soll, darf indessen nicht als autonomer Vollzug endlicher, menschlicher Subjektivität missverstanden werden. Ein solcher Vollzug würde nämlich gerade jene »furchtbar […] empfunden[e]« Realität der Zeit (WA III, 203) nochmals reproduzieren. Denn 223 So bemerkt Schelling 1821 in Erlangen: »Nämlich jede Entfernung oder Entsetzung von einer Stelle ist Ekstase« (SW IX, 230 / Schelling 1821, 41). Zu dieser Entsprechung von ›wahrer Zeit‹ und ›Ekstase‹ vgl. genauer David 1992, bes. 337 u. Hühn 1994, 223.

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dasjenige, was jene monotone Zeit des Immergleichen begründet, kann nicht wiederum als solches für deren Überwindung herangezogen werden. Umgekehrt wäre es aber ebenfalls ein Missverständnis, wollte man die ›Scheidung von sich selbst‹ als bloßes über den Menschen hereinbrechendes und dessen Aktivität völlig einklammerndes Geschehen ansehen. Gleichwohl beinhaltet die durch jene ›Scheidung‹ eröffnete, wahrhaft menschliche Zeitlichkeit ein ›ekstatisches‹ Moment, auch wenn Schelling diesen Ausdruck in den frühen Weltalter-Entwürfen noch nicht verwendet, sondern erst in der Erlanger Vorlesung aus dem Wintersemester 1820/21, in der dann auch nochmals sehr viel prononcierter und in beinahe problematischer Weise das Moment der Passivität des menschlichen Subjektes hervorgehoben wird. 224 Die ›Scheidung von sich selbst‹ ist indessen – wie auch Thomas Oser festgestellt hat 225 – als ein mehrschichtiges Phänomen aufzufassen, das sowohl auf eine Realisation durch den je einzelnen Menschen wie gleichzeitig auch auf Strukturen angewiesen ist, die die Zeitlichkeit des Letzteren überschreiten. So müsse der Mensch, um die permanente, Gegenwart wie Zukunft verhindernde Herrschaft der Vergangenheit zu brechen, sich zunächst »lossagen von allem was ihm geworden« (WA II, 119). Nur insofern der Mensch sich von dem ihm bloß gewordenen Sein zu lösen vermag, dringt er zu einer wahrhaft menschlichen Lebensgeschichte vor und ist nicht mehr bloßer Teil jener »ganz zum Physischen […] herabgesunkenen Menschheit« (AA II,8, 148), wie Schelling bereits in den Stuttgarter Privatvorlesungen bemerkt. Doch stehen wir, wie Michael Theunissen unter Bezugnahme auf Schelling formuliert, »nicht bloß unter dem Anspruch, von unserer Vergangenheit loszukommen; gefordert ist von uns darüber hinaus, allererst ein Verhältnis zu ihr zu gewinnen«. 226 So liefe eine Absage an das eigene vergangene Sein, die in eine gänzliche Verdrängung desselben mündete, wiederum Gefahr, die überwundene Vergangenheit unwissentlich beständig zu wiederholen. Entsprechend heißt es des Weiteren in dem Weltalter-Entwurf von 1813, dass der Mensch zugleich »allem was ihm geworden […] sich thätig entgegensetzen« müsse (WA II, 119), womit die ›Scheidung von sich selbst‹ zugleich als eine »Scheidung in sich selbst« (WA I, 5) 224 225 226

Vgl. unten, Teil II, Kap. 4.3. Vgl. Oser 1999, 177–180. Theunissen 1991, 253.

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erfahrbar wird. 227 Denn erst eine bewusste Anerkennung der eigenen Vergangenheit aus der Distanz zu ihr heraus bedeutet eine wirkliche Überwindung derselben. Erst hier stellt sich dem Menschen als drittes, letztlich unverfügbares Moment auch »das Bewußtsein« ein, »etwas wie man sagt hinter sich gebracht zu haben; heiter wird ihm nur dadurch die Zukunft« (WA II, 119). Heiter ist diese Zukunft, da sie als »offener Horizont, in welchem sich Neues ereignen kann«, 228 nicht mehr eine bloße ›Neuauflage‹ der Vergangenheit darstellt, sondern eine solche ist, welcher man als »einer eigentlichen Zukunft entgegensieht« (WA II, 119), ohne bereits im Voraus auf sie ausgreifen zu wollen und zu können. Gerade jene sich dabei einstellende und somit menschlichen Autonomieansprüchen entzogene Glückserfahrung (›heiter wird ihm die Zukunft‹) verbürgt, wie man in Anlehnung an eine Überlegung Theunissens sagen könnte, dass die damit erreichte Freiheit von der Zeit des Immergleichen »nicht nur als Streben möglich ist, sondern auch in der Erfülltheit dieses Strebens«. 229 Dass jene in der ›Scheidung von sich selbst‹ erfahrene Freiheit von der permanenten Vorherrschaft der Vergangenheit nicht rein illusionär und bloßer Schein ist, dies beweist nämlich gerade jenes sich einstellende und damit – jedenfalls im Resultat – dem einzelnen Subjekt unverfügbare ›Bewusstsein, etwas hinter sich gebracht zu haben‹, dem sich auch das Gefühl der Heiterkeit angesichts einer wahrhaften Zukunft beigesellt. Als Tiefenschicht jener ›Scheidung von sich selbst‹ zeichnet sich somit ein »Moment der Getragenheit« ab, das anzeigt, dass die Suspension jener Herrschaft des Immergleichen »nicht in der Autonomie menschlicher Subjektivität allein« begründet liegt. 230 Jene zu einer Dimensionierung der Zeit führende »Kraft […], sich über sich selbst zu erheben« (WA II, 119), verdankt der Mensch denn auch der Tatsache, dass ihm »ein Princip zugestanden werden [muss, P. H.], das außer und über der Welt ist« (WA I, 4) und durch welches er an einer Freiheit teilhat, die als »der bejahende Begriff der Ewigkeit […] über aller Zeit ist« (WA I, 14). Jene ewige Freiheit avanciert zum Ermög227 Schelling verwendet beide Formulierungen: Von »Scheidung in sich (selbst)« spricht er in WA I, 5 u. 85 sowie SW VIII, 202 u. 240; von »Scheidung von sich selbst« in WA I, 11 u. WA II, 114. 228 Oser 1999, 179. 229 Theunissen 1991, 292. 230 Hühn 1994a, 224.

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lichungsgrund dafür, dass sich die in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen hervortretende »biologische Verfassung der Zeit partiell und für einen Moment in eine biographische« 231 zu verwandeln vermag. Gerade in der Unverfügbarkeit des Resultats der ›Scheidung‹ tritt dem Menschen diese ewige Freiheit als letzter Ermöglichungsgrund eben jenes Vollzugs vor Augen; »im eigentlichen Vollzug der Zeit« wird, wie Thomas Oser zu Recht resümiert, »zugleich der Bezug der Zeit zur Ewigkeit miterfahren […], und zwar als der unverfügbare Ermöglichungsgrund der Scheidung«. 232 Dass in den verschiedenen Weltalter-Entwürfen der in der ›Scheidung von sich selbst‹ angesprochene »Erfahrungszusammenhang immer mehr durch den theologischen Aspekt verdeckt« 233 wird, dieser These Wolfgang Wielands ist allein schon mit Blick auf die unhintergehbare Bedeutung zu widersprechen, die der Ausweis eines Bezuges der Zeit auf einen zeittranszendenten Bereich für die Möglichkeit der Umwendung ihrer negativen Herrschaft besitzt. Denn nur ein Außerhalb gegenüber jener alternativlos in sich kreisenden »Nothwendigkeit«, die »dem Seyn als sein Verhängniß folgt« (WA I, 14), vermag einen Neuanfang und damit eine wahrhafte Zukunft, die als das völlig Andere gegenüber dem Gewesenen auch ihren Namen verdient, zu gewährleisten. Die in den Weltaltern ›erzählte‹ Theogonie bezieht insofern ihre Rechtfertigung daraus, dass sie »eine von Grund auf verkehrte Welt in ihrem Ursprung aus dem Absoluten um der Möglichkeit ihrer Erlösung willen zu begreifen« 234 sucht, wie Jürgen Habermas formuliert hat. Möglich ist Schelling dies dadurch, dass er anders als Kant die Zeit nicht mehr als eine alles gleichsam monoton umfassende ›Anschauungsform‹ denkt, sondern vielmehr als eine Pluralität von ›Zeiten‹, die allererst eine ›Wende‹ zu etwas gänzlich Neuem hin zu ermöglichen vermag. Um jedoch eine Einheit derselben und insbesondere einen Übergang zwischen diesen Zeiten denken zu können, muss Schelling etwas Anderes gegenüber diesen ausweisen können, was zwar theologisch als Ewigkeit gefasst werden kann, aber keineswegs muss: In einer Fortschreibung des aristotelischen Gedankens, wonach Zeit und Bewegung voneinander abzuhe-

231 232 233 234

Oser 1999, 177. Oser 1999, 181. Wieland 1956, 29. Habermas 1982, 181.

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ben seien, 235 genügt es Schelling eine ›Willensphänomenologie‹ vorzulegen, die den Willen einerseits von der Zeit abhebt und andererseits bestimmte Erscheinungs- oder Vollzugsweisen als verantwortlich für gewisse Zeitformen beschreibt. Der Rekurs auf diese nichtzeitliche Tiefenschicht von Zeit macht dabei eine Zeittranszendenz sichtbar, die, um mit Michael Theunissen zu sprechen, »keinen Ausbruch aus Zeit und in eine vermeintliche Zeitlosigkeit wie in parmenideisch-platonischer Metaphysik [bedeutet, P. H.], sondern eine Verwandlung herrschender Zeit in eine andere«. 236

2.4. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Verneinung des ›Willens zum System‹ in den Weltaltern Im Folgenden soll nun nochmals auf den oben eher vernachlässigten Status der schellingschen Weltalter als Text innerhalb der skizzierten Zeit- und Willensproblematik eingegangen werden: Welche Inhalte Schelling mittels der von ihm nie abgeschlossenen Weltalter zu vermitteln beabsichtigt, lässt sich aufs Kürzeste anhand eines Fragmentes rekonstruieren, das Schröter als das »früheste[…] Conzeptblatt« bezeichnet und in dem Schelling »dem Leser aufs kürzeste einen Begriff des h[…]i hier beginnenden Werkes« (WA III, 187) zu geben sucht. Eine Diagnose bezüglich seiner eigenen Zeit wagend, erklärt Schelling darin durchaus optimistisch: »Unsre[r] Wissenschaft h[…]i ist zu dieser Zeit h[…]i nicht nur das Wesen, auch die Einheit des Wesens h[…]i wiedergegeben worden, nachdem sie lange Zeit sich h[…]i als eine bloße Entwicklung h[…]i menschlicher Begriffe und Gedanken h[…]i angesehen.« (WA III, 187) Doch verbindet Schelling diese positiv konnotierte Wiedergewinnung der ›Einheit des Wesens‹ zugleich mit einer Forderung, der zu entsprechen letztlich die Aufgabe der von Schelling geplanten Weltalter sein soll: »Aber es ist nicht genug, das hdas Urwesen als dasi Eine zu erkennen, h[…]i es muß h[…]i zugleich nach jenen drey Abtheilungen erkannt h[…]i werden. Denn es ist Eins, als das Eine und als das Viele oder als das, was war, was ist und was seyn wird« (WA III, 187). Zu Recht hat Aldo Lanfranconi hinsichtlich dieses Zitates bemerkt, dass hier von einem »doppelte[n] Zeitbezug der ›Wissen235 236

Vgl. Aristoteles, Physik, IV,10, 218b. Theunissen 2000, 1.

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schaft‹« 237 die Rede ist: So weist zum einen der Erkenntnisgegenstand – nämlich das »Eine« oder, anders formuliert, das »geahndete Urwesen« (WA III, 187) – einen für diesen wesentlichen Zeitbezug auf. Zum anderen kann aber auch hinsichtlich des Gangs der Wissenschaft ein bestimmter Zeitbezug geltend gemacht werden. So habe sich die Wissenschaft von dem lange Zeit vorherrschenden Missverständnis befreit – oder sei, wie die Einleitungsentwürfe zu den Fassungen von 1811, 1813 und 1814/15 vorsichtiger formulieren, zumindest im Begriff, sich von der problematischen Vorstellung zu verabschieden –, dass sich Wissenschaft in einer »bloße[n] Entwicklung menschlicher Begriffe und Gedanken« erschöpfe und mithin eine dem wirklichen Geschehen gegenüber nur »äußere […] Dialektik« sei (WA I, 5), die eine radikale Unterscheidung »zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Wirklichkeit« voraussetze (WA I, 9). Dieser Konzeption von Wissenschaft setzt Schelling in Form der Weltalter einen eigenen »Versuch« entgegen, »der zu jener künftigen objektiven Darstellung der Wissenschaft einige Vorbereitung enthält«; keineswegs sei »des Untersuchens Ziel« mit den Weltaltern nämlich schon erreicht, noch müsse »Wissenschaft von Dialektik getragen und begleitet« werden (WA I, 9). Das »größte Heldengedicht« (WA I, 9), das Schelling ganz im Sinne der seit seiner Frühphilosophie anvisierten ›Neuen Mythologie‹ 238 postuliert, ist hingegen einer Zukunft vorbehalten, die allein und bis zur Vollständigkeit »die Einheit des Wesens« oder, mit anderen Worten, »das Gewußte auch der höchsten Wissenschaft […] mit der Geradheit und Einfalt wie jedes andere Gewußte« erneut wiederzugeben oder genauer zu ›erzählen‹ vermag (WA I, 4). Doch wie bereits der Verweis auf die »Seher[…] der Vorzeit« (WA I, 9) insinuiert, kann jene ›Einheit‹ oder auch ›Einfalt‹ nur erreicht werden, wenn der Gang der Wissenschaft mit ihrem Erkenntnisgegenstand zusammenfällt und die Weltalter somit eine Selbstdarstellung des Absoluten als gleichwohl in der Gegenwart noch unerreichbaren Zielpunkt anvisieren. 239 Nunmehr als einer noch ausstehenden Zukunft vorbehalten, reformuliert Schelling mit der Gedankenfigur von der ›Einheit des Wesens‹, wie auch Aldo Lanfranconi

237 238 239

Lanfranconi 1992, 122. Vgl. dazu Hühn 1994b. Vgl. Lanfranconi, 1992, 122 f.

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anmerkt, 240 nichts anderes als eine Position der Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802, wonach es »nicht absolutes Wissen und außer diesem noch ein Absolutes« gebe, sondern – und hierin bestehe allein das »Wesen der Philosophie« – »beide […] eins« seien (SW IV, 404). Wenn aber erst eine derartige Selbstexplikation des als Absolutes gefassten Erkenntnisgegenstandes die ›objektive Darstellung der Wissenschaft‹ zu verbürgen vermag, so ist es nur als konsequent anzusehen, wenn Schelling sich selbst als Autor des Werkes gänzlich zurückzunehmen sucht und die Weltalter »als das Werk eines unbekannten Autors« zu lesen auffordert, das als eine Art von ›Neuer Mythologie‹ in der »Sprache des Volks« und »wie von Ewigkeit« her sprechend abgefasst sei (WA III, 195). Diese für die Gegenwart oder vielmehr erst für die Zukunft vollständig veranschlagte Koinzidenz von Inhalt und Form 241 der höchsten Wissenschaft impliziert aber eine doppelte Problemstellung: Einerseits muss Schelling nämlich erklären, von woher der Wissenschaft die Möglichkeit eröffnet wurde, Aufklärung über das sie beherrschende Missverständnis zu erlangen, und auf welche Weise es der Wissenschaft möglich war oder vielmehr ist, die ihr vormals zerbrochene ›Einheit des Wesens‹ wiederherzustellen. Schelling greift hierzu in den Weltaltern gleich auf mehrere Strukturen zurück, die jede auf ihre Weise einen Zugang zu jener ›Einheit des Wesens‹ und somit auch zum Absoluten gewähren sollen: So führt er nicht allein das Konzept einer ›Scheidung von sich selbst‹ an, welche allererst eine ihren Ewigkeitsbezug anerkennende, wahrhafte Zeit zu eröffnen vermag, sondern bringt eben auch Erkenntnisweisen wie »Erfahren, Fühlen, Schauen« (WA I, 7) oder etwa den Gedanken eines vornehmlich an die platonische Anamnesis-Lehre anschließenden »Innerlichwerden[s]« (WA I, 6) oder ›Er-innerns‹ des ursprünglichen Absoluten ins Spiel. Dabei führt gerade dieses ›Innerlichwerden‹ dazu, dass der Gang der Wissenschaft mit all seinen Verfehlungen als derjenige des Absoluten selbst sichtbar wird: Denn, so erklärt Schelling in den Einleitungsentwürfen, die »wahre Vorstellung [von Wissenschaft, P. H.] ist, daß es die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, Vgl. Lanfranconi 1992, 122. Vgl. WA I, 4: »Nachdem die Wissenschaft der Materie nach zur Objektivität gelangt ist, so scheint es eine natürliche Folge, daß sie dieselbe der Form nach suche. Warum war oder ist dies bis jetzt unmöglich?« 240 241

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die in ihr sich darstellt« (WA I, 3). Die Problemstellung, die sich hieraus ergibt, betrifft die Notwendigkeit, die oben angeführten Zeitbezüge von Wissenschaft und Absolutem vermitteln zu müssen. Bezieht sich der Zeitbezug des Absoluten vor allen Dingen auf den Fortschritt seiner Entwicklung, so ist der Fortschritt im Zuge einer in der »bloße[n] Folge und Entwicklung eigener Begriffe und Gedanken« (WA I, 3) befangenen Wissenschaft und damit einer dem Irrtum verfallenen Philosophie geradezu unterdrückt. Die Vergangenheit und selbst noch die Gegenwart der Wissenschaft scheinen somit jegliche – für einen Fortschritt gleichwohl essentielle – »Differenz der Vergangenheit und der Zukunft h[…]i also h[…]i diese selbst im wahren Sinne zu läugnen« (WA III, 188). Schellings Antwort auf diese Problemstellung ist, mit Lanfranconi gesprochen, die »Konzeption einer doppelten Zeitreihe«, 242 einer durch eine monotone Indifferenz gekennzeichneten Zeitreihe und einer auf Differenz ihrer Teile basierenden Zeitreihe, die beide durch einen Hiatus getrennt nebeneinander existieren, indessen aber vereint werden müssen. Genau darauf zielt die oben zitierte Formulierung ab, wonach das göttliche Urwesen »Eins [ist], als das Eine und als das Viele oder als das, was war, was ist und was seyn wird.« (WA III, 187) Die Aufgabe der Weltalter besteht denn auch in dem Nachweis der »Einheit der Einheit und des Gegensatzes« dieser Zeiten. 243 Diese ›Einheit der Einheit und des Gegensatzes‹ wird in den Weltaltern hierbei sowohl als Einheit von unentfalteter Ewigkeit und auf Differenz beruhender Zeit(en) wie auch als Einheit zweier einander widersprechender Zeitreihen verstanden, wobei Schelling die eine der beiden Zeitreihen als eine negative Spielart von Ewigkeit versteht und somit die zuletzt genannte Einheit nicht gänzlich und partout von der ersteren – nämlich der Einheit von unentfalteter Ewigkeit und auf Differenz beruhender Zeit – zu unterscheiden ist. Auf die Art und Weise der Vereinbarkeit jener beiden Zeitreihen verweist Schelling indirekt bereits mittels des Titels Die Weltalter, den – wie wir aufgrund des Briefwechsels Schellings mit seinem Verleger Cotta

Lanfranconi 1992, 124. Vgl. WA I, 75: »Denn in ihm [dem Ewigen, P. H.] sind bereits Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verborgener Weise als Eins gesetzt; die Vergangenheit durch das Seyn, die Gegenwart durch das Seyende; aber auch jene höchste und letzte Einheit (die Einheit der Einheit und des Gegensatzes) lag ja schon verschlossener oder eingewickelter Weise in ihm.« 242 243

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Die Negativität und Überwindung des tragischen Wollens in den Weltaltern

wissen 244 – das gleichwohl niemals abgeschlossene Werk letztlich tragen sollte. Bereits auf dem oben zitierten »Conzeptblatt« bemerkt Schelling, dass das geplante Werk »in drey Bücher abgetheilt seyn wird, nach den drey Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«, die keineswegs, wie etwa der Sohn und Herausgeber der Werke Schellings nahelegt (vgl. SW VIII, V), »als bloße Abmessungen der Zeit« angesehen werden sollten, »sondern als drey wirkliche von einander verschiedene Zeiten, die ich mir auch Weltalter zu nennen erlaube« (WA III, 187 f.). Denn nur eine auf Differenz basierende, dimensionierte Zeit vermag einen Fortschritt in der Entwicklung des Absoluten sowie eine wirkliche Zukunft zu garantieren. Doch dass es solch eine wirkliche, Fortschritt verbürgende Zeit gibt, dem scheint Schelling zufolge nicht allein der vergangene wie teilweise auch noch gegenwärtige Gang der Wissenschaft zu widersprechen, sondern sogar die gesamte innerweltliche Zeit, die Schelling im Rückgriff auf Kohelet 1,9 als eine Zeit charakterisiert, in der »nichts Neues […] geschehe« (WA I, 11; WA II, 120; WA III, 188). Jedoch ist Schelling zufolge diese auf monotoner Indifferenz gründende Zeit nur für ein isoliert betrachtetes ›Weltalter‹ maßgeblich. So sei im Buch Kohelet auch »nur von der durch die Sonne bestimmten d. i. weltlichen Zeit die Rede«; indessen dürfe man nicht nur von einer einzigen, der Welt zugeordneten Zeit ausgehen, sondern müsse vielmehr »ein System der Zeiten [voraussetzen, P. H.], von welchem die gegenwärtige, mit allem was in ihr vergangen, gegenwärtig oder zukünftig seyn mag, nur ein einziges großes Glied ausmacht« (WA III, 188). Um die beiden durch Indifferenz sowie durch Differenz jeweils charakterisierten Zeitreihen miteinander in Einklang bringen zu können, relativiert Schelling den Gedanken einer zukunftslos in sich kreisenden, indifferenten Sukzessionszeit, indem er ihn auf die innerweltliche Gegenwart oder auch – wie im Falle des göttlichen Wesens – auf die durch den ›wirklichen Anfang‹ der Schöpfung als Vergangenheit gesetzte Entwicklungsperiode einschränkt. Dem ›Weltalter‹ der Gegenwart stellt Schelling insofern sowohl eine von dieser radikal zu scheidende »vorweltliche« wie auch eine »nachweltliche« Zeit zur Seite (WA I, 11). »[M]ehr auf dialektische Art« reflektiert diese Bewegung noch244 Vgl. F. W. J. Schelling an J. F. v. Cotta, 21. Oktober 1811, Schelling/Cotta/Cotta 1965, 56 u. F. W. J. Schelling an J. F. v. Cotta, 12. März 1824, Schelling/Cotta/Cotta 1965, 147.

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mals die »Genealogie der Zeit«: Neben der die ›mythische‹ Rede kritisierenden Betonung des atemporalen Charakters der Genese der Zeit – so entstehe »die Zeit […] unmittelbar aus der Ewigkeit« (WA I, 79) – sowie dem Insistieren auf der Sukzessivität der Zeiten oder ›Weltalter‹, wodurch ein »System eines nach innen oder dynamisch unendlichen, nach außen aber allerdings endlichen oder geschlossenen Organismus der Zeiten« entstehe (WA I, 82), zeigt dieser Abschnitt nochmals, inwiefern die Zeit »in jedem Augenblick der Ewigkeit gleich« und ein »wirkliches Bild« der ganzen Zeit sei (WA I, 80 f.). Folglich »enthält […] jede Zeit […] dasselbe; denn sie unterscheidet sich von ihrer vorhergehenden nur dadurch, daß sie zum Theil als vergangen setzt, was diese als gegenwärtig, was jene noch als zukünftig setzte« (WA I, 81). Obgleich die wirkliche Zukunft sich nur darin von jeder gegenwärtigen Zeit unterscheidet, dass jene wirklich die ganze Zeit ist, wohingegen diese sie jeweils »nur der Idee nach« (WA I, 81), wie durch einen »Schleyer« (WA III, 187) von ihr getrennt, voraussetzt, so kann man doch keineswegs wie etwa Wolfgang Wieland davon sprechen, dass Schellings Zeitauffassung Gegenwart und Zukunft zusammenfallen lasse und folglich eine Unterscheidung beider überflüssig mache. 245 Deutlich wird dies, wenn man Schellings Konzeption des Übergangs von der negativ charakterisierten zu einer positiv bestimmten Zeit in ihrer Gänze strukturell sich vor Augen führt: So soll – vermittelt durch ein dem Menschen zugestandenes »Princip […], das außer und über der Welt ist« (WA I, 4) – in der zu wirklicher Gegenwart führenden Scheidung das notwendige vergangene Sein von einer für die Zukunft offenen Gegenwart abgeschieden werden. Doch dies ist erst der Anfang des Prozesses der ›Scheidung‹, wie man an der Erlanger Vorlesung noch genauer sieht: Diese Krisis ist aber nur Anfang, Bedingung des eigentlichen Processes […]. Durch die Entscheidung nämlich sind nun zwei gesetzt, auf der einen Seite unser Bewußtsein im Zustand des absoluten Nichtwissens, auf der anderen Seite das absolute Subjekt, welches nun als ewige Freyheit dem Bewusstsein aufgeht und sich verkündet als das, was das andere nicht weiß. Diese sind zwar auseinander, aber sie bleiben nicht in der Trennung. (SW IX, 231)

Was Schelling hier beschreibt, ist der anamnetische Prozess der ›Innerlichwerdung‹ (vgl. WA I, 5 f.), in dem die Wissenschaft als Selbst245

Vgl. Wieland 1956, 43.

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Exkurs I: Puralisierung und Hierarchisierung der Willensformen bei Hegel

darstellung des Absoluten sichtbar werden soll. Zukunft ist hier nicht, wie Michael Theunissen gerade in Bezug auf Heidegger kritisiert, »Titel für transzendentale Selbstbezüglichkeit«, 246 als welche sie lediglich die äußerste Möglichkeit des Daseins darstellte, sondern sie ist vielmehr das Pendant zur Offenheit der Gegenwart als ›Zukommen‹ des darzustellenden Absoluten auf den Menschen oder als Offenbarwerden desselben im Menschen, der dieses mithin nicht mittels eines ›Willens zum System‹, um mit Heidegger zu sprechen (vgl. etwa HGA 42, 42 u. 50), darzustellen vermag. Gleichwohl ist auch diese auf den Menschen ›zukommende‹ Selbstdarstellung des Absoluten nicht gänzlich unproblematisch, legt sie doch umgekehrt in Bezug auf den Menschen die Forderung einer absoluten Passivität und alles Voluntative negierenden Gelassenheit nahe, wie Schelling dann auch in einer Radikalisierung des Prozesses der ›Scheidung von sich‹ in der Erlanger Vorlesung 1821 ausführt.

3. Exkurs I: Die Puralisierung und Hierarchisierung der Willensformen bei Hegel Bevor die Erlanger Vorlesung von 1821 genauer betrachtet werden soll, gilt es zunächst noch zur besseren Profilierung des schellingschen Ansatzes einen kurzen Blick auf Hegels Willenskonzeption zu werfen. 247 Ob Schelling und Hegel die Reflexionen des jeweils anderen zum Begriff des Willens zur Kenntnis genommen haben, ist zwar nicht mit Sicherheit zu klären, jedoch durchaus wahrscheinlich. So hat zum einen Hegel von Schellings frühen transzendental- und identitätsphilosophischen Schriften bis hin zur Freiheitsschrift (1809) und deren differenzierten Willensreflexionen nachweislich Notiz genommen, 248 wovon gerade auch die Ausführungen zum Willen in der Encyklopädie ein indirektes Echo zu geben scheinen, wie im Folgenden in aller Kürze zu zeigen ist. Die differenzierten Willensreflexionen des ›mittleren‹ Schelling waren Hegel mithin nur in der 1809 Theunissen 1991, 344. Vgl. hierzu auch Höfele 2020. 248 Vgl. GeschPh III, TWA 20, 420–454, bes. 444 u. 453; Hegel 1986, 179–188, bes. 186 (Nachschrift von 1825/26). Hegel erwähnt Schellings »Abhandlung über die Freiheit« dabei sogar lobend als von »tiefer spekulativer Art«, um sie gleichzeitig aber dafür zu kritisieren, dass sie »nur diesen einen Punkt« betreffe (GeschPh III, TWA 20, 444). 246 247

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noch gleichsam vorläufig präsentierten Form zugänglich, nachdem die Weltalter und alle folgenden Vorlesungen von Schelling zu Hegels Lebzeiten nie publiziert wurden. 249 Zum anderen konnte Schelling erst nach 1817 mit dem Erscheinen der ersten Auflage von Hegels Encyklopädie der philosophische Wissenschaften im Grundrisse und insbesondere 1820/21 nach der Publikation der Grundlinien der Philosophie des Rechts die hegelsche Willenskonzeption ausführlich zur Kenntnis nehmen. Schelling hat indessen fast alle hegelschen Werke studiert, insbesondere auch die Encyklopädie, die er – wie Bemerkungen in Briefen und die Nachlassbibliothek zeigen – in allen drei Ausgaben gerade auch im Blick auf die Modifikationen genau zur Kenntnis genommen hat. 250 Ob Schelling allerdings die erste Ausgabe der Encyklopädie sowie die für Hegels Willensbegriff wohl noch wichtigeren Grundlinien der Philosophie des Rechts bereits 1821 in Erlangen vorliegen hatte, bleibt nur zu vermuten, auch wenn es jedenfalls nicht auszuschließen ist. 251 Zwar geht Hegel auch bereits zu Ende des 1816 erstmals erschie249 Am 28. Mai 1821 schreibt Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs gleichwohl an Hegel mit Blick auf die Erlanger Vorlesung, ohne dies inhaltlich genauer auszuführen: »Aus einem Briefe von Erlangen weiß ich, daß Schelling sehr polemisch gegen uns verfährt. – Schade für ihn! –« (vgl. H. F. W. Hinrichs an G. W. F. Hegel. 28. 05. 1821, Hoffmeister 1969–1981, Bd. 2, 265). Es ist jedoch nicht bekannt und wohl eher auszuschließen, dass Hegel detailliertere Berichte zu Schellings Vorlesungstätigkeit zugingen. 250 Vgl. dazu den Brief Schellings an Beckers von 1836, in dem jener Beckers darum bittet, dass er, »wenn es ja Ihre [Beckes, P. H.] Zeit erlaubte, für mich [Schelling, P. H.] eine Vergleichung zwischen der 2. und 3. Ausgabe der Hegelschen Encyklopädie anstellten«; denn, so Schelling weiter, »[s]chon eine Vergleichung der zweiten mit der ersten giebt zu interessanten Bemerkungen Anlaß, die der zweiten mit der dritten nach allem, was ich zu vermuthen Ursache habe, noch mehr.« (F. W. J. Schelling an H. Beckers, 7. Juli 1836, Plitt III, 106.) Vgl. des Weiteren zu Bezugnahmen auf die verschiedenen Ausgaben der Encyklopädie z. B. SW X, 152 u. 156 f. sowie Schelling 1832/33, 210 u. 231 f. – Vgl. außerdem zu den in Schellings Nachlassbibliothek vorhandenen Ausgaben der Encyklopädie von 1817, 1827 und 1840–42 Müller-Bergen 2007a, 124. (Zech-Nr. 492), 231 (Zech-Nr. 905) u. 234 (Zech-Nr. 914). 251 Die Grundlinien der Philosophie des Rechts sind entgegen der Angabe 1821 auf dem Titelblatt bereits im Oktober 1820 in der Nicolaischen Buchhandlung erschienen (vgl. dazu die »Anmerkung der Redaktion« in TWA 20, 525), sodass Schelling zu Beginn seiner Erlanger Vorlesung die Schrift schon gekannt haben könnte. Gleichwohl findet sich in der Nachlassbibliothek nur eine Ausgabe der Rechtsphilosophie von 1833 (vgl. Müller-Bergen 2007a, 124 f. (Zech-Nr. 492). Vgl. zudem Schelling 1841/42, 94, wo Schelling auf die von E. Gans mit einer Vorrede versehene Ausgabe der Rechtsphilosophie von 1833 Bezug nimmt.

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nenen zweiten Bandes seiner Wissenschaft der Logik sowie an entsprechender Stelle in der enzyklopädischen Logik auf den Begriff des Willens ein, 252 insofern die in der Logik gegebenen »reinen Bestimmungen von Seyn, Wesen und Begriff, […] die Grundlage und das innere einfache Gerüste der Formen des Geistes aus[machen]« (WdL, GW 12, 20) und damit auch die Inhalte der Geistesphilosophie in nuce vorwegnehmen. Doch den eigentlichen Ort seiner Behandlung findet der Wille in Hegels erstmals 1817 publizierter Encyklopädie erst in der »Psychologie« am Ende des Abschnittes zum subjektiven Geist innerhalb der »Philosophie des Geistes«, wo er zugleich die Grundlage des objektiven Geistes und damit den »Boden des Rechts« (Rph, GW 14,1, 31 (§ 4)) bildet, wie Hegel 1821 in der »Einleitung« zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts bemerkt, um dort erneut und mit einer leicht modifizierten Strukturierung seiner Momente den Begriff des Willens zu explizieren. 253 In beiden Texten geht es Hegel darum, zu zeigen, dass der »Weg des Willens, sich zum objectiven Geiste zu machen«, darin besteht, »sich zum denkenden Willen zu erheben« (Enz. III, GW 20, 466 (§ 469)). Die Rechtsphilosophie sucht diesen ›Weg‹ zunächst in größtmöglicher Abstraktheit als Prozess der Selbstdifferenzierung anhand der drei Momente von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zu charakterisieren: Zwar begreift Hegel hierbei das erste Willensmoment zunächst positiv als »das Element der reinen Unbestimmtheit […], in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandener oder, wodurch es sei, gegebener und bestimmter Inhalt aufgelößt ist« (Rph, GW 14,1, 32 (§ 5)); durch dieses Moment ist mithin die negative Freiheit des Willens von allen äußeren Bestimmtheiten sichergestellt. Während Schelling schon in den Weltaltern und dann erneut in der Erlanger Vorlesung von 1821 dieses gänzlich objektlose, nichts wollende Wollen gerade zum Systemprinzip erhebt, 254 macht nach Hegel hingegen dieses Willensmoment insofern lediglich »die Eine hier beVgl. WdL, GW 12, 231–235; Enz. I, GW 20, 227 f. (§§ 233–235). In der enzyklopädischen Logik ist dieser Abschnitt erstmals in der 2. Ausgabe von 1827 auch explizit mit »Das Wollen« betitelt (Enz. I, GW 19, 176 (§ 233)). 253 Vgl. zu einer Parallelisierung der Grundlinien und der verschiedenen Ausgaben der Enzcyklopädie bezüglich der Ausführungen zum Willen Peperzak 1991, bes. 90– 98. Vgl. auch Fetscher 1970, 188–206; Stederoth 2001, 383–399; Binkelmann 2007, 241–265. 254 Vgl. oben, Teil II, Kap. 2.1 sowie unten, Teil II, Kap. 4.1. 252

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stimmte Seite des Willens« aus, als es »die Flucht aus allem Inhalte als einer Schranke« bedeutet und in Form gleichsam eines Willens zu nichts und allem »die Freyheit der Leere« beschreibt (Rph, GW 14,1, 32 (§ 5, Anm.)). Daher muss Hegel zufolge der Wille weiterhin »das Uebergehen aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands« sein (Rph, GW 14,1, 33 (§ 6)); denn »Ich will, nicht nur, sondern will Etwas«, wie Hegel in Notizen zu § 6 der Grundlinien mit Blick auf das für den Willen konstitutive Moment der Intentionalität bemerkt (Rph, GW 14,2, 321). Dieses »Moment der Endlichkeit oder Besonderung des Ich« (Rph, GW 14,1, 33 (§ 6)), das dessen Abhängigkeit gleichsam reetabliert, kann hingegen nicht die höchste Bestimmung des Willens darstellen. Diese kann nur darin bestehen, dass der Wille als »Einzelnheit« in sich die »beyden ersten Momente, daß der Wille von Allem abstrahiren könne und daß er auch bestimmt sey«, vereine und damit im Sinne des kantischen Autonomiekonzeptes »Selbstbestimmung des Ich« sei, die jede »Bestimmtheit […] als die seinige und ideelle [weiß], als eine bloße Möglichkeit, durch die es [das Ich, P. H.] nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt« (Rph, GW 14,1, 34 (§ 7)). 255 In den drei Ausgaben der Encyklopädie differenziert Hegel dann diese Entwicklung des Willens konkreter als Weg vom natürlichen, unmittelbar bestimmten zum sich denkenden, freien Willen aus. Seine eigentliche äußere Unbestimmtheit erfährt dieser Entwicklungslinie zufolge der Wille erstmals, wenn auch nur rudimentär, im »praktische[n] Gefühl«, in dem der praktische Geist »sich findet als in seiner innerlichen Natur bestimmte Einzelnheit.« (Enz. III, GW 20, 467 (§ 471)) Zwar handle es sich hierbei um eine Form der »Selbstbestimmung« oder genauer Selbstaffizierung; diese sei aber im »Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen« zum einen unmittelbar hervorgerufen und zum anderen auf eine »Einzelnheit« bezogen (Enz. III, GW 20, 469 (§ 472)). Letzteres ändert sich zwar auch auf der folgenden Stufe des Willens als »Trieb und Neigung« nicht; als »Leidenschaft« legt sich der praktische Geist nämlich hier gerade »in eine einzelne der mit dem Gegensatze überhaupt gesetzten vielen beschränkten Bestimmungen« (Enz. III, GW 20, 470 (§ 473)). Doch geht es hier nun gleichzeitig einerseits um eine eigenständige Hervorbrin255

Vgl. zur Kant-Nähe der hegelschen Willenskonzeption Dorschel 1992, 134 f.

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Exkurs I: Puralisierung und Hierarchisierung der Willensformen bei Hegel

gung des dem Subjekt als angemessen Erscheinenden; andererseits wird der Wille infolge der zugleich mit der »Besonderheit des Triebs« gesetzten ›vielen beschränkten Bestimmungen‹ auf den »Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen«, gesetzt und damit zur »Willkühr« (Enz. III, GW 20, 474 (§ 477)). Aber damit werde im Sinne einer schlechten Unendlichkeit letztlich nur eine »Befriedigung, die diß eben so sehr nicht ist, durch eine andere ins Unendliche« aufgehoben und keine allseitige, »allgemeine« Befriedigung erreicht (Enz. III, GW 20, 474 (§ 478)). Letzteres stellt erst die Stufe der »Glückseligkeit« sicher, die die Besonderheit der Triebe hierarchisiere und einem allgemeinen Zweck subsumiere, auch wenn selbst auf dieser Stufe noch ein Willkürmoment und ein Verhaftetsein mit Blick auf die Triebe sich zeige, insofern »in den Trieben […] die Entscheidung [liegt], […] was den Ausschlag geben muß, worein es die Glückseligkeit setze.« (Enz. III, GW 20, 475 (§ 479)) Diesen Mangel hebt schließlich der ›freie‹ sowie ›objektive Geist‹ auf. Als solcher nämlich sei der Wille »die durch sich gesetzte unmittelbare Einzelnheit, welche aber ebenso zur allgemeinen Bestimmung, der Freiheit selbst, gereinigt ist.« (Enz. III, GW 20, 476 (§ 481)) Diese bestimmte Einzelheit ist mithin nicht mehr eine unmittelbare oder aus Vorgefundenem gewählte Einzelheit, sondern eine aus der Allgemeinheit und Unbestimmtheit des Willens heraus frei generierte, die auf Letztere generell zurückbezogen ist, sich also nicht mehr gleichsam im Einzelnen verliert. Hegel nimmt damit eine ähnliche Abstufung innerhalb des Wollens wie Schelling 1809 in seiner von Hegel bekanntlich rezipierten Freiheitsschrift vor. Noch weit radikaler als Hegel, der den Willen nur als Grundlage des objektiven Geistes bestimmt, versteht Schelling 1809 jedoch alles »Seyn als Wollen«, da auf dieses »alle Prädikate« des Seins passten (AA I,17, 123). Gleichwohl beschreibt Schelling sodann eine Hegels Ausführungen vergleichbare Pluralisierung und Hierarchisierung im Willensbegriff: 256 Zwar sei alles Sein »Wollen«, doch nimmt Schelling zugleich – ähnlich wie Hegel ab 1817 – eine sich ›potenzierende‹ Stufenfolge an, der zufolge »sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre« (AA I,17, 123). Indessen systematisch gewissermaßen noch vor Hegels voluntativer Stufenfolge einsetzend, welcher Intelligenz und Denken immer schon mit dem Willen einhergehen und letzteren sogar aus 256

Vgl. dazu auch Noller 2015, bes. 315–325 sowie oben, Teil II, Kap. 1.1.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

ersterer hervorgehen lässt (vgl. Enz. III, GW 20, 465 (§ 468)), 257 kommt Schelling dabei zunächst auf eine noch vor Denken und Selbstbewusstsein liegende Struktur zu sprechen, nämlich auf die Sehnsucht, welche »für sich betrachtet auch Wille« sei, aber ein noch unreflektierter »Wille, in dem kein Verstand ist«, und der darum auch »nicht ein bewußter, sondern ein ahndender Wille« ist (AA I,17, 131). Diesem setzt Schelling zweitens den Verstand als »Wille[n] in dem Willen« und damit potenzierte Willensform entgegen (AA I,17, 131). Doch erst indem sich der Verstandeswillen, der eine »reflexive Vorstellung« (AA I,17, 132) erzeuge, mit dem Willen der Sehnsucht oder, anders formuliert, der »Universalwille« mit dem »Eigenwillen« (AA I,17, 133 f.) verbindet, entsteht nach Schelling im »ewige[n] Geist« drittens ein »freyschaffender und allmächtiger Wille« (AA I,17, 132) 258 – vergleichbar der Struktur des ›freien Geistes‹ bei Hegel, insofern beide Willensformen Einzel- oder Eigenheit und denkende Allgemeinheit in sich vereinen, auch wenn Hegel gerade nicht wie Schelling eine Verkehrung der im Geist aufgehobenen Willen als Möglichkeit des Bösen annimmt. 259 Schellings besonderes Interesse gilt denn auch gerade den von Hegel vernachlässigten oder kritisierten voluntativen ›Randphänomenen‹, wie sich in Erlangen – ähnlich wie bereits in den Weltaltern – vor allem mit Blick auf das sogar zum Systemprinzip erhobene ›nicht wollende Wollen‹ sowie hinsichtlich der diagnostizierten tragischen Strukturen des Wollens und insbesondere des ›Wissenwollens‹ zeigt. Auch wenn Schelling zu Recht auf diese ›Randphänomene‹ des Voluntativen den Blick richtet und derart einer durchweg positiven Einschätzung des Willensparadigmas vorbeugt, ist indessen umgekehrt gegen Schelling ebenso die Inadäquatheit einer Verabsolutierung negativer ›Randphänomene‹ des Willentlichen hervorzuheben, wie sie beinahe parallel zu Schopenhauer gerade in Schellings Erlanger Vorlesung zu finden ist. Dass Schelling während seiner zweiten Münchener Phase ab 1827 in der Figur des ›Herrn des Seins‹ schließlich auch den positiven Willensphänomenen wieder verstärkt Rechnung trägt 257 Vgl. auch die Griesheim-Nachschrift von 1825 in GW 25,1, 532 sowie die von L. Boumann 1845 herausgegebenen »Zusätze« Hegels in GW 25,2, 1113. 258 Schelling behält diese Triplizität von Wille als Sehnsucht oder Eigenwillen, Verstand bzw. Universalwillen und beide vereinendem Geist bis in die 1841 endende zweite Münchener Zeit bei. Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.1.2 sowie unten, Teil III, Kap. 2.2.1. 259 Vgl. hierzu oben, Teil II, Kap. 1.2.

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Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821

und dabei auch Hegels Konzeption des ›freien Geistes‹ sowie seinem Verständnis des eigentlichen Willens als »Einzelnheit«, die jede Bestimmtheit als bloß »ideelle« weiß, wieder entgegenkommt (Rph, GW 14,1, 34 (§ 7); vgl. Enz. III, GW 20, 476 (§ 481)), dies dürfte der Weite des zu beschreibenden Phänomens denn auch eher gerecht werden als die generelle Willenskritik in Erlangen, auf die nun zunächst einzugehen ist.

4. Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821 Die ausführlichste und radikalste Entfaltung erhält Schellings Willenskritik und Gelassenheitsdenken in der Erlanger Vorlesung von 1821. 260 Die hier von Schelling entfalteten Motive finden nicht nur eine Fortsetzung in Schopenhauers ›Denken des Lassens‹, 261 sondern haben darüber hinaus, wie noch auszuführen sein wird, nicht zufällig die Aufmerksamkeit Heideggers in seiner letzten Lektüre Schellings auf sich gezogen. 262 Wie bereits im Falle der Weltalter wird auch hier wieder systematisch in drei Hinsichten das Willensdenken von 1821 zu entfalten sein, anhand derer die Nähen und Modifikationen gegenüber dem Willensdenken der Weltalter in aller Deutlichkeit hervortreten. Zunächst ist auf das alles gleichsam ›genetisch‹ begründende Systemprinzip einzugehen, aus dem sowohl das negativ konnotierte Wollen als auch das positiv charakterisierte Nicht-Wollen oder ›Lassen‹ hergeleitet werden. Es lässt sich hier zeigen, wie Schelling analog zu den Weltaltern in umfangreichen Analysen eine Ambivalenz in das Absolute einzeichnet, die im Weiteren sowohl für die innerweltliche Negativität Verantwortung zeichnet wie auch die Möglichkeit einer positiven Umwendung derselben begründet (Kap. 4.1). In einem zweiten Schritt ist Schellings Konzeption von 1821 auf den Ansatzpunkt ihrer generellen Kritik des Wollens und der damit einhergehenden negativen Gegenwartsdiagnose hin zu befragen. Dabei kann nachgezeichnet werden, wie die in den Weltaltern erarbeitete

260 Die für das Wintersemester 1820/21 zwar angekündigte Vorlesung begann tatsächlich erst am 4. Januar 1821 und endete am 6. März 1821. – Vgl. zur Erlanger Vorlesung von 1821 insgesamt bes. Durner 1979 u. Hühn 1994, 195–226. 261 Vgl. dazu ausführlicher unten, Teil II, Kap. 5. 262 Vgl. dazu genauer unten, Teil IV, Kap. 9.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

Grundfigur eines den eigenen Intentionen zuwiderlaufenden Wollens in der Erlanger Vorlesung erneut aufgegriffen wird und nochmals eine Ausweitung erfährt. Schelling betont nicht allein die Negativität der menschlichen und somit intramundanen Wissensaneignung, sondern zeigt zugleich auch einen ›Verhängniszusammenhang‹ des Willens im Absoluten selbst auf (Kap. 4.2). In einem dritten und letzten Schritt ist sodann noch auf die von Schelling entwickelte ›Antwort‹ auf das kritisierte Willensparadigma genauer einzugehen, die im ›Lassen‹ liegt. Schelling zufolge geht die ›Krisis‹, die das Absolute wieder aus seiner Verstrickung in den geschichtlichen Prozess heraushebt, im zweifachen Sinne mit einem ›Lassen‹ einher – nämlich sowohl mit einem Lassen im Menschen als auch in Form einer Erinnerung des ursprünglichen, in seinem reinen Können ›gelassenen‹ Absoluten. Dabei fasst Schelling dieses ›Lassen‹ hier unter dem später auch von Heidegger herangezogenen Begriff der ›Ekstase‹, den er als Nachfolgebegriff der ›intellektuellen Anschauung‹ inszeniert, obgleich er diese in seiner Frühphilosophie noch unumwunden als ein Wollen explizierte (Kap. 4.3).

4.1. Das Systemprinzip: Gleichgültigkeit, Indifferenz, ruhender Wille Es ist auffällig, dass Schelling in der ersten öffentlichen Präsentation seiner seit 1811 ausgearbeiteten Weltalter-Philosophie 263 das neue willenstheoretisch geprägte Vokabular ausdrücklich mit demjenigen der Identitätsphilosophie in Verbindung zu bringen sucht, welche eigentlich – zumindest in ihrer ersten Phase zwischen 1801 und 1804 – im Bezug auf das Absolute alle willenstheoretischen Beschreibungen als letztlich inadäquat abwies. Auch in der letzten öffentlichen Darstellung seines Systems 1810 in Stuttgart hatte Schelling, wie bereits bemerkt, 264 mit Blick auf das Systemprinzip auffälligerweise noch auf eine willenstheoretische Beschreibung desselben verzichtet, obgleich doch bereits ein Jahr zuvor die Freiheitsschrift »zwei gleich ewige 263 Aus dem Weltalter-Komplex hat Schelling lediglich die Akademierede Ueber die Gottheiten von Samothrace 1815 veröffentlicht, die allerdings zum einen von Schelling nur als »Beilage zu den Weltaltern« (SW VIII, 345) bezeichnet wurde und die zum anderen dem Willensparadigma keine weitere Beachtung schenkt. 264 Vgl. die Bemerkungen bezüglich der Stuttgarter Privatvorlesungen oben, Teil II, Kap. 2.

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Anfänge« oder Prinzipien in Form des ›Willens des Grundes‹ und des ›Willens der Liebe‹ eingeführt hatte (AA I,17, 161). Anhand der paradoxen oder zumindest chimärenhaften Figur eines ›nicht(s) wollenden Willens‹, den Schelling in den Weltaltern erstmals als gleichsam ›vermittelnde‹ Struktur ins Spiel bringt, sieht sich Schelling 1821 hingegen in der Lage, das Vokabular der auf alles Voluntative verzichtenden identitätsphilosophischen Prinzipienreflexion zugleich mit der willenstheoretischen Sprache der Weltalter zur Beschreibung des Absoluten heranzuziehen. 265 Ausgehend von einer Reflexion über das Systemprinzip bemerkt denn auch Schelling zu Ende der vierten Vorlesung, zumindest in der in den Sämmtlichen Werken abgedruckten Fassung der Erlanger Vorlesung, 266 dass »historisch wenigstens […] Ihnen [den Zuhörern, P. H.] vielleicht bekannt [ist], daß eben diese Gleichgültigkeit – diese Indifferenz als Form des eigentlichen Absoluten angegeben worden« (SW IX, 220 f.). 267 Damit dürfte Schelling insbesondere auf die Definition der mit dem Absoluten gleichgesetzten »Vernunft […] als totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven« (AA I,10, 116) in der Darstellung meines Systems von 1801 anspielen, was Hegel 1807 in der Phänomenologie bekanntlich als »Nacht […], worin, wie man

265 Diese ›vermittelnde‹ Funktion des Nicht-Wollens benennt Schelling aufs Deutlichste in der sogenannten Urfassung der Philosophie der Offenbarrung: »Wenn Sein = Wollen ist, so wird das, was über dem Sein zu denken ist, als das nicht Wollende zu denken sein. Aber dieser Widerspruch löst sich auf, wie der frühere. Gleichwie das rein Seiende nicht das actu Seiende ist, ebenso ist auch das rein willenlos Wollende das nicht Wollende der Tat nach« (Schelling 1831/32, 37). 266 Die vierte Vorlesung ist in Schellings Erlanger Manuskript nicht überliefert. – Soweit gegeben, wird im Folgenden in erster Linie Schellings eigenes Manuskript zitiert. Da Schelling jedoch dieses nicht immer wörtlich und in Gänze vorgetragen hat, wird im Weiteren zugleich häufig auch aus dem SW-Text sowie aus der ausführlichsten der Nachschriften, nämlich derjenigen von Friedrich Leonhard Enderlein, zitiert oder darauf verwiesen, zumindest sofern die entsprechenden Partien aufgrund der Übereinstimmung mit der anderen Nachschrift als gesicherter Wortlaut Schellings und damit nicht als gegenüber dem Manuskript nachrangig gelten können. 267 Ansatzweise und ohne weitere Ausführungen findet sich dieser Rückverweis auf das Systempinzip der frühen Identitätsphilosophie auch bereits in den Weltaltern: »Wir haben sonst das Höchste ausgesprochen als die wahre, die absolute Einheit von Subjekt und Objekt, da keins von beyden und doch die Kraft zu beyden ist« (WA I, 15; vgl. auch WA III, 228). Vgl. auch die der Erlanger Formulierung am nächsten stehenden Ausführungen in dem Weltalter-Fragment von 1814/15: »Wir haben das Höchste auch sonst ausgesprochen als die reine Gleichgültigkeit (Indifferenz), die nichts ist und doch alles« (SW VIII, 236).

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zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind«, sowie als »Naivität der Leere an Erkenntniß« kritisiert hatte (PhG, GW 9, 17). Gleichzeitig hält Schelling aber bezüglich des »Prinzip[s]« oder »Subjekt[s]« des philosophischen Systems (SW IX, 215 / Schelling 1821, 16) unmittelbar zuvor Folgendes fest: Insofern dieses Systemprinzip einerseits »Ein Subjekt, das durch alles geht«, sein solle, da nur derart der durch das System geforderte Zusammenhang aller es enthaltender Sätze gewährleistet sei, es aber andererseits, da es sogar einander wiedersprechende Sätze zusammen bestehen lassen müsse, »[d]urch alles durchgehen [müsse, P. H.] und nichts seyn [dürfe, P. H.], nämlich nichts so seyn, daß es nicht auch anderes seyn könnte« (SW IX, 215), 268 so bestimmt Schelling dieses allem zugrundliegende Subjekt als das »Indefinible« (SW IX, 216 / Schelling 1821, 19) und – wie bereits in den Weltaltern-Entwürfen – als »ewige Freiheit« (SW IX, 220 / Schelling 1821, 20). Als diese Freiheit kann Schelling zufolge das Systemprinzip aber auch zum einen als »das ewige, lautere Können, nicht das Können von etwas (womit schon ein Beschränktes), sondern das Können um des Könnens willen, das absicht- und gegenstandlose Können« verstanden werden, sowie zum anderen insbesondere als Wille – nicht Wille eines von ihm verschiedenen Wesens, sondern es sey nichts als Wille – der lautere Wille selbst, auch nicht der Wille von Etwas (denn damit schon beschränkt), sondern der Wille an sich, nicht der Wille, der wirklich will, doch auch nicht der, der nicht will, nämlich abstößt, sondern der Wille, sofern er weder will noch nicht will, sondern in völliger Gleichgültigkeit ist (einer Gleichgültigkeit, die sich selbst wieder und die Nichtgleichgültigkeit einschließt) […]. (SW IX, 220)

Noch deutlicher wird dann diese Gleichsetzung des Systemprinzips der frühen Identitätsphilosophie mit dem voluntativen Paradigma der Weltalter gleich zu Beginn der folgenden, fünften Vorlesung vollzogen: »Wo diese Gleichgültigkeit, diese Indifferenz ist, da ist Wille, und der Wille ist das Positive daran.« (Schelling 1821, 24) 269 Während Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, wie gesehen, »das Element der reinen Unbestimmtheit« des Willens, »in welcher jede Beschränkung […] aufgelößt ist« (GW 14,1, 32 (§ 5)), klar zurückweist, erhebt Schelling hingegen nun gerade dieses zum Prinzip des zu entwickelnden Systems. 270 Wie bereits in den Weltalter-Frag268 269 270

Vgl. Schelling 1821, 15 f. Vgl. MS 11c / SW IX, 220. Hegel, der brieflichen Zeugnissen zufolge durchaus von Schellings Erlanger Vor-

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menten wird auch hier der ursprüngliche Wille dabei als ein objektoder inhaltsloser Wille verstanden, da ein ›Wille von Etwas‹ bereits von endlicher oder ›beschränkter‹ Natur sei. Anders als vor allem in den späteren Weltalter-Entwürfen wird ihm darüber hinaus aber der voluntative Aspekt nicht eindeutig abgesprochen: Er sei lediglich ein gegenüber Wollen und Nicht-Wollen indifferenter oder ›gleichgültiger‹ Wille – mithin eine ›Gleichgültigkeit, die sich selbst wieder und die Nichtgleichgültigkeit einschließt‹, wie es strukturanalog zu der bereits im Dialog Bruno zu findenden Figur einer »Einheit der Einheit und des Gegensatzes« heißt (AA I,11,1, 362, 415 u. 418). 271 Schelling vermag derart von Anfang an eine Ambivalenz in jene anfängliche, alles generierende Struktur einzuzeichnen. Denn, wie Schelling wenig später in der fünften Vorlesung bemerkt, ist das eigentliche, aktive Wollen gerade keine reine ›Gleichgültigkeit‹ und somit auch nicht wie der noch ruhende Wille mit einem »absicht- und gegenstandlose[n] Können« gleichzusetzen (MS 11b). 272 Das Wollen sei seinem Wesen nach eigentlich »Ein Anziehen – in dem Sinn wie man sagt ich ziehe mir etwas an – es sich zum Gegenstand machen« (MS 11c). 273 Diese Tendenz zur Vergegenständlichung habe es mit dem Wissen gemein, das mit dem Wollen auch generell einhergehe und verknüpft sei: »Nun dieß aber eben im Wissen auch. Ich weiß nur, was ich mir anziehe, zum Gegenstand mache.« (MS 11c) 274 Ohne Wissen und Wollen generell gleichzusetzen (»ich sage nicht, Wissen und Wollen identische Begriffe sondern nur: jedes Wollen auch ein Wissen«, MS 12a), geht Schelling denn auch soweit zu sagen, »daß in jedem Wollen ein Wissen, denn das Wollen kann ohne Wissen nicht gedacht werden« (SW IX, 222). 275 lesung Kenntnis hatte (vgl. H. F. W. Hinrichs an G. W. F. Hegel. 28. 05. 1821, Hoffmeister 1969–1981, Bd. 2, 265; vgl. oben, Teil II, Kap. 3), dürfte denn auch in seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie von 1824/25, wie die Nachschrift von K. G. J. von Griesheim vermerkt, nicht zufällig beinahe in einer Wiederaufnahme seiner Kritik von 1807 diesen nichts und alles wollenden Willen und dessen Freiheit mit »der reinen Anschauung« vergleichen, die »wie ein farbloses Licht« sei (GW 26,3, 1075). 271 Diese auf Hegels Differenzschrift zurückgehende Figur (vgl. DS, GW 4, 64) wird auch wenige Seiten zuvor explizit benannt, insofern Schelling bemerkt, dass »das wahre System eben nur dasjenige seyn kann, welches Einheit der Einheit und des Gegensatzes ist« (SW IX, 209). 272 Vgl. Schelling 1821, 24. 273 Vgl. SW IX, 222 / Schelling 1821, 24. 274 Vgl. SW IX, 222. 275 Wohl fälschlich, wie eine weitere Nachschrift sowie Schellings eigenes Manuskript

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Einige Vorlesungen später, in der 14. Vorlesung, präzisiert Schelling dann das Verhältnis von Wissen und Wollen noch derart, dass er das erstere zur Grundlage des letzteren erklärt, insofern das mit dem Wissen einhergehende »›sich gegenständlich machen‹ […] voraus[geht] (antecedens) und das ›anziehen‹ [des Wollens, P. H.] [nach]folgt […] (consequens)« (Schelling 1821, 76). 276 Denn das zielgerichtete Wollen kann sich nur auf etwas ausrichten, wenn dieses Gewollte zuvor in irgendeiner Weise gewusst wird. Schelling schließt hier mithin anders als 1809 zwar einen »Wille[n]«, »in dem kein Verstand ist« und der somit gerade »nicht ein bewußter […] Wille« ist (AA I,17, 130 f.), explizit aus. 277 Jedoch geht mit dieser generellen Einschreibung eines Wissensmomentes in den Willen als solchen keine grundsätzliche Positivierung desselben einher. Denn Schelling kritisiert sowohl das mit dem Wissen als auch mit dem Wollen einhergehende ›Sich-zum-Gegenstand-Machen‹ sowie ›Anziehen‹. So liest man in der elften Vorlesung: der Irrthum entsteht durch das bloße Wissen-Wollen. Man darf also nur nicht wissen wollen. So ist man vor dem Irrthum gesichert. […] Allein […] das Wissen_wollen hängt nicht von dem Menschen ab, er will wissen, eh’ er weiß, hdaiß er wissen will, denn schon jedes einzelne Bewusstsein entsteht aus einer Anziehung – einem sich zum Gegenstand machen dessen, was er ist – der Mensch befindet sich also schon von Natur im Wissen, – eben in jenem Wissen, in das er sich versetzt, indem er gegen die ewige Freyheit die er seyn sollte, sich zum wissenden Subjekt macht. Da nun dieses Wissen entstanden ist dadurch, daß er die ewige Freyheit […] von ihrer Stelle rückte – sie zum Objekt machte – so kann hieraus natürlich nur E n t s t e l l u n g des Wissens zur Folge – und ein G e m i s c h von Wahrem und Falschem mußte in seiner Erkenntnis entstehen. (MS 67a–b) 278

Schelling zeigt hier eine geradezu tragische Struktur des ›Wissenwollens‹ auf. Denn indem der Mensch zum einen in jenem ›Wissender Vorlesung zeigen, die in AA II,10, 1–2 ediert werden, hält hingegen die EnderleinNachschrift fest: »Das Wollen ist der weitere Begriff, der das Wissen in sich begreift« (Schelling 1821, 24). 276 Vgl. MS 108b. 277 In dieser Hinsicht schließt sich Schelling der 1817 auch von Hegel vertretenen (vgl. oben, Teil II, Kap. 3) und bereits bei Kant zu beobachtenden Gleichsetzung von Wille und Vernunft oder Wollen und Wissen an, auch wenn Schelling gerade – entgegen dieser Tradition – im Zuge dieser Gleichsetzung eine generelle Kritik des Wollens formuliert. 278 Vgl. SW IX, 241 f. / Schelling 1821, 62 f.

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wollen‹ die ewige Freiheit, welche er selbst sein sollte, ›zum Objekt machte‹ und sie vergegenständlichte, sorgte er geradezu für eine ›Entstellung‹ dieses Wissens um die Freiheit, da – wie es zugespitzt in der Enderlein-Nachschrift heißt – »dieß Wissen nur durch Verdrängen der ursprünglichen Freiheit entsteht« (Schelling 1821, 63). Unausweichlich tragisch ist die aufgezeigte Verfehlung des Wissens dabei aber erst insofern, als sie gar nicht zu umgehen ist, da der Mensch wissen wolle, noch ›eh’ er weiß, dass er wissen will‹. 279 Denn jede Form von Bewusstsein als Wissen von sich sei bereits ein vom Menschen initiiertes ›sich zum Gegenstand Machen dessen, was er ist‹. Selbst eine Reflexion auf diese Verkehrung des Wissens um die Freiheit vermag somit diese Verfehlung oder ›Entstellung‹ der Freiheit nicht zu korrigieren. Diese beschriebene Tragik führt Schelling bereits in der sechsten Vorlesung denn auch dazu, jenen Willen, der mit der ewigen Freiheit nur als ruhender, gerade noch nicht wollender Wille identisch ist, als »das eigentlich Transscendente« zu verstehen, welches »nicht das Gewußte seyn« könne und mithin auch nicht zu Bewusstsein komme (MS 15a–b): »Der Wille als ruhender ist schlechthin unerkennbar und absolut verborgen. Er ist über Alles erhaben, und nichts kann ihn erkennen«, wie noch deutlicher in der Enderlein-Nachschrift zu lesen ist (Schelling 1821, 29). 280 Daher bedeutet die Behauptung einer Erkennbarkeit jener zum ›absoluten Subjekt‹ hypostasierten Freiheit für Schelling »ein unmittelbarer Widerspruch«, auch wenn er sogleich einwirft: »Gleichwohl ist es doch möglich, daß es [dieses absolute Subjekt, P. H.] erkannt werde, wenn es Objekt wird; und dieß geschieht wirklich.« (Schelling 1821, 30) 281 Doch diese ›wirklich geschehende‹ »fortgehende Selbstdarstellung jener ewigen Freiheit«, die Schelling zu Beginn der fünften Vorlesung bereits als Bewegung der zu entfaltenden »ganze[n] Wissenschaft« fordert, liegt nicht allein in der Hand jenes ›absoluten Subjekts‹ in Gestalt der ewigen Freiheit, sondern gerade auch in derjenigen des menschlichen Subjekts, insofern diese ewige Freiheit für jene Selbsterkenntnis, die sie allererst zu einer bewussten, wirklichen Freiheit macht, auf den Menschen angewiesen ist. Noch expliziter als in den Weltaltern bindet 279 Vgl. zu einer mit dieser Formulierung eventuell einhergehenden Kritik an Jacobi und dessen Verständnis des Glaubens als ›Nicht-wissen-Wollen‹ Bilda 2016, 256–258. 280 Vgl. MS 15b. 281 Vgl. MS 15a–b / SW IX, 225.

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Schelling damit die Frage, »[w]ie wir der ewigen Freyheit inne werden«, an eine »Selbstdarstellung der ewigen Freiheit« zurück (MS 11a): »Nicht wir sehen sie [die ewige Freiheit, P. H.], sondern sie selbst sieht sich durch uns.« (Schelling 1821, 23) 282 Doch dieses ›Sehen durch uns‹ muss, um im Bild zu bleiben, zunächst einmal aufgrund der skizzierten immanenten Tragik allen Wissenwollens ein ›entstellendes Sehen‹ sein, was im folgenden Kapitel nun genauer entfaltet werden soll.

4.2. Entfaltung des Systems I: Die dem Wollen und Wissen immanente Tragik Mit der Erlanger Vorlesung legt Schelling gewissermaßen eine ›negative Phänomenologie der Freiheit‹ vor, insofern er aufzeigt, dass jegliches Streben nach einem Zu-Bewusstsein-Bringen der ursprünglichen, allem zugrundeliegenden Freiheit notwendig zum Scheitern verurteilt ist. Schelling betont denn auch nicht allein die Negativität der menschlichen, intramundanen Wissensbewegung, die in der Erfolglosigkeit sowie im Scheitern eines willentlichen Strebens nach Objektivierung und Realisierung jener absoluten Freiheit besteht (Kap. 4.2.1). Über Mensch und Welt hinaus analysiert Schelling zugleich auch den ›Verhängniszusammenhang‹ des Willens zur Realisierung von Freiheit im Absoluten selbst: Das ursprünglich selbstgenügsame ›Seinkönnende‹ falle einer ungewollten Entwicklung anheim, und zwar aufgrund eines »unwillkürlich[en] […] Übertritt[s]« in das Sein (Schelling 1821, 134 f.), 283 dessen Ursprung zwar im ›Wollen‹ des Absoluten liege, ohne dass aber dessen Konsequenzen beabsichtigt gewesen wären (Kap. 4.2.2). Im Folgenden gilt es nun diese doppelte Tragik in der Realisierung von Freiheit im Falle des Menschen sowie des Absoluten in seiner internen Logik nachzuzeichnen.

282 283

Vgl. SW IX, 221. Vgl. MS 262c.

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4.2.1. Das ›Wissenwollen‹ und die Verabsolutierung des Willensparadigmas im Falle des Menschen Ähnlich wie Hegel (vgl. GW 9, 18 f.; GW 12, 252) 284 begreift auch Schelling in Erlangen die Bewegung des Wissens wie auch der Wissenschaft als eine Kreisbewegung, die eine ›Entäußerung‹ und ›Rückkehr zu sich‹ zu durchlaufen hat: Wissenschaft entsteht ursprünglich nur dann, wenn ein Princip aus dem ursprünglichen Zustand des Nichtwissens heraustritt und wissentlich wird, und nachdem es alle Formen durchgangen, in das ursprüngliche Nichtwissen zurückkehrt. Was der absolute Anfang ist, kann sich nicht wissen; übergehend ins Wissen hört es auf der Anfang zu seyn und muß darum fortschreiten, bis es sich als Anfang wieder findet. Der als sich selbst wissender Anfang wiederhergestellte Anfang ist das Ende alles Wissens. (SW IX, 222 f.) 285

Gleichwohl grenzt sich Schelling mit dieser Charakterisierung der Wissenschaft zugleich in zweifacher Weise von Hegel ab: Zum einen mündet diese Kreisbewegung der Wissenschaft nämlich gerade nicht in ein ›absolutes Wissen‹, sondern vielmehr stellt nach Schelling der ›wiederhergestellte Anfang‹ das ›Ende alles Wissens‹ dar. Er ist Rückkehr ›in das ursprüngliche Nichtwissen‹, als das er sich selbst nun wie Sokrates allerdings auch weiß. 286 Zum anderen zeichnet Schelling dieser Wissensbewegung eine grundsätzliche Negativität ein, die gerade nicht wie im Falle der hegelschen ›Negativität‹ als eine letztlich notwendig »sich wiederherstellende Gleichheit oder […] Reflexion im Andersseyn in sich selbst« (GW 9, 18) zu verstehen ist. Das ›ursprüngliche Wissen‹, das Schelling auch mit der biblischen Weisheit 287 identifiziert und das »ein objektives Hervorbringen und Erzeugen« sei (MS 12c / SW IX, 223 / Schelling 1821, 25), habe nämlich eine »Hemmung« erfahren (MS 14a / SW IX, 224), 288 was Schelling 284 Schelling kannte nachweislich beide der angeführten Texte Hegels, als er die Erlanger Vorlesung hielt. Die »Vorrede« zur Phänomenologie des Geistes hat Schelling schon 1807 gelesen, wie ein Brief Schellings an Hegel belegt (vgl. F. W. J. Schellings an G. W. F. Hegel, 2. November 1807, Plitt II, 123 f.). Außerdem findet sich bereits in Schellings Jahreskalender von 1812 in einer Lektüreliste Hegels Wissenschaft der Logik (vgl. Schelling 1809–1813, 87). 285 Vgl. MS 9c / Schelling 1821, 25. 286 Vgl. hierzu genauer unten, Teil II, Kap. 4.3.2. 287 Schelling nimmt in SW IX, 223 f. vor allem Bezug auf die Chrakterisierungungen der ›Weisheit‹ in Weish 7,23 f. u. Hi 28,12–14, 21–24. 288 Vgl. Schelling 1821, 28.

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in der fünften Vorlesung wie auch schon in den Weltaltern anhand einer an Koh 1,9 angelehnten Gegenwartsdiagnose zu plausibilisieren sucht: »Ein Geschlecht kommt das andere geht. – Alles arbeitet nur sich aufzureiben und zu zerstören, und es kommt doch nichts Neues, immer das Alte. Noch immer Magie – hervorbringend aber nicht fortschreitend. – Die ewige Freyheit gehemmt, aufgehalten« (MS 14b). 289 Die Möglichkeit einer zumindest ansatzweisen Überwindung jenes ateleologisch strukturierten Natur- und Geschichtsprozesses, der ›gehemmt‹ in sich selbst kreist, ohne eine durch Freiheit und Offenheit ausgezeichnete Selbstvermittlung zu erreichen, sieht Schelling allein im »s u b j e k t i v e n W i s s e n « (MS 10a / SW IX, 224), d. h. dem Wissen des Menschen, noch gegeben: »Objektiv die Bewegung gehemmt – nur im W i s s e n [des Menschen, P. H.] noch der offne Punct – hier kann sie [die Magie bzw. Weisheit, P. H.] sich noch suchen und finden« (MS 10c). 290 Doch ist auch jenes subjektive, menschliche Wissen in zweierlei Hinsicht defizitär: Einerseits ist es »bloß ideales Nachbilden« der ›Weisheit‹ (MS 10a / SW IX, 224) 291 und insofern auch nicht mehr wie diese »das Wirkende, das objektiv Hervorbringende« (SW IX, 225 / MS 14b), obgleich beide Ausdruck der ursprünglichen Freiheit seien. Im Rückgriff auf Schellings Unterscheidung im System von 1800, an die er sich hier trotz der Überwindung des transzendentalphilosophischen Ansatzes indirekt anlehnt, könnte man sagen, dass dieses subjektive Wissen nur eine »freye Nachahmung« darstellt, die aber als »secundäre[r], willkürliche[r] Act identisch sey mit jenem ursprünglichen und absolut freyen« (AA I,9,1, 88). Gleichwohl schreibt Schelling 1821 jenen ›ursprünglichen Akt‹ nicht mehr – parallel zu dem ›sekundären Akt‹ – in der Nachfolge Fichtes einem Ich oder Selbstbewusstsein zu, sondern vielmehr einer diesem noch voraus- und zugrundeliegenden Freiheit, die erst in einem zweiten Schritt mit dem Menschen verknüpft wird und von dessen ›subjektivem Wissen‹ einzuholen ist. Abgesehen von dieser Trennung von Welt- und Selbstverhältnis, unterliegt andererseits aber auch dieses subjektive Wissen – genauso wie das objektive – einer gleichwohl 289 Vgl. SW IX, 224 / Schelling 1821, 28. Schelling nimmt in MS 12b einen auf die »morgenländischen Sprachen« zurückgehenden etymologischen Zusammenhang von Magie, ›Mögen‹, Macht, Wissen und Weisheit an (vgl. dazu etwa auch Porphyrios, De abstinentia, IV, 16). 290 Vgl. SW IX, 224 / Schelling 1821, 28. 291 Vgl. Schelling 1821, 27.

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Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821

überwindbaren Tragik, die dieses ›hemmt‹ und sein intendiertes Ziel verfehlen lässt, wie Schelling im ersten Teil der Erlanger Vorlesung, insbesondere in den Vorlesungen sechs bis elf, zu zeigen unternimmt. 292 Die Genese und den Austrag dieses tragischen »Widerspruch[es]« (SW IX, 231 / Schelling 1821, 42) versteht Schelling jedoch lediglich – wie es in der achten Vorlesung heißt – als »Bedingung des eigentlichen Processes« (MS 32b / SW IX, 231), 293 mithin als Moment, das dem sich aus drei ›Momenten‹ zusammensetzenden ›Prozess‹ selbst 294 nochmals vorhergeht, ohne – als in sich ›gehemmtes‹ Moment – wirklicher ›Anfang‹ dieses Prozesses sein zu können. Ganz im Sinne der in den Weltaltern beschriebenen Vergangenheit ist jenes Moment mithin nur »Anfang des Anfangs, noch nicht der wirkliche Anfang« (WA I, 75). Diese unübergehbare Bedingung des eigentlichen Prozesses, die aber gleichwohl zur In-Gang-Setzung desselben zu überwinden ist, besteht Schelling zufolge dabei gerade in der Separierung des menschlichen Selbstverhältnisses von der den gesamten Weltprozess begründenden absoluten Freiheit, die oben bereits vorausgesetzt wurde: Der Mensch sucht Schelling zufolge diese Freiheit ganz für sich zu ergreifen und sich zu eigen zu machen, ohne als endliches Wesen dazu letztlich in der Lage zu sein; der Mensch sei somit »in beständiger Spannung gegen die Freyheit die er ewig sucht und die ihm beständig entflieht« (MS 28 b–c / SW IX, 231) 295 Schelling charakterisiert dieses von ihm bewusst noch außerhalb des eigentlichen Prozesses situierte Moment in der elften Vorlesung denn auch als in sich ›widersprüchlich‹ sowie als »Irrthum« und »Verkehrtheit der Erkenntnis« und gliedert es sogar in die »Categorie vom Bösen, Krankheit« ein (MS 65c / SW IX 241). 296 Analog zu der in der Freiheitsschrift beschriebenen Struktur des Bösen übe das »bloße WissenWo l l e n « der ursprünglichen Freiheit »eine Hemmung – eine Anziehung« derselben aus, die gerade nicht zu dem im ›Wissen-Wollen‹ intendierten Ziel führe, sondern dieses gerade umgekehrt zunichtemache: Das Wissen- und Verfügbar-machen-Wollen der Freiheit

292 293 294 295 296

Vgl. MS 15a–85c / SW IX, 225–245 / Schelling 1821, 29–67. Vgl. Schelling 1821, 43. Vgl. hierzu unten, Teil II, Kap. 4.3. Vgl. Schelling 1821, 42. Vgl. Schelling 1821, 61.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

münde in eine »innre Rotation«, welche dieses gleichsam ziellos auf der Stelle treten lasse (MS 66b–67a / SW IX, 241). 297 Wie bereits im vorhergehenden Kapitel bemerkt, situiert Schelling dabei dieses ›Wissenwollen‹ auf einer grundlegenden Ebene, die sogar noch die Genese des Bewusstseins bedingt und diesem somit vorangeht: »[D]enn schon jedes einzelne Bewusstsein entsteht aus einer Anziehung – einem sich zum Gegenstand machen dessen, was er ist« (MS 67a / SW IX, 242). Dieses strukturell als ›Anziehung‹ oder ›sich zum Gegenstand Machen‹ verstandene ›Wissenwollen‹ ist dabei ein noch nicht reflektiertes ›Wissenwollen‹ gleichsam erster Ordnung und darin – trotz seiner Charakterisierung als Wissen – dem seiner noch »nicht […] bewußte[n] […] Wille[n]« (AA I,17, 131) aus der Freiheitsschrift vergleichbar: Der Mensch »w i l l wissen, eh’ er weiß, hdaiß er wissen will« (MS 67a / SW IX, 242), 298 und ist somit im Falle dieses ›Wissenwollens‹ erster Ordnung noch nicht in der Lage, zu dessen Tun in Abstand zu treten und dabei dessen Folgen zu reflektieren. Mithin ist dieses nicht zu einer Selbstdistanzierung fähige ›Wissenwollen‹ auch als ein »Verdrängen der ursprünglichen Freiheit« aufzufassen, »steht« es doch Schelling zufolge gerade »nicht bei uns, wissen zu wollen oder nicht« (Schelling 1821, 62). 299 Anders als in der Freiheitsschrift 300 ist es in den Augen Schellings 1821 jedoch zur Überwindung dieser problematischen Form des Wollens keineswegs möglich, eine höherstufige Willensform zu etablieren, die auf jenes das Bewusstsein generierende ›Wissenwollen‹ nochmals reflektieren und derart dessen Begrenzung korrigieren würde. Zwar »verlangten wir« von dieser Trennung, die das ›Wissenwollen‹ initiiert und die das »›natürliche‹ Wissen« generell ausmacht, sowie von dem damit einhergehenden »Schmerz […] durch höhres Wissen befreyt zu werden« (MS 68a / SW IX, 242; Herv. v. Verf.), 301 das somit als Wissen höherer Ordnung das entstellte ›natürliche Wissen‹ überwindet. Dass aber der Mensch »[d]iesem natürlichen Wissen […] sterben« könne, »damit das wahre Wissen in ihm aufgehe«, dies liegt nach Schelling nicht in der Hand des Menschen: »Nicht der Mensch erzeugt das [wahre, P. H.] Wissen« (Schelling 1821, 65). 302 297 298 299 300 301 302

Vgl. Schelling 1821, 62. Vgl. Schelling 1821, 62. Vgl. MS 67a. Vgl. oben, Teil II, Kap. 1.1.2. Vgl. Schelling 1821, 63. Vgl. MS 70b / SW IX, 243.

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Insofern Schelling 1821 außerdem wie Hegel in seiner Encyclopädie 303 den Willen grundsätzlich mit einem Wissensmoment sowie mit der Intelligenz einhergehen lässt, besteht auch nicht mehr wie noch 1809 die Differenzierungsmöglichkeit zwischen einem bewusstlosesen Wollen und einem durch Verstand ausgezeichneten ›Willen in dem Willen‹ und damit auch nicht die Möglichkeit ersteres durch letzteres positiv leiten zu lassen, indem das eine die Führung des anderen übernähme. Zwar unterscheidet Schelling Ende der 24. Vorlesung nochmals wie bereits in der Freiheitsschrift und den Weltalter-Fragmenten drei Willensmomente und spricht von einem »dreyfachen Willen« (MS 211b): (1) nämlich einem »erste[n] Willen« als einem »das Seyn sich anziehn könnende[n] Wille[n]«, den man »dem n a t ü r l i c h selbstischen im Menschen vergleichen« könne; (2) einem zweiten oder »andre[n] Wille, der unfähig ist, das Seyn sich anzuziehen, der nicht das Seine sucht, der nur Wille ist, sich zu lassen, sich zu geben« und der mithin »der n a t ü r l i c h unselbstische Wille« darstelle und »dem bloß natürlich guten Willen des Menschen zu vergleichen [sei] in dem der Mensch keine Freyheit hat«; (3) und schließlich erwähnt Schelling auch noch einen »dritte[n] Wille[n]«, der ein »besonnen=unselbstische[r] Wille [sei], der obwohl Freyheit, wie der erste, dennoch eben so unselbstisch ist wie der zweite«; dieser letzte Wille sei mithin »erst der eigentlich gute – der seyn sollende Wille« (MS 211c–212a). 304 Doch zum einen ist die zweite, durch ein ›Lassen‹ charakterisierte Willensform nur bedingt überhaupt noch als Wille zu bezeichnen. Zum anderen macht Schelling im Vorlesungsverlauf diese wohl seiner früheren Philosophie noch geschuldete Unterscheidung (vgl. bes. WA I, 22) nirgends mehr fruchtbar, trägt – wie die Nachschriften belegen – einen Teil dieser Überlegungen zur internen Differenzierung des Willens gar nicht vor (vgl. MS 212a–c) und erhebt stattdessen, wie bereits gesehen, den »Wille[n], sofern er weder will noch nicht will, sondern in völliger Gleichgültigkeit ist« (SW IX, 220), zum Höchsten des in Erlangen entfalteten Systems. Wie Schelling des Weiteren in der nicht mehr vorgetragenen Passage bemerkt, sind »[d]iese drei Willen […] aber bis jetzt, und eh’ es zur T h a t kommt, 303 Vgl. Enz. III, GW 20, 465 (§ 468). Vgl. auch die Griesheim-Nachschrift von 1825 in GW 25,1, 532 sowie die von L. Boumann 1845 herausgegebenen »Zusätze« Hegels in GW 25,2, 1113. 304 Vgl. Schelling 1821, 107.

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nicht drei wirklich verschiedne – und außereinander befindliche Willen – sondern sie sind alle nur da in dem Einen lautern und ungetrennten Willen, der eben der Wille oder die Freyheit selbst ist.« (MS 212a) Doch insofern dieser ›lautere und ungetrennte Wille‹ selbst als ganzer für den skizzierten tragischen Prozess verantwortlich zeichnet, ist auch nicht zu ersehen, wie ein sich erst nachträglich ausdifferenzierendes Moment desselben jenen Prozess umkehren und überwinden soll. Der Ausgang aus jener fortschrittslosen Rotation wird denn auch im Falle des Menschen allein in einem nicht-wollenden Wollen oder Lassen gesehen. Zwar ist, wie bereits bemerkt, »der Mensch […] der Punkt, in dem das Natürliche in das Übernatürliche wieder zurückkehren soll« (Schelling 1821, 64), 305 in dem, anders gesagt, subjektives menschliches und ursprüngliches objektives Wissen und Wollen wieder vereinigt werden sollen. Doch kommt es Schelling 1821 zufolge zu dieser Vereinigung nur, insofern der Mensch als Ort dieser Wiedervereinigung oder »Wiederumwendung« (MS 68b / SW IX, 242) auf dem Höhepunkt jenes in sich rotierenden tragisches Widerspruches sein Wissen und Wollen gänzlich zurücknimmt: Diese auch auf Seite des Menschen stattfindende Spannung (Spannungslosigkeit = Freiheit) erreicht endlich ihren höchsten Punkt, eine ἀκμή, welche eine Entladung zur Folge haben muß, wodurch das, was sich zum Wissenden der ewigen Freiheit in ihr selbst machen wollte, hinausgeworfen – in die Peripherie gesetzt – zum schlechterdings Nichtwissenden gemacht wird. (SW IX, 231) 306

Beinahe erinnernd an die dogmatische Position der Briefe von 1795, der zufolge »jede freie Causalität in mir zu vernichten« sei und ich »die absolute Causalität in mir handeln zu lassen« habe (AA I,3, 104), sucht Schelling 1821 die Freiheit des Menschen im Wissen und Wollen paradoxerweise dadurch zu retten, dass er sie als selbständige negiert und in eine gleichsam höhere Selbstvermittlungsbewegung hineinzieht, nämlich in diejenige des Absoluten. 307 Nur in dieser Weise wird Schelling zufolge auch jene ›höhere‹ Selbstvermittlungsbewegung des Absoluten von der es in sich rotieren lassenden Tragik befreit, durch welche auch das Absolute selbst zunächst charakterisiert sei, wie nun im Folgenden auszuführen ist. 305 306 307

Vgl. MS 68a. Vgl. MS 28b–c. Vgl. oben, Teil I, Kap. 2.2 u. Teil II, Kap. 1.1.1.

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4.2.2. Die immanente Tragik in der Selbstvermittlung des Absoluten als Vergegenständlichung von Freiheit Die der Selbstvermittlung des Absoluten innewohnende Tragik, die parallel zu derjenigen im menschlichen, subjektiven Wissen zu beobachten sei, beschreibt Schelling detailliert und gleichsam in Form einer Begriffsanalyse des Wollens insbesondere ab der zwölften Vorlesung. Zu dem ursprünglichen und grundlegenden Begriff des Wollens steigt Schelling hierbei zunächst gleichsam induktiv oder genauer aus der Erfahrung ex negativo zurückschließend auf, indem er wie schon in den Weltaltern konstatiert: »Es ist nur Ein Laut in den ältesten [Lehren, P. H.] – daß was jetzt vom Seyn gefangen und gebunden erscheint – aus uranfänglicher Freyheit erst herabgefallen und herabgesunken sey in des Seyns schreckliche Welt hier – wie ein Indisches Gedicht sich ausdrückt« (MS 78a) 308 – und zwar, so präzisieren die Nachschriften, durch eine »unvordenkliche[…] Schuld« (Schelling 1821, 69). 309 Auch wenn ›jetzt‹ in der Gegenwart Freiheit und Sein in Gegensatz stünden, insofern das aus ›ursprünglicher Freiheit‹ Herabgefallene ›vom Sein gebunden‹ erscheine, seien gleichwohl Sein und Freiheit sowie Sein und Wille ursprünglich einerlei, wie eine Aussage- und Prädikationsanalyse zeigen soll. Insofern Schelling zufolge »in keinem möglichen Urtheil von irgend einem Subjekt etwas andres ausgesagt wird, als, daß es ein Seyendes d. h. eine bestimmte Art des Seyns ist«, vermag er weiter zu folgern: »In keinem Urtheil etwas andres ausgesagt als die Art des Seyns und also mittelbar das Seyn. Es gibt kein andres Prädikat als S e y n « (MS 79b). 310 Dabei gebe es zwei verschiedene Prädikationsweisen von Sein, die sich in den Sätzen ›A ist‹ und ›A ist seiend‹ ausdrückten, wobei in letzterem Fall »ein gegenständliches Seyn oder das Seyn a l s ein gegenständliches gesetzt« werde, während es in ersterem Fall gerade als »kein gegenständliches Seyn« genommen werde

308 Vgl. Schelling 1821, 69. Mit dem ›indischen Gedicht‹ ist wohl die »Kosmogonie aus dem ersten Buche der Gesetze des Monu« gemeint, die Schelling in der Übersetzung F. Schlegels vorlag (vgl. Schlegel 1808a, 386–389; vgl. dazu Müller-Bergen 2007a, 150 (Zech-Nr. 590)). 309 Vgl. MS 78a. Vgl. in den Weltaltern bereits WA I, 14; WA III, 226; SW VIII, 234 u. Schelling 2002, 205 f. 310 Vgl. Schelling 1821, 69.

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(MS 79c–80a). 311 Hinsichtlich der zuletzt genannten Seinsauffassung bedeute dies aber, dass, diese vorausgesetzt, »A […] das[,] was sonst an der Stelle des Prädicats ist[,] s e l b s t [ist] – nur nicht a l s Praedikat« (MS 80a), 312 dass mithin mit dem Prädikat keine den Subjektbegriff eingrenzende Bestimmung zu diesem hinzutrete, sondern beide differenzlos einerlei seien. Dies sei genau bei Freiheit beziehungsweise Wollen und Sein ursprünglich der Fall, sofern sie noch nicht bestimmt seien: »die ewige Freyheit und das Seyn sind a n s i c h Eins« (MS 82b). 313 Wenn »[i]n der gemeinen Ansicht« indessen »der Begriff des Wollens« genauso wie der des Könnens »Gegensatz des Seyns« seien, so liege dies daran, dass lediglich »[d]er Wille in actu – der Wille der wirklich w i l l , also das Seyn sich gegenständlich macht und (per consequentiam) anzieht«, in Betracht gezogen werde; doch »schließt« Schelling zufolge dieser Wille das Sein »eben i n diesem Wollen von sich aus, und macht es zum Gegensatz von sich.« (MS 82b–83a). 314 Jedoch sei eine andere Willensform, nämlich »der nichts wollende, nichts begehrende Wille […] voll des Seyns«; in seiner Autosuffizienz sei er sogar »selbst das Seyn – und muß es ja seyn, weil er es a n s i c h hat, weil er es erst im Wollen von sich ausschließt.« (MS 83a) 315 Mit diesem selbstgenügsamen und daher paradoxerweise gerade seines Wollens entkleideten Willen sei denn auch das Sein absolut einerlei, sodass es nicht erstrebt oder ›angezogen‹ werden müsse: »Die [ursprüngliche] Einheit besteht in der Gelassenheit [des] Willens und des Seins, d. i. wo der Wille das Sein läßt und das Sein vom Willen gelassen wird« (Schelling 1821, 71). 316 Festzuhalten ist hier allerdings, dass Schelling die Reinheit oder »Lauterkeit« des Willens (MS 93a / Schelling 1821, 72) durch ein implizites, gleichsam ›eingefaltetes‹ Differenzmoment charakterisiert: Sein und Wille bestünden gerade insofern als Einheit und in ›Einfalt‹ miteinander, als sie einander nicht ›annähmen‹, voneinander ›ließen‹. Ihre Beziehung sei durch eine gegenseitige »Gleichgültigkeit« gekennzeichnet, wie es in der 13. Vorlesung heißt: Diese zeige sich auf der einen Seite »in einem völlig willenlosen Wesen« des »lauterste[n] Seyn[s]«, das allerdings »nicht als gänzliche Negation alles 311 312 313 314 315 316

Vgl. Schelling 1821, 69 f. Vgl. Schelling 1821, 70. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. MS 85b.

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Willens zu verstehn [sei] sondern nur des wirkenden«; auf der anderen Seite garantiere diese ›Gleichgültigkeit‹ »der Wille, der sich des Seyns nicht annimmt« und der »darum nicht schlechthin ohne Seyn« sei, er sei vielmehr »das Seyn selbst«, »seyend aber als wär’ er nicht, ohne Theilnahme, nur in der Einfalt« (MS 93a–b). 317 Interessanterweise identifiziert Schelling diese gleichsam interesselose ›Einfalt‹ mit ihrem lediglich impliziten Differenzmoment nicht allein mit dem an 1 Kor 7, 29–31 angelehnten »haben als hätte man nicht – das […] wie im Menschen, […] überall das Höchste« sei, sondern setzt diese ›Einfalt‹ sogar mit der Figur der »Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt« gleich (MS 93c–94a), 318 die er in der Identitätsphilosophie und der Freiheitsschrift noch gänzlich unabhängig vom willenstheoretischen Vokabular behandelt hatte. Wie schon in den Weltaltern geht es Schelling aber 1821 im Unterschied zur Identitätsphilosophie darum, anhand der ursprünglichen »Einerleyheit der ewigen Freyheit und des Seyns a n s i c h « (MS 93c) 319 den freiheitstheoretischen Hintergrund der folgenden rein notwendigen Entwicklung sichtbar zu machen, die sich nur vor einem Alternativen enthaltenden, aber nach vollbrachter Tat verschlossenen Möglichkeitshorizont als eine tragische zu erweisen vermag. Schelling erklärt denn auch in der 15. Vorlesung, dass die »als reine Potenz stehen bleibende ewige Freiheit nur der Anfang« sei (MS 116b). 320 Schelling zufolge ist jedoch »das reine Können […] wesentlich und seiner […] Natur nach nichts andres als Begierde nach Seyn […][,] w e s e n t l i c h e r Hunger« nach Sein oder auch »Magnet des Seyns« (MS 116c–117a), 321 was er nicht zuletzt durch eine angenommene etymologische Verwandtschaft zwischen den hebräischen Verben »‫( « ָיכֹל‬dt. »können«) und »‫( «אַָכל‬dt. »essen«, »verzehren«) zu plausibilisieren sucht. Insbesondere die Metapher des ›Magneten‹ erlaubt es Schelling des Weiteren jenes Motiv einer ›Begierde nach Sein‹ mit dem oben bereits angeführten Terminus des ›Anziehens‹ in Verbindung zu bringen, das er nun allerdings »nach seiner dhoipphelteni Bedeutung« ausdifferenziert: So gebe es zum einen »ein secundäres Anziehn – ein

317 318 319 320 321

Vgl. Schelling 1821, 72. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Schelling 1821, 77. Vgl. ebd.

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Anziehn, das das Gegenständlich geworden seyn schon voraussetzt, mit Wissen und Wollen verbunden« (MS 117a). 322 Doch dieses Wissen und Wollen charakterisierende ›Anziehen‹, von dem Schelling bereits in der fünften Vorlesung gesprochen hat, 323 versteht er nun lediglich als ein ›Anziehen‹ gleichsam zweiten Grades. Es sei »eigentlich nur ein Wiederanziehn […], dessen, was das Anziehn ursprünglich a n s i c h hatte.« (MS 117a–b) 324 Mithin hebt Schelling zum anderen diesem gegenüber auf »ein ursprüngliches Anziehn« ab, »ein Anziehn, das allem Wissen und Wollen schon zuvorkommt – ein nicht_wissendes, nicht_wollendes, unwillkürliches Anziehn«; dieses ›Anziehen‹ charakterisiere denn auch immer schon den »ruhende[n], d. h. de[n] wesentliche[n] Wille« (MS 117b), 325 was Schelling anhand des Motivs der interesselosen Schönheit zu veranschaulichen sucht, die ebenfalls ohne Wissen und Wollen eine Anziehungskraft ausübe. Infolge dieser Ausweitung des ›Anziehens‹ selbst auf den als Höchstes angesehenen ›nicht wollenden Willen‹ wird aber die Tendenz zur Vergegenständlichung der ewigen Freiheit dieser immer schon als inhärierend gedacht. In der 14. Vorlesung betont Schelling insofern sogar, dass »das gegenständlich_Werden – die Zweyung – das Auseinandergehen […] voran[geht], und das Anziehen […] dem erst« folgt (MS 108b), 326 sodass die ›Einfalt‹ des ›nicht wollenden Willens‹ generell durch ein implizites Differenzmoment als Voraussetzung der Vergegenständlichung sowie schließlich auch der Anziehung gekennzeichnet sein muss. Schelling vermag denn auch in der 16. Vorlesung die ursprüngliche Gelassenheit, in der »das lautre Seyn_Können das sich selbst nicht weiß, […] unmittelbar wieder ein Seyn an sich« hat (MS 123a), 327 als in eine Pluralität sich aufspaltend vorzustellen. Während das erste Strukturmoment, nämlich das Seinkönnen, »ein andres werden, sich verändern« könne, sei hingegen das Sein als das zweite Moment durch ein »sich nicht anziehen-K[önnen]« (MS 121a) gekennzeichnet; es sei mithin das »seyn M ü s s e n d e «, das im Gegensatz zum ersten Strukturmoment lediglich als »sich Gebendes, Lassendes«

322 323 324 325 326 327

Vgl. Schelling 1821, 78. Vgl. oben, Teil II, Kap. 4.1. Vgl. Schelling 1821, 78. Vgl. ebd. Vgl. Schelling 1821, 76. Vgl. Schelling 1821, 79.

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und durch »Nichtfreyheit« charakterisiert sei (MS 124a). 328 Die folgende, 17. Vorlesung fasst dieses Moment denn auch willenstheoretisch als »Wille sich zu geben, besser sich mitzutheilen« (MS 131c) sowie – ganz im Sinne der Binnendifferenzierung des Willens in der 24. Vorlesung 329 – als »unselbstische[n] Wille[n]« (Schelling 1821, 81). Beide Strukturen werden nach Schelling drittens in der »Spontaneität« des »sich geben und nicht geben Könn[enden]« (MS 122a), des »sich anziehen K[önnenden] im sich nicht Anziehn-Könn[en]« als dem »seyn Soll[enden]« zusammengefasst (MS 125b). 330 Um die Einheit dieser drei aus dem Absoluten aufbrechenden »Potenzen« (MS 133b / Schelling 1821, 82) aber zu gewährleisten, hebt Schelling im Folgenden ihnen gegenüber nochmals »die ewige Freyheit in ihrem ursprünglichen Seyn [als] das Unaussprechliche« ab (MS 127a). 331 Dies verhindert Schelling zufolge indessen nicht, dass es im Folgenden zu einem Ausbruch der Potenzen aus der Einheit sowie zu einem Streit zwischen ihnen als einander widersprechenden Willenstendenzen kommt. Wie es zu diesem Aufbruch kommt, infolge dessen die ursprüngliche Freiheit des ›nicht wollenden Willens‹ in Notwendigkeit verkehrt wird, sucht Schelling dabei in dreifacher Weise zu erläutern, 332 wovon insbesondere der dritte Erklärungsversuch mit Blick auf die damit einhergehenden willenstheoretischen Bestimmungen interessant ist. Zunächst sucht er – wie bereits in dem von Barbara Loer edierten Fragment 333 – im Anschluss an Röm 7,7 den Übergang durch die Forderung des Gesetzes »Begehre nicht deines Seyns« (MS 226a) 334 zu plausibiliseren, was gerade zu einer Bewusstwerdung der eigenen Freiheit innerhalb des Seinkönnens sowie – entgegen der Intention des Gesetzes – zu einem vergegenständlichenden Ergreifen derselben führe. Des Weiteren führt er zweitens eine »Finalerklärung des Übergangs« 335 an, wonach die »größtmögliche Entschiedenheit« das Beste sei, insofern mit ihr die »größre Entfaltung des Lebens« sowie die »größere Freyheit und Verherrlichung 328 329 330 331 332 333 334 335

Vgl. ebd. Vgl. oben, Teil II, Kap. 4.2.1. Vgl. Schelling 1821, 79. Vgl. Schelling 1821, 80. Vgl. hierzu ausführlich Iber 1994, 255–264. Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 2.2.1. Vgl. Schelling 1821, 113. Iber 1994, 258.

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der einzelnen Glieder« vonstatten gehe (MS 237a–238a). 336 Drittens schlägt Schelling in der 29. und 30. Vorlesung schließlich auch eine willenstheoretische Erklärung vor, die auf tragische Muster zurückgreift: So sei das dem ursprünglich freien Willen »vorschwebende Seyn […] das erste Versuchende des Willens, das ihn an sich und aus der Stille seines Nichts_wollenhsi herauszuziehn sucht.« (MS 255c– 256a) 337 Dabei versteht Schelling diesen Übergang nicht nur im Anschluss an Jak 1,14 f. als »Genesis der Sünde« (MS 265b / Schelling 1821, 132), sondern auch als einen Übergang »durch Verblendung, Betrug, Überraschung« (MS 265c), was Schelling durch den nicht genauer spezifizierten Verweis auf »so manche[…] sinnreiche[…] Fabel oder geheime[…] Überlieferung des Altherthums« (MS 266a) zu plausibilisieren sucht und womit er wohl auf Hesiods Theogonie 338 sowie auf Sophokles König Ödipus anspielen dürfte, den er auch in seiner früheren Philosophie mehrmals herangezogen hat (vgl. AA I,3, 106 f.; AA II,6,1, 372 f.). Dadurch werde der ursprünglich gelassene Wille dazu gebracht, »w i r k l i c h zu wollen, auf eine zwischen Freywilligkeit und Unfreywilligkeit zweifelhafte Weise« (MS 265c– 266a). 339 Es handele sich mithin um einen »unwillkürlich[en] […] Übertritt«, bei dem »der Wille nicht zur Besinnung gekommen sei und […] die That dem Willen zuvor kam, ihn überraschte« (Schelling 1821, 134). 340 Schelling beschreibt hier also eine »Art Willensschwäche des Absoluten«, 341 im Zuge derer die Zurechnungsfähigkeit aber immer noch bei dem Wollenden verbleibt, sodass der Handlungsvorgang als ein tragischer anzusehen ist. Denn die Folge dieses Übertrittes ist, wie Schelling in einer eindringlichen religösen Metaphorik beschreibt, »die Hölle s e l b s t «, die »in nichts andrem als in dem ewigen Suchen und nicht finden Können des Himmels« als der verlorenen Freiheit bestehe: »Himmel ist Freyheit, ist Können um des Könnens willen, ist der Wille in der Ruhe, in der völligen Gelassenheit« (MS 267a). 342 Vgl. Schelling 1821, 118 f. Vgl. Schelling 1821, 128. 338 So ist auch die Götterentstehung bei Hesiod durch ›Verhängnis‹ (μόρος) und ›Verblendung‹ (ἀεσιφροσύνη) gekennzeichnet. Vgl. bes. Hesiod, Theogonie, vv. 211 f. u. 501 f. 339 Vgl. Schelling 1821, 132 f. 340 Vgl. MS 262c. 341 Iber 1994, 262. 342 Vgl. Schelling 1821, 134. 336 337

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Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821

Dieses ›Suchen und Nicht-finden-Können‹ wird anschließend in der 31. Vorlesung als ein »Streit der Potenzen« expliziert (Schelling 1821, 141). Denn indem die erste Potenz, das Seinkönnende, das Sein anzieht, bleibt sie gerade nicht Seinkönnendes oder bloße Potenz. Doch über diese Entfremdung von ihrem eigenen Wesen hinaus widerstreitet sie hierbei zugleich auch den oben skizzierten Willenstendenzen der beiden anderen Potenzen, insofern die erste Potenz sich selbst in ihrem das Sein ›anziehenden‹ Streben zu verabsolutieren sucht: Dieses also erst der vollständige Begriff des widerspruchsvollen Wesens jenes ersten Seyenden das jedoch bis jetzt nicht ein eig. Seyendes ist – denn auf die Art, wie es seyn könnte, will es nicht seyn – und wie es will kann es nicht – nur trachtet zu seyn, aber unvermögend sich zu S t a n d e d. h. zum Stehen zu bringen – in einem beständigen Werden ist, ein abwechselnd Leben und Sterben – ein unaufhörlich sich selbst verzehrendes und wiedergebärendes Leben […]. (MS 273b–c)

Dieses in sich widersprüchliche ›Leben‹ beschreibt Schelling daher auch als »Ringen der drei Gestalten«, als »perpetuum mobile« (MS 273c) und im Rückgriff auf Jak 3,6 anhand des auch von J. Böhme und F. C. Oetinger aufgegriffenen Motivs des »Rad[s] der Geburt« (Schelling 1821, 142) oder des »Rad[s] der Natur« (MS 273c). Diese »unwillkürliche[…] Bewegung« sei dabei »die unausbleibliche Folge des herste[n]i sich selbst Wollens« (MS 273c), die aber zugleich das Wollen insgesamt in all seinen in der Erlanger Vorlesung angeführten Erscheinungsfolgen desavouiert. Obgleich Schelling, wie gesehen, in der Erlanger Vorlesung mehrere Willensmomente anführt – auch solche, die nicht partout auf ein ›Anziehen‹ und Vergegenständlichen des Seins festgelegt sind –, so haben gleichwohl die Verabsolutierung eines auf Vergegenständlichung abzielenden Willensmomentes und der daraus resultierende Widerstreit mit den anderen Willenstendenzen, selbst wenn diese zunächst positiv dargestellt werden, in Schellings Augen 1821 eine Problematisierung aller Wollensformen zur Folge. Dies führt letztlich dazu, dass Schelling – ähnlich wie übrigens Schopenhauer, wie noch ausblickshaft zu zeigen sein wird 343 – nur in einer generellen Absage gegenüber dem Wollen noch die Möglichkeit einer Offenheit für die Alterität eines wahrhaft Freien und Neuen zu sehen vermag.

343

Vgl. unten, Teil III, Kap. 5.

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4.3. Entfaltung des Systems II: Die zweifache Forderung nach Gelassenheit in der ›Krisis‹ des Absoluten und der ›Ekstase des Ich‹ Die Möglichkeit eines Ausgang aus dieser sich beständig perpetuierenden Widersprüchlichkeit sowohl im Falle des Menschen als auch des Absoluten sieht Schelling im Zuge eines doppelten ›Lassens‹ gegeben, das nicht nur den Menschen aus seinem zukunftslos in sich rotierenden Leben herausreißen soll, sondern damit einhergehend und damit verknüpft zugleich auch das Absolute wieder aus seiner Verstrickung in eine ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ herausheben oder davon ›scheiden‹ soll: Einerseits erscheint diese ›Scheidung‹ oder ›Krisis‹ jedoch nur dann möglich, sofern der Ursprung des Absoluten als ein Zustand erinnert werden kann, in dem es als ›reines Seinkönnen‹ noch nicht voluntativ auf ein vergegenständlichtes Sein bezogen ist und beide, Können und Sein, aufgrund ihrer gegenseitigen Gleichgültigkeit und ›Gelassenheit‹ noch eine Einheit bilden (Kap. 4.3.1). Andererseits ist hierzu – auf der korrespondierenden Ebene menschlichen Lassens – auch eine ›Ekstase‹ des Ich nötig, die Schelling als Alternative zu jenem Prozess des Wissenwollens aufruft. Schelling profiliert die ›Ekstase‹ in Erlangen zwar als Nachfolgebegriff des im Frühidealismus – insbesondere bei Fichte – virulenten Konzeptes der »i n t e l l e k t u e l l e [ n ] Anschauung« (MS 23b / SW IX, 229), grenzt sie aber zugleich auch von dieser Form der Anschauung deutlich ab, die letztlich für einen hybriden Anspruch des menschlichen Subjekts einsteht: Der mit dem Begriff der ›Ekstase‹ verbundene Gedanke eines Loslassens von sich, der Durchstreichung des Subjekts und eines ›nichtwissenden Wissens‹ kann denn auch als Schellings Antwort auf die kritisierte Willens- und Subjektzentriertheit seiner Gegenwart wie auch seiner eigenen, früheren Philosophie verstanden werden (Kap. 4.3.2). 4.3.1. Die Auflösung des Widerstreites im Absoluten durch ›innere Überwindung‹ Schelling versteht den Ausgang aus jenem inneren Widerstreit in der 32. Vorlesung in erster Linie als eine »innere Überwindung« (MS 274a / Schelling 1821, 143). 344 Die erste Potenz als der das Sein an344

Vgl. dazu auch Iber 1994, 265–268.

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Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821

ziehende Wille müsse »sich […] erkennen als das, was nicht mehr das Sein selbst und auch nicht mehr das Ganze ist, sondern nur ein Teil, eine Potenz.« (Schelling 1821, 143). 345 Vergleichbar »dem Urwesen« in den Weltaltern, dem »in seiner schrecklichen Einsamkeit […] nichts helfen« könne (WA I, 43), so vermag auch »diese Überwindung« des inneren, zukunftslos in sich rotierenden Widerstreites »nur innerlich geschehen, nur innerhalb des Willens selbst«: »Keine äußere Gewalt kann es [nämlich Gott als das erste Seiende, P. H.] nötigen, daß es aufhöre, sich als Ganzes zu betrachten« (Schelling 1821, 143). Doch diese »Erlösung von dem Umtriebe« könne dem ›ersten Seienden‹ nur »dadurch werden, daß es den Willen aufgäbe[,] das Seiende selbst zu sein«, und ein relativ Nicht-Seiendes werde – wie Schelling in Rückgriff auf Platons und Plutarchs Unterscheidung von »μη ειναι und μη ον ειναι« bemerkt (Schelling 1821, 144). 346 Dies könne sich wiederum allein unter der Voraussetzung ereignen, dass dieser Struktur gegenüber »ein Höheres wird« (Schelling 1821, 144), sodass mithin diese ›innere Überwindung‹ nicht gänzlich als eine autosuffiziente angesehen werden kann: »Dieses Höhere kann nun nichts andres seyn als jenes absolut Ausgeschlossene das stehen blieb a l s das Seyende selbst a l s A0. Dieses hat keinen Theil an der gegenwärtigen Bewegung.« (MS 274c) 347 Doch dieses ›Höhere‹, das Schelling mit der in 16. Vorlesung eingeführten und von den drei Potenzen unterschiedenen ›ewigen Freiheit‹ als einer ›tief verschlossenen Einheit‹ identifiziert, 348 kann nur sichtbar werden, wenn die erste Potenz »sich dem wahren Seienden […] öffnet« (Schelling 1821, 145). Diese Offenheit der ersten Potenz wird dabei erreicht nur durch die Not ihres Innern, durch die Angst ihres Lebens, da sie weder aus noch ein weiß. Sie weiß nicht aus, weil sie jene Ein- und Anziehung nicht verlassen kann, durch welche alles Leben ist, das sonst aufhören würde. Sie weiß nicht ein, da je eine [Potenz, P. H.] die andere verdrängt und keine die andre absolut vernichten kann. Könnte eine vernichtet werden, so würden alle sterben. Die in diese Bewegung eingeschlossene Natur kann die Anziehung nicht aufgeben; und [kann] nicht 345 Vgl. MS 274a. Da zu dieser Vorlesung nur Schellings ›Stichworte‹ überliefert sind, wird hier in der Hauptsache aus der Enderlein-Nachschrift zitiert. 346 Vgl. Platon, Sophistes, 237a, 241d, 256d–257a, 258a–259b u. Plutarch, Adversus Colotem, 1115d. 347 Vgl. Schelling 1821, 145. 348 Vgl. MS 127a / Schelling 1821, 80.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

in der Anziehung bleiben. Sie kann also weder aus noch ein. Diese Angst, die in ihr steckt, ist in beständigem Zunehmen, wodurch ihr endlich fühlbar wird, daß sie aufgeben muß, das Seiende selbst zu sein. Jetzt erwacht ihr also die Sehnsucht nach dem Tode; sie möchte jenem Willen gern sterben, aber sie kann nicht sterben, weil, wenn sie das Sein absolut ausschlöße, eben damit das ganze Leben zurückgehen, zugrundegehen würde, weil sie das Leben des Ganzen erhalten muß. Sie kann die Einheit nicht aufgeben, wenn ihr nicht die Einheit in einem Höhern aufgeht […]. (Schelling 1821, 145) 349

Die erste Potenz wird durch diese gleichsam existentielle Angst zwar nicht dazu gebracht, allem Wollen zu entsagen, aber zumindest dazu, »einen andern Willen zu fassen« (MS 274c) oder – wie es in der Enderlein-Nachschrift genauer heißt – »zu dem Willen […], sich selbst aufzugeben als das Seiende« (Schelling 1821, 145). Doch allein schon hierdurch werde die in sich kreisende und auf sich selbst fixierte »Sucht in Sehnsucht […] verwandelt«; aber »Sehnsucht setzt schon etwas außer sich. Sehnsucht ist der erste Bruch in die starre Selbstheit.« (Schelling 1821, 145) 350 Mit der Zurücknahme und gleichsam ›Besänftigung‹ des Willens der ersten Potenz zur Sehnsucht wird mithin eine Öffnung desselben für die Alterität eines Anderen gegenüber der ursprünglichen ›starren Selbstheit‹ jenes Willens erzielt. Jenes ›Höhere‹ kann ihm hierfür jedoch »nur die Möglichkeit zeigen« (Schelling 1821, 146), 351 weshalb die erste Potenz gewissermaßen selbst den Willen zur Verneinung ihres eigenen willentlichen Strebens aufbringen muss. Dabei wird eine »immer größre Annäherung zwischen dem Suchenden und Gesuchten« erreicht, ohne dass beide aber wie anfangs Können und Sein völlig ›gleichgültig‹ gegeneinander wären (MS 275a / Schelling 1821, 146). Das abschließende Resultat dieser ›Annäherung‹ sei »eine plötzliche, aber fortan unauflösliche Verbindung«, durch welche »über die anfänglich zum Sein erstorbene Natur […] die ewige Freiheit selbst« aufgehe (Schelling 1821, 146). 352 Nur derart werde – wie Schelling sich in der folgenden Vorlesung beinahe in wörtlicher Anlehnung an Schopenhauer ausdrückt 353 – »die Macht jenes Willens gebrochen […], steht auch das Rad der Natur still« (MS 279c). 349 350 351 352 353

Vgl. MS 274c. Vgl. MS 275a. Vgl. MS 275a. Vgl. MS 275a. Vgl. Schopenhauer 1819, 280. Vgl. dazu auch unten, Teil III, Kap. 5.

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Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821

Die in jenem Überwindungsprozess ›aufgehende‹ Freiheit erscheint hier zwar als dasjenige, was für eine Öffnung jener suchtartigen Bewegung einsteht. Doch ist diese Offenheit für die Alterität eines Anderen gegenüber jenem suchtartigen Willen um den Preis erkauft, dass ›das Rad der Natur‹ und damit auch alle Willensbewegtheit ›stillsteht‹. Indem jene suchtartige Bewegung des Weiteren nicht nur in ›Sehnsucht‹ zu einem Anderen, sondern sogar noch in die ›unauflösliche Verbindung‹ mit jenem Anderen bis zur Selbstauflösung überführt wird, hat denn auch jene Überwindungsbewegung zu ihrem letzten Resultat – paradox genug – die vollkommene Passivität und Lähmung jeglichen Willensmomentes. 4.3.2. Die ›Ekstase des Ich‹ und die Einsetzung des eigentlichen Subjekts Ein ähnliches Resultat zu demjenigen, das gerade im Falle des Prozesses im Absoluten beschrieben wurde, zeigt sich auch im Falle des Menschen. Dies liegt gerade darin begründet, dass die Bewegung im Absoluten unauflöslich an diejenige im Zusammenhang aller Kreatur und insbesondere des Menschen geknüpft ist. Zwar sei die hierbei vorauszusetzende »Schöpfung nicht eine bloße stetige Fortsetzung der vorhergegangenen Bewegung [im Absoluten, P. H.] sondern […] ein zweyter Anfang«, wie in der 35. Vorlesung zu lesen ist (MS 301a / Schelling 1821, 161). Doch auch hier kommt wieder eine Struktur zum Vorschein, die sich dem »freyen Entschluß«, dem »wirkend[en] […] Wille[n]« Gottes, »daß also Gott das äußere Seyn annimmt – sich es anzieht« (MS 301c–302a) und ›aufhebt‹, 354 widersetzt: nämlich die Creatur. Denn mit jedem Grade der Vergeistigung, der Verwesentlichung entsteht Etwas gehgeni seinen Willen, dieses Etwas aber will die vergeistigende Kraft nicht stehen lassen, sondern es weiter führen – dem widersetzt sich aber eben dieses durch die Wirkung der Anziehung ad actum Erhobne und Entstandne – welches bleiben will – es entsteht also ein Kampf zwischen der Renitenz des Entstandnen, die umso stärker wird, je mehr es activirt, schon vergeistiget ist und der blind, unabsetzlich, maßlos anziehenden Kraft. (MS 302a–b) 355

Infolge dieses ›Kampfes zwischen der Renitenz des Entstandenen‹ und der höheren Tendenz zur ›Vergeistigung‹ oder ›Verwesent354 355

Vgl. Schelling 1821, 162. Vgl. ebd.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

lichung‹ erscheinen nach Schelling die »ätesten Producte der Natur« als »Kinder der Unlust, der Angst, des Schreckens, ja der Verzweifelung« (MS 303b). Zugleich gerät dabei der auf Aufhebung und ›Vergeistigung‹ ausgerichtete Schöpfungsprozess ins Stocken. Hier kommt Schelling mithin auf die an Koh 1,9 angelehnte Gegenwartsdiagnose zurück, der zufolge diese zukunftslos in sich selbst kreise. 356 Schelling sucht dies anhand der Rotation der Planeten zu plausibilsieren. Diese »Rotation« enstehe dadurch, dass »[d]ie anziehende Kraft, welche alle Zweiheit vernichten will, […] sie dadurch nur [schaerft] und […], indem sie die Spannung zwischen der einziehenden und der ausdehnenden Kraft allerdings hervorruft, auch wieder die rotatorische Bewegung hervor[bringt].« (MS 305a) 357 Ein Ausgang aus diesem Zustand kann Schelling zufolge nur erreicht werden, wenn die schaffende Kraft von Stufe zu Stufe fort[schreitet] bis zu jenem Geschöpf, in welchem ihr endlich die völlige Wiederumwendung des Äußern in’s Innre gelingt, wo die ursprüngliche, aber früher zu Grunde gegangne lautre Freiheit wiederhergestellt ist – die nun nicht bloß wieder ist was sie zuerst war, sondern die als solche seyende, sich selbst als solche wissende und erkennende ewige Freiheit – nicht die unwirkende sondern die aus der Wirkung in’s lautre Können in die Ruhe zurückgebrachte. (MS 309c–310a) 358

Bei diesem ›Geschöpf‹ handelt es sich um keinen anderen als den Menschen, welcher Ort dieser »Wiederumwendung« (MS 68b / SW IX, 242) oder, anders gesagt, »der Punkt« ist, »in dem das Natürliche in das Übernatürliche wieder zurückkehren soll« (Schelling 1821, 64). 359 Doch diese ›Wiederumwendung‹ geht im Falle des Menschen mit einer ihn in völlige Passivität versetzenden Selbstzurücknahme einher, die diesen für und auf die absolute Freiheit hin ›durchlässig‹ werden lässt – vergleichbar der, wenn auch weniger ›vergeistigten‹, Aufhebungsbewegung im Falle der ›ältesten Produkte der Natur‹. Dies wird insbesondere anhand von Schellings in diesem Kontext angeführter Reinterpretation der frühidealistischen intellektuellen Anschauung in der Figur der ›Ekstasis‹ zu Anfang der Erlanger Vorlesung augenfällig, worauf daher noch abschließend einzugehen ist. So »fodert« Schelling zufolge die sich sowohl in der äußeren Na356 357 358 359

Vgl. oben, Teil II, Kap. 4.2.1. Vgl. Schelling 1821, 165. Vgl. Schelling 1821, 169. Vgl. MS 68a.

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Wollen und Ekstase in der Erlanger Vorlesung von 1821

tur als auch im Innern des Menschen zeigende, auf der Stelle tretende Rotation »den Menschen zu jenem Aufgeben s e i n e s Wissens – zu jener Scheidung auf, durch die er zuerst s i c h in völliger Freyheit erblickt, aber auch ihm gegenüber die ewige Freyheit in ihrer uranfänglichen Lauterkeit.« (MS 76a / SW IX, 245) Diese als praktischer Vollzug geforderte, erkenntnistheoretische Relation, die mit dem Eingeständnis einhergehe: »i c h , als ich, kann nicht wissen, i c h – w i l l nicht wissen« (MS 23a / SW IX, 229), 360 fasst Schelling dabei in der siebten Vorlesung mit dem im Frühidealismus prominenten Begriff der ›intellektuellen Anschauung‹: Man hat dieses ganz eigenthümliche Verhältnis sonst wohl auszudrücken gesucht durch das Wort intellektuelle Anschauung. Anschauung wollte man dieß Nichtwissen nennen, weil im eigentlichen Anschauen – oder da diß Wort gemein geworden – im S c h a u e n das Subjekt sich verlirt, außer sich gesetzt ist – i n t e l l e k t u e l l e Anschauung um auszudrücken, daß es hier nicht wie in dem sinnlichen Anschauen in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren und sich selbst aufgebend in dem was gar nicht Objekt seyn kann. Allein eben weil dieser Ausdruck erst der Erklärung bedarf, so besser ihn ganz bey Seite zu setzen. – Eher sagen: Ekstase, Εκστασις – das A u ß e r s i c h gesetzt werden. Nämlich unser Ich wird außer s i c h , d. h. außer seiner Stelle gesetzt. Seine Stelle ist die, Subjekt zu seyn. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt seyn, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also es muß den O r t verlassen – es muß außer sich gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseyendes, nur i n dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen. (MS 23a–c / SW IX, 229) 361

Die zitierte längere Passage ist mit Blick auf die Entwicklung von Schelling Willensdenken zentral und soll nur daraufhin auch betrachtet werden, auch wenn hier an keiner Stelle explizit von Wille oder Wollen die Rede ist. Gleichwohl behandelt Schelling hier implizit das Verhältnis von Wollen und Lassen mit und nimmt dabei eine fundamentale Neujustierung und Korrektur gegenüber seiner Frühphilosophie vor. So hatte Schelling in seiner Frühphilosophie, und insbesondere in der Allgemeinen Uebersicht von 1797/98, die »intellectuale Anschauung« noch ausdrücklich mit dem »absoluten Wollen« einhergehen lassen; 362 »intellektual« nannte Schelling diese An360 361 362

Vgl. Schelling 1821, 38. Vgl. Schelling 1821, 39. Vgl. oben, Teil I, Kap. 3.2.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

schauung damals des Weiteren, »weil sie eine Thätigkeit zum Objekt hat, die weit über alles Empirische hinausgeht und durch Begriffe niemals erreicht wird« (AA I,4, 128), nicht aber wie in Erlangen 1821, ›um auszudrücken, daß das Anschauen verloren und sich selbst aufgebend sei in dem was gar nicht Objekt seyn kann‹. Diese durch eine Selbstzurücknahme des Ich charakterisierte Position hatte Schelling 1795 in den Philosophischen Briefen gerade im Gegensatz zur Position des Kritizismus, dem auch die intellektuelle Anschauung zugeschrieben wurde, mit derjenigen des Dogmatismus in Verbindung gebracht. 363 Die ›Ekstase – das A u ß e r s i c h gesetzt werden‹ kommt damit gerade einer Aufgabe und Verleugnung aller voluntativen Ansprüche gleich, die selbst noch die Existenz bedrohen, insofern das menschliche Subjekt sich ›als ein gar nicht mehr Daseiendes‹ setzen solle, wodurch ihm allererst ›das absolute Subjekt‹ der ewigen Freiheit aufgehe. Wie im Zuge dieser ›Ekstase‹ der Mensch »zuerst s i c h in völliger Freyheit erblickt, aber auch ihm gegenüber die ewige Freyheit« (MS 76a / SW IX, 245), dies ist anhand dieser Konzeption nicht wirklich verständlich zu machen. Schelling klärt hier, anders gesagt, nicht, wie die ursprüngliche, ontologische Dimension der Freiheit im Sinne einer Offenheit und gänzlichen Alterität mit der Freiheit des Menschen zusammen besteht. Die mit der ›Ekstase des Ich‹ einhergehende Forderung einer völligen Passivität und eines Aufgehens in jener höheren, göttlichen Freiheit rettet zwar die Systemkonstruktion als eine apriorisch einsehbare, muss dafür aber gerade die endliche Freiheit opfern. Schelling wird in seiner Münchener und Berliner Spätphilosophie denn auch nochmals eine doppelte Neujustierung vornehmen, die zum einen den Willensbegriff im Zusammenhang des Gottesbegriffes betrifft und zum anderen auch eine Korrektur des Ekstase-Begriffes hin zu einer ›Ekstase der Venunft‹ einschließt. Insofern Letztere in der Spätphilosophie mit einer Absage an jedwede apriorische Konstruierbarkeit einhergeht, ermöglicht sie es gerade, ein freies Zusammenspiel verschiedener Freiheiten anzunehmen. 364

Vgl. oben, Teil I, Kap. 2.2. Vgl. dazu ansatzweise bereits Iber 1994, 296. Vgl. auch Pareyson 1997 – sowie Tilliette 1970, Bd. 2, 58 f., 142–146 u. 325–327, der allerdings zwischen den Konzepten der ›Ekstase‹ in Erlangen und der Münchener sowie Berliner Spätphilosophie nicht nochmals eigens unterscheidet, sondern eher die Parallelen betont. 363 364

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Exkurs II: Generelle Kritik des Wollens und Gelassenheit bei Schopenhauer

5. Exkurs II: Generelle Kritik des Wollens und Gelassenheit bei Schopenhauer Es ist unverkennbar und geradezu augenfällig, dass Arthur Schopenhauer die beim ›mittleren‹ Schelling von den Weltaltern bis hin zur Erlanger Vorlesung sich abzeichnende Tendenz einer zunehmend negativeren Einschätzung des Wollens forciert und auf die Spitze treibt. 365 Diese Nähe ist dabei nicht allein in systematischer Hinsicht wichtig zu konstatieren, insofern sie die Konsequenzen einer solchen Willensinterpretation nochmals klarer vor Augen führt. Jene Parallele zwischen beiden Denkern ist vielmehr auch dahingehend interessant, als sie mit einer gleichwohl nicht eindeutig zu rekonstruierenden wechselseitigen Rezeption beider Autoren einhergeht: So finden sich zum einen in Schellings Nachlassbibliothek sogar die Erstausgabe der Welt als Wille und Vorstellung von 1819 wie auch die um einen zweiten Band ergänzte zweite Auflage von 1844. 366 Auch wenn keineswegs klar nachzuweisen ist, ob Schelling bereits 1821 in Erlangen die Erstauflage jenes Werkes zur Kenntnis genommen hat, so ist dies doch neben generellen systematischen Parallelen der Willenskonzeptionen beider Denker vor allem mit Blick auf zwei Stellen in Schellings Manuskript der Erlanger Vorlesung nicht gänzlich auszuschließen, von denen zumindest die zweite auf frappierende Weise an eine Formulierung Schopenhauers erinnert. 367 Auch lag bereits 1819 eine Rezension der Welt als Wille und Vorstellung vor, welche ein ehemaliger Jenaer Student Schellings, nämlich der Landshuter Professor für Klassische Philologie Georg Anton Friedrich Ast, verfasst hatte und die mithin ebenfalls Schelling auf Schopenhauer hätte

365 Vgl. zu Schellings und Schopenhauers Willensdenken v. a. Berg 2003 u. Kisner 2016, 300–373. 366 Vgl. Müller-Bergen 2007a, 67 (Zech-Nr. 279) u. 121 f. (Zech-Nr. 481). 367 Vgl. einerseits Schellings Bemerkung »wahre Maja – Täuscherin« (MS 75b; vgl. auch MS 63c) und Schopenhauers Rede von der »Maja, de[m] Schleier des Truges« (Schopenhauer 1819, 37), auch wenn dieses Motiv auch auf Georg Friedrich Creuzer oder Jospeh Görres zurückgehen könnte. Vgl. außerdem andererseits die Formulierung: »Nun die Macht jenes Willens gebrochen ist, steht auch das Rad der Natur still« (MS 279c), die an folgende Stelle bei Schopenhauer erinnert: »[W]ir sind für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt […], das Rad des Ixion steht still« (Schopenhauer 1819, 280). So ist nicht zuletzt auch das gänzliche ›Stillstehen‹ der rotatorischen Bewegung ein von Schelling ansonsten eigentlich nicht vertretenes Motiv (vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 4.3.1).

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

aufmerksam machen können. 368 Nicht zuletzt insistiert auch Schopenhauer selbst – natürlich zum Zwecke der Herausstellung der Originalität seiner eigenen Schriften – in einem Brief an David Asher 1856 darauf, daß Alles was Schelling, in Vorlesungen oder sonst, seit 1818 gesagt haben mag, hinter mir liegt, d. h. nach mir gekommen ist; weil mein Hauptwerk in der ersten Aufl im Novbr 1818 erschienen ist, mit der Jahreszahl 1819. Bloß seine Abhdlg v. d. Freiheit 1809, liegt vor mir. 369

Umgekehrt ist zum anderen im Falle Schopenhauers durchaus eine breite Rezeption fast aller veröffentlichten Schriften angefangen bei Vom Ich als Princip der Philosophie von 1795 bis hin zur Freiheitsschrift von 1809 und der Denkmalschrift von 1812 nachzuweisen, 370 obgleich selbst in den beiden zuletzt genannten Schriften noch nicht Schellings umfängliche Willenskritik sowie dessen Gelassenheitsdenken vorliegen, die ja vor allem Nähen zu Schopenhauer besitzen. So beklagt sich auch Schopenhauer 1859 nicht gänzlich zu unrecht mit Blick auf die behauptete Abhängigkeit seines Denkens von demjenigen Schellings, dass man vor einigen Jahren sich in der Art bemühte und nichts vorzubringen hatte, als daß Schelling gesagt habe: ›Wollen ist Urseyn‹: es war damit so schlecht bestellt, daß sogar der Philosophie-Professor Hillebrandt 371 in Gießen meine Vertheidigung geführt hat, in seiner ›Geschichte der deutschen Literatur‹ […]. 372

Wie auch immer man diesen rezeptionsgeschichtlichen Befund bewerten mag, so ist doch gleichwohl eine frappierende Nähe zwischen 368 Vgl. Ast 1819, der in seiner ausführlichen Rezension Schopenhauers Hauptwerk sogar als ein »in vieler Hinsicht ausgezeichnetes Werk« lobt (Ast 1819, 201). Vgl. dazu auch Berg 2003, 10. 369 A. Schopenhauer an D. Asher, 15. Dezember 1856, Schopenhauer 1987, 407. 370 Vgl. die Aufzeichnungen in den Studienheften in Schopenhauer 1967, 304–340 sowie das Verzeichnis von Schopenhauers Bibliothek in Schopenhauer 1968, 143–149, worin sich über fast alle bis 1812 publizierten Schriften hinaus auch noch die Gottenheiten von Samothrace (1815) und ein Exemplar der Akademie-Rede von 1832 Ueber Faraday’s neueste Entdeckung finden. Vgl. dazu Schwenzfeuer 2014b, bes. 246. 371 Gemeint ist wohl der Gießener Professor Joseph Hillebrand, der in seiner Deutschen Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts auf Schopenhauer kurz eingeht (vgl. Hillebrand 1846, Bd. 3, 384 f.). 372 A. Schopenhauer an D. Asher, 15. April 1859, Schopenhauer 1987, 454. Vgl. ähnlich auch A. Schopenhauer an J. Frauenstädt, 31. Oktober 1856, Schopenhauer 1987, 403.

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Exkurs II: Generelle Kritik des Wollens und Gelassenheit bei Schopenhauer

Schopenhauers Hauptwerk und insbesondere dem ›mittleren‹ Schelling nicht zu leugnen. Es wurde bereits angedeutet, dass sich auch bei Schopenhauer der Gedanke eines zukunftslos in sich kreisenden »Rade[s] des Ixion« findet. 373 Wie im Falle Schellings, der allerdings – Oetinger und insbesondere Böhme folgend – unter Bezugnahme auf Jak 3,6 von einem »Rad der Natur« (MS 279c; Herv. v. Verf.) spricht, 374 wird auch von Schopenhauer jene Rotationsstruktur dabei rein negativ bewertet und mithin als etwas zu Überwindendes angesehen. Auch wenn Schopenhauer darum bemüht ist, sich von einem wohl auch auf Schelling anspielenden »historische[n] Philosophieren« abzugrenzen, das unter anderem »eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen, Entstehn, Hervortreten ans Licht aus dem Dunkeln, dem finstern Grund, Urgrund, Ungrund und was dergleichen Gefasels mehr ist« liefert, 375 so geht er doch ganz im Sinne des Satzes ›Wollen ist Ursein‹ aus Schellings Freiheitsschrift davon aus, dass »der Wille das Ding an sich, der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtbare Welt, die Erscheinung aber nur der Spiegel des Willens«. 376 Analog zu dem von Schelling 1809 beschriebenen ›Willen der Sehnsucht‹ fasst Schopenhauer den Willen genauer derart, dass er, »rein an sich betrachtet, erkenntnißlos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen, wie auch im vegetativen Theil unsers eigenen Lebens erscheinen sehn«. 377 Wie Schelling 1809 geht außerdem auch Schopenhauer von einer ›Potenzierungs‹Struktur des Wollens aus, die dabei allerdings durch eine Zunahme an Leiden mit jeder höheren Stufe charakterisiert sei: [W]ie die Erscheinung des Willens vollkommener wird, so wird auch das Leiden mehr und mehr offenbar. In der Pflanze ist noch keine Sensibilität, also kein Schmerz: ein gewiß sehr geringer Grad von Leiden wohnt den untersten Thieren, den Infusorien und Radiarien ein: sogar in den Insekten ist die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden noch beschränkt: Schopenhauer 1819, 280 (§ 38); Herv. v. Verf. In Jak 3,6 ist von »τὸν τροχὸν τῆς γενέσεως [Rad der Geburt]« die Rede (Nestle/ Aland 2002, 593). Die analoge Formulierung »Rad Naturae« findet sich bei Böhme (Böhme 1620b, 171 (Kap. 9,58)). Indessen wird an beiden Stellen jene Rotationssturktur nicht generell wie bei Schelling und Schopenhauer negativ bewertet. 375 Schopenhauer 1819, 378 (§ 53). 376 Schopenhauer 1819, 380 (§ 54). 377 Ebd. 373 374

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

erst mit dem vollkommenen Nervensystem der Wirbelthiere tritt sie in hohem Grade ein, und in immer höherem, je mehr die Intelligenz sich entwickelt. In gleichem Maaße also, wie die Erkenntniß zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtseyn sich steigert, wächst auch die Quaal, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht, und dort wieder um so mehr, je deutlicher erkennend, je intelligenter der Mensch ist: der, in welchem der Genius lebt, leidet am meisten. 378

Ausgehend von einem Wollen, das »aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden« 379 entspringe, zeichnet Schopenhauer denn auch dem Voluntativen generell, wie Lore Hühn bemerkt hat, ein »Paradox […] perennierenden Selbstverfehlens« 380 ein, das eine strukturelle Analogie zu der von Schelling in den Weltaltern und der Erlanger Vorlesung aufgezeigten Tragik des Wollens und insbesondere des Wissenwollens aufweist. 381 Als schildere Schopenhauer die Symptome einer Sucht, begreift er die Struktur des Wollens im Sinne einer Bewegung, die nie in ihr Ziel zu gelangen vermag. Im gleichwohl Erfüllung findenden Wollen eines Objektes seien bereits unzählige andere Wünsche präsent; das erlangte Objekt gleiche so »dem Almosen, das, dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf Morgen zu verlängern.« 382 Der »stets fordernde[…] Wille[…]«, der eigentlich Erfüllung schaffen sollte, diese aber gerade im Vollzug seines beständigen ›Forderns‹ verfehlt und ins Gegenteil verkehrt, fungiert denn auch als Paradigma der schopenhauerschen »nihilistischen Daseinsdeutung«. 383 Schopenhauer zufolge ist eine Überwindung jenes »drehenden Rade[s] des Ixion« nur dadurch möglich, dass »äußerer Anlaß oder innere Stimmung uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt«. 384 Erst in dieser Weise feiere man, so Schopenhauers eindringliche Metaphern, »den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.« 385 Selbst wenn Schopenhauer paradoxerweise betont, dass »eben Das, was die Christlichen Mystiker die Gna378 379 380 381 382 383 384 385

Schopenhauer 1819, 425 f. (§ 56). Schopenhauer 1819, 279 (§ 38). Hühn 2002, 170. Vgl. oben, Teil II, Kap. 2.2 u. Kap. 4.2. Schopenhauer 1819, 280 (§ 38). Hühn 2002, 170. Schopenhauer 1819, 280 (§ 38). Ebd.

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Exkurs II: Generelle Kritik des Wollens und Gelassenheit bei Schopenhauer

denwirkung und Wiedergeburt nennen, […] uns die einzige unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens« ist, 386 so zeigt sich hier doch unverkennbar Schopenhauers Tendenz, angesichts der herausgestellten Negativität des Wollens dieses als genauen Gegensatz zur Freiheit zu begreifen: Weil nun, wie wir gesehn haben, jene Selbstaufhebung des Willens von der Erkenntniß ausgeht, alle Erkenntniß und Einsicht aber als solche von der Willkür unabhängig ist; so ist auch jene Verneinung des Wollens, jener Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem Innersten Verhältniß des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflogen. Daher eben nannte die Kirche sie Gnadenwirkung […]. 387

Die ›Verneinung des Wollens‹ ist für Schopenhauer mit dem ›Eintritt in die Freiheit‹ identisch, insofern die hierfür notwendige ›Erkenntnis und Einsicht‹ in die grundsätzliche Negativität des Wollens ›von der Willkür unabhängig ist‹ und, an das platonische Moment des ›Plötzlichen‹ (ἐξαίφνης) 388 sowie die christliche Vorstellung einer ›Gnadenwirkung‹ erinnernd, gleichsam ›wie von außen angeflogen‹ komme. Schopenhauer radikalisiert derart die beim ›mittleren‹ Schelling aufgezeigte Willensinterpretation, indem er die dort bereits ansatzweise zu findende Einseitigkeit einer rein negativen Auffassung des Willensparadigmas in seiner ganzen Problematik gleichsam auf die Spitze treibt. So beschreibt auch Schelling bereits in den Weltaltern sowie in der Erlanger Vorlesung zwar wie Schopenhauer eine zukunftslos in sich kreisende, negative Rotationsbewegung, die aus einer Willensverkehrung resultiere. Jedoch formuliert Schelling zu deren Überwindung nicht generell und alternativlos die Forderung nach einem radikalen Abbruch derselben sowie einer gänzlichen Zurückweisung aller voluntativen Strukturen. So erklären die Weltalter in einer trinitätstheologischen Reformulierung jener expansiven und kontraktiven Willensaspekte, die ursprünglich in Konflikt miteinander stehen, mit Blick auf den positiv konnotierten, »wirkliche[n] Anfang« (WA I, 78): »[E]s darf die zusammenziehende Kraft nicht aufhören, sondern muß ewig fortwirken, damit ewig der Sohn aus dem Vater gezeugt und ewig die väterliche Kraft durch den Sohn entfaltet werde und, und aus dieser Zusammenwirkung die ewige Wonne des 386 387 388

Schopenhauer 1819, 548 (§ 70). Schopenhauer 1819, 549 (§ 70). Vgl. Platon, Siebter Brief, 341c7 u. Symposion, 210e4.

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

Ueberwindens und des Ueberwundenwerdens entstehe.« (WA I, 58) Selbst mit Blick auf jene negativ charakterisierte Rotationsbewegung heißt es, dass des Menschen »friedliche Wohnung über dem Heerd eines uralten Feuers erbaut ist« und »daß dieses Vergangene hnoch immer im Grunde verborgen liegt, und daß dasselbe Princip in seiner Unwirksamkeit uns trägt und hält, das in seiner Wirksamkeit uns verzehren und vernichten würde.i« (WA I, 13) 389 Auch noch in der Erlanger Vorlesung betont Schelling, dass es zur Überwindung jener innergeschichtlichen Negativität nur darum gehe, »einen andern Willen zu fassen« (MS 274c), wodurch die in sich kreisende und auf sich selbst fixierte »Sucht in Sehnsucht […] verwandelt« werde (Schelling 1821, 145). Gleichwohl stellt diese ›Verwandlung‹ der Sucht in Sehnsucht, die für ein Anderes offen sei, nach Schelling 1821 nicht das abschließende Ergebnis jener Erlösung aus der negativen Rotationsbewegung dar. Diese sei erst in einer beide letztlich miteinander identifizierenden »Annäherung zwischen dem Suchenden und Gesuchten« erreicht (MS 275a / Schelling 1821, 146), im Zuge derer alle Willensbewegtheit wie bei Schopenhauer gänzlich ›stillgestellt‹ werde (vgl. MS 279c). Wenngleich Schelling erst in seiner Spätphilosophie ab 1827 jene behauptete Negativität des Wollens durch die Betonung anderer voluntativer Aspekte zurücknehmen wird, wie im Folgenden nachzuverfolgen ist, so zieht er doch auch in seiner ›mittleren‹ Philosophie nicht generell die Konsequenz, dass Wille und Freiheit als ein grundsätzliches Gegensatzpaar anzusehen sind. Denn Schelling ist sich gerade der Problematik bewusst und sucht diese zu lösen, die darin besteht, dass jene Überwindung des Wollens hin zu einem gänzlichen Nichtwollen nicht anders als durch ein (willentliches) Handeln oder zumindest eine gemeinsame ›Wurzel‹ des Willentlichen und Nichtwillentlichen erreicht werden kann. Letzteres ist aber gerade nicht möglich, wenn das Wollen grundsätzlich zu dem zu Überwindenden gerechnet wird, insofern derart gerade das, was zu überwinden ist, seine eigene Überwindung ermöglichen soll. Während Schelling in seiner Spätphilosophie denn auch einen anderen Weg einschlägt, verfolgt Schopenhauer mit dieser radikalen Willenskritik hingegen einen ähnlichen Weg wie später Martin Heidegger, der – wie im letzten Teil dieser Untersuchung noch genauer zu entwickeln sein wird – 389 Wolfram Hogrebe spricht mit Blick hierauf sogar davon, dass »das gärende Chaos in der Tiefe aller Ordnung« präsent sei (Hogrebe 1989, 80).

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Systematische Überlegungen II

etwa behauptet, dass »Freiheit […] mit dem Willen nichts zu tun« hat (HGA 73.1, 731; vgl. auch HGA 42, 14 f. u. 26) und analog zu Schopenhauer ein radikales Gelassenheitsdenken propagiert. 390 Heidegger versucht der skizzierten Problematik allerdings derart zu entgehen, dass er die Opposition zwischen Wollen und Nicht-Wollen in genau umgekehrter Weise wie Schelling unterläuft und das Willentliche als generell in das Gelassensein gleichsam ›eingelassen‹ versteht. Dies zieht allerdings die Problematik einer vollkommenen ›Entdifferenzierung‹ allen Weltverhaltens nach sich, was wiederum alle konkreten Willensakte problematisiert und sogar desavouiert. 391

6. Systematische Überlegungen II: Pluralisierung, Negativität und Zeitlichkeit des Wollens Aus systematischer Perspektive ist Schelling ›mittleres‹ Denken bezüglich der Phänomene des Willens und Wollens als letztlich überaus ambivalent zu bewerten, insofern es zum einen Phänomenbereiche des Voluntativen beleuchtet, die nicht allein gegenwärtige Debatten hierzu antizipieren, sondern zum anderen gleichzeitig noch in diesen Debatten Vernachlässigtes oder Abgeblendetes zur Sprache bringt. Indessen lässt sich gerade in Schellings ›mittlerer‹ Philosophie ebenfalls die Tendenz beobachten, dass hier gleichwohl beachtenswerte ›Randphänomene‹ des Voluntativen hypostasiert und gar verabsolutiert werden. (1) Positiv festzuhalten ist so insbesondere die Ausweitung und interne Differenzierung des Willens und Wollens, die sich bereits in der Frühphilosophie abzeichnet und in der Freiheitsschrift konsequent fortgeführt und weiter systematisch ausgearbeitet wird. Ausgehend von der Prämisse, dass Wollen ›Ursein‹ sei (vgl. AA I,17, 123), weitet Schelling in einer ›Dynamisierung‹ allen Seins das Voluntative auf den ganzen Bereich der Natur hin aus, nimmt dabei aber gleichzeitig eine interne Differenzierung zwischen Wollen und Willen sowie unreflektiertem ›Willen der Sehnsucht‹ und gleichsam potenziertem ›Willen in dem Willen‹ in Form des Verstandes vor, der in seiner Entgegensetzung allererst den Personenstatus sicherstellt. Schelling 390 Vgl. zu der diesbezüglichen Nähe zwischen Schopenhauer und Heidegger Schirmacher 1982 u. Schubbe 2014, 327 f. 391 Vgl. dazu genauer unten, Teil IV, Kap. 9.

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antizipiert derart nicht allein die von Harry Frankfurt vorgelegte Unterscheidung zwischen »first-order desires« und »second-order volitions«, 392 sondern radikalisiert diese sogar noch durch ihre Ablösung von ihrer anthropozentrischen Perspektive. (2) Neu kommt in Schellings ›mittlerer‹ Philosophie außerdem der Einbezug vor allem negativ, aber auch positiv konnotierter ›Randphänomene‹ des Wollens hinzu, womit er sich insbesondere in Opposition zu Hegels ebenfalls äußerst differenzierter Willenstheorie als Grundlage seiner Rechtsphilosophie setzt. Bedeutung gewinnt bei Schelling im Rahmen seiner Prinzipienreflexionen so vor allen Dingen das Phänomen eines ›nicht(s) wollenden Willens‹ als eines ›Lassens‹ von allen konkreten Willensinhalten oder gar Willensaktionen, das Hegel hingegen durch dessen Stigmatisierung in Gestalt einer »Flucht aus allem Inhalte« (Rph, GW 14,1, 32 (§ 5, Anm.)) gerade als zu überwindendes Moment entschieden zurückweist. Bei Schelling ist dieses Phänomen allerdings keineswegs mit der in neueren Debatten diskutieren ›Willensschäche‹ 393 gleichzusetzen. Vor allem in den Weltalter-Entwürfen, die dieses Phänomen in den unterschiedlichsten Formen vom ›Nicht(s)-Wollen‹, über das ›Lassen‹ und die ›Gelassenheit‹ bis hin zur ›Liebe‹ und ›Scheidung von sich selbst‹ explizieren, stellt Schelling das Positive dieses Phänomens heraus, das nicht allein Passivität, sondern ebenfalls die spezifische Verhaltensform einer nicht-vereinnahmenden Aktivität impliziert und derart auch als Korrekturphänomen zu bestimmten ›Abarten‹ des Wollens zu fungieren vermag. Wie gerade auch Heidegger im 20. Jahrhundert wieder herausgestellt hat, eröffnet das ›lassende‹ und sich zurücknehmende Wollen eine eigene Form von Freiheit, die der Handlungsfreiheit nicht allein entgegengesetzt ist, sondern ihr vielmehr zugrundeliegt, insofern das willentliche ›Lassen‹ allererst die Offenheit für die Alterität des Anderen und den darin sich bekundenden Möglichkeitshorizont gewährt. Gleichwohl handelt es sich hier lediglich um ›Rand-‹ oder ›Korrekturphänomene‹ des Wollens. Werden das Nicht-Wollen und das Gelassensein im Zuge einer radikalen Autonomiekritik verabsolutiert, wie sich dies tendenziell in Schellings Erlanger Vorlesung und allen voran bei Schopenhauer beobachten lässt, so führt dies zu einer radikalen Entmündigung und gar Auflösung des Subjekts, die das darin 392 393

Frankfurt 1988, 16. Vgl. hierzu auch bereits oben, Teil I, Kap. 6. Vgl. etwa Seebaß 1993, 58 f.

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vorstellig gemachte Korrektiv unverfügbarer Alterität und Freiheit ad absurdum führt. (3) Indessen vermag Schelling gerade vor dem Hintergrund dieses Korrektivs auf eine Entmündigung des Subjekts auch im Falle eines hybriden, gleichsam hyperaktiven Wollens aufmerksam zu machen, welches die eigenen Ausgangsbedingungen ignoriert und sich derart seiner eigenen Grundlagen beraubt. Dabei ist diese Willensstruktur nicht im Sinne derjenigen des von Frankfurt beschriebenen »wanton« aufzufassen, dem kein Personenstatus zugesprochen werden kann, insofern er lediglich »first-order desires«, aber keine »second-order volitions« ausbildet. 394 Die von Schelling 1809 beschriebene »Selbstsucht« im Wollen des Bösen, »die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird« (AA I,17, 157), macht sich gerade den höherstufigen, reflektierten Willen in Gestalt des ›Universalwillens‹ zunutze und ordnet ihn sich unter, ohne ihn zu verleugnen. Die Inadäquatheit einer solchen Willensform, die zwar eine gewissermaßen ›instrumentelle‹ Verständigkeit aufweist, jedoch keinen Abstand von ihrem eigenen Vollzug aufzubringen vermag, zeichnet Schelling ausführlich in den Weltaltern in Form eines in sich selbst kreisenden »Zwange[s] zur Wiederholung« 395 nach, wie man diese Struktur durchaus mit Freud bezeichnen könnte. (4) Die wohl interessanteste Phänomenbeschreibung liefert Schelling indessen gerade in diesem Kontext, wenn er auf den Zusammenhang zwischen bestimmten Willensstrukturen und Zeitformen aufmerksam macht. In neueren Beiträgen wird dieser Zusammenhang meiner Kenntnis nach lediglich von zwei Autoren und von diesen auch nur in Ansätzen beschrieben. Zum einen von Peter Bieri, der auf den »Zusammenhang von Unfreiheit und verzerrtem Zeiterleben« hinweist, um allerdings die Frage bewusst offenzulassen, »warum es diesen Zusammenhang gibt.« 396 Der andere Autor, Michael Theunissen, schließt sogar ausdrücklich an Schellings Weltalter-Projekt an. 397 Theunissen zufolge ist die abendländische Metaphysik seit Parmenides in ihrer die Zeit überschreitenden Suche nach dem, »was

Frankfurt 1988, 16. Freud 1914, 130. 396 Bieri 2006, 439. Vgl. auch die allerdings eher literarischen Beschreibungen dieses Phänomens in Bieri 2006, 127–151. 397 Vgl. Theunissen 1991, 66 Anm. 394 395

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Teil II: Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas

in Wahrheit ist«, letztlich »Metachronik« gewesen, obgleich sie dies durch ihre ›Zeitvergessenheit‹ zu unterschlagen suchte. 398 Die neuzeitliche Philosophie von Kant bis hin zur deutschen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts reagiert nach Theunissen in ihrer Emanzipationsbewegung von der Tradition der Metaphysik auf diesen Befund in doppelter Weise: nämlich zum einen mit einer »Subjektivierung, Pluralisierung, Universalisierung und Affirmierung« 399 der Zeit, die sich selbst noch in Heideggers Unternehmen in Sein und Zeit, Sein im Horizont von Zeit zu verstehen, nachweisen lasse. Die andere Reaktion auf die Metaphysik bestehe in einer zugleich positiven wie negativen Aufhebung derselben: So offenbare selbst die Ewigkeit antiker Metaphysik, die als lediglich »zu einer rotierenden Bewegung erstarrt[e]«, »stillgelegte Zeit« entlarvt werden könne, weit mehr aber noch die nachmetaphysische Universalisierung der Zeit deren »entfremdende […] Herrschaft« in Form eines »Leiden[s] an der Zeit« trotz der »Unauffälligkeit des Mediums«. 400 Die von Theunissen selbst vertretene Reaktionsweise hierauf sieht gleichwohl eine Überwindungsmöglichkeit jener als »ständige Wiederkehr des Gleichen« erfahrenen Zeitherrschaft gerade darin gelegen, dass jene Negativität überhaupt zu Bewusstsein komme, was allein aufgrund des impliziten Wissens eines Anderen gegenüber dieser möglich sei: Diese Reaktionsweise stützt sich dabei methodisch auf den von Theunissen anhand einer Adorno-Auslegung erstmals skizzierten ›Negativismus‹, der darin besteht, »gelingendes Leben aus mißlingendem zu erklären«, 401 und geht inhaltlich aus von einer »Transzendenzbewegung, die zu der Zeit zurückkehrt, in der wir leben«, ohne dass diese Bewegung als reine Leistung zeitlich-endlicher Subjektivität interpretiert werden könnte. 402 Was indessen dieses die ›Transzendenzbewegung‹ ermöglichende »Andere der Zeit […], in der die Zeit sich selbst entrückt ist«, 403 sei, dies erklärt auch Theunissen nicht mehr genauer. Schellings diesem Programm ebenfalls verpflichtete Weltalter gehen hier, wie gesehen, unverkennbar einen Schritt weiter, welcher gleichwohl nicht als in die Metaphysik zurückkehrend interpretiert werden muss, auch wenn 398 399 400 401 402 403

Theunissen 1991, 27 u. 38. Theunissen 1991, 40. Theunissen 1991, 40 f. u. 44. Theunissen 1991, 60 f. Vgl. zum Begriff auch Theunissen 1983, 46 f. Grøn 2002, 46. Vgl. auch Theunissen 2000, 7. Theunissen 1991, 62.

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Schelling zweifellos auf deren Ewigkeitsvorstellungen rekurriert. Analog zu der aristotelischen Abhebung einer nicht-zeitlichen Bewegung von der an dieser verständlich zu machenden Zeit lässt auch Schelling hinter den von ihm aufgezeigten negativen wie positiven Zeitformen eine voluntativ gefasste Bewegungsdynamik sichtbar werden, welche allererst jene zeitlichen Strukturen ausbilde, die nicht allein die aristotelische Zeitform des permanenten ›Früher-Später‹, sondern – mit McTaggart gesprochen – auch die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft differenzierte ›A-Reihe‹ der Zeit umfassen. 404 Allein der Ausgriff auf dieses Zeit konstituierende Willensgeschehen ist denn auch in der Lage, bestimmte negativ konnotierte Zeitformen als überholungsfähig auszuweisen. Schelling hat diesen ohne Zweifel innovativen Ansatz nach seiner breitesten Ausarbeitung 1811 allerdings nicht mehr weiter vertieft, auch wenn er ihn in späteren Jahren nicht gänzlich ausklammert. Dies könnte damit zu tun haben, dass Schelling im Zuge seiner Arbeit an den Weltaltern immer stärker die ›einfache‹ Opposition zwischen einem positiv konnotierten, nicht-zeitlich gefassten Nichtwollen und einem rein negativ verstandenen, zeitlich verstrickten Wollen im Sinne der überkommenen metaphysischen Dichotomie gleichsam in Antizipation Schopenhauers betont, bevor er in seiner zweiten Münchener Phase schließlich nochmals eine weitere Neujustierung seines Willensdenkens vornimmt.

404

Vgl. McTaggart 1927, 9–31.

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Teil III Die abschließende Zusammenfassung und partielle Aufwertung des Willensdenkens in der Münchener und Berliner Zeit (1827–1842) Mit Schellings Wechsel an die neu gegründete Münchener Universität 1827 lässt sich gleichzeitig nochmals eine Neujustierung seiner Interpretation von Wille und Wollen beobachten, die zwar das komplexe Willensdenken der ›mittleren‹ Philosophie wieder aufnimmt, es aber zugleich einer neuen Systematisierung unterzieht, wie rein äußerlich allein schon der Titel der ersten Münchener Vorlesung System der Weltalter von 1827 zeigt. Auch wenn Schelling mit diesem Titel eine Anschlussnahme an das Weltalter-Projekt seiner ›mittleren‹ Philosophie anzuzeigen beabsichtigt, einhergehend mit einem dieses vollendenden ›System‹-Anspruch, so setzt Schelling hier doch zugleich unverkennbar neue Akzente. Insbesondere der Willensbegriff erfährt hier denn auch wieder eine deutlich positivere Wertschätzung als in der vorausgegangenen Phase seit der Freiheitsschrift, die das Wollen gegenüber den Phänomenen von Gelassenheit und ›Ekstase‹ tendenziell eher abwertete. So betont Schelling hier ausdrücklich, dass der in den Weltaltern als Höchstes fungierende »nichtswollende Wille« den »wollenkönnende[n] Wille[n]« als »positive[n] Begriff« zu seinem Gegenüber habe und dass mithin der »positive Begriff Gottes ist[,] daß er die Freiheit ist zu wollen« (Schelling 1827/28, 163). Erst in den Berliner Vorlesungen ab 1841 verschafft Schelling im Zuge seiner Ausarbeitung einer fundamentalen Zweiteilung der Philosophie in eine negative und eine positive, welche gleichwohl in München bereits vorbereitet und angezeigt wird, auch den Deformationen des Wollens sowie den in seiner ›mittleren‹ Philosophie so sehr betonten Phänomenen von Gelassenheit und ›Ekstase‹ wieder verstärkt Geltung, indem er aber zugleich die mit der Figur des ›Herrn des Seins‹ erarbeiteten positiven Willensbestimmungen beibehält. Es wird sich mithin auch zeigen, dass die Berliner Spätphilosophie gewissermaßen als eine Summe des schellingschen Willensdenkens aufgefasst werden kann, insofern diese auf jeweils klar umgrenzten Entwicklungsstufen des sich aus der Philosophie 253 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

der Mythologie und der Offenbarung zusammensetzenden Ganzen den unterschiedlichen positiven wie negativen Phänomenen von Willen und Wollen Rechnung zu tragen sucht. Es sind folglich nicht nur und auch keineswegs in erster Linie äußere, mit Schellings Wechsel 1841 nach Berlin zusammenhängende Gründe, die uns dazu veranlassen, diesen Teil der Untersuchung in zwei Hauptabschnitte zu unterteilen. Vielmehr hat diese Untergliederung inhaltlich damit zu tun, dass Schelling in München ab 1827 sein Willensdenken nochmals um eine gänzlich neue Facette bereichert, die in Berlin zwar wieder aufgegriffen und beinahe nahtlos fortgeschrieben wird. Gleichzeitig stellt Schelling aber in Berlin dieser mit der Figur des ›Herrn des Seins‹ in der positiven Philosophie verbundenen Willenskonzeption fast alle Willensmomente zur Seite, die er in den Jahren vor 1827 bereits ausgearbeitet hat und die er nun allerdings für klar bestimmte Entwicklungsstufen innerhalb der Gesamtkonzeption der Spätphilosophie vorsieht und auf diese hin einschränkt. Insofern wird der erste Unterabschnitt dieses Teils anhand insbesondere der ersten Münchener Vorlesung von 1827/28 mit dem Titel System der Weltalter wie auch unter gelegentlichem Einbezug der späteren Münchener Vorlesungen – jedenfalls soweit sie uns vorliegen – das Neuartige von Schellings Willenskonzeption herauszuarbeiten suchen; bietet doch diese Vorlesung die mit Abstand ausführlichsten Reflexionen zum Willensbegriff in Schellings zweiter Münchener Zeit (Kap. 1). Der folgende, zweite Unterabschnitt wird darauf aufbauend insbesondere im Rückgang auf Schellings Berliner Antrittsvorlesung zur Philosophie der Offenbarung von 1841/42 zu zeigen suchen, wie Schelling die Willensausprägungen der vorangegangenen Schaffensperioden ab 1809 aufgreift und in eine in sich differenzierte und abgestufte Gesamtkonzeption integriert. Dazu wird auch auszugsweise auf spätere Berliner Vorlesungen einzugehen sein, die manche Motive nochmals breiter entfalten – wenn dafür auch nicht derart konzise und weniger auf die Willensmomente fokussierend als 1841/42, wo Schelling die Struktur seines Gesamtsystems zu präsentieren und dessen innere Einheit gerade anhand von bestimmten ›Willenseinstellungen‹, wie gezeigt werden soll, sichtbar zu machen sucht (Kap. 2).

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Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen

1. Der ›Herr des Seins‹: Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen Der Wille und das Wollen rücken in der Vorlesung System der Weltalter aus dem Wintersemester 1827/28 erst relativ spät in den Fokus der Betrachtung. 1 Schelling führt zunächst in einem ersten Schritt seine neuartige und für die Spätphilosophie charakteristische Unterscheidung zwischen einer »geschichtlichen Philosophie« und einer »blos logische[n]« Philosophie ein (Schelling 1827/28, 1–21, Zitat 12), die bereits die insbesondere 1841 in Berlin zentrale Differenzierung zwischen negativer und positiver Philosophie vorwegnimmt, 2 um dann in einem zweiten Schritt »einen Rückblick auf die früheren philosophischen Systeme« zu werfen (Schelling 1827/28, 22–58, Zitat 22). Auf den Willensbegriff, wenn auch nur mit Blick auf Gott, kommt Schelling erstmals am Ende desjenigen Teils zu sprechen (vgl. Schelling 1827/28, 58–102, bes. 101), der teilweise die drei Jahre später gehaltene Einleitung in die Philosophie (vgl. bes. Schelling 1830, 85–137) sowie auch die Darstellung des philosophischen Empirismus von 1836 (vgl. SW X, 227–286) antizipiert und zu der Gottes- und Schöpfungslehre der »positiven Philosophie« überleitet (Schelling 1827/28, 86). 3 Auffällig ist hierbei, dass der Wille und das Wollen im Gegensatz zur vorausgehenden Phase der Weltalter und der Erlanger Vorlesung durchweg in affirmativem Sinne angesprochen werden – und dies in drei Hinsichten, die im Folgenden in aller gebotenen Kürze und der Chronologie der Vorlesung folgend abgehandelt werden sollen, um danach, den Schelling-Teil der Untersuchung beschließend, deren Integration in den Berliner Gesamtentwurf noch aufzeigen zu können: Zunächst ist auf Schellings Begriff eines »positiven Willens« (Schelling 1827/28, 101) einzugehen, der erst a posteriori nach vollbrachter Tat als dem allein ›Erfahrungsmäßigen‹ oder, kantisch gesprochen, Erscheinenden zu erkennen sei (Kap. 1.1). Obgleich Schelling mit dieser Vorstellung des Willens als gleichsam nicht erscheinendem ›Ding Vgl. zu einer partiellen Interpretation dieser bisher immer noch relativ wenig beachteten Vorlesung Peetz 1995, 299–316, Fischbach 2015 u. Roux 2016, 23–41. 2 Schelling verwendet, wenn auch eher selten, ebenfalls 1827/28 bereits die Terminologie von ›negativ‹ und ›positiv‹ (vgl. Schelling 1827/28, 3 u. 8 passim). Eine terminologisch zentrale Stellung erhalten »die Begriffe von positiver und negativer Philosophie« allerdings erst 1830 (vgl. Schelling 1830, 8). 3 Vgl. zur Gliederung der Vorlesung genauer Peetz 1998. 1

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

an sich‹ Schopenhauers Ansatz antizipiert, ohne den Willen aber als etwas grundsätzlich Negatives anzusehen, so verweist Schelling hier zugleich wieder auf die kantischen Wurzeln seines Begriffes des Willens als einer freien Ursache zurück (vgl. KrV B XXVIIf.; KrV A 549 f./B 577 f.). Schelling expliziert diesen Willen allerdings anschließend – das kantische Verbot einer von der Erfahrung gänzlich losgelösten Metaphysik ignorierend – in erster Linie als denjenigen Gottes als des ›Herrn des Seins‹. Anders als in der vorangegangenen Weltalter-Phase sieht Schelling hierbei Gott in seinem Wollen nicht mehr auf sein eigenes Sein verpflichtet: »Gott denkt aber in jenem Willen nicht an sein eigenes Sein, sein Sein ist ihm gleichgültig.« (Schelling 1827/28, 134) So ist in diesem Unterkapitel denn auch vor allem auf die Modifikationen des göttlichen Willens gegenüber dem Denken des ›mittleren‹ Schelling einzugehen, in welchem dem Willen beinahe durchgehend gleichsam eine ›Selbstfixierung‹ angelastet wurde (Kap. 1.2), bevor im letzten Unterkapitel nochmals beleuchtet werden soll, welche Rückwirkungen diese gegenüber der vorausgegangenen Phase ungleich positivere Einschätzung des Willens und Wollens für die gleichwohl beibehaltene Universalisierung und Pluralisierung im Willensbegriff im Verlauf der Vorlesung von 1827/28 zeitigt (Kap. 1.3).

1.1. Die zufällige ›innere Tatsache‹ und das Wollen als Ursache vernünftiger Wirklichkeit Zu Beginn der 21. Vorlesung hält Schelling drei Momente in Bezug auf die Philosophie als Wissenschaft fest: Zunächst müsse sie ganz im Sinne idealistischer Systemphilosophie »schlechthin von vorn anfangende Wißenschaft« sein; zweitens – und hier kommt ein für die Münchener und Berliner Spätphilosophie kennzeichnendes neues Moment hinzu – müsse »das prius von dem sie ausgeht, ein schlechthin positives« sein, »von dem wir nur sagen können, es ist, nicht aber, es ist nicht nicht« (Schelling 1827/28, 87). 4 Dieses ›Prius‹ werde dritObgleich Schelling diese Ausführungen als Rekapitulation der »letzten Vorlesung«, nämlich der 20., versteht (vgl. Schelling 1827/28, 87), hat er dort nicht die Bedeutung jener Litotes des ›Nicht-nicht-Seins‹ erläutert. Vermutlich dürfte Schelling mit der Zurückweisung dieser Struktur an dieser Stelle aber die absolute Unmittelbarkeit des Anfangs gegenüber dessen genereller Vermitteltheit innerhalb der Dialektik Hegels betonen wollen, den er in der vorausgegangenen Vorlesung auch gerade kritisier-

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Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen

tens »nicht a priori, sondern a posteriori erkannt« (Schelling 1827/28, 87). Schelling entwickelt diese Bestimmungen ab der 15. Vorlesung im Durchgang durch die vorausgegangenen ›geschichtlichen Philosophien‹ 5 sowie inbesondere ab der 19. Vorlesung im Ausgang von Kant und in Abgrenzung zu Hegel 6 sowie in Korrektur seiner eigenen früheren Identitätsphilosophie. So hebt Schelling an Kant zwar lobend hervor, dass er »den Unterschied der Begriffe a priori und a posteriori […] wichtig gemacht« habe, betont aber zugleich, dass »das Nothwendige und Allgemeine«, das Kant »in den sinnlichen Vorstellungen« als ›vorhergehend‹ behauptet habe, nur ein »ein relatives prius« darstelle und »gegen das wahre prius nothwendig ein posterius« sei (Schelling 1827/28, 78). Die kantische Unterscheidung geradezu umkehrend, ist nach Schelling das »wahre posterius […] nicht jenes Element[,] was nach Abzug der Verstandesbegriffe übrigbleibt«, vielmehr stelle das »wahre prius das Ding an sich« dar (Schelling 1827/28, 79). So kann Schelling die mit Blick auf die kantische Terminologie geradezu paradoxe Schlussfolgerung ziehen, dass »[d]ie Dinge a posteriori […] das Unvorstellbare, das absolute prius der Vorstellung« seien (Schelling 1827/28, 79). Insofern sieht sich Schelling nun allerdings zu einer terminologischen Differenzierung veranlasst: Es sei notwendig zu »unterscheiden zwischen prius sein und a priori erkannt werden« (Schelling 1827/28, 85). Als »eine von vorn anfangende Wißenschaft« dürfe die Philosophie dabei nicht »von einem gemachten prius« anfangen (Schelling 1827/28, 85). Von einem solchen »Gemachte[n], Unnatürliche[n]« gehe aber gerade eine Philosophie aus, die auf dem »Entschluße« basiere, »sich von der Erscheinung ab- und in das reine Denken zurück-zuziehen«, worum es aber auch der kantischen Philosophie als »Philosophie einer Erfahrungswelt« letztlich nicht gegangen sei (Schelling 1827/28, 79). Eine auf einem derartigen ›Entschluss‹ basierende Philosophie sei nämlich nur »Machwerk der Abstraktion«, ihr »a priori nur der Ausgangspunkt und nicht die Nate (vgl. Schelling 1827/28, 83 f.). Dass es Schelling mit der doppelten Verneinung um eine Vermittlungsbewegung geht, zeigt auch die später angeführte, analoge Struktur des ›Nicht-nicht-Wollens‹ an (vgl. Schelling 1827/28, 124), bei der es gerade nicht um ein unmittelbares Wollen, sondern ein reflektiertes Zurückweisen des Nicht-Wollens geht. 5 Vgl. dazu Peetz 1998, XIV–XVI. 6 Vgl. dazu auch Peetz 1998, XXV, dem zufolge »Schellings Neuansatz sich als Auseinandersetzung mit Hegels Logik versteht«.

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tur des Ausgangspunktes« (Schelling 1827/28, 80), wie Schelling eine scheinbar ›empiristische‹ oder ›positivistische Wende‹ vollziehend bemerkt. Als Beispiel für ein solches Missverständnis bezüglich des ›Ausgangspunktes‹ und als gleichsam negativen Beleg dafür, dass diese ›Natur des Ausgangspunktes‹, wie von Schelling selbst anvisiert, in einem ›Positiven‹ jenseits des a priori Denk- und Erkennbaren zu situieren sei, nennt Schelling schon 1827/28 Hegels Beschreibung des Übergangs in die Naturphilosophie als »Abfall der Idee von sich selbst« (Schelling 1827/28, 83). 7 Da es nach Schelling zwar »leicht [ist] in das reine Denken hineinzukommen, schwer aber sich wieder aus demselben herauszuwinden«, so sieht sich Schelling zu der Rückfrage an Hegel aufgefordert, wie die Idee dazu komme, »sich unähnlich zu werden«; denn Schelling macht die Gefahr aus, dass man, indem man »auf solche Art mit der Natur durch einen Begriff fertig wird«, »alles reelle Produciren leugnet.« (Schelling 1827/28, 83 f.) Ähnliches wirft er dabei auch selbstkritisch seinem eigenen früheren »Identitätssystem« vor, das die ›positive Tatsache‹ »falsch a priori d. i. aus der Vernunft darzustellen« suchte (Schelling 1827/28, 93). Insofern die Philosophie aber »Weltweisheit« sei und »die Thatsache der Welt« als ihren »Gegenstand« ausmache (Schelling 1827/28, 87), welcher »nicht blos in dem [den] reinen Verstandesbegriff[en] oder in den Kategorein, auch nicht blos in concreten Begriffen, sondern in der That aus / concreten zufälligen Dingen« bestehe, so sei es denn auch zum einen notwendig, von der »Differenz dieser [konkreten zufälligen Dinge, P. H.] von dem Begriff« auszugehen (Schelling 1827/28, 83). Zum anderen sei innerhalb dieser ›Differenz‹ – wie ex negativo das am hegelschen Übergangsmodell aufgezeigte Problem belege – »dem schlechthin positiven prius« generell die Priorität zuzuerkennen, »wovon ich sagen kann daß es ist und erkennbar weil es ist und insofern a posteriori erkannt wird« (Schelling 1827/28, 85). Allein dieses sei wesentlicher ›Ausgangspunkt‹ oder die ›Natur des Ausgangspunktes‹, nicht aber der dem Denken entstammende Begriff. Wie jedoch Schellings Beispiele für diese Vereinigung von »prius und posterius« zeigen (Schelling 1827/28, 80), ist »die wahre ThatVgl. bei Hegel, GW 13, 110 (§ 192), GW 19, 180 (§ 244) u. GW 20, 231 (§ 244). Vgl. zu den von Schelling (vgl. Schelling 1830, 63) bemerkten Änderungen in den verschiedenen Ausgaben des hegelschen Textes die Anm. 46 des Hg. in Schelling 1827/28, 83 f. Vgl. außerdem zu Schellings Hegelkritik unten, Teil III, Kap. 2.1.2.

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sache« dabei aber nicht als eine äußerlich und statisch vorliegende Gegebenheit zu verstehen, sondern vielmehr als »etwas / Innerliches« (Schelling 1827/28, 86) – was Schelling etwa anhand des »Werk[es] eines Künstlers« zu plausibiliseren sucht, das man zwar »a posteriori […] erkenne«, das aber doch »bei ihm [dem Künstler, P. H.] a priori« sei (Schelling 1827/28, 81). Um welches Phänomen es Schelling mit dieser ›innerlichen Tatsache‹ genau geht, führt er systematisch allerdings erst ab der folgenden 21. Vorlesung unter dem Stichwort einer »Erfahrung im subjectiven Sinn« aus (Schelling 1827/28, 91). Diese Erfahrung verweise auf die »Thatsache«, dass die »Genesis der ganzen Natur […] auf dem Übergewichte [beruht], das fortschreitender Weise vom Objecte zum Subjecte fortgeht […]; was außer dem Bewußtsein gesezt ist, ist daßelbe was in demselben gesezt ist« (Schelling 1827/28, 91). Die gemeinte Erfahrung schließt damit nicht nur die Tatsache ein, dass »in der ganzen Natur weder ein reines Object, noch ein reines Subject [ist]: alles ist Subject-Object« (Schelling 1827/28, 91), und Bewusstseinsimmanentes und -transzendentes sind sich mithin qualitativ nicht gänzlich entgegengesetzt. Vielmehr betrifft jene Tatsache »das Geheimniß des Weltproceßes«, nämlich des »allmälig, stufenweis errungene[n] obwol immer wieder aufs Neue bestrittene[n] Sieg[es] des Subjectiven über das Objective«, der allerdings – anders als Schelling noch in seiner auf reinrationaler Konstruktion basierenden Identitätsphilosophie annahm – »nur geschichtlich [zu] behaupten« sei (Schelling 1827/28, 92). Entgegen seiner zunächst positiven Anschlussnahme an das kantische ›Ding an sich‹ in der 19. Vorlesung vermag Schelling in der 22. Vorlesung daher sogar zu »sagen, es giebt kein Ding an sich« – zumindest kein von subjektiven Formen freies ›Ding an sich‹, sondern lediglich ein »Ding mit der subjectiven Bestimmung«, da »alles Objective […] durch das Subjective / afficirt [sei], [wenn auch, P. H.] nicht durch unser Subject.« (Schelling 1827/28, 96) Dem »blos objective[n], grenzen- und verstandeslose[n] Sein« wird damit nur eine »relative Priorität« und »Inferiorität« zugestanden (Schelling 1827/28, 96 f.); dem Subjektiven oder der »Innerlichkeit« hingegen die »Superiorität« (Schelling 1827/28, 96 f.). Noch in der Darstellung des philosophischen Empirismus von 1836 bemerkt Schelling indessen, dass jene Superiorität oder »jenes Uebergewicht auf Seiten des idealen Princips […] als ein bloß faktisches anzuerkennen« sei, aber keineswegs apriorisch bewiesen werden könne. Schelling unterscheidet in diesem Zusammenhang 1827/28 zwei 259 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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Prinzipien: »1, das blose Sein und 2, das diesem entgegengesezte, die Ursache des Maaßannehmens, des Erkennbarwerdens; […] ein reales und ein ideales Princip.« (Schelling 1827/28, 97 f.) Die zu beschreibende ›Tatsache‹ betrifft dabei weder das eine noch das andere Prinzip, sondern vielmehr deren Verhältnis oder genauer das zu beobachtende »Übergewicht auf Seiten des Ideellen«: »Dieses Factische des Übergewichts bildet die Thatsache« (Schelling 1827/28, 99). Dieses ›Übergwicht‹ ist dem späten Schelling von 1827/28 zufolge nicht rein logisch deduzierbar; beide Pinzipien sind »gleichwertig, aequipollent«: »denn könnte nicht eben so gut wie die Vernunft auch die Unvernunft herrschen?« (Schelling 1827/28, 101) Die Vernunft oder der »νοῦς« als »wollende[r] Verstand[…] oder […] verständige[r] Wille[…]«, wie Schelling Schleiermachers Platon-Übersetzung 1836 korrigierend bemerkt, 8 stellt denn auch eine kontingente »freie Ursache« dar, mithin eine Ursache, die »nicht mehr als Natur oder bloß nach innerer Nothwendigkeit handelnde« vorgestellt werden kann (SW X, 253). Das ›Sich-Durchsetzen‹ der Vernunft bzw. des Idealen sei, so 1827/28, »nicht ein in und aus sich selbst zu verstehendes, sondern ein factisches und wirklich geseztes; also nur ein gewolltes, ein Seinkönnendes, also absolut auch Nichtseinkönnendes und in diesem Sinne zufälliges, weil es eine wahre Ursache voraussezt« (Schelling 1827/28, 101). Diese Ursache bestimmt Schelling dabei als diejenige eines »positiven Willens, der dies gesezt hat« (Schelling 1827/28, 101). Mit dieser Bestimmung etabliert Schelling 1827/28 in mehrfachem Sinne einen gegenüber seiner früheren Philosophie neuartigen, positiv charakterisierten Willensbegriff: Zunächst wird dieser Wille als etwas ›Positives‹ im Sinne eines nur a posteriori nach vollbrachter Tat Erkennbaren oder, kantisch gesprochen, Erscheinenden verstanden, mithin als ein geschichtliches, zufälliges Phänomen, das »selbst nicht mehr […] als Natur nothwendig handelnd ist« und sich Im Gegensatz etwa zu Philosophie und Religion von 1804 (vgl. SW VI, 42 f.) und ansatzweise auch noch der Freiheitsschrift von 1809 (vgl. AA I,17, 178) wird hier klar das aktive Moment des mit dem Willen verbundenen Verstandes dem passiven Moment der Vernunft übergeordnet, was nicht zuletzt eine mit der erneuten Aufwertung des Voluntativen einhergehende Konsequenz in der zweiten Münchener Phase Schellings sein dürfte: »Die Vernunft ist das Princip der allgemeinen Gleichheit, der Verstand ist das Princip der Ungleichheit unter den Menschen; daher gehört jene auf die Seite des Volks, das Volk kann viel Vernunft zeigen, aber Verstand zeigt das Volk als Volk niemals; der Verstand gehört daher vorzugsweise auf die andere, auf die königliche Seite.« (SW X, 254) Vgl. auch die fast wortgleiche »Anmerkung Schellings« in Schelling 1827/28, 102 Anm. 1.

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damit reinrationalem Begreifen entzieht (Schelling 1827/28, 101). So ist, wie es auch 1830 heißt, »jeder Wille nur durch die Tat erkennbar« (Schelling 1830, 107). Obgleich der Wille des Weiteren als ›Ursache‹ bestimmt wird, fungiert er »nicht mehr als Princip« (Schelling 1827/28, 101; vgl. auch SW X, 253), sondern entscheidet lediglich das Verhältnis zwischen zwei ihm vorausgehenden Prinzipien, zwischen dem ›grenzen- und verstandeslosen Sein‹ auf der einen und dem für ›Maßannehmen‹ und ›Erkennbarwerden‹ sorgenden Prinzip der Vernunft oder genauer des Verstandes auf der anderen Seite, indem er de facto zugunsten des letzteren tätig wird. Der Wille ist damit weder wie im Frühidealismus und selbst noch in Schellings ›mittlerer‹ Philosophie alleiniges und konkurrenzloses Prinzip, noch wird ihm wie noch in den Weltaltern und der Erlanger Vorlesung sein Tätigwerden zugunsten von Begrenzung als etwas Negatives angelastet – sorgt doch dieses gerade dafür, dass Maß und ›Vernunft herrschen‹. Schelling korrigiert damit entschieden die durchaus problematische, generell negative Einschätzung des Willens innerhalb seiner ›mittleren‹ Philosophie. Gleichwohl kann dieser Willensbegriff in zumindest einer Hinsichten in einer Kontinuität mit den vorausgegangenen willenstheoretischen Überlegungen betrachtet werden: In einer Linie mit der Figur des ›Ungrundes‹ 1809, dem ›nicht(s) wollenden Willen‹ in den Weltaltern sowie dem ›indefiniblen‹ Absoluten als ›ruhendem‹ Willen 1821 wird nämlich der Wille auch 1827/28 als ein an sich nicht Erkennbares und nur a posteriori aus seiner Wirkung Erfahrbares verstanden, auch wenn sich diese Charakterisierung nun gerade auf den tätigen, bestimmten Willen bezieht. 9

Nur drei Jahre später in seiner Vorlesung Einleitung in die Philosophie aus dem Sommersemester 1830 betont Schelling des Weiteren ausdrücklich die Kontinuität mit den Ausführungen der Freiheitsschrift und der Weltalter hinsichtlich eines ›verstandlosen‹, ›Sucht‹-artigen Willens: »Ich bezeichnete vor vielen Jahren eben dieses Wollen mit Sucht, um gleichfalls auf diese Weise ein blindes verstandloses Sein auszudrücken.« (Schelling 1830, 86) Indessen ist dieses ähnlich wie 1809 als »Urprinzip des Seins im Sein« begriffene Wollen »ein blindes, gegenstandloses Wollen, indem jenes erste nichts zum Wollen hat, also bloß will, um zu wollen, ohne daß es etwas will« (Schelling 1830, 86). Genau aus diesem Grund, dass es ein ziel- und vernunftloses Wollen darstelle, sei es »ein maßloses, unendliches Wollen«, das strukturell mit einer ›Sucht‹ zu vergleichen sei (Schelling 1830, 86) – und nicht wie noch in der ›mittleren‹ Philosophie aufgrund der ihm eingeschriebenen, aus einer ›Anziehung‹ des Seins resultierenden Begrenztheit. Auch hier zeigt sich mithin, selbst in Schellings Betonung der Kontinuität, noch dessen Distanz zur eigenen ›mittleren‹ Philosophie.

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1.2. Der Wille als ›Herr des Seins‹ Dass Schellings positive Philosophie wesentlich auf »die im Christentum geoffenbarte, aber keineswegs begriffene Geschichtlichkeit des Absoluten« 10 zurückgreift, wie Siegbert Peetz bemerkt, hat gerade darin seinen Grund, dass Schelling die nicht reinrational deduzierbare ›Tatsache‹ eines ›Übergewichts‹ des Ideellen über das Reelle oder der Vernunft über die Unvernunft und den dieser ›Tatsache‹ zugrundeliegenden Willen par excellence sich nicht anders realisiert denken kann als durch ein über Bewusstsein verfügendes, vernünftiges Wesen, nämlich durch »Gott« als »Ursache alles wirklichen Seins« (Schelling 1827/28, 102): 11 Denn – so bemerkt Schelling bereits in der dritten Vorlesung zur Erläuterung des Unterschiedes zwischen »geschichtliche[m]« und »logischem Zusammenhang« – »Gott hat die Welt freiwillig erschaffen – wodurch kein logisches factum ausgesprochen, sondern eine That gegeben ist.« (Schelling 1827/28, 11) Diese ›Tat‹ zeigt sich dabei Schelling zufolge nur anhand der ›Tatsache‹ des Übergewichtes des ideellen über das reelle Prinzip. Da »in der Natur der Principien nichts von einem Übergewichte oder einem Siege enthalten ist«, könne dieses nur auf »ein gewolltes, ein verursachtes, ein mit Verstand geseztes«, also eine »bewußte[…] Ursache« zurückgeführt werden (Schelling 1827/28, 104). Interessant ist hierbei nun mit Blick auf Schellings ›mittlere‹ Philosophie, wie diese ›bewusste Ursache‹ von Schelling in der 24. Vorlesung weiter bestimmt wird. Als diese Ursache sei Gotte nämlich »der Herr des Seins, der Herr des gränzenlosen [sic] und begrenzten Seins« (Schelling 1827/28, 105). Den Begriff des ›Herrn‹ interpretiert Schelling dabei – insbesondere unter Bezugnahme auf Newton (vgl. Schelling 1827/28, 106) 12 – nicht nur als einen Relationsbegriff, welPeetz 1998, X. Vgl. auch die parallelen Ausführungen in der Darstellung des philosophischen Empirismus (1836) in SW X, 254: »Die einzige in der Sprache vorhandene Benennung, welche wir dem Begriff jener Ursache angemessen glauben können, der wir das Uebergewicht des Subjektiven über das Objektive zuschreiben, ist der Name Gott.« 12 Schelling bezieht sich hierbei auf Newtons Schrift Philosophiae naturalis principia mathematica, der zufolge Gott eine »vox relativa (relativer Begriff)« sei (Newton 1713, 482 / Newton 1999, 513). Schelling führt zwar schon in der 33. der Erlanger Vorlesungen von 1821 mit Bezug auf diese Stelle bei Newton den Begriff Gottes als »Herr[n] von etwas« ein (Schelling 1821, 152 / vgl. MS 284b). Jedoch geht es Schelling dort lediglich um die Entfaltung seiner These, dass Gott die »Identität des Un10 11

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cher notwendig ein Korrelat erfordert, sondern weit radikaler als einen solchen Begriff, der gänzlich in dieser Relationsstiftung aufgeht: »Gott als solcher ist gar nichts in sich; er ist nur reine, lautere Beziehung.« (Schelling 1827/28, 105) Diese ›absolute Relationalität‹ des göttlichen Wesens impliziert indessen – wie Schelling in Antizipation eines plessnerschen Ausdrucks formuliert 13 –, dass Gott keine statische, auf sich selbst bezogene Substanz und mithin »nicht centrum, sondern wesentlich / excentrisch [ist] d. h. als Gott ist er nicht das Nothwendige, sondern das nur Seiende, deßen Sein ein grundloses [* i. e. abgründiges] ist« (Schelling 1827/28, 105). Was Schelling in seiner ›mittleren‹ Philosophie noch allein den Figuren von Gelassenheit und ›Ekstase‹ zugetraut hatte, nämlich eine Abstandnahme von sich selbst zugunsten einer Offenheit für ein Anderes, sieht er nun im Wollen selbst gegeben, zumindest in demjenigen Gottes, insofern »diese Ekstasis eine gewollte ist«, wie es 1830 im Unterschied zur Erlanger Vorlesung nun in aller Deutlichkeit heißt (Schelling 1830, 107). 14 Gott wird dabei in seinem ›grundlosen‹ oder – wie die Nachschrift von 1827/28 in einer Anmerkung präzisiert (vgl. Schelling 1827/28, 105 Anm. 1) – ›abgründigen‹ Sein sogar noch in eine systematische Nähe zum Motiv des ›Ungrundes‹ von 1809 gerückt, das damals noch in einer Spannung zu dem ›Wollen als Ursein‹ stand,

endlichen und des Endlichen« ist (MS 284a / vgl. Schelling 1821, 151). Die Bestimmung Gottes als einer selbstlosen, reinen ›Bezogenheit‹ des Willens hat Schelling 1821 im Zusammenhang seiner Gelassenheitskonzeption noch nicht im Blick. 13 Bei Plessner ist der Begriff der »Exzentrizität« zwar wesentlich auf »die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld« beschränkt (vgl. Plessner 1928, 360–365, Zitat 364), und das ›Absolute‹ und der ›Weltgrund‹ werden von Plessner gerade als »Gegengewicht gegen die Exzentrizität« des Menschen angesehen (Plessner 1928, 424). Doch geht Plessner zugleich, ähnlich wie Schelling, von einer »Wesenskorrelation« zwischen beiden aus: »Dem Antropomorphismus der Wesensbestimmung des Absoluten entspricht notwendig ein Theomorphismus der Wesensbestimmung des Mesnschen« (Plessner 1928, 424). 14 Die Einleitung in die Philosophie von 1830 vollzieht dabei auch eine Abkehr von tragischen Konzepten der ›mittleren‹ Philosophie insbesondere in Erlangen, die gerade in der ›Seinsannahme‹ einen ›unwillkürlichen‹, tragischen Akt sah: »Gott, der auch an und vor sich lauteres Wesen ist, ist durch dieses [angenommene, P. H.] Sein, zufolge einer willkürlichen Existasis außer dem Wesen. Diese Freiheit aus sich herauszugehen, kann man Gott nicht absprechen, ohne ihm alle Freiheit der Bewegung zu nehmen. Bewegung oder Leben besteht nur in der Freiheit sich selbst ungleich zu werden, freilich nicht darin, in der Ungleichheit zu beharren, sondern vielmehr sich selbst, wieder gleich zu werden« (Schelling 1830, 106).

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die nun aber infolge der Neufassung des Willensbegriffes aufgehoben zu werden vermag. Da aber Gott »nicht in der / Abstraction vom Sein Gott« zu sein vermag, könne er in jenem ›Herrsein‹ nicht aufgehen und müsse auch das Sein als ein »Nichtnichtseinkönnende[s]« sich zurechnen (Schelling 1827/28, 107). Damit wird Gott aber – wie bereits seit der Freiheitsschrift – als eine »nothwendig bewegliche Einheit« oder eine in sich differenzierte Identität vorgestellt, die aus dem »Herr[n] des Seins + dem Sein« besteht (Schelling 1827/28, 107). Gleichwohl sind in dieser ›beweglichen Einheit‹ Schelling zufolge nicht gleicherweise beide Strukturen. Vielmehr ist Gott im eigentlichen Sinne als ›Herr des Seins‹ oder »Wille dieses unbegrenzte Sein nicht wirklich zu sein«; und »als dieser Wille ist er Gott«, selbst wenn er dabei »das von Natur unbegrenzte Sein als begrenztes Sein in sich enthält« (Schelling 1827/28, 116 f.). Ähnlich wie in der Bewegung der ›Scheidung von sich‹ in den Weltaltern stellt somit der eigentliche göttliche Wille 1827/28 – selbst noch als ›bloß stiller Wille‹ – einen Willen zur (Selbst-)Überwindung dar: Sogar »durch den blosen stillen Willen ist es [das unbegrenzt Seiende, P. H.] ihm unterthan« (Schelling 1827/28, 116). Schelling sucht dies mit Blick auf die unterschiedlichen Charakterisierungen des alt- und neutestamentlichen Gottes zu verdeutlichen: »Wie ein anderer Gott im N.T. und ein anderer im A.T. und doch derselbe Gott, so ist ein anderer Gott der die blinde Macht zu sein ist, und ein anderer der der Wille ist das blinde Sein nicht zu sein.« (Schelling 1827/28, 123) 15 Diese ›blinde Macht zu sein‹ sei hierbei ein »substanzielle[r] Wille«, der aber in seiner bloßen, distanzlosen Seinsbehauptung gerade »nicht ein göttlicher Wille«, sondern vielIn der Einleitung in die Philosophie von 1830 wird indessen unter impliziter Bezugnahme auf die alttestamentliche Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14 Gott generell als der »Wille, der zu sein, der er sein wird«, bestimmt; so sei das »Sein Gottes […] ein selbstgegebenes, das er nur ist, inwieweit er es will« (Schelling 1830, 103). Und wenig später wird dieser Begriff Gottes ganz unmissverständlich als Auslegung von Ex 3,14 angeführt: »In diesen Büchern [des Alten Testaments, P. H.] ist es, wo Gott zu dem großen Gesetzgeber des alten Bundes, als ihn dieser um seinen Namen fragt, sagt: Ich bin, der ich sein werde. Was heißt dieses anders, als ich bin, was ich bin, nicht substantiellerweise, sondern durch Willen und Tat, oder ich bin nichts anders, als der Wille zu sein, der ich sein werde. Gott ist also der Wille, nicht der zu sein, der er ist, sondern der er sein wird. […] Gott ist daher weder tote Substanz des Spinoza, noch lediglich notwendig sich selbst setzende Substanz des neuern Idealismus« (Schelling 1830, 104).

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mehr ein »nichtseinsollender« Wille oder genauer ein »göttlicher Unwille« darstelle (Schelling 1827/28, 123 f.). 16 Demgegenüber »bedarf« der Wille, so Schelling, »nur zu wollen, etwas nicht zu wollen«; dies sei »etwas Höheres«, der »eigentlich göttliche[…] Wille[…]« (Schelling 1827/28, 124). So werde der »blos natürliche Wille […] ursprünglich nur gesezt um in seiner Wirkung verneint werden zu können; […] als nichtwollend.« (Schelling 1827/28, 127 f.) Damit sei er aber »zur Vergangenheit Gottes geworden« (Schelling 1827/28, 129), wie Schelling in Wiederaufnahme einer Figur aus den Weltaltern erläutert. Doch Schelling bleibt hier in seinen Reflexionen zum Begriff des göttlichen Willens nicht stehen. Andernfalls würde der höhere, eigentlich göttliche Wille gänzlich »auf[gehen] in dem negiren« des seinsbehauptenden Willens (Schelling 1827/28, 132). Die Pointe besteht nur darin, dass Schelling diese Überwindungsbewegung nicht als eine solche hin zu einer völligen Seinstranszendenz versteht. Vielmehr steht Schelling zufolge die göttliche »Macht zu sein […] zwar über dem Sein, […] aber sie ist nicht so über dem Sein daß sie nicht in das Sein herabsinken könne«; sie sei vielmehr die »Freiheit zu sein und nicht zu sein« (Schelling 1827/28, 132): »Gott ist«, so fasst Schelling zusammen, »der Wille als Geist zu sein, als das/der ewige bei sich sein/Seiende, das/der im Äußerlich-sein nicht aufhört in sich zu sein und dem es freisteht das Seiende selbst zu bleiben.« (Schelling 1827/28, 132) Diese damit gegebene Möglichkeit der Abstandnahme von einem unreflektierten Übergang in das Sein hat denn auch zur Konsequenz, dass das infolge dieses Willens Gesetzte kein bloßes ›Dass-Sein‹ ist, sondern ein Sein mit einem ›Wert‹ oder genauer Sinn, ein Sein mit einem ›Was‹. Denn »[d]as Sein als solches hat […] keinen Werth; Werth hat nur das was ist« (Schelling 1827/28, 133). Mit dem sich zurückhalten könnenden Willen wird so auch erstmals etwas Sinnhaftes, Vernünftiges gesetzt, sodass mithin »Gott […] die Ursache der Vernunft« und damit jenes innerweltlichen Übergewichtes des Ideellen ist, von dem oben die Rede war (Schelling 1827/28, 132). Durch diese Setzung von Sinn befreit sich der Wille nicht zuletzt auch aus seiner ursprünglichen, distanzlosen Selbstfixierung und »deutet«, wie die Struktur der ›Scheidung‹ in den Weltaltern, »auf Vgl. zum Begriff des ›Unwillens‹ auch insbes. Schelling 1831/32, 128 u. 654–658, wo das »Prinzip des Unwillens« sogar mit dem Bösen und »Satan« in Verbindung gebracht wird.

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eine Zunkunft hin« (Schelling 1827/28, 134). Mit dieser Lösung von der ursprünglichen Selbstfixierung geht aber keine Selbstverleugnung einher; sei doch gerade umgekehrt »die Substanz […] selbstisch, sie muß sich immer mit sich selbst beschäftigen. Gott denkt aber in jenem Willen nicht an sein eigenes Sein, sein Sein ist ihm gleichgültig.« (Schelling 1827/28, 134) Anders als noch in Schellings ›mittlerer‹ Philosophie, in der dem Willen beinahe durchgehend jene ›Selbstfixierung‹ angelastet wurde, verdankt sich diese Selbstüberwindungsbewegung gerade dem »Wille[n] als Geist zu sein«, den er dabei nochmals von dem »Geist selber« unterscheidet (Schelling 1827/28, 138). So sei die »1ste[…] Potenz […] jenes unbeschränkte Sein«, das »seiner Natur nach nur seinkönnend« ist; dieses werde durch die zweite Potenz als den »dem blinden Sein entgegengesezte[n] Wille [n]« überwunden, der aber »nicht Wille im Gegensatz von Wollen ist, sondern nur Wille«, weshalb dieses voluntative Moment aber »in der Potenz keine Wahl zu wirken oder nicht zu wirken [hat], es muß wirken um den lauteren actus herzustellen; es ist das Seinmüssende« (Schelling 1827/28 139 f.). Erst über diese ›Zwischenstufe‹ werde »das von allem Wirken freie«, der Geist als »das Seinsollende« erreicht, der als Wille nochmals eine Distanz zu seinem Wollen aufzubringen vermag. Hier sind die Willensreflexionen nun auch bei dem Willen Gottes als des »Schöpfer[s]« angelangt, der derart frei ist, dass es ihm auch »zu[steht] diesen natürlichen Willen […] frei hervortreten zu laßen«; nichts hindere die Gottheit außerdem daran »diesen natürlichen Willen zum Verhüllenden ihrer Gottheit zu machen, nicht vermöge des natürlichen, sondern des göttlichen Willens.« (Schelling 1827/28, 140 f.) Diese »gleichsam göttliche[…] Verstellungskunst« (Schelling 1827/28, 141) oder »Ironie« (Schelling 1827/28, 144) ist gewissermaßen das Höchste, was an Freiheit aufgebracht werden kann: Indem Gott selbst einen seiner eigentlichen Intention entgegengesetzten Willen zu fassen vermag – auch wenn dieser trotz gegenteiligen Anscheins möglicherweise letztlich doch auf die eigentliche Absicht hin ausgerichtet sein mag –, beweist er sich als wahrhaft frei Wollender, dem die Fähigkeit zukommt, sich gänzlich von sich selbst zu distanzieren und sich selbst zu überwinden. 17 Gerade in dieser radikalen Selbstüberwindungsbewegung eines Willens, der zugleich als wert- und sinnsetzend sowie schöpferisch 17

Vgl. dazu auch Gerlach 2016, 59–62.

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(bis hin zu einem Handeln aus ›Ironie‹) verstanden wird, zeigt sich dabei eine gewisse Nähe zu Nietzsches Konstruktion eines ›Willens zur Macht‹. 18 Zwar kann mit Blick auf Schelling, anders als im Falle Nietzsches, noch keineswegs von einem »Verlust der Metaphysik der Vernunft« gesprochen werden, 19 insofern doch Schelling jenen Willen gerade aufgrund der aposteriorisch belegbaren Tatsache annimmt, dass ›nicht eben so gut wie Vernunft auch die Unvernunft herrsche‹, was ihm zufolge allein anhand einer vernünftigen und willensmäßigen Ursache als denkbar erscheint. Wie jedoch im abschließenden Teil dieser Untersuchung zu Heidegger noch auszuführen sein wird, hat Letzterer gleichwohl nicht gänzlich zu Unrecht gerade bezüglich ihrer Willensdiskurse eine Nähe zwischen Schelling und Nietzsche konstatiert. 20

1.3. Pluralisierung und Hierarchisierung im Wollen als der ›Materie, woraus alles gemacht ist‹ Diese voluntative Überwindungsbewegung ist indessen nicht derart zu verstehen, als würde hier gleichsam ein uniformer ›Wille zur Macht‹ alle ihm gegenüber äußerlichen Willensformen gänzlich negieren. Vielmehr macht Schelling gerade in der Entfaltung des schöpferischen, ›ironisch‹ sich verstellenden Willens eine Pluralisierung in verschiedene nebeneinander existierende Willen vorstellig. Dies zeigt Schelling bereits in aller Deutlichkeit in der 32. Vorlesung an, wenn er – zunächst überraschend – gegenüber den bereits skizzierten drei, einander überbietenden Willensformen in Gott, die den drei Potenzen des Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden entsprechen, nochmals einen vierten Willen geltend macht: Wenn man sich der Vollständigkeit aller schöpferischen Potenzen versichert, so erkennt man ferner daß diese Potenzen nicht zufällig sich finden und zufällig verkettet sind, sondern daß vielmehr diese Principien aus einer usprünglichen Einheit ausgeschieden, daß diese Einheit in der Trennung und Ausscheidung eben so gut bestehe, wie zuvor. Eine solche Einheit tritt aber nur im Willen ein. Nur der Wille kann um den Zweck zu wollen, auch das Mittel (den Nichtzweck) wollen. Nur der

18 19 20

Vgl. Gerhardt 1996 u. 2011. Schulz 1972, 413; i. Orig. Herv. Vgl. unten, Teil IV, Kap. 7 u. Kap. 8.2. Vgl dazu auch Osterwald 1972.

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Wille ist das schlechthin unzerreißbare, von dem man sagen kann er sei die Einheit der Einheit und des Gegensazes. (Schelling 1827/28, 142)

Wie schon 1821 in Erlangen erläutert Schelling die höchste Willensform in Anlehnung an eine auf Hegels Differenzschrift (vgl. DS, GW 4, 64) zurückgehende Formel als ›Einheit der Einheit und des Gegensatzes‹. Jedoch handelt es sich bei diesem Willen nun nicht mehr um einen ›gleichgültigen‹, gegenstandslosen Willen wie noch 1821. Vielmehr ist es ein aktiver »Wille der diese [schöpferischen, P. H.] Potenzen in Spannung sezt und zusammenhält.« (Schelling 1827/28, 144) Indem »das Princip des blinden Seins als solches hervorgetreten« ist und »gegen dies Princip […] die zwei höheren in Spannung« getreten sind, fällt gerade jenem höchsten, vierten Willen, insofern er die anderen drei Pinzipien oder Willen »als Potenzen gesezt« hat, die Aufgabe und das Vermögen zu, deren Zusammenbestehen zu gewährleisten (Schelling 1827/28, 144). Während die anderen Willen alle gegenseitig aufeinander angewiesen sind – insofern etwa der erste blinde Wille durch den zweiten zu begrenzen ist und erst infolgedessen der seinsollende dritte Wille hervorzutreten vermag –, ist der graduell höhere, vierte Wille »außer aller Spannung« und darin »der geistigste, aller Substanzialität ledigste«, er ist »in ihnen [den anderen Willen, P. H.] ohne sie selbst zu sein«; durch diesen Willen sei Gott »absolut der Geist« (Schelling 1827/28, 145). 21 Gleichsam im Sinne der ›second-order volitions‹ nach Frankfurt fungiert dieser höchste Wille als der im Hintergrund alles regierende, dabei aber gleichwohl nicht erscheinende »innere[…] Wille« eines »äußere[n] Wille[ns]«, wie Schelling mit Bezug auf Eph 1,11 anmerkt (Schelling 1827/28, 144). Allein durch diesen sich entziehenden und alles beherrschenden Willen sei es Gott möglich, »daß er das, was er aus freiem Entschluß wollte, durch das Gegentheil offenbarte« (Schelling 1827/28, 144). Ermöglicht wird dieses Sich-Offenbaren durch sein Gegenteil mithin durch die intentionale Struktur, den ›Entschluss‹ des göttlichen »Willen[s], diesen Willen in dem seine wahre Gottheit ist, zu offenbaren« (Schelling 1827/28, 145), auch wenn der letztere Wille den ersteren scheinbar konterkariert und ›verschleiert‹. Hierzu erlaubt es die göttliche Intention selbst, jenen Willen in zwei unterschiedliche, graduell abgestufte Willen zu spalten – nämlich in den »Wille[n]« des Vgl. zur Erklärung dieser scheinbaren ›Verdoppelung‹ der Geiststruktur in jenem vierten Moment gegenüber den drei Potenzen bereits Schulz 1972, 384.

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Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen

»Erstgeborene[n] aller Kreatur« und denjenigen »des unsichtbaren Gottes«, dessen »Bild« der erstere ist (Schelling 1827/28, 146). Diese indirekte Offenbarungsbewegung des eigentlichen Willens durch einen entgegengesetzten vollzieht sich dabei »um eines anderen willen«, insofern Gott »es für sich nicht nöthig [hat], er ist sich seines Willens sicher.« (Schelling 1827/28, 143) Derart vermöge Gott jedoch, wie Schelling mit Blick auf die biblische Gestalt des Hiob und in Antizipation Kierkegaards betont, 22 »den Ernst des ihm Ergebenen [zu] prüfen« (Schelling 1827/28, 144), dem er denn auch in und durch die willentliche Verbergung seines eigenen Willens selbst einen freien Willen zugesteht. Die Figur eines sich verstellenden und dabei sich in seiner eigentlichen Intention entziehenden Willens erlaubt es Schelling gerade einen anderen Willen gegenüber dieser Struktur gelten zu lassen, ohne dass einer dieser Willen sich in gänzlicher Gelassenheit üben und sich derart gänzlich negieren müsste. 23 Gleichwohl scheinen die Ausführungen ab der 36. Vorlesung, wo Schelling nun gerade versucht, jenen vierten und höchsten Willen als Ausgangspunkt von allem zu explizieren, dem zunächst einmal zu widersprechen. Schelling betont hier nämlich wie schon in den Weltaltern, »Gott sei an sich […] der nichtswollende und nichtsverlangende Wille.« (Schelling 1827/28, 162) Doch dieser »im unzugänlichen Lichte« wohnende Wille – wie Schelling in Anspielung auf Vgl. dazu Theunissen 1955. Ohne derart stark wie 1827/28 das Moment der göttlichen ›Ironie‹ zu betonen, nutzt Schelling auch 1830 eine analoge Argumentationsfigur, um »eines der schwierigsten Probleme der Philosophie« zu lösen, »die Schwierigkeit, die man bis jetzt für unüberwindlich hielt, die Freiheit des menschlichen Willens nämlich, mit der göttlichen Kausalität zu vereinigen; für so schwierig hielt man die Lösung dieses Problems, daß eine frühere Philosophie [diejenige Fichtes, P. H.], um diese Freiheit zu retten, alles durch das Ich setzen ließ.« (Schelling 1830, 133) Für Schelling ist hingegen »[d]iese Schwierigkeit […] einzig und allein dadurch aufzulösen, daß die Freiheit nicht durch Position, sondern durch Negation zustande komme.« (Schelling 1830, 133 f.) Diese Negation besteht nach Schelling in einer als ›Katabolé‹ verstandenen Überwindungsbewegung der tieferen Potenz durch die jeweils nächsthöhere (vgl. dazu auch unten, Teil III, Kap. 2.2.2). Die vorausgegangenen Potenzen oder Prinzipien der Natur werden dabei nicht vollständig negiert und ermöglichen somit eine ›freie Beweglichkeit‹ untereinander und vor allem im Bezug auf den »höchsten Moment« des Prozesses, den Menschen: »Weder vermöge des ersten, noch des zweiten Prinzips allein ist Freiheit möglich, nur durch die Vereinigung beider entsteht eine freie Beweglichkeit zwischen beiden, und innere Unabhängigkeit von Gott, so daß das Vierte wahrhaft eine zweite Gott[heit], eine ebenso absolute, freilich gewordene, Freiheit, wie Gott ist« (Schelling 1830 134).

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

1 Tim 6,16 anmerkt – sei »eigentlich in der Substanz Gottes, in dem Negativen Gottes. Als dieses würde er als ein bloses Es erscheinen.« (Schelling 1827/28, 162 f.) Mit diesem unpersönlichen göttlichen Willen ist mithin noch nicht der eigentliche, theistische Gott gegeben, der durch den »positive[n] Begriff des nichtswollenden Willens« charakterisiert sei, nämlich den »wollenkönnende[n] Wille[n], er ist es, der jenes Nichtswollen, jenen stillen Gott wie einen Glanz um sich verbreitet« (Schelling 1827/28, 163). Schelling versucht hier jenen mit dem Begriff des ›Herrn des Seins‹ bzw. des Geistes gewonnenen Freiheitsbegriff mit dem Gelassenheitsdenken seiner ›mittleren‹ Philosophie zu vermitteln. 24 Die Freiheit, zu wollen und nicht zu wollen, soll gerade durch und mithilfe des Nichtswollens als der ›Substanz Gottes‹ in seiner Distanz gegenüber dem Wollenmüssen sichergestellt und von diesem abgehoben werden. Dies hat jedoch zur Folge, dass ganz im Sinne der Weltalter die »Freiheit […] zu wollen«, also die konkrete Verwirklichung der Freiheit, damit gleichgesetzt wird, »sich selbst ungleich zu sezen«, und somit zu der »große[n] Dißonanz, mit der alles anfängt«, führt, sodass der (erste) Anfang wie schon 1811 dasjenige darstellt, »das unmittelbar um seiner selbst willen nicht sein sollte« (Schelling 1827/28, 163). Anders, als noch zu Anfang der Weltalter-Fragmente durchweg kritisch betont wurde, sei Gott indessen in seinem anfänglichen Wollen »nicht ein etwaswollender« (Schelling 1827/28, 163), der sich darin etwa seiner Freiheit berauben würde. Gleichwohl wird 1827/28 sein Wollen auf andere Weise als negativ charakterisiert, insofern es »gegenstandslos, ziellos und in sofern [sic] auch grenzenlos, und so […] sein Wille ein blindwollender« sei (Schelling 1827/28, 163). So bestimmt Schelling dieses »blose Wollen als das ἄπειρον, das absolut Verstandlose, das wahre Kantische Ansich, das noch nicht mit dem Verstande ergriffen und in Begriffe gefaßt werden kann« (Schelling In der Einleitung von 1830 wird diese Tendenz von Schelling sogar noch verstärkt, wenn er in Anlehnung an die Weltalter (vgl. z. B. WA III, 217; SW VIII, 236) betont: »denn nichts begehren, nichts wollen ist der Himmel.« (Schelling 1830, 109) Doch auch dieser Willensbegriff wird als Resultat einer selbstreflexiven, wissenden Überwindungsbewegung gefasst: »Da er [der Wille, P. H.] zuvor Nichts war, und nichts wußte, wird er jetzt zum Wollen, Wissen, (denn Wissen heißt soviel als gegenständlich machen, was wieder ein Wollen voraussetzt) zum Wissen also, um sein ursprüngliches Nichtwollen, sich selbst wiederherzustellen in seinem vorigen Himmel. […] Gott an und vor sich ist der absolut spannungslose Wille.« (Schelling 1830, 109) Vgl. zu dieser willentlichen Bewegung, die »die höchste Spannung« des ›Prozesses‹ überwinden soll, auch Schelling 1830, 127.

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1827/28, 162). Von diesem verstandlosen Wollen, in dem der ›Wille der Sehnsucht‹ aus der Freiheitsschrift anklingt, kann aber anders als noch 1809 Gott »nur ein anderer […] befreien«, auch wenn »außer ihm […] nichts sein [kann] außer daß er es selbst sezt.« (Schelling 1827/28, 164) In Wiederaufnahme der bereits seit den Weltaltern bekannten Figur der »Zeugung« wird so die Setzung von »2 Persönlichkeiten« angenommen, »die eine aus der anderen, wovon die eine die unbegrenzt wollende, die andere ihrer Natur nach die blos gelaßene ist.« (Schelling 1827/28, 165) Die zentrale »Function[…] des Sohnes« und des in ihm gesetzten gelassenen Wollens ist es somit »dieses Wollen [des Vaters, P. H.] fortwährend zur Ruhe zu bringen« (Schelling 1827/28, 169). Der Sohn stellt damit gewissermaßen »das in sich selbst zurückgebrachte Wollen«, den »Urstand, Verstand« dar, der »das Ende des blinden Wollens« ist (Schelling 1827/28, 200). 25 Da aber jener blinde Wille des Vaters »beständig gestillt doch immer dieser Wille wird« und damit fortwährend im Hintergrund präsent bleibt, werden in dessen »blos blinde[m] Sein die Potenzen hervorgebracht« – und damit auch die gesamte Schöpfung (Schelling 1827/28, 169). Auch hiermit sucht Schelling mithin an 1809 anzuschließen: »Schon in meiner Schrift vom Wesen der menschlichen Freiheit sagte ich«, so erklärt Schelling in derselben Vorlesung 1827/28, »[d]as Ursein ist das Wollen und es giebt kein anderes Sein als das Wollen« (Schelling 1827/28, 169). 26 Dass »alles Sein nur Wollen ist« (Schelling 1827/28, 173), versucht Schelling hierbei des Weiteren auch unter Bezugnahme auf Kants ›bewegende Kräfte der Materie‹ in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zu plausibilisieren (vgl. MAN, AA IV, 498–500): 27 Die repulsive oder extensive Kraft, welche Kant als eingeschränkt von der Attraction als die ursprüngliche sezt, ist nur ein blindes Wollen. Wille und Wollen ist die Materie woraus alles gemacht ist. Als zweites Moment ergab sich daß jedes Wollen, wenn auch als resistirendes, doch ein überwindliches sei, daher in die Potenz, in das Können zurückzuführendes ist. Das dritte Moment war, daß wirklich durch eine zweite UrVgl. zu dem wohl von Böhme entlehnten Begriff des ›Urstandes‹ und dessen auch etymologischer Verknüpfung mit dem des Verstandes bereits Schelling 2002, Bd. 2, 299 u. MS 241b / Schelling 1821, 122. 26 Vgl. AA I,17, 123. Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.1.1. 27 In diesem auch die Materie als Ausdruck des Wollens interpretierenden Sinne heißt es auch 1830: »Die Entstehung des Weltsystems ist das Phänomen des Materie=werdens, des bis jetzt reingeistigen, feurigen Willens« (Schelling 1830, 129). 25

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

sache in jenem Bewußtsein eine Potenz hervorgebracht wird, welche eine Negation jenes Seins ist und eine freie Beweglichkeit erhält. (Schelling 1827/28, 173)

Schelling überträgt diese drei genannten Momente, wie oben an den zwei Persönlichkeiten von Vater und Sohn bereits gesehen, nicht allein auf die drei Personen der christlichen Trinität, wobei das »lezte Herrsein […] nur ein Drittes« sein kann, »das frei ist, frei nemlich als Geist« (Schelling 1827/28, 172). Gleichzeitig identifiziert er diese drei Momente auch mit den aristotelischen Ursachen von »causa materialis, formalis et finalis«: »Der Vater ist die Persönlichkeit aus welcher alles ist, der Sohn durch welche alles ist und der Geist der terminus ad quem, das Ziel nach dem alles gebildet wird.« (Schelling 1827/28, 174) Obgleich hier den verschiedenen Willensaspekten – durch deren Personifizierung im Zuge ihrer Deutung auf die göttliche Trinität hin – sogar ein Eigenrecht und eine Universalität zugesprochen wird, so gilt für Schelling aber doch als der eigentliche »Himmel […] der sich selbst besitzende, also nichts wollende Wille« (Schelling 1827/28, 175; vgl. Schelling 1827/28, 179). Damit wird hier aber wieder jener oben angesprochene vierte, ›nichtswollende Wille‹ (vgl. Schelling 1827/28, 162) als das Höchste installiert. Blickt man ausschließlich auf diese späten Passagen der Vorlesung von 1827/28, so muss man mithin konstatieren, dass der nichts wollende, gelassene Wille wie schon in der ›mittleren‹ Philosophie weiterhin als das Superiore verstanden wird. Auch wenn Schelling 1827/28 etwa in Form des ›bloß stillen Willens‹ (vgl. Schelling 1827/28, 116), wie gesehen, 28 bereits Versuche unternimmt, das gelassene Wollen als eine ›Spielart‹ des freien, wirklich wollenden Willens zu verstehen, so führt Schelling hier noch nicht bis ins Letzte jene Synthese durch, sondern grenzt doch wieder beide ›Willensformen‹ scharf voneinander ab. Eine andere Perspektive weist demgegenüber gerade die Darstellung des philosophischen Empirismus von 1836 auf, wenn Schelling darin die Freiheit zu wollen auch noch klar auf das Nichtwollen hin ausdehnt: Denn gleichwie ein Wille das einzige eigentlich widerstehen Könnende, so ist auch der Wille das einzige einer eigentlichen Ueberwindung Fähige. Ein Wille, wie er aus sich selbst als Wollen hervortritt, kann ebenso wieder in Nichtwollen zurückgebracht, ja zuletzt ganz als Nichtwollen –

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Vgl. oben, Teil III, Kap. 1.2.

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Die erneute Aufwertung des Wollens in den Münchener Vorlesungen

wieder als ruhender Wille, als reine Potenz gesetzt werden. (SW X, 277 f.)

Das Nichtwollen wird hier zu einer bloßen ›Option‹ wirklich freien Wollens, was denn auch mit Blick auf die oben entfaltete Figur des ›Herrn des Seins‹ eine gänzlich folgerichtige Konsequenz darstellt. 1827/28 hingegen, in der gleichsam genetischen Entfaltung seines neu gewonnenen Willensbegriffes im Kontext der Trinitäts- und Schöpfungslehre zu Ende der Vorlesung, fällt Schelling wieder hinter den gänzlich neuen, an der Figur des ›Herrseins‹ erläuterten Willensbegriff zurück, wenn er das Nichtwollen nochmals als Höheres gegenüber allem wirklichen Wollen abhebt. Dass die Vorlesung diesbezüglich als ein Übergangs- oder Durchgangswerk verstanden werden kann, zeigt auch nochmals das ›Changieren‹ einer Passage ganz zu Ende des Vorlesungszyklus’ von 1827/28: So ist auffällig, dass Schelling in der 44. Vorlesung, »wirkliche Zeit«, die »gleich der Folge a + b + c etc.« sei und damit erst wirkliche Zukunft als etwas wahrhaft Neues und Anderes eröffnet, gerade im Austrag der »2 Willen« von Vater und Sohn und nicht in der Hinwendung zum Nichtwollen hervortreten sieht. So betont er, daß der Vater für sich der die Zeit nicht wollende Wille ist, und daß der Sohn die Ursache und also auch der Herr der Zeit ist, der Zeit-sezende Gott. Der Sohn ist der Gott der zweiten Zeit. Ohne den Sohn wäre blos das Princip der Zeit, nicht die wirkliche, und eben so blos die Möglichkeit der Schöpfung. (Schelling 1827/28, 207)

Eigentliche Schöpfung und somit wahrhafte Wirklichkeit inklusive einer offenen, nicht berechenbaren Zukunft sind mithin erst durch das im Sohn hinterlegte Wollen des Verstandes möglich, obgleich Schelling auch dieses zweite Wollen, dasjenige des Sohnes, bisweilen als ein ›gelassenes‹ charakterisiert (vgl. Schelling 1827/28, 165). Schelling wird dieses Willensmotiv gerade in der Berliner Fassung der positiven Philosophie aufnehmen, welche insgesamt auch gänzlich affirmativ als ein ›Wollen‹ oder als durch ein Wollen begründet bestimmt wird (vgl. Schelling 1841/42, 138), während die negativen Willensformen fast durchweg allein der negativen Philosophie zugeordnet werden. Zwar wird auch in Berlin noch die positive Philosophie mit einem Moment des Nichtwollens und der Gelassenheit einsetzen. Dieses wird allerdings nur noch als das Primäre und nicht mehr als das Superiore und Höchste interpretiert.

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

2. Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin Im letzten Kapitel dieser Untersuchung zu Schellings Willensdenken soll nun noch ausblickhaft auf dessen Bestimmungen von Wollen und Lassen in seiner Berliner Philosophie – insbesondere innerhalb seiner Berliner Antrittsvorlesung 1841/42 – eingegangen werden. 29 Hierbei soll lediglich gezeigt werden, wie Schellings ›letzte‹ Philosophie gleichsam summarisch nochmals alle entscheidenden positiven wie negativen Willensbestimmungen seit 1809 aufgreift und diesen in unterschiedlichen Momenten und ›Schaltstellen‹ des philosophischen Gebäudes Geltung zuspricht. Dabei kann zum einen die Linie aufgezeigt und verfolgt werden, die von den Weltaltern sowie vor allem der Erlanger Vorlesung in die Spätphilosophie Schellings und ihre charakteristische Zweiteilung in eine negative und eine positive Philosophie führt – und zwar hinsichtlich der Motive der Unverfügbarkeit und ›Unvordenklichkeit‹ der ›ewigen Freiheit‹, wie sie seit spätestens 1811 als im ›Lassen‹ allererst sich zeigende Phänomene aufgerufen werden. Insbesondere im Übergang zur positiven Philosophie greift die negative Philosophie nämlich einerseits die Motive der ›gelassenen‹ oder ›ekstatischen Vernunft‹, deren Denken schließlich vor dem reinen ›Daß-Sein‹ verstummen muss, sowie eines »gelassene[n] Sein[s]« andererseits auf, das noch nicht in einen reflexiv-bestimmten Bezug zu sich selbst und zu anderem getreten ist (Schelling 1841/42, 172). 30 Es kann außerdem gezeigt werden, dass die in der Freiheitsschrift mit der Figur des ›Ungrundes‹ sich andeutende Denkentwicklung Schellings schließlich in der Spätphilosophie in seiner These von der ›Unvordenklichkeit‹ des Seins gipfelt (vgl. SW XIV, 339–349), 31 dem gegenüber das Denken nur gelassen und hinnehmend sich verhalten kann, insofern es immer schon von ihm ausgeht und ausgehen muss (Kap. 2.1). 32 Während die Differenz der negativen gegenüber der positiven Philosophie geradezu durch den Terminus der ›Gelassenheit‹ sowie der ›gelassenen Vernunft‹ definiert wird, bestimmt Schelling hingegen zum anderen das Wollen – wie bereits 1809 – zum die Sphäre des

Vgl. hierzu ausführlicher v. a. die älteren, aber immer noch maßgeblichen Studien Schulz 1955 u. Tilliette 1970, Bd. 2, bes. 27–121 u. 207–339. 30 Vgl. auch Schelling 1841/42, 164. 31 Vgl. zum Begriff Hutter 2003. 32 Vgl. Schulz 1955, 61–67; Hühn 1994a, 183–194. 29

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Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin

Denkens übersteigenden ›Ursein‹, mit dem die positive, Wirklichkeit wahrhaft begreifende Philosophie »ohne sie [die negative Philosophie, P. H.] anfangen [kann], als eine Wissenschaft, die an sich selbst ein Wollen ist.« (Schelling 1841/42, 138) 33 Denn Schelling zufolge können nur die voluntativ-praktischen Phänomene von ›Entschluss‹ und ›Tat‹ Wirklichkeit wahrhaft begründen und übersteigen insofern zugleich das reine Denken (vgl. SW XIII, 114). Dies soll im zweiten Unterkapitel vor allem im Rückgang auf die positive Philosophie, wie sie Schelling 1841/42 vorgetragen hat, gezeigt werden. Dabei wird aber auch noch auf das sogenannte ›Anthropologische Schema‹ einzugehen sein, das zwar laut Aussage von Schellings Sohn »der Münchener Zeit« angehört (SW X, VII), 34 gleichwohl aber frappierende Nähen zu Willensbestimmungen insbesondere in der Berliner Antrittsvorlesung von 1841/42 wie nicht zuletzt auch der Freiheitsschrift von 1809 erkennen lässt, sodass hieran gerade nochmals die Kontinuität in Schellings gleichwohl sich wandelndem und ausdifferenzierendem Willensdenken beleuchtet werden kann (Kap. 2.2). Zurückgegangen werden soll hierzu in erster Linie auf die erste Berliner Vorlesung von 1841/42, die nicht allein auf die verschiedenen Willensaspekte eingeht, sondern zugleich auch als Antrittsvorlesung programmatisch das gesamte Gebäude der Berliner Spätphilosophie in all ihren Teilen skizziert, auch wenn vieles nur thematisch angerissen wird. Ergänzend sollen daher andere Textkonvolute der Berliner Zeit herangezogen werden – wie etwa die Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (1847–52) und die Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (1842/43) sowie die anderen vom Sohn edierten Texte zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung, auch wenn deren Status und Zuordnung innerhalb der Gesamtstruktur der Spätphilosophie Vgl. auch Schelling 1841/42, 179, wo Schelling in Anlehnung an AA I,17, 123 formuliert: »Wille ist Ursein, Stoff, aus dem Alles.« Vgl. dazu Hutter 1996, bes. 32 f. u. 269 f. 34 K. F. A. Schelling dürfte damit F. W. J. Schellings zweite Münchener Zeit zwischen 1827 und 1841 meinen, der auch die anderen Münchener Texte in diesem Band angehören. Auch spricht der Sohn von dem »ältesten Münchner Manuscript, dem über das System der Weltalter vom Jahr 1827« (SW X, VI), was anzeigt, dass das Münchener ›Anthropologische Schema‹ seiner Ansicht nach später entstanden sein muss. Hans Jörg Sandkühler datiert es auf 1840, das letzte Münchener Jahr Schellings (vgl. Sandkühler 1998, 210). 33

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

häufig ungesichert ist, sodass etwa die Einteilung in negative und positive Philosophie selbst in den spätesten Texten eher Programm als konkret ausgeführtes Werk bleibt. 35

2.1. Die negative Philosophie als Einführung in die Gelassenheit Im Rückgang auf die negative, reinrationale Philosophie Schellings soll nun zunächst ausgeführt werden, in welcher Weise dem Willen einerseits zu Anfang und im Zentrum derselben als einem tragischen eine strukturell wichtige Rolle zukommt (Kap. 2.1.1), und wie ihm andererseits aber auch am Ende derselben in Form eines gelassenen Willens eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wird (Kap. 2.1.2). Dabei kann gezeigt werden, dass Schelling 1841/42 – anders als noch in der zweiten Münchener Phase, und insbesondere in der Vorlesung von 1827/28 – den negativen Willensphänomenen sowie der Gelassenheit vor allem im Rahmen seiner negativen Philosophie einen Platz einräumt, während die positiv konnotierten Willensphänomene stärker im Rahmen der positiven Philosophie behandelt werden. Mit dieser erneuten Berücksichtigung negativer Willensphänomene geht denn auch nicht von ungefähr zugleich eine wesentlich breitere Ausarbeitung sowie Aufwertung der negativen oder reinrationalen Philosophie in Schellings Berliner Arbeiten einher. Was 1841/42 von Schelling dabei noch eher als Programm formuliert ist, arbeitet er in den Folgejahren kontinuierlich weiter aus, und selbst 1851 bemerkt er noch brieflich gegenüber dem Sohn und Herausgeber seine Werke, dass er darum bemüht sei, »mit der negativen Philosophie völlig abzuschließen, es zu einem Ende zu bringen, von dem nicht mehr zurückzukommen.« 36 2.1.1. Die Tragik des Vernunftwillens Dass Schelling in seiner negativen, reinrationalen Philosophie den Deformationen des Wollens sowie den in seiner ›mittleren‹ Philosophie betonten Phänomenen von Gelassenheit und ›Ekstase‹ wieder Vgl. Franz 1992, 32–50. F. W. J. Schelling an K. F. A. Schelling, 15. Juni 1851, Plitt III, 228. Vgl. zur Genese der negativen, reinrationalen Philosophie in Berlin auch Müller-Bergen 2007b, 113– 116.

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Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin

verstärkt Geltung verschafft, ist bereits mit Blick auf deren Beginn 1841/42 zu beobachten. Wie schon, wenn auch in anderem systematischem Kontext, in den Weltaltern beginnt Schelling denn auch 1841/42 seine Darstellung der negativen Philosophie mit einem tragischen Moment, das den »Übergang a potentia ad actum«, »vom Nichtwollen zum Wollen« als einem Akt des Denkens unmittelbar überkomme, »so wie es [das Denken, P. H.] sich auf den unmittelbaren Inhalt der Vernunft richtet« und derart »ihn zweifelhaft macht« (Schelling 1841/42, 102 f.). Denn das Denken als ursprüngliche ›Potenz des Seins‹ sei durch dieses Sich-Richten auf ihren Inhalt gerade »nicht mehr die lautere Macht des Seins, sondern dem Sein verfallen, ein ἐξιστάμενον, das sich selbst verlor« (Schelling 1841/ 42, 102 f.). Die Folge sei ein »entgeistetes, sinnloses, schrankenloses Sein«, das »notwendig« sei und gerade »nicht das, was wir wollen.« (Schelling 1841/42, 102) In Schellings willenstheoretischer Lesart seiner Potenzenlehre ruft diese tragische Formation des zuerst auftretenden »wollenkönnenden […] Willens« allerdings eine weitere, genau entgegengesetzte Möglichkeit auf den Plan, gerade »indem das erste, mit dem es in der Urmöglichkeit zugleich gesetzt ist, den Raum für sich allein einnehmen will.« (Schelling 1841/42, 103 f.) Denn die Negation des »nichtwollenkönnenden Willen[s]« durch die Aktualisierung des ›wollenkönnenden‹ ›nötige‹ jenen geradezu dazu, »sich in seine Gelassenheit wieder herzustellen.« (Schelling 1841/42, 103 f.) Nur so werde – wie Schelling nicht allein mit Blick auf den menschlichen Willenshaushalt, sondern auch in Hinsicht auf den von der Naturphilosophie zu beschreibenden Entwicklungsprozess formuliert – »das erste, grenzenlose Sein (das ἄπειρον der Pythagoräer, die Materie des Plato) […] stufenweise ins Können zurückgebracht, ein Sichselbstbesitzendes, auf der höchsten Stufe ein Selbstbewusstes« (Schelling 1841/42, 105). Doch diese gänzliche Wiederherstellung des ursprünglichen Könnens, ohne dass dessen einmal geschehene Verwirklichung zurückgenommen werde, sei noch nicht mit der zweiten Potenz erreicht, die nur die Aufgabe erfülle, »das Erste wieder zu negieren und aus seiner Selbstverlorenheit zu retten« (Schelling 1841/42, 106). Denn nur das sei »das vollkommen Freie, das mit seinem Können tun kann, was es will, weil es in seinem Sein nicht aufhört Potenz zu sein, und um diese zu sein, nicht aufhört zu wirken. Es ist Geist, der im Sein nicht Gefahr läuft, und auch ohne zu wirken, nicht aufhört, Potenz zu sein.« (Schelling 1841/42, 106) Doch 277 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

mit dem Erreichen der Figur des ›Geistes‹ und der ihr zugeschriebenen Freiheit, wie sie auch 1827/28 schon beschrieben wurde, findet die Beschreibung tragischer Willensformen in der Vernunftwissenschaft noch kein Ende. Die im Hervorgehen der dritten Potenz des ›Geistes‹ beschriebenen tragischen Willensformen finden nämlich gleichsam gespiegelt auf der Ebene des Menschlichen in der Beschreibung der nun gegenüber der Natur eröffneten »Geisterwelt« eine Fortführung (Schelling 1841/42, 107). Schelling führt dies am Beispiel des Prometheus als »erhabene[m] Vorbild des Menschen Ichs« (SW XI, 482) in der vom Sohn abschließend kompilierten Darstellung der reinrationalen Philosophie genauer aus. In Anspielung auf die kantische, von Schelling bereits in der Freiheitsschrift aufgegriffene ›intelligible Tat‹ als einer »dem gegenwärtigen Daseyn vorausgegangene[n], darum nimmer zurückzunehmende[n], unwiderrufliche[n] That« (SW XI, 482) versteht Schelling hierbei die Setzung eines »Princip[s] außer dem Princip« als eine Folge des »doppelte[n] Willens« des Ich, durch den die doppelte Möglichkeit oder, wie Schelling formuliert, »das Dilemma einer innergöttlichen, in Gott verwirklichten, oder einer außergöttlich verwirklichten Welt gegeben« sei und somit »eine förmliche Separation des Princips« geschehen könne (SW XI, 489). Wie Schelling unter Bezugnahme auf Aischylos erklärt, stelle Letzteres als ein »immer und ewig Geschehendes« ein »ewig Tragische[s]« dar (SW XI, 486). Denn der Figur des Prometheus gleich müssten nicht allein wir »ausharren […] bei dem, was uns jetzt zum einzigen Princip geworden, dem Ich, und ihm folgen durch die selbstzugezogene Mühsal des langen Weges, ob es, wie der gebundene Prometheus, einen Ausgang aus demselben finde und welchen.« (SW XI, 489) Analog zu der in den Weltaltern und vor allem in Erlangen formulierten Generaldiagnose einer gleichsam auf der Stelle tretenden Gegenwart ist im Zuge dieser tragischen Verfehlung des menschlichen Wollens auch die Vernunftwissenschaft insgesamt in ihrer Entfaltung gehemmt, sodass die Forderung entsteht, daß das Ich, wodurch immer, dahin gebracht wird, sich selbst wieder zur Potenz, zum Nichtprincip zu machen, sich also A° unterzuordnen und dieses als Princip wieder einzusetzen, womit […] erreicht wäre, was die Aufgabe dieser Wissenschaft ist, das Princip frei vom Seyenden und über Alles siegreich, kurz als Princip zu haben. (SW XI, 489)

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Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin

Doch auch dieses Ziel der negativen Philosophie ist letztlich kein wahrhaftes, zur Vollendung der Wissenschaft führendes Ziel, sondern gleichsam nur ein Teilziel. Das eigentliche Ziel der negativen Philosophie besteht 1841/42 zufolge darin, dass das Denken »Alles, was nur zufälliger Inhalt der Vernunft war, alles Fremde hinwegschafft, bis nach vollständiger Erschöpfung aller Möglichkeit, als der letzte Inhalt der Vernunft, die nicht mehr in Anderes übergehende Potenz stehen bleibt; die Potenz als die Selbstseiende!« (Schelling 1841/42, 108) Nachdem also das Prinzip der negativen Philosophie gleichsam unangefochten und unverstellt zum Vorschein gekommen und herausgestellt worden ist, muss es gewissermaßen noch auf sein autonomes, unhintergehbares Sein hin ›geläutert‹ werden. 2.1.2. Die Forderung nach einer gelassenen Vernunft und der Übergang zur positiven Philosophie Ziel der negativen, reinrationalen Philosophie ist derjenige Punkt, an dem die Potenz nicht mehr ein Seinkönnen von etwas anderem oder, anders formuliert, der Begriff »nicht bloß der Begriff (Potenz = Begriff) von etwas Anderem, aber darum Begriff seiner selbst [ist], der bei sich selbst stehen bleibt, das einzige seiner Art, in der ganzen Bewegung erzielt und in diesem Sinne Idee zu nennen.« (Schelling 1841/42, 108) Doch dieser Begriff des gänzlich Selbstseienden, in dem Potenz und Aktus, Wesen und Existenz zur Übereinstimmung gebracht sind, sei hierbei »nur logisch, im Denken, verwirklicht«; er stelle lediglich »das reine Was [quid] der Gottheit« dar (Schelling 1841/42, 108): In der Wissenschaft, die vom Standpuncte dessen, was vor dem Sein, a priori […], erkennt, und die wegen des auf diese Weise Entstandenen an die Erfahrung verweist, um die, ihr selbst übrigens gleichgültige, Existenz desselben nachzuweisen – in dieser Wissenschaft bleibt als das Letzte, wenn man als Inhalt der Wissenschaft auch die Existenz rechnet, als das Unerkennbare stehen, weil dasselbe zugleich ein Gegenstand außer aller Erfahrung ist; es bleibt nur Idee. (Schelling 1841/42, 110)

Insofern die negative Philosophie alles auch erfahrungsmäßige Gegebene apriorisch zu konstruieren beansprucht, der höchste Begriff dieser apriorischen Konstruktion aber nicht erfahrungsmäßig zugänglich und als Idee ›außer aller Erfahrung‹ ist, so folgt als geradezu paradoxes Resultat der reinrationalen Wissenschaft das Folgende: 279 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

Zwar ist sie vollendet, insofern sie gegenüber der Existenz ja ›gleichgültig‹ ist; zugleich muss sie aber in einer Irritation befangen bleiben, die sie gleichsam »paralysiert« (Schelling 1841/42, 110), insofern ein konstruiertes »a priori […] nicht ohne ein a posteriori« sein dürfte (SW XI, 563). 37 Die Folge ist die Forderung einer »zweite[n] Wissenschaft«, die in genauer Umkehrung der negativen Philosophie »von dem [ausgeht], was außer der Vernunft ist, um von diesem zu dem zu gelangen, was über dem Sein ist« (Schelling 1841/42, 110). Interessanterweise gibt Schelling in seiner Berliner Zeit zwei willenstheoretisch geradezu konträre Beschreibungen jenes Übergangs: 38 (1) 1841/42 sowie 1842/43 skizziert Schelling zunächst in Radikalisierung der Erlanger Figur der ›Ekstase des Ich‹ eine gelassenheitstheoretische Lesart dieses Übergangs, der geradezu zu einem ›Verstummen‹ und Abbruch der reinrationalen, »stets ihres Zwecks bewusste[n] Wissenschaft« führt, »in der ursprünglich schon ein Wollen ist.« (Schelling 1841/42, 108 f.) Doch das Wollen der Vernunftwissenschaft führt nur bis zu dem »höchste[n] Wesen« als einem solchen, das »notwendig existieren [muß] – d. h. wenn es existiert!« (Schelling 1841/42, 154) Da aber dies »zweifelhaft« sei – wie Schelling in einer Korrektur des ontologischen Gottesbeweises formuliert –, so könne die positive Philosophie »nur vom Blindseienden ausgehen, indem ich den Begriff der Gottheit fallen lasse und zusehe, ob ich von jenem zu diesem kommen kann.« (Schelling 1841/42, 154 f.) Dieses »blind Existierende« bezeichne nämlich »das, was Alles vom Begriff Herkommende niederschlägt, vor dem das Denken verSchelling macht 1841/42 diese die Vernunft ›paralysierende Umkehrung‹ gerade auch mit Blick auf den Begriff oder die Idee Gottes deutlich, bei dem als »notwendig existierende[m] Wesen« die »Existenz das Prius sein« müsse: »Gerade in dieser Wissenschaft [der Vernunftwissenschaft, P. H.] ist Gott das nicht, wie alles Andere, Existierenkönnende, d. h. außer dem Begriff Seinkönnende; er ist das in der Vernunft stehen bleibende, nicht heraus könnende, der immanenteste Begriff der Vernunft. Wenn die über alles Sein erhabene Potenz wirklich existiert, so kann sie nicht so existieren, dass die Potenz das Prius ist. So existieren die andern Dinge. Existiert sie, so muss die Existenz das Prius sein, der Begriff des Spätern. Denn der letzte Begriff, den wir erhalten haben, ist das umgekehrte Seinkönnen, das das Sein zum Prius, nicht zum Posterius hat. Man sagt: Gott ist das notwendig existierende Wesen, d. h. wenn er existiert, kann das Sein, das Prius, nur von ihm selbst sein. Gott, als notwendiger Inhalt der Vernunft, kann nicht zufällig existieren, so daß das Sein die Folge der Potenz wäre« (Schelling 1841/42, 110). 38 Vgl. dazu auch Challiol-Gillet 1998, 133–136. 37

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Die Reintegration von ›Ekstase‹ und Gelassenheit in Berlin

stummt« (Schelling 1841/42, 157). Indem die Vernunft »in ihm absolut ekstatisch« sei, insofern sie »nicht sich dem Sein, sondern das Sein sich vorsetzt«, sei sie gänzlich »gelassene Vernunft«, mit deren Zurückweisung auch kein Wollen mehr vorhanden ist (Schelling 1841/42, 157). Doch indem derart »die Vernunft sich von sich selbst befreit, von der notwendigen Bewegung sich befreit zum freien Denken« (Schelling 1841/42, 157), radikalisiert Schelling einerseits die bereits in Erlangen 1821 angeführte Form der ›Ekstase des Ich‹, die damals lediglich eine Aufgabe des eigenen Wissenwollens zugunsten einer höheren, vernünftigen Selbstvermittlungsbewegung bezeichnete, hin zu einer ›Ekstase der Vernunft‹, die eine Transzendierung jedes Vernunftwillens und damit der ›ratio‹ überhaupt bezeichnet. 39 Dadurch wird aber zugleich das Ende einer jeden Systemphilosophie im Sinne einer in ihrem inneren Zusammenhang rational ausweisbaren Totalität eingeläutet. Denn was die Vernunft übersteigt und ›paralysiert‹, kann nicht mehr in einen vernünftig-argumentativ strukturierten Systemzusammenhang integriert werden, wie denn auch Schellings späte Zweiteilung der Philosophie anzeigt, die die Frage nach einer übergeordneten Einheit aufkommen lässt. Andererseits bezieht Schelling mit jener Einführung der voluntativen Grenzform eines ›Nichtwollens‹ am Ende der negativen Philosophie in Form einer »gelassene[n] Vernunft« (Schelling 1841/42, 157) zugleich Stellung gegen Hegel, wie hier nur in aller Kürze angezeigt werden soll: Denn mit der Erhebung jener ›gelassenen Vernunft‹ zum höchsten Punkt, bis zu dem die im Denken eingeschlossene negative Philosophie zu gelangen vermag und in dem sie auf ein Anderes verwiesen wird, verbittet sich Schelling insbesondere in den Vorlesungen von 1841–43 nachdrücklich die Annahme eines gleichsam automatischen Überganges aus dem Reich des Begriffes in den der Wirklichkeit (vgl. Schelling 1841/42, 130 f.; SW XIII, 80 f. u. 87 f.). 40 So formuliert Schelling explizit 1841/42 seine gerade auch rezeptionsgeschichtlich bedeutsame Kritik am Übergang der enzyklopädischen Logik in die Naturphilosophie, dem zufolge »[d]ie absolute

Vgl. auch Iber 1994, 296. Eine analoge Kritik an Hegel mit Blick auf dessen Beschreibung des Übergangs in die Naturphilosophie als, so Schelling, »Abfall der Idee von sich selbst« (Schelling 1827/28, 83; vgl. auch Schelling 1830, 63) findet sich bei Schelling aber auch schon 1827/28 und 1830. Vgl. dazu oben, Teil III, Kap. 1.1.

39 40

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

Freiheit der Idee […] sich entschließt, […] sich als Natur frei aus sich zu entlassen.« (GW 20, 231 (§ 244)) 41 Insofern Schelling die hegelsche Metapher des ›Sich-Entschließens‹ rein anthropomorphistisch auffasst und kritisiert, dass »[e]in bloßer Begriff […] sich offenbar nicht ›entschließen‹« kann (Schelling 1841/42, 130), implementiert er dem logischen Begriff ein mit dem (bewussten) Entschluss für gewöhnlich einhergehendes Willensmoment. Doch ein solches Willensmoment, das Hegel in den Augen Schellings in der Metapher des Entschlusses anzeigt und dem er auch in einem eigenen Abschnitt der Logik Rechnung trägt, 42 weist Schelling in eigener Sache am Ende der negativen Philosophie, die wie die hegelsche Logik aus der Idee heraus in eine Wirklichkeit wahrhaft begreifende Philosophie übergehen soll, ausdrücklich zurück und formuliert stattdessen die Forderung einer Zurückweisung allen Wollens. 43 Gleichwohl bestimmt Schelling, wie später noch zu zeigen sein wird, die positive, Wirklichkeit wahrhaft begreifende Philosophie, insofern sie unabhängig von der sich selbst bescheidenden negativen Philosophie einsetzt, »als eine Wissenschaft, die an sich selbst ein Wollen ist.« (Schelling 1841/42, 138) Denn, so bemerkt Schelling 1842/43, nur die mit dem Wollen einhergehenden Phänomene von »Entschluß und That können eine eigentliche Erfahrung begründen« und sind insofern »mehr, als sich im bloßen Denken erkennen läßt« (SW XIII, 114). (2) In der wohl aus den Jahren 1847–1852 stammenden Darstellung der reinrationalen Philosophie gibt Schelling gleichwohl diese Konzeption eines gleichsam radikalen Bruchs zwischen negativer und positiver Philosophie auf, indem er nun einerseits einen »Uebergang« in die positive Philosophie annimmt, der »in der That durch ein […] Wollen geschieht« (SW XI, 564), und andererseits die negative Philosophie als »allgemeine (universelle) Wissenschaft« der positiven als »besondere[r] Wissenschaft« (SW XI, 561) gegenüberstellt. Schelling scheint in dieser späten Konzeption anders als zu Anfang der 40er Jahre denn auch weniger Interesse an einer Abgrenzung gegenüber Hegel zu haben. Vielmehr scheint ihm zum einen – bis zur Gefahr

Vgl. auch GW 13, 110 (§ 192) u. GW 19, 180 (§ 244) Vgl. dazu ausführlich Frank 1992, bes. 227–232. 42 Vgl. GW 12, 231–235; GW 20, 227 f. (§§ 233–235). 43 Vgl. hierzu gerade auch mit Blick auf eine Herausstellung des von Schelling verkannten Anliegens Hegels Arndt 2016. 41

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einer ja gerade Hegel vorgeworfenen Sphärenvermengung negativer und positiver Philosophie – die Einheit des Systems nun wichtiger zu sein. Zum anderen scheint die an diesen Übergang nun sogleich geknüpfte Forderung nach einem theistischen Gott, den das Ich »haben […] will« und die in das berühmte Diktum »Person sucht Person« mündet (SW XI, 566), gerade einen nicht-willentlichen Übergang auszuschließen. 44 So weist Schelling hier die dem Praktischen und damit dem Willentlichen entsagende Kontemplation ausdrücklich zurück: »Mittelst der Contemplation jedoch konnte das Ich im besten Falle nur die Idee wieder finden, und also auch nur den Gott, der in der Idee, der in die Vernunft eingeschlossen, in welcher er sich nicht bewegen kann, nicht aber den, der außer und über der Vernunft ist« (SW XI, 566 f.) Der vom Wollen lassenden Kontemplation wird hier eine Statik zugeschrieben, die sich auch auf ihr Gegenüber, das ›angeschaute‹ Objekt übertrage und damit unfähig sei, Letzteres als Leben und Person aufzufassen. Die ›gelassene‹ Kontemplation ist damit gerade nicht mehr tauglich für einen Übergang in eine Wirklichkeit wahrhaft begreifende, positive Philosophie.

2.2. Die positive Philosophie als Willensmetaphysik In diesem letzten Abschnitt des Schelling-Teils der Untersuchung ist nun noch kurz und lediglich selektiv auf die Berliner Fassung der positiven Philosophie einzugehen, wobei vor allen Dingen die gegenüber der Münchener Philosophie abweichenden voluntativen PhänoVgl. SW XI, 566: »Welches aber der Wille ist, der das Signal zur Umkehrung und damit zur positiven Philosophie gibt, kann nicht zweifelhaft seyn. Es ist das Ich, welches wir verlassen haben in dem Moment, wo es dem beschaulichen Leben Abschied geben muß und die letzte Verzweiflung sich seiner bemächtigt; […]. Denn nun erkennt es erst die Kluft, welche zwischen ihm und Gott, erkennt, wie allem sittlichen Handeln der Abfall von Gott, das außer-Gott-Seyn zu Grunde liegt und es zweifelhaft macht, so daß keine Ruhe und kein Friede, ehe dieser Bruch versöhnt ist, und ihm mit keiner Seligkeit geholfen, als mit der, welche ihn zugleich erlöst. Darum verlangt es nun nach Gott selbst. Ihn, Ihn will es haben, den Gott, der handelt, bei dem eine Vorsehung ist, der als ein selbst thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz der der Herr des Seyns ist (nicht transmundan nur, wie es der Gott als Finalursache ist, sondern supramundan). In diesem sieht es allein das wirklich höchste Gut. Schon der Sinn des contemplativen Lebens war kein andrer, als über das Allgemeine zur Persönlichkeit durchzudringen. Denn Person sucht Person.« – Vgl. dazu genauer Gabriel 2006, 233–267. 44

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

mene zur Sprache gebracht werden sollen. 45 Zum einen ist hier aufzuzeigen, wie Schelling zu Anfang der positiven Philosophie den Willen erneut einführt – nun allerdings losgelöst von der Vernunft und auf eine ihm äußerliche und ihn verendlichende Positivität rekurrierend (Kap. 2.2.1). Zum anderen ist schließlich noch auf das Zentrum der positiven Philosophie, genauer der Philosophie der Offenbarung einzugehen, wo Schelling im Zusammenhang des Willens der zweiten göttlichen Person, der Mensch gewordenen Person Christi, das Wollen in seiner Pluralität nochmals neu zu bestimmen sucht (Kap. 2.2.2). 2.2.1. Vom unvordenklichen Sein zum Ursein als Wollen Wie auch immer man angesichts der im vorherigen Kapitel skizzierten unterschiedlichen Fassungen jenen Übergang von der negativen zur positiven Philosophie willenstheoretisch interpretiert, so mündet er doch generell in der Spätphilosophie in den Gedanken des »ganz Idee-Freie[n]«, des »reine[n] Daß« (SW XI, 570) oder des »unvordenkliche[n] Sein[s]« (Schelling 1841/42, 161), mit welchem zugleich die Figuren von Unverfügbarkeit und ›Unvordenklichkeit‹ der ›absoluten Freiheit‹, wie sie in den Weltaltern und der Erlanger Vorlesung bereits zu finden sind, wieder aufgegriffen werden. Hierbei stellt sich für Schelling aber nun wieder die zu seiner früheren Philosophie analoge Frage, wie etwas aus dem ersten Prinzip ›abzuleiten‹ sei oder zumindest sich entwickeln könne: Denn »der actus purus kann nichts anfangen, ist starr und unbeweglich; ohne Potenz ist nicht fortzugehen und doch müssen wir davon fortkommen.« (Schelling 1841/42, 162) Insofern Schelling jenem ›unvordenklichen Sein‹ als reinem potenzlosem ›actus purus‹ nur noch die Priorität, jedoch nicht zugleich die Superiorität und gleichsam Souveränität über das Ganze zuschreibt, betrifft jene Frage des Hervorgangs eines Anderen aus ihm nun ausschließlich »ein Mittel«, »darüber hinwegzukommen.« (Schelling 1841/42, 162) Dieses findet Schelling darin, dass das »rein Seiende« oder »das Sein«, »nachdem es ist, also a posteriori, allerdings das Seinkönnende sei« und sich mithin »ein Anderes von sich als dem unvordenklich Seienden« darstellen könne (Schelling 1841/42, 162). Doch, so merkt Schelling an, diese »Möglichkeit ist Vgl. hierzu ausführlicher Tilliette 1970, Bd. 2, 343–505, Kasper 1965 u. Simon 2014, 164–234.

45

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nur, wenn es sie will«; sie sei, da sie als nicht apriorisch Erklärbares aufscheine, »etwas Unerwartetes«, aber »doch nichts Unwillkommenes« (Schelling 1841/42, 163). Wie schon in den Weltaltern sucht Schelling hierbei das sich seit der Freiheitsschrift stellende Problem einer Vereinigung von in sich indifferentem ›Ungrund‹ und ›Ursein als Wollen‹ dadurch zu lösen, dass das mit dem »Charakter des Grund- und Anfanglosen« ausgezeichnete »Ursein« als Sein »in völliger Gelassenheit« interpretiert wird (Schelling 1841/42, 164). Als gelassenem, nicht wollendem Sein kann ihm Schelling nun auch ein implizites voluntatives Moment zuschreiben, das durch jene ihm entgegengesetzte Möglichkeit gleichsam aktiviert werde, sodass »in das unbewegliche Sein eine Beweglichkeit« komme (Schelling 1841/42, 164). 46 Insofern kann Schelling schließlich auch auf den bereits in der Freiheitsschrift formulierten Satz »Wille ist Ursein, Stoff aus dem Alles« zurückgreifen (Schelling 1841/42, 179). Gleichwohl muss er jenen ersten Willen vor dem Hintergrund der gänzlichen Zurückweisung der Vernunft zu Anfang der positiven Philosophie noch als »zufällige[n] (blinde[n]) Willen« verstehen (Schelling 1841/42, 179), wie er ihn auch bereits in seinen früheren Schriften eingeführt hatte und noch in der wohl 1843/44 gehaltenen Vorlesung Darstellung des Naturprocesses annimmt, der zufolge »alle Bewegungskraft ursprünglich Wille [ist], der in der allgemeinen Natur nur ein außer sich gekommener und darum blinder« sei (SW X, 385). 47 Schelling denkt damit zum einen ganz idealistisch den Grund aller Realität als einen dynamischen, durch den allererst die positive PhiSchon in der sogenannten Urfassung der Philosophie der Offenbarung verweist Schelling im Zusammenhang der Unterscheidung zwischen ›rein Seiendem‹ und ›sein Könnendem‹ darauf, dass selbst dasjenige, dem jegliches voluntative Moment abgesprochen werden muss, noch als implizites Wollen oder als Grenzform des Wollens aufgefasst werden kann: »Wir sagten, das sein Könnende ist wie der wollen könnende Wille, und das rein Seiende ist wie der nicht wollen könnende Wille. […] Wie der ruhende Wille sich als reine Potenz, das Wollen aber als actus verhält, ebenso wird das rein Seiende sich als das willenlos Wollende verhalten müssen« (Schelling 1831/32, 37). 47 Analog und sogar auf die Spitze getrieben liest man in der sogenannten Urfassung der Philosophie der Offenbarung: »Der tote Körper will nur sich: sein ganzes Wollen geht nur dahin, sich selbst hervorzubringen […]; er besteht durch ein selbstisches Wollen, das darum auch ein blindes Wollen sein muß. Schon die Pflanze will etwas außer sich; darum ist sie auch höher gestellt. Der Mensch dagegen will etwas über und außer sich. Also Wille ist in allen Stufen der Natur« (Schelling 1831/32, 26 f.). 46

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

losophie »als eine Wissenschaft« verstanden werden kann, »die an sich selbst ein Wollen ist« (Schelling 1841/42, 138) – und zwar ein freies oder zumindest grundloses Wollen im Gegensatz zum in Notwendigkeit befangenen Vernunftwillen der negativen Philosophie. 48 Zum anderen weist Schelling mit dieser Konzeption zugleich aber auch in das 19. Jahrhundert insbesondere auf Schopenhauers und indirekt auch Nietzsches Willenskonzeptionen voraus: So sei dem »schrankenlosen, blinden, gesinnungslosen Willen« gegenüber das »Besonnene« nur das Zweite, nur Form gebende »Macht, den schrankenlosen Willen wieder in die Schranke d. h. in die Potenz zurückzubringen.« (Schelling 1841/42, 180 f.) Der Wille stelle nur das wörtlich im Sinne von ›Unterlage‹ zu verstehende »Subjekt des Verstandes im eigentlichen Sinne, quo subjectum est«, dar, während der Verstand »nichts als die zum Stehen gebrachte Urpotenz« sei (Schelling 1841/42, 186 f.; vgl. SW XIII, 300). Ganz analog, wenn auch nur auf den Menschen bezogen, notiert dies auch das wohl von 1840 stammende Anthropologische Schema, in dem es heißt, dass der Verstand »das nicht Erschaffende, sondern Regelnde, Begrenzende, dem unendlichen, schrankenlosen Willen Maß gebende, dem für sich blinden und unfreien Besinnung und Freiheit Vermittelnde« sei; dagegen stelle der Wille »die eigentliche geistige Substanz des Menschen, de[n] Grund von allem, das ursprünglich Stoff-Erzeugende, das Einzige im Menschen, das Ursache von Seyn ist«, dar, während der Geist gleichsam als Synthese beider »der eigentliche Zweck [ist], was seyn soll, worin sich der Wille durch den Verstand erheben, wozu er sich befreien und verklären soll« (SW X, 289). 49 Zwar kommt dem Verstand immer noch die Superiorität zu. Die Priorität und eigentliche Produktivität sowie Schaffenskraft wird allerdings dem davon ursprünglich unabhängigen Willen zugesprochen, der sich, wenn auch in ›verklärter‹ Form, selbst noch in der Struktur des Geistes behauptet und in ihm anwesend ist. In diesem Sinne bemerkt Schelling, wie bereits

Vgl. zu den unterschiedlichen Willensformen in den ›logischen Systemen‹ und der wahrhaft geschichtlichen Wissenschaft auch bereits Schelling 1832/33, 100 u. 106 f. Vgl. dazu auch Hutter 1996, 32 f. u. 269 f. 49 Laut Aussage des Sohnes (vgl. SW X, S. VII) stammt das Schema noch aus der Münchener Zeit, Sandkühler datiert es genauer auf das letzte Jahr 1840 in München (Sandkühler 1998, 210), was die vorliegende Interpretation aufgrund inhaltlicher Nähen zur Berliner Antrittsvorlesung 1841/42 nochmals bestätigt. Vgl. zu dieser Interpretation auch Schulz 1972, 377–387. 48

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zitiert, auch 1842/43, dass nur die mit dem Wollen einhergehenden Phänomene von »Entschluß und That […] eine eigentliche Erfahrung begründen« können und daher auch das »bloße[…] Denken« überschreiten (SW XIII, 114). Wie in aller gebotenen Kürze noch gezeigt werden soll, weist Schelling mit dieser Konzeption in seiner positiven Philosophie aber keineswegs in Richtung eines Dezisionismus, der auf eine nicht weiter begründbare Entscheidung gerade zu Anfang der positiven Philosophie rekurrieren würde. 2.2.2. Der endliche Wille als allein freier und die Kenosis Um den Verdacht eines gleichsam non-kognitivistischen Dezisionismus der positiven Philosophie zu widerlegen, soll zum einen nochmals kurz auf den Anfang der positiven Philosophie sowie auf das in der Kenosis, der Menschwerdung der zweiten göttlichen Person, bestehende Zentrum der Philosophie der Offenbarung eingegangen werden. Dabei wird sich zugleich zeigen, dass für Schelling wirkliches, freies Wollen generell nur in Bezug auf ein Anderes, eine es ermöglichende und ihm Sinn verleihende Alterität denkbar ist. (1) Denn Schelling geht davon aus, dass gegenüber dem ›unvordenklichen Sein‹ »eine Möglichkeit […] nicht ausgeschlossen werden« kann, die als solche »die materielle Potenz eines göttlichen Willens« sei (Schelling 1841/42, 178 f.), sodass Schelling mithin von einer »›übersubstantielle[n]‹ Einheit« sich zu sprechen veranlasst sieht, »durch die das konträre Sein und das von diesem negierte unvordenkliche Sein zusammen gehalten werden« (Schelling 1841/42, 179). Dadurch aber muss er selbst für den göttlichen Willen eine zweifache Beschränkung in Anschlag bringen, die – paradox genug – zugleich Bedingungen seiner Freiheit als unangefochtenen »Herrn des Seins« darstellen (Schelling 1841/42, 172), wie Schelling im Rekurs auf die erstmals 1827/28 entwickelte Figur des nur in Relationen sich ausbildenden Herr-Seins formuliert. Denn die mit dem Herr-Sein einhergehende Freiheit komme Gott nur zu als dem Herrn 1) des dem unvordenklichen Sein entgegen zu setzenden Seins, das ihm erscheint als ein solches, das es durch sein bloßes Wollen annehmen kann; [sowie, P. H.] 2) des unvordenklichen Seins selbst, wiewohl nicht als Herrn, es zu setzen; denn darin ist es ihm zuvorgekommen, und darum nicht absolut von ihm aufzuheben. (Schelling 1841/42, 172)

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Freiheit besteht mithin nicht in einer autarken Selbstbezüglichkeit, wie die negative Philosophie vorzuführen suchte, sondern allein in der Bezugnahme auf ein sich zeigendes, vorgegebenes Anderes – und dies nicht allein im Sinne einer Faktizität, sondern auch im Sinne von sich eröffnenden Möglichkeiten oder »Potenzen eines zukünftigen und zwar von ihm [Gott, P. H.] verschiedenen Seins« (Schelling 1841/42, 179), das Schelling dabei ebenfalls als anzunehmenden oder zu überwindenden Willen versteht, da nur ein Wille oder ein »durch den Willen geworden[es]« Sein »allerdings überwindlich« sei (Schelling 1841/42, 179 f.). So sei auch in jenem gegenüber dem ›unvordenklichen Sein‹ »konträren Sein« das »eigentlich Seiende […] ein in Gott erst hervorgerufener, insofern zufälliger (blinder) Wille«, der nur als solcher ›überwindlich‹ oder ein zu ergreifender sei – wie etwa auch im analogen Falle eines sich im Menschen erhebenden »zufällige[n] Wollen[s]« (Schelling 1841/42, 179 f.). (2) Die Endlichkeit und notwendige Beschränktheit eines nicht-dezisionistisch gefassten freien Willens zeigt sich aber auch nochmals an anderer Stelle im Zusammenhang der eigentlichen Philosophie der Offenbarung. Schelling kommt hier auf eine ihn bereits seit 1795 beschäftigende Frage zurück, »wie sich die Willensfreiheit des Geschöpfes mit der göttlichen Kausalität vereinigen lasse, die man doch auch als eine unbedingte nahm.« (Schelling 1841/42, 199) Schelling sucht diese Frage einerseits dadurch zu beantworten, dass er die Schöpfung ähnlich dem ›Grund von Existenz‹ in der Freiheitsschrift in einem ersten Schritt auf jenen ›blinden Willen‹ zurückführt, der »unbegrenzter Natur [ist], aber eben dadurch impotent und bloß Stoff«; in einem zweiten Schritt sei aber hierzu eine weitere willentliche »Ursache« in Gott erforderlich, die »die Form setzen« könne, sodass »zwischen ihnen […] ein Freies zu stehen« komme, das »frei von der ersten Ursache durch die zweite« und umgekehrt sei (Schelling 1841/42, 200) – also wie schon 1810 (vgl. AA II,8, 140) gerade durch seine ›Zwischenstellung‹ Freiheit besitze. Andererseits erfährt die Frage nach der nicht-dezisionistischen Struktur des Wollens aber auch nochmals nachträglich eine tiefer gehende Antwort im Zusammenhang der Setzung der ›außergöttlichen Welt‹ durch den Menschen. So werde nämlich diese Spannung zwischen Göttlichem und Außergöttlichem Schelling zufolge gerade durch die ›Kenosis‹ oder »Menschwerdung« Christi »als eine[r] freiwillige[n] Erniedrigung« aufgelöst, »der er [Christus, P. H.] sich also 288 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Systematische Überlegungen III

auch entziehen konnte.« (Schelling 1841/42, 205) Dabei schreibe sich der Sohn in »seinem Gehorsam gegen den Vater […] wenigstens als Möglichkeit, einen eigenen Willen, ein unabhängiges Seyn zu«, auf das er aber verzichte (Schelling 1841/42, 204 f.), wie Schelling in Anspielung auf den Philipper-Hymnus bemerkt. 50 Schelling geht es hier mit dieser Figur der Willensverneinung in Christus als »Vertreter« des menschlichen Bewusstseins aber nicht wie noch in Erlangen 1821 um ein Aufgeben alles Wollens durch das Wollen, insofern »Wille […] nur durch Wille aufgehoben werden kann« (Schelling 1841/42, 290). Wie Schelling unter Heranziehung seiner spätphilosophischen Lehre von der ›Katabolé‹ erklärt (vgl. z. B. SW X, 324), zielt er vielmehr darauf ab, dass die göttliche Persönlichkeit des Sohnes »durch eigene Wirkung sich zum Stoff macht eines organischen Prozesses, gegen die höhere [Persönlichkeit des Vaters, P. H.], die dabei mit konkurrirt« (Schelling 1841/42, 292). Derart könne der Sohn denn auch »den Ort der Materialisierung wählen« (Schelling 1841/42, 292), eben im Sinne einer freiwilligen Unter- und Einordnung, einer ›Katabolé‹ in das organisch strukturierte Ganze, auf das jedes Wollen im Sinne seiner Möglichkeitsbedingung zugleich immer verwiesen ist.

3. Systematische Überlegungen III: Schelling und der ›hermeneutische‹ Willensdiskurs Schellings späte Überlegungen zu Willen und Wollen insbesondere in Berlin, aber auch bereits während seiner zweiten Münchener Phase können, wie gesehen, als eine Summe seiner Beschreibung voluntativer Phänomene angesehen werden: (1) Auch hier findet sich wiederum eine Universalisierung, Pluralisierung und Hierarchisierung im Wollen. So erklärt Schelling 1827 ebenfalls, dass »Wille und Wollen […] die Materie [ist] woraus alles gemacht ist«, dass aber zugleich jedes Wollen »ein überwindliches sei« und mithin im Sinne einer ›Aufhebung‹ jenes ersten willentlichen Seins ›potenziert‹ werden könne, um derart zu einer »freie[n] Beweglichkeit« diesem gegenüber zu gelangen (Schelling 1827/28, 173).

Vgl. Phil 2,5–11. Vgl. auch Schellings explizites Eingehen hierauf in Schelling 1841/42, 261 f. u. 207 f.

50

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Teil III: Die abschließende Zusammenfassung

(2) Wie Schelling des Weiteren schon früh im Rahmen seiner Stellungnahme zu der Debatte zwischen Kant und Reinhold in der Allgemeinen Uebersicht betont hatte, dass Kants Konzept eines reinen, gesetzgebenden Willens als »Wille[…], insofern er gar nicht Object des Bewusstseyns ist« (AA I,4, 161), gefasst werden müsse, so hebt Schelling 1827/28 erneut mit Nachdruck hervor, dass der Wille eine ›innerliche Tatsache‹ darstelle, die nur a posteriori zu erscheinen vermöge (vgl. Schelling 1827/28, 80 f. u. 101). Doch wie Schelling etwa in der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung von 1842/43 darüber nochmals hinausgehend betont, sei die mit dem Wollen einhergehende »freie That« außerdem »etwas mehr, als sich im bloßen Denken erkennen läßt.« (SW XIII, 114) Auch 1841/42 in seiner Berliner Antrittsvorlesung begreift Schelling den anfänglichen Willen zu Beginn der positiven Philosophie vor dem Hintergrund einer gänzlichen Zurückweisung der Vernunft nicht allein als erst a posteriori zu fassenden Willen, sondern vielmehr als »zufällige[n] (blinde[n]) Willen« (Schelling 1841/42, 179), der wie schon in Schellings ›mittlerer‹ Philosophie im Ansatz an Schopenhauers Willenskonzeption erinnern lässt. (3) Anders als im Falle der Figuren des ›Ungrundes‹ 1809 sowie des ›nicht(s) wollenden‹ oder ›ruhenden Willen‹ in den Weltaltern und in Erlangen fungiert der Wille zudem nun nicht mehr als ›erstes‹ Prinzip. Der eigentliche Wille wird nunmehr als etwas Substanzloses verstanden, das in einer Struktur absoluter Relationalität aufgeht und derart nicht mehr seiner ursprünglichen »Freiheit zu sein und nicht zu sein« (Schelling 1827/28, 132) verlustig gehen kann: Der »Wille als Geist« ist »das/der ewige bei sich sein/Seiende, das/der im Äußerlich-sein nicht aufhört in sich zu sein und dem es freisteht das Seiende selbst zu bleiben.« (Schelling 1827/28, 132). Diese von Schelling auch als ›Herrn des Seins‹ begriffene Struktur impliziert mithin einen Willen, der jene der Gelassenheit eigentümliche Selbstdistanznahme in sich integriert und somit in jeder Verwirklichung und Konkretisierung seiner selbst seinen ursprünglichen Möglichkeitshorizont zu reaktualisieren vermag. (4) Schöpfungstheologisch gewendet impliziert dieser Willensbegriff dabei sogar einen gleichsam ›hermeneutischen‹ Willensdiskurs, der alles Sein gewissermaßen in seiner Potentialität zu denken erlaubt. Schellings Annahme, dass dem zu Anfang der positiven Philosophie 1841/42 angenommenen ›unvordenklichen Sein‹ die Annahme eines ›Anderen‹, eines es konkretisierenden Seins nur als reine 290 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Systematische Überlegungen III

»Möglichkeit« gegeben sei, »wenn es sie will« (Schelling 1841/42, 162 f.), hat nämlich eine Virtualisierung oder Potentialisierung allen Seins zur Folge. Unter Heranziehung einer Unterscheidung Paul Ricœurs 51 lässt sich somit sagen, dass Schellings Willensdenken nicht allein eine ›Willens-Phänomenologie‹ sowie einen Beitrag zu einem ›Diskurs sinnhafter Handlungen‹ (discourse about meaningful action) etwa im Kontext seiner Diskussion des Bösen oder bestimmter Zeitstrukturen als Resultat gewisser Willensformationen vorlegt. Vielmehr eröffnet gerade der späte Schelling einen gleichsam ›hermeneutischen Diskurs‹ über den Willen, der diesen zu einem möglichen Interpretament des Seins im Ganzen erhebt und damit schon vor Heideggers Konzeption einer ›Seinsgeschichte‹ auf eine »Tiefengeschichte der Erscheinungsweisen von Sein (depth history of modes of being)« 52 abhebt. Heideggers noch darzustellende Kritik Schellings von vornherein unterlaufend, kennzeichnet der späte Schelling denn auch die Auslegung des Seins anhand von Wille und Subjektivität als lediglich eine kontingente Erscheinungsweise von Sein, für die sich kein letztgültiger Grund angeben lässt und die sich in ihrer Angemessenheit als Interpretament von Sein nur a posteriori erweisen oder auch widerlegen lässt.

51 52

Vgl. Ricœur 1970. Ricœur 1970, 289.

291 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV Heideggers reduktionistische Aufnahme der schellingschen Willenskonzeption in seiner Metaphysikkritik

Wie bereits zu Anfang der Untersuchung bemerkt, wird Heidegger schon 1927/28 im Zuge eines Seminars zu Schellings Freiheitsschrift in Marburg auf die zentrale Bedeutung des Willensparadigmas bei Schelling aufmerksam. In seinen Seminarnotizen hält Heidegger denn auch ausdrücklich fest: Ursein = Wollen (Praedikate des Urseins: Grund-losigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung) actus purus. NB. von hier aus Interpretation und Kritik des Idealismus. 1

Heidegger sieht ›von‹ Schellings programmatischem Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) ›aus‹ die Möglichkeit einer ›Interpretation und Kritik des Idealismus‹. Ob diese Bemerkung jedoch eher kritisch oder vielmehr als Zustimmung zu Schelling zu lesen ist, lässt die »Nota bene« offen. Denn auch Schelling selbst sucht mit diesem Satz, wie gesehen, 2 die Fortschritte des Idealismus zu artikulieren und zugleich dessen Grenzen in kritischer Absicht sichtbar zu machen. Es bleibt unklar, ob Heidegger 1927/28 mit dieser »Nota bene« lediglich diese Intention Schellings anzeigen will oder ob er damit bereits seine spätere Verpflichtung Schellings wie auch des Idealismus insgesamt auf eine Willensmetaphysik vorwegnimmt, deren uniforme Universalität »das Seiende […] in das Offene von Beständigkeit und Anwesenheit« bringe, ohne nach dem Gewordensein dieser beständigen Anwesenheit und mithin ihrem »zeithaften Wesen« (HGA 6.2, 7) sowie ihrer unverfügbaren Kontingenz zu fragen. Weder in Heideggers eigenen Notizen noch in den Seminarprotokollen von 1927/28 wird dies ausführlicher entfaltet und zur Klarheit gebracht. Wie auch immer die Notiz zu deuten ist, so vermag sie doch gleichwohl para1 2

Heidegger 1927/28, 322 / HGA 86, 52. Vgl. oben, Teil II, Kap. 1.1.1.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

digmatisch für die Ambivalenz von Heideggers Schelling-Rezeption einzustehen, deren Spuren sich fast während seines gesamten philosophischen Schaffens nachweisen lassen. Auch wenn sich die Ursprünge von Heideggers Beschäftigung mit Schelling nicht ganz sicher rekonstruieren lassen, besteht gleichwohl Grund zu der Vermutung, dass Heidegger bereits sehr früh mit Schelling in Berührung kam – nämlich schon zu Beginn seines Studiums an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg 1909/10, an welcher damals der Theologe Carl Braig lehrte. 3 Über diesen bemerkt Heidegger sowohl 1963 in dem Aufsatz »Mein Weg in die Phänomenologie« als auch 1972 im Vorwort zum ersten Band der Gesamtausgabe seiner eigenen Schriften, dass er durch ihn »zum ersten Mal […] von der Bedeutung Schellings und Hegels für die spekulative Theologie im Unterschied zum Lehrsystem der Scholastik« (HGA 14, 94) hörte und dass Braig »durch die Auseinandersetzung mit Hegel und Schelling der katholischen Theologie Rang und Weite gab« (HGA 1, 57). Auch wenn es mithin Braig zu verdanken sein könnte, dass »die erregenden Jahre zwischen 1910 und 1914« neben der Beschäftigung mit anderen für Heidegger später wichtigen Autoren auch »das erwachende Interesse für Hegel und Schelling« mit sich brachten – wie Heidegger in dem Vorwort von 1972 ebenfalls anmerkt (HGA 1, 56) –, so ist doch eine intensive und nachhaltige Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling erst in den zwanziger Jahren im Umkreis von Sein und Zeit nachweisbar. Jedenfalls lässt Heideggers Antwortschreiben an Karl Jaspers vom 24. 04. 1926, nachdem dieser ihm eine Ausgabe von Schellings Freiheitsschrift zugesandt hatte, nicht nur darauf schließen, dass Heidegger die für ihn in den kommenden Jahren so bedeutsame Schrift bei diesem Anlass erstmals las – bemerkt doch Heidegger, dass er die Schrift »nur angelesen« habe, da sie ihm »zu wertvoll« sei, »als daß ich [Heidegger, P. H.] sie in einem rohen Lesen erstmals kennenlernen möchte.« 4 Darüber hinaus lässt der Brief weiterhin den Schluss zu, dass Heidegger schon 1926 die seiner Ansicht nach noch über Hegel hinausgehende Bedeutung Schellings erkennt, die dazu führt,

Nach Heideggers eigener Aussage war Braig für ihn auch insbesondere wichtig durch sein Buch Vom Sein. Abriß der Ontologie (1896), das Heidegger wohl bereits am Ende seiner Gymnasialzeit studierte (vgl. HGA 14, 93 f.). Zur Bedeutung Braigs für Heidegger vgl. Casper 1980 u. Barash 1999, 90–96. 4 Heidegger an K. Jaspers, 24. April 1926, Heidegger/Jaspers 1990, 62; Herv. v. Verf. 3

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

dass er sich in den folgenden Jahren mehrmals in Seminaren und Vorlesungen mit Schelling und insbesondere mit dessen Freiheitsschrift auseinandersetzen wird. Denn – so Heidegger in dem Brief – »Schelling wagt sich philosophisch viel weiter vor als Hegel, wenn er auch begrifflich unordentlicher ist.« 5 Trotz aller, bisweilen radikaler Wandlungen in Heideggers Schelling-Rezeption wird er grundsätzlich diese gegenüber Jaspers geäußerte, ambivalente Einschätzung Schellings beibehalten. Selbst wenn Heidegger – insbesondere in den vierziger Jahren – Schelling immer energischer als den Repräsentanten einer Willensmetaphysik kritisiert, gesteht er ihm dennoch zu, selbst noch innerhalb der Reihe der kritisierten Vertreter dieser Metaphysik einen herausragenden Platz einzunehmen. Schon im Rahmen von Heideggers Marburger Schelling-Seminar von 1927/28 wird in diesem Sinne von »Schellings Niveau« gesprochen, das »weit über dem Idealismus liegt, ohne daß es Schelling selbst gelungen wäre, dieses Niveau durchgängig zu halten.« 6 1936 heißt es sogar, dass Schellings »Abhandlung […] Hegels ›Logik‹ schon vor ihrem Erscheinen erschüttert«, auch wenn er letztlich doch – wie wenig später hinzugefügt wird – ›gescheitert‹ sei (HGA 42, 169). Und noch 1972 bemerkt Heidegger in einem Brief an Hannah Arendt angesichts der gerade ausgelieferten Ausgabe seiner Schelling-Vorlesung von 1936: 7 Schelling »wagt mehr [als Hegel, P. H.] und verläßt bisweilen jedes sichernde Ufer.« 8 Wie die angeführten Äußerungen bereits andeuten, ist Heideggers Rezeption Schellings durch eine grundsätzliche Ambivalenz oder Spannung gekennzeichnet: Einerseits gibt Heidegger in genauem Gegensatz zu dem traditionellen Dreischritt ›Fichte – Schelling – Hegel‹ zumeist Schelling gegenüber den anderen Idealisten und insbesondere Hegel den Vorzug, zumindest wenn es um den ›mittleren‹ Schelling oder genauer den Autor der Freiheitsschrift geht. 9 Andererseits Ebd. Heidegger 1927/28, 340 / HGA 86, 536. 7 Heidegger 1971a. 8 Heidegger an H. Arendt, 15. Februar 1972, Heidegger/Arendt 1999, 226. 9 Mit Blick auf Schellings frühe transzendentalphilosophische und seine 1800 einsetzende identitätsphilosophische Periode gibt Heidegger allerdings eher Hegel den Vorzug (vgl. etwa HGA 28, 198 f.) und verbleibt damit in der von einer hegelianischen Geschichtsphilosophie à la Richard Kroner vorgegebenen Perspektive ›von Kant zu Hegel‹, auch wenn Heidegger 1929 diese Perspektive als eine solche, in der die »Wahrheit […] bei Hegel gefunden« wird, zugleich kritisch reflektiert (HGA 28, 33). Gleichzeitig finden sich 1929 aber auch Passagen, in denen alle drei Idealisten auf eine Stufe 5 6

295 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

begreift er gleichzeitig Schelling als einen Philosophen, der in dieser Überwindungsbewegung des deutschen Idealismus und insbesondere Hegels letztlich stecken bleibt, insofern er entweder ›begrifflich unordentlich‹ arbeitet und ›jedes sichernde Ufer‹ verlässt oder sogar gänzlich bei der Umsetzung seines philosophischen Ansatzes ›scheitert‹. In den vierziger Jahren geht Heidegger gar soweit, dass er Schelling zwar immer noch eine Vorrangstellung unter den anderen Idealisten zukommen lässt, diese nun aber nicht mehr positiv als Überwindung, sondern vielmehr als Vollendung des deutschen Idealismus in Form einer zu kritisierenden ›Willensmetaphysik‹ interpretiert, wodurch er wie in einem Brennglas an Schelling geradezu alle negativen Tendenzen des Idealismus ablesen zu können glaubt. Dabei ist, wie zu zeigen sein wird, Heideggers eigene Ausformulierung dieser Willenskritik paradoxerweise vor allem durch denjenigen vermittelt, den sie am entschiedensten trifft – nämlich den ›Willensmetaphysiker‹ Schelling. Um diese bisweilen tendenziöse SchellingRezeption Heideggers zu verstehen, ist es unumgänglich, zunächst ansatzweise auf Heideggers Idealismus-Interpretationen sowie auch auf die dieser vorausgehenden Kant-Interpretationen einzugehen – kann doch derart allererst gezeigt werden, wie Heidegger von hier aus auf Schelling und dessen Willensbegriff ausgreift, von dem aus Heidegger wiederum den Idealismus als ganzen zu beleuchten suchen wird. Hinführend auf die Schelling-Rezeption soll dabei zunächst auf die, wenn auch periphere, Rolle des Willens in Sein und Zeit (Kap. 1) sowie auf Heideggers nahezu gleichzeitig aufkommendes Interesse an Kant und dem deutschen Idealismus zurückgegangen werden, um dessen in den zwanziger Jahren gleichwohl erst lose mit dem Willensbegriff verknüpfte Deutung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas in den Blick zu nehmen (Kap. 2). Erst vor diesem Hintergrund vermag Heideggers in vier Stationen nachzuzeichnende SchellingRezeption angemessen thematisiert zu werden, die sich fast ausschließlich mit Schellings 1809 erschienener Freiheitsschrift befasst. Die Idealismus-Vorlesung von 1929 macht hier allerdings eine Ausgestellt werden: »Fichte, Schelling, Hegel: 1. Jeder ist in seiner Weise das Ganze. 2. Jeder ist in seiner Weise eine prinzipielle Begründung.« (HGA 28, 186) Vgl. dazu auch Janke 2009, 13–15. – In die Idealismus-Forschung hat diese veränderte Sichtweise auf Schelling mit den Arbeiten des Heidegger-Schülers Walter Schulz (1955) sowie Michael Theunissens (1976) Eingang gefunden, die mit Blick auf Schelling von einer ›Vollendung‹ bzw. ›Aufhebung‹ des deutschen Idealismus sprechen.

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Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit

nahme, indem sie sich der schellingschen Frühphilosophie als ›Erweiterung‹ des fichteschen und gleichzeitig als Vorstufe des hegelschen Denkansatzes zuwendet. Einerseits um der chronologischen Behandlung der Werke Schellings willen wie auch andererseits aufgrund der nur peripheren oder genauer ›transitorischen‹ Rolle Schellings in dieser Vorlesung, die weit ausführlicher die anderen beiden großen Idealisten Fichte und Hegel behandelt, soll diese Vorlesung die Darstellung der heideggerschen Schelling-Rezeption eröffnen (Kap. 3), sodass im Anschluss Heideggers Interpretationen der Freiheitsschrift en bloc behandelt werden können. Durch diese leichte Durchbrechung der Chronologie wird sich nicht zuletzt zeigen, dass bereits für den Heidegger der zwanziger Jahre der ›mittlere‹ Schelling eine Sonderrolle einnimmt, indem er ein vom Standpunkt der Daseinsanalyse entscheidendes Defizit des idealistischen Ansatzes korrigiert. Die sich anschließende Darstellung von Heideggers Freiheitsschrift-Interpretationen – anfangend bei dem Schelling-Seminar von 1927/28 (Kap. 4) – soll lediglich vor und nach dem Unterkapitel zu der ausführlichsten Schelling-Vorlesung von 1936 (Kap. 6) unterbrochen werden, um einerseits die durchaus problematische Aufwertung des Willensparadigmas bei Heidegger zu Beginn der dreißiger Jahre (Kap. 5) und andererseits die sich in den Nietzsche-Vorlesungen ausbildende radikale Kritik dieses Paradigmas nachzuzeichnen (Kap. 7), die sich in der Schelling-Vorlesung von 1941 bruchlos fortsetzt (Kap. 8). Gleichzeitig wird diese Willenskritik durch ein radikales, alles Wollen zurückweisendes Gelassenheitsdenken flankiert, das Heidegger in Notizen zu Schelling aus den fünfziger Jahren nun auch bei diesem Denker ›entdeckt‹, den er zuvor gerade als den Vertreter einer ›Willensmetaphysik‹ kritisierte (Kap. 9). Dabei bezeugen alle drei Momente – die Universalisierung des Wollens, dessen Kritik und der Gegenentwurf eines radikalen ›Lassens‹ – frappierende Parallelen zwischen Schelling und Heidegger und lassen derart die Nachwirkungen sowie die Aktualität der schellingschen Willensphilosophie zum Vorschein kommen.

1. Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit Anders als in dem 1927/28 abgehaltenen Schelling-Seminar, welches die Einleitungspassagen der Freiheitsschrift überspringt, um sich sogleich den willenstheoretischen Passagen dieser Schrift zuzuwenden, 297 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

misst Heidegger dem Phänomen des Wollens in seinem ebenfalls 1927 erschienenen Buch Sein und Zeit auf den ersten Blick keine größere Bedeutung bei. Weder als positive noch als explizit negative Bezugsgröße – etwa im Hinblick auf den in Sein und Zeit entwickelten Existenzbegriff oder die Konzeption der ›Entschlossenheit‹ – findet der Willensbegriff 1927 eine ausführliche Erörterung. Interessant ist dies nicht zuletzt aus dem Grund, dass Heidegger in seinem umfänglichsten Rekurs auf Sein und Zeit in der Schelling-Vorlesung von 1941 den eigenen in Sein und Zeit ausgearbeiteten Existenzbegriff insbesondere gegenüber demjenigen Schellings meint abheben zu müssen, welcher – wie auch der Begriff des ›Grundes‹ – seine »Wurzel« in der Bestimmung des »Sein[s] als Wollen« habe (HGA 49, 89). Heidegger scheint mithin erst in den Jahren nach Sein und Zeit – vor allem im Zuge seiner Beschäftigung mit Kant, Schelling und Nietzsche – auf die Notwendigkeit aufmerksam geworden zu sein, sich mit dem Willensbegriff intensiver auseinanderzusetzen und seine eigene in Sein und Zeit entwickelte Position zu diesem in ein Verhältnis zu setzen. Doch gerade diese Heidegger nachträglich als notwendig erscheinende Abgrenzung gegenüber allen willens- und subjektivitätstheoretischen Momenten verweist umgekehrt darauf, dass der Ansatz von Sein und Zeit hiervon nicht derart frei oder zumindest deutlich abgegrenzt war, dass es nicht einer späteren Klarstellung bedurft hätte. In der Tat finden sich in Sein und Zeit denn auch zwei Stellen, an denen vom Wollen die Rede ist und die, betrachtet man sie in direktem Vergleich, auf ein konzeptionelles Problem verweisen, dem sich Heidegger jedoch erst nach 1927 stellen wird: 10 Zum einen wird das Wollen 1927 zwar klar als der Sorgestruktur unter- und nachgeordnetes Phänomen eingeführt und derart mit Blick auf die zentrale Fragestellung für randständig erklärt (Kap. 1.1). Zum anderen trägt Heidegger aber das Willensparadigma gleichzeitig auf für seine Konzeption nicht unproblematische Weise in das Zentrum der Entschlossenheitsanalyse ein, ohne die Art dieses Wollens in der Gestalt des ›Gewissen-haben-Wollens‹ genauer zu klären (Kap. 1.2). Dieser doppelte Stellenwert des Wollens in Sein und Zeit soll im Folgenden etwas genauer betrachtet werden, da er für Heideggers InterpretatioVgl. hierzu auch Davis 2007, 24–59, bei welchem allerdings die hiermit verbundene ambivalente Stellung insbesondere zu den idealistischen Subjektivitätstheorien fast gänzlich ausgeklammert wird.

10

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Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit

nen des deutschen Idealismus und insbesondere der Subjektivitätstheorien desselben von nicht unwesentlicher Bedeutung ist.

1.1. Die ontologische Unterordnung des Willensparadigmas unter die Struktur der Sorge Auf das Phänomen des Wollens 11 kommt Heidegger zunächst in dem der Sorgestruktur gewidmeten § 41 von Sein und Zeit zu sprechen, in welchem er das Wollen in die ihm noch vorausgehende Struktur der Sorge einzubetten sucht. 12 Zumindest in diesem Paragraphen von Sein und Zeit wendet sich Heidegger damit explizit gegen alle bewusstseinsphilosophischen Konzeptionen, die – wie etwa die Phänomenologie Husserls der 20er Jahre, 13 der Sache nach aber auch der deutsche Idealismus 14 und, wie gesehen, insbesondere Schelling – das Wollen als »ontologisch indifferente[s], in einem seinem Seinssinne nach völlig unbestimmten ›Strom‹ vorkommende[s]« Phänomen (HGA 2, 257) verstehen und ihm in dieser Unbestimmtheit zugleich einen Primat einräumen. Demgegenüber begreift Heidegger das Wollen ausdrücklich als sekundäres, der ›Sorge‹ nachgeordnetes Phänomen. Denn die als das ›Sein des Daseins‹ verstandene Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit [des Daseins, P. H.] existenzialapriorisch »vor« jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen »Ver11 Heidegger verwendet in Sein und Zeit in der Regel, insbesondere wenn es ihm um seine eigene Konzeption geht, den Begriff ›Wollen‹ und nicht ›Wille‹, ohne dass beide Begriffe allerdings klar voneinander abgehoben würden. So spricht Heidegger an einer Stelle auch von den mit der Sorge nicht zu identifizierenden »Phänomene[n] […] Wille, Wunsch, Hang und Drang« (HGA 2, 242). 12 Vgl. zu einer hier nicht einzuholenden Detailanalyse von Herrmann 2008, 190– 206. 13 Vgl. hierzu etwa Husserls Bemerkung von 1923/24, dass die »Erkenntnisvernunft« eine »Funktion der praktischen Vernunft [ist, P. H.], der Intellekt ist Diener des Willens« (Husserl 1923/24, 201). Heidegger kritisiert an späterer Stelle in ähnlicher Weise auch Schelers »›voluntative Daseinstheorie‹«, ist doch in den hierbei angeführten Phänomenen Heidegger zufolge »schon etwas erschlossen, worauf Trieb und Wille aus sind« (HGA 2, 278 f.). Demgegenüber betont Heidegger, dass das Phänomen der Sorge »keineswegs einen Vorrang des ›praktischen‹ Verhaltens vor dem theoretischen« ausdrücke (HGA 2, 257), auch wenn in Teil IV, Kap. 1.2 diese Behauptung mit Blick auf die Entschlossenheitsanalyse sich als zumindest fragwürdig erweisen wird. 14 Zum Primat des Willens und damit der praktischen Vernunft im deutschen Idealismus vgl. oben, bes. Teil I, Kap. 1.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

haltung« und »Lage« des Daseins. […] Daher mißlingt auch der Versuch, das Phänomen der Sorge in seiner wesenhaft unzerreißbaren Ganzheit auf besondere Akte oder Triebe wie Wollen und Wünschen oder Drang und Hang zurückzuführen, bzw. aus ihnen zusammenzubauen. (HGA 2, 257)

Heidegger sucht die Sorgestruktur von ›jeder faktischen Verhaltung‹ und allen ›besonderen Akten oder Trieben‹ fernzuhalten, denen gegenüber sie als logisch früher anzusetzen sei, auch wenn sie gleichzeitig ›in‹ ihnen gewissermaßen als Bedingung ihrer Möglichkeit zum Tragen komme. Die von Heidegger angeführten Phänomene des Wollens, Wünschens, des Dranges sowie des Hangs seien als ontisch-existenzielle nämlich in der Sorge ›verwurzelt‹ und ›gründeten‹ in dieser (vgl. HGA 2, 257 f.). Gerade in der »durchschnittliche[n] Alltäglichkeit des Besorgens« kämen diese ontisch-existentiellen Phänomene jedoch lediglich in einer Weise zur Geltung, die die ihnen zugrundliegende Sorgestruktur nicht mehr in ihrer Gänze oder nur ›modifiziert‹ zur Geltung bringe (HGA 2, 258 f.). Um die Art dieser Modifikation im alltäglichen Verhalten zu verstehen, ist es notwendig, in aller Kürze die nach Heidegger drei essentiellen Momente der Sorgestruktur zu entfalten, mit denen er das Sein des Daseins ontologisch zu beschreiben sucht: Das Dasein sei ein Sein, dem es um dieses selbst gehe. Derart sei es aber immer schon frei und offen »für das eigenste Seinkönnen«, das es zu ergreifen und zu konkretisieren habe; als ein solches »Sein zum Seinkönnen« charakterisiere das Dasein generell ein »Sich-vorweg-sein«, womit bereits der im Können liegende Zukunftsbezug des Daseins anklingt (HGA 2, 254 f.). Doch das derart begriffene »Existieren ist immer ein faktisches«, wie Heidegger mit Blick auf das zweite Moment der Sorgestruktur hinzufügt (HGA 2, 255). Das Dasein ist immer schon in eine Welt ›geworfen‹, die ihm als bereits gewesene vorgegeben ist. Gleichwohl findet sich das Dasein dabei nicht als ein in die Welt versetztes, isoliertes Subjekt vor, sondern das »geworfene In-der-Weltsein-können […] ist immer auch schon in der besorgten Welt aufgegangen« (HGA 2, 255); es hält sich immer schon bei gegenwärtig begegnendem Seiendem auf, mit dem es alltäglich umgeht. In ihrer Dreigliedrigkeit verweist die Sorge auf ›Gewesenheit‹, Gegenwart und Zukunft – auf die drei Dimensionen der Zeitlichkeit also, welche die »ursprüngliche Einheit« der Sorge ausmacht und verbürgt (HGA 2, 433). Erst mit der Entwicklung der drei Strukturmomente der Sorge kann Heidegger daher diese in ihrer jene Momente zusammen300 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit

fassenden Ganzheit als »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)« auffassen – als eine einheitliche und grundlegende Struktur mithin, welche von allen rein ontischen Phänomenen »wie Besorgnis, bzw. Sorglosigkeit« zu unterscheiden sei, insofern sie diese erst begründe (HGA 2, 256). Wie bereits angedeutet, sieht Heidegger ein solches Begründungsverhältnis auch im Falle des Wollens gegeben. Auch hinsichtlich des Wollens ist die Sorgestruktur das logisch frühere, das für das Wollen konstitutiv ist, auch wenn gerade im Wollen – vergleichbar mit Schellings Weltaltern – das Dasein in seiner zeitlichen Verfasstheit erfasst oder, mit Heidegger gesprochen, ›ergriffen‹ wird: Im Wollen wird ein verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen. Deshalb gehört zum Wollen je ein Gewolltes, das sich schon bestimmt hat aus einem Worum-willen. Für die ontologische Möglichkeit von Wollen ist konstitutiv: die vorgängige Erschlossenheit des Worumwillen überhaupt (Sich-vorwegsein), die Erschlossenheit von Besorgbarem (Welt als das Worin des Schon-seins) und das verstehende Sichentwerfen des Daseins auf ein Seinkönnen zu einer Möglichkeit des »gewollten« Seienden. Im Phänomen des Wollens blickt die zugrunde liegende Ganzheit der Sorge durch. (HGA 2, 258)

Insofern im Wollen ein innerweltlich begegnendes Seiendes oder gar eine andere Person zu einer bestimmten Wirklichkeit oder ›in sein Sein‹ gebracht werden soll, ist es unumgänglich, dass dieses Seiende zuvor als solches ›verstanden‹ und auf seine Möglichkeit hin durchsichtig ist. Doch diese verstandene und gewollte Möglichkeit verweist wiederum auf ein ›Worum-willen‹ zurück, das »aber immer das Sein des Daseins« betrifft (HGA 2, 113). Insofern setzt der Akt des Wollens bereits alle drei Momente der Sorgestruktur voraus: Zum einen muss das innerweltlich vorgegebene Seiende als ›besorgbares‹ in seinem innerweltlichen Möglichkeitscharakter erschlossen sein, zum anderen muss sich das Dasein aber auch im ›Sich-vorwegsein‹ auf sein Seinkönnen hin entdeckt haben, um drittens im Umgang mit dem gewollten Seienden dessen Möglichkeit für ein eigenes Seinkönnen gleichsam nutzbar zu machen. Zwar schätzt Heidegger 1927 das Wollen – im Gegensatz zu den Phänomenen des Wünschens, des Hangs und des Dranges – noch grundsätzlich positiv ein. Jedoch deutet er auch hier schon eine Modifikation oder vielmehr Deformation des Wollens an, die ansatzweise bereits seine spätere vehemente Kritik am Willensparadigma ins301 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

gesamt antizipiert. Denn wie auch im Falle der anderen genannten Phänomene könne auch im Wollen die ihm vorausgehende Sorgestruktur verdeckt oder genauer nur partiell und unzureichend hervortreten, indem die im ›Sich-vorweg-Sein‹ der Sorge aufscheinenden Möglichkeiten und die mit jenen gegebene Freiheit entweder verdeckt oder nicht ergriffen werden. In genauem Gegensatz zur sicherlich prominentesten Interpretation des Hanges bei Kant, der ausdrücklich zugesteht, dass dieser Begriff sich »doch mit dem Begriff der Freiheit vereinigen« lasse (Rel., A 23/B 25), 15 sieht Heidegger im Hang gerade eine Verdeckung der in den erschlossenen Möglichkeiten liegenden Freiheit, indem das »Sich-vorweg-sein […] sich verloren [hat] in ein ›Nur-immer-schon-bei…‹« (HGA 2, 259). Der Hang bestehe in einem bloßen »Sichziehenlassen von solchem, dem der Hang nachhängt«; und damit ist, wie Heidegger metaphorisch anmerkt, das Dasein »[b]lind geworden« (HGA 2, 259). Auch im Drang sieht Heidegger die Tendenz, »andere Möglichkeiten zu verdrängen« (HGA 2, 259), zugunsten der Verfolgung eines Erstrebten ›um jeden Preis‹. Auch wenn beim Drang – anders als beim sich ziehen lassenden Hang – der ›Antrieb‹ von diesem selbst komme, so sei doch auch hier das ›Sich-vorweg-Sein‹ bei den eigenen Möglichkeiten ein gleichsam auf eine einzige Möglichkeit hin eingeschränktes und damit eine nicht ursprüngliche Modifikation desselben. Im Gegensatz zu Schellings oben ausführlich interpretierter ontologischer Aufwertung des Dranges, die Heidegger im WinterNach Kant ist der Hang der »subjektive[n] Grund der Möglichkeit einer Neigung« oder genauer, wie er in einer Fußnote hinzufügt, die »Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt« (Rel., A 18 f./B 20 f.). Hinsichtlich der ›dritten Stufe‹ des Hanges, nämlich des Hanges zum moralisch Bösen, bemerkt Kant des Weiteren, dass zwar zum einen »nichts sittlich- (d. i. zurechnungsfähig-) böse [sei, P. H.], als was unsere eigene Tat ist«, dass man aber zum anderen »unter dem Begriffe eines Hanges einen subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür, der vor jeder Tat vorhergeht, mithin selbst noch nicht Tat ist«, verstehe (Rel., A 22/B25). Der Hang zum Bösen ist mithin, wie Kant folgert, eine durch Freiheit gekennzeichnete Tat in dem Sinne, dass »die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen« werde, was Kant auch als »intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar«, bezeichnet (Rel., A 23/B25 f.). Als »ein bloßer Hang« heiße diese Tat nur »angeboren, weil er [dieser Hang, P. H.] nicht ausgerottet werden kann« und »weil wir davon: warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene Tat ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört« (A 23 f./B 26). 15

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Die Vielschichtigkeit des Wollensbegriffes in Sein und Zeit

semester 1927 intensiv rezipieren wird, 16 kann Sein und Zeit zufolge das Dasein daher »nie ›bloßer Drang‹ [sein, P. H.], zu dem bisweilen andere Verhaltungen […] hinzukommen«; der Drang stelle nämlich nur eine »Modifikation des vollen In-der-Weltseins« dar und sei mithin nur ein Moment der Sorge, das diese lediglich partiell zur Geltung kommen lasse (HGA 2, 260). Doch nicht allein diese »Triebe«, sondern ebenso die »besondere[n] Akte« (HGA 2, 257) des Wollens und Wünschens können Heidegger zufolge, obgleich sie generell die Sorgestruktur voraussetzen, die volle dreigliedrige Strukturganzheit der Sorge partiell verdecken. Während im Wünschen im Gegensatz zu den anderen angeführten Beispielen zwar die im ›Sich-vorweg-Sein‹ aufscheinenden Möglichkeiten gegenwärtig sind, aber als bloß gewünschte gerade »unergriffen bleiben« und in ihrer Verwirklichung oder »Erfüllung nicht einmal bedacht« werden, ist das uneigentliche Wollen dagegen durch eine »Abblendung des Möglichen als solchen« charakterisiert (HGA 2, 258 f.). Als solches begnüge es sich bei dem gerade Gegenwärtigen. Durch diese Verdeckung des dem Dasein eignenden Möglichkeitshorizontes entstehe folglich lediglich der »Schein […], es geschehe etwas« (HGA 2, 258), während doch in Wahrheit allein das gerade Verfügbare nur neu arrangiert und geordnet werde. Dies kann jedoch Heidegger zufolge in dialektischer Weise eine geradezu suchtartige, »ausgedehnte Betriebsamkeit des Besorgens« (HGA 2, 258) wecken, indem in Ermangelung eines wirklich Neuen das Gegebene immer nur und immer häufiger nur anders und damit nur scheinbar ›neu‹ arrangiert werde. Ähnlich wie Schelling in den Weltaltern kritisiert Heidegger mithin bereits 1927 eine bestimmte Ausformung des Wollens, das in Ermangelung eines sich aus allen zeitlichen Dimensionen zusammensetzenden Möglichkeitshorizontes – wie er bei Heidegger in der Struktur der ›Sorge‹ und bei Schelling in der Erfahrung ›wahrhafter Zeit‹ zutage tritt – nur suchtartig in sich zu kreisen vermag. 17 Zwar ordnet Heidegger in diesem Paragraphen von Sein und Zeit das Wollen zum einen klar der zeitlich verfassten Sorgestruktur unter, um es als lediglich sekundäres Phänomen anzusehen, und nimmt zum anderen – darüber noch hinausgehend – anhand des uneigentlichen Wollens sogar seine spätere vehemente Kritik am WillensparaVgl. unten, Teil IV, Kap. 4.1 zu Heideggers Rezeption dieses Motivs, sowie bei Schelling selbst Teil II, Kap. 1.1.2. 17 Vgl. hierzu oben, Teil II, Kap. 2.2.2. 16

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digma ansatzweise vorweg. Dennoch bleibt der Status des Wollens in Sein und Zeit insgesamt fragwürdig, insofern Heidegger noch an einer zweiten, zentralen Stelle des Buches von einem Wollen spricht – nämlich hinsichtlich des ›Gewissen-haben-Wollens‹ im Kontext der Entschlossenheitsanalyse.

1.2. Das voluntative Moment in der Gewissens- und Entschlossenheitsanalyse: Das ›Gewissen-haben-Wollen‹ Zwar erkennt Heidegger in der für die Herausstellung der Sorgestruktur konstitutiven Analyse von Befindlichkeit und Stimmung »in gewissen Möglichkeiten des Existierens einen Vorrang von Wollen und Erkenntnis« durchaus an (HGA 2, 181) – etwa indem das Dasein einer Stimmung ›Herr‹ zu werden suche. Jedoch kann dies, so betont Heidegger, nie darüber hinwegtäuschen, dass das Dasein sich »vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen ist« (HGA 2, 181). Umso mehr verwundert es denn auch, dass im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit (§§ 45 ff.) im Rahmen der Explikation der ›Entschlossenheit‹, in der die Sorge in ihrer zeitlichen Verfasstheit dem Dasein erfahrbar wird, von einem ›Gewissen-haben-Wollen‹ die Rede ist 18 – an einer Stelle also, an der eigentlich nicht nochmals von einem Wollen gesprochen werden dürfte, sofern die in § 41 vorgelegte Analyse dieses Phänomens erschöpfend war und mithin das Wollen der Sorgestruktur sowie der sie erfahrbar machenden ›Entschlossenheit‹ nachgeordnet werden muss. So ist doch das Wollen erst auf deren Grundlage überhaupt erst möglich. Auf das ›Gewissen-haben-Wollen‹ kommt Heidegger vor dem Hintergrund zu sprechen, dass die Daseinsanalyse das in der Sorgestruktur aufgezeigte Dasein in seiner Ganzheit zum einen auch als

Vgl. dazu auch ansatzweise Davis 2007, 54–56. Davis sucht die im Folgenden aufgezeigte Ambivalenz in erster Linie von dem Begriff der ›Entschlossenheit‹ her aufzuzeigen, wobei er vier mögliche Interpretationen nebeneinander bestehen lässt (vgl. v. a. Davis 2007, 40–56), die jedoch – bezieht man die Lesarten auf die im Hintergrund stehenden Gesprächspartner Heideggers innerhalb der philosophischen Tradition – durchaus in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden können und auf eine von den idealistischen Gewissenskonzeptionen sich herschreibenden Problemstellung verweisen, an der sich Heidegger abarbeitet, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

18

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diesem selbst erfahrbar erweisen muss und dass sie zum anderen zeigen muss, wie das Dasein im expliziten Bewusstsein dieser Ganzheit als eigentliches Selbst existieren könne. Ersteres sucht die Analyse des Todes als des »Zu-Ende-sein[s]« und damit des »Ganzsein[s] dieses Seienden« einzuholen; Letzteres übernimmt die Gewissensanalyse, da Heidegger zufolge »ein eigentliches Seinkönnen des Daseins im Gewissen-haben-wollen liegt« (HGA 2, 311). Das Gewissen, wie es Heidegger versteht, hält nämlich dem Dasein sein eigenes Sein in seiner Ganzheit als zu ergreifendes endliches Möglichsein vor Augen, was im alltäglichen Umgang zumeist verdeckt sei. Auch wenn die heideggersche Gewissensanalyse hier keineswegs en détail rekonstruiert werden kann, 19 ist es mit Blick auf die Frage nach möglichen voluntativen Momenten dieser Gewissenskonzeption notwendig, zumindest deren zentrale Elemente zu rekapitulieren. Heidegger versteht das Gewissen als nicht stimmlich artikulierten ›Ruf‹, von dem nur »gerufen wird, wer zurückgeholt sein will« aus der alltäglichen ›Öffentlichkeit des Man‹ (HGA 2, 361; Herv. v. Verf.), in der das Dasein handelnd nur solche Möglichkeiten aktualisiert, die ›man‹ für gewöhnlich ergreift. Auch wenn Heidegger explizit betont, dass das Gewissen nicht »auf eines der Seelenvermögen, Verstand, Wille oder Gefühl« (HGA 2, 361), zurückgeführt werden dürfe, so scheint Heidegger hingegen eine Beteiligung des Wollens nicht gänzlich auszuschließen, wie das angeführte Zitat belegt. Dieses voluntative Moment ist jedoch – so deutet auch die Rede vom ›Gewissenhaben-Wollen‹ bereits an – weder im anonymen »Rufer« oder der Gewissenstimme noch in dem »im Ruf Gerufenen«, sondern allein im »Angerufenen« (HGA 2, 364) zu situieren, auch wenn alle drei Strukturen mit und im Dasein zu identifizieren sind. Zwar sei nicht zu bestreiten, dass das Dasein im Gewissen »sich selbst« rufe; soll dieser Ruf einen Sinn haben, muss aber gleichwohl die Frage erlaubt sein: »Ist denn das Dasein als angerufenes nicht anders ›da‹ denn als rufendes?« (HGA 2, 365) Der ›Rufer‹ ist denn auch insofern auf einer tieferen Ebene von dem Angerufenen abzuheben, als der Ruf »von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen« werde (HGA 2, 366). Gleichwohl stelle der Rufer keine »›allgemein‹-verbindliche Stimme«, kein »›öffentliche[s] Gewissen‹« oder gar eine »›Weltgewissen‹« im Sinne eines höheren Willens oder einer von außen kom19

Vgl. hierzu genauer Figal 1988, 233–269.

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menden Macht dar (HGA 2, 369 f.). Vielmehr sei der Rufer das Dasein als »das nackte ›Daß‹«, das nur »dem alltäglichen Man-selbst unvertraut – so etwas wie eine fremde Stimme« (HGA 2, 367) – sei. 20 Indem derart das Dasein auf seine im Alltäglichen zumeist abgeblendete Faktizität aufmerksam gemacht werde, werde es ex negativo in seinem alltäglichen Verhalten zugleich auf seine endlichen Möglichkeiten gestoßen. Damit stellt sich das Gewissen als dasjenige Phänomen heraus, in dem sich dem Dasein die bereits explizierte Sorgestruktur mit ihren drei Momenten eröffnet: Das Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge: der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schon-sein-in…) um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen (Sich-vorweg…). Und aufgerufen ist das Dasein durch den Anruf aus dem Verfallen in das Man (Schon-sein-bei der besorgten Welt). (HGA 2, 368 f.)

Derart wird dem Dasein aber nicht allein die Sorgestruktur eröffnet, sondern in eins damit wird das Dasein ›aufgerufen‹, aus dem ›Verfallen in das Man‹ und den von ihm bloß vorgegebenen Möglichkeiten herauszutreten und sein ›eigenstes Seinkönnen‹ zu ergreifen. Mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung ist es wichtig, sich außerdem zumindest im Ansatz zu vergegenwärtigen, was dem Dasein dabei gleichsam zugerufen und wozu es aufgerufen wird. Denn gerade vom Verbindlichkeitscharakter dieses Zugerufenen hängt es ab, ob und inwiefern Heidegger im Verhalten zu diesem Ruf ein voluntatives Moment annehmen muss. Heidegger zufolge spricht »der Ruf das Dasein als ›schuldig‹« an (HGA 2, 373). Dabei ist dieses ›schuldig‹ allerdings eher im Sinne von ›verantwortlich‹ zu verstehen, 21 wenn Heidegger es als »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein« (HGA 2, 376) übersetzt. Dieses ›durch ein Nicht bestimmtes Sein‹ habe das Dasein grundsätzlich bei der Wahl von Möglichkeiten mit zu übernehmen – nämlich »im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen« (HGA 2, 378). Demnach ist der Anruf des Gewissens ein doppelter: Er macht Auf eine Nähe zu Schelling hinsichtlich der Bedeutung des ›Dass‹ in dessen Berliner Spätphilosophie – allerdings unter Bezugnahme auf den Begriff des ›Nichts‹ in Was ist Metaphysik?, was aber auch auf Sein und Zeit mit Blick auf diesen Begriff des ›Dass‹ ausgedehnt werden könnte – hat Walter Schulz aufmerksam gemacht, vgl. Schulz 1955, 287–290. 21 Zu dieser hier aufgegriffenen Deutung vgl. Figal 1988, 239 f. 20

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zum einen das Dasein auf die ›Geworfenheit‹ als »den nichtigen Grund […], den es in die Existenz aufzunehmen hat«, aufmerksam; zum anderen verweist der Anruf das Dasein zugleich auf die »Möglichkeit, selbst das geworfene Seiende, das es ist, existierend zu übernehmen« (HGA 2, 380 f.). Das so angerufene Dasein verhalte sich zu diesem Anruf derart, dass es sich in seinem »eigensten Seinkönnen« verstehe, was dem gerade erläuterten Anruf entsprechend bedeutet, dass das Dasein zugleich das »eigenste eigentliche Schuldigwerdenkönnen« und mithin dasjenige übernimmt, was mit dem konkreten Seinkönnen einhergeht, ohne dass das Dasein es gewählt hat (HGA 2, 381). Die interpretatorische Schwierigkeit für ein eindeutiges Verständnis dieses von Heidegger zunächst als ›Hören‹ bestimmten Anrufverstehens deutet sich jedoch bereits zu Anfang des ganzen der Entschlossenheit gewidmeten Kapitels an: Dem Gewissensruf entspricht ein mögliches Hören. Das Anrufverstehen enthüllt sich als Gewissenhabenwollen. In diesem Phänomen aber liegt das gesuchte existenzielle Wählen der Wahl eines Selbstseins, das wir, seiner existenzialen Struktur entsprechend, die Entschlossenheit nennen. (HGA 2, 358)

Heidegger deutet das Verstehen des Gewissensrufes als ›Gewissenhaben-Wollen‹, in das er – zweifellos in Anlehnung an Kierkegaards Entweder – Oder 22 – das ›Wählen der Wahl eines Selbstseins‹ einzeichnen will. Dieses durch den Gewissensruf eröffnete Selbstsein bezeichnet Heidegger wiederum im Sinne einer Selbstdurchsichtigkeit des Daseins als ›Entschlossenheit‹. Die von Heidegger in Sein und Zeit nicht zu vollständiger Klarheit gebrachte Schwierigkeit besteht nun darin, wie das voluntative Moment innerhalb des Anrufverstehens und damit einhergehend auch die Wahl zu verstehen sind. Nimmt man nämlich Heideggers Rede von einer »Unerbittlichkeit und Eindeutigkeit des Rufes« (HGA 2, 370) ernst, mit der das Dasein zum eigenen Selbstseinkönnen im Gewissen ›aufgerufen‹ werde, so muss der Gewissenruf, sofern er denn gehört wird, aufgrund seiner derartigen Verbindlichkeit unmittelbar zu einer Selbstdurchsichtigkeit des Daseins führen, die nicht nochmals im Zuge der ›Entschlossenheit‹ gewählt, sondern allein vernommen werden kann. 23 Derart Vgl. bes. EO2, 188. Vgl. hierzu Figal 1988, 252–257. Vgl. zu dieser Deutungsoption Figal 1988, 268 f. sowie Theunissen 1993, 45–51, der v. a. auf die Nähen zu Kierkegaards Krankheit zum Tode hinweist.

22 23

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müsste die »Entschlossenheit als Durchsichtigkeit der Handlung« (HGA 19, 150) aufgefasst werden, wie Heidegger in seiner Sophistes-Vorlesung von 1924/25 hinsichtlich der »εὐβουλία als […] Vollzugsart der φρόνησις« (HGA 19, 151) bemerkt. 24 Für diese Interpretation spräche nicht allein eine Textstelle, an der Heidegger das Rufverstehen in Anlehnung an eine Formulierung aus der schellingschen Freiheitsschrift 25 als »In-sich-handeln-lassen des eigensten Selbst aus ihm selbst« deutet (HGA 2, 391 f.; vgl. auch HGA 2, 396), ohne allerdings den zu Anfang der Passage skizzierten Wahlcharakter dieser Struktur dazu in ein Verhältnis zu setzen. Diese Interpretation hätte aber auch Heideggers rückblickende Deutung des Ansatzes von Sein und Zeit in der Schelling-Vorlesung von 1941 sowie nicht zuletzt auch sein späteres Gelassenheitsdenken auf seiner Seite. Gleichwohl muss man – wie noch zu zeigen sein wird – angesichts des zeitlichen Abstandes diesbezüglich eher von einer Uminterpretation des eigenes Ansatzes von 1927 ausgehen, die die Ambivalenz desselben nachträglich abzublenden sucht. 26 Die Passage und insbesondere die an Schelling angelehnte Formulierung weisen nämlich eine ähnliche Ambivalenz auf, wie sie sich auch bereits bei dem Leonberger beobachten ließ, insofern dieser mittels jener Formulierung stärker noch als Kant auf eine – um Dieter Henrich nochmals zu zitieren – dieser Struktur eingeschriebene »Einheit von Distanz und Wesensgleichheit« 27 aufmerksam zu machen suchte. Ausdrücklicher noch als bei Schelling offenbart diese analoge Ambivalenz in Heideggers Konzeption des Gewissensrufes dabei ein Schwanken zwischen einer gelassenheitstheoretischen Lesart einerseits, welche gleichzeitig eine Selbstdistanzierung anzeigt,

Doch auch hier zeigt Heidegger bereits an, dass er diese ›Durchsichtigkeit‹ nicht als ein rein passives Offensein versteht: »Die Ausarbeitung der konkreten Lage zielt darauf, die rechte Entschlossenheit als Durchsichtigkeit der Handlung verfügbar zu machen. Und sofern diese Entschlossenheit in der Tat angeeignet und vollzogen ist, sofern ich also entschlossen bin, ist die Handlung in ihrer äußersten Möglichkeit da. Das gerichtete Aufdecken der vollen Situation endigt in der eigentlichen Entschlossenheit zu…, im Zugreifen selbst« (HGA 19, 150). 25 Vgl. hierzu oben, Teil II, Kap. 1.1.3. Diese Stelle wird gerade auch in Heideggers erstem Seminar zu Schellings Freiheitsschrift interpretiert, sodass davon auszugehen ist, dass Heidegger diese Parallele hinsichtlich der Formulierung bewusst war. Vgl. hierzu unten, Teil IV, Kap. 4.2. 26 Vgl. unten, Teil IV, Kap. 8. u. Kap. 9. 27 Henrich 2001, 44. 24

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sowie einer willenstheoretischen Auslegung des Phänomens andererseits, die die ›Wesensgleichheit‹ zu betonen sucht. So deutet in Sein und Zeit zugleich vieles auf eine alternative Lesart gegenüber der oben vorgestellten hin, wenn auch diese nicht gänzlich unproblematisch ist, insofern sie das Mithineinspielen eines voluntativen Momentes stärker betont. 28 Für diese Auslegung spricht dabei nicht allein, dass im gesamten zweiten Kapitel des zweiten Abschnittes (HGA 2, 355–399), das den Phänomenen von Gewissen und Entschlossenheit gewidmet ist, kein einziges Mal Aristoteles und seine φρόνησις-Konzeption erwähnt werden. 29 Vielmehr wird gleich zu Anfang der Gewissenanalyse auf Kant zusammen mit Hegel, Schopenhauer und Nietzsche als Autoren verwiesen, deren »Gewissensinterpretationen […] zu beachten« seien (HGA 2, 361 Anm.). 30 Tatsächlich weist das Zusammenspiel von Gewissensruf und Gewissenhaben-Wollen eine strukturelle Parallelität insbesondere zur kantischen Konzeption auf, als deren Korrektur und modifizierte Fortführung dieses zugleich – ähnlich wie bei Schelling 1809 – gelesen werden kann. 31 So nimmt auch Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ein Zusammenspiel von Sittengesetz und Wille an. Während jedoch Kant nicht allein von dem »Gesetz« ausgeht, »dessen Vorstellung […] den Willen bestimmen muß«, sondern gleichzeitig noch annimmt, dass dieses Gesetz »als uns von uns selbst auferlegt […] doch eine Folge des Willens« sei (GMS, A 17/B17), spricht Heidegger dagegen lediglich von einer Wirkung des Gewissensrufes auf das als Gewissen-haben-Wollen beschriebene Anrufverstehen, selbst wenn er gleichzeitig um der Einheit der Struktur willen darauf besteht, dass im Gewissen das Dasein lediglich ›sich selbst‹ rufe. Wie schon Schelling 1809 bricht Heidegger derart die selbstreferentielle Autonomiekonzeption Kants gewissermaßen auf, um dadurch die Mit dieser das voluntative Moment stärker betonenden Lesart wird aber keineswegs die sicherlich das andere Extrem überbetonende These vertreten, wonach in der Eigentlichkeit das Dasein als ein »heroische[s]« hervortrete, »das von der Demut des Sich-Annehmens nichts mehr erkennen läßt« (Theunissen 1993, 51). Vgl. ähnlich Habermas 1988, 183. Diese Interpretationen verkennen ohne Zweifel das logisch vorgängige Moment des das Dasein überkommenden Gewissensrufes, auf das erst im Gewissen-haben-Wollen das Dasein gleichsam aktiv reagiert. 29 Das für die Konzeption der φρόνησις zentrale Buch Z der Nikomachischen Ethik wird in anderem Zusammenhang nur in HGA 2, 298 Anm. erwähnt. 30 Innerhalb dieses Kapitels von Sein und Zeit wird auf Kant außerdem eingegangen in HGA 2, 360 u. 388 f. 31 So auch Figal 1988, 268, der allerdings der ersten Lesart letztlich den Vorzug gibt. 28

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Verbindlichkeit des Gewissensrufes in seiner vollkommenen Unableitbarkeit deutlicher noch als Kant herauszustellen, was Heidegger in seiner Spätphilosophie – wie noch zu zeigen sein wird – noch verstärken wird. Gleichwohl bleibt damit immer noch fraglich, welchen Status das Wollen einnimmt, das sich im Gewissen-haben-Wollen zur Verbindlichkeit des Gewissensrufes als ›Ruf der Sorge‹ verhält. Zwar wird das Gewissen-haben-Wollen dadurch weiter präzisiert, dass Heidegger feststellt, dass in ihm die auch als »Entschlossenheit« bezeichnete »eigentliche Erschlossenheit« des Daseins liege, die nicht allein durch die »Befindlichkeit der Angst«, sondern ebenso durch das »Verstehen als Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein« sowie durch die dem Gewissensruf entsprechende »Rede als Verschwiegenheit« konstituiert werde (HGA 2, 393). Doch diese Bestimmungen, die gerade zwischen einer das Dasein überkommenden Stimmung einerseits sowie einer bewussten Übernahme des eigenen ›Schuldigseins‹ und der Geworfenheit andererseits changieren, nehmen lediglich Heideggers weitere Erläuterung vorweg, dass die Entschlossenheit kein Handeln im engeren Sinne und weder »leere[r] ›Habitus‹« noch »unbestimmte[…] ›Velleität‹« sei, sondern Aktivität und Passivität zugleich umgreife (HGA 2, 398). Deutlich wird aus diesen Bestimmungen gleichwohl, dass Heidegger die Entschlossenheit zumindest 1927 nicht nur als reine Durchsichtigkeit des Daseins auffasst, das dem im Gewissensruf Zugerufenen in seiner Verbindlichkeit nur vollkommen passiv entsprechen kann. Sie muss auch ein aktives Moment beinhalten, aufgrund dessen sich das Dasein zu dem Ruf bewusst verhält und sich außerdem in dem durch ihn Eröffneten zu halten vermag. Insofern spricht auch Heidegger davon, dass »[i]hrer selbst sicher […] die Entschlossenheit nur als Entschluß« sei (HGA 2, 395 f.). Doch dieses aktive, voluntative Moment in der Entschlossenheit, auf das Heidegger durch die Rede vom ›Gewissen-haben-wollen‹ hinweist und mit welchem er zumindest 1927 eher an die kantisch-idealistische als an die aristotelische Konzeption anschließt, beinhaltet mindestens auch zwei Probleme: Zum einen kann Heidegger den Verbindlichkeitscharakter des Gewissensrufes nicht mehr gänzlich einlösen. Zum anderen müsste er diesen ›Willen‹, den er erst 1929 in Vom Wesen des Grundes als solchen klar benennt (vgl. HGA 9, 163), nochmals von den im vorigen Kapitel dargestellten Formen des Wollens deutlich abgrenzen und letztlich in vergleichbarer Weise wie Schelling 1809 von einer Willenspluralität ausgehen, was in Sein und Zeit allerdings nirgends ausgeführt wird. Denn indem dieses 310 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

gleichsam höherstufige ›Wollen‹ allererst der Sorgestruktur in ihrer zeitlichen Verfasstheit zur Durchsichtigkeit im Dasein verhilft, muss es von allen positiven wie auch als defizient charakterisierten Wollensformen in § 41 von Sein und Zeit abgehoben werden, welche ja gerade die Sorgestruktur und deren zeitliche Verfasstheit explizit oder implizit voraussetzen und damit – gegenüber jenem höherstufigen ›Wollen‹ – ausdrücklich als zeitlich verfasst aufzufassen sind. Zwar ist auch dem Gewissen-haben-Wollen der Gewissensruf als Ruf der zeitlich verfassten Sorge vorgeordnet, aber anders als bei den Wollensformen in § 41 ist dieses Wollen nicht aus dem Ruf der Sorge ableitbar, könnte es sich doch in diesem Falle zu dem Ruf gar nicht (wählend) verhalten. Heidegger sucht – wie noch ausführlich darzustellen sein wird – den damit einhergehenden Problemen in seiner späteren Philosophie ähnlich wie Schelling im Zuge seiner Weltalter-Philosophie dadurch zu entgehen, dass er diese interessante Pluralisierung im Begriff des Wollens zugunsten eines einzigen rein negativ besetzten Willensbegriffes zurücknimmt und demgegenüber für ein Lassen von allem Wollen plädiert. Doch bevor hierauf eingegangen werden kann, ist zunächst noch aufzuzeigen, wie Heidegger über diese Pluralisierung im Begriff des Wollens und die damit zusammenhängende Frage nach der Subjektivität auf Kant und den deutschen Idealismus zurückzugehen sich genötigt sieht.

2. Daseinsanalyse mit Kant: Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft Dass Heidegger mit dem zuletzt angeführten Wollensmoment in Sein und Zeit implizit vor allem an Kant anschließt, zeigt nicht allein der systematische Vergleich mit Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, welchen auch Heidegger selbst – wie gleich auszuführen sein wird – explizit in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Sommersemester 1927 zieht, die er zugleich als »[n]eue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von ›Sein und Zeit‹« bezeichnet (HGA 24, 1 Anm.). Auf diese Anschlussnahme an den Königsberger weisen außerdem ausdrückliche Bezugnahmen auf Kant im Kontext der Entschlossenheitsanalyse von Sein und Zeit, bei denen es um die Frage nach der Selbstheit geht, sowie insbesondere das Kant-Buch von 1929 hin, das Heidegger zufolge Inhalte des 311 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

zweiten Teils von Sein und Zeit aufgreift. 32 Heideggers Strategie besteht darin, mit dem Aufzeigen der Nähen zu Kant und seinem Willens- und Subjektbegriff zugleich dessen notwenige Überschreitung auf das diesem vorgelagerte ›In-der-Welt-Sein‹ und dessen Zeitlichkeit hin aufzuzeigen, wie es selbst noch im Gewissensruf als Ruf der zeitlich verfassten Sorge aufscheint. Wie wir gesehen haben und unten noch deutlicher sehen werden, lässt Heidegger gleichwohl diesem Gewissensruf gegenüber zugleich den Status des voluntativen Moments offen, das im ›Gewissen-haben-Wollen‹ liegt, und forciert dieses Moment in Vom Wesen des Grundes sogar noch (Kap. 2.3). Trotz und gerade einhergehend mit diesem voluntativen Moment verfolgt Heidegger aber generell jene angezeigte Strategie einer Fundierung sowohl in der Analyse des mit dem Wollen verbundenen Subjektbegriffs Kants (Kap. 2.1 u. Kap. 2.2) wie auch in der Interpretation von dessen Konzeption der Einbildungskraft (Kap. 2.4), auf deren zeitliche Verfasstheit Heidegger das ›Subjekt‹ zurückzuführen sucht. Beide Motive sind denn auch entscheidend für Heideggers von Kant ausgehenden Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929. Dabei lässt sich aus der Kritik und Uminterpretation dieser Strukturen durch Heidegger nicht nur erklären, weshalb für Heidegger Schelling ein immer interessanterer Gesprächspartner wird, sondern auch, welche Kritik Heidegger in seiner späteren Philosophie an dem idealistischen Willensbegriff, der mit dem Subjektbegriff einhergeht, vorbringen wird.

2.1. Die Selbstheit als Sorge und das kantische Subjekt Schon in Sein und Zeit war es – folgt man der Einleitung des Buches – Heideggers erklärte Absicht, auf Kant zurückzugehen. Denn dieser ist Heidegger zufolge der »Erste und Einzige, der sich eine Strecke untersuchenden Weges in der Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte« und somit die »Interpretation des Seins mit dem Phänomen der Zeit thematisch zusammengebracht« hat (HGA 2, 31),

Vgl. dazu HGA 2, 53 u. HGA 3, XVI, wo Heidegger außerdem darauf hinweist, dass das »Wesentliche der folgenden Interpretation« (HGA 3, XVI) bereits in einer der Critik der reinen Vernunft gewidmeten Vorlesung aus dem Wintersemester 1927/28 (HGA 25) vorgetragen worden sei.

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Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

weshalb auch der erste Abschnitt des zweiten Teils von Sein und Zeit Kant gewidmet sein sollte. 33 Anders als im Falle der kritischen Interpretationen der Philosophiegeschichte in den dreißiger und vierziger Jahren geht es Heidegger in den zwanziger Jahren noch nicht um eine klare Abgrenzungsbewegung gegenüber der Tradition zur Verdeutlichung seines eigenen Ansatzes. Vielmehr ist das in Sein und Zeit skizzierte Programm einer »Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden«, lediglich in Bezug auf die zeitgenössischen Auslegungen, auf »das ›Heute‹ und die herrschende Behandlungsart der Geschichte der Ontologie« klar negativ gemeint (HGA 2, 30 f.). Im Hinblick auf die interpretierten Texte liegt ihr hingegen eine »positive Absicht« zugrunde, insofern die ›Destruktions‹-Bewegung diese in ihren »positiven Möglichkeiten« und zugleich »in ihren Grenzen abstecken« will (HGA 2, 31). So gesteht Heidegger Kant ausdrücklich zu, dass er mit dem Schematismus-Kapitel der Critik der reinen Vernunft sowie dem Mechanismus der produktiven Einbildungskraft Heideggers eigener Fragestellung nach der Temporalität vorgearbeitet habe, wie dies gerade auch das Kantbuch von 1929 zu zeigen unternimmt. Gleichzeitig betont Heidegger aber auch, dass »Kant dieses Gebiet in seinen eigentlichen Dimensionen und seiner zentralen ontologischen Funktion verschlossen bleiben mußte«, woran er zum einen durch das »Versäumnis der Seinsfrage« und zum anderen durch das damit zusammenhängende »Fehlen einer thematischen Ontologie des Daseins, Kantisch gesprochen, einer vorgängigen ontologischen Analytik der Subjektivität des Subjekts« gehindert worden sei (HGA 2, 32). Damit setze Kant letztlich ein sich von Descartes herschreibendes Problem fort. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass Heidegger in den zwanziger Jahren – jenseits des Kant vorgeworfenen Fehlens einer ›vorgängigen ontologischen Analytik‹ – der kantischen Deutung der ›Subjektivität des Subjekts‹ durchaus eine zumindest partielle Berechtigung und Bedeutung mit Blick auf das zugestehen kann, »was wir [Heidegger, P. H.] die fundamentalontologische Interpretation

Zum Verhältnis Kant – Heidegger vgl. Kisiel 1993, 408–415 sowie insgesamt insbes. Hoppe 1970. Mit Blick auf die Einbildungskraft vgl. Höfele 2019b, 71–75.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

des Daseins nennen« (HGA 25, 373). 34 Ansatzweise tritt dies in Sein und Zeit bereits in der Gewissensanalyse bezüglich der praktischen Vernunft sowie noch deutlicher in § 64 bei der Verhältnisbestimmung von Sorge und Selbstheit zutage, auch wenn Heidegger hier stärker als in den nachfolgenden drei Jahren zugleich Kants ›Zurückfallen‹ hinter das positiv Erkannte kritisiert. 35 Nachdem Heidegger in Sein und Zeit anhand der Gewissensanalyse in der Entschlossenheit das eigentliche Sein des Daseins aufgezeigt hat, geht er nochmals auf die Frage nach dem »Zusammenhang zwischen dem Gewissen-haben-wollen und dem existenzial entworfenen eigentlichen Ganzseinkönnen des Daseins« (HGA 2, 404) ein, das im ›Sein zum Tode‹ zum Vorschein gekommen ist. Heidegger zufolge birgt nämlich die aus dem ›Gewissen-haben-Wollen‹ resultierende Entschlossenheit die Tendenz zur Vorwegnahme des Todes als das Ende jeglichen Seinkönnens in sich, sie weist »in ihrer eigensten existenziellen Seinstendenz selbst vor auf die vorlaufende Entschlossenheit als ihre eigenste Möglichkeit« (HGA 2, 400), die das Dasein diesem selbst in seiner von ihm zu übernehmenden Ganzheit präsent macht. Doch indem derart in der ›vorlaufenden Entschlossenheit‹ die in sich gegliederte »Ganzheit der Sorgestruktur« zum Vorschein gekommen und »noch reicher« geworden ist, muss Heidegger in § 64 nochmals nach der »Einheit dieser Ganzheit« (HGA 2, 419 f.) und der »bleibenden Form und Identität« 36 des Daseins fragen. Zwar birgt nach Heidegger die »Sorge […] schon das Phänomen des Selbst in sich«, weshalb von ›Selbstsorge‹ zu sprechen auch tautologisch sei; gleichwohl verschärfe sich vor dem Hintergrund dieser engen Verknüpfung beider Phänomene gerade die »Frage nach dem existenzialen ›Zusammenhang‹ zwischen Sorge und Selbstheit« (HGA 2, 421). Genau in diesem Zusammenhang kommt Heidegger In dieser Kant-Vorlesung aus dem Wintersemester 1927/28 bemerkt Heidegger unter ausdrücklichem Verweis auf den § 64 von Sein und Zeit sowie die Passage HGA 24, 177–194 der Grundprobleme-Vorlesung (vgl. HGA 25, 374), in denen dieser Zusammenhang genauer dargestellt sei: »Die scheinbar harmlose Kennzeichnung der drei Synthesen [von Praecognition, Apprehension und Reproduktion, P. H.] drängt in sich selbst auf das Problem der ursprünglichen Einheit von Zeit und transzendentaler Apperzeption im Subjekt, d. h. auf die Frage nach der ontologischen Urstruktur des Subjekts qua Subjekt. Das Problem der transzendentalen Deduktion als Aufhellung des ontologischen Wesens der Kategorien ist […] im Grunde das, was wir die fundamentalontologische Interpretation des Daseins nennen« (HGA 25, 372 f.). 35 Vgl. dazu auch Hoppe 1970, 286–288. 36 Steinmann 2010, 149. 34

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Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

auf das kantische ›Ich denke‹ zurück, das er in zweifacher Hinsicht mit Blick auf seine eigene Konzeption der Selbstheit als Sorge positiv würdigt: Zum einen habe Kant derart die »Unmöglichkeit der ontischen Rückführung des Ich auf eine Substanz« herausgestellt, 37 auch wenn er dieses Ich »in einem ontologisch unangemessenen Sinne« wieder als »die Selbigkeit und Beständigkeit eines immer schon Vorhandenen« bestimme (HGA 2, 423), während Heidegger selbst diese »Ständigkeit des Selbst in dem Sinn des Standgewonnenhabens« (HGA 2, 427), also in einem transitiven Sinne verstehen will. Denn Heidegger zufolge ist das Dasein »zunächst und zumeist […] nicht es selbst, sondern im Man-selbst« als einer »existenzielle[n] Modifikation des eigentlichen Selbst« verloren (HGA 2, 420), aus der heraus es in der Entschlossenheit das eigentliche Selbst zu ergreifen gelte. Erst hiermit sei denn auch »der phänomenale Boden für die Frage nach dem Sein des ›Ich‹« gelegt (HGA 2, 427). Zum anderen lobt und kritisiert Heidegger an Kants ›Ich denke‹ aber auch, dass hierbei »das Ich […] auf seine Vorstellungen bezogen« bleibe und eine »Abschnürung des Ich vom Denken« vermieden werde, auch wenn gleichzeitig das ›Ich denke‹ nicht »in seinem vollen Wesensbestande als ›Ich denke etwas‹« aufgefasst und somit die dem Ich notwendige »Voraussetzung von Welt« vernachlässigt werde, wodurch das Ich letztlich doch wieder »auf ein isoliertes Subjekt« reduziert werde (HGA 2, 425). Denn »[i]m Ich-sagen spricht sich« nach Heidegger generell »das Dasein als In-der-Welt-sein aus« (HGA 2, 425), obgleich das alltägliche, ›flüchtige‹ Ich-Sagen dies zumeist übersehe. Auch wenn Heideggers Beschreibung des Ichphänomens letztlich nicht gänzlich befriedigend ist, »da man kaum von einem ›Ichgewonnenhaben‹ sprechen kann«, 38 wie Michael Steinmann mit Recht bemerkt, so ist doch Heideggers durchaus berechtigtes Anliegen deutlich, dass er die Phänomene von Subjektivität und Selbstheit zu verzeitlichen und zu verräumlichen trachtet. In nicht unproblematischer Weise, wie noch zu zeigen sein wird, sucht er dabei indessen deren Fundament in seiner eigenen Daseinsanalyse aufzuzeigen.

Vgl. hierzu genauer Derrida 1987, 34 f. Die Kritik Franks an Heidegger, genau dies übersehen zu haben (vgl. Frank 1991, 193), muss daher zurückgewiesen werden. 38 Steinmann 2010, 150. 37

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

2.2. Die Selbstzweckhaftigkeit des Subjekts und das ›Umwillen‹ des Daseins Ausführlicher und in seiner ganzen Ambivalenz, die sich zwischen einer entschiedenen Kritik der kantischen Transzendentalphilosophie und einer sich bis in die dreißiger Jahre beobachtbaren, Kant in den eigenen Ansatz integrierenden Wertschätzung bewegt, zeigt sich diese Anschlussnahme Heideggers an den Königsberger in dessen Grundprobleme-Vorlesung aus dem Sommersemester 1927, 39 die auch bereits den Ansatzpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem nachkantischen Idealismus vorgeben wird. Hier kommt Heidegger einerseits hinsichtlich Kants These, wonach Sein kein reales Prädikat sei (vgl. KrV, A 599–602/B 626–629), andererseits im Zusammenhang mit der nach Heidegger neuzeitlichen Unterscheidung des Seins in Natur und Geist auf den Königsberger zu sprechen. Dabei geht Heidegger wiederum auf die Frage nach dem Sein des Subjekts ein. Auch wenn Heidegger durchaus sieht, dass Kants »Rückgang auf das Ich« andere Motive als seine eigene »Einsicht in die fundamentalontologische Funktion des Daseins« hat (HGA 24, 173), so greift Heidegger Kants Ansatz doch nicht allein in negativer Absicht auf. Zwar sieht er, dass Kants »Motive für die primäre Orientierung […] auf das Subjekt« – ganz in der neuzeitlichen, von Descartes ausgehenden Tradition – »nicht die fundamentalontologische [sind], d. h. nicht die Erkenntnis, daß und wie aus dem Dasein selbst Sein und Seinstrukturen aufgeklärt werden können« (HGA 24, 174). Gleichwohl betont Heidegger in einer »Korrektur der neukantianischen Geschichtskonstruktion«, dass gerade der idealistischen Philosophie »die Problematik der Metaphysik« nicht abhanden gekommen sei. Mithin geht Heidegger im Gegensatz zur neukantianischen Kant-Interpretation davon aus, dass »Transzendental-Philosophie […] nichts anderes als Ontologie« besagt (HGA 24, 180) 40 – was für Heidegger gerade 1929 bei seinem Rückgang auf den Idealismus wichtig werden wird. Gleichzeitig hat damit jedoch in Heideggers Sicht die idealistische Philosophie die »überlieferte Ontologie« übernommen (HGA 24, 175), womit Heidegger deren Neuanfang zugunsten einer bloßen Kontinuität zurücknimmt – mit einer entscheidenden, Heidegger geDie inhaltliche Zusammengehörigkeit beider Passagen wird, wie bereits bemerkt, auch unterstrichen in HGA 25, 374. 40 So auch – unabhängig von Heidegger – Höffe 2007, bes. 56. 39

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Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

rade interessierenden Ausnahme: Denn mit der »Auszeichnung und Betonung des Subjekts« mussten Kant und die Idealisten den »Unterschied zwischen Subjekt und Objekt auf irgendeine Weise ins Zentrum stellen« (HGA 24, 175). Heidegger interessiert mithin an Kant, wie Subjektivität und Ichheit in dieser Unterscheidung von und gegenüber der »Realität, d. h. Wirklichkeit, Vorhandenheit« (HGA 24, 176) interpretiert werden. Gerade bei Kant scheint Heidegger eine Nähe zu seiner eigenen Interpretation des Daseins im Gegensatz zu nicht-daseinsmäßigem Seiendem zu erkennen, wenn er betont, dass für Kant das Ich des reinen Selbstbewusstseins, im Gegensatz zu demjenigen des empirischen (vgl. GA 24, 182), keine Vorstellung, d. h. kein vorgestellter Gegenstand, kein Seiendes im Sinne der Objekte [darstelle, P. H.], sondern der Grund der Möglichkeit alles Vorstellens, alles Wahrnehmens, d. h. aller Wahrgenommenheit des Seienden, d. h. der Grund alles Seins. (HGA 24, 181)

Wie bereits in Sein und Zeit nimmt Heidegger – zumindest an dieser Stelle der Vorlesung – in positiver Weise Notiz davon, dass das Ich nicht auf ein vorgestelltes Seiendes reduziert werde, sondern als ›Grund der Möglichkeit aller Wahrgenommenheit des Seienden‹ zugleich ›Grund alles Seins‹ sei. Insbesondere Fichte, so konstatiert Heidegger weiterhin, habe diese »Tendenz der neueren Philosophie […] im Anschluß an Kant radikaler zu fassen versucht«; bei diesem werde »der Anfang der Philosophie« – wie Heidegger in Anspielung auf den § 1 von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre bemerkt (vgl. GA I,2, 255) – nämlich »nicht [als] eine Tat-Sache, sondern [als] eine Tathandlung« bestimmt (HGA 24, 201). 41 Trotz dieser positiven Würdigung der idealistischen Interpretation der Ichheit legt Heidegger aber vor dem Hintergrund seiner eigenen daseinsanalytischen Überlegungen den Akzent auf das »Ich als das jeweils einzelne faktische Ich« (HGA 24, 194) und fragt danach, inwiefern diesem bei Kant Rechnung getragen werde: »Zur Ichheit gehört«, so Heidegger, »daß das Ich je meines ist« (HGA 24, 184). Insofern decke sich das reine Selbstbewusstsein »nicht mit dem vollen Begriff der Personalität«, sondern müsse durch das »Ich der AppreDie trotz aller unbestreitbaren Differenzen bestehende Nähe der heideggerschen Daseinsanalyse zu Fichtes Konzept der ›Tathandlung‹ mit Blick auf den von beiden unternommenen Versuch, »die Subjektivität bezugslos zu machen«, betont auch Schulz 1979, 36.

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hension« ergänzt werden (HGA 24, 182). Gleichwohl seien bei Kant das Ich der Apperzeption als das bestimmende, transzendentale und das Ich der Apprehension als das bestimmte, empirische »identisch […], nur daß im Begriff des bestimmenden Ich nicht notwendig mitgedacht zu werden braucht, was ich als bestimmtes, empirisches bin« (HGA 24, 184). Heideggers Lesart zufolge sind beide Charakteristika des Ich in der »personalitas moralis« vereint, die damit die »eigentliche und zentrale Charakteristik des Ich, der Subjektivität« (HGA 24, 185) bei Kant darstelle. Dazu geht Heidegger auf Kants Konzeption der Achtung als der »glänzendste[n] phänomenologische[n] Analyse des Phänomens der Moralität« (HGA 24, 189) in dessen Critik der practischen Vernunft sowie der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zurück und führt damit die in Sein und Zeit nur indirekt angezeigte Parallele des eigenen Ansatzes zu demjenigen Kants genauer aus. 42 Hierbei interessiert Heidegger insbesondere das Verhältnis des Sittengesetzes zum Willen, als dessen ›Bestimmungsgrund‹ es fungiere, indem es das Gefühl der Achtung bewirke (vgl. KpV, A 126–147; GMS, AB 16 f.). 43 Wie bereits in der Gewissensanalyse von Sein und Zeit, bei der das Verhältnis des ›Gewissen-haben-Wollens‹ zum Gewissensruf zugleich durch Passivität und Aktivität sowie durch eine Ohnmachtserfahrung und die Eröffnung des eigenen Möglichkeitshorizontes gekennzeichnet war, betont Heidegger auch hier interessanterweise, dass die kantische Konzeption der Achtung vor dem Gesetz zugleich als »Sichunterwerfen« sowie – frage man nach dem ›Wofür‹ der Achtung – im Sinne eines »Sicherheben[s] als Sichoffenbarwerden[s] in der eigensten Würde« aufzufassen sei (HGA 24, 192). 44 Heidegger lobt denn auch diese »gegenstrebige Doppelrichtung in der intentionalen Struktur der Achtung als ein sichunterwerVgl. oben, Teil IV, Kap. 1.2. Wie Kant indessen gleichzeitig in der langen Anmerkung zum Gefühl der Achtung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bemerkt, muss, »als uns von uns selbst auferlegt […] es [das Gesetz, P. H.] doch eine Folge unsers Willens« sein (GMS, AB 16 Anm.). 44 Diese in der kantischen Autonomie-Vorstellung liegende ›Doppelrichtung‹ von Freiheit und Bindung betont Heidegger auch in HGA 31, 302 f., auch wenn er hier gleichzeitig das kantische Konzept von Freiheit als ›Von-selbst-Anfangen‹ mit Blick auf eine ursprünglichere Freiheit als Offenheit oder Freisein von Seiendem kritisiert, das aber wiederum mit der Vorstellung von Freiheit als Sich-binden strukturelle Parallelen aufweist (vgl. dazu unten, Teil IV, Kap. 2.3): »Vorgängiges Zugestehen von Verbindlichkeit aber ist ursprüngliches Sichbinden, Bindung als für sich verbindlich 42 43

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Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

fendes Sicherheben« (HGA 24, 192) ausdrücklich und sieht darin das »jeweils einzelne faktische Ich« enthüllt (HGA 24, 194). Auch sei damit bei Kant – erfasse man den »ontologische[n] Sinn der so in der Achtung offenbaren Person« (HGA 24, 195) – der Mensch als ›Zweck an sich selbst‹ herausgestellt, womit auch die Antwort auf die anfängliche Frage nach einer Unterscheidung des Seins des Ich und des nichtichhaften Seienden gegeben sei. Gerade diesen Selbstzweckgedanken greift Heidegger in verwandelter Form in seiner anschließenden Explikation der Struktur des Daseins wieder auf und spricht ihm in bestimmten Grenzen eine Berechtigung zu. So bemerkt Heidegger in seiner anschließenden »Phänomenologischen Kritik der Kantischen Lösung«, dass die kantische »Bestimmung, Zweck seiner selbst zu sein, zur ontologischen Verfassung des menschlichen Daseins« dazugehöre (HGA 24, 199), aber dieses zugleich unterbestimmt lasse. In analoger Weise kritisiert Heidegger an Kant und den nachfolgenden Idealisten, dass »das Sein des Subjekts nicht nur im Sichwissen besteht«, sondern auch darin, »daß es in irgendeinem Sinne – den Ausdruck vorsichtig gebraucht – vorhanden ist, und zwar so, daß es nicht sich selbst aus eigener Macht ins Dasein gebracht hat« (HGA 24, 217 f.). Mit seinem Kritikpunkt, wonach der idealistische Ansatz bei einem sich wissenden Subjekt noch zu ergänzen sei, liegt Heidegger in gewissem Sinn auf der Linie der von Hölderlin etwa in Urteil und Sein und in Schellings ›mittlerer‹ Philosophie geäußerten Fichtekritik, wonach zumindest das Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins sich nicht einlösen lasse und vielmehr auf ein Anderes für seine Einlösung angewiesen sei. 45 Gleichwohl stellt sich jedoch die Frage, ob Heideggers eigene Subjektkritik und Strukturanalyse des Daseins sich mit einer Ergänzung des subjektivitätsphilosophischen Ansatzes vereinbaren lassen. Wenn man die von Michael Steinmann gestellte Frage zu beantworten suchen will, ob Heidegger »nur eine ontologische Vertiefung und Erweiterung der Subjektivitätsphilosophie erreichen [will, P. H.] oder […] sich sein Ansatz als Konkurrenz zu dieser« versteht, 46 so ist die Absicht Heideggers zumindest in dieser Vorlesung von 1927 sowie – wie noch zu zeigen sein wird – in der sein lassen, d. h. kantisch, sich ein Gesetz geben. Begegnenlassen von Seiendem, Verhalten zu Seiendem in jeder Weise der Offenbarkeit ist nur möglich, wo Freiheit ist.« 45 Vgl. hierzu v. a. Henrich 1967 sowie Frank 1995. 46 Steinmann 2010, 68.

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Idealismus-Vorlesung von 1929 klar: Heidegger glaubt hier durchaus, eine ›ontologische Vertiefung und Erweiterung der Subjektivitätsphilosophie‹ erreichen zu können. Denn trotz aller Kritik des idealistischen Ansatzes integriert Heidegger bei seiner auf die Kant-Darstellung folgenden Entfaltung der Existenzverfassung des Daseins in Letzteres ohne Zögern den kantischen Selbstzweckgedanken und derart auch – zumindest partiell – die damit verbundene Subjektstruktur. Wäre dies in der Tat möglich, so würde dies umgekehrt bedeuten, dass man vom kantischen Begriff des Vernunftwesens aus – über eine Erweiterung desselben – zu Heideggers existenzialontologischem Daseinsbegriff gelangen könnte. Heidegger gesteht denn auch offen zu, dass die Philosophie »vielleicht vom ›Subjekt‹ ausgehen und mit ihren letzten Fragen in das ›Subjekt‹ zurückgehen« müsse, gleichwohl dürfe sie aber ihre Fragen »nicht einseitig subjektivistisch« stellen (HGA 24, 220). Wie das Dasein nicht ›einseitig subjektivistisch‹ aufgefasst werden könne, macht Heidegger in einem ersten Schritt im Rückgriff auf den phänomenologisch konnotierten Begriff der Intentionalität deutlich: So hätten »die Verhaltungen des Daseins intentionalen Charakter« und »das Subjekt [stehe] aufgrund der Intentionalität schon im Bezug […] zu solchem, was es selbst nicht ist« (HGA 24, 221). Damit aber gehöre »das Sichbeziehen […] zur Seinsverfassung des Subjekts selbst«; »Existieren besagt dann unter anderem: sich verhaltendes Sein bei Seiendem« (HGA 24, 224). Doch diese Intentionalität als ›Sichbeziehen‹ oder ›Sein bei Seiendem‹ schließe nicht »die Miterschlossenheit des Selbst« aus (HGA 24, 225). Jedoch setzt Heidegger in einem zweiten Schritt nochmals mit einer weiteren Kritik am idealistischen wie auch am phänomenologischen Subjektbegriff an: Die »Bewußtseinsdialektik des Idealismus« sei nämlich »weit entfernt von einer Interpretation der phänomenalen Tatbestände des Daseins«, das nicht – wie es nun heißt – »mit vorgefaßten Ich- und Subjektbegriffen der Erkenntnistheorie vergewaltigt« werden dürfe (HGA 24, 225 f.). Wie Heidegger stattdessen das Dasein verstanden wissen will, macht er an einer Uminterpretation des Reflexionsbegriffes deutlich. Zwar sei das Selbst dem Dasein »ohne innere Wahrnehmung, vor aller Reflexion« enthüllt; dennoch könne man, wie Heidegger fortfährt, die Art und Weise, in der das Selbst im faktischen Dasein sich selbst enthüllt ist, […] zutreffend Reflexion nennen, nur darf man hierunter nicht ver-

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stehen, was man gemeinhin unter diesem Ausdruck versteht: eine auf das Ich zurückgebogene Selbstbegaffung, sondern ein Zusammenhang, wie ihn die optische Bedeutung des Ausdrucks ›Reflexion‹ kundgibt. Reflektieren heißt hier: sich an etwas brechen, von da zurückstrahlen, d. h. von etwas her im Widerschein sich zeigen. (HGA 24, 226)

Die zitierte Passage ist sowohl im Hinblick auf Heideggers Idealismus-Interpretation als auch mit Blick auf Heideggers eigenen philosophischen Ansatz interessant: Zum einen ignoriert Heidegger hier die zuvor vorgetragene Interpretation des reinen Selbstbewusstseins bei Kant und Fichte als unmittelbare, nicht vorstellungsmäßig gegebene Selbstgegenwart oder – so Heideggers Ausdruck – »primäre Selbst-Erschließung« (HGA 24, 226). Stattdessen reformuliert er Selbstbewusstsein lediglich als auf sich selbst zurückkommende Reflexion oder ›Selbstbegaffung‹, um diese entschieden zurückzuweisen, worin ihm aber auch fast einhellig der deutsche Idealismus Recht geben würde. Zum anderen legt aber Heidegger kein dem Idealismus entlehntes Gegenmodell – etwa in Form eines durch einen Grund vermittelten Selbstbewusstseins oder eines »nicht auf Vorstellung beruhende[n] Selbstgefühl[s]« 47 – vor, sondern verkürzt stattdessen, bildlich gesprochen, lediglich das klassische Reflexionsmodell auf ein bloßes ›Zurückstrahlen‹. Der Zweck, den Heidegger mit dieser Uminterpretation des Reflexionsmodells verfolgt, besteht darin, dass er das idealistische Selbstbewusstseinsmodell gleichsam in seinem eigenen Verständnis des Daseins als In-der-Welt-Sein gründen lassen will, mit dem er das Konzept der »Intentionalität radikaler zu fassen« sucht (HGA 24, 230). So sei das Dasein nicht ein ursprüngliches, unmittelbares Bei-sich-Sein, sondern das »Transzendente im strengen Sinne« (HGA 24, 230), indem es sich immer schon in einer durch ›Bedeutsamkeit‹ und ›Bewandtnisganzheit‹ charakterisierten Welt finde. Heidegger fasst die Begriffe von ›Intentionalität‹ und ›Transzendenz‹ hierbei nochmals »radikaler« (HGA 24, 230), indem er auf den Weltbegriff von Sein und Zeit zurückgreift (vgl. HGA 2, 85–119). 48 Diesem zufolge bewegt sich jedes »praktische[…] alltägliche[…] Sichorientieren[…]« in Form der, so Heidegger, »praktischen Umsicht« unausdrücklich und »unbedacht« in einem »ZeugzusammenFrank 1991, 193. Zu Heideggers Welt-Begriff in Sein und Zeit vgl. insbes. Figal 1988, 78–97 u. Enders 1999, 117–176.

47 48

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hang« (HGA 24, 232), der dadurch konstituiert werde, dass jeder Gebrauchsgegenstand durch ein »Um-zu« gekennzeichnet sei, das ein »Ganzes von Bewandtnisbezügen« bilde und aufgrund eines unthematischen Gebrauchswissens immer schon »vor-verstanden« sei (HGA 24, 233). Insofern Heidegger das »Bezugsganze dieser Bezüge« auch als »be-deuten« versteht (HGA 2, 116), kann er außerdem von einem »Zusammenhang der Bedeutsamkeit« sprechen (HGA 24, 235). 49 Das ›Umwillen‹ dieser Bezüge betreffe »aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst gehe« (HGA 2, 113). Als ›In-der-Welt-Sein‹ sei das Dasein somit, insofern es ihm generell »um sein eigenes Seinkönnen« gehe, »umwillen seiner selbst« (HGA 24, 242). Erst an dieser Stelle greift nun Heidegger wieder auf Kant zurück, um dessen Selbstzweckgedanken gleichsam in seine eigenen Konzeption einzugliedern: »Hier zeigt sich das Strukturmoment, das Kant bewog, die Person ontologisch als Zweck zu bestimmen, ohne der spezifischen Struktur der Zweckhaftigkeit und der Frage ihrer ontologischen Möglichkeit nachzugehen.« (HGA 24, 242) Heidegger identifiziert mithin den kantischen Selbstzweckgedanken mit der existenzialontologischen Struktur des ›Worum-willen‹ der Bewandtnisganzheit der Welt (vgl. HGA 2, 112–118): 50 »Nur weil das Dasein seinem Wesen nach die Seinsverfassung ausmacht, gemäß der«, so Heidegger 1928/29, »das als Dasein konstituierte Seiende umwillen seiner selbst ist, kann der jeweils faktische Mensch Zweck seiner selbst sein, wie Kant sagt. Dieses ›Umwillen seiner‹ konstituiert das Selbst als solches« (HGA 27, 324). Zwar sucht Heidegger derart dem idealistischen Ansatz beim Selbstbewusstsein ein Recht widerfahren zu lassen, wobei er diesem aber zugleich den Status seiner gleichsam ontologischen Priorität nimmt und es zumindest logisch nachfolgen lässt, da nach Heidegger »die Analyse des Selbstbewußtseins die Aufklärung der Existenzverfassung voraussetzt« (HGA 24, 249). 51 Zum (problematischen) Verhältnis zwischen ›Bewandtnis‹ und ›Bedeutsamkeit‹ vgl. genauer Steinmann 2010, 64–66. 50 Vgl. hierzu genauer Steinmann 2010, 60–62. 51 Wie bereits in Sein und Zeit im Falle des Selbst sucht Heidegger das Selbstbewusstsein im eigentlichen Sinne als ein zu wählendes und damit gewordenes herauszustellen, auch wenn er gleichzeitig ganz im idealistischen Sinne zugestehen muss, dass das Dasein selbst in der Uneigentlichkeit »um sich weiß ohne ausdrückliche Reflexion im Sinne einer auf sich zurückgebogenen inneren Wahrnehmung, sondern in der Weise des Sichbefindens in den Dingen« (HGA 24, 243). Würde man nämlich das logisch 49

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2.3. Vom Wesen des Grundes und der ›umwillentliche Überstieg‹ im ›Willen‹ des Daseins Die logische Nachordnung der idealistischen Selbstbewusstseinstheorien gegenüber der Existenzanalyse darf gleichwohl nicht über deren Bedeutung für Heidegger Ende der zwanziger Jahre hinwegtäuschen, wie gerade der Aufsatz Vom Wesen des Grundes von 1929 zeigt, in dem Heidegger nochmals explizit darauf zu sprechen kommt, dass die ›Transzendenz‹ des Daseins »einzig durch eine ständig zu erneuernde ontologische Interpretation der Subjektivität des Subjekts« angemessen erfasst werden könne (HGA 9, 162). 52 Nachdem Heidegger insbesondere im Ausgang von Kant das Weltproblem und die damit verbundene Transzendenz des Daseins behandelt hat, spricht Heidegger daher auch nochmals die Welt als dasjenige Phänomen an, das sich dem Dasein »als die Ganzheit des Umwillen seiner« eröffne (HGA 9, 163). In offensichtlichem Anschluss an die Erschlossenheits- und Entschlossenheitsanalysen aus Sein und Zeit bemerkt Heidegger jedoch, dass das Dasein »in dieser Weise nur dann zu ihm als ihm selbst sein [kann], wenn es ›sich‹ im Umwillen übersteigt« (HGA 9, 163). Denn dieser ›Überstieg‹ soll dem Dasein dessen eigenes Sein als Seinkönnen erfahrbar machen. Analog zu dem voluntativen Moment im Falle der ›vorlaufenden Entschlossenheit‹ in Sein und Zeit 53 charakterisiert Heidegger diesen ›Überstieg‹ hierbei ausdrücklich – wenn auch in distanzierenden Anführungszeichen 54 – als einen »›Willen‹, der als solnachfolgende ›Zurückstrahlen‹ des In-der-Welt-Seins des Daseins als ursprüngliche Etablierung eines Selbstbezuges auffassen, würde man der – von einem bewusstseinsphilosophischen Standpunkt aus formulierten – Kritik Sartres an Heidegger zum Opfer fallen: »[C]ette tentative pour montrer d’abord l’échappement à soi du Dasein va rencontrer à son tour des difficultés insurmontables : on ne peut pas supprimer d’abord la dimension ›conscience‹, fût-ce pour l’établir ensuite« (Sartre 1943, 121). 52 Vgl. Haeffner 1974, 29–31. 53 Heidegger selbst bezieht nicht ausschließlich diesen »konkret-enthüllenden Entwurf der Transzendenz« (HGA 9, 162 Anm.), den er insbesondere in § 69 von Sein und Zeit behandelt habe (HGA 2, 463–485), auf die ›Entschlossenheit‹ als gleichsam bewusste Form der ›Erschlossenheit‹, sondern vielmehr auf das Dasein, sofern es »eigentlich und uneigentlich existieren kann« (HGA 9, 162 Anm.; Herv. v. Verf.). Damit weitet Heidegger aber das voluntative Moment sogar noch auf die ›Erschlossenheit‹ insgesamt aus, insofern in Sein und Zeit nämlich nur im Kontext der Entschlossenheitsanalyse in Form des ›Gewissen-haben-Wollens‹ in analoger Weise von einem voluntativen Moment die Rede ist. 54 In einer denselben Zusammenhang entfaltenden Passage aus dem Sommersemester

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cher sich auf die Möglichkeiten seiner selbst entwirft« und der »dem Dasein wesenhaft das Umwillen seiner über- und damit vorwirft« (HGA 9, 163). Nur in und aufgrund dieses ›Willens‹ werde sich mithin das Dasein als dasjenige bewusst, dem es in seinem ›In-der-WeltSein‹ zugleich um sein eigenes Sein gehe. Heidegger wendet jedoch sogleich ein, dass dieses ›Wollen‹ nicht »ein bestimmtes Wollen […], ein[en] ›Willensakt‹ im Unterschied zu anderem Verhalten (z. B. Vorstellen, Urteilen, Sichfreuen)« bezeichne (HGA 9, 163). Wie bereits in § 41 von Sein und Zeit ist für Heidegger nämlich das zuletzt angeführte Wollen in dem durch Sorge charakterisierten ›In-der-Welt-Sein‹ oder – wie er nun sagt – »in der Transzendenz [des Daseins, P. H.] verwurzelt« (HGA 9, 163). Dagegen ist jener gleichsam höherstufige ›Wille‹ diesen konkreten ›Willensakten‹ gegenüber nochmals logisch vorgelagert, indem er »als und im Überstieg« die Struktur des ›Umwillen‹ allererst dem Dasein eröffnet oder, so Heidegger, »›bildet‹« (HGA 9, 163). Mit diesem Begriff des ›Bildens‹ will Heidegger dabei keineswegs anzeigen, dass das Dasein Welt als die ›Ganzheit des Umwillen‹ in gleichsam idealistischem Sinne ›setzen‹ oder konstituieren würde, sondern vielmehr, dass das Dasein »Welt geschehen läßt« und sich zugleich ein nicht eigens erfasstes »Bild« von ihr gibt, das als »Vor-bild« oder gleichsam eröffnender Horizont »für alles offenbare Seiende fungiert« (HGA 9, 158). Dass Heidegger gleichwohl hiermit ein idealistisches und insbesondere kantisches Motiv anspricht, zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn er jenen »Überstieg zur Welt« und damit den diesen ermöglichenden ›Willen‹ mit der »Freiheit selbst« gleichsetzt (HGA 9, 163), die dem Dasein »das Umwillen entgegen[halte]« und ihm selbst in dem bereits explizierten Sinne »Welt walten und welten lasse[…]« (HGA 9, 1928 fehlen diese distanzierenden Anführungszeichen hingegen, sodass hier völlig ungeschützt von einem ›Willen‹ gesprochen wird: »Das Umwillen ist, was es ist, in einem und für einen Willen. Mit diesem ist aber nicht gemeint der existenziell-ontische Akt, sondern wiederum das metaphysische Wesen, die innere Möglichkeit von Willen: die Freiheit. In der Freiheit ist immer schon ein solches Umwillen entsprungen. Im Wesen der Freiheit liegt dieses Sichvorhalten des Umwillen. Dergleichen wie Umwillen ist nicht irgendwo vorhanden, worauf sich dann Freiheit nur bezöge, sondern die Freiheit selbst ist der Ursprung des Umwillen; aber wiederum nicht so, als wäre zunächst Freiheit und dann auch Umwillen, sondern in eins mit Freiheit ist Umwillen. Dabei ist unwesentlich, wie weit ein als frei bestimmtes Wesen faktisch frei ist, oder wie weit es um seine Freiheit weiß; hier ist nichts darüber gesagt, wie weit es frei oder nur latent frei ist, benommen oder befangen vom Anderen oder von nicht daseinsmäßigem Seiendem. Nur ein freies Wesen kann unfrei sein« (HGA 26, 246 f.).

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164). Erst indem derart dem Dasein sein ›In-der-Welt-Sein‹ explizit gemacht werde, könne es »ein freies Selbst« sein (HGA 9, 164). Trotz dieser über den Zusammenschluss von Wille, Freiheit und Selbstheit gegebenen Nähe insbesondere zu Kant 55 beeilt sich Heidegger jedoch zugleich die Unterschiede gegenüber der kantischen Freiheitskonzeption zu betonen: So liege nämlich in der »aus der Transzendenz gewonnenen Auslegung der Freiheit eine ursprünglichere Kennzeichnung ihres Wesens gegenüber der Bestimmung derselben als Spontaneität, d. h. als einer Art von Kausalität« (HGA 9, 164). 56 Zwar gesteht Heidegger zu, dass »Spontaneität (›Von-selbstanfangen‹) als Wesenscharakteristik des ›Subjekts‹« gelten könne (HGA 9, 164). Jedoch betont er auch hier wieder, dass diese Struktur in einem vorgängigen »Waltenlassen von Welt« gründe (HGA 9, 165), das Heidegger insofern mit Freiheit gleichsetzt, als das Dasein die Offenheit von Welt als Freiraum für Verhaltensmöglichkeiten erst ausdrücklich – im ›Transzendieren‹ der Welt – vor sich bringen muss, um überhaupt eine selbstanfängliche Handlung vollziehen zu können. Insofern gibt diese von Heidegger betonte »Freiheit als Transzendenz« gerade den »Grund überhaupt« – oder »stellt«, wie Heidegger in einer Anmerkung seines Handexemplars präzisierend notiert, »in das Grund-lose (Abgrund), Un-grund« (HGA 9, 165). Dabei dürfte die Verwendung des schellingschen Begriffes von 1809 kein Zufall sein, wenn man bedenkt, dass Heidegger gleich zu Anfang der Schrift bemerkt, dass Schellings Freiheitsschrift »[v]on nicht geringerer Bedeutung […] für das Problem« des Grundes sei als Kants In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1930 bemerkt Heidegger selbst mit Blick auf Kant: »So ergibt sich: reiner Wille – reine praktische Vernunft – Gesetzlichkeit des Grundgesetzes des faktischen Handelns – Selbstverantwortlichkeit – Persönlichkeit – Freiheit. Das ist alles dasselbe, dasselbe nicht in einer unbestimmt verfließenden Einerleiheit, sondern dasselbe als in sich notwendig zusammengehörig.« (HGA 31, 296) Er bezieht sich dabei unter anderem auf die Passage aus Kants Critik der practischen Vernunft, »daß dieses Faktum [der reinen praktischen Vernunft, P. H.] mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei« (KpV, A 72; vgl. HGA 31, 297). 56 Vgl. etwa die Bestimmung der transzendentalen Freiheit in KrV A 446/B475. In der Vorlesung von 1930 übt Heidegger eine ganz analoge Kritik, der zufolge er die Bestimmung der Freiheit als Kausalität der Freiheit als »Bedingung der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seins von Seiendem« nachordnet, durch welche erstere allererst ermöglicht werde: »Kausalität gründet in der Freiheit. Das Problem der Kausalität ist ein Problem der Freiheit und nicht umgekehrt« (HGA 31, 303). Vgl. hierzu genauer Figal 1988, 130–133. 55

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Reflexionen hierzu (HGA 9, 125). Die ›Freiheit als Transzendenz‹ repräsentiert denn auch – wie Heidegger an späterer Stelle präzisiert – den »Ab-grund des Daseins«, da »die Freiheit […] in ihrem Wesen als Transzendenz das Dasein als Seinkönnen in Möglichkeiten [stellt], die vor seiner endlichen Wahl, d. h. in seinem Schicksal, aufklaffen« (HGA 9, 174). Erst vor dem Hintergrund dieser einem Abgrund ähnelnden Möglichkeiten des ›In-der-Welt-Seins‹ ist Heidegger zufolge die kantische Freiheit als ein konkretes ›Von-selbst-Anfangen‹ einer Handlung überhaupt denkbar. Zwar verhält es sich nach Heidegger derart, dass dieser gleichsam abgründige Möglichkeitshorizont einem ›Willen‹ des Daseins und damit der »endlichen Freiheit entspringt«, wodurch zweifellos eine Nähe zu Kant angezeigt wird, wie Heidegger auch im Sommersemester 1930 anzeigt, wenn er mit Blick auf die kantische Freiheitskonzeption eines »ursprüngliche[n] Sichbinden[s]« das »vorgängige Zugestehen von Verbindlichkeit« als »Begegnenlassen von Seiendem« in der Freiheit gründen lässt (HGA 31, 302 f.). Gleichwohl verhält es sich Heidegger zufolge – anders als bei Kant – doch derart, dass diese endliche Freiheit als endliche sich gerade »dem, was ihr da entspringt, nicht entziehen« kann und derart die »Endlichkeit des Daseins« enthüllt (HGA 9, 174 f.) – ein Sachverhalt, auf den gerade auch Schelling 1809 mit seinen ja explizit als solchen betitelten Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit aufmerksam zu machen suchte. Deutlicher als im Falle des ›Gewissen-haben-Wollens‹ in Sein und Zeit zeigt hier Heidegger mithin auf, dass jener ›Wille‹ in seiner endlichen Freiheit sich gewissermaßen nur zu einer ihm vorgelagerten Struktur verhält – nämlich zu dem Möglichkeitshorizont des zeitlich verfassten ›In-der-Welt-Seins‹. Darauf hat nach Heidegger allerdings auch bereits Kant mit seiner Interpretation der Einbildungskraft aufmerksam gemacht, wodurch dieser ebenfalls, zumindest ansatzweise, die von Heidegger eingeklagte Fundierung des Selbstbewusstseins vollzogen habe.

2.4. Von der produktiven Einbildungskraft zur ursprünglichen Zeitlichkeit Auch wenn es Heidegger in Vom Wesen des Grundes um die Endlichkeit des Daseins und seiner mit einem voluntativen Moment einhergehenden Freiheit geht, so klammert er in diesem Aufsatz doch ex326 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

plizit die damit verbundene zeitliche Verfasstheit des Daseins in seiner Freiheit aus, die in Form einer »temporalen Interpretation der Transzendenz« des Daseins zu leisten wäre (HGA 9, 166 Anm.). Auch und gerade bezüglich dieses Punktes hat aber Heidegger zufolge zum einen Kant durch seine Interpretation der Einbildungskraft Wesentliches erkannt. 57 Zum anderen ist hier genau der Ansatzpunkt für seine spätere Kritik nicht nur an einem verabsolutierten und darin gerade seine Bedingtheit unterschlagenden Willensparadigma, sondern auch für seine zunehmende Distanzierung gegenüber dem idealistischen Selbstbewusstseinsparadigma zu suchen, das sich auf willentlicher Selbstbestimmung gründet. Deshalb soll Heideggers Interpretation der kantischen Einbildungskraft hier noch kurz nachvollzogen werden, auch wenn hier Phänomene wie Wille oder Wollen (noch) keine zentrale Rolle spielen, insofern zumindest aus der Sicht Heideggers derartige Phänomene erst aufgrund dieses Vermögens und der damit verbundenen Zeitlichkeit ermöglicht werden. Diese Interpretation der kantischen Einbildungskraft legt Heidegger vor allem in seinem Kant-Buch von 1929, aber auch schon und sogar ausführlicher in einer Vorlesung aus dem Wintersemester 1927/28 vor, indem er auf die ›transzendentale Deduktion‹ der A-Auflage der Critik der reinen Vernunft sowie das SchematismusKapitel derselben zurückgeht. 58 In einer Interpretation, die auch Heidegger selbst in ihrem Anliegen, etwas zu benennen, wovor Kant noch zurückschreckte, als »[g]ewaltsam« bezeichnet (HGA 25, 366), sucht Heidegger die Zeitbezogenheit jener aller Erkenntnis zuvorkommenden »dreifachen Synthesis« aufzuzeigen, »nämlich, der Apprehension der Vorstellungen, als Modification des Gemüths in der Anschauung, der Reproduction derselben in der Einbildung und ihrer

Auch wenn Heidegger diese Nähe Kants zu seinem eigenen Ansatz bereits in der Einleitung zu Sein und Zeit betont (vgl. HGA 2, 31 f.), so behauptet Heidegger doch in der vierten Auflage seines Kantbuches von 1973, diese ›Entdeckung‹ erst im Zuge der Kant-Vorlesung 1927/28 gemacht zu haben: »Während der Ausarbeitung der im WS 1927/28 gehaltenen Vorlesung über ›Kants Kritik der reinen Vernunft‹ wurde ich auf das Schematismuskapitel aufmerksam und erblickte darin einen Zusammenhang zwischen dem Kategorienproblem, d. h. dem Seinsproblem der überlieferten Metaphysik und dem Phänomen der Zeit. So kam die Fragestellung von ›Sein und Zeit‹ als Vorgriff für die versuchte Kantauslegung ins Spiel. Kants Text wurde eine Zuflucht, bei Kant einen Fürsprecher für die von mir gestellte Seinsfrage zu suchen« (HGA 3, XIV). 58 Nebenbei bemerkt, favorisiert auch Schelling die A-Auflage der Critik der reinen Vernunft, vgl. SW V, 196 u. SW X, 89 f. Vgl. hierzu Simon 2014, 44–47. 57

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Recognition im Begriffe« (KrV, A 97). 59 Ohne dass Kant dies derart ausdrücklich sagt, obgleich auch er davon ausgeht, dass »alle unsere Erkenntnisse zuletzt doch der formalen Bedingung des inneren Sinnes, nämlich der Zeit unterworfen« sind (KrV, A 99), ordnet Heidegger jede der drei Synthesen einer Zeitdimension zu: diejenige der Apprehension der Gegenwart, diejenige der Reproduktion der Vergangenheit und diejenige der Rekognition, da sie die »Vorwegnahme einer regionalen Ganzheit« und damit gewissermaßen »Prae-cognition« sei (HGA 25, 364), der Zukunft. Mit dieser insbesondere hinsichtlich der dritten Synthese ›gewaltsamen‹ Interpretation 60 sucht Heidegger dasjenige »Phänomen als ursprünglich zeitlich aufzuzeigen […], das Kant im Anschluß an die Kennzeichnung der dritten Synthesis gerade aus aller Zeit herausstellen und ihr entgegenstellen will – die transzendentale Apperzeption« (HGA 25, 366). Angesichts dieser Betonung der zeitlichen Verfasstheit der transzendentalen Apperzeption durch Heidegger ist es jedoch auf den ersten Blick umso verwunderlicher, dass er im Folgenden in affirmativer Weise eine Stelle der Reflexionen zur Metaphysik aus Kants handschriftlichen Nachlass zitiert, wonach »allein der Verstand (und der Wille, so fern er durch Verstand bestimmt werden kann.) […] frey und eine reine Selbstthätigkeit [ist], die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist.« (AA XVIII, 182; vgl. HGA 25, 370 f.) Heidegger zögert außerdem nicht, »diese ursprüngliche und unwandelbare spontaneitaet« (AA XVIII, 182 f.) mit dem deutschen Idealismus und insbesondere mit Hegel in Verbindung zu bringen, der »im dritten Buch seiner ›Logik‹ […] als das Wesen des Begriffes die Freiheit« herausgestellt habe (HGA 25, 371). Verständlich wird jedoch diese durch Heidegger vorgenommene Verknüpfung, wenn man bedenkt, dass zwar nach Kant die »drei Synthesen für die Ermöglichung der Gegenstandsbeziehung« fundierend sind (HGA 25, 368), dass aber zugleich – so Heidegger – »die ontologische Erkenntnis […] im kantischen Sinne gerade diese Gegenständlichkeit selbst« intendiert (HGA 25, 369) und insofern, wie Kant selbst bemerkt, »ein transzen-

Zu einer Interpretation dieser drei Synthesen bei Kant vgl. u. a. inbes. Schnell 2010, 43–58. Schnell konstatiert selbst eine gewisse Nähe der heideggerschen Zeitlichkeitsanalyse Ende der zwanziger Jahre zu Kant, vgl. Schnell 2010, 243. 60 Dass sich Heidegger dieser ›Gewaltsamkeit‹ voll und ganz bewusst ist, zeigt auch die klare Unterscheidung zwischen dem »Zusammenhang der Synthesen im Sinne Kants und in unserem [Heideggers, P. H.] Sinne« (HGA 25, 367). 59

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dentaler Grund […] auch der Begriffe der Objecte überhaupt, folglich auch aller Gegenstände der Erfahrung angetroffen werden« müsse (KrV, A 106). Heidegger spricht daher auch von einer »apriorische[n] Bindung aller empirischen Bestimmungen an apriorische Regeln« sowie von einem »apriorischen Widerstand […], der im Subjekt liegt, den das Subjekt sich selbst gibt.« (HGA 25, 369 f.) Wie bereits in der Grundprobleme-Vorlesung und in Vom Wesen des Grundes hebt Heidegger mithin darauf ab, dass die Freiheit ihrem Wesen nach »Bindung« ihrer selbst sei, weshalb er auch schließen kann, dass Freiheit »die Voraussetzung für die Möglichkeit aller apriorischen Notwendigkeit der Einigungen der reinen Synthesen der Zeit« sei (HGA 25, 370). So sehr sich Heidegger hier in Übereinstimmung mit den kantischen und idealistischen Freiheitstheorien meint positionieren zu können, so sehr macht sich hier jedoch bereits eine radikale Differenz zu diesen geltend, wenn er jene Synthesen »in sich selbst auf das Problem der ursprünglichen Einheit von Zeit und transzendentaler Apperzeption im Subjekt« hin ›drängen‹ sieht, womit das »Problem der transzendentalen Deduktion […] im Grunde das, was wir die fundamentalontologische Interpretation des Daseins nennen« vorwegnehme (HGA 25, 372 f.). Im Anklang an die ›vorlaufende Entschlossenheit‹ aus Sein und Zeit deutet Heidegger denn auch das ›Ich denke‹ der transzendentalen Apperzeption als »vorwegnehmenden Entwurf des einheitlichen Horizontes der apriorischen Widerständigkeit«, die Heidegger zufolge alle Formen von Gegenstandsbezug allererst ermöglicht. Insofern aber dieser vorwegnehmende Entwurf »zur Einheit der [von Heidegger auf die Gegenwart bzw. Vergangenheit bezogenen, P. H.] Synthesis der Apprehension und der Reproduktion« gehöre, repräsentiere die transzendentale Apperzeption nichts weniger als den »Zeitursprung« (HGA 25, 377). 61 In deutlichem Gegensatz zumindest zu den frühidealistischen, voluntativ fundierten Freiheitstheorien 62 bewegt sich Heidegger zudem, wenn er die – zumindest seiner Interpretation nach anzunehmende – Bezogenheit der drei Synthesen auf Vergangenheit, Gegenwart und

Zu einer genaueren Darstellung und Kritik dieser jegliche ›Geschehenszeit‹ zu negieren suchenden Subjektivierung von Zeit mit Blick auf Sein und Zeit und die Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik vgl. Figal 2006, 341–348. 62 Vgl. hingegen zu Schellings Konzeption der ›Ekstasis‹ oben, Teil II, Kap. 4.3.2 u. Teil III, Kap. 3. 61

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Zukunft als ein »Ausgreifen[…]« auf die drei Zeitdimensionen deutet (HGA 25, 389) und mithin das diesen zugrunde liegende Subjekt durch ein »ausgreifende[s] Heraustreten« oder auch durch den wörtlich zu verstehenden Begriff der »Ekstasis«, durch einen »ekstatischen Grundcharakter« charakterisiert (HGA 25, 390). Heidegger gesteht infolgedessen auch durchaus zu, dass er allererst mit seiner Interpretation »den wesenhaften Zeitfaktor der von Kant zeitfrei gedachten transzendentalen Apperzeption« herausgestellt habe (HGA 25, 393). Denn, wie Heidegger mit Blick auf die in Sein und Zeit entwickelte Sorgestruktur bemerkt, könne ein wahrhaft existierendes Selbst sich nur mit sich identifizieren, wenn es »in der Einheit des Entschlusses zu einer Möglichkeit mit der Verpflichtung an die Vergangenheit in jedem konkreten Augenblick sich als dasselbige zukünftig-gewesene verstehen könne[…]« (HGA 25, 395), weshalb denn auch die »Selbstidentifizierung als ein ursprüngliches geschichtliches Phänomen« begriffen werden müsse (HGA 25, 395 f.) – eine Erkenntnis, die bei Kant und dem nachfolgenden Idealismus keineswegs intendiert ist, wenn man einmal von Schellings Weltaltern sowie von dessen Erlanger Vorlesung absieht. Gleichwohl tritt Heidegger zufolge diese Erkenntnis stellenweise und gegen dessen Intention bei Kant bereits hervor, wodurch Kant, so Heidegger 1929, »sich selbst den Boden weggräbt, auf den er anfangs die Kritik stellte« und womit er gleichzeitig – gleichsam auf einer höheren, auf Heidegger vorausweisenden Ebene – »das Einbrechen des Bodens und damit den Abgrund der Metaphysik offenbart« (HGA 3, 214 f.): Kants Bemerkung, dass »die transscendentale Einheit der Apperception auf die reine [productive, P. H.] Synthesis der Einbildungskraft [sich beziehe, P. H.], als Bedingung a priori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in der Erkenntniß« (KrV, A 117), deutet Heidegger denn auch derart, dass die »Einheit der transzendentalen Apperzeption […] die Synthesis der Einbildungskraft voraus[setze]« (HGA 25, 412). Letztere fasst Heidegger dabei aber als »ursprüngliche Zeitlichkeit«, welche »die Wurzel der Vermögen der Subjektivität, […] die ekstatische Grundverfassung des Subjekts, das Dasein selbst« als ›In-der-Welt-Sein‹ ausmache (HGA 25, 417 f.). Das 1929 erschienene Kantbuch schließt sich dieser Kant-Interpretation aus dem Wintersemester 1927/28 weitestgehend an – sieht man von dem Heideggers eigenem philosophischem Programm gewidmeten letzten Abschnitt ab, der erst nach dem Davoser Disput 330 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Heideggers Rückgang auf das kantische Subjekt und die Einbildungskraft

mit Cassirer hinzugefügt worden sein dürfte. 63 Wie bereits 1927/28 (vgl. v. a. HGA 25, 39) sucht Heidegger 1929 »Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen, um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen« (HGA 3, 1). Diese bestimmt Heidegger dabei ganz analog zu Sein und Zeit als »ontologische Analytik des endlichen Menschenwesens, die das Fundament für die zur ›Natur des Menschen gehörige‹ Metaphysik bereiten soll«, oder auch als »zur Ermöglichung der Metaphysik notwendig geforderte Metaphysik des menschlichen Daseins« (HGA 3, 1). 64 Auch bringt Heidegger hier wiederum die aus Sein und Zeit und Vom Wesen des Grundes 65 bekannte Transzendenzstruktur 66 des Daseins und dessen ›ekstatische Grundverfassung‹ in gewiss fragwürdiger Weise mit der kantischen Beschreibung einer apriorisch grundgelegten Gegenstandsbeziehung in Zusammenhang: Die Transzendenz liege denn auch, so Heidegger, darin, daß das sichzuwendende Gegenstehenlassen als solches den Horizont der Gegenständlichkeit überhaupt bildet. Das im endlichen Erkennen vorgängig und jederzeit notwendige Hinausgehen zu … ist demnach ein ständiges Hinausstehen zu … (Ekstasis). Aber dieser wesenhafte Hinausstand zu … bildet gerade im Stehen und hält sich darin vor: einen Horizont. (HGA 3, 119)

Heidegger verknüpft hier ebenfalls jenes vorgängige ›Gegenstehenlassen‹ des Gegenstandes durch das Subjekt mit dem Affiziertwerden durch die Zeit, die allererst das Selbstsein des Subjektes ermögliche: »Die Zeit gehört zur inneren Möglichkeit dieses Gegenstehenlassens von … Als reine Selbstaffektion bildet sie [die Zeit, P. H.] ursprünglich die endliche Selbstheit dergestalt, daß das Selbst so etwas wie Selbstbewußtsein sein kann.« (HGA 3, 190) Da jedoch Heidegger wie 1927/28 zum einen die »Modi der reinen Synthesis – reine Apprehension, reine Reproduktion, reine Rekognition« – in ihrer Dreizahl derart interpretiert, dass »sie, in sich ursprünglich einig, zeitbilVgl. HGA 3, XVI; hierzu auch Strube 2003, 98–100. Vgl. zu einer Interpretation des Kantbuches von 1929 Hoppe 1970, 286–304. 64 Zum zwischen 1927 und 1929 bei Heidegger begegnenden Begriff einer »Metaphysik des Daseins« vgl. Jaran 2010. 65 Heidegger verweist hier auch explizit auf diesen Aufsatz, vgl. HGA 3, 119 Anm. 66 Heidegger bringt hierzu den kantischen Begriff des ›Transzendentalen‹ mit seinem eigenen Begriff von ›Transzendenz‹ in Zusammenhang, insofern er das ›Transzendentale‹ als das »Transzendenz [E]rmöglichende« versteht (HGA 3, 192). Vgl. dazu Hoppe 1970, 291 f. 63

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dend die Zeitigung der Zeit selbst ausmachen«, und er zum anderen auch »das ursprünglich Einigende, das scheinbar nur [zwischen Verstand und Sinnlichkeit, P. H.] vermittelnde Zwischenvermögen der transzendentalen Einbildungskraft […] als die ursprüngliche Zeit« auffasst (HGA 3, 196), 67 so kann er auch – gegen Kant und insbesondere im Widerspruch zur B-Auflage der Critik 68 – in der Einbildungskraft den innerhalb von »Kants Grundlegung der Metaphysik« gesuchten »Grund« ausmachen (HGA 3, 195). Als ›ursprüngliche Zeit‹ bildet dieser Grund dann auch nicht nur die ›endliche Selbstheit‹, sondern macht selbst noch den »Grunde der inneren Möglichkeit der Wesenseinheit der ontologischen Erkenntnis« aus (HGA 3, 195). Stärker als 1927/28 macht Heidegger hier mithin geltend, dass seine »Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft […] aus einer anderen Fragestellung erwachsen« sei und »sich gleichsam in entgegengesetzter Richtung wie die des deutschen Idealismus« bewege, auch wenn er gleichzeitig zugesteht, dass »Fichte und Schelling und in seiner Weise auch Jacobi der Einbildungskraft eine wesentliche Rolle zugesprochen« hätten (HGA 3, 137 Anm.). Durchaus sehen denn auch Fichte, 69 der frühe Schelling 70 und soHeidegger zufolge ist die Einbildungskraft nicht nur »als ursprünglich einigende Mitte« und damit als ein Drittes zwischen Sinnlichkeit und Verstand aufzufassen, sondern vielmehr sie »diese Mitte als Wurzel der beiden Stämme« aufzufassen (HGA 3, 196). 68 Insofern stört Heidegger an der B-Auflage gerade, dass die Einbildungskraft »als eigenes Grundvermögen gestrichen und ihre Funktion dem Verstand als der bloßen Spontaneität übertragen« worden sei (HGA 3, 197). Vgl. hierzu Metz 1991, 16–21. 69 Vgl. exemplarisch eine Passage aus Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre: »Es wird demnach hier gelehrt, daß alle Realität – es versteht sich für uns, wie es denn in einem System der Transcendental-Philosophie nicht anders verstanden werden soll – bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde« (GA I,2, 368). Vgl. hierzu auch Sallis 2000, 67–69. 70 Vgl. etwa Schellings Bemerkung in einer Anmerkung des neunten der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus: »Die Einbildungskraft ist, als verbindendes Mittelglied der theoretischen und praktischen Vermögen, analog der theoretischen Vernunft, insofern diese von Erkenntniß des Objekts abhängig ist, analog der praktischen, insofern diese ihr Objekt selbst hervorbringt. Die Einbildungskraft bringt aktiv ein Objekt dadurch hervor, daß sie sich in völlige Abhängigkeit von diesem Objekt – in völlige Passivität – versetzt. Was dem Geschöpfe der Einbildungskraft an Objektivität fehlt, das ersetzt sie selbst durch die Passivität, in die sie sich freiwillig – durch einen Akt der Spontaneität – gegen die Idee jenes Objektes setzt. Man könnte daher Einbildungskraft als das Vermögen erklären, sich durch völlige Selbstthätigkeit in völlige Passivität zu versetzen. Man darf hoffen, daß die Zeit, die Mutter jeder Entwickelung, auch jene Keime, welche Kant in seinem unsterblichen Werke, zu gro67

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gar der junge Hegel 71 in der Einbildungskraft ein grundlegendes, theoretische und praktische Philosophie einigendes Vermögen als gleichsam gemeinschaftliche ›Wurzel‹ beider, wobei – wie Fichte in gewisser Nähe zu Heidegger sogar betont – selbst noch »die Möglichkeit unsers Bewußtseyns« (GA I,2, 369) auf die Leistung der Einbildungskraft zurückzuführen sei. Doch ist die ›Richtung‹ dieser die Einbildungskraft zu einem zentralen Vermögen aufwertenden Interpretationen, wie Heidegger zurecht betont, eine gänzlich ›entgegengesetzte‹: So geht es doch den Idealisten mit ihrer Aufwertung der Einbildungskraft zu einem Einheitsgaranten gerade nicht um eine Betonung der Zeitlichkeit und Endlichkeit des Subjektes. Nicht gänzlich zu Unrecht betrachtet denn auch Heidegger den im deutschen Idealismus anhebende Kampf gegen das »Ding an sich« […] als das wachsende Vergessen dessen, was Kant erkämpfte: daß die innere Möglichkeit und die Notwendigkeit der Metaphysik, d. h. ihr Wesen, im Grunde getragen und erhalten werden durch die ursprünglichere Ausarbeitung und verschärfte Erhaltung des Problems der Endlichkeit […]. (HGA 3, 244)

Gleichwohl ist zu betonen, dass Heidegger mit dem Einschlagen einer interpretativen Gegenrichtung zum deutschen Idealismus auch nicht den Weg der Romantiker wählt und – wie etwa Novalis – das ›Schweben‹ der Einbildungskraft und die mit ihr einhergehende ›ursprüngliche Zeit‹ als eine das Subjekt überschreitende Struktur begreift, 72 bindet er jene ›ursprüngliche Zeit‹ als reine »Selbstaffektion« (HGA ßen Aufschlüssen über dieses wunderbare Vermögen, niederlegte, pflegen und selbst bis zur Vollendung der ganzen Wissenschaft entwickeln werde« (AA I,3, 102 f.). 71 Vgl. den folgenden Passus aus Glauben und Wissen: »[D]iese Einbildungskraft [soll, P. H.] nicht als das Mittelglied, welches zwischen ein existierendes absolutes Subjekt und eine absolute existirende Welt erst eingeschoben wird, sondern als das, welches das Erste und Ursprüngliche ist, und aus welchem das subjective Ich sowohl als die objective Welt erst zur notwendig zweytheiligen Erscheinung und Product sich trennen, […] verstanden werden« (GW 4, 329). – Vgl. auch Heideggers Deutung der hegelschen Auffassung der Einbildungskraft 1929: »Hegel sieht und würdigt die transzendentale Einbildungskraft, weil Erscheinung des Absoluten als Identität. Synthesis, Unendlichkeit. Wir [Heidegger, P. H.] finden und würdigen die Einbildungskraft, weil Ansatz zur Aufhellung der Endlichkeit.« (HGA 28, 262) Vgl. ähnlich HGA 28, 200 u. 336 f. 72 Vgl. etwa das folgende Zitat aus Novalis Fichte-Studien: »Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Obj[ect] und Subject sind durch ihn, nicht er d[urch] sie.« (Novalis 1795/96, 177) Vgl. hierzu Hühn 1996, bes. 587–591.

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3, 189) und damit als eine letztlich rein subjektive doch ausdrücklich an das Dasein zurück. 73 Mit diesem in den zwanziger Jahren noch verfolgten Anliegen, dass die Zeitlichkeit des Daseins in und aus diesem selbst heraus – gleichsam als in ihm selbst liegende ›Bedingung seiner Möglichkeit‹ – aufgewiesen werden soll und insofern gar mit diesem identisch ist, 74 vermag Heidegger 1929 aber gerade auf die idealistische Transzendentalphilosophie zurückzugehen. Insofern diese jedoch – trotz aller Verwandtschaft ihres transzendentalen Ansatzes mit demjenigen Heideggers in den zwanziger Jahren – dabei gerade nicht vornehmlich auf die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Daseins abhebt, sieht sich Heidegger hierbei gleichzeitig veranlasst, deren Subjektivitätstheorien sowie deren ›Kampf gegen das Ding an sich‹ 75 im Sinne des ›Destruktionsprogrammes‹ von Sein und Zeit kritisch zu durchleuchten und auf ihre unentfaltet gebliebenen Einsichten hin zu befragen. Daher interessiert Heidegger 1929 an der frühidealistischen Auseinandersetzung vor allen Dingen zwischen Fichte und Schelling insbesondere, wie hier die voluntative Selbstbegründung der Subjektivität etwa in der Figur der ›Tathandlung‹ fragwürdig und gleichsam auf einen ihr vorausliegenden und sie in ihrer Absolutheit relativierenden Grund hin aufgebrochen wird.

So bemerkt Heidegger aufgrund der »Deckung der Wesensprädikate für die Zeit und das Ich« in Form einer rhetorischen Frage: »[A]ber folgt hieraus, daß das Ich nicht zeitlich ist, oder ergibt sich gerade, daß das Ich so sehr ›zeitlich‹ ist, daß es die Zeit selbst ist und nur als sie selbst seinem eigensten Wesen nach möglich wird?« (HGA 3, 192) Vgl. hierzu Schulz 1979, 253–255. Vgl. auch Figal 2006, 341–348. 74 Auch wenn Heidegger unter dem Titel ›Temporalität‹ eine über die Zeitlichkeit des Daseins hinausgehende zeitliche Verfasstheit des Seins aufzuweisen beabsichtigt, so bleibt er diesen Aufweis Ende der zwanziger Jahre doch schuldig – mit Ausnahme der Ausführungen zur ›Praesenz‹ 1927. Maßgeblich bleibt hier denn auch »die Zeitlichkeit als die ursprüngliche Verfassung des Daseins und somit als […] Ursprung der Möglichkeit von Seinsverständnis« (HGA 25, 438). Vgl. hierzu Schnell 2010, bes. 245–247. Gerade aufgrund dieses Sachverhaltes bringt Schnell Heideggers zeitphilosophischen Ansatz mit dem Begriff des ›Transzendentalen‹ in Zusammenhang (vgl. Schnell 2010, 32). 75 Vgl. hierzu auch Hühn 1994a, bes. 10–17. 73

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Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929

3. Fundamentalontologische Spurensuche in der Transzendentalphilosophie: Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929 Dass Heidegger – in deutlichem Gegensatz zu seiner vehementen Subjektivitäts- und Willenskritik der 30er Jahre – den idealistischen Theorien der Subjektivität 1929 teilweise noch eine phänomenologisch angemessen beschriebene Einsicht zugesteht, hat nicht allein mit der in der Kant-Auseinandersetzung bereits sichtbar gewordenen Nähe zum transzendentalphilosophischen sowie freiheitstheoretischen Ansatz Kants und der Frühidealisten zu tun. Zu Beginn der Vorlesung aus dem Sommersemester 1929 wird, gleichwohl nur indirekt, außerdem noch ein weiterer Grund angesprochen: Heidegger kommt 1929 nämlich auf den Idealismus und hierbei am ausführlichsten auf Fichte von einer, so der Vorlesungstitel, in der Gegenwart diagnostizierten »philosophischen Problemlage« her zu sprechen – nämlich dem Sachverhalt, dass die »Bemühung um die Anthropologie« und der »Zug zur Metaphysik« in der Gegenwart »gleichsam gesondert nebeneinander« laufen und der »inneren Einheit« entbehren (HGA 28, 9). Wie bereits zu Ende seines Kantbuches, dessen letzter Abschnitt fast gleichzeitig mit dem ersten Teil der IdealismusVorlesung entstanden sein dürfte, 76 ist indessen gerade Heidegger selbst mit seinem philosophischen Projekt einer »Metaphysik des Daseins« daran interessiert, genau eine solche ›Einheit‹ aufzuzeigen (HGA 28, 41). 77 Mit diesem Interesse reagiert das Projekt einer ›Metaphysik des Daseins‹ aber selbst wiederum auf ein in Sein und Zeit aufgeworfenes Problem, das mit zum ›Scheitern‹ dieses Werkes beigetragen haben dürfte: So bemerkte Heidegger am Ende des publizierten Teiles von Sein und Zeit, dass die im ersten Teil des Werkes geleistete »Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins […] nur ein Weg« bleibe und das »Ziel […] die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt« sei; indessen bedürfe – so der hermeneutische Zirkel – die Existenzanalyse »ihrerseits erst des Lichtes aus der zuvor geklärten Idee des Seins überhaupt« (HGA 2, 575). Doch insofern die Daseinsanalyse nur das jeweilige Dasein und dessen Zeitlichkeit erschloss, Vgl. hierzu Strube 2003, 99 f. Der Begriff findet sich bereits in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1928 (vgl. HGA 26, 171) und im Kantbuch (vgl. HGA 3, 218 passim). Vgl. hierzu bes. Jaran 2010.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

gelang Heidegger 1927 nicht der Übergang zum ›Sein überhaupt‹ und der ihm zugehörigen, als ›Temporalität‹ gefassten Zeitlichkeit. 78 So ging es in Sein und Zeit, wie Heidegger 1928 zum »Problem von Sein und Zeit« vermerkt, nur »um eine vorbereitende Analytik« des Daseins, die »dieses Seiende in seinem Sein überhaupt« zum Vorschein bringen sollte, ohne dass damit aber bereits »die Metaphysik des Daseins selbst […] im Zentrum« stand (HGA 26, 171). Wenn Heidegger 1929 mithin ein »Zwiegespräch« mit dem deutschen Idealismus fordert, »das notwendig Auseinandersetzung, d. h. Kampf ist«, was indessen nur möglich sei, wenn man »die Freiheit aufbringe[…] zum Willen, uns zu uns selbst zu bringen«, und wenn »eine Enthüllung der philosophischen Grundtendenzen der Gegenwart« vorausgehe (HGA 28, 6 f.), so besteht Heideggers damit verbundene Absicht nicht allein darin, ein in der Gegenwart beobachtetes Defizit zu beheben – nämlich die unverbunden nebeneinander herlaufenden Bemühungen um eine Anthropologie auf der einen und eine Metaphysik auf der anderen Seite zusammenzuführen. Vielmehr geht es Heidegger auch darum, auf Probleme seines eigenen philosophischen Projektes eine Antwort zu finden. Doch in Heideggers Augen verhält es sich nicht einfach so, als könnte man an Kant oder den nachfolgenden deutschen Idealismus bruchlos anschließen, um dieses Defizit zu beheben und die gesuchte Antwort zu finden. Zwar hat Heidegger zufolge Kant das »Problem der Metaphysik« erstmals im Zuge seiner »Grundlegung der Metaphysik« in der Critik der reinen Vernunft »gestellt«, ohne dass dies aber derart »am Tag lag«, dass der deutsche Idealismus mit seiner Anschlussnahme an Kant oder auch der Neukantianismus dies angemessen gesehen und fortgeführt habe (HGA 28, 35). Anders als noch im Kantbuch (vgl. HGA 3, 205–208) sieht Heidegger nun nämlich Kants Rückführung der »Metaphysik auf Anthropologie« (HGA 28, 37), wie er sie unter Bezugnahme auf Kants Logik zu erkennen glaubt (vgl. AA IX, 25), sehr viel skeptischer. Gegenüber der dortigen Bemerkung Kants, dass man die der Metaphysik, Moral und Religion zuzuordnenden Fragen danach, was man wissen könne, tun solle und hoffen dürfe, allesamt »[i]m Grunde könnte […] zur Anthropologie rechnen« (AA IX, 25), sieht es Heidegger als »fraglich« an, »ob es schon genügt, nun einfach auf die vierte Frage Kants die Antwort zu suchen und alles auf diese zurück78

Vgl. dazu genauer Figal 2007, 86–93.

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Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929

zuführen« (HGA 28, 38) – nämlich auf die Frage, was der Mensch sei. Insofern insistiert Heidegger gerade darauf, dass Kant »lediglich« sage, »›man könnte‹ [alles dieses zur Anthropologie] rechnen, muß aber nicht« (HGA 28, 38). Denn vor dem Hintergrund des heideggerschen Anliegens der Ausarbeitung einer ›Metaphysik des Daseins‹ darf die Frage, was der Mensch sei, »gerade wenn sie die Grundlegung der Metaphysik ausmachen soll, keine anthropologische« sein (HGA 28, 39). Daher sei es unumgänglich, nicht darauf zu schauen, »was Kant sagt«, womit man Heidegger zufolge zu einer bloßen Anthropologie geführt werde, sondern darauf, »was bei Kant geschieht« (HGA 28, 39). Während Heidegger gerade dies in seinem Kantbuch unternimmt und dabei der »Gefahr« auszuweichen sucht, »daß die Notwendigkeit verdeckt bleibt, die Frage nach dem Menschen in Absicht auf eine Grundlegung der Metaphysik allererst als Frage auszubilden« (HGA 3, 218), verfolgt Heidegger in seiner Idealismus-Vorlesung von 1929 gleichsam den entgegengesetzten Weg. Denn nach Heidegger ist der »Idealismus: Metaphysik, aber zugleich Endlichkeit verkannt!« (HGA 28, 46) Insofern jedoch ein »innerer Zusammenhang« zwischen der »Grundfrage der Metaphysik und der Metaphysik des Daseins« bestehe, geschehe »immer schon ›Anthropologie‹« (HGA 28, 46). Daher kann Heidegger die »ungeheuere Anstrengung in der Besinnung auf das ›Ich‹ und Subjekt«, die etwa in Fichtes Konzept der ›Tathandlung‹ oder in Hegels Phänomenologie des Geistes sichtbar werde, geradezu als Kehrseite und Indiz des durch den Idealismus nicht erfassten »innerste[n] Problem[s]« der Metaphysik betrachten (HGA 28, 46). Denn eine »absolute Erkenntnis des Seienden im Ganzen« sei »nicht ohne Subjekt (Ich)« zu begründen, auch wenn der Idealismus »gerade die Endlichkeit sprengen« und »überwinden« wolle (HGA 28, 47). Gerade dies sucht Heidegger, wie im Folgenden zu zeigen ist, im Zuge einer Interpretation der drei Grundsätze der fichteschen Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (Kap. 3.1) sowie anhand der schellingschen Frühphilosophie als Kritik am absoluten Ich des ersten fichteschen Grundsatzes sowie im Rückgang auf die hegelsche Frühphilosophie sichtbar zu machen (Kap. 3.2). Dass Heidegger dabei, über das Aufzeigen eines dem Ich essentiell zugehörenden Momentes der Endlichkeit, eine Nähe zu seiner eigenen Daseinsanalyse zu sehen vermag, dies liegt nicht zuletzt daran, dass er – im Gegensatz zu Sein und Zeit, wo er noch tautologisch vom »menschliche[n] Dasein« gesprochen hat (HGA 3, 263 u. 505) – nun unter dem »Mensch als 337 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Da-sein« etwas »Ursprünglichere[s] als de[n] vorhandenen Menschen« versteht (HGA 28, 41). Damit vollzieht Heidegger aber, in gewisser Nähe zum Ansatz beim transzendentalphilosophischen Subjekt, eine Abhebung der Struktur des Daseins vom Menschen als konkretem Einzelnen. 79 Analog zu dem vor allem in den dreißiger Jahren der Metaphysik gemachten Vorwurf der ›Seinsvergessenheit‹ betont Heidegger jedoch gleichzeitig unmissverständlich, dass das »innerste […] Wesen der Endlichkeit des Daseins«, welchem gerade das »Seinsverständnis« entspringe, »in der tiefsten Vergessenheit« liege, auch wenn die Endlichkeit unterschwellig doch »ständig ›da‹« sei (HGA 28, 45).

3.1. Die Umkehrung der drei Grundsätze und die Einbildungskraft bei Fichte Heidegger geht 1929 das erste und einzige Mal ausführlich auf Fichte ein – und dies in durchaus positiver Weise, wie nicht nur ein die Vorlesung erwähnender Brief an Karl Jaspers, 80 sondern auch die gegenüber der Behandlung Schellings und Hegels größere Ausführlichkeit der Erläuterungen zu Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 belegen. Dabei legt Heidegger Fichtes drei Grundsätze und dessen Interpretation der Einbildungskraft ganz auf der Linie seiner daseinsanalytisch geprägten und überformten KantInterpretation aus, wenn er bemerkt, dass in genauem Gegensatz zu Kant, der »das Subjekt als endliches ›Ich‹« begriffen habe, der deutsche Idealismus auf das »absolute Subjekt« abziele, welches »aber faktisch doch endlich« sei und somit das »Problem der Dialektik« sowie »des Systems« eröffne (HGA 28, 49 f.). Ähnlich wie in seinen Kant-Interpretation sucht Heidegger anhand einer textnahen Analyse der ersten drei Grundsätze der fichteschen Wissenschaftslehre von 1794 zu zeigen, wie Fichte die FaktiziBereits 1928 spricht Heidegger von einer »Neutralität des Titels ›das Dasein‹«, die darum »wesentlich« sei, »weil die Interpretation dieses Seienden vor aller faktischen Konkretion durchzuführen ist« (vg. HGA 26, 171–174, Zitat: 171 f.). Im Kantbuch von 1929 spricht Heidegger dann vom »Dasein im Menschen« (HGA 3, 230, 234, 283; Herv. v. Verf.). Vgl. dazu Schulz 1979, 37. 80 Heidegger an K. Jaspers, 25. Juni 1929, Heidegger/Jaspers 1990, 123: »Zur Zeit lese ich zum ersten Mal über Fichte, Hegel, Schelling – und es geht mir wieder eine Welt auf; die alte Erfahrung, daß die anderen nicht für einen lesen können.« 79

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Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929

tät und Endlichkeit des Daseins in die im ersten Paragraphen der Wissenschaftslehre postulierte »Selbstsetzung« als »Wesen des Seins dieses Seienden vom Charakter des Ich« – gewissermaßen nachträglich – zu integrieren versucht (HGA 28, 65). 81 Wichtig werden für ihn hierfür insbesondere der zweite und dritte Grundsatz. So führt er den zweiten Grundsatz folgendermaßen ein: Zum Wesen des Ich gehört dergleichen wie ein Entgegensetzen als solches; das Ich als Ich verhält sich zu einem Wogegen. Dieses Wogegen ist nicht schon das nicht-ichliche Seiende selbst, sondern der Horizont, in den das Ich als Ich sich hineinhält. Hineinhalten aber als Sichverhalten. (HGA 28, 77)

Wenn Heidegger die Struktur des Nicht-Ich mit einem ›Sichverhalten‹ sowie mit dem »Spielraum des Entgegenkömmlichen« (HGA 28, 77) zusammenbringt, tritt Heideggers Absicht klar zutage, dass er das absolute Ich des ersten Grundsatzes gleichsam durch das sich verhaltende ›In-der-Welt-Sein‹ des Daseins ergänzen will, auf das hin er den zweiten Grundsatz interpretiert. Nur so wird verständlich, weshalb Heidegger »[a]n der Problematik des Nicht-Ich lernen [will, P. H.], was Frage nach Ich-heit besagt« (HGA 28, 78). So gehört denn auch Heidegger zufolge »[z]um Wesen des Ich, d. h. der Ichheit, […] Verendlichung in sich selbst. (Einschränken zugleich Einschließen.)« (HGA 28, 90). Nur aufgrund seines »Endlich-Sein[s] […] stehe« das Ich, wie Heidegger nur vor dem Hintergrund seiner eigenen Daseinsanalyse bemerken kann, »in Möglichkeiten als solchen des eigensten Seinkönnens« (HGA 28, 114). 82 In Analogie zu seiner Bemerkung von 1927, dass »die Analyse des Selbstbewußtseins die Aufklärung der Existenzverfassung« voraussetze (HGA 24, 249), geht Heidegger bei der Analyse des dritten Grundsatzes in einer »Fichte – Kritik« überschriebenen ›Beilage‹ zu § 13 der Vorlesung schließlich sogar so weit, eine Umkehrung der fichteschen Grundsätze insgesamt als notwendig zu erachten:

Vgl. hierzu ausführlich Stolzenberg 2003. Und im Hinblick auf das an Kierkegaard anschließende Moment der ›Selbstwahl‹, das sich auch schon in Sein und Zeit findet (vgl. oben, Teil IV, Kap. 1.2), merkt Heidegger in Klammern an: »Ich-Sein ist offen, d. h. der Seinssinn des ›Ich bin‹ besagt: Ich stehe in Möglichkeiten, die ich je so oder so verwalten kann; das Stehen in ihnen ist die Notwendigkeit einer ›so oder so Wahl‹. Offenheit des Ich meint zunächst: Existenz ist Seinkönnen« (HGA 28, 114).

81 82

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III. Das Faktum der Einschränkung – daß Eingeschränktes! Machtspruch, d. h. a) in das Ich genommen, von ihm her gesehen (Setzung!); b) Ich selbst dabei unendlich, nur verendlicht! Statt umgekehrt: b) dieses Faktum in seiner Faktizität Problem! d. h. Sein! a) und dementsprechend Ich qua Dasein und nicht von [der] Unendlichkeit als gesetzter zur Verendlichung, sondern umgekehrt (HGA 28, 246). 83

Während die ersten beiden Grundsätze nur die »Möglichkeit der Einschränkbarkeit im Wesen des Ich«, die »Möglichkeit seiner Endlichkeit« anzeigten (HGA 28, 245), werde erst mit dem dritten Grundsatz das ›Faktum in seiner Faktizität Problem‹ und somit das ›Ich qua Dasein‹. Wie jedoch der von Heidegger geforderte ›umgekehrte‹ Weg von der Endlichkeit des Daseins hin zur Unendlichkeit des sich selbst setzenden Ich vollzogen werden könnte, lässt dieser 1929 offen. Lediglich in der Grundprobleme-Vorlesung von 1927 gibt Heidegger, wie gesehen, einige Hinweise, wie die Analyse des Ichbewusstseins in die Existenzanalyse des Daseins eingefügt werden könnte. 84 1929 fragt Heidegger hingegen nach der »Art der Bestimmung der Ichheit« bei Fichte und sieht diese darin sich ›bekunden‹, »wie Fichte diejenige Grundverfassung des Ich umgrenzt, die für die Problematik des Seins die entscheidende ist, die Transzendenz« (HGA 28, 139). Damit zielt Heidegger – wie schon im Falle seiner Kant-Interpretationen – auf das bei Fichte gleichwohl mit dem dritten Grundsatz eng verknüpfte 85 Motiv der Einbildungskraft ab, in dem sich Heidegger Vgl. auch Schellings ähnliche Überlegungen, wenn auch in einem abweichenden systematischen Kontext, dass »das an sich Erste immer als Drittes erscheint«, in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (SW IV, 78 f.; vgl. auch SW IV, 295 u. 399). Vgl. dazu Rang 2000, 167–182, bes. 181 f. 84 Vgl. oben, Teil IV, Kap. 2.2. Wie Michael Steinmann bemerkt, wird jedoch »Heidegger im Rahmen seiner Daseinsanalyse den Phänomenen von Ich und Selbstbewusstsein nicht wirklich gerecht« (Steinmann 2010, 149 f.). Dabei ist allerdings auch generell fragwürdig, ob das von Heidegger skizzierte Dasein als ›In-der-WeltSein‹ überhaupt »als ein Ich bzw. […] das Ich als Dasein aufzufassen« ist (Steinmann 2010, 68), bemerkt doch Heidegger in Sein und Zeit selbst: »Die ›natürliche‹ Ich-Rede vollzieht das Man-selbst. Im ›Ich‹ spricht sich das Selbst aus, das ich zunächst und zumeist nicht eigentlich bin« (HGA 2, 426); wie allerdings der Gegenentwurf einer ›eigentlichen Ich-Rede‹ aussehen könnte, dies aufzuzeigen bleibt Heidegger dem Leser 1927 schuldig. 85 Diesen Zusammenhang sieht auch Heidegger, wenn er mit Blick auf den in der Vorstellung konstatierten Widerspruch, der erst im praktischen Teil der Wissenschaftslehre durch die Einbildungskraft gelöst werden kann, bemerkt: »Wie Ich, damit es verbleibt als Transzendenz? – Rahmen dieser Systematik schon in der Darstellung 83

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Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929

zufolge bereits eine ›temporale Interpretation der Transzendenz‹ des Ich als Dasein abzeichnet. Auch hier findet sich jedoch der Fichte schon im Falle des Grundsatzteils der Wissenschaftslehre gemachte Vorwurf einer erst ›nachträglichen‹ Einführung bestimmter Strukturen, was das Erfordernis einer ›Umkehrung‹ des Vorgehens in Heideggers Augen zur Folge hat. So führt Heidegger den von Fichte konstatierten ›Widerstreit‹ im Vorstellen, »daß es als ichliche Handlung durch das Vorgestellte gerade bestimmt wird«, auf eine Vernachlässigung oder genauer ›erst nachträgliche‹ Behandlung der ›existenzialen Erfahrung der Transzendenz‹ zurück: Diese Fassung, im Wesen der Vorstellung sei ein Widerstreit, ist nur möglich, wenn die Kennzeichnung des Realismus und Idealismus als verbindlich genommen wird (ens – ego als fester Ausgang), d. h. wenn ein ursprünglicher Ansatz und primär existenziale Erfahrung der Transzendenz, ontologische Transzendenz hintangestellt wird, um erst nachträglich als notwendiger Deus ex machina eingeführt zu werden. Dieses alles aber, weil die Wissenschaftslehre usf. nicht aus der Seinsfrage und deren notwendiger Verwurzelung. (HGA 28, 151)

Heideggers eigene Daseinsanalyse nimmt denn auch gerade nicht ›ens und ego als festen Ausgang‹, sondern sucht im Zuge des Verständnisses des Daseins als ›In-der-Welt-Sein‹ oder ›Transzendenz‹ diese beiden vermeintlich festen Pole gerade aufzulösen und zu ›verflüssigen‹. In gewissem Maße leiste dies aber auch bereits die fichtesche Fassung der Einbildungskraft: »Das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft« ist es nach Heidegger nämlich, »[i]n diesem Widerspruch (ontologische Differenz, Transzendenz) ›mitten inne schweben‹ !« (HGA 28, 182). So sucht Fichte in der Wissenschaftslehre von 1794 die Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich durch ein »synthetische[s] Verfahren« (GA I,2, 274) in Beziehung zu setzen, welches letztlich in dem »thätige[n] Vermögen« der »produktive[n] Einbildungskraft« gipfelt (GA I,2, 367). Mittels dieses Vermögens ist es nämlich zum einen dem Geist möglich, dass er »[i]n diesem Streite [der Entgegengesetzten, des III. Grundsatzes. […] Lösung: Erweis der Notwendigkeit und einzigen Möglichkeit eines Machtspruches.) Wie dies geschieht, das zeigt erst die praktische Wissenschaftslehre, deren Problem aber durch die theoretische allererst vorgegeben werden muß, d. h. es muß zuerst gezeigt werden, inwiefern in gewisser Weise notwendig beide Wege – der des Realismus und der des Idealismus – richtig sind bei der Erklärung der Vorstellung« (HGA 28, 152).

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

P. H.] verweilt« und »schwebt zwischen der Forderung[, sie zu vereinen, P. H.], und der Unmöglichkeit, sie zu erfüllen« (GWL GA I/2, 367). Zum anderen werde letztlich »alle Realität […] bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht« (GA I,2, 368). 86 Wie Heidegger in seiner Idealismus-Vorlesung von 1929 sagt, »springt« die Einbildungskraft somit gleichsam »ein als die lösende Synthesis, d. h. als Rettung der Identität des Ich und damit der Einheit des Systems« (HGA 28, 165). 87 Zwar merkt Heidegger daher zunächst in kritischer Absicht an, die Einbildungskraft sei »nur Mittel zur Durchführung und Erhaltung des Systems« (HGA 28, 166). Doch insofern Fichte darauf insistiert, dass das »Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren […] den Zustand des Ich in demselben zu einem ZeitMomente ausdehnt« und es mithin im Gegensatz zur Vernunft, für die »alles zugleich« sei, »für die Einbildungskraft […] eine Zeit« gebe (GA I,2, 360), kann Heidegger in der fichteschen Einbildungskraft gleichzeitig die Möglichkeit einer produktiven Anschlussnahme sehen. Unter Anführung der zitierten Stelle aus der Wissenschaftslehre bemerkt denn auch Heidegger: »Eine eindringliche Betrachtung kann zeigen, daß die reine Einbildungskraft selbst in der Zeit als Zeitlichkeit verwurzelt ist und von dort her ihr Wesen nimmt. Dieser Wechsel- und Schwebecharakter, den Fichte an der produktiven Einbildungskraft sieht, wird erst aus der Zeit begreiflich.« (HGA 28, 169) Und indirekt in Gegenüberstellung zu Hegel gesteht er Fichte sogar die Erkenntnis der Endlichkeit über die Einbildungskraft zu: »Fichte bleibt beim ›Wechsel‹-Tun und Leiden, Subjekt – Objekt. Hegel gerade nicht das Problem des Ich selbst in seiner Endlichkeit, sondern in der Gegenrichtung, am Leitfaden des Identitätsproblems.« (HGA 28, 200) Ähnlich wie Heidegger dies auch später Schelling zugestehen wird (vgl. HGA 42, 5), ist somit Heidegger zufolge schon bei Fichte in gewisser Weise die »Problematik von ›Sein und Zeit‹ wie ein Wetterleuchten da!« (HGA 28, 170) Gleichwohl formuliert Heidegger laut den »Ergänzungen aus einer Nachschrift« zu demselben § 14, dass bei Fichte der »innere Zusammenhang der Einbildungskraft mit dem Ich […] nicht zu Gesicht [kommt], und dieses entscheidende Stück der Wissenschaftslehre […] eigentlich ein Fremdkörper« ist (HGA 28, 323). Und weiter bemerkt Heidegger:

86 87

Vgl. Sallis 2000, 67–69. Vgl. auch HGA 28, 170 f.

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Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929

Fichte hat nicht, wie Kant dies schon geahnt hat, die wahre Bedeutung der transzendentalen Einbildungskraft erkannt. Und in diesem Punkt ist er mit dem ganzen deutschen Idealismus zusammen an einer der wesentlichsten Erkenntnisse Kants vorbeigegangen. Er hat nämlich nicht gesehen, daß durch diese Zurückführung der entscheidenden Vermögen, die zum Wesen der Erkenntnis gehören, der Begriff des Bewußtseins und des Ich erschüttert ist. Und Fichte versucht nun, den Weg gewissermaßen umgekehrt zu gehen, indem er am Ich festhält und in dieses die Einbildungskraft hineinzwängt; und so verliert er das entscheidende Problem gänzlich aus der Hand. (HGA 28, 323)

Zwar konstatiert Heidegger hier, dass gemeinsam mit Fichte zugleich auch der ›ganze deutsche Idealismus‹ an ›einer der wesentlichsten Erkenntnisse Kants vorbeigegangen‹ sei – nämlich an der Erkenntnis, dass durch die Ergebnisse der Analyse der Einbildungskraft ›der Begriff des Bewußtseins und des Ich erschüttert‹ sei. Gleichwohl gesteht Heidegger in derselben Vorlesung von 1929 in unmittelbarem Anschluss an den Fichte-Teil gerade dem frühen Schelling eine – vom Standpunkt seiner eigenen Daseinsanalyse aus – richtige ›Ergänzung‹ des fichteschen Systems zu, selbst wenn die eigentliche Hochschätzung Schellings durch Heidegger erst mit der Freiheitsschrift von 1809 einsetzt.

3.2. Die naturphilosophische Fundierung des Selbstbewusstseinsparadigmas bei Schelling Selbst wenn Heidegger den Ausdruck ›Dasein‹ in dem folgenden Zitat nicht explizit in terminologischem Sinne mit Blick auf seine eigene Daseinsanalyse einsetzt, so zeichnet sich hier doch deutlich ab, dass Heidegger bereits dem frühen Schelling gegenüber Fichte den Vorzug gibt: [D]as Dasein selbst setzte sich zur Wehr gegen die Fichtesche Gewaltsamkeit. Zunächst allerdings freilich nicht im Sinne einer Opposition, sondern einer notwendigen Ergänzung. Dies geschah in den Arbeiten des jungen Schelling. Er war in seiner hellsichtigen Art einer der ersten, der Fichte verstand – das heißt im Grunde immer: von sich aus auf dieselben Probleme stieß! – und zunächst ganz mit ihm ging. In Schelling aber erwächst zunächst auch – zum Teil unter dem Anstoß der »Kritik der Urteilskraft« und an dem spezifisch theologisch-mythologischen Problem – der Drang zur Ergänzung der Wissenschaftslehre. (HGA 28, 185)

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Während in dem Versuch, Kant »zu vollenden und systematischer zu fassen«, »die Position der Wissenschaftslehre verengt erscheinen« musste, habe Schelling gerade im Rückbezug auf Kants dritte Kritik, in der – von Fichte nicht beachtet – auch »Kunst und organische Natur« behandelt würden, den ›Drang zur Ergänzung der Wissenschaftslehre‹ verspürt (HGA 28, 185). Dabei ist interessant, dass Heidegger zum einen mit Blick auf Schellings Form-Schrift, dessen IchSchrift sowie die Philosophischen Briefe und die Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre dem Leonberger ein ›Mitgehen‹ mit Fichte attestiert, wobei er ›auf dieselben Probleme stieß‹. Zum anderen gesteht er Schelling zugleich aber auch hinsichtlich etwa der Schrift Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt und der damit einhergehenden Abarbeitung an dem »spezifisch theologisch-mythologischen Problem« einen eigenen Standpunkt zu (HGA 28, 185). Heideger nimmt mithin die »Kraft und Zwiespältigkeit innerer Richtungen seiner [Schellings, P. H.] Existenz gegenüber Fichte und Hegel« deutlich zur Kenntnis (HGA 28, 186). Laut Heidegger kommt aber Schellings eigentliche »Ergänzung« des fichteschen Systems, die sogar »bald zur Gegenstellung wurde«, in Schellings »Naturphilosophie« und insbesondere in dessen 1798 erstmals erschienener Schrift Von der Weltseele zum Ausdruck (HGA 28, 186). Diese Schrift nimmt dabei Heidegger interessanterweise gerade in der um die identitätsphilosophischen Prämissen erweiterten Zweitauflage von 1806 zur Kenntnis, welche allein in den vom Sohn Schellings herausgegebenen Sämmtlichen Werken auch abgedruckt ist und die gerade in der 1806 neu hinzugefügten Abhandlung Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, wie gesehen, 88 bereits auf die Heidegger insbesondere interessierende ›mittlere‹ Philosophie Schellings in entscheidenden Bestimmungen vorausweist. Während Fichtes Wissenschaftslehre 1794 nur »das Verhältnis des Realen und Idealen als ein solches im Ich, das die ganze Realität in sich beschließen soll«, in den Blick nehme, betrachte Schelling mit jener Schrift hingegen »das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur.« (HGA 28, 187) Damit werde aber »ein völlig anderer Ansatz« formuliert: Der Ausgang und die Dimension der Wissenschaftslehre scheint aufgegeben zu sein. Die Betrachtung ist aus dem Ich völlig hinausgegangen; sie versetzt sich in das Nicht-Ichliche selbst, so zwar, daß sie es nicht 88

Vgl. oben, Teil I, Kap. 5.3.

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Heideggers Rückgang auf den deutschen Idealismus 1929

einmal mehr als Nicht-Ichliches, also immer noch in Korrelation mit dem Ich, begreift, sondern in sich selbst. (HGA 28, 187)

Heidegger zufolge wendet sich Schelling mithin genau dem von Fichte Vernachlässigten des ›Nicht-Ichlichen‹ zu, das er aber – ganz im Sinne der heideggerschen Konzeption des ›In-der-Welt-Seins‹ des Daseins – nicht mehr ›in Korrelation mit dem Ich‹ begreife, sondern vielmehr jenseits einer solchen Korrelation ›in sich selbst‹. Wie es in den »Ergänzungen aus einer Nachschrift« zu genau diesem § 18 heißt, liege denn auch Schellings Bedeutung […] besonders in seinen Hinweisen auf wesentliche Bezirke im Ganzen der Welt, die bei Fichte in den Hintergrund traten. – Diese Entwicklung des kritischen zum absoluten Idealismus hat den Charakter der Verschärfung des Problems der Endlichkeit und des Seienden im Ganzen. Diese letzte Frage kann aber nur aus der Endlichkeit entwickelt werden, und die Entwicklung des Idealismus bedeutet die Aufhellung der Endlichkeit des Menschen. (HGA 28, 330 f.)

Gleichwohl wirft Heidegger Schelling wiederum vor, dass auch bei ihm »[n]icht […] Dasein selbst vom Seienden durchwaltet« sei; denn »die Gesamtstruktur der Natur als Organismus« sei »einer ganz bestimmten, der – wie wir wissen – logischen Charakteristik des Fichteschen Ich-Begriffs« entnommen (HGA 28, 190) und derart gewissermaßen lediglich eine Projektion des ›Ichlichen‹ auf die Natur. Doch auch Hegel, dem sich Heidegger ausführlicher noch als Schelling in direktem Anschluss 1929 zuwendet, wird diesbezüglich kein größerer Fortschritt in Richtung auf Heideggers eigenen Ansatz als Schelling attestiert. Vielmehr positioniert sich Heidegger 1929 in genauem Gegensatz zu Hegels Philosophie, auch wenn er zunächst noch gänzlich offen oder vielmehr ambivalent formuliert, dass die »Entwicklung des kritischen zum absoluten Idealismus […] den Charakter der Verschärfung des Problems der Endlichkeit und des Seienden im Ganzen« aufweise (HGA 28, 331). Heidegger rückt gleichwohl wenig später seine Interpretation der Endlichkeit, der Einbildungskraft wie auch der Zeit in deutliche und direkte Opposition zu Hegel: Für Hegel war die Idee der absoluten Vernunft, für uns ist die Zeit das Grundproblem. Für Hegel ist die Einbilungskraft nur eine Erscheinung der absoluten Synthesis, eine Verendlichung der absoluten Vernunft als Unendlichkeit. Wir sehen aber darin nicht eine Erscheinung eines Absoluten, sondern den Ansatz zur Aufhellung der Endlichkeit selbst. (HGA 28, 336)

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

In Anspielung auf Hegels Charakterisierung des kantischen Ansatzes als Reflexionsphilosophie (vgl. GuW, GW 4, 325–345) betont Heidegger nicht auch zuletzt, »der Ausgang von der Endlichkeit könnte schon in Bezug auf die Charakteristik Hegels unsere [Heideggers, P. H.] Position selbst kennzeichnen als Reflexionsphilosophie.« (HGA 28, 338) Ganz im Sinne von Heideggers Bemerkung gegenüber Jaspers bereits 1926, dass Schelling sich ›philosophisch viel weiter als Hegel‹ vorwage, 89 gibt Heidegger auch 1929 Schelling vor Hegel im Blick auf seinen eigenen Ansatz den Vorzug. 90 Indessen findet für Heidegger diese Nähe viel stärker in der Freiheitsschrift von 1809 ihren Ausdruck, deren Interpretationen durch Heidegger – angefangen mit derjenigen von 1927 – denn auch im Folgenden nun näher zu betrachten sind.

4. Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling: ›Sein überhaupt‹ sowie ›Wollen‹ und ›Lassen‹ Die mit der Daseinsanalyse in Sein und Zeit angestrebte ›Aufhellung der Endlichkeit‹ des Menschen, welche Heidegger 1929 im Falle Hegels gerade vermisst und beim frühen Schelling nur in Ansätzen zu erkennen glaubt, wird hingegen in Heideggers Augen ausdrücklich in Schellings Freiheitsschrift von 1809 zum Thema, wie die Protokolle seines vermutlich ersten Seminars zu »Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit« aus dem Wintersemester 1927/28 in Marburg belegen. 91 So bemerkt auch Hans-Georg GadaVgl. M. Heidegger an K. Jaspers, 24. April 1926, Heidegger/Jaspers 1990, 62. In Ankündigung und Verlauf der Vorlesung vom Sommersemester 1929 revidiert Heidegger – zumindest formal – auch den auf Richard Kroner zurückgehenden Dreischritt durch die Reihenfolge ›Fichte – Hegel – Schelling‹ (vgl. im Gegensatz zu dem von den Herausgebern der GA revidierten Titel die Ankündigung der Vorlesungen der Badischen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Freiburg 1929, 18 sowie Heidegger, GA 28, 9, 51 u. 330 u. die kurze Problematisierung des traditionellen Dreischrittes in GA 28, 33). 91 Die drei vorliegenden Protokolle des Schelling-Seminars sind zwar von den Theologiestudenten Werner Bohlsen (Sitzung v. 07. 12. 1927) und Wolfgang-Günther Friedrich (Sitzung v. 21. 12. 1927) sowie der Philosophiestudentin Elisabeth Krumsiek (Sitzung v. 11. 01. 1928) verfasst; gleichwohl legt die große Übereinstimmung der Notizen Heideggers mit Protokoll-Passagen nahe, dass es sich bei der Schelling-Auslegung während des Seminars »um eine – womöglich durch einzelne Nachfragen der Teilnehmer unterbrochene – Durchsprache Heideggers« handelte und die Protokolle 89 90

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Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling

mer, der zu dieser Zeit in Marburg studierte: »Wir spürten es, als Heidegger an ›Sein und Zeit‹ schrieb. Gelegentliche Bemerkungen deuteten voraus. Eines Tages las er in einem Schelling-Seminar den Satz vor: ›Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum‹ und sagte: ›Nennen Sie mir einen einzigen Satz von Hegel, der diesem Satz an Tiefe gleichkommt!‹« 92 Auch wenn Gadamer die heideggersche Bemerkung auf die Zeit vor der Publikation von Sein und Zeit 1927 datiert und diese möglicherweise auch auf eine andere, Schelling nicht explizit gewidmete Veranstaltung zurückgehen könnte, 93 so ist doch auch ein Irrtum Gadamers bezüglich der Datierung der Aussage nicht ausgeschlossen. Somit ist es denn auch nicht unwahrscheinlich, dass die Bemerkung sich auf das Schelling-Seminar von 1927/28 bezieht – zumal Heidegger vor 1927 kein Seminar zu Schelling abhielt und sich im Protokoll zur dritten Sitzung vom 21. 12. 1927 eine Stelle identifizieren lässt, auf die Gadamer anspielen könnte. 94 Unabhängig von der Unsicherheit in der Datierung lässt sich jedoch aus dieser Erinnerung Gadamers darauf schließen, dass Heidegger in Schellings Ansatz der Freiheitsschrift durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem eigenen in Sein und Zeit sah, die es ihm plausibel erscheinen ließ, seine Studenten auf parallele Schwerpunkte in Schellings und seinen eigenen Arbeiten wie etwa hinsichtlich des ›menschlichen Daseins‹ im Allgemeinen und der ›Angst‹ im Besonderen hinzuweisen. Angesichts dieser Tatsache, dass Heidegger sich im Zuge seines ersten Schelling-Seminars 1927/28 derart stark für Motive interessiert, die auch in seinem eigenen Denken eine Rolle spielen, dürfte es zunächst einmal für Verwunderung sorgen, dass Heidegger in demselben Seminar gleichzeitig auch starkes Interesse an den Phänomenen von ›Wollen‹ und ›Lassen‹ bekundet, die – wie gesehen – in Sein und Zeit und anderen Werken von Ende der zwanziger Jahre eher folglich großteils »Extemporalia des Seminarleiters« wiedergeben, wie auch die Herausgeber derselben vermuten (vgl. den ed. Bericht in Heidegger 1927/28, 308 f., Zitat 309 Anm.). 92 Gadamer 1974, 266. Vgl. auch Gadamer 1981, 306: »So habe ich schon im Jahr 1925 Heidegger in einem Schelling-Seminar den Satz aus der Freiheitsschrift vorlesen horen: ›Die Angst des Lebens treibt die Kreatur aus ihrem Centro‹«. Vgl. dazu auch den ed. Bericht in Heidegger 1927/28, 290 f. 93 Gadamer 1981, 306: »Er hat die Schrift vom Wesen der menschlichen Freiheit wiederholt im Unterricht behandelt«. 94 Vgl. Heidegger 1927/28, 344 / HGA 86, 539, wo es um das Zitat in AA I,17, 149 geht. Vgl. dazu genauer den ed. Bericht in Heidegger 1927/28, 291–294.

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eine untergeordnete Rolle spielen. Gleichwohl erwies sich bereits in der Interpretation von Sein und Zeit gerade die ungenügende Explikation dieser Motive insbesondere im Zusammenhang des ›Gewissen-haben-Wollens‹ als implizite ›Aufforderung‹ für eine noch eingehendere Behandlung oder zumindest Verortung derselben in Heideggers philosophischem Ansatz, wie sie ansatzweise dann erstmals in Vom Wesen des Grundes 1929 vorgenommen wurde. 95 Heidegger scheint mithin durch diese Bezugnahme auf die voluntativen Momente in Schellings Philosophieren ein Defizit seines eigenen Ansatzes beheben oder zumindest reflektieren zu wollen. Dies soll in diesem Kapitel zum einen im Blick auf die in Sein und Zeit noch unbeantwortet gebliebene Frage nach dem ›Sein überhaupt‹, die in dem Schelling-Seminar mit der nach dem Wollen verknüpft wird (Kap. 4.1), sowie zum anderen in einer Interpretation des Verhältnisses von ›Wollen‹ und ›Lassen‹ 1927/28 gezeigt werden (Kap. 4.2).

4.1. Die Frage nach dem ›Sein überhaupt‹: Der ›Ungrund‹ als Wollen Während das erste vorliegende Protokoll zur zweiten Seminarsitzung vom 7. Dezember 1927 zwar nicht unmittelbar mit einer Interpretation des Wollens einsetzt, notieren hingegen zwei der drei Notizzettel Heideggers, die dieser Seminarsitzung zuzuordnen sind, 96 gleich zu Beginn »Urseyn – ist Wollen« bzw. »Ursein = Wollen«. 97 Dabei kehrt Heidegger auffälligerweise und wohl nicht nur zufällig an beiden Stellen das schellingsche Zitat »Wollen ist Urseyn« um, was gerade auch mit Blick auf Schellings Insistieren auf der Unvertauschbarkeit von Subjekt und Prädikat im Zusammenhang seiner Kopula-Theorie nicht unwichtig zu konstatieren ist, 98 auch wenn Schelling selbst im unmittelbar vorausgehenden Satz von dem »Seyn als Wollen« spricht (AA I,17, 123). Mit Blick auf sein Interesse an der Bestimmung des Seins bei Schelling nimmt Heidegger diese Umkehrung jedoch auch in den späteren Schelling-Auseinandersetzungen mehrmals vor, so-

Vgl. hierzu genauer oben, Teil IV, Kap. 1.2 u. Kap. 2.3. Vgl. zur Zuordnung der heideggerschen Notizzettel zu den drei Protokollen den ed. Bericht in Heidegger 1927/28, 276–278. 97 Heidegger 1927/28, 321 f. / HGA 86, 52 f. 98 Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.1.1. 95 96

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dass hinsichtlich der Notizzettel von 1927 die Umkehrung ebenfalls Absicht sein dürfte, worauf auch nochmals der das Subjekt ›Urseyn‹ abhebende Halbgeviertstrich im ersten Zitat hindeutet. 99 Auch hier zeichnet sich somit bereits der in der Vorlesung von 1929 anhand des Projektes einer ›Metaphysik des Daseins‹ unternommene Versuch ab, für die in Sein und Zeit noch unbeantwortet gebliebene Zirkelproblematik, wonach die zunächst zu unternehmende Existenzanalyse »ihrerseits erst des Lichtes aus der zuvor geklärten Idee des Seins überhaupt« bedürfe (HGA 2, 575), eine Lösung zu finden. Dies wird 1927/28 aber im Unterschied zu 1929 nicht im Rückgang auf den Idealismus insgesamt, sondern auf Schelling im Besonderen versucht. Bei Schelling fänden sich nämlich – so formuliert das Protokoll von Wolfgang-Günther Friedrich vermutlich im Anschluss an eine mündliche Bemerkung Heideggers 100 – »plötzlich auftretende, schlaglichtartig erhellende Sätze, die zeigen, daß Schellings Niveau weit über dem des Idealismus liegt, ohne daß es Schelling selbst gelungen wäre, dies Niveau durchgängig zu halten.« 101 Dass mit diesem ›weit über dem des Idealismus liegenden Nievau‹ Schellings eine, wenn auch entfernte, Verwandtschaft von dessen Ansatz mit demjenigen von Sein und Zeit gemeint ist, anhand dessen Heidegger anscheinend hofft, die 1927 aufgetretenen Probleme beleuchten und vielleicht gar lösen zu können, dies ist dem protokollierten Gedankengang des Seminars von 1927/28 trotz der durch die Protokolle gebrochenen Darstellung der heideggerschen Überlegungen durchaus zu entnehmen. So betonen die Protokolle einerseits, dass »die scheinbar abstraktesten Bestimmungen Schellings immer orientiert sind am m e n s c h l i c h e n Dasein« und dass es mithin bei Schelling um »Erfassung des Daseins« bzw. »Mensch- und Daseins-Erfassung« gehe. 102 Andererseits fragen sie in Anlehnung an die oben bereits Vgl. HGA 42, 164: »Das usrpüngliche Seyn ist Wollen«; HGA 49, 83: »Sein als Wille«; vgl. auch HGA 49, 84 u. 89. 100 Vgl. auch die von der Sache her ähnliche Bemerkung Heideggers von 1936, die es als unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass diese in Klammern festgehaltene Bemerkung ›Eigengut‹ des Protokollanten ist: »Schelling ist der eigentlich schöpferische und am weitesten ausgreifende Denker dieses ganzen Zeitalters der deutschen Philosophie. Er ist das so sehr, daß er den deutschen Idealismus von inner her über seine eigene Grundstellung hinaustreibt« (HGA 42, 6). 101 Heidegger 1927/28, 340 / HGA 86, 536. 102 Heidegger 1927/28, 339 f. / vgl. HGA 86, 535; HGA 86 liest gar »wesentlichen Dasein« statt »m e n s c h l i c h e n Dasein«. 99

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zitierte Formulierung aus Sein und Zeit 103 nach dem Verständnis von »S e i n ü b e r h a u p t « bei Schelling, 104 finde sich doch in dessen Freiheitsschrift »gewissermaßen eine Selbstinterpretation des Daseins überhaupt, die ohne weiteres übertragen wird auf das Ganze des Seienden.« 105 Heidegger meint mithin in Schellings Freiheitsschrift eine Antwort auf die ganz zu Ende von Sein und Zeit formulierte Frage zu finden: »Wie ist erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich? Kann die Frage ihre Antwort im Rückgang auf die ursprüngliche Seinsverfassung des Sein-verstehenden Daseins gewinnen?« (HGA 2, 577) Der von den Protokollen aufgezeichnete Gedankengang fokussiert denn auch von Anfang an auf den Zusammenhang der ›Selbstinterpretation‹ des ›Sein-verstehenden Daseins‹ mit dem Verständnis von ›Sein überhaupt‹, den er bei Schelling erstens in dem Begriff des Wollens und zweitens in der Figur des ›Ungrundes‹ gegeben sieht. (1) Die Besprechung von Schellings Freiheitsschrift spart denn auch die Anfangspassagen derselben zum Pantheismusbegriff (vgl. AA I,17, 113–123) gänzlich aus, um sich ohne Umschweife der Unterscheidung eines »Wesen[s], sofern es existirt«, sowie eines »Wesen[s], sofern es bloß Grund von Existenz ist« (AA I,17, 129), in Gott zuzuwenden, welche »geschöpft [sind] aus dem Blick auf den Menschen selbst.« 106 Dabei richtet das Protokoll zur zweiten Sitzung sogleich den Blick auf den Einheitspunkt dieser Unterscheidung, auf welchen zunächst von dem Begriff des ›Wesens‹ her fokussiert wird. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Betonung, dass Schelling traditionelle Unterscheidungen mit dieser Differenzierung unterlaufe, insofern sich der Wesensbegriff »nicht einfach mit dem Begriff der essentia« 107 decke. Analog zu Sein und Zeit, wonach – diese Unterscheidung der Tradition ebenfalls konterkarierend – »[d]as ›Wesen‹ 103 Dass die Protokolle von 1927/28 die Formulierung ›Sein überhaupt‹ in Übereinstimmung mit Sein und Zeit dreimal verwenden, dürfte gerade auch insofern auf keiner zufälligen Parallele beruhen, als sich in dem unmittelbar zuvor im Frühjahr 1927 erschienenen Buch die Formulierung gleichsam als terminus technicus nicht weniger als 32mal findet. 104 Heidegger 1927/28, 347 / HGA 86, 541 f.; vgl. auch Heidegger 1927/28, 349 / HGA 86, 542. 105 Heidegger 1927/28, 332 / HGA 86, 530. 106 Heidegger 1927/28, 332 / HGA 86, 530. 107 Heidegger 1927/28, 331 / HGA 86, 529.

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des Daseins […] in seiner Existenz« liegt (HGA 2, 56), liest man dann auch im Seminarportokoll: »Existenz gehört zum Wesen selbst«, und »Existieren heißt […] Vollzug des Grundes, Grund-sein selbst«, 108 was nicht zuletzt aufgrund einer Ähnlichkeit von der Sache her ebenfalls parallel zu Sein und Zeit formuliert sein dürfte, wo es in § 58 heißt: »Das Selbst, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen« (HGA 2, 377). Doch über diese von Heidegger in Schellings »Doppelung der Seinsbestimmungen« 109 anscheinend hineingelesene Parallele zu seinem eigenen Ansatz hinaus, wonach das Dasein zwar »existierend der Grund seines Seinkönnens« ist (HGA 2, 377), ohne aber dieses Grundes mächtig zu sein, hebt der Protokollant Werner Bohlsen wohl im Sinne Heideggers selbst vielmehr darauf ab, inwiefern für Schelling der Mensch, aus dem diese Unterscheidung ›geschöpft‹ sei, oder genauer »das menschliche Selbstbewusstsein der Leitfaden ist für eine universale Interpretation des Seienden überhaupt.« 110 Dazu geht das Protokoll nun auf Schellings nähere Bestimmung des ›Grundsein‹ als »Sehnsucht […] im Sinne des verstandlosen Willens« sowie des »Existenzvollzug[es] als Verstand […] im Sinne des Sichverstehens« ein: 111 Diesen beiden Bestimmungen des Wesens liegt eine Einheit zu Grunde, der Wille. Ur-sein ist Wollen. Sein besagt Wollen, Drang, deshalb sind die Grundbestimmungen des Seins eines Seienden Sehnsucht und Wort der Sehnsucht, sich auf sich selbst zurückwendende Sehnsucht. In diesem formalen Schema liegt schon faktisch und dem ganzen Aufbau nach die Seinsstruktur des Menschen, so wie Schelling sie sieht. 112

Anders als in Heideggers späteren Interpretationen der schellingschen Freiheitsschrift wird hier Schellings Bestimmung »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) nicht kritisiert, sondern vielmehr positiv aufgegriffen. Denn Heidegger glaubt – so legen die Bemerkungen nahe – nicht nur den als ›Sichverstehen‹ interpretierten ›Existenzvollzug‹ in seiner Opposition zum ›Grundsein‹ auf seinen eigenen Ansatz beziehen zu können, insofern er in Sein und Zeit selbst ›Verstehen‹ nicht 108 109 110 111 112

Heidegger 1927/28, 331 f. / HGA 86, 529. Heidegger 1927/28, 332 / HGA 86, 530. Heidegger 1927/28, 333 / HGA 86, 530. Heidegger 1927/28, 333 / HGA 86, 530. Heidegger 1927/28, 333 / HGA 86, 530 f.

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als »begaffen eines Sinnes, sondern [als] sich verstehen in dem Seinkönnen, das sich im Entwurf enthüllt« (HGA 2, 349), verstanden wissen wollte und somit das ›Dasein‹ derart auffasste, dass es »sein Grund existierend [ist], das heißt so, daß es sich aus Möglichkeiten versteht und dergestalt sich verstehend das geworfene Seiende ist.« (HGA 2, 378) Darüber hinaus sieht er aber auch in dem von Schelling aufgezeigten Einheitspunkt, dem ›Wollen‹, eine Möglichkeit, das Seinsverständnis des Daseins für ein Verständnis von ›Sein überhaupt‹ fruchtbar zu machen. Das Protokoll sucht dies zu belegen, indem es auf Schellings Bemerkung zurückgeht: »Das Seyn wird sich nur im Werden empfindlich« (AA I,17, 168), um daraufhin weiter zu schließen: In diesem Satz will Schelling nicht nur ausdrücken, daß das Sein eines Seienden sich bewußt werden kann, sondern daß das Sich-empfindlichsein im Sinne der allgemeinen Reflexion, des Sich-verstehens, sich in irgend einem Sinne Habens, daß dieses nur möglich wird im Werden. Dieses sich Haben gehört zum Sein. Das Sein ist nur, sofern es wird. Das Leblose, das Sein im Sinne des Vorhandenseins ist eigentlich für Schelling kein Sein. Jedes Seiende ist nur, sofern es durch Drang, das Werden, durch irgend einen Grund des Von-sich-selbst-Wissens bestimmt ist. 113

Während Heidegger in Sein und Zeit das »Vorhandensein« als »eine Seinsart« verstanden hatte, die »dem Seienden vom Charakter des Daseins wesensmäßig nicht zukommt« (HGA 2, 56), ist Schellings Position hingegen – zumindest aus der Sicht des Protokolls – noch weit radikaler, insofern für ihn ›Sein im Sinne des Vorhandenseins eigentlich kein Sein‹ sei. Für Schelling gilt damit gerade nicht, was Heidegger im Sommersemester 1927 den Griechen sowie Kant erstmals explizit vorwirft, dass nämlich »die Griechen ebenso wenig wie Kant das geringste Wissen davon [hatten], daß sie das Sein im Sinne des Vorhandenen in seiner Vorhandenheit aus der Zeit interpretierten und aus welchem ursprünglichen Zusammenhang heraus sie diese Interpretation vollzogen.« (HGA 24, 449) Demgegenüber betone Schelling eine Kontinuität der ›Seinsart‹ des nicht-daseinsmäßigen und des daseinsmäßigen Seienden, die sich in der Verwandtschaft von ›Sich-empfindlich-Sein‹ und ›Sich-Verstehen‹ zeige: Beides sei nämlich ›nur möglich im Werden‹. Dass aber derart ›Sein‹ und generell in der Zeit stattfindendes ›Werden‹ bei Schelling dem Seminar zufolge enggeführt und gar inseins gesetzt werden, dürfte dabei nicht 113

Heidegger 1927/28, 333 f. / HGA 86, 531.

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Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling

zufällig hervorgehoben werden, wenn man bedenkt, dass Heidegger selbst in seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie im Sommersemester 1927 eine »temporale[…] Interpretation des Seins« anstrebte (GA 24, 459). Auch wenn an späterer Stelle – im Protokoll zur vierten Sitzung vom 11. 01. 1928 – darüber hinaus betont wird, dass im Zuge dieser von Schelling angenommenen Kontinuität der ›Seinsart‹ des nichtdaseinsmäßigen und des daseinsmäßigen Seienden »die Seinsart des Menschen […] auf das Universum übertragen« und »die Natur […] auch durch Ichheit bestimmt« sei, 114 so wird doch die Tatsache, dass bei Schelling ›Sein‹ »Sich-bewußtsein, Ichheit« heiße, dass also das »S e i n ü b e r h a u p t […] ichliches« sei, 115 1927/28 keineswegs kritisiert und wie etwa in den Schelling-Vorlesungen von 1936 und 1941 als eine verstellende Interpretation von Sein im Sinne von ›Vorgestelltsein‹ zurückgewiesen. 116 Vielmehr betont das Protokoll in unmittelbarem Anschluss, daß Schelling die Natur nimmt, nicht im Sinne des Gegenstandes der Mathematik, auch nicht als organische, sondern in einem Sinne, der ihm ermöglicht den ganzen Werdeprozeß des Universums kontinuierlich durchzuführen von der Natur zur Geschichte, so daß die Geschichte nur eine höhere Form des Sich-selbst-offenbar-werdens ist in dem Sinne, daß in diesem geschichtlichen Offenbarwerden die Möglichkeit liegt, sich die Vergangenheit ausdrücklich anzueignen. 117

Dem Protokoll zufolge wird mithin bei Schelling die Natur gerade nicht ›im Sinne des Gegenstandes der Mathematik‹ als berechenund feststellbare natura naturata aufgefasst, wie dies Heidegger 1935/36 der neuzeitlichen Naturwissenschaft insgesamt vorwirft. 118 Vielmehr wird sie gewissermaßen als ›Vorform‹ des Geschichtlichen im Sinne eines zeitlich aufzufassenden ›Sich-selbst-offenbar-Werdens‹ begriffen, um darüber hinaus auch noch zu betonen, dass Schelling »[d]iesen Seinsbegriff« selbst »für das Sein des Absoluten« beibehält, in dem »schon Werden liegt«. 119

Heidegger 1927/28, 347 / HGA 86, 541. Heidegger 1927/28, 349 / HGA 86, 543. 116 Vgl. etwa HGA 42, 156–160 u. HGA 49, 100 f. Vgl. dazu unten, Teil IV, Kap. 6.3 u. Kap. 8.2. 117 Heidegger 1927/28, 349 / HGA 86, 543. 118 Vgl. HGA 41, 69–108 u. HGA 42, 50–57. 119 Heidegger 1927/28, 349 / HGA 86, 544. 114 115

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Dass Schelling das ›Sein überhaupt‹ als ›ichliches‹ versteht, scheint Heidegger außerdem zu einem seiner ›Entschlossenheits‹-Analyse ähnelnden Verständnis der schellingschen Metapher des »Lebensblick[s]« (AA I,17, 132) 120 zu veranlassen. In unmittelbarem Anschluss an die oben zitierte Passage zum ›Sein als Werden‹ kommt das von Werner Bohlsen verfasste Protokoll auf das »Moment der Scheidung des in sich dunklen Dranges, durch die die im Grunde liegende Einheit erst sichtbar wird«, zu sprechen. 121 Ganz im Sinne der oben bereits zitierten Passagen aus Sein und Zeit zur ›Übernahme des Grundseins‹ (vgl. bes. HGA 2, 377 f.) heißt es so auch im Protokoll bezüglich des »Bild[es] vom Lebensblick«, dass dieser »nicht im Sinne eines bloßen Anschauens, Erblickens im Sinne des Feststellens« zu verstehen sei, sondern dass er »den Grund selbst anzueignen [sucht], er ist die Charakteristik des Existenzvollzuges.« 122 Unter Rekurs auf die auch im Kontext der ›Entschlossenheits‹-Analyse in Sein und Zeit verwendete Metapher des ›Entschließens‹ wird des Weiteren vom ›Lebensblick‹ gesagt, dass »mit diesem Lebensblick, mit der Möglichkeit einer freien Entschließung zu etwas, […] zugleich die höchste Möglichkeit gegeben [ist], diesen Drang in sich zu erfahren.« 123 Noch deutlicher liest man im Protokoll zur vierten Sitzung von Elisabeth Krumsiek – was zugleich anzeigt, dass die Überlegungen nicht (nur) Eigengut der Protokollanten sein können – folgenden Hinweis auf das ›Erschlossensein‹: »Seiendes, sofern es ist, enthüllt sich, nicht für andere, sondern für sich, so daß es in sich selbst für sich erschlossen ist.« 124 Obgleich die Struktur der ›Erschlossenheit‹ sowie der diese wieder hervorkehrenden ›Entschlossenheit‹ in Sein und Zeit ein Charakteristikum allein des menschlichen ›Daseins‹ ist, wie auch Heidegger mit Bezug auf den Existenzbegriff noch 1941 betonen wird (vgl. HGA 49, 76), so scheint das Seminar von 1927/28 doch eine Parallele zu Schellings Interpretation der Struktur des Seienden überhaupt zu ziehen, was sich nicht zuletzt auch deutlich anhand der Beschreibung des ›Widerspiels‹ zwischen jener ›Erschlossenheit für sich selbst‹ und dem sich verschließenden ›Grund‹ oder ›Drang‹ zeigt. Beide Strukturen stünden in einem »kantige[n] Gegeneinander des Sich120 Vgl. zu dieser wohl auf Böhme zurückgehenden Metapher bei Schelling auch den Kommentar von T. Buchheim in Schelling 1997, 127 f. 121 Heidegger 1927/28, 334 / HGA 86, 531. 122 Heidegger 1927/28, 334 / HGA 86, 531. 123 Heidegger 1927/28, 335 / HGA 86, 532. 124 Heidegger 1927/28, 349 / HGA 86, 543.

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Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling

widerstrebens in dem Sinne, daß der Grund als Drang in sich zurückdrängt, die Existenz 125 aber darauf zielt, den Grund in ihre Gewalt zu bekommen und damit das Werden, die Möglichkeit, eigentlich zu sein.« 126 Der Verweis auf die ›Möglichkeit‹ des ›eigentlichen Seins‹, die es der Verschlossenheit des Grundes abzuringen gelte, legt es nahe, dass das Seminargespräch das Gegeneinander beider Strukturen auf das Verhältnis von ›Entschlossenheit‹ und ›Verschlossenheit‹ des ›Daseins‹ aus Sein und Zeit hin zu lesen versuchte, vergleicht man die Passage etwa mit folgender Bemerkung aus § 62 von Sein und Zeit: »Das Dasein ist aber gleichursprünglich in der Unwahrheit. Die vorlaufende Entschlossenheit gibt ihm zugleich die ursprüngliche Gewißheit seiner Verschlossenheit. Vorlaufend entschlossen hält sich das Dasein offen für die ständige, aus dem Grunde des eigenen Seins mögliche Verlorenheit in die Unentschlossenheit des Man.« (HGA 2, 408) 127 Das Protokoll sucht mithin diese Struktur eines ursprünglichen Gegeneinanders, die Sein und Zeit zufolge allein das menschliche Dasein charakterisierte, in der Interpretation Schellings als eine auf das ›Sein überhaupt‹ anzuwendende Struktur auszuweisen. Darüber hinaus sucht das Protokoll aber auch in dem Phänomen des alles Sein auszeichnenden ›Dranges‹ auf die Einheit der hierbei sich zeigenden gegensätzlichen Strukturen hinzuweisen: »Drang ist sich verschließen und zugleich Lebensblick.« 128 Das Protokoll nimmt dabei zugleich eine Verknüpfung der Unterscheidung von sich entziehendem ›Grund‹ oder ›Drang‹ und ›sich offenbarendem Lebensblick‹ oder Verstehen einerseits und der Differenzierung zwischen Partikular- und Universalwillen andererseits vor: [D]as Widerstreben gegen das Verstehen, gegen das Sich-offenbaren des Lebensblicks als solchen, dies charakterisiert Schelling in einer anderen 125 Heidegger spricht bis hin zu seinen spätesten Ausführungen zu Schelling von dessen Unterscheidung zwischen ›Grund und Existenz‹, obgleich Schelling selbst zwischen ›Existenz‹ und ›Existierendem‹ unterscheidet (vgl. dazu genauer unten, Teil IV, Kap. 8.1 Anm. 264). Mit Schelling und entgegen der heideggerschen Terminologie wird daher auch im Folgenden von ›Grund und Existierendem‹ gesprochen, sofern sich die Ausführungen nicht explizit und allein auf Heideggers Sprachgebrauch beziehen. 126 Heidegger 1927/28, 351 / HGA 86, 545. 127 In vergleichbarer Weise wie die Struktur des ›Offenbarwerdens‹ bei Schelling führt denn auch Sein und Zeit zufolge dieses ursprüngliche ›In-der-Unwahrheit-Sein‹ des Daseins dazu, dass die »Wahrheit (Entdecktheit) […] dem Seienden immer erst abgerungen werden« muss (HGA 2, 294). 128 Heidegger 1827/28, 335 / HGA 86, 532.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Hinsicht mit Rücksicht auf die allgemeine Bestimmung des Seins, Ursein gleich Wille, als Partikularwille gegenüber dem Universalwillen. 129

Beide Oppositionen fänden ihre höhere Einheit in Schellings Bestimmung ›Ursein gleich Wille‹, was Schelling allerdings keineswegs, wie später 1941, als ein Verständnis von Sein angelastet wird, das dessen Möglichkeitscharakter verstellen würde. Wie schon in Sein und Zeit, wo der Möglichkeitsbegriff unverkennbar im Zentrum stand, 130 sieht das Seminar von 1927/28 denn auch in allen Spielarten des Wollens Möglichkeitsformen am Werk: Zwar habe der »blinde[…] Drang […] vor sich keine Möglichkeiten als Möglichkeiten, für die oder gegen die er sich entscheidet«; demgegenüber sei aber gerade der ›Verstand‹ dasjenige, das »diese Möglichkeiten […] übersieht, sie können in den Blick des Lebensblicks gebracht werden, sie sind bewußt gewordene Möglichkeiten«, weshalb der Verstand – so die eigentümliche Deutung des Protokolls – denn auch »Universalwille« sei. 131 Auf diese im Möglichkeitsbegriff liegende Einheit verweise auch nochmals die Figur des Bösen, das insofern auch 1927/28 bereits eine wichtige Stellung einnimmt, ohne aber bereits wie dann 1936 im Zuge der Rede von einer ›Metaphysik des Bösen‹ ins Zentrum der Interpretation der Freiheitsschrift zu treten. 132 Denn – so das Protokoll zur zweiten Sitzung – »[d]as Wesen des Bösen liegt nach Schelling in der falschen Einheit.« 133 Und weiter heißt es ganz im Sinne Schellings: »Das Böse ist nicht der Partikularwille als solcher, es liegt auch nicht in der Ablösung des Partikularwillens vom Universalwillen, sondern das Böse liegt in der verkehrten Einheit beider«; derart sei es aber – und hier klingt wieder das Vokabular von Sein und Zeit an – »gerade dasjenige, was unter den Existenzmöglichkeiten die höchste Möglichkeit hat.« 134 Wie schon im Seminargespräch im Falle des ›blinden Dranges‹ nicht jeglicher Möglichkeitscharakter, sondern lediglich das Bewusstsein der ›Möglichkeit als Möglichkeit‹ zurückgewiesen wurde, so wird auch im Zuge der Vorherrschaft des sich in sich verschließenden ›Partikularwillens‹ im Falle des Bösen gerade nicht das Verfügen über Möglichkeiten geleugnet, sondern vielmehr sogar von der 129 130 131 132 133 134

Heidegger 1927/28, 334 / HGA 86, 531. Vgl. dazu Figal 1988, bes. 91. Heidegger 1927/28, 334 f. / HGA 86, 532. Vgl. dazu unten, Teil IV, Kap. 6.2. Heidegger 1927/28, 335 f. / HGA 86, 532. Heidegger 1927/28, 336 / HGA 86, 533.

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Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling

›höchsten Möglichkeit‹ gesprochen. Das Schelling-Seminar von 1927/28 interessiert sich mithin nicht allein für den Zusammenhang zwischen ›Sein überhaupt‹ und Wollen, sondern auch, damit einhergehend, für die Verwandtschaft des dem ›Sein‹ von Heidegger zugeschriebenen Möglichkeitscharakters mit dem Wollen und dem Sich-Entziehenden oder Verschließenden, was sich insbesondere in der Interpretation der Figur des ›Ungrundes‹ 1927/28 zeigt. (2) Wie bereits die zweite Sitzung des Schelling-Seminars von 1927/28, so setzt auch die dritte Sitzung vom 21. Dezember 1927 mit dem »Problem der Einheit des Wesens als Grund und des Wesens als Existenz« ein. 135 Das von Wolfgang-Günther Friedrich verfasste Protokoll geht dazu nun aber, zumindest auf den ersten Blick, auf eine ganz andere Struktur zurück, deren Vereinbarkeit mit dem ›Wollen als Ursein‹ sich bei unserer Interpretation der Freiheitsschrift gerade als problematisch erwiesen hatte – nämlich auf die Figur des »Ungrund[s]« oder der »Indifferenz, die vor dem Wesen als Grund oder als Existenz liegt«. 136 Dass indessen für Schelling der ›Ungrund‹ »weder Grund noch Existenz (nicht aber sowohl Grund als auch Existenz als ein Gemisch, sondern weder das Eine noch das Andere)« darstelle, dies führt das Protokoll dazu, diesen im Anschluss an AA I,17, 170 137 als ein »schlechthin Verschwundene[s]« zu charakterisieren. 138 Im Rückgang auf Schellings Aussage, dass der ›Ungrund‹ »in zwey gleich ewige Anfänge auseinandergeht, nicht daß er beyde zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist« (AA I,17, 172), stellt das Protokoll sodann aber unmittelbar die Frage, »warum versucht Schelling ein Zugleichsein von Grund und Existenz aus der Indifferenz herauszubringen?« 139 Die »ontologische Erfassung« des ›Ungrundes‹ wird mithin über das daraus folgende oder sich entwickelnde Geschehen zu leisten verHeidegger 1927/28, 338 / HGA 86, 534. Heidegger 1927/28, 338 / HGA 86, 535. 137 Vgl. AA I,17, 170: »Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beyder bezeichnet werden. Die Meisten, wenn sie bis zu dem Punkt der Betrachtung kommen, wo sie ein Verschwinden aller Gegensätze erkennen müssen, vergessen, daß diese nun wirklich verschwunden sind, und prädiciren sie wieder als solche von der Indifferenz, die ihnen doch eben durch ein gänzliches Aufhören derselben entstanden war.« (Zweite u. dritte Herv. v. Verf.) Vgl. auch AA I,17, 173. 138 Heidegger 1927/28, 338 f. / HGA 86, 535. Vgl. hierzu auch Schwab 2015, 232–235. 139 Heidegger 1927/28, 339 / HGA 86, 535. 135 136

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sucht, wobei die verbale Bedeutung von ›Wesen‹ nutzbar gemacht wird: »Die Art und Weise, des ursprünglichen Wesens, des Ungrundes ist – sofern Wesen immer Werden ist – Werden.« 140 Weshalb dem Protokoll zufolge dabei diese »scheinbar abstraktesten Bestimmungen Schellings immer orientiert sind am m e n s c h l i c h e n Dasein«, 141 dies wird verständlich, wenn man beachtet, dass das Protokoll zur abgrenzenden Bestimmung dieses ›Werdens‹ nochmals auf den Seinscharakter der ›Vorhandenheit‹ zu sprechen kommt, welcher – wie schon in Sein und Zeit für das ›Dasein‹ – auch bezüglich der im ›Ungrund‹ anzunehmenden Seinsstrukturen zurückgewiesen wird: »Er – der Ungrund – west als Ganzes in jedem von beiden [Grund und Existenz, P. H.], also können beide – ohne different zu sein – nicht in ihm v o r h a n d e n sein.« 142 Durch die Hervorhebung zeigt das Protokoll deutlich an, dass es diesem bei Schelling eher unspezifisch und gleichsam beiher gebrauchten Ausdruck (vgl. AA I,17, 170) eine besondere Bedeutung beimisst. So wird denn auch mit der Zurückweisung dieses Ausdrucks und der damit einhergehenden Opposition von ›Sein‹ und ›Vorhandensein‹ gerade wie schon im Falle des Satzes »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) darauf insistiert, dass bei Schelling ›Sein‹ und ›Werden‹ identisch sind (vgl. AA I,17, 168), und dass darüber hinaus der dem ›Dasein‹ eigentlich zuzusprechende ›Existenzvollzug‹ zumindest rudimentär in allem Seienden zu finden, mithin als Charakteristik von ›Sein überhaupt‹ aufzufassen ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Seminar-»Erörterung« nun die »Mensch- und Daseinserfassung bei ihm [Schelling, P. H.] schärfer zu sehen« versucht. 143 So leitet der Gedankengang des Protokolls dann auch gerade über die Frage nach Schellings »B e g r i f f d e s B ö s e n « wieder zu der nach dem Ungrund über. 144 Da nämlich »im Ur-sein eine totale Ungeschiedenheit« liege, stelle sich die Frage: »Wie kommt es ü b e r h a u p t zur Erregung des Seins, zur 140 Heidegger 1927/28, 339 f. / HGA 86, 536. Auch Schelling hat diese ›verbale‹ Bedeutung von ›Wesen‹ im Blick, wie die Urfassung der Philosophie der Offenbarung wohl von 1831/32 belegt: »Für diese urständliche Art des Seins [als Wille, der sich noch nicht geäußert hat, P. H.] könnten wir wohl ein eigentliches Wort anwenden, wenn nicht leider in der deutschen Sprache das alte Verbum ›wesen‹, von dem ›gewesen‹ herkommt, aus dem Gange gekommen wäre« (Schelling 1831/32, 35 f.). 141 Heidegger 1927/28, 339 / HGA 86, 535. 142 Heidegger 1927/28, 340 / HGA 86, 536. 143 Heidegger 1927/28, 340 / HGA 86, 536. 144 Heidegger 1927/28, 340 / HGA 86, 536.

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Regung des Bösen?« 145 Das Seminar beantwortet diese Frage im Rekurs auf den »Selbstoffenbarungswillen[…] Gottes« 146 und mit Verweis auf den schellingschen Satz, dass »in der Schöpfung überhaupt nichts Zweydeutiges bleiben kann« (AA I,17, 143). Die Deutung von 1927/28 wendet diesen Satz nun in einer subtilen Analyse, die Schellings Schilderung des ›Aufbrechens‹ der ›ewigen Freiheit‹ in den Weltaltern ähnelt, auf den Ungrund an – in ihm sei »ein l e t z t e s Zurückblicken auf das Verschwinden« zu beobachten. 147 Aufgrund der Annahme dieses ›Zurückblickens auf das Verschwinden‹, mithin eines gleichsam reflexiven Momentes, kann nun dem Ungrund als dem ›schlechthin Verschwundenen‹ eine gewisse Amivalenz attestiert werden: In dieser Doppelung innerhalb des Ungrundes als einer verschwundenen, aber gleichwohl noch beunruhigenden liegt ein gewisses Recht, von »Zweideutigkeit« desjenigen Wesens zu reden, das Ur-sein, d. h. Wollen, Drang ist. 148

Der Ungrund repräsentiert somit nicht allein eine absolute Entzogenheit oder ›Verschwundensein‹, sondern zugleich auch ein Moment des ›Beunruhigenden‹ im doppelten Sinne des Wortes, nämlich einerseits als Unruhe, ›Wollen‹ und ›Drang‹ sowie andererseits als etwas, mit dem unentwegt zu rechnen ist aufgrund der ihm eigenen Unberechenbarkeit und Spontaneität. Daher vermag das Seminar die Überlegungen zum Ungrund auch auf »Schellings Naturphilosophie« zurückzubeziehen, der zufolge der Natur auch im rein materiellen Geschehen […] noch eine gewisse Freiheit [eignet, P. H.], die folglich durch mathematisch-physikalische Untersuchung nicht bestimmbar ist, es bleibt ein Positives – Drang, Trieb –, das Spielraum hat, und sich innerhalb desselben gerade so, wie es sich im concreten Fall zeigt, entschieden h a t . 149

Die ›beunruhigende‹ Unberechenbarkeit, die dem allem zugrundeliegenden Ungrund zugeschrieben wird, besagt mit Blick auf dieses ›Entschieden-Haben‹ aber drittens auch, dass – wie es im folgenden Protokoll zur Sitzung vom 11. Januar 1928 heißt – bei Schelling das

145 146 147 148 149

Heidegger 1927/28, 341 / HGA 86, 537. Heidegger 1927/28, 342 / HGA 86, 537. Heidegger 1927/28, 342 / HGA 86, 537. Heidegger 1927/28, 342 / HGA 86, 538. Heidegger 1927/28, 342 / HGA 86, 538.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Überwinden der ›Zweideutigkeit‹ sowie der Unentschiedenheit und damit »das Offenbarwerden als Konstitutivum des Seins« aufzufassen ist. 150 Indem die Protokolle des heideggerschen Schelling-Seminars aber diese zwischen Entzug und Sich-Offenbaren spielende ›Zweideutigkeit‹ oder Zwiespältigkeit im schellingschen Seinsbegriff betonen, antizipieren sie bereits Heideggers späteren Begriff von ›Sein überhaupt‹, der sich ansatzweise aber auch bereits in seiner Vorlesung des Sommersemesters 1927 mit Blick auf die dortige Interpretation der ›Präsenz‹ andeutet (vgl. HGA 24, 431–445, bes. 442 f.). 151

4.2. Wollen und Lassen Dieses vorausweisende Moment des heideggerschen Schelling-Seminars von 1927/28 zeigt sich aber auch noch in einer anderen Hinsicht im Protokoll zur letzten Schelling gewidmeten Seminar-Sitzung vom 11. Januar 1928. Dieses geht nochmals auf den »Prozeß des Seins, d. h. des Werdens in Gott selbst, im Absoluten« ein, den es anhand des folgenden »formale[n] Schema[s]« näher zu fassen sucht: »Absolute Indifferenz – Dualität – Gegensatz – Absolute Identität.« 152 Mit Verweis auf die bereits in der vorangegangenen Sitzung erörterte Struktur der ›absoluten Indifferenz‹ sowie des ›Ungrundes‹ als eines Heidegger 1927/28, 349 / HGA 86, 543. Auch wenn Heidegger 1927 das ›Spiel‹ von Präsenz und Absenz lediglich für die ›Ekstase‹ der Gegenwart ausführt, deutet sich doch bereits die Vorwegnahme der späteren Seins-Interpretation an: »Weil die zur Zeitlichkeit (sowohl zur Ekstase der Gegenwart als zu den anderen Ekstasen) gehörende Modifikation der Praesenz zur Absenz, der Anwesenheit zur Abwesenheit, einen Charakter der Negativität hat, des Nicht, nicht-anwesend, erhebt sich die Frage, wo die Wurzel dieses Nicht überhaupt liegt. Eine nähere Betrachtung zeigt, daß auch das Nicht bzw. das Wesen des Nicht, die Nichtigkeit, ebenfalls nur aus dem Wesen der Zeit interpretiert werden kann und daß von hier aus erst die Möglichkeit der Modifikation, z. B. der Anwesenheit zur Abwesenheit, aufzuklären ist. […] Wir sind nicht vorbereitet genug, um in dieses Dunkel vorzudringen. Es genügt, wenn deutlich wird, wie nur im Rückgang auf die Zeitlichkeit als Temporalität bzw. auf den Horizont der Ekstasen die Interpretation des Seins – zunächst die bestimmte Art des Seins, das Zuhandensein und das Vorhandensein – Licht bekommt.« (HGA 24, 443) Erst in den wohl 1936–38 verfassten Beiträgen zur Philosophie ›dringt‹ Heidegger dann ausdrücklich zu der Bestimmung der ›Wahrheit des Seyns‹ als »Lichtung und Verbergung« im Sinne der »Wesung des Einen, der Wahrheit« ›vor‹ (HGA 65, 349). Vgl. dazu Figal 1988, 338–342 u. Figal 2007, 89–93 u. 141 f.; vgl. auch Höfele 2016b. 152 Heidegger 1927/28, 347 f. / HGA 86, 542. 150 151

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›schlechthin Verschwundenen‹, dem gleichwohl eine gewisse ›Zweideutigkeit‹ zukomme, wendet sich das Protokoll der vierten Sitzung sogleich dem zweiten und dritten Glied des ›Schemas‹ zu – der einfachen ›Dualität‹ und dem ›Gegensatz‹ als Ausdruck eines »Spannungsverhältnis[ses]«. 153 Dabei ordnet das Protokoll der ersteren, der Dualität, die Gleichursprünglichkeit von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ und dem letzteren das sich gegenseitig aufhebende und gleichwohl sich gegenseitig konstituierende Spannungsverhältnis von Gutem und Bösem zu. Das Seminargespräch interessiert jedoch vor allem ein drittes »Unterscheidungsmoment […], das im Begriff des Seins liegt« und die vorherigen beiden zusammenhalten soll: »Schelling gebraucht nebeneinander ›wirklichsein‹, d. h. sein, ganz allgemein, und im selben Sinne ›offenbar-werden‹.« 154 Diese Bestimmung führt das Protokoll sodann gleichsam zu einer ansatzweisen Antizipation des späteren heideggerschen Seinsbegriffes, wie zu Ende des vorangegangenen Kapitels bereits angezeigt: »Das Offenbarwerden bestimmt Schelling näher als ein Offenbarwerden im Gegensatz. Im Sichoffenbaren, im Sein liegt wesentlich das Gegeneinanderspielen der Gegensätze.« 155 Dabei vermag das Protokoll diesem Motiv des ›Offenbarwerdens im Gegensatz‹ aber ein weiteres Moment abzugewinnen, das bei Heidegger erst über zwanzig Jahre später in seinen eigenen Überlegungen zur Gelassenheit ausführlich zur Geltung kommen wird. So betont das Protokoll, dass das »e i g e n t l i c h e Sein […] die Bewältigung des Grundes durch die Existenz als Liebe« sei – und unter Verweis auf AA I,17, 170–172 156 fügt das Protokoll hinzu, indem es die Bedeutung dieser Bestimmung nochmals unterstreicht: »SchelHeidegger 1927/28, 348 / HGA 86, 542. Heidegger 1927/28, 348 / HGA 86, 543. 155 Heidegger 1927/28, 350 / HGA 86, 544. 156 Vgl. AA I,17, 170: »Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?« Vgl. auch AA I,17, 172: »Der Ungrund theilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe eins werden, d. h. er theilt sich nur, damit Leben und Lieben sey und persönliche Existenz. Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen) dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere.« – Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.3. 153 154

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ling muß dieses Phänomen zurückbeziehen auf die ganze Dimension seines ontologischen Systems bis auf das, was Grund und Existenz zugrundeliegt, den Ungrund.« 157 Ganz im Sinne der Aufwertung des ›Liebes‹-Begriffes durch die Idealisten 158 bemerkt auch das Protokoll zu Heideggers Seminar, dass »das Phänomen der Liebe […] nicht ein exemplarisches Einzelphänomen [ist], sondern Liebe ist zugrunde gelegt als der Sinn des Seins, d. h. des Personseins.« 159 Auch hier scheint aufgrund des unmittelbaren Zusammenführens des ›Sinns des Seins‹ und des ›Personseins‹ wieder wie in Sein und Zeit die Möglichkeit eines Überganges vom Sein des Daseins zum ›Sein überhaupt‹ angedacht zu sein. Insofern nämlich »die Liebe das Wesen des Personseins« ausmache, müsse man »von hier aus verständlich machen können, warum Sich-offenbaren im Gegensatz zum Sein gehört«, wie das Protokoll in unmittelbarem Anschluss betont. 160 Das eigentliche Sein wird dabei generell mit einem ›Lassen‹ oder einer Gelassenheit in Verbindung gebracht: Zwar gehöre gerade das ›Sich-offenbaren im Gegensatz‹ zum Sein, da dem Protokoll zufolge jedes der Gegensatzglieder erst derart in seinem eigenen Wesen hervorzutreten vermag. Doch dies geschieht lediglich, wenn diese Gegensätzlichkeit keine gleichsam in ihrer Konfliktualität kollabierende Struktur darstellt, sondern vielmehr »jedes Gegensatzglied das andere als Gegen sein lässt.« 161 Dabei macht das Protokoll dieses ›Lassen‹ auf gleich zwei Ebenen geltend: zum einen mit Blick auf das »›in-sichhandeln-Lassen‹ des guten oder bösen Prinzips« – eine Formulierung Schellings (vgl. AA I,17, 156), 162 die Heidegger bemerkenswerterweise selbst in Sein und Zeit herangezogen hat 163 –, und zum anderen in Bezug auf das »›Wirkenlassen‹ des Grundes« durch seinen ›Gegen-

Heidegger 1927/28, 351 f. / HGA 86, 545. Vgl. dazu die Bemerkungen v. a. zum frühen Hegel und zu Fichte oben, Teil II, Kap. 1.3. 159 Heidegger 1927/28, 352 / HGA 86, 546. 160 Heidegger 1927/28, 352 f. / HGA 86, 546. 161 Heidegger 1927/28, 353 / HGA 86, 547; Herv. v. Verf. 162 Vgl. dazu oben, Teil II, Kap. 1.1.3. 163 Vgl. dazu oben, Teil IV, Kap. 1.2. Dass Heidegger in Sein und Zeit diese eigenwillige Formulierung von Schelling übernommen haben könnte, ist keineswegs mit Blick darauf zurückzuweisen, dass das Schelling-Seminar erst nach Abschluss von Sein und Zeit stattgefunden hat, da Jaspers bereits 1926 Heidegger ein Exemplar der Freiheitsschrift zugesandt hat. Vgl. Heidegger an K. Jaspers, 24. April 1926, Heidegger/Jaspers 1990, 62. Vgl. dazu oben die einleitenden Bemerkungen zu Teil IV. 157 158

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Heideggers erste Auseinandersetzung mit Schelling

spieler‹, das ›Existierende‹. 164 Dabei erkannt das Protokoll den ›Fluchtpunkt‹ dieses doppelten ›Lassens‹ in einer ›Einigung‹ (»das spezifische Wirken beider geht auf die Einigung«), welche aber – ganz im Sinne des heraklitischen Gedankens der »παλίντροπος ἁρμονίη« 165 – die ›Gegensätzlichkeit‹ nicht ausschließt oder unterdrückt (»Damit sie [die Einigung, P. H.] aber sein könne, muß Gegensätzlichkeit sein«). 166 So steht, wie es in dem Seminar von 1927/28 heißt, die Figur der Liebe bei Schelling ein für ein »Seinlassen des anderen als ein Seinlassen mit der Tendenz, daß das Andere gewissermaßen jetzt erst die Möglichkeit bekommt, es selbst zu sein.« 167 Dieses 1927/28 angeführte ›Seinlassen‹, das dem Anderen erst ›die Möglichkeit‹ gebe, ›es selbst zu sein‹, ist dabei Ende der zwanziger Jahre kein Einzelphänomen: So mahnt Heidegger 1929/30 in der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik gegenüber der wohl auf Husserls phänomenologische Methode anspielende »Anstrengung, uns in eine besondere Einstellung hineinzuarbeiten«, eine »Gelassenheit des alltäglichen freien Blickes« an (HGA 29/30, 137). 168 In dem 1930 erstmals gehaltenen Vortrag Vom Wesen der Wahrheit ist sodann von der Freiheit als einem »Seinlassen des Seienden« die Rede, das ein »Sicheinlassen auf das Seiende« darstelle (GA 9, 188). 169 Und noch in der gleichnamigen Platon-Vorlesung von 1931/32 klingt mit Blick auf die Lichtmetaphorik in Platons Höhlengleichnis dieses Motiv des ›Lassens‹ nach, wenn von einem »Frei-werden« in der Bedeutung von »Sein als solches verstehen« die Rede ist, »welches Verstehen allererst Seiendes als Seiendes sein läßt« (HGA 34, 60): Auch wenn diese Metaphorik des ›Lassens‹ und der Gelassenheit in den folgenden Jahren in Heideggers Denken zunächst einmal zuHeidegger 1927/28, 353 / HGA 86, 546. Vgl. AA I,17, 144. Heraklit, Diels/Kranz, 22 B 51. 166 Heidegger 1927/28, 353 / HGA 86, 547. 167 Heidegger 1927/28, 354 / HGA 86, 547. 168 Weiter heißt es: »Weil wir aber durchsetzt sind von solchen [psychologischen und sonstigen Theorien von Bewußtsein, Erlebnisstrom und dergleichen, P. H.] – oft schon in dem nächstliegenden Verständnis und in der Erläuterung der Wortbedeutungen –, ist es weit schwieriger, diese Gelassenheit in sich einzupflanzen, als eine oder mehrere Theorien sich anzulernen und einzuprägen.« (HGA29/30, 137 f.) Vgl. dazu Davis 2007, 26. 169 Es dürfte kein Zufall sein, dass die Erstpublikation des Vortrages in das Jahr 1943, also in die Zeit von Heideggers eminenter Willenskritik, fällt, wofür Heidegger die beiden zitierten Stellen auch nochmals mit Anmerkungen versieht, die die Gelassenheitsmotivik zusätzlich unterstreichen. 164 165

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

rücktritt, so ist es umso bemerkenswerter, dass die Ende der zwanziger Jahre derart betonte und umfassend interpretierte Figur des ›Lassens‹ bereits jenes von Heidegger vor allem 1955 entfaltete Motiv einer »Gelassenheit zu den Dingen« anklingen lässt, in der man in einer Korrektur und Relativierung des rein technischen und alles vereinnahmenden Verhältnisses des Menschen zur Welt die »Gegenstände zugleich auf sich beruhen [zu] lassen« vermag (HGA 16, 527). Wie noch zu zeigen sein wird, 170 geht auch diese Betonung der Gelassenheit in den fünfziger Jahren mit einer positiven Rezeption Schellings einher, die sich allerdings nicht mehr in erster Linie auf die Freiheitsschrift richtet, sondern vielmehr auf die Erlanger Vorlesung, wohingegen in den Jahren zwischen dieser ›ersten‹ und der ›letzten‹ (greifbaren) Schelling-Rezeption Heideggers eine zunehmend kritische Sicht des idealistischen Philosophen die Oberhand gewinnt. Doch unterscheiden sich beide Gelassenheitskonzeptionen auch in einer entscheidenden Hinsicht, wie am Ende unserer Untersuchung noch genauer ersichtlich werden wird: Anders als in den fünfziger Jahren vermag die Konzeption Ende der zwanziger Jahre nämlich jene Motive des ›Lassens‹ noch mit einem Willensmoment in geradezu selbstverständlicher Weise zu verbinden. So wird 1927/28 mit dem Motiv des ›Seinlassens‹ der Liebe das vermeintlich Augustinus zugeschriebene »volo ut sis«, »Ich will, daß du bist«, identifiziert, das Heidegger fast zeitgleich auch im Briefwechesel mit Hannah Arendt anführt und das diese von Heidegger übernimmt. 171 Doch während Vgl. unten, Teil IV, Kap. 9. Heidegger 1927/28, 353 f. / HGA 86, 547. In Augustinus’ De civitate Dei XI, 27 f., worauf das Protokoll verweist, finden sich zwar der Sache nach ähnliche Ausführungen zum Liebesbegriff, ohne dass sich dort allerdings das Zitat fände. Heidegger unterläuft derselbe Irrtum in seinem Brief an Hannah Arendt vom 13. Mai 1925, Heidegger/Arendt 1999, 31: »Amo heißt volo, ut sis, sagt einmal Augustinus: ich liebe Dich – ich will, daß Du seiest, was Du bist.« Vgl. auch M. Heidegger an H. Arendt, 7. Dezember 1927, Heidegger/Arendt 1999, 59. Schon in seiner Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus aus dem Sommersemester 1921 gebraucht Heidegger mit Bezug auf Augustinus allerdings eine ganz ähnliche Formel: »Die eigentliche Liebe hat die Grundtendenz auf das delctum, ut sit. Liebe ist also Wille zum Sein des Geliebten« (HGA 60, 291 f.; vgl. dazu Tömmel 2013, 120). In Arendts Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin von 1929 taucht die Formulierung ebenfalls auf und wird dort auf das ähnlich lautende Zitat »Non amas in illo quod est, sed quod vis ut sit« in Augustinus’ Kommentar In Epistolam Ioannis ad Parthos tractatus VIII, 10 (PL 35, 2042) zurückgeführt (vgl. Arendt 1929, 71), einen Tractatus, auf den auch Heidegger an der gerade zitierten Stelle der Augustinus-Vorlesung Bezug nimmt (vgl. HGA 60, 291). In The Life of the Mind wird die Formulierung von Arendt zwar 170 171

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Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik

Arendt noch in ihrem letzten, unvollendet gebliebenen Werk The Life of the Mind an den mit der Liebe identifizierten Willensbegriff in positiver Weise anschließt und ihn sogar gegen Heidegger geltend macht, 172 nimmt Heidegger hingegen in den folgenden Jahren gerade den ›Willen der Liebe‹ als Anzeichen einer subjektivitätstheoretischen Vereinnahmung zum Anlass einer fundamentalen Kritik an Schelling sowie dem Willensbegriff insgesamt.

5. Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik Besitzt der Willensbegriff Ende der zwanziger Jahre im Kontext der Publikation von Sein und Zeit noch eine gewisse Ambivalenz und Unschärfe hinsichtlich seiner Rolle und Bedeutung sowie bezüglich seiner Abgrenzung gegenüber anderen Phänomenen wie insbesondere dem ›Lassen‹, so ändert sich dies Anfang der dreißiger Jahre zunächst in der Weise, dass Heidegger nun deutlicher dem Willen eine zentrale, positiv besetzte Rolle zuerkennt, selbst wenn die Motivik des ›Lassens‹ nicht gänzlich verschwindet. 173 Mit Blick auf das Anliegen dieses letzten Teils unserer Untersuchung, Schellings Willensinterpretation nochmals von ihren Nachwirkungen bei Martin Heidegger her zu beleuchten, sollen im Folgenden nur die entscheidenden Stationen dieser Aufwertung des Willens bis 1935/36 deutlich gemacht werden, um sodann vor diesem Hintergrund Heideggers ausführlichste Schelling-Interpretation angemessen in den Blick nehmen zu können. Dabei zeigt sich gerade im Kontext seines nicht unproblematischen Engagements in der Hochschulpolitik während der Zeit des Nationalsozialismus zum einen eine Entdifferenzierung und Ausweitung des Willensbegriffes hin auf einen uniformen Kollektivwillen, dem bisweilen sogar eine geradezu heroische Tragik eingezeichnet wird (Kap. 5.1). Zum anderen macht sich auch im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit Hölderlin und der Kunst eine zur zuvor genannten Tendenz geradezu gegenläufige Ausdifferenzierung

immer noch mit Augustin in Verbindung gebracht, zugleich aber Duns Scotus als Urheber zugeschrieben (vgl. Arendt 1978, 104 u. 144). – Vgl. dazu insgesamt Tömmel 2013, bes. 118–125 u. 122–132. 172 Vgl. Arendt 1978, 95 f., 102–104, 122–125, 143 f. u. 172–194. 173 Vgl. hierzu auch ausführlich Davis 2007, 60–99.

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des Wollens geltend, die selbst vor einer Identifikation von Wollen und ›Lassen‹ nicht zurückschreckt und trotz aller aufschlussreichen Beobachtungen Heideggers Unentschiedenheit bezüglich dieser Phänomene erkennen lässt (Kap. 5.2).

5.1. Heroische Tragik als Seinseröffnung: Zur Entdifferenzierung und Ausweitung des Willensbegriffes Wie bereits bemerkt, 174 wird Heidegger nicht allein durch Schelling, sondern gerade auch durch Kant auf das Willensparadigma aufmerksam. So liest man folgende Bemerkung in der Vorlesung des Sommersemesters 1930, die zwar ihren Titel Vom Wesen der menschlichen Freiheit mit der Schelling-Vorlesung von 1936 teilt, jedoch Schelling kein einziges Mal erwähnt und in der Hauptsache Kants praktischer Philosophie gewidmet ist: 175 Das eigentlich Gesetzgebende für das Wollen ist das wirkliche reine Wollen selbst und sonst nichts. Eine noch so reich gegliederte und umfangreiche materiale Werttafel bleibt ein pures Phantom, ohne jede verpflichtende Gesetzlichkeit, wenn nicht das reine Wollen als das eigentliche Wirkliche alles sittlichen Handelns wirklich sich selbst will. Dieses, sich selbst zu wollen, ist das angebliche Leere, im Grunde aber ist es das einzig Konkrete und Konkreteste an der Gesetzlichkeit des sittlichen Handelns. (HGA 31, 279 f.)

Gegenüber der »materiale[n] Werteethik« etwa Max Schelers und Nicolai Hartmanns (HGA 31, 279) und deren gegen die kantische Ethik gerichteten Vorwurf der ›Leere‹ hebt Heidegger hier die inhaltliche ›Konkretheit‹ der Autonomie im Sinne des ›Sich-selbst-Wollens‹ des ›guten Willens‹ bei Kant hervor. Gleichzeitig verleiht Heidegger der Kant-Interpretation hier eine spezifische, auf sein eigenes Denken verweisende Akzentuierung, wenn er bemerkt, dass das ›reine Wollen‹ ein ›Sich-selbst-Wollen‹ oder auch ein »Wollen des reinen Willens« (HGA 31, 284) darstelle und ›wirklich wollen‹ bedeute, dass ich »mich entscheide, in der Entschiedenheit will, d. h. die Verantwortung auf mich nehme und in dieser Übernahme existent werde.« Vgl. oben, Teil IV, Kap. 2.3. Vgl. dazu ausführlich Davis 2007, 65–71, auch wenn wir dessen Darstellung insofern korrigieren müssen, als man diese Phase nicht als bloßen »embrace of the will« (Davis 2007, 60) interpretieren kann. 174 175

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Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik

(HGA 31, 280) Deutlich wird diese ›Indienstnahme‹ der kantischen und – wie wir gleich noch sehen werden – anderer ›klassischer‹ Willenskonzeptionen für das eigene philosophische Anliegen vor allem auch dann, wenn man sich vor Augen hält, dass Heidegger 1935/36 das Wollen explizit mit dem Gedanken der ›Entschlossenheit‹ aus Sein und Zeit identifiziert. So erklärt Heidegger sowohl 1935 in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik als auch in den 1935/36 gehaltenen Vorträgen zum Ursprung des Kunstwerkes, dass »Wollen […] Entschlossensein« sei und »das Wesen des Wollens […] hier in die Ent-schlossenheit zurückgenommen« werde (HGA 40, 23; vgl. auch HGA 5, 55). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Heidegger sich in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre nicht allein für die kantische, sondern auch andere idealistische und nachidealistische Willenskonzeptionen interessiert und diese zunächst in affirmativer Weise rezipiert. So liest man in der Vorlesung Hegels Phänomenologie des Geistes aus dem Wintersemester 1930/31, dass »[d]as absolute Sichwissen […] kein freischwebendes theoretisches Verhalten, sondern die Weise der Wirklichkeit des absoluten Geistes [ist] und […] als solche Wissen und Wille zugleich« ist (HGA 32, 38). Heidegger bezieht sich hierfür auf das Ende der »Einleitung« zur Phänomenologie des Geistes, wo davon die Rede ist, dass das Bewusstsein »zu seiner wahren Existenz sich forttreibt« – »und endlich, indem es selbst diß sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des absoluten Wissens selbst bezeichnen« (Phän., GW 9, 61 f.). Heidegger versteht diese Passage als die »Darstellung des erscheinenden Geistes in seiner Bewegtheit«; dabei werde die »Darstellung […] in und durch ihre Bewegtheit selbst das Darzustellende« (HGA 32, 38), sodass es sich mithin nicht allein um ein ›theoretisches Verhalten‹ handle, sondern dieses zugleich auch ein praktisches, voluntatives Moment in sich einschließe, das Heidegger sogar noch dem Wissensmoment überordnet, wenn er das ›absolute Wissen‹ als »Ziel« der Phänomenologie skizziert: Erst wenn der Geist auch noch dieses Andere als das Seinige zu sich gebracht hat und sich als dessen Wahrheit weiß, weiß er sich absolut, ist er der sich als Geist wissende Geist, ist er als das absolute Wissen wirklich, ist er absolut sich wissender Wille, der selbst für sich die wirkliche Macht als das allein Gewollte ist. (HGA 32, 50)

Und noch in dem Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung von 1942/43, dessen »Inhalt« unter anderem auf »Seminarübungen zu Hegels Phä367 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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nomenologie des Geistes« zurückgehe und in diesen »durchgesprochen« wurde (HGA 5, 375), redet Heidegger im Ausgang vom zweiten und dritten Abschnitt der »Einleitung« zur Phänomenologie – genauer unter Bezugnahme auf Hegels Rede, dass die »Wissenschaft will« (Phän., GW 9, 54) – von einem »Wille[n] des Absoluten«, wobei die »Wissenschaft […] in ihrer Weise nur das [will], was das Absolute will.« (HGA 5, 136 f.). Noch deutlicher heißt es auch kurz vor der zitierten Stelle mit Blick auf ein ›Beschauen-Wollen des Seienden‹ durch die Philosophie, das zugleich ein ›Wollen‹ ihres eigenen ›Wesens‹ sowie der Absolutheit des Absoluten bedeute: Die Philosophie ist die Wissenschaft, weil sie den Willen des Absoluten, d. h. dieses in seiner Absolutheit will. Also wollend, will sie das Seiende als das Seiende beschauen. So wollend, will die Philosophie ihr Wesen. (HGA 5, 133)

Heidegger scheut sich in den folgenden Jahren des Weiteren auch nicht, diesen Willensbegriff in durchaus problematischer Weise mit politischen Konnotationen zu verbinden. Deutete sich bereits in Heideggers Hegel-Interpretationen eine Ablösung des Willens vom einzelnen Individuum in Gestalt einer Rede vom ›Willen der Philosophie‹ oder gar vom ›Willen des Absoluten‹ an, in den sich letztere ›wollend‹ zu ergeben habe, so wird gerade auch in der am 27. Mai 1933 gehaltenen Rektoratsrede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität von einem ›gemeinsamen Willen‹ gesprochen, der den Einzelwillen auszuklammern droht: 176 Die Selbstbehauptung der deutschen Universität ist der ursprüngliche, gemeinsame Wille zu ihrem Wesen. […] Der Wille zum Wesen der deutschen Universität ist der Wille zur Wissenschaft als Wille zum geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Volkes als eines in seinem Staat sich selbst wissenden Volkes. (HGA 16, 108) 177

Selbst wenn Heidegger wenig später ganz im kantischen Sinne betont, dass »[s]ich selbst das Gesetz geben […] höchste Freiheit« ist (HGA 16, 113) und dass »[j]eder einzelne […] mit [entscheidet]« (HAG 16, 117), so zeigt sich hier doch zugleich noch deutlicher als

176 Vgl. zu einer ausführlichen, auch auf die brisanten politischen Implikationen eingehenden Interpretation der Rektoratsrede bes. Figal 2007, 111–129 und – mit Blick auf den Willensbegriff – Davis 2007, 71–78. 177 Vgl. hierzu auch mit einem Fokus auf den Begriff des ›Geistes‹ Derrida 1987, 59– 63.

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in der oben zitierten Kant-Vorlesung eine auffällige und folgenreiche Akzentverschiebung. Denn Heidegger rückt diesen ›gemeinsamen Willen‹ in eine geschichtliche Perspektive, in der die Griechen dem »heutigen Menschen« gegenübergestellt werden, der im Gegensatz zum Menschen der griechischen Antike von der Verkündigung des ›Todes Gottes‹ durch Nietzsche geprägt sei: »Dann [vor dem Hintergrund der ›Verlassenheit des heutigen Menschen inmitten des Seienden‹, P. H.] wandelt sich das anfänglich bewundernde Ausharren der Griechen vor dem Seienden zum völlig unbefleckten Ausgesetztsein in das Verborgene und Ungewisse, d. i. Fragwürdige. […] Das Fragen entfaltet dann seine eigenste Kraft der Aufschließung des Wesentlichen der Dinge.« (HGA 16, 111) Diese ›Kraft‹ des Fragens wird dabei von Heidegger nicht mehr mit einem ›Lassen‹ des Seienden in Verbindung gebracht, sondern vielmehr mit dem tragischen Motiv des ›Trotzes‹. Im Rückgang auf einen Vers aus dem traditionell Aischylos zugeschriebenen Gefesselten Prometheus, den Heidegger mit den Worten übersetzt: »›Wissen aber ist weit unkräftiger denn Notwendigkeit‹« (HGA 16, 109), 178 insistiert er zugleich darauf, dass »das Wissen seinen höchsten Trotz entfalten [muß], für den erst die ganze Macht der Verborgenheit des Seienden aufsteht, um wirklich zu versagen.« (HGA 16, 109) Laut Heidegger waren es gerade die Griechen, die »im fragende[n] Standhalten inmitten des sich ständig verbergenden Seienden im Ganzen« noch um die »Unkraft [dieses ›handelnden Ausharrens‹, P. H.] vor dem Schicksal« wussten (HGA 16, 110). Des178 Aischylos, Der gefesselte Prometheus, v. 514. Eine umfassende interpretatorische Einordnung dieses Aischylos-Zitates in den Zusammenhang der heideggerschen Rektoratsrede kann und soll hier keineswegs geleistet werden: So geht es Heidegger mit der Zitation dieses Verses doch nicht allein um die heikle Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Politik, worauf auch das abschließende Politeia-Zitat, dass »[a]lles Große […] im Sturm« stehe (HGA 16, 117; vgl. Platon, Politeia, 497d), abzielt, sondern eben auch um eine – gegen Platon gerichtete – Rehabilitierung des tragischen Dichters, wobei die Nähe der heideggerschen Darstellung des Prometheus zu Hölderlins Tod des Empedokles nicht übersehen werden darf (vgl. dazu Schmidt 2001, 317). – Vgl. des Weiteren auch Schellings Interpretation der Prometheus-Gestalt, der in dieser Figur, die für das ganze, »aus der stillen Gemeinschaft mit Gott sich setzend[e]« Menschengeschlecht einstehe, jene »dem gegenwärtigen Daseyn vorausgegangene, darum nimmer zurückzunehmende, unwiderrufliche That« rekapituliert, der zufolge in der Absage an jegliche Deriviertheit sich eben diese wieder zu Wort melde und im gleichsam ›trotzigen‹ Griff nach absoluter Freiheit die eigene Ohnmacht umso unmissverständlicher zutagetrete (SW XI, 482).

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halb fordert Heidegger in seiner Rektoratsrede dann auch, sich auf diesen Anfang bei den Griechen zu besinnen, der noch »vor uns« stehe (HGA 16, 110). Die von Heidegger geforderte »ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins« (HGA 16, 112) avanciert damit aber bei Heidegger 1933 zu einem trotzigen Willen des ›Standhaltens‹ vor der ›Macht der Verborgenheit des Seienden‹ im Sinne des ›Schicksals‹, welcher in gewissem Sinne durchaus an Schellings Charakterisierung des Dogmatismus 1795 erinnert, »dem der Gedanke erträglich ist, an seiner eigenen Vernichtung zu arbeiten, jede freie Causalität in sich aufzuheben« (AA I,3, 109). Erst ein solcher »Wesenswille […] im Sinne des fragenden, ungedeckten Standhaltens inmitten der Ungewißheit des Seienden im Ganzen« schaffe dem »Volke seine Welt der innersten und äußersten Gefahr, d. h. seine wahrhaft geistige Welt« (HGA 16, 111 f.). Dieser Heraklits Fragment 53 179 und Hegels Dialektikkonzeption abgelesene Ansatz, dass erst in der konfliktuösen und gar tragischen Auseinandersetzung das Wesentliche hervortrete, zeigt sich in Heideggers Rede aber auch noch auf einer anderen Ebene, wenn er nämlich bezüglich des »Wesenswillen[s] der Lehrerschaft« und »der Schülerschaft« betont, dass »[a]lle Führung […] der Gefolgschaft die Eigenkraft zugestehen« muss, dass »[j]edes Folgen […] in sich den Widerstand« trägt (HGA 16, 116): Der Kampf allein hält den Gegensatz offen und pflanzt in die ganze Körperschaft von Lehrern und Schülern jene Grundstimmung, aus der heraus die sich begrenzende Selbstbehauptung die entschlossene Selbstbesinnung zur echten Selbstverwaltung ermächtigt. (HGA 16, 116)

Dabei tritt allerdings auch hier das Problem zutage, dass diese ›Selbstbehauptung‹ der Universität letztlich auf einen ›ursprünglichen, gemeinsamen Wille‹ hinauslaufen soll. Letzterer scheint dabei gerade nicht mehr adäquat den Einzelwillen zu berücksichtigen, wenn Heidgger in unkritischer Anspielung auf die nationalsozialistische Machtergreifung abschließend erklärt, dass »die junge und jüngste Kraft des Volkes, die über uns schon hinweggreift, […] darüber [nämlich über die Entscheidung jedes einzelnen, P. H.] bereits entschieden« hat (HGA 16, 117). 180 179 Vgl. Heraklit, Diels/Kranz, 22 B 53: »Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι«. Vgl. dazu auch Figal 2007, 121 f. 180 Diese kritische Lesart belegen in aller Deutlichkeit gerade auch Äußerungen Heideggers, die er außerhalb von rein philosophischen Diskursen verlauten lässt – so

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Sowohl die problematische Rede von einem einheitlichen, den Einzelwillen negierenden ›Kollektivwillen‹ als auch die tragische Motivik einer immer auch die Möglichkeit des ›Scheiterns‹ beinhaltenden ›Auseinandersetzung‹, die allererst zur Hervorkehrung des Wahren und Eigentlichen führe, sind Anfang der dreißiger Jahre sich durchhaltende Grundmotive des heideggerschen Denkens. 181 Insofern Heidegger Wahrheit als »Wahrheit für uns« fasst, versteht er auch im Wintersemester 1933/34 in der Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit das »Wesen der Wahrheit« zum einen als unumgänglichen »Kampf mit der Unwahrheit, wobei Unwahrheit mit der Wesensermöglichung der Wahrheit gesetzt ist« (HGA 36/37, 262). Zum anderen bringt er die Wahrheit mit der Frage nach einem kollektiven »Wille[n] zu Wissen und Geist« in Verbindung – genauer mit der Frage, wie Heidegger weiter ausführt, ob das Volk stark genug ist, in sich den Willen zu sich selbst hat, dem Willen zu seinem eigenen Wesen standzuhalten, ob wir ringen darum, ob wir das Wissen und Wissenwollen in dieser ganzen Schärfe und Härte als Aufgabe übernehmen, oder ob wir der Meinung sind, Kultur und Geistesleben sei eine Zugabe, die sich von selbst macht, indem wir sie als Spiel betrachten. (HGA 36/37, 263)

In aller Deutlichkeit verbindet Heidegger dann in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik aus dem Sommersemester 1935 jenes Motiv des ›Wissenwollens‹ mit dem Tragischen. Damit nähert sich Heidegger übrigens auch erstmals wieder seit 1927 inhaltlich Schelling an, der ja bekanntlich in seiner Erlanger Vorlesung von 1821 auch bereits eine generelle Verbindung von ›Wissen‹ und ›Wollen‹ annahm, diese damals aber anders als Heidegger in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre in äußerst kritischer Weise betrachtete. 182 So erklärt Heidegger 1935, dass »mit der Größe des geschichtlichen Willens die Schärfe und Ursprünglichkeit des geschichtlichen Wissens etwa ein »Aufruf zur Wahl« vom 10. November 1933, der zugleich auch unmissverständlich Heideggers affirmative Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus in dieser Zeit belegt: »Es gibt nur den einen Willen zum vollen Dasein des Staates. Diesen Willen hat der Führer im ganzen Volk zum vollen Erwachen gebracht und zum einzigen Entschluß zusammengeschweißt. Keiner kann fernbleiben am Tage der Bekundung dieses Willens!« (HGA 16, 189) Vgl. auch zu ähnlich problematischen Aussagen HGA 16, 236 f. Vgl. dazu auch Davis 2007, 73 f. 181 Vgl. zum Motiv des Tragischen bei Heidegger in den dreißiger Jahren auch Höfele 2016b, 265–278. 182 Vgl. oben, Teil II, Kap. 4.2.1.

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sich verbinden soll«, da nur in dieser Weise »der schon lange anhaltende Zustand einer Lähmung jeder Leidenschaft des Fragens« überwunden werden könne (HGA 40, 151 f.). Im vierten Teil seiner Vorlesung von 1935, das der Geschichte einer »Beschränkung des Seins« (HGA 40, 103) durch die ihm, laut Heidgger, in unzutreffender Weise traditionell gegenübergestellten Begriffe ›Werden‹ (vgl. HGA 40, 103–105), ›Schein‹ (vgl. HGA 40, 105–123), ›Denken‹ (vgl. HGA 40, 123–204) und ›Sollen‹ (vgl. HGA 40, 205–208) gewidmet ist, geht Heidegger sodann in ähnlicher Weise wie 1933 wiederum auf Motive des Tragischen ein – nun aber im Anschluss an Sophokles’ König Ödipus sowie vor allem dessen Antigone. Dass »[f]ür das Denken der frühen griechischen Denker […] Einheit und Widerstreit von Sein und Schein ursprünglich mächtig« waren (HGA 40, 113), erläutert Heidegger denn auch anhand des König Ödipus, der aus dem »Schein, der keine bloß subjektive Ansicht des Oedipus von sich selbst ist, sondern das, worin das Erscheinen seines Daseins geschieht, herausgeschleudert« wird, »bis die Unverborgenheit seines Seins als des Mörders des Vaters und des Schänders der Mutter geschehen ist« (HGA 40, 114). Für Heidegger ist mithin der »Weg von jenem Anfang des Glanzes bis zu diesem Ende des Grauens […] ein einziger Kampf zwischen dem Schein (Verborgenheit und Verstelltheit) und der Unverborgenheit (dem Sein).« (HGA 40, 114) Ödipus repräsentiere derart eine »Gestalt des griechischen Daseins«, in der die »Leidenschaft zur Seinsenthüllung, d. h. des Kampfes um das Sein selbst« zum Ausdruck komme (HGA 40, 114). Ähnlich wie in Schellings Ödipus-Deutung, der zufolge Ödipus »durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen« sucht (AA I,3, 107), so sieht auch Heidegger in dem innerhalb der gegenwärtigen Wissenschaft allerdings »verborgene[n] Wille[n] der Umgestaltung des Seienden in die Offenbarkeit des Daseins« ein Streben zur Überwindung des bloßen Scheins 183 am Werk, das selbst wie im Falle des Ödipus vor einem das eigene ›Scheitern‹ implizierenden »tragische[n] Geschehen« nicht zurückschreckt (HGA 40, 115).

183 Heidegger bezieht sich hier hingegen explizit nur auf Hölderlin (vgl. hierzu auch Schmidt 2001, 239–260) sowie das wohl ebenfalls durch Hölderlin inspirierte Sophkles-Buch Karl Reinhardts (vgl. Reinhardt 1933), dessen »Auslegung des Oedipus Tyrannus als der ›Tragödie des Scheins‹« Heidegger zufolge »eine großartige Leistung« darstellt (HGA 40, 115).

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Noch deutlicher wird diese heideggersche Deutungsabsicht hinsichtlich des ›griechischen Daseins‹, die dieser sich gerade mit Blick auf die Gegenwart anzueignen sucht, wenn Heidegger auf das berühmte erste Chorlied der sophokleischen Antigone zu sprechen kommt. Er geht hierbei insbesondere auf den Vers 332 ein: »πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει.« 184 Den auf den Menschen eigentlich allein bezogenen Komparativ »δεινότερον« deutet Heidegger dabei unter Vornahme einer leichten, aber entscheidenden inhaltlichen Verschiebung als Beschreibung des Verhältnisses des Menschen zum Seienden: Das »δεινότατον des δεινόν, das Unheimlichste des Unheimlichen« liegt nämlich nach Heidegger gerade »im gegenwendigen Bezug von δίκη und τέχνη« oder in »der Gegenwendigkeit des überwältigenden Seienden im Ganzen und des gewalttätigen Menschen«, der »die Möglichkeit des Absturzes in das Ausweg- und Stätte-lose« impliziere (HGA 40, 171). Auch im ersten Antigone-Chorlied vermag Heidegger mithin eine geradezu tragische Auseinandersetzung sowie die »Notwendigkeit des Zerbrechens« des menschlichen Strebens zu erkennen: »Die Gewalt-tätigkeit [des Menschen, P. H.] gegen die Übergewalt des Seins muß an dieser zerbrechen, wenn das Sein als das waltet, als was es west, als φύσις, aufgehendes Walten« (HGA 40, 171). 185 Dabei ist es nach Heidegger aber nicht so, dass dieses ›Zerbrechen‹ eine generelle Bedeutungslosigkeit des Menschen offenbaren würde, sondern vielmehr verhält es sich gerade derart, dass »das Überwaltigende als ein solches, um waltend zu erscheinen, die Stätte der Offenheit für es braucht.« (HGA 40, 171) 186 Insofern vermag Heidegger diesem ›Zerbrechen‹ oder ›Untergehen‹ zugleich auch eine positive Bedeutung abzugewinnen: »Im Wollen des Unerhörten wirft er [der Mensch,

184 Sophokles, Antigone, v. 332 (Sophokles 1926, 14): »Wohl ist vieles gewaltig. Der Mensch / Dennoch gewaltiger beugt es hinab.« Vgl. auch Heideggers Übersetzung in HGA 40, 155, obgleich Heidegger in seiner Auslegung auch eine gewisse Nähe zu Barthels Übersetzung von 1926 aufweist, deren Verwendung durch Heidegger indessen nicht nachzuweisen ist: »Vielfältig das Unheimliche, nichts doch / über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.« Hölderlin übersetzt hingegen: »Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheurer, als der Mensch« (StA 5, 219). 185 Vgl. zum φύσις-Begriff bei Heidegger, den er zu seinem zwischen Präsenz und Entzug changierenden Seinsbegriff der dreißiger Jahre in Bezug setzt, Marx 1980, 143–148 u. Höfele 2016b, 276 f. 186 Zum Begriff des ›Brauchens‹ bzw. des, wie Heidegger formuliert, ›Brauch‹ oder des χρεών vgl. auch HGA 5, 362–373.

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P. H.] alle Hilfe weg. Der Untergang ist ihm das tiefste und weiteste Ja zum Überwaltigenden.« (HGA 40, 172) Dieses ›Unerhörte‹ oder ›Überwältigende‹, dem das menschliche ›Wollen‹ desselben gleichwohl nicht standzuhalten vermöge, trete allererst im ›Untergang‹ des menschlichen Daseins hervor. Nur insofern sei das Dasein ›Stätte der Offenheit‹ des ersteren. Dabei kommt diesem ›Untergehen‹ auf den ersten Blick eine ähnliche Funktion wie der Prätention des ›Lassens‹ Ende der zwanziger Jahre zu, nämlich eine Selbstzurücknahme des Daseins zugunsten eines Hervortretens des ihm gegenüber Anderen – mit dem bezeichnenden Unterschied allerdings, dass dieses Zurücknehmen nun als explizit Willentliches verstanden wird sowie mit der paradoxen Situation konfrontiert ist, um mit Schelling zu sprechen, ›an seiner eigenen Vernichtung arbeiten‹ zu müssen, obgleich es doch gerade die Ermöglichungsbedingung jenes Hervortretens des ›Unerhörten‹ ist. Diese Problematik zeigt sich gerade in der folgenden zusammenfassenden Bemerkung Heideggers: Als die Bresche für die Eröffnung des ins Werk gesetzten Seins im Seienden ist das Dasein des geschichtlichen Menschen ein Zwischen-fall, der Zwischenfall, in dem plötzlich die Gewalten der losgebundenen Übergewalt des Seins aufgehen und ins Werk als Geschichte eingehen. (HGA 40, 172)

Zwar dürfte die Rede von der »Plötzlichkeit«, von der »die Griechen ein tiefes Ahnen« gehabt hätten, vor allem auf das platonische Motiv des ἐξαίφνης anspielen. 187 Doch liegt in der Beschreibung des ›Daseins des geschichtlichen Menschen‹ als ›Zwischenfall‹ noch eine weitere Bedeutungsnuance – nämlich die eines nicht intendierten, im Blick auf das Eigentliche alsbald zu überwindenden Vorfalls. Gleichwohl wird diese Problematik einer Degradierung des ›Daseins‹ zu einem bloßen ›Zwischenfall‹ von Heidegger auch wieder teilweise zurückgenommen, wenn er betont, dass »[i]n solchem Zurückschrecken und doch Bewältigenwollen […] für Augenblicke die Möglichkeit aufblitzen [muß], daß die Bewältigung des Überwaltigenden dann am sichersten und völlig erstritten wird, wenn dem Sein […] schlechthin die Verborgenheit gewahrt und so in gewisser Weise jede Möglichkeit des Erscheinens versagt wird.« (HGA 40, 185) Insofern für den Heidegger der dreißiger Jahre das Sein generell dadurch gekennzeichnet ist, dass es zwischen Offenheit und Entzug changiert 187

Vgl. Platon, Siebter Brief, 341c7 u. Symposion, 210e4.

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und letztlich nur der Entzug dessen Unverfügbarkeit garantiert, 188 so kann er das ›Unerhörte‹ und ›Überwältigende‹ des Seins gerade auch in dessen ›Verborgenheit‹ situieren, die dann auch das ›Bewältigenwollen‹ desselben durch das menschliche Dasein nicht sogleich negieren muss. Gleichwohl wird eine mögliche Angemessenheit dieses Wollens, das zum intendierten Ziel führen würde, dabei generell fragwürdig, insofern die Rede von einem ›Bewältigenwollen‹ angesichts eines unverfügbaren Entzugs des Seins inadäquat erscheint, und somit ist es nicht mehr weit hin zu einer grundsätzlichen Kritik des Wollens.

5.2. Die in Hölderlin ›eingezeichnete‹ Pluralität von Wollen und ›Lassen‹ Doch lässt sich in Heideggers ›Denkweg‹ der ersten Hälfte der dreißiger Jahre bei näherem Hinsehen nicht generell eine solch eindeutige Entwicklungslinie einzeichnen. Vielmehr ist Heideggers Philosophieren in dieser Zeit durch einen gleichsam experimentellen Gestus gekennzeichnet, der auf der einen Seite, wie gesehen, selbst problematische Tendenzen nicht ausschließt, auf der anderen Seite aber auch in einem gewissen Maße die dem Wollen eigentümliche Vielfältigkeit auslotet, wie vor allem die der Metaphysik-Vorlesung unmittelbar vorausgegangene Hölderlin-Vorlesung vom Wintersemester 1934/ 35 zeigt. 189 Obgleich in den beiden darin behandelten Gedichten Hölderlins, nämlich Germanien und Der Rhein, keineswegs weder explizit noch implizit ausführlich und in der Hauptsache vom Wollen die Rede ist, 190 geht Heidegger auffälligerweise vor allem im zweiten, dem Rhein gewidmeten Teil der Vorlesung auf zahlreiche Facetten des Wollens ein – so etwa auf das ›Wissenwollen‹ (vgl. HGA 39, 65, 100 u. 187), den ›Überwillen‹ (vgl. HGA 39, 208–210, 230 u. 245), das ›Zurückwollen‹ (vgl. HGA 39, 235, 266 u. 273), den ›Wider-‹ und ›Gegenwillen‹ (vgl. HGA 39, 205, 207 u. 234 f.) sowie den ›Eigenwillen‹ (vgl. HGA 39, 207, 233 u. 235) und das ›Nichthören-‹ oder ›Über-

Vgl. hierzu genauer Höfele 2016b und unten, Teil IV, Kap. 6.2. Vgl. zu Heideggers Hölderlin-Deutungen v. a. Helting 1999 u. Trawny 2004. 190 In Der Rhein ist vom ›Wollen‹ explizit nur in den vv. 36, 76, 119 u. 151 die Rede (vgl. StA 2,1, 143–146); in Germanien sogar nur an zwei Stellen in den vv. 5 u. 19 (vgl. StA 2,1, 149). 188 189

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hörenwollen‹ (vgl. HGA 39, 197 u. 200), aber auch auf das ›Nichtsmehrwollen‹ und ›Nichtwollen‹ (vgl. HGA 39, 97 u. 208), um nur die häufigsten Erscheinungsformen desselben zu nennen. So bemerkt Heidegger im Zuge der Auslegung des Begriffes des ›Schicksals‹, der mehrmals in Der Rhein unter anderem in Bezug auf die ›Halbgötter‹ und ›Göttersöhne‹ auftaucht: Was da Schicksal heißt, das ist dichterisch im Durchdenken des Seyns der Halbgötter zu sagen und damit, ins Wort gehüllt, das so enthüllte Seyn in die Wahrheit des Volkes, also in seinen wissenden Willen, hineinzustellen, d. h. dieses Seyn zu stiften. Das ist der innere Wille dieses Gedichtes. (HGA 39, 173)

Schon ganz im Sinne des Kunstwerk-Aufsatzes (vgl. v. a. HGA 5, 63– 66) wird hier als der ›innere Wille‹ des Gedichtes die ›Stiftung‹ oder auch ›Enthüllung des Seyns‹ verstanden, das es als ›enthülltes‹ wiederum in den ›wissenden Willen‹ des Volkes ›hineinzustellen‹ gelte – gleichsam als Orientierung für einen Kollektivwillen, der auch hier als in sich einheitlich und uniform verstanden wird. Auch in dieser Vorlesung tritt mithin wieder die Tendenz Heideggers hervor, den Einzelwillen in ein größeres Ganzes aufzulösen, in dem jener erst – so die nicht unproblematische Annahme – zu seiner ihm angemessenen Verwirklichung und Bestimmung gelange. Dies ist insbesondere den heideggerschen Ausführungen zum ›Widerwillen‹ abzulesen, auf den er im Zuge seiner Deutung der Verse 38–41 191 des Gedichtes Der Rhein zu sprechen kommt. Im Blick auf das ›Abknicken‹ der »ursprüngliche[n] Stromrichtung« des hier als ›Halbgott‹ personifizierten Rheines, auf das in der dritten Gedichtstrophe angespielt wird, bemerkt dabei Heidegger: Doch der Bruch wird dem Entsprungenen nicht zu einem Zerbrechen. Dergleichen müßte der Bruch werden, wenn das Entsprungene auf seine anfängliche Richtung sich nur versteifte und fortan in reinem Widerwillen sich abdrängen ließe. Solcher Widerwille wäre das Sichversteifen auf das bloße Wünschen, was nicht nur nutzlos ist, sondern was vor allem um die Aneignung des eigentlichen Seyns betrügt. (HGA 39, 205)

Der mögliche ›Wunsch‹ nach einem Weiterfließen in die ursprüngliche Richtung – entgegen der durch die äußere Umgebung vorgegebenen Richtungsänderung – wird hier als ein ›Sichversteifen‹ in 191 Hölderlin, Der Rhein, vv. 38–41 (StA 2,1, 143): »Doch unverständig ist / Das Wünschen vor dem Schiksaal. / Die Blindesten aber / Sind Göttersöhne.«

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einem ›reinen Widerwillen‹ verstanden, was ›nutzlos‹ sei und die ›Aneignung des eigentlichen Seyns‹ oder Wesens verhindere. Diesem ›nutzlosen Widerwillen‹ wird daher der nunmehr positiv konnotierte ›Eigenwille‹ oder ›Widerwille‹ des Rheins gegenübergestellt: Je höher der Ursprung, um so ursprünglicher, und das heißt weitgreifender und umfassender der Eigenwille. Dieser allein aber kann Widerstand bieten und als Widerwille den Bereich eines Zusammenstoßes und so den Umkreis einer Gefahr schaffen und damit die Voraussetzung, das Widerfahrene in den Gegenwillen aufzunehmen, d. h. aber: ein Seyn zu erleiden und so in eine Schickung sich je zu schicken, Schicksal zu sein. (HGA 39, 207)

Insofern dieser Wille ›weitgreifender und umfassender‹ sei, habe er die Möglichkeit, ›das Widerfahrene in den Gegenwillen aufzunehmen‹. Diese Fähigkeit zur produktiven, das Handeln nicht lähmenden Integration auch noch des schicksalhaft Widerfahrenden fasst Heidegger dabei in der Formel zusammen, dass der solcherart Wollende sogar dahin gelange, ›Schicksal zu sein‹. Wenn Heidegger des Weiteren Hölderlins Worte, dass der »Fehl« der ›Göttersöhne‹ lediglich sei, »daß sie nicht wissen wohin«, 192 mit einer ›Überfülle der Bestimmung‹ oder des ›Vermögens‹ in Verbindung bringt, die an die Beschreibung der ›ewigen Freiheit‹ in Schellings Weltaltern erinnert, und diesen ›nichtwissenden‹ Willen sogar noch als einen ›Überwillen‹ versteht, so dürfte Heidegger hier bereits die ersten ›Früchte‹ seiner Nietzsche-Lektüre einbringen: Das Nichtwissen der Halbgötter […] entspringt nicht der Ratlosigkeit einer Leere, der Öde einer Erschöpfung des Nichtwollens, sondern der Überfülle der Bestimmung, der Maßlosigkeit des noch unbeherrschten Vermögens. Ihr Wille ist Überwille. (HGA 39, 208)

Auch Nietzsche führt ja bekanntlich den ›Willen zur Macht‹ im Zarathustra mit der Figur eines ›Über‹-etwas-Hinausgehens in Gestalt der ›Selbst-Überwindung‹ und insbesondere des ›Übermenschen‹ eng. 193 Selbst wenn in Hölderlins Gedicht bereits ein Gegensatz zwischen den ›Göttersöhnen‹ einerseits sowie dem Menschen und dem Tier andererseits angelegt ist, so nähert sich Heidegger doch vor allem in der Hinsicht Nietzsche an, dass er jenem ›Überwillen‹ zugleich das »unverständige Wünschen vor dem Schicksal« in der 192 193

Hölderlin, Der Rhein, v. 44 (StA 2,1, 143). Vgl. Z II, »Von der Selbst-Ueberwindung«, KSA 4, 146–149.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

»Art jener« gegenüberstellt, »die auf Berechnung und Übersehbarkeit aus sind und in der Sicherheit des Fraglosen ihr Sein dahinbringen« (HGA 39, 209), dass er also eine Kluft zwischen, mit Nietzsche gesprochen, ›Übermenschen‹ und ›letztem Menschen‹ aufmacht, »der Alles klein macht«. 194 Insbesondere ist es aber Nietzsche, der den eigentlichen, »schaffende[n] Wille[n]« mit dem Wollen des Schicksals in Verbindung bringt. 195 Genauso wie es in der Vorlesung aber mit Blick auf die angesprochenen voluntativen Momente augenfällig ist, dass Heidegger hier nicht allein Hölderlin auslegt, sondern auch andere Motive in ihn hineinliest und in nur losem Anschluss an ihn entwickelt, in derselben Weise kann man auch nicht Nietzsches Willensreflexionen als alleinige Inspirationsquelle für die Ausführungen zum Wollen 1934/35 zugrundelegen – ließe sich doch auch beim ›mittleren‹ Schelling eine ähnliche Forderung nach einem Auflösen des Eigenwillens in einen höheren Willen beobachten. 196 Des Weiteren kennt auch Schelling, in dessen von Heidegger intensiv gelesener Freiheitsschrift die Rede von einem ›Eigenwillen‹ ja gerade in prominenter Weise präsent ist, den Gedanken einer sich gegenseitig ›herausfordernden‹ Pluralität an Willensformen. 197 Darauf kommt Heidegger auch an späterer Stelle der Vorlesung zu sprechen, an der er nochmals in ähnlicher Weise wie an der oben zitierten Stelle auf die nicht intendierte Änderung der Stromrichtung eingeht: Wäre nicht der Gegenwille, der den Eigenwillen in sich aufbäumen und in sich ständig zurückströmen machte, dann bliebe es bei einem bloßen Ausströmen, Auslaufen der Quelle und dem Fortlaufen von ihr. (HGA 39, 235)

Nicht zuletzt ist gerade auch auffällig, wie Heidegger bei seiner Interpretation von Vers 5 des Gedichtes Germanien 198 das ›Nichtsmehrwollen‹ und die ›Liebe‹ in einer großen Nähe zu Schelling interpretiert:

ZA I, »Vorrede« 5, KSA 4, 19. Z II, »Auf den glückseligen Inseln«, KSA 4, 111: »solches Schicksal gerade – will mein Wille.« Vgl. dazu Figal 2001, 216–225. 196 Vgl. oben, Teil II, Kap. 1.1.3, Kap. 2.3.2 u. Kap. 4.3.2. 197 Vgl. insbes. Teil II, Kap. 1.1. 198 Hölderlin, Germanien, v. 5 (StA 2,1, 149): »Des Herzens Liebe klagt, was will es anders«. 194 195

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Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik

Daß dieses Nichtsmehrwollen in einer Hinsicht zugleich und wesensmäßig höchstes Wollen in anderer Hinsicht bleibt und wird, das sagt die zweite Strophe [des Gedichtes Germanien, P. H.]. Deshalb bringt sie eine weitere wesentliche Entfaltung der Grundstimmung der Dichtung. Hier und dort ein Wille, jener Wille, daß das Gewollte sei, wie es ist. Dieses Wollen ist das Wesen der Liebe, von der gesagt ist (V. 5), daß sie klagt. (HGA 39, 97)

Ohne dass das Zitat hier genauer in seinem Zusammenhang interpretiert werden soll, sei hier nur auf Folgendes hingewiesen: Ähnlich wie schon zu Ende von Heideggers Schelling-Seminar von 1927/28 ein Insistieren auf der zwischen Wollen und ›Lassen‹ changierenden ›Liebe‹ beobachtet werden konnte, 199 so wird auch hier, ohne dass der hölderlinsche Text dies nahelegen würde, das ›Nichtsmehrwollen‹ zugleich als ›höchstes Wollen‹ sowie als ›Wesen der Liebe‹ aufgefasst – in Analogie zu Schellings Aussage, dass der ›Wille der Liebe‹ oder einfach die »Liebe […] das Höchste« darstelle (AA I,17, 170). Diese differenzierte und facettenreiche Auffassung von Wollen und Wille, die Heidegger gerade im Wintersemester 1934/35 an Hölderlin und möglicherweise inspiriert durch seine Nietzsche- und Schelling-Lektüre entwickelt, verliert sich hingegen bei Heidegger in den Folgejahren, wenn er nun das Wollen des Subjekts immer stärker in einen Gegensatz zu einem geforderten ›Lassen‹ und ›Sicheinlassen‹ rückt. Diese zu beobachtende Korrektur in der Interpretation des Wollens lässt sich vor allem anhand einer Passage in den 1935/36 gehaltenen Vorträgen zum Ursprung des Kunstwerkes sowie bezüglich eines Nachtrages zur Metaphysik-Vorlesung feststellen. In der betreffenden Passage des Kunstwerk-Aufsatzes kommt Heidegger auf die »Verhaltenheit des Verweilens« beim Betrachten eines Kunstwerkes zu sprechen, das »das Geschaffene erst das Werk sein [lässt], das es ist.« (HGA 5, 54) Heidegger insistiert hier gerade auf der Formulierung »das Werk ein Werk sein lassen«, was er als »Inständigkeit der Bewahrung« versteht, die wiederum als ein »Wissen« aufzufassen sei (HGA 5, 54 f.). Dieses gleichsam rezeptionsästhetische ›Wissen‹ gehe aber immer zugleich auch mit dem praktischen Aspekt einer Bestimmtheit des eigenen ›Wollens‹ einher. Denn, so Heidegger,

199

Vgl. oben, Teil IV, Kap. 4.2.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

[w]er wahrhaft das Seiende weiß, weiß, was er inmitten des Seienden will. Das hier genannte Wollen, das weder ein Wissen erst anwendet, noch zuvor beschließt, ist aus der Grunderfahrung des Denkens in »Sein und Zeit« gedacht. Das Wissen, das ein Wollen, und das Wollen, das ein Wissen bleibt, ist das ekstatische Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins. Die in »Sein und Zeit« gedachte Ent-schlossenheit ist nicht die decidierte Aktion eines Subjekts, sondern die Eröffnung des Daseins aus der Befangenheit im Seienden zur Offenheit des Seins. In der Existenz geht jedoch der Mensch nicht erst aus einem Innern zu einem Draußen hinaus, sondern das Wesen der Existenz ist das ausstehende Innestehen im wesenhaften Auseinander der Lichtung des Seienden. Weder in dem zuvor genannten Schaffen, noch in dem jetzt genannten Wollen ist an das Leisten und an die Aktion eines sich selbst als Zweck setzenden und anstrebenden Subjektes gedacht. Wollen ist die nüchterne Ent-schlossenheit des existierenden Übersichhinausgehens, das sich der Offenheit des Seienden als der ins Werk gesetzten aussetzt. (HGA 5, 55)

Auf den ersten Blick setzt Heidegger hier das Wollen mit der ›Entschlossenheits‹-Konzeption aus Sein und Zeit gleich, womit er die oben aufgezeigte Ambivalenz dieser Konzeption eindeutig zu entscheiden scheint. 200 Doch ist das ›Übersichhinausgehen‹ keineswegs wie der ›Überwille‹ 1934/35 im nietzscheanischen Sinne zu verstehen, sondern vielmehr – wie auch bereits das es charakterisierende Adjektiv ›existierend‹ andeutet – als Übersetzung des Begriffs ›Ekstase‹. Insofern kann Heidegger das ›Sich-der-Offenheit-Aussetzen‹ auch gerade als ›ekstatisches Sicheinlassen in die Unverborgenheit des Seins‹ deuten, das ausdrücklich keine ›dezidierte Aktion eines Subjekts‹ sei. Es gehe explizit nicht um ein ›Zwecke-Setzen‹ oder ›Zwecke-Anstreben‹, wie es doch gerade das Wollen kennzeichnet. Dass Heidegger hier jedoch in relativ kurzer Zeit eine Uminterpretation der ›Entschlossenheit‹ vornimmt und dabei das Wollen zugunsten eines ›Lassens‹ abwertet, zeigt in aller Deutlichkeit eine Passage aus der oben bereits angeführten Metaphysik-Vorlesung von 1935, der Heidegger noch eine in Klammern gesetzte Erläuterung »in den folgenden Jahren«, spätestens aber 1953 für die von ihm selbst besorgte Einzelausgabe der Vorlesung, beigefügt hat. 201 Darin Vgl. oben, Teil IV, Kap. 1.2. In der »Vorbemerkung« zur Erstausgabe der Vorlesung von 1953 bemerkt Heidegger bezüglich der Passagen in eckigen Klammern, zu der auch die im Folgenden zitierte gehört: »Das in eckigen Klammern Gesetzte enthält Bemerkungen, die in den fol200 201

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Heideggers Aufwertung des Willensparadigmas und dessen Tragik

erklärt Heidegger bezüglich der Frage »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« sowie mit Blick auf die zugehörige »Fragehaltung« und »fragende[…] Gesinnung«: Fragen ist Wissen-wollen. Wer will, wer sein ganzes Dasein in einen Willen legt, der ist entschlossen. Die Entschlossenheit verschiebt nichts, drückt sich nicht, sondern handelt aus dem Augenblick und unausgesetzt. Ent-schlossenheit ist kein bloßer Beschluß zu handeln, sondern der entscheidende, durch alles Handeln vor- und hindurchgreifende Anfang des Handelns. Wollen ist Entschlossensein. [Das Wesen des Wollens wird hier in die Ent-schlossenheit zurückgenommen. Aber das Wesen der Ent-schlossenheit liegt in der Ent-borgenheit des menschlichen Daseins fiir die Lichtung des Seins und keineswegs in einer Kraftspeicherung des »Agierens«. Vgl. Sein und Zeit § 44 und § 60. Der Bezug zum Sein aber ist das Lassen. Daß alles Wollen im Lassen gründen soll, befremdet den Verstand. Vgl. den Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« 1930.] (HGA 40, 23)

Das Zitat beinhaltet unverkennbar einen Bruch in der Argumentation, der, wenig verwunderlich, gerade an der Stelle auftritt, an der die Einfügung in Klammern beginnt. Vom Fragen als Wissen-Wollen ausgehend, wird nämlich zunächst die gänzliche Identifikation mit einem bestimmten Willen als Entschlossenheit gefasst, die – ganz kantisch und beinahe an die idealistische ›intelligible Tat‹ erinnernd – als ›durch alles Handeln vor- und hindurchgreifender Anfang des Handelns‹ weiter beschrieben wird. Die in Klammern gesetzte Passage schränkt die zuvor insbesondere durch das hervorgehobene ›ist‹ zum Ausdruck gebrachte Ineinssetzung von Wollen und Entschlossenheit zumindest ein, wenn es hier heißt, dass das ›Wesen des Wollens‹ in die Entschlossenheit ›zurückgenommen‹ werde. Die vorherige Betonung des Handelns wird denn auch in eine geradezu passive ›Ent-borgenheit des menschlichen Daseins für die Lichtung des Seins‹, in ein ›Lassen‹ gegenüber dem Sein ›umgebogen‹ und uminterpretiert, das ausdrücklich keine ›Kraftspeicherung des Agierens‹ bedeute. Über den Bruch kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Heidegger statt von ›Handeln‹ nun unter Rückgriff auf ein lateinisches Fremdwort von einem zurückzuweisenden ›Agieren‹ spricht. Heidegger selbst konstatiert abschließend daher mit Recht, dass dieses Gründen des Wollens im Lassen den Verstand ›befremden‹ muss. genden Jahren [d. h. den Jahren nach der Ausarbeitung der Vorlesung] eingefügt wurden.« (Heidegger 1953, o. S.) Die im Folgenden zitierte Passage (vgl. HGA 40, 23 / Heidegger 1953, 16) muss also zwischen 1935 und 1953 entstanden sein.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Auch wenn mithin wenig plausibel ist, dass die eingeklammerte Passage ›gleichzeitig mit dem Vorlesungstext entstanden‹ ist und sie auch noch 1953 eingefügt worden sein könnte, so ist es mit Blick auf die zuvor angeführte Stelle im Kunstwerk-Aufsatz von 1935/36 durchaus möglich, dass Heidegger sie bereits kurze Zeit später notiert hat. Sie legt einmal mehr offen, dass Heidegger Mitte der dreißiger Jahre bezüglich der Einschätzung des Wollens und seines Verhältnisses zum ›Lassen‹ unentschieden ist und mithin unterschiedliche ›Variationen‹ diesbezüglich gleichsam austestet. Dies ist selbst noch in der Vorlesung von 1941/42 zu Hölderlins Hymne Andenken zu beobachten, in der Heidegger mit Blick auf die ersten Verse 202 und die dortige Aussage des lyrischen Ich, eines ›Schiffers‹, den Heidegger mit dem Dichter gleichsetzt, auf das Phänomen der Liebe und insbesondere des ›Mitwollens‹ zu sprechen kommt, selbst wenn auch hier in der Hymne selbst an der betreffenden Stelle nicht von einem Wollen die Rede ist: Zur Liebe – in diesem Falle derjenigen des Schiffers zum Nordostwind – gehöre »das Mitwollen des Seienden, das uns im Wesen bestimmt und durchstimmt, auf daß es das Bestimmende sei, das es ist.« (HAG 52, 41) Insofern dieses ›Mitwollen‹ aber auf ein Seiendes sich richtet, von dem man etwa als gutem Fahrtwind abhängig ist, bringt es Heidegger wie 1935 mit einem ›Lassen‹ oder genauer ›Sicheinlassen‹ in Verbindung: »Das Mitwollen ist eher das Sich-ein- und -los-lassen in das Sein« – und weiter heißt es, erinnernd an den ›Überwillen‹ aus der früheren Hölderlin-Vorlesung, der selbst noch das schicksalhaft Begegnende in sich integrierte: »Das Mitwollen ist ein Müssen, aber ein Müssen, das außerhalb des mechanischen Zwanges sich ereignet und aus der offenen Zugehörigkeit zum Seyn stammt und in sie zurückkehrt. Diese Zugehörigkeit aber ist das innerste Wesen der Freiheit« (HGA 52, 41). Im Begriff des Willens sucht Heidegger hier also gerade jene auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Momente von Wollen und ›Lassen‹ zusammenzubringen. Heidegger geht hier, ähnlich fast wie Schelling, gleichsam am weitesten in seinem Willensdenken in Richtung einer Pluralisierung und Differenzierung von Wille und Wollen, wenn er im Zusammenhang der oben zitierten Passage nebenbei bemerkt: »Wort und Begriff ›Wollen‹ und ›Wille‹ schwanken in 202 Vgl. Hölderlin, Andenken, vv. 1–4 (StA 2,1, 188): »Der Nordost wehet, / Der liebste unter den Winden / Mir, weil er feurigen Geist / Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.«

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

mannigfachen Bedeutungen. In dem Willen, der will, daß das uns bestimmende Seiende sei, meint Wille nicht die nur selbst betriebene Erzwingung eines selbst errechneten Wunsches.« (HGA 52, 41) Diese Offenheit und Nicht-Festgelegtheit Heideggers – etwa auf einen Willensbegriff, der nur die ›selbst betriebene Erzwingung eines selbst errechneten Wunsches‹ meint, – ist auch anhand der Schelling-Vorlesung von 1936 zu verzeichnen. Wie gerade diese Vorlesung zeigt, verhält es sich Mitte der dreißiger Jahre derart, dass Heidegger wohl infolge einer Unentschiedenheit bezüglich der Deutung und Einstufung des Wollens auch der Gelassenheit eigentlich zukommende Momente dem Wollen zuschreibt oder mit diesem in Verbindung bringt, gleichzeitig aber auch schon bestimmte Willenstendenzen deutlich kritisiert und zu Motiven des Tragischen in Beziehung setzt.

6. In der ›Nähe der wahrhaft metaphysischen Bezüge zwischen Seyn und Werden‹: Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936 Heideggers im Sommersemester 1936 gehaltene Vorlesung mit dem Titel Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) stellt nicht allein das ausführlichste wie auch ambivalenteste Zeugnis von dessen Beschäftigung mit Schelling dar, sondern spiegelt zugleich auch Heideggers durchaus vielschichtiges Interesse an den Phänomenen von Willen und Wollen wider, das dabei aber von einer Unentschiedenheit hinsichtlich der Einschätzung dieser Phänomene getragen wird. 203 Möglicherweise schon infolge dieser Unentschiedenheit, die sich gerade auch im vorausgegangenen Kapitel gezeigt hat, geht Heidegger im Verlauf der Vorlesung zunächst nicht sosehr auf den Begriff des Wollens, sondern nur auf den damit gleichwohl in engem Zusammenhang stehenden Begriff der Freiheit ein, die er dabei ausdrücklich gegen die menschliche Willensfreiheit in Stellung bringt (Kap. 6.1). Erst im Zusammenhang seiner Aufzählung der idealistischen sowie des spezifisch schellingschen Freiheitsbegriffes geht Heidegger ausführlicher auf das Wollen ein. Dabei unterlässt er es nicht, zugleich auf die Verbindung zu der von ihm als ›Metaphysik des 203 Vgl. zur Vorlesung von 1936 insgesamt, die im Zusammenhang von Heideggers Schelling-Rezeption mit Abstand am häufigsten interpretiert wurde, v. a. die Beiträge in Hühn/Jantzen 2010 sowie die dort zu findende Literaturübersicht zu diesem Thema.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Bösen‹ bezeichneten Struktur und der dieser eigentümlichen, letztlich ›positiv‹ besetzten Tragik aufmerksam zu machen (Kap. 6.2). Gleichsam in Form einer Antizipation seiner späteren Schelling-Deutungen, insbesondere von 1941, kommt Heidgger gleichzeitig aber auch in kritischer Absicht auf den ›Willen zum System‹ zu sprechen, was am Ende der Vorlesung schließlich mit einer deutlichen Kritik an Schelling als einem Denker enggeführt wird, der zulasten eines adäquaten Seinsverständnisses auf einem ›Willen zum System‹ beharre (Kap. 6.3).

6.1. Von der Willensfreiheit zur ›Teilhabe an der Freiheit‹ des ›Seyns‹: Die Kontinuität von Schellings Denken im notwendigen ›Scheitern‹ an der nicht fassbaren ›Sache‹ seines Denkens Die eröffnenden Passagen der Schelling-Vorlesung von 1936 muten auf den ersten Blick mit ihren Ausführungen zu den geschichtlichen Ereignissen um 1809 eher wie eine Geschichtsvorlesung denn eine philosophische Vorlesung an. Untypisch ist diese Eröffnung gerade auch für Heidegger selbst, der etwa im Vorwort zu seinem 1961 herausgegebenen zweibändigen Nietzsche-Buch, das Vorlesungen aus eben dieser Zeit von 1936–1942 präsentiert, in genauem Gegensatz zur Schelling-Vorlesung schreibt, dass »der Name des Denkers« Nietzsche »für die Sache seines Denkens« (HGA 6.1, XI) stehe – und nicht primär für eine in ihren zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnende Person. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es Heidegger vor der Negativfolie der politischen Zeitgeschichte einerseits um die Betonung der Geistesgeschichte und deren Bedeutung für geschichtliche Entwicklungen geht, wie auch andererseits um die Anzeige eines philosophischen Grundgedankens schellingschen Philosophierens und damit gewissermaßen um die ›Sache‹ Schellings als solche, die sich in ihrer Neuartigkeit gerade nicht in einen geschichtlichen Kontext einordnen und aus diesem erklären lasse. Die einführenden Überlegungen kreisen um den Napoleon zugeschriebenen Satz: »Die Trauerspiele ›haben einer dunkleren Zeit angehört; was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal!‹« (HGA 42, 2) 204 Die Widerlegung des Satzes, die ohne 204 Vgl. das Zitat aus einem Gespräch vom 2. Oktober 1808 in Goethe 1909, 539. Vgl. zur Bedeutung der Figur Napoleons bei Schelling selbst und im Zuge von Heideggers

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

Zweifel zugleich eine Selbstkritik an Heideggers eigenen politischen Verirrungen des Jahres 1933 darstellen dürfte, wird in der Vorlesung in drei Schritten durchgeführt: (1) Zunächst geht es Heidegger darum nachzuweisen, dass nicht Politik und damit das unmittelbare Eingreifen in den geschichtlichen Verlauf das Eigentliche sei: »Nein, der Geist ist das Schicksal und Schicksal ist Geist« (HGA 42, 3), wie Heidegger mit einer beinahe hegelianisch anmutenden Wendung unter Bezugnahme auf den weiteren geschichtlichen Verlauf sowie unter Rekurs auf den Begriff der ›Bildung‹ als »wesentliches Wissen« betont, »das alle Grundstellungen des geschichtlichen Daseins durchgestaltet« und damit »jenes Wissen« darstellt, das die Voraussetzung jedes großen Willens ist« (HGA 42, 3). Heidegger ordnet mithin hier deutlich den praktisch-politischen Willen dem rein theoretischen Wissen als dessen Voraussetzung unter. (2) Doch diese Abgrenzung Heideggers gegenüber dem Napoleon zugeschriebenen Satz, mit der jener gerade die Bedeutung der 1809 erschienenen Freiheitsschrift gegenüber den äußeren politischen Ereignissen im Zuge der Napoleonischen Kriege herausstreichen will, erschöpft sich nicht in der Höherbewertung des Geistigen oder der Ideengeschichte gegenüber dem politischen Geschehen. Denn, so betont Heidegger zum Thema der Freiheitsschrift hinführend, »[d]as Wesen des Geistes aber ist die Freiheit« (HGA 42, 3), womit denn auch die Freiheit mit dem Schicksal identifiziert wird, insofern nach Heidegger ja Geist und Schicksal eins sind. Heidegger weist mit dieser Gleichsetzung von Schicksal und Freiheit nicht nur eine Nivellierung des Schicksalsbegriffes zugunsten der Politik klar zurück, sondern bezieht zugleich auch gegen einen von aller schicksalhaften Gebundenheit losgesprochenen Begriff der Autonomie menschlichen Handelns Stellung. Mit Schelling sieht Heidegger die Freiheit als eine dem Menschen gleichsam ›schicksalhaft‹ vorgeordnete Struktur an. So bemerkt er bei der Kommentierung des Titels Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit, diesem nur scheinbar widersprechend, dass darin nicht die »Frage der Willensfreiheit« verhandelt werde, »ob der menschliche Wille frei oder unfrei sei und wie das hinreichend überzeugend bewiesen werden kön-

Auslegung der Freiheitsschrift Carrasco-Conde 2012. Vgl. zur Bedeutsamkeit des geschichtlichen Kontextes der Freiheitsschrift zudem Hennigfeld 2001, 3 f.; Knatz 1993, 471 f. u. 476.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

ne.« (HGA 42, 14 f.) 205 Es gehe nicht um die Freiheit als eine »Eigenschaft des Menschen, sondern umgekehrt«: Der Mensch gilt allenfalls als Eigentum der Freiheit. Freiheit ist das umgreifende und durchgreifende Wesen, in das zurückversetzt der Mensch erst Mensch wird. Das will sagen: Das Wesen des Menschen gründet in der Freiheit. Die Freiheit selbst aber ist eine alles menschliche Seyn überragende Bestimmung des eigentlichen Seyns überhaupt. Sofern der Mensch als Mensch ist, muß er an dieser Bestimmung des Seyns teilhaben, und der Mensch ist, soweit er diese Teilhabe an der Freiheit vollzieht. (HGA 42, 15)

Auch wenn es ein spezifisch heideggerischer Gedanke ist, dass Freiheit, verstanden als das Freigebende, auf die Unverborgenheit als ›Bestimmung des eigentlichen Seyns‹ hin zu interpretieren ist, so trifft Heidegger mit dieser Ausweitung des Freiheitsbegriffes in der Tat zugleich auch einen Schelling spätestens seit seinem System von 1800 206 eigentümlichen Gedanken, auch wenn Schellings Weltalter zufolge die ›wahre‹ oder ›die ewige Freiheit‹ »über dem Seyn wohn[e]« (WA I, 14) und mithin gerade nicht mit dem ›Seyn‹ gleichzusetzen sei. Dies hat jedoch insbesondere mit der trotz der Homonymie unterschiedlichen Semantik der ›Seyns‹-Begriffe beider Autoren zu tun. 207 Ohne Zweifel weiten sowohl Heidegger als auch Schelling den Freiheitsbegriff über den Menschen hinaus aus. So liest man noch in Schellings Urfassung der Philosophie der Offenbarung ganz in diesem Sinne: »Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes« (Schelling 1831/32, 79). 208 Mit dieser gleichsam anthropozentrischen Entklammerung des Freiheitsbegriffes und der damit einhergehenden Desavouierung der ›Frage der Willensfreiheit‹ als Frage intendiert Heidegger dabei ein zweifaches: Indem Schellings »Untersuchung von der menschlichen Freiheit handelt«, zeige dieser zum einen lediglich an, »daß sie [die Untersuchung, P. H.] von einer bestimmten Art der Freiheit als dem Wesen des eigentlichen Seyns überhaupt handelt« – nämlich dem »Wesen des eigentlichen Seyns als Wesen des Grundes für das SeienVgl. auch HGA 42, 26 u. HGA 73.1, 731. So heißt es im System des transscendentalen Idealimus von 1800, dass das »Seyn überhaupt […] nur Ausdruck einer gehemmten Freyheit« sei (AA I,9,1, 70). 207 Vgl. dazu genauer unten, Teil IV, Kap. 6.2. 208 Vgl. auch die leicht abgewandelte Formulierung in der Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 256: »Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge.« 205 206

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

de im Ganzen« (HGA 42, 15). Heidegger legt derart den Akzent gerade auf den zweiten Teil des Titels: und die damit zusammenhängenden Gegenstände, mit dem Schelling zugleich den »weitesten Zusammenhang«, nämlich den des ›Seyns‹ und des Grundes des Seienden im Ganzen, anspreche, wenn auch »nur ganz von außen her« im Nachsatz des Titels (HGA 42, 16). Bei der Auslegung der ersten Abschnitte der Freiheitsschrift zeigt sich nach Heidegger denn auch, dass die »zunächst getrennten Aufgaben der Untersuchung, Umgrenzung des Begriffes [der Freiheit, P. H.] und die Einfügung [desselben, P. H.] in die wissenschaftliche Weltansicht […] im Grunde eine« sind (HGA 42, 34). Denn nach Schelling stellt der Begriff der Freiheit »einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems« dar (AA I,17, 111), und die Frage nach der Freiheit zielt mithin notwendig auf das Ganze ab. 209 Doch geht Heidegger zum anderen sogar noch weiter, wenn er meint, »durch die Auslegung der Schrift über die Freiheit erfahren« zu können, »[w]as dieses lange Leben [Schellings, P. H.] eigentlich getragen, erfüllt und immer wieder zu neuen Anläufen fortgerissen hat« (HGA 42, 11). Heidegger zeichnet derart eine Kontinuität in das Philosophieren Schellings ein, der wie »selten ein Denker so leidenschaftlich seit seiner frühesten Zeit um seinen einen und einzigen Standort kämpfte« (HGA 42, 10) – einen ›einzigen Standort‹, den Heidegger, wie der Vorlesungsverlauf zeigt, gerade in der Verhältnisbestimmung jener ausgeweiteten Freiheit zum Systembegriff einerseits sowie zur spezifisch menschlichen Freiheit zum Guten und Bösen andererseits ausmacht. Dem Vorwurf einer ›proteushaften‹ Gestalt 210 des schellingschen Philosophierens, dass dieser »fortgesetzt seinen Standpunkt geändert habe« (HGA 42, 10), begegnet Heideg209 Indem Heidegger derart bei Schelling die Frage nach der menschlichen Freiheit nicht als eine periphere ansieht, nimmt er die Freiheitsschrift zugleich gegen Hegels Kritik in Schutz, dass die »Abhandlung über die Freiheit«, wie er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte schreibt, zwar von »tiefer spekulativer Art« sei, gleichzeitig aber »nur diesen einen Punkt« betreffe (GeschPh III, TWA 20, 444; vgl. auch GeschPh III, TWA 20, 453). Gegen diesen Vorwurf verteidigt Heidegger Schelling dergestalt, dass dieser ›eine Punkt‹, nämlich das Thema der Freiheit, bei Schelling den »Wesensgrund des Ganzen« betreffe und zugleich »neuer Grund einer ganzen Philosophie« sei: »Hegel sah nicht, daß eben dieses Einzelne, die Freiheit, für Schelling nichts einzelnes war, sondern als der Wesensgrund des Ganzen, als ein neuer Grund einer ganzen Philosophie gedacht und entfaltet war« (HGA 42, 21). 210 Vgl. dazu bereits Wagner 1804, XXXIII–XXXXV u. bes. Noack 1859, Bd. 2, 8 passim. Vgl. hierzu auch Schwab 2018b.

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ger dabei in der Weise, dass er die Wandlungen und ›Kehren‹ in Schellings Denken als Folge oder genauer ›Kehrseite‹ des ›einen Gedankens‹ seines Philosophierens interpretiert, der in einem geschlossenen System nicht zu fassen ist. So habe Schelling – wie Heidegger im Rekurs auf dessen Erlanger Vorlesung und das dortige Wortfeld des ›Lassens‹ betont (vgl. HGA 42, 10 mit Verweis auf SW IX, 217 f.) – immer wieder von der definitiven, systematischen Gestalt eines in sich abgeschlossenen Hauptwerkes ›lassen‹, es immer wieder hinter sich ›lassen‹ müssen, um – paradox gesprochen – seine ›Sache‹ oder seinen Grundgedanken zur Darstellung bringen zu können: »Schelling […] mußte immer wieder alles loslassen und immer wieder dasselbe neu auf einen Grund bringen« (HGA 42, 10). 211 Heidegger zufolge begründet dieses ›Selbe‹, das Schelling beständig zu denken und unter unterschiedlichsten Gestalten zur Darstellung zu bringen suchte, denn auch nicht nur die Kontinuität in Schellings Philosophieren, sondern zugleich auch dessen tragisches ›Scheitern‹. (3) Die mit der Abgrenzung gegenüber dem napoleonischen Satz vollzogene Zurückweisung der Priorität der politisch-praktischen Dimension, genauer der Handlungs- wie auch der Willensfreiheit, verschafft sich insofern auch noch auf einer dritten Ebene bei Heidegger Geltung: nämlich in Form eines von Heidegger 1936 auf gleich mehreren Ebenen und in mehrfachem Sinne diagnostizierten tragischen ›Scheiterns‹ bei Schelling, das ein gleichsam passives Widerfahrnis dieses Denkers beschreiben soll. Das Scheitern ist indessen nach Heidegger keineswegs als etwas Auswegloses und Letztes zu verstehen. 212 Denn, wie Heidegger auch schon in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre und insbesondere in der Metaphysik-Vorlesung von 1935 betont hatte, birgt dieses tragische ›Scheitern‹ Potentiale in sich, die er als Momente der eigenen Frage nach dem Sein anspricht. Dabei löst Heidegger aber nun, wie gesehen, ausdrücklich dieses ›Scheitern‹ 211 Unmittelbar danach zitiert Heidegger SW IX, 218 f.: »Also selbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will. Hier heißt es: Wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden. Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglichen.« 212 Vgl. hierzu auch Warnek 2005; Schwab 2015. Vgl. außerdem insbes. Höfele 2016b, worauf in den folgenden Überlegungen zu Heideggers Rede von einem dreifachen ›Scheitern‹ Schellings teilweise zurückgegriffen wird, wenn auch die dortige These hier in einen weiteren Kontext eingeordnet und dabei leicht modifiziert wird.

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

von allen politisch-praktischen Kontexten ab und rückt es sogar in ein Gegensatzverhältnis zu diesen. So sieht Heidegger unmittelbar zu Beginn der Vorlesung ein Scheitern Schellings gerade in dessen fast gänzlichem »schriftstellerischen Schweigen[…]« (HGA 42, 5) nach Abfassung der Freiheitsschrift. Doch dieses Scheitern werfe nicht nur ein Licht »auf die Schwierigkeit und Neuartigkeit des Fragens«, sondern vielmehr noch »auf das klare Wissen des Denkers um all dieses« (HGA 42, 5). 213 Schelling ist insofern, wie Heidegger in einer Korrektur des traditionellen Dreischrittes ›Fichte – Schelling – Hegel‹ betont, »der eigentlich schöpferische und am weitesten ausgreifende Denker dieses ganzen Zeitalters der deutschen Philosophie« – und zwar in einem solchen Maße, »daß er den Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaustreibt« (HGA 42, 6; vgl. auch HGA 42, 168 f.). Schelling musste denn auch, wie Heidegger erläutert, »am Werk scheitern, weil die Fragestellung bei dem damaligen Standort der Philosophie keinen inneren Mittelpunkt zuließ« (HGA 42, 6; vgl. auch HGA 42, 17 f.). Schellings Scheitern wird mithin in erster Linie auf eine Zeitgebundenheit seines Fragens zurückgeführt, ohne dass dies im Blick auf eine sich ständig überbietende Philosophiegeschichte etwa negativ konnotiert wäre. Schelling, den Heidegger gerade in Abgrenzung zu Hegel als einen sich von sich selbst distanzierenden Idealisten würdigt, erfährt darin eine Aufwertung, die ihn nicht nur zum entscheidenden Gesprächspartner Heideggers im Idealismus erhebt, sondern ihn zugleich auch noch zum Vordenker des heideggerschen Seinsdenkens stilisiert. In der Konsequenz dessen liegt denn auch, dass das Scheitern Schellings für Heidegger nichts weniger als das »Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs« ist (HGA 42, 5), den gleichwohl erst Heideggers eigenes Philosophieren angemessen zur Sprache bringe.

213 In seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1841/42, die Heidegger in der 1843 von H. E. G. Paulus edierten Nachschrift theoretisch zugänglich war, nimmt Schelling eine ganz analoge Deutung dieses ›Schweigens‹ vor: »Durch mein Schweigen ließ ich der andern Richtung [nämlich der positiven Philosophie, P. H.] Freiheit, sich zu entwickeln« (Schelling 1841/42, 138).

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

6.2. Die interne Spannung in Schellings Freiheitsbegriffen und die ›Metaphysik des Bösen‹: Das ›Scheitern‹ jeder Philosophie Inwiefern Schelling den Idealismus über sich selbst hinaustreibt und damit auf ein ›ganz Anderes‹ vorausweist, erläutert Heidegger ausgehend von Schellings Frage, wie die menschliche Freiheit »mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht« (SW VIII, 336; vgl. HGA 42, 24) und somit – wie Heidegger hinzufügt – »mit dem Seienden im Ganzen« (HGA 42, 33) zusammen bestehen könne. In ausdrücklichem Gegensatz zu Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Schellings Abhandlung von 1809 als etwas unbedeutendes »Einzelnes« – obgleich »von tiefer, spekulativer Art« – bezeichnet (GeschPh III, TWA 20, 453), 214 geht es Heidegger von Anfang der Vorlesung an darum, das Revolutionäre und Folgenreiche dieser Abhandlung für den gesamten Idealismus zu betonen, insofern Schelling darin versuche die spezifisch menschliche Freiheit mit dem philosophischen System 215 in Gestalt eines »System[s] der Freiheit« zu vereinen (HGA 42, 36 passim). Denn mit Ausnahme Schellings habe der Idealismus es versäumt, den »lebendige[n] Begriff der menschlichen Freiheit« (HGA 42, 166) in die idealistischen Systementwürfe zu integrieren. Der Idealismus habe mit seinem Verständnis von »Freiheit als eigenständiges Sichbestimmen aus dem Wesensgesetz […] nur den formellen Begriff der Freiheit« aufgewiesen und außerdem lediglich einen »Begriff des Menschen als das vernünftige Ich« vorausgesetzt (HGA 42, 166). Da jedoch nach Heidegger gerade »das Wesen des Menschen der Bestimmungsort für die Wesensbestimmung des Seyns« ist, 216 so muss das Fehlen einer adäquaten Bestimmung der dem Menschen wesentlichen Freiheit es grundsätzlich verhindern, »das Prinzip der Systembildung« ange-

214 Vgl. auch ähnlich GeschPh III, TWA 20, 444. Vgl. die Erwähnung dieser Passage in HGA 42, 21. 215 Verschärft wird diese Frage der Vereinbarkeit von Freiheit und System hierbei noch durch die These Jacobis wie auch Schlegels, wonach, wie sie Heidegger reformuliert, »der Pantheismus als die einzig mögliche Form des Systems […] Fatalismus« sei (HGA 42, 115; vgl. auch Jacobi 1785/1789, bes. 143 u. Schlegel 1808a, 243). Schelling folgend, der diese These einleitend in der Freiheitsschrift ausführlich diskutiert (vgl. AA I,17, 113–129; vgl. auch oben, Teil II, Kap. 1.1.1), geht daher auch Heidegger im ersten Abschnitt der Vorlesung ausführlich hierauf ein (vgl. HGA 42, 114–143), was hier aber mit Blick auf unsere Fragestellung vernachlässigt werden kann. 216 Vgl. dazu genauer Höfele 2016b, bes. 269 u. 275–277.

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

messen festzulegen und »die Frage nach dem Seyn überhaupt ursprünglich genug zu entfalten« (HGA 42, 166). Dabei verhält es sich in Heideggers Augen aber nicht so, dass alle vorherigen, (vor-)idealistischen Freiheitsbegriffe und insbesondere der nach Schelling als ›formell‹ bezeichnete gänzlich zurückzuweisen sind. Vielmehr ist es nach Heidegger gerade das wechselseitige Spannungsverhältnis dieser Freiheitsbegriffe, das allein Schelling ›die Frage nach dem Seyn überhaupt ursprünglich genug entfalten‹ lässt. Um dies zu zeigen, führt Heidegger zunächst fünf verschiedene Freiheitsbegriffe an: 1. Freiheit als Selbstanfangenkönnen 2. Freiheit als Ungebundenheit, Freiheit von (negative Freiheit) 3. Freiheit als Sichbinden an, libertas determinationis, Freiheit zu (positive Freiheit) 4. Freiheit als Herrschaft über die Sinnlichkeit (uneigentliche Freiheit) 5. Freiheit als Selbstbestimmung aus dem eigenen Wesensgesetz (eigentliche Freiheit), formeller Begriff der Freiheit; er schließt alle vorigen Bestimmungen in sich. (HGA 42, 152 f.)

Heidegger zufolge ist nur der deutsche Idealismus, beginnend mit Kant, zu jenem fünften, alle vorigen Freiheitsbegriffe integrierenden Konzept von Freiheit vorgedrungen. Unter Bezugnahme auf Schelling 217 betont Heidegger, dass »bis zum Idealismus, d. h. bis zu Kant, der den Übergang bildet, alle Systeme die Freiheit noch nicht eigentlich gesetzt [haben], da sie noch nicht den ›eigentlichen‹, den ›formellen Begriff‹ der Freiheit ausgebildet haben konnten, sondern sich in einem uneigentlichen Begriffe bewegten.« (HGA 42, 144) Doch auch bei Kant sei »die Umgrenzung des formalen Wesens der menschlichen Freiheit« noch nicht vollendet, insofern dieser die »Freiheit als Autonomie ausschließlich in die reine Vernunft des Menschen« verlege, welche »im Grunde auch geschieden von der Sinnlichkeit, der ›Natur‹ als dem ganz anderen« bleibe (HGA 42, 145). Erst Schelling selbst habe die Natur »in eine höhere Einheit mit der Freiheit« gerückt und derart den »vollständigen allgemeinen Wesensbegriff der Freiheit […] in seinem Hinausgehen über Fichte« begründet (HGA, 217 Schelling erklärt allerdings nur in ›positiver‹ Hinsicht, »daß wir ihm [dem Idealismus, P. H.] den ersten vollkommenen Begriff der formellen Freyheit verdanken« (AA I,17, 123), ohne zumindest explizit gleichzeitig allen vorausgegangenen philosophischen Systemen ein ›Vordringen‹ bis zu diesem Freiheitsbegriff abzusprechen, auch wenn die Rede von einem ›ersten vollkommenen Begriff‹ dies natürlich nahelegt.

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42, 145 f.). Infolge dieser spannungsvollen Einheit mit den Begriffen der Natur wie auch des Pantheismus und des Systems, die dem Freiheitbegriff zugemutet werde, sei bei Schelling auch »das Seyn und das ursprüngliche Band des Seyns […] nicht mechanisch, sondern als willentliches begriffen«, wie Heidegger mit Bezug auf den Begriff der ›Liebe‹ bei Schelling bemerkt (HGA 42, 154; vgl. AA I,17, 170). Unter Bezugnahme auf das für Heidegger in den Folgejahren so wichtige Schelling-Zitat »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) erklärt dann auch Heidegger wenig später: »Das System der Freiheit ist möglich als Idealismus, auf Grund des idealistischen Seynsbegriffes: Ursein heißt Wollen.« (HGA 42, 165). Zwar verweist Heidegger an dieser Stelle der Vorlesung zugleich – unter Berufung auf die Einheit von appetitus und perceptio bei Leibniz 218 – auf das »Vorgestellte und das Vorstellen, die idea«, als »das eigentlich Wollende im Wollen« (HGA 42, 164), was ihn etwa in seiner Schelling-Vorlesung von 1941 zu einer vehementen Kritik des Wollens als eines ›Feststellens‹ des von ihm Begriffenen veranlassen wird. Doch nimmt er 1936 noch in klar positiver Weise auf das als Wollen verstandene ›Urseyn‹ Bezug. Ausdrücklich heißt es an späterer Stelle der Vorlesung mit Blick auf diesen Satz: Schelling kommt hier, ohne wirklich zuzugreifen, in die Nähe der wahrhaften metaphysischen Bezüge zwischen Seyn und Werden, die dem denkerischen Blick seit jeher leicht entschwinden, weil er sich an die formalen Begriffsverhältnisse der beiden Vorstellungen verliert […]. (HGA 42, 214 f.)

Heidegger stellt derart den »Wesensentwurf der Werdebewegtheit des Absoluten« (HGA 42, 280), wie es am Ende der Vorlesung nochmals heißt, in einen ausdrücklichen Zusammenhang mit seinem eigenen Versuch, das ›Wesen‹ des Seins von der Zeit und damit dem Werden her zu denken und derart über die traditionellen ›formalen Begriffsverhältnisse‹ hinauszugehen, die beide Begriffe für gewöhnlich gerade in eine Opposition rücken. Doch gesteht Heidegger 1936 Schelling noch in einem weiteren Aspekt eine Vorläuferschaft zu seinem eigenen Seinsbegriff der dreißiger Jahre zu, wenn er bemerkt, dass mit diesem ›formellen Begriff‹ der Freiheit diese in der Weise »zur allgemeinsten Bestimmung alles Seienden erweitert« werde, dass »das Wesen des Menschen in die 218

Vgl. HGA 9, 79–101 u. HGA 26, 86–123.

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

Frage gestellt« werde (HGA 42, 165 f.). Hier kommt Heidegger nun auf einen weiteren, »6. Freiheitsbegriff« (HGA 42, 167) bei Schelling zu sprechen, der einerseits den idealistischen »Begriff des Menschen als das vernünftige Ich« (HGA 42, 166) in einer Weise überwindet, die über den Idealismus grundsätzlich hinausweist, und der andererseits zugleich auch noch den auf alles Sein ausgeweiteten ›formellen‹ Freiheitsbegriff in einer spannungsreichen Weise flankiert und ergänzt, sodass nach Heidegger nicht allein der »ganze Begriff der Freiheit […] sich wandeln« muss, sondern darüber hinaus auch »eine Verwandlung der Frage nach dem Seyn« erwirkt wird (HGA 42, 168). Heidegger stimmt Schellings eigener Ansicht ausdrücklich zu, der zufolge der Idealismus zu einem solchen Begriff der menschlichen Freiheit als »ein[es] Vermögen[s] des Guten und des Bösen« (AA I,17, 125) nicht vorgedrungen sei. Dabei gilt Heideggers Interesse aber vornehmlich der Tatsache, dass hier »das Böse eben in diesem Wesensbezug zur Freiheit des Menschen zur Sprache kommt« (HGA 42, 168). 219 Nach Heidegger ist es dabei die bahnbrechende Leistung Schellings, die Bedeutung der menschlichen Freiheit und gerade des Bösen über die Grenzen der praktischen Philosophie und der Moral hinaus ausgeweitet zu haben – und zwar derart, dass das Ganze der Philosophie dadurch erschüttert und verwandelt worden sei: Das Böse wird […] [bei Schelling] nicht im Gesichtskreis der bloßen Moral verhandelt, sondern im weitesten Gesichtskreis der ontologischen und theologischen Grundfrage; mithin eine Metaphysik des Bösen. Das Böse selbst bestimmt den neuen Ansatz der Metaphysik mit. Die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen erwirkt eine Verwandlung der Frage nach dem Seyn. (HGA 42, 168)

Sicherlich widerspricht eine derartige Aufwertung der Freiheitsschrift und der darin gestellten Frage nach dem Bösen nicht Schellings Selbstverständnis, dem zufolge diese Schrift »über das Ganze 219 Dass Heideggers Betonung des Bösen und insbesondere der Gleichursprünglichkeit von Gutem und Bösem im Zuge seiner Auslegung der Freiheitsschrift als einer ›Metaphysik des Bösen‹ auch mit einem Fehler in der von Heidegger herangezogenen Textausgabe zu tun hat, die anstatt von einer »Entscheidung für Böses oder Gutes« (AA I,17, 150) von einer »Entscheidung für Böses und Gutes« (zit. n. HGA 42, 265) spricht, darauf hat zu Recht Thomas Buchheim aufmerksam gemacht (vgl. Buchheim 1999, 189–191). Gleichwohl führt dies nicht zu einer generellen Zurückweisung von Heideggers Freiheitsschrift-Interpretation, bezieht sich doch Heidegger an der oben zitierten Stelle vor allem auf AA I,17, 125, wo von dem ›Vermögen des Guten und des Bösen‹ die Rede ist.

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des Systems tiefere Aufschlüsse« (AA I,17, 27; Herv. v. Verf.) 220 gebe und nicht allein zu Fragen der Moralphilosophie Stellung beziehe. Jedoch vereinnahmt Heidegger gleichzeitig Schelling, wenn er ihn im Zuge dieser Aufwertung der Freiheitsschrift unmittelbar auf seine eigene ontologische Fragestellung verpflichten will. Ohne dass dies der Ansicht Schellings entspräche, erkennt Heidegger dessen Frage nach der menschlichen Freiheit und dem Bösen ein derartiges Potenzial zu, dass durch sie »in die Grundfrage der Philosophie nach dem Seyn ein neuer wesentlicher Stoß kommt« (HGA 42, 169). Wie bereits Kant in Heideggers Buch von 1929, mit dem Schelling auch ausdrücklich im Zuge der Bezeichnung der Freiheitsschrift als »Grundlegung der Metaphysik« in Beziehung gesetzt wird (HGA 42, 181), 221 so wird derart auch Schelling in die Vorläuferschaft des heideggerschen Seinsdenkens eingerückt, selbst wenn eine adäquate Entfaltung jenes Anstoßes in der Frage nach dem Sein Schelling zu seiner Zeit noch nicht möglich gewesen und er mithin daran gescheitert sei, was Heidegger zufolge dessen ›Schweigen‹ nach 1809 belegt. Gleichwohl hat die Rede von einem Scheitern Schellings nicht allein den Sinn, dass Schelling auf dem damaligen Standpunkt der Philosophie gleichsam noch nicht die Mittel für eine angemessene Entfaltung jener Frage gegeben waren. Versteht man nämlich, so Heidegger, Schellings Freiheitsschrift im Lichte und in der Absicht der Grundfrage der Philosophie nach dem Seyn, dann begreifen wir gerade von ihr aus, nach vorn blickend, warum Schelling trotz allem mit seiner Philosophie scheitern mußte […]; denn jede Philosophie scheitert, das gehört zu ihrem Begriff. Der gemeine Verstand freilich folgert daraus: also lohnt es sich nicht!, weil ihm ja nur das als etwas gilt, was greifbar sich lohnt. Der Philosoph folgert Vgl. hierzu genauer Hennigfeld 2001, 4–11. Schelling ›Metaphysik des Bösen‹ löst damit Kants Konzeption der Einbildungskraft gleichsam als ›Stichwortgeberin‹ für Heideggers Seinskonzeption ab: »Eine Metaphysik des Bösen ist die Grundlegung der Frage nach dem Seyn als dem Grunde des Systems, das als System der Freiheit geschaffen werden soll. Demnach gesucht: eine Metaphysik als die Grundlegung der Metaphysik – ein Kreisgang, allerdings. Schon Kant spricht von der Metaphyisk der Metaphysik. Für ihn ist das die Kritik der reinen Vernunft, für Schelling die Metaphysik des Bösen. Wir können von ihr aus den Abstand ermessen und das, was inzwischen in der deutschen Philosophie vor sich ging« (HGA 42, 181). So hieß es 1929 zu Beginn des Kantbuches etwa: »Die folgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen, um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen« (HGA 3, 1). 220 221

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umgekehrt daraus die unzerstörbare Notwendigkeit der Philosophie, und dieses nicht in der Meinung, als könnte eines Tages doch dieses Versagen überwunden und die Philosophie ›fertig‹ gemacht werden. Vollendet ist die Philosophie immer dann, wenn ihr Ende das wird und bleibt, was ihr Anfang ist, die Frage. Denn nur indem die Philosophie wahrhaft im Fragen stehen bleibt, zwingt sie das Frag-würdige in den Blick. […] Das Seyn ist das Würdigste, weil es den höchsten Rang vor allem Seienden und in allem Seienden und für alles Seiende behauptet. (HGA 42, 169)

Zweierlei ist hier zu bemerken: Zum einen ordnet Heidegger Schellings Scheitern im ersten, den historischen Verhältnissen geschuldeten Sinne in ein umfassenderes Scheitern ein. Vor diesem sei aber zum anderen keine Philosophie geschützt, die nach dem Sein frage, das ›den höchsten Rang vor allem Seienden und in allem Seienden und für alles Seiende‹ behaupte – wie Heidegger in Anspielung auf die Beschreibung der Idee des Guten in Platons Politeia 222 erklärt. Denn als vor allem Seienden liegendes ist das Sein keineswegs wie ein Seiendes beschreibbar. Der Grund für das Scheitern aller notwendig endlichen Antwortversuche der Philosophie auf die Seinsfrage und mithin des Rückzuges auf das bloße Fragen scheint folglich nicht in einer falschen Art und Weise des Philosophierens zu liegen, sondern im Sein selbst als Gegenstand philosophischen Fragens begründet zu sein. Auf diese Struktur des Seins gebe aber Schellings Frage nach dem Bösen einige Hinweise, indem er Letzteres gegenüber der Tradition neu bestimme. Denn in der Tradition der privatio boni-Lehre sei das Böse generell unangemessen verstanden worden, insofern man es »als das Nichtgute, als Mangel, als ein Fehlendes« beschrieben habe; aber »was fehlt, ist nicht da«, wie Heidegger lapidar bemerkt (HGA 42, 176). Für Heidegger kann hingegen »dieses Fehlen doch nicht nichts« darstellen (HGA 42, 177). Genau dies hat in Heideggers Augen aber Schelling erkannt, indem er die Frage nach Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen neu gestellt und das Böse nicht mehr als bloßes Nichts von dem Seienden ausgeschlossen, sondern ihm vielmehr als »positive[r] Verkehrtheit« (AA I,17, 137) 223 einen eigenen Platz neben Gott als Grund alles Seienden eingeräumt habe. Derart habe Schelling einen »Begriff des Seyns« formuliert, »der es ermöglicht, Vgl. Platon, Politeia, 509b. Vgl. zu Schellings Kritik des Bösen als Privation auch AA I,17, 137–140. Vgl. hierzu Hennigfeld 2001, 79–84. 222 223

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den Grund des Seienden in der Einheit mit dem Bösen als einem Seienden zu begreifen« (HGA 42, 176). Entscheidend ist für Heidegger dabei nicht nur, dass Schelling auf diese Weise einen Begriff des Seins als Einheit des Grundes des Seienden mit dem Bösen aufzeigt, sondern vor allem, wie Schelling dies strukturell einlöst: nämlich über die »Unterscheidung von Grund und Existenz« in Gott – die von Heidegger so genannte »Seynsfuge« (HGA 42, 188) 224 – sowie insbesondere über ein Moment jener Fuge, nämlich die Behauptung eines »von Gott unabhängige[n] Grund[es] des Bösen […] in Gott selbst« (HGA 42, 179). Dieser Grund ist, wie Heidegger wenig später ausführt, »der Gott, wie er noch nicht aus sich selbst zu sich selbst herausgetreten ist«; er ist ein »Noch-nicht«, das aber im Zuge des Offenbarwerdens Gottes »nicht als ein bloßes Nicht-mehr abgestoßen« werden kann, sondern »ewige Vergangenheit« bleibt – im Sinne eines permanenten Vorenthaltes oder Entzugs (HGA 42, 203). Hier wird nun deutlich, weshalb nach Heidegger mit Schellings ›Metaphysik des Bösen‹ in die Frage nach dem Sein ein neuer, entscheidender ›Stoß‹ kommt: Denn Heidegger kann diese Überlegungen zum Nichtsein des Bösen als einem gleichwohl Seienden sowie zum ewigen ›Noch-nicht‹ des Grundes im Sinne eines fortwährenden Entzugs ohne Weiteres auf seine eigene Seinskonzeption der dreißiger Jahre hin durchsichtig machen. Auch im Kontext von Heideggers Seinskonzeption dieser Jahre stellt »das Nichts nicht Nichtiges, sondern etwas Ungeheures, das Ungeheuerste im Wesen des Seyns« dar, weshalb die »Frage nach dem Wesen des Seyns […] zugleich die Frage nach dem Wesen des Nicht und des Nichts« impliziert, wie es in der 1936er Vorlesung heißt (HGA 42, 177). Für Heidegger zeichnet sich nämlich das Sein durch ein Zugleich oder vielmehr durch einen ›Streit‹ von Entzug und Offenbarkeit aus. 225 Gerade eine derartige Beschreibung des Entzugsmoments in der Struktur des Seins, auf das auch das allgemeine Scheitern philosophischer Antwortversuche zurückzuführen sei, sieht Heidegger bei Schelling vorgebildet: Einerseits gebe Schelling nämlich mit seinem Begriff des Bösen und des sich entziehenden Grundes in Gott Phänomenen des Nichtseienden, des Entzugs und des Vorenthaltes Raum; und andererseits weise er gleichzeitig durch seine Überlegungen zur Einheit des Grundes des 224 225

Vgl. hierzu auch Scheier 1996. Vgl. dazu genauer Höfele 2016b, 274–278.

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

Seienden mit dem Bösen sowie zum Zusammenbestehen von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ in Gott als »in sich widerwendige[r] Identität« (HGA 42, 237) auf die von Heidegger beschriebene Struktur des Seins als ein Zugleich von Entzug und Offenbarkeit voraus. Es charakterisiert das bisweilen doch etwas einseitige Interpretieren Heideggers, dass er Schellings Ausführungen zum Bösen sowie zu ›Grund‹ und ›Existierendem‹ in Gott unmittelbar auf seine ontologische Fragestellung bezieht und hierauf zu beschränken sucht. 226 Während Schelling selbst mit diesen Ausführungen dem Bösen als einem, wenngleich keineswegs allein, so doch primär moralischen Phänomen ohne Abstriche gerecht werden will und nicht geneigt ist, dieses in irgendeiner Weise zu entradikalisieren, bringt Heidegger hingegen das Böse lediglich als nicht moralisch zu bewertende Struktur in den Blick. 227 Derart droht er der Gefahr einer Entmoralisierung des Bösen zu erliegen – versteht er doch das Böse und den sich entziehenden Grund als Strukturmomente des in sich strittigen Seins selbst, das einerseits als ›Gelichtetes‹ offen vorliege und doch andererseits zugleich als ›Nichthaftes‹ erscheine, wie Heidegger noch 1946 im Brief über den »Humanismus« betont: Mit dem Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse. Dessen Wesen besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit menschlichen Handelns, sondern es beruht im Bösartigen des Grimmes. Beide, das Heile und das Grimmige, können jedoch im Sein nur wesen, insofern das Sein selber das Strittige ist. In ihm verbirgt sich die Wesensherkunft des Nichtens. Was nichtet, lichtet sich als das Nichthafte. (HGA 9, 359) 228

Doch noch in einer anderen Hinsicht ist Heideggers Auslegung problematisch: Heidegger sieht, wie gezeigt, die in sich strittige Struktur des Seins sich gerade in Schellings Frage nach der spezifisch menschlichen Freiheit als ›Vermögen des Guten und des Bösen‹ ankündigen, die »nicht als Sonderfrage« aufzufassen sei; »denn jene Entfaltung der idealistischen Grundstellung bis zum Freiheitsbegriff des Idealismus vollzog sich auf dem Grunde einer Auslegung des Wesens des 226 Heidegger selbst gesteht dies jedoch auch unumwunden zu, wenn er von der »auf das eine Entscheidende gerichtete[n] Ein-seitigkeit« seiner Auslegung spricht, womit er »die Sammlung aller Fragen auf die Seynsfrage« meint (HGA 42, 185). 227 Vgl. dazu Iber 2013, 166–168. 228 In einer Anmerkung von 1949 bemerkt Heidegger ausdrücklich, dass die Überlegungen des Briefes »auf dem Gang eines Weges [beruhen, P. H.], der 1936 begonnen wurde« (HGA 9, 313). Vgl. hierzu auch Kaufmann 2010, 217 f.

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Menschen.« (HGA 42, 171) Heidegger bezieht derart Schellings Begriff der menschlichen Freiheit auf den in dem Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) ausgedrückten ›formellen‹ Freiheitsbegriff als »allgemeinster Bestimmung alles Seienden« (HGA, 42, 171), welchen er bekanntlich als ›Vorbote‹ seines ›Seyns‹-Begriffes interpretiert. Der von Heidegger insofern sicher nicht zufällig zumeist umgekehrte Satz »Sein ist Wollen« bezeichnet denn auch nicht nur »die Grenze«, sondern macht zugleich den »Übergang sichtbar in der Frage nach dem Wesen des Wollens!« (HGA 42, 171) Insofern muss sich nach Heidegger auch jene in sich strittige Struktur von Präsenz und Entzug, die dem menschlichen Freiheitsbegriff und insbesondere dem Bösen abgelesen ist, im »ursprüngliche[n] Wesen des Seyns«, das »Wollen« ist, sichtbar machen lassen: »Die genannte Unterscheidung [von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ als analogen Gliedern der in sich strittigen ›Seynsfuge‹, P. H.] muß demnach, wenn anders sie die Wesensbestimmtheit des Seyns angeben soll, im Wesen des Wollens beschlossen liegen« (HGA 42, 189). Die Folge dessen ist, dass die Freiheit des Guten und des Bösen – wie in ähnlicher Weise auch die ›Seynsfuge‹ von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ – lediglich für eine Charakterisierung des heideggerschen ›Seyns‹ fruchtbar gemacht wird, aber paradoxerweise gerade nicht zu einer abgrenzenden Bestimmung des ›Seins‹ der spezifisch menschlichen Freiheit bei Heidegger herangezogen wird. Derart bleibt aber – trotz der auf das Wollen zurückgreifenden Differenzierungen und der Bemerkung, dass Schelling »nicht ›Begriffe‹«, sondern »in Willensstellungen« denkt (HGA 42, 193) – jene die Freiheitsschrift kennzeichnende Pluralität des Wollens in eigentümlicher Weise unterbelichtet. Und auch die abschließende Kritik an Schelling 1936 erweist sich vor dem Hintergrund von Heideggers fast ausschließlichem ›systematischen‹ Interesse an seiner ›Seyns‹-Frage bei der Auslegung von Schellings Freiheitsschrift als durchaus ambivalent, wie im Folgenden noch zu zeigen ist.

6.3. Der ›Wille zum System‹: Heideggers Kritik an Schellings ›Scheitern‹ hinsichtlich der ›Seyns‹-Frage Heidegger kommt bereits relativ früh in seiner Schelling-Vorlesung von 1936 im Zusammenhang seiner Ausführungen zu Schellings ›System der Freiheit‹ auf den ›Willen zum System‹ zu sprechen. Da398 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

bei grenzt er sich aber zunächst von Nietzsches Feststellung ab oder schränkt diese, genauer gesagt, ausdrücklich ein, dass »[d]er Wille zum System […] ein Mangel an Rechtschaffenheit« sei. 229 So unterstellt er der nietzscheanischen Behauptung einerseits eine Zeitbedingtheit mit Blick auf die von Nietzsche gestellte Diagnose des Nihilismus: »Der Wille zum System ist allerdings Mangel an Rechtschaffenheit, nämlich, wenn dieser Wille sich austobt ohne die Überwindung des Nihilismus« (HGA 42, 42) Andererseits nennt er die Möglichkeit, »daß jetzt der Verzicht auf das System notwendig ist, […] weil es das Höchste und Wesentliche ist.« (HGA 42, 42) Unter Bezugnahme auf das zugrunde liegende griechische Verb »συνίστημι, ich stelle zusammen, […] füge in eine Ordnung« (HGA 42, 45) erläutert Heidegger diese Charakterisierung des Systems als ›Höchstes und Wesentliches‹ derart, dass es als ›gefügte‹ Form gerade dem oben bereits angezeigten ›Fugen‹-Charakter des ›Seyns‹ entgegenkomme: »Und sofern zum Wesen des Seyns überhaupt der Fugencharakter gehört […], liegt in aller Philosophie als Fragen nach dem Seyn die Ausrichtung auf Fuge und Fügung, auf System.« (HGA 42, 51) Dabei ist, wie Heidegger 1936, im Gegensatz zu den in unmittelbarem Anschluss verfassten Beiträgen zur Philosophie (1936– 1938), 230 noch gänzlich optimistisch und ohne irgendeine Moderne229 GD, »Sprüche« 26, KSA 6, 63. Vgl. HGA 42, 41; vgl. zu diesem Nietzsche-Zitat auch HGA 65, 88 f. In NF 11[410], KSA 13, 189, heißt es sogar noch kritischer bei Nietzsche: »Der Wille zum System ist, für einen Denker wenigstens, etwas, das compromittirt, eine Form der Unmoralität …« Vgl. auch NF 15[118], KSA 13, 477 u. NF 18[4], KSA 13, 533. 230 So heißt es in den Beiträgen unmissverständlich: »Die Zeit der ›Systeme‹ ist vorbei. Die Zeit der Erbauung der Wesensgestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns ist noch nicht gekommen.« (HGA 65, 5) Denn Heidegger zufolge ist nun »[d]ie Fuge […] etwas wesentlich anderes als ein ›System‹ (vgl. WS. 35/36 u. 36)« (HGA 65, 81). Dabei verweist Heidegger zugleich explizit auf die Schelling-Vorlesung von 1936, obgleich er in der oben zitierten Passage der Vorlesung das Gegenteil annimmt – er dürfte in den Beiträgen bei dieser Bezugnahme aber vor allem die Schlusspassgen der Vorlesung im Blick haben. Auch wenn Heidegger in den Beiträgen insofern »die ›Entscheidung‹ gegen das ›System‹« als »Übergang aus der Neuzeit in den anderen Anfang« fasst (HGA 65, 89), so impliziert dies jedoch für ihn keineswegs ein gänzlich unstrukturiertes, ›willkürliches‹ Denken im Bereich jenes ›anderen Anfangs‹. Denn, so liest man kurz zuvor in den Beiträgen, »›System‹ ist nur möglich im Gefolge der Herrschaft des mathematischen (im weiten Sinne) Denkens […]. Ein Denken, das außerhalb dieses Bereiches und der entsprechenden Bestimmung der Wahrheit als Gewißheit steht, ist daher wesentlich ohne System, un-systematisch; aber deshalb nicht willkürlich und wirr« (HGA 65, 65).

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kritik feststellt, gerade die Neuzeit prädestiniert zu einer derartigen Etablierung eines das ›Seyn‹ begreifenden Systems: »Die Möglichkeit des Systems des Wissens und der Wille zum System als einer Weise der Neubegründung der Stellung des Menschen im Seienden gehören mit zu den wesentlichen Kennzeichen der Neuzeit.« (HGA 42, 50) In diesem Zusammenhang führt Heidegger sechs »Hauptbedingungen der ersten Systembildung« an (HGA 42, 52): (1) Zunächst die von ihm so genannte »Vorherrschaft des Mathematischen«, worunter er »die selbst anfangende Begründung des Wißbaren aus und in begründungsunbedürftigen ersten Sätzen« versteht, wie sie gerade in der von Karl Leonhard Reinhold begründeten ›Grundsatzphilosophie‹ gesucht wurde (HGA 42, 52). 231 (2) Außerdem nennt Heidegger den »Vorrang der Gewißheit vor der Wahrheit« und den »Vorrang des Vorgehens (Methode) vor der Sache« sowie (3) damit einhergehend die Begründung des Wissens »auf die Selbstgewißheit des Grundsatzes ›Ich denke, ich – bin‹« (HGA 42, 53). (4) Dies habe des Weiteren zur Folge, dass die »Gewißheit des Denkens […] zum Gerichtshof [wird], der entscheidet, was sein kann und nicht sein kann, ja noch mehr: was überhaupt Sein heißt.« (HGA 42, 53). (5) Das »Seiende im Ganzen verlangt jetzt gerade eine neue Aneignung auf dem Grunde und mit den Mitteln des sich selbst begründenden Wissens«, womit (6) eine »Befreiung des Menschen zu sich selbst« einhergehe, wie Heidegger schließlich in seiner Aufzählung festhält (HGA 42, 54). Diese die neuzeitlichen Systembildungen charakterisierenden Punkte führten zusammengenommen zu dem »Wille[n] zur frei gestaltenden wissenden Verfügung über das Seyn in seinem Gefüge« (HGA 42, 56). Dies sieht aber Heidegger 1936 noch nicht wie in den folgenden Beiträgen als etwas Negatives an. Er spricht lediglich die Problematik an, »daß zum System immer die[…] innere Möglichkeit des Schwankens zwischen Gefüge und Geschiebe und Rahmen gehört, daß jedes echte System immer vom Verfall in das unechte bedroht bleibt« (HGA 42, 45). Auch im Falle Kants, dem er ein ›Scheitern‹ hinsichtlich seiner »Bemühung« um die Begründung eines »Vernunftsystems« vorwirft, geht Heidgger nicht von einer der Systemform als solcher immanenten Unzulänglichkeit aus, sondern erklärt lediglich, dass bei Kant

231

Vgl. zu Heideggers Begriff des ›Mathematischen‹ bes. HGA 41, 65–108.

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Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936

[d]er Grund der Ideen [Gott, Welt und Mensch, P. H.] und ihrer Einheit, d. h. der Grund des Systems […] dunkel [ist]. Der Weg zum System ist nicht gesichert. Die Wahrheit des Systems ist fraglich. Und doch – die Forderung des Systems ist unumgänglich. (HGA, 42, 79)

Obwohl er die ›Wahrheit des Systems‹ als ›fraglich‹ bezeichnet, ringt sich Heidegger 1936 noch nicht wie in den Beiträgen zu dem Gedanken durch, dass die von ihm beschriebene ›Seynsfuge‹ »etwas wesentlich anderes als ein ›System‹« ist (HGA 65, 81), was seine Ausführungen dazu, dass »jede Philosophie scheitert« (HGA 42, 169), gleichwohl nahegelegt hätten. Doch analog zu dem bei Kant diagnostizierten ›Scheitern‹ unterstellt Heidegger Schelling ganz zu Ende der Vorlesung ebenfalls ein ›Scheitern‹ in einem rein negativen Sinn. Denn Schelling trage im Zuge seiner Bestimmung der Freiheit als ›Freiheit zum Guten und zum Bösen‹ zwar einerseits einem Entzugsmoment im Wesen des Seins Rechnung – nämlich in der Gestalt des ›Grundes der Existenz‹, der das Böse ermögliche. Er wolle diesen aber andererseits wieder in ein System integrieren, ohne es jedoch infolge des nicht festschreibbaren Entzugscharakters des Grundes zu können. Dadurch träten bei Schelling gleichsam tragische Fehlentwicklungen hervor, »die schon im Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt und durch die Richtung, die dieses Anfangen nimmt, als von diesem aus unüberwindbar gesetzt sind«, insofern man nämlich generell »nur einem Moment der Seynsfuge, der Existenz« (HGA 42, 278 f.), Rechnung trage, ja dieses zum Ganzen ›aufspreize‹ und den sich immer schon entziehenden Grund dabei verdecke. Heidegger meint sich hierbei insbesondere auf Schellings Aussage beziehen zu können, dass »[i]n dem göttlichen Verstande […] ein System [ist], aber Gott selbst […] kein System, sondern ein Leben« ist (AA I,17, 164), dem nach Schelling doch gerade jene Polarität von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ zukommt. 232 Allerdings übersieht Heidegger bei dieser Kritik, dass Schelling selbst sich gerade in seiner ›mittleren‹ Philosophie intensiv mit den Momenten des Entzugs etwa in Form des ›Ungrunds‹ 1809 und noch 1821 in Gesalt des ›Indefiniblen‹ auseinandersetzt und dabei auch die Form des in sich geschlossenen philosophischen Systems problematisiert. 233

232 Vgl. zu dieser Textstelle oben, Teil II, Kap. 1.3. Vgl. hierzu mit Kritik an Heideggers Interpretation auch Buchheim 1999, 185–187 u. Hennigfeld 2001, 119. 233 Vgl. dazu oben die Darstellung des ›mittleren Schelling‹ in Teil III.

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Schellings Freiheitsschrift wird von Heidegger daher schließlich ein ›Scheitern‹ in rein negativer Weise und zugleich ein Rückfall in die ›seinsvergessene‹ Tradition attestiert, insofern er die mittels seiner ›Metaphysik des Bösen‹ aufgedeckte ›Seynsfuge‹ gewissermaßen nur ungenügend und nicht durchgängig in ihrem Zugleich von Entzug und Offenbarkeit denke. So werde das Sein letztlich nur als reine Anwesenheit gedacht und nicht in einem transitiven, zeitlichen Sinne als ›Entbergen‹, dem immer schon die Tendenz zum Entzug innewohnt, wie Heideggers sich in den folgenden Jahren noch verschärfende Kritik lautet. 234 Das schellingsche ›Scheitern‹ wird somit auf eine Unzulänglichkeit seines Ansatzes zurückgeführt, nicht jedoch als ein aufgrund der Beschaffenheit der zu beschreibenden ›Sache‹ notwendiges deklariert. Lediglich ganz zu Ende der Vorlesung klingt Letzteres an, wenn Heidegger erklärt, dass mit der Frage nach dem Bösen bei Schelling zwar die Frage nach dem Wesen des Seins als Gegeneinander von Präsenz und Entzug bereits aufgeworfen werde, es aber »Schelling noch nicht in voller Deutlichkeit und in der ganzen Tragweite klar [wird], daß eben die Ansetzung der Seynsfuge als Einheit von Grund und Existenz es ist, die ein Seynsgefüge als System unmöglich macht.« (HGA 42, 279) Der ›Wille zum System‹ – und mit ihm in den Folgejahren auch ein jeder Wille – wird damit schon andeutungsweise in eine generelle Opposition zu einem angemessenen Begreifen des ›Seyns‹ gerückt.

7. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche: Von der Aufwertung zur radikalen Kritik des Willensparadigmas Spricht man über Heideggers Schelling-Rezeption unter dem Fokus der Interpretation des Willensbegriffes, ist es unerlässlich, zugleich auf dessen Nietzsche-Deutungen einzugehen, die gleichwohl bereits häufig interpretiert und kritisiert wurden. 235 Zum einen stellt Heidegger nämlich schon in der Vorlesung von 1936 Schelling und

Vgl. hierzu v. a. Köhler 2010. Vgl. zum Verhältnis ›Heidegger – Nietzsche‹ bes. Skowron 1987; Gander 1994; Müller-Lauter 2000; Seubert 2000; Denker/Heinz/Sallis/Vedder/Zaborowski 2005, bes. 11–93 (»Dokumentationsteil«); Blond 2010, 99–169; Casale 2010; Babich/Denker/Zaborowski 2012; Stegmaier 2013. 234 235

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Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

Nietzsche trotz all ihrer Unterschiede philosophiegeschichtlich auf eine Ebene: Gerade im schellingschen Scheitern an der weiteren Ausgestaltung eines philosophischen Werkes nach 1809 wie auch bei Nietzsche, der bezeichnenderweise an »seinem eigentlichen Werk, dem ›Willen zur Macht‹, zerbrochen« sei (HGA 42, 5 f.), sieht Heidegger ein zukunftsweisendes Potenzial – ein Potenzial, das beide Philosophen in eine auf Heideggers eigenen Ansatz zulaufende Entwicklungslinie einreiht. Ganz zu schweigen davon, dass in Heideggers Augen gerade Schellings Bestimmung »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) in der Freiheitsschrift wie auch der nietzscheanische ›Wille zur Macht‹ das »Sein[…] alles Seienden als Wille« interpretieren (HGA 6.1, 31). 236 Zum anderen vollzieht Heidegger insbesondere im Rahmen seiner Nietzsche-Interpretationen die 1936 sich bereits zaghaft andeutende Abkehr von der Aufwertung des Willens (Kap. 7.1) hin zu einer radikalen Kritik des Willensparadigmas (Kap. 7.2). Insofern vermögen die beiden 1961 von Heidegger publizierten Bände mit Vorlesungen und Arbeiten zu Nietzsche aus den Jahren 1936–1946, wie Heidegger selbst formuliert, »als Ganzes nachgedacht, zugleich einen Blick auf den Denkweg [zu] verschaffen, den ich [Heidegger, P. H.] seit 1930 bis zum ›Brief über den Humanismus‹ (1947) gegangen bin« (HGA 6.1, XII). 237

Vgl. auch ähnlich HGA 6.2, 1, 7, 308 u. 436–438. Die Vorlesungen, die in die beiden Bände eingegangen sind, sind inzwischen auch separat veröffentlich in den Bänden HGA 43, 44, 47, 48 u. 50. Da der Fokus dieser Untersuchung jedoch auf Schelling und der allgemeinen Entwicklungslinie von Heideggers Willensinterpretationen liegt, werden im Folgenden in der Hauptsache die beiden 1961 veröffentlichten Nietzsche-Bände herangezogen, ohne auf Abweichungen von den ursprünglichen Vorlesungen einzugehen, die in der Streichung von ›Wiederholungen‹, der Kürzung sowie Ergänzung des Vorlesungsmanuskriptes um kleinere Passagen und der Ersetzung terminologisch relevanter Wörter für die Ausgabe von 1961 bestehen. Vgl. dazu Patt 1988, bes. 176 f. u. insbes. Meyer 2005, die die »These« vertritt, »dass es Heidegger 1961 darum gegangen sei, seine frühe Nähe zu Nietzsche aus der Sicht der späteren Distanznahme zu minimieren« (Meyer 2005, 137). – Lediglich sofern der ursprüngliche Vorlesungstext relevant für die Überlegungen dieser Arbeit ist, wird im Folgenden auf diesen, parallel zu der Ausgabe von 1961 in HGA 6.1–2, verwiesen. 236 237

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7.1. Die Kontinuität von Schelling zu Nietzsche: Der ›Wille zur Macht‹ als ›Sein des Seienden‹ und als ›Ent-schlossenheit‹ Der erste Band mit Vorlesungen aus den Jahren 1936–1939 beginnt denn auch unumwunden mit Nietzsches Gedanken des ›Willens zur Macht‹, den Heidegger – in Anspielung auf einen Ausdruck Schopenhauers 238 – als Nietzsches »einzigen Gedanken« ansieht (HGA 6.1, 432). Wenn indessen »die ewige Wiederkehr des Gleichen von Nietzsche zeitlich früher gedacht [wurde] als der Gedanke des Willens zur Macht«, in dem jener »eingeschlossen« ist, so liegt dies nach Heidegger allein daran, dass »jeder Denker […] seinen einzigen Gedanken, wenn er ihn erstmals denkt, zwar in seiner Vollendung [und dies sei der Wiederkunftsgedanke in Bezug auf den ›Willen zur Macht‹, P. H.], aber noch nicht in seiner Entfaltung, d. h. in der ihn stets überwachenden und erst auszutragenden Tragweite und Gefährlichkeit« denke (HGA 6.1, 432 f.). Allein schon diese heideggerschen ›Absicherungsbemühungen‹ bezüglich der Priorität des Gedankens des ›Willens zur Macht‹ gegenüber dem Wiederkunftsgedanken, der später dann allerdings gleichberechtigt als eines der »fünf Grundworte der Metaphysik Nietzsches« (HGA 6.2, 233) neben ersteren treten wird, zeigt die Wichtigkeit des Willensbegriffes für Heidegger in seinen ersten Nietzsche-Vorlesungen der dreißiger Jahre. Heidegger stützt sich für diese These hinsichtlich der Priorität des ›Willens zur Macht‹ vor allem auf ein Nachlassfragment, in dem Nietzsche erklärt: »Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen.« 239 Auch wenn Heidegger schon gleich zu Beginn Nietzsche dafür kritisiert, dass er nur die »Leitfrage der Philosophie: ›Was ist das Seiende?‹« gestellt habe und nicht »die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins« (HGA 6.1, 2), 240 so Vgl. Schopenhauer 1819, 7. NF 40[61], KSA 11, 661. Vgl. HGA 6.1, 2. Heidegger bezieht sich hierzu auch in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen aus dem Sommersemester 1937 auf folgende Aussage Nietzsches: »Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« (N 38[12], KSA 11, 611; vgl. HGA 6.1, 382) Dabei ist allerdings generell zu beachten, dass Nietzsche mit solchen Aussagen gerade im Umfeld des Zarathustra lediglich experimentiert. Vgl. dazu Gerhardt 2011, 354. 240 Es zeigt sich hier bereits Heideggers Tendenz, sich von der gesamten Geschichte der Philosophie in der Weise abzugrenzen, dass diese als generell ›seinsvergessen‹ stilisiert wird, während Heidegger selbst erstmals auf die Frage nach dem Sein stelle: 238 239

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Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

wird Nietzsche doch als derjenige, der »die bisherige Überlieferung des abendländischen Denkens nach einer entscheidenden Hinsicht sammelt und vollendet« (HGA 6.1, 3), zunächst in durchaus positiver und zustimmender Weise von Heidegger rezipiert. Seine Kritik teilweise zurücknehmend, bemerkt Heidegger denn auch, dass Nietzsches »Frage, was das Seiende sei, […] nach dem Sein des Seienden« suche: »Alles Sein ist für Nietzsche ein Werden. Dies Werden jedoch hat den Charakter der Aktion und der Aktivität des Wollens. Der Wille aber ist in seinem Wesen Wille zur Macht.« (HGA 6.1, 5) Auch wenn Heidegger sogleich wieder bemüht ist das von Nietzsche als ›Wille zur Macht‹ angesprochene ›Sein des Seienden‹ von seiner eigenen »Frage nach dem ›Sinn des Seienden‹« abzugrenzen (HGA 6.1, 15), so gesteht er ihm doch zu, dass er, indem er »das Sein, den Willen zur Macht, als ewige Wiederkehr« fasste, »das Sein als Zeit denken« wollte, obgleich »noch nicht als Frage von Sein und Zeit«, wie Heidegger sich erneut von Nietzsche distanzierend einwendet (HGA 6.1, 17). 241 Wie die Rede von Nietzsche als ›Vollender‹ der ›bisherigen Überlieferung des abendländischen Denkens‹ bereits andeutet, rückt Heidegger Nietzsche hinsichtlich dieses Verständnisses des Seins als Wille sowie im Sinne eines zeithaften Werdens zugleich in eine »Linie der besten und größten Überlieferung der deutschen Philosophie« (HGA 6.1, 31). Dabei hat Heidegger vor allem Leibniz, Schelling, Hegel und Schopenhauer im Blick. 242 Leibniz stellt Heidegger an den Anfang der Reihe, insofern er »das Wesen des Seins als die ursprüng»Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet; auch Nietzsche bleibt in der Leitfrage« (HGA 6.1, 2). In der ursprünglichen Handschrift der Vorlesung von 1936/37 findet sich die zitierte Bemerkung allerdings nur in einer Anmerkung, die, wie eine Mitschrift belegt, wohl nicht vorgetragen wurde (vgl. HGA 43, 4; dazu das »Nachwort des Herausgebers« in HGA 43, 294 f.). 241 Wenig später bemerkt Heidegegr allerdings auch, dass er die Frage, »ob er [Nietzsche, P. H.] sich überhaupt über die Einzigkeit des Fragens nach dem Sein hinreichend klar wurde und die hier notwendigen und möglichen Wege grundsätzlich durchdachte, […] vorerst offen« lasse (HGA 6.1, 36). 242 Im zweiten Band seines Nietzsche-Buches, genauer in dem auf die Vorlesung Der europäische Nihilismus von 1940 zurückgehenden Abschnitt, sieht Heidegger – nun allerdings in klar kritischer Absicht – »die geschichtliche Herkunft des Seienden als Wille zur Macht« sogar in Aristoteles’ ἐνέργεια (HGA 6.1, 231 f.; vgl. auch bereits ansatzweise HGA 6.1, 60 f.) Vgl. dazu Müller-Lauter 1999, 22 f. sowie, mit Blick auf die Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst von 1936/37 (vgl. HGA 6.1, 40–63 / vgl. HGA 43, 51–77), Seubert 2000, 95–98.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

liche Einheit von perceptio und appetitus bestimmte, als Vorstellung und Wille« (HGA 6.1, 32), wie Heidegger auch bereits im Rahmen einer Auslegung des leibnizschen Monaden-Begriffes in seiner letzten Marburger Vorlesung 1928 bemerkt, ohne dort aber perceptio und appetitus schon derart explizit auf den Willensbegriff zu beziehen. 243 Derart kann Heidegger aber ohne weiteres die »Auslegung des Seins als Wille« bei Hegel und Schelling, der sich ja in der Tat auf Leibniz bezieht, 244 auf »den wesentlichen Gedanken eines anderen großen deutschen Denkers« zurückbeziehen, nämlich »den Seinsbegriff von Leibniz« (HGA 6.1, 32). Bei Schelling verweist Heidegger hierzu wiederum auf die Freiheitsschrift als eines seiner »tiefsten Werke«, bei Hegel hingegen erneut wie schon 1930/31 und 1942/ 43 245 auf die Phänomenologie, in der »das Wesen des Seins als Wissen, das Wissen jedoch als wesensgleich mit dem Wollen« gedacht worden sei (HGA 6.1, 32). Obgleich Heidegger hier – vor seinem eigenen Gelassenheitsdenken – zugleich Schopenhauer dafür kritisiert, dass er im Zuge seiner Deutung des »Wesen[s] der Kunst als ›Quietiv des Leben‹ […] den Willen, dessen Drang eben das Elend des Daseins erwirkt, aushängt« (HGA 6.1, 26), so sieht er ihn doch den »Hauptwerken Schellings und Hegels auf das tiefste verpflichtet« als affirmativer Vertreter einer Willensmetaphysik (HGA 6.1, 32). Heidegger sucht damit nämlich seine These zu begründen, dass das »Seiende nach seinem Grundcharakter als Willen begreifen […] eine Notwendigkeit der Geschichte des Daseins« ist (HGA 6.1, 33). Heidegger verfolgt mit seinen Nietzsche-Auslegungen der dreißiger Jahre denn auch in einem zweifachen Sinne eine Kontinuität, die auf seinen eigenen Ansatz hin zuläuft, worin jene ›Notwendigkeit‹ in Heideggers Sichtweise allererst ihre wahrhafte ›Vollendung‹ erfährt. So hebt Heidegger hier nicht allein wie in seiner Schelling-Interpretation von 1936 darauf ab, dass das Sein bei den genannten Denkern in seiner ›Werdebewegtheit‹ aufgefasst werde, sondern er rückt zugleich auch noch die nietzscheanische Konzeption des ›Willens zur Macht‹ in eine Nähe zu derjenigen der ›Entschlossenheit‹ in Sein

243 Vgl. HGA 26, bes. 101–122. Dieser Abschnitt war Heidegger derart wichtig, dass er ihn nach einer ersten separaten Publikation 1964 in den Sammelband Wegmarken aufnahm, vgl. HGA 9, 79–122. Vom ›Willen‹ mit Blick auf perceptio und appetitus ist darin allerdings nur am Rande die Rede in HGA 26, 119 / HGA 9, 98. 244 Vgl. oben, Teil I, Kap. 3.2. 245 Vgl. oben, Teil IV, Kap. 5.1.

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Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

und Zeit. 246 Zeithaftes Werden und Wollen charakterisieren dem Heidegger der dreißiger Jahre zufolge nicht allein das Sein als solches, sondern der Wille repräsentiert auch noch dasjenige ›Instrumentarium‹, mithilfe dessen dem Dasein das Sein ›erschlossen‹ werde. Nietzsches Willensbegriff charakterisiert Heidegger denn auch folgendermaßen: »Wille ist für ihn [Nietzsche, P. H.] nichts anderes als Wille zur Macht, und Macht ist nichts anderes als das Wesen des Willens. Wille zur Macht ist dann Wille zum Willen, d. h. Wollen ist: sich selbst wollen.« (HGA 6.1, 33) Diese Nietzsche durchaus noch gerecht werdende tautologische Deutung 247 der Formel ›Wille zur Macht‹ erläutert Heidegger – den ›Anti-Metaphysiker‹ Nietzsche einer ›metaphysischen Interpretation‹ unterziehend 248 – nun allerdings derart, dass, sofern »der Wille zur Macht das Sein selbst kennzeichnet, […] es nichts mehr [gibt], als was der Wille noch zu bestimmen wäre« (HGA 6.1, 35). Gleichwohl nimmt Heidegger sodann eine gleichsam phänomenologische Analyse des nietzscheschen Willensbegriffes vor, die zunächst dieser Aussage zu widersprechen scheint, letztlich sich aber auf ein gleichsam ›korrespondierendes‹ Wollen bezieht. Dieses soll die Zugänglichkeit jenes als Wollen beschriebenen Seins sicherstellen und ist als solches ebenfalls durch eine Unbestimmtheit und Offenheit gekennzeichnet. Zwar ist Heidegger zufolge das von Nietzsche anvisierte »Wollen […] ein Verhalten, das auf etwas zu-gerichtet ist« (HGA 6.1, 36). Als solches sei es aber weder ein ›bloßes Betrachten‹ noch ein ›Wünschen‹, sondern vielmehr, wie es wohl in Anspielung auf den 19. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse heißt, die aber zugleich die kantische Autonomievorstellung anklingen lässt: »sich unter den eigenen Befehl stellen, die Entschlossenheit des Sichbefehlens, die in sich schon Ausführung ist.« (HGA 6.1, 37) 249 Heidegger betont hier ausdrücklich und mit Zustimmung die Gegnerschaft Nietzsches zu Schopenhauers gelassenheitstheoretischer Vorstellung 246 Vgl. dazu auch Arendt 1978, 176 u. 181–183 sowie Casale 2010, 252–276. Casale sieht bereits 1927 eine Nähe zwischen Heideggers ›Entschlossenheits‹-Analyse und Nietzsches Zarathustra (vgl. Z II, »Die stillste Stunde«, KSA 4, 187–190) gegeben und spricht in diesem Zuge auch schon von einem ›Willen zur Entschlossenheit‹ in Sein und Zeit, ohne dies allerdings zu problematisieren (vgl. Casale 2010, 244–249). 247 Vgl. Gerhardt 2011, 353. 248 Vgl. Stegmaier 2013. 249 Vgl. JGB 19, KSA 5, 32, wo Nietzsche davon spricht, dass »in jedem Willensakte […] es einen commandirenden Gedanken [giebt].« Vgl. dazu Figal 2001, 225–236.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

eines »reine[n] Wollen[s], das um so reiner ein Wollen sei, je völliger das Gewollte unbestimmt gelassen und je entschiedener der Wollende ausgeschaltet sei« (HGA 6.1, 37). Gegen Schopenhauer unterstreicht so auch Heidegger unter erneuter und zweifellos nicht zufälliger Heranziehung des für Sein und Zeit zentralen Ausdrucks der ›Entschlossenheit‹: »Das Wollen will den Wollenden als einen solchen, und das Wollen setzt das Gewollte als ein solches. Wollen ist Entschlossenheit zu sich, aber zu sich als zu dem, was das im Wollen als Gewolltes Gesetzte will.« (HGA 6.1, 37 f.) Und den zweiten Teil der Formel ›Wille zur Macht‹ aufgreifend heißt es weiter, dass in der »über sich hinausgreifenden Entschiedenheit des Wollens […] das Mächtigsein über das, was im Wollen aufgeschlossen und in ihm, in der Entschlossenheit als Ergriffenes festgehalten wird«, liege (HGA 6.1, 38). Dass Heidegger hier in der Tat den ›Willen zur Macht‹ mit seiner eigenen ›Entschlossenheits‹-Analyse meint in Verbindung bringen zu können, belegt nicht allein die Akzentuierung des ›Ekstatischen‹ und ›Transzendierenden‹ im Wollen (in Form der ›über sich hinausgreifenden Entschiedenheit des Wollens‹). Dies zeigt insbesondere auch Heideggers ausdrückliche Betonung, dass Nietzsche »das Wesen des Willens in das ›Emotionale‹ [verlege] und […] ihn aus den rationalen Missdeutungen durch den Idealismus heraus[rücke]« (HGA, 6.1, 40), obgleich auch schon Schelling in der Freiheitsschrift, wie gesehen, 250 einen solchen Schritt getan hatte. Heidegger meint aber in seinen Nietzsche-Vorlesungen dessen Bestimmung, dass »der Wille […] vor Allem noch ein Affekt« sei, 251 mit der die ›Entschlossenheits‹250 Vgl. dazu insbes. oben, Teil II, Kap. 1.1.2. Auf die Parallelität der schellingschen Willenskonzeption zu derjenigen Nietzsches hebt Heidegger nur kurz ab, indem er aber gerade nicht auf den ›Willen der Sehnsucht‹ und dessen Nähe zu Nietzsches Rede vom ›Affekt‹ des Willens (vgl. hingegen die Parallelisierung der ›Sehnsucht‹ mit dem »Sichselbstwollen (Nietzsche)« in HGA 86, 258; vgl. dazu unten, Teil IV, Kap. 8.2), sondern vielmehr auf den ›Willen des Verstandes‹ und dessen, so Heidegger, Parallelität zum Gedanken des ›Befehls‹ im Willen eingeht: »Schelling sagt sogar: das eigentlich Wollende im Willen ist der Verstand. Ist dies nicht eindeutiger Idealismus, wenn man darunter eine Zurückführung des Willens auf das Vorstellen verstehen will? Allein Schelling will, in seiner überspitzten Redewendung, nichts anderes betonen als das, was Nietzsche im Willen heraushebt, wenn er sagt: der Wille ist ein Befehl« (HGA 6.1, 54 f.) Wie auch immer man diese Parallele bewerten mag, zuzugestehen ist auf jeden Fall, dass sowohl Schelling als auch Nietzsche den Willen als etwas ›Kompliziertes‹, als etwas in sich Differenziertes ansehen. 251 JGB 19, KSA 5, 32. Vgl. hierzu mit Blick v. a. auf Nietzsche, aber auch auf Heidegger auch Xolocotzi 2012.

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Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

Analyse begleitenden Konzeption der ›Stimmungen‹ verknüpfen zu können. Heidegger zufolge handelt es sich nämlich bei den von Nietzsche angeführten Affekten »um Grundweisen, in denen das menschliche Dasein beruht, um die Weise, wie der Mensch das ›Da‹, die Offenheit und Verborgenheit des Seienden, in denen er steht, besteht.« (HGA 6.1, 41) 252 Nietzsches »Wille« bezeichnet nach Heidegger somit die »Ent-schlossenheit, in der sich der Wollende am weitesten hinausstellt in das Seiende, um es im Umkreis seines Verhaltens festzuhalten« (HGA 6.1, 45). 253

7.2. Kritik des Willens: Die Verleugnung des ›zeithaften Wesens‹ des Seins in der ›Beständigkeit und Anwesenheit‹ Heideggers positive Einschätzung Nietzsches ändert sich unverkennbar in seiner Vorlesung Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis aus dem Sommersemester 1939. Nietzsche wird dabei immer noch als ›Vollender‹ der bisherigen Überlieferung angesehen – und dies nicht nur im Blick auf »die Metaphysik der Neuzeit, sondern die abendländische Metaphysik im Ganzen.« 254 Dies impliziert, dass er auch die griechische Auslegung des »Sein[s] des Seienden als Beständigkeit des Anwesens« mitträgt und in ihre augenfälligste Ausprägung führt, was Heidegger unter Bezugnahme auf die folgende Nachlassaufzeichnung Nietzsches zu begründen sucht: 255 »Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste

252 Deutlich anspielend auf den ›Stimmungs‹-Begriff heißt es in HAG 6.1, 48: »Gefühl ist die Weise […] wie wir uns zumal zum Seienden, das wir nicht sind, und zum Seienden, das wir selbst sind, gestimmt finden« (Herv. v. Verf.). 253 Für diese These ließen sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst noch zahlreiche weitere Belege anführen; verwiesen sei hier nur noch auf folgende Stelle: »Im Wesen des Willens, in der Ent-schlossenheit, liegt, daß er sich selbst erschließt, also nicht erst durch ein dazukommendes Verhalten, durch ein Beobachten des Willensvorganges und ein Nachdenken darüber, sondern der Wille selbst hat den Charakter des eröffnenden Offenhaltens« (HGA 6.1, 49). 254 HGA 6.1, 591 / HGA 47, 316. 255 HGA 6.1, 591 f. / vgl. HGA 47, 316 f. Heidegger hat 1961 hier wie auch an anderen Stellen den Ausdruck ›Anwesung‹ durch ›Anwesen‹ bzw. ›Anwesenheit‹ wohl im Bemühen um eine terminologische Vereinheitlichung ersetzt. In HGA 6.1–2 findet sich denn auch, soweit sich dies nachprüfen ließ, der Ausdruck ›Anwesung‹ generell nicht mehr. Vgl. dazu auch Meyer 2005, 149.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

Wille zur Macht.« 256 Die mögliche gegenteilige Behauptung, dass es »in der Geschichte der Philosophie schon früh, nämlich bei Heraklit und später unmittelbar vor Nietzsche bei Hegel [und gerade auch bei Schelling, P. H.] neben der ›Metaphysik des Seins‹ auch eine ›Metaphysik des Werdens‹« gab, weist Heidegger nun einfach als »Gedankenlosigkeit« zurück, 257 obgleich er im Falle Nietzsches sowie des hier auffälligerweise unerwähnt bleibenden Schelling kurz zuvor noch das Gegenteil behauptet hatte und ihnen zumindest im Ansatz ein Bewusstsein für das ›zeithafte Wesen‹ des Seins zugestanden hatte. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht, der auf die beiden nicht mehr gehaltenen letzten Vorlesungen des Sommersemesters 1939 zurückgeht (vgl. HGA 6.2, 451), äußert Heidegger denn auch eine unmissverständliche Kritik: Das Sein, die Seiendheit des Seienden, als Wille zur Macht denken, heißt: das Sein begreifen als die Entbindung der Macht in ihr Wesen, dergestalt, daß die unbedingt machtende Macht das Seiende als das gegenständlich Wirksame in den ausschließlichen Vorrang gegen das Sein setzt und dieses in die Vergessenheit entfallen läßt. (HGA 6.2, 4)

Dem ›Willen zur Macht‹ wird hier gerade nicht mehr der »Charakter des eröffnenden Offenhaltens« (HGA 6.1, 49) zugesprochen, sondern vielmehr wird er als ein gleichsam ›eigenmächtiges‹ Tun aufgefasst, das zugunsten des beherrsch- und handhabbaren ›gegenständlich Seienden‹ das ›Sein‹ in die ›Vergessenheit‹ geraten lässt. Dabei wird die Formel ›Wille zur Macht‹ nun auch nicht mehr gänzlich tautologisch verstanden: »Das Wesen der Macht ist Wille zur Macht, und das Wesen des Willens ist Wille zur Macht. […] Dies bedeutet aber nie die Gleichsetzung von Wille und Macht.« (HGA 6.2, 239) So erklärt Heidegger mit Blick auf die zuvor noch mit jener Formel gleichgesetzte Formulierung ›Wille zum Willen‹: »hier sagt ›Wille‹ je Unterschiedenes: einmal Befehlen und zum anderen Verfügen über die Wirkungsmöglichkeiten.« (HGA 6.2, 240) Trotz dieser ›Ebenen‹-Unterscheidung bemerkt Heidegger jedoch, dass es nicht einen »Wille für sich gibt […] so wenig wie Macht für sich« (HGA 6.2, 240). Der Wille sei notwendig auf die Macht als Ziel angewiesen, was ex negativo »der Schrecken vor der Leere […] im Nichtwollen« zeige, wie Heidegger unter Bezugnahme auf die Genealogie der Moral sowie unter Zu-

256 257

NF 7[54], KSA 12, 312. HGA 6.1, 591 / HGA 47, 316.

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Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

rückweisung oder genauer im Zuge der ›Entlarvung‹ einer jeden gelassenheitstheoretischen Vorstellung als einer in Wahrheit voluntativen anmerkt (HGA 6.2, 240). 258 Des Weiteren wird in konsequenter Weiterführung dieser Umdeutung des ›Willens zur Macht‹ der Gedanke der ›ewigen Wiederkehr‹ ersterem vorgeordnet, da er doch laut Nietzsches eigener Aussage gerade die »extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins« 259 ausdrückt. Hatte sich Heidegger zuvor noch bemüht, den bei Nietzsche zeitlich früher auftauchenden Wiederkunftsgedanken als gleichsam systematisch nachgeordnete Folge des ›Willens zur Macht‹ darzustellen (vgl. HGA 6.1, 432 f.), so bezeichnet er ihn nun als »vor allem sachlich früher, d. h. vorgreifender, ohne daß Nietzsche selbst jemals die Wesenseinheit mit dem Willen zur Macht eigens als solche zu durchdenken und metaphysisch in den Begriff zu heben vermochte.« (HAG 6.2, 4) Obgleich die zitierte Nachlassaufzeichnung 7[54] das genaue Gegenteil belegt, betont Heidegger Letzteres, um den Schluss ziehen zu können, dass Nietzsche »in die Grundzüge des metaphysischen Leitentwurfes so wenig zurückfinden konnte wie alle Metaphysiker vor ihm.« (HGA 6.2, 4) Im Zuge des Vorwurfs einer gleichsam doppelten Vergessenheit will Heidegger Nietzsche gerade das Bewusstsein dafür absprechen, was Heidegger selbst mittels des Rückbezugs des Gedankens des ›Willens zur Macht‹ auf den der Wiederkunft gerade aufzuzeigen versucht – dass letzterer nämlich gleichsam in Reinform »die ständige Beständigung des Werdens des Werdenden in die eine Anwesenheit des Sichwiederholens des Identischen« denke (HGA 6.2, 5). Nietzsche ›vergesse‹ so nicht nur das ›Sein‹, sondern er setze gleichzeitig auch noch den ›metaphysischen Leitentwurf‹, nämlich die ›Wesenseinheit‹ von Wiederkunftsgedanken und ›Wille zur Macht‹, unbewusst voraus, durch die allererst das ›Sein‹ in seiner, wie gesehen, zeithaften, zwischen Präsenz und Absenz changierenden Bewegtheit vergessen werde. Wie vor Nietzsche bereits der »Leibnizsche[…] Entwurf der Substantialität der Substanz als vis primitiva activa und passiva«, Schel258 Heidegger bezieht sich hier auf GM III, 1, KSA 5, 339: »Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.« 259 NF 7[54], KSA 12, 312: »Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht. […] Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung.«

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lings Bestimmung »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) in der Freiheitsschrift sowie auch Hegels Bestimmung des »Wesen[s] der Vernunft« (HGA 6.2, 1), – stellt derart in den Augen Heideggers der nietzscheanische ›Wille zur Macht‹ »das Seiende […] in das Offene von Beständigkeit und Anwesenheit« (HGA 6.2, 7). Der ›Wille zur Macht‹ gebe diesem damit den Anschein einer gänzlichen Beherrschbarkeit, ohne das letztlich nicht fixierbare und unverfügbare »zeithafte[n] Wesen« des ›Seins‹ zur Kenntnis zu nehmen, das indessen generell jener nur vermeintlichen ›Beständigkeit‹ zugrunde liegt und sie durchherrscht (HGA 6.2, 7). 260 Doch Heidegger geht in dieser gleichsam archäologischen Untersuchung der »geschichtliche[n] Herkunft des Entwurfs des Seienden als Wille zur Macht« (HGA 6.2, 212) noch weiter bis in die Antike zurück. Dazu verweist Heidegger auf den seiner Ansicht nach »wesensgeschichtliche[n] Zusammenhang zwischen der ἐνέργεια und dem Willen zur Macht« (HGA 6.2, 213). 261 Zur Begründung dieses Zusammenhangs stützt sich Heidegger nicht so sehr auf den etymologischen Zusammenhang mit ›Energie‹, »deutet [dieser metaphysische Grundbegriff, P. H.] doch ›energisch‹ genug auf den Willen zur Macht« (HGA 6.2, 212). Im Rückgang auf die etymologische Verwandtschaft von ἐνέργεια und ἔργον erklärt Heidegger vielmehr, dass »[i]m Wesen der ἐνέργεια […] noch ursprünglich zusammengehalten [ist], was später als Gegenständlichkeit und Wirklichkeit auseinander und ins Wechselspiel trat und zu den wesentlichen Bestimmungen der Seiendheit in der neuzeitlichen Metaphysik sich verfestigte.« (HGA 6.2, 212 f.) Dabei werde einerseits das ἔργον allein als »das im Wirken Gewirkte, im Tun Geleistete«, aber gerade nicht mehr als »das ins Offene des Anwesens Freigelassene« und somit letztlich Unverfügbare verstanden (HGA 6.2, 375). Andererseits werde die ἐνέργεια in einer folgenreichen Übersetzung zur actualitas: »Wenn das Sein sich zur actualitas (Wirklichkeit) gewandelt hat, ist das Seiende das Wirkliche, ist es bestimmt durch das Wirken im Sinne des verursachenden Machens.« (HGA 6.2, 377) In der Neuzeit zunächst weitergeführt durch Leibniz, der »alles Seiende ›subjektartig‹, d. h. in sich vorstellend-strebig und damit wirk-sam« begriffen habe (HGA 6.2, 213), führt nach Heideg260 Vgl. auch HGA 6.2, 308 u. 436–438. Vgl. dazu Davis 2007, 146–184; Bensussan 2015a, 91–98; Höfele 2016a, 86–89. 261 Gefolgt ist Heidegger in dieser philosophiegeschichtlichen Interpretation übrigens Ricœur 1970, 283–289.

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ger diese im ›Willen zur Macht‹ kulminierende Interpretation des Seins durch die Überlieferung letztlich zu einem Verständnis desselben als einerseits generell Verursachtes und einfach Vorliegendes sowie andererseits, damit einhergehend, als grundsätzlich Verfügbares und Beherrschbares, was sich vor allem in der modernen Technik zeige. 262 Stichwortwartig zugespitzt artikuliert Heidegger dies auch in dem auf 1941 datierten Text Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik: »Sein als Wirklichkeit – Wirklichkeit als Wille. Wille – als zu sich strebendes Sicherwirken nach (gemäß) einem Vor-stellen seiner selbst (der Wille zum Willen).« (HGA 6.2, 426) Insofern der Wille immer ein ›Streben‹ nach einem Verfügbarmachen sei und mit einem bestimmten, ihn leitenden ›Vorstellen‹ einhergehe, verkenne er aber gerade die wesenhafte Entzogenheit des ›Seins‹. So lautet denn auch Heideggers vernichtendes Urteil, dass der Wille »seinen Wesensursprung in der wesenhaften Unwissenheit des Wesens der Wahrheit als der Wahrheit des Seins« habe (HGA 6.2, 426). Im Gegensatz zur Schelling-Vorlesung von 1936 fällt nun auch Schellings Satz ›Wollen ist Urseyn‹ unter dieses Diktum, insofern Heidegger die »im Wesen des Wollens« liegende »Unterscheidung« zwischen ›Grund‹ und ›Existierendem‹, die 1936 ja gerade auf das Changieren zwischen Präsenz und Entzug im Seinsbegriff hinwies, nun durch eine Priorisierung des ›Existierenden‹ ausgehebelt sieht, welches allein für das Präsenzmoment einsteht. So spricht Heidegger von einer »aus der ersten Vollendung der Metaphysik bei Schelling vorgezeichnete[n] Auszeichnung der Existenz im Sinne der Wirklichkeit als Selbstsein« (HGA 6.2, 430), die durch eine ›Verengung‹ des Existenzbegriffes bei Kierkegaard sogar noch radikalisiert werde. In Form eines zu verfolgenden Programmes, das in gewisser Hinsicht die Schelling und Kierkegaard ebenfalls zusammenbringende Schelling-Vorlesung aus demselben Jahr 1941 aufnehmen und ausführen wird, heißt es dann abschließend: Die Darstellung der Verengung des Existenzwesens geht aus von Schellings Unterscheidung von ›Grund und Existenz‹. Zu zeigen: 1. Inwiefern sich auch noch hinter dieser Unterscheidung die geläufige Unterscheidung von essentia und existentia verbirgt.

262

Vgl. dazu Angehrn 2003.

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2. Warum diese Unterscheidung in eigentümliche, sich sogar entgegensprechende Fassungen gerät (z. B. ›das Sein und das Seiende‹ ; ›Existenz und das Existierende‹ […]). 3. Wie Kierkegaard diese Unterscheidung übernimmt, indem er den Existenzbegriff auf die Christlichkeit des Christseins verengt […]. (HGA 6.2, 438)

8. Rückfall in die ›Metaphysik der Subjektivität‹: Heideggers Schelling-Kritik 1941 Auch wenn die erstmals 1927 dokumentierte Schelling-Rezeption Heideggers anfangs durchaus affirmative Züge trägt und seitens Heideggers von der Erkenntnis einer geistigen Nachbarschaft getragen zu sein scheint, so ist diese Rezeption des Idealisten durch Heidegger doch gleichzeitig von Beginn an durch eine kritische Distanznahme geprägt, die im Laufe der Jahre sich immer entschiedener artikuliert. Gleichzeitig wird der Freiheitsschrift generell eine Sonderstellung zugestanden. So wird selbst noch die an ihr herausgestellte und kritisierte Problematik als charakteristisch für den Idealismus insgesamt behauptet. Schon das Protokoll zur vierten Sitzung des Marburger Schelling-Seminars von 1927/28 setzt ein mit einem Hinweis auf die Bedeutung der Freiheitsschrift sowohl zum Verständnis von Schellings gesamter Philosophie wie auch von »den zentralen Problemen des Deutschen Idealismus überhaupt«, 263 auch wenn diese ›Probleme‹ innerhalb des frühen Schelling-Seminars allenfalls am Rande benannt werden. Deutlicher und in verschärfter Form buchstabieren die heideggerschen Schelling-Vorlesungen des Sommersemesters 1936 und insbesondere diejenige des ersten Trimesters 1941 diese hier vorgezeichnete Interpretationsrichtung aus. Gerade in letzterer wird denn auch die Freiheitsschrift nicht nur als Schlüssel zum Verständnis von Schellings gesamtem Denken sowie der ›Probleme‹ des deutschen Idealismus angesehen, sondern sogar noch über ihre ambivalente Bedeutung als »Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus« hinaus als dasjenige Werk interpretiert, in dem der »Wesenskern aller Metaphysik des Abendlandes in der vollen Bestimmtheit herausgesetzt« wird, wie es zu Beginn der Schelling-Vorlesung von 1941 263

Heidegger 1927/28, 346 / HGA 86, 541.

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Heideggers Schelling-Kritik 1941

heißt (HGA 49, 1 f.). Damit betont Heidegger zum einen positiv, dass die Freiheitsabhandlung »nichts Einzelnes« behandle – wie Heidegger 1941 analog zu 1936 gegen Hegel betont (HGA 42, 21; HGA 49, 7). Zum anderen geht es ihm aber auch in kritischer Absicht darum, dass in Schellings Schrift von 1809 »alle wesentlichen Bestimmungen dieser Metaphysik [des deutschen Idealismus wie auch des Abendlandes insgesamt, P. H.] zum Austrag kommen« (HGA 49, 1). Dabei wird Schellings Freiheitsschrift wiederum unter Berufung auf das darin zu findende Zitat ›Wollen ist Ursein‹ (vgl. HGA 49, 100–103 passim) nicht allein in eine direkte Vorläuferschaft zu Nietzsches ›Willen zur Macht‹ gerückt und auf ein alles strukturierendes willens- und subjektivitätstheoretisches Paradigma verpflichtet (Kap. 8.2). Vielmehr wird die Schrift von 1809 darüber hinaus, und im Vorlesungsverlauf sogar noch dem vorausgehend, als eine Vorstufe des kierkegaardschen Denkens mit Blick auf den Existenzbegriff stilisiert, dessen Betonung – einhergehend mit der Abblendung der Struktur des ›Grundes‹ – gerade das Entzugsmoment innerhalb der von Heidegger als ›Unverborgenheit‹ interpretierten Wahrheit des ›Seyns‹ verdränge (Kap. 8.1).

8.1. Vom ›existenziellen‹ zum ›existenzialen‹ Existenz- und Todesbegriff: Heideggers Kierkegaard-Referat von 1941 Insofern Heidegger 1941 bei seiner ›erneuten Auslegung‹ der schellingschen Freiheitsschrift, wie auch der Untertitel der Vorlesung lautet, insbesondere auf die von ihm zum »Kernstück« der Abhandlung gezählte »Unterscheidung von ›Grund‹ und ›Existenz‹« fokussiert (HGA 49, 11), kommt er im Zuge einer »begriffsgeschichtliche[n] Erläuterung« jener beiden Begriffe (HGA 49, 14) auch auf den Existenzbegriff der Existenzphilosophie Karl Jaspers sowie Søren Kierkegaards zu sprechen. 264 Heideggers Begründung für diesen Zugang zur Seit seinem wohl ersten Schelling-Seminar 1927/28 spricht Heidegger von Schellings Unterscheidung zwischen ›Grund und Existenz‹, obgleich Schelling explizit zwischen der ›Existenz‹ als dem ›reinen Existieren‹, worin auch der ›Grund‹ mit einbegriffen sei, und dem ›Existierenden‹ als dem ›existierenden Subjekt‹, das zu dem ›Grund‹ als ›Nicht-Subjekt‹ in Gegensatz stehe, unterscheidet. Heideggers begriffliche Ungenauigkeit diesbzüglich dürfte zum einen mit seinem Anliegen zu tun haben, Schelling auf seine eigenen Überlegungen zur ›Existenz‹ sowie auf den Existenzbegriff der Existenzphilosophie zu beziehen. Zum anderen ist dieses Ignorieren jener 264

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Freiheitsschrift, dass es um eine »Annäherung von dem uns Bekannten aus« gehe (HGA 49, 14), ist dabei nur vordergründig einer gleichsam didaktischen Methode geschuldet, die gegenüber der Sache sich rein äußerlich verhielte. Vielmehr sucht Heidegger dadurch das Originelle der schellingschen Unterscheidung in eine zum allgemeinen Konsens avancierte Tradition hinsichtlich des Verständnisses der Begriffe ›Grund‹ und ›Existenz‹ einzuordnen. Der 1936 noch in seiner internen Differenziertheit und Spannung gewürdigte »Wille, der Grund und Existenz im Absoluten bindet und ihren Gegensatz anerkennt«, wird hierbei als ein »wissende[r]« Wille abgestempelt, der in der Anerkennung jenes Gegensatzes diesen zugleich »überwindet in der Einheit ihrer Wesensgerechtigkeit« (HGA 49, 13). 265 Die ›begriffsgeschichtlichen Erläuterungen‹ zu ›Grund‹ und ›Existenz‹ zielen denn auch letztlich darauf ab, die interne Differenzierung des Wollens, in dem – so Heidegger 1936 noch – Präsenz und Entzug gegeneinander in Spannung stehen, auszuhebeln oder genauer einzuebnen. (1) Diese Tendenz der heideggerschen Auslegung zeigt sich allein schon daran, dass der Begriff des ›Grundes‹ (vgl. HGA 49, 76–82) gegenüber dem der ›Existenz‹ (vgl. HGA 49, 17–76) auf verhältnisschellingschen Differenzierung 1941 wohl auch von der Interpretationstendenz getragen, die Unterscheidung zwischen ›Grund‹ und ›Existierendem‹ einzuebnen bzw. gänzlich im Existenzbegriff aufgehen zu lassen (vgl. dazu unten, Teil IV, Kap. 8.2). Vgl. dazu Schellings briefliche Ausführungen gegenüber Eschenmayer, der analog zu Heidegger 1810 ebenfalls bereits jene Differenzierung Schellings übersieht, sodass Schelling sich zu einer Richtigstellung veranlasst sieht: »Der Grund zur Existenz und die Existenz sind an sich nicht verschieden, wenn Sie unter dieser eben nichts weiter als die Existenz, das reine Existiren, als solches, verstehen. Begriffen Sie aber das Ganze darunter, inwiefern dazu auch das existirende Subjekt gehört, so müßte ich es leugnen; denn der Grund ist das nicht-Subjekt, das nicht selber Seyende, also von der Existenz, sofern darin das Subjekt schon mitbegriffen wird, nothwendig verschieden. Allein ich habe überhaupt nicht von einem Unterschied zwischen der Existenz und dem Grunde zur Existenz gesprochen, sondern von einem Unterschied zwischen dem Existirenden und dem Grund zur Existenz; welches, wie Sie selbst sehen, ein bedeutender Unterschied ist« (F. W. J. Schelling an K. A. Eschenmayer, April 1812, SW VIII, 164). 265 Es ist auffällig, dass Heidegger diesen ›Grund‹ und ›Existierendes‹ zusammenhaltenden ›wissenden Willen‹ sogleich auf die von Schelling abschließend als ›Höchstes‹ eingeführte Struktur des »Geist[es] der Liebe« bezieht (HGA 49 13) – und nicht primär auf das ›Wollen als Ursein‹, das wie gesehen ja gerade in der Freiheitsschrift selbst in Spannung zu jener Unterscheidung steht, ohne dass Schelling diese letztgültig auflöst. Doch Heidegger scheint 1941 diese interne Spannung, die er 1936 noch für seinen ›Seins‹-Begriff fruchtbar machte, bewusst auszuklammern. Vgl. dazu auch oben, Teil II, Kap. 1.3 u. Teil IV, Kap. 6.2.

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mäßig nur wenig Raum behandelt wird. Auch wenn Heidegger durchaus die Vielschichtigkeit des Grund-Begriffes würdigt, 266 so bringt er ihn doch insbesondere zum einen mit den vier Ursachen nach Aristoteles in Verbindung und betont hierbei vor allem die Wichtigkeit des ὑποκείμενον (vgl. HGA 49, 78–80), 267 obgleich es Schelling selbst vielmehr um einen der ›Schwerkraft‹ vergleichbaren Begriff des »ewig dunkle[n] Grundes« geht (AA I,17, 129), woran Heidegger 1936 noch mit dem Konzept des Entzuges des ›Seins‹ angeschlossen hatte. Zum anderen verknüpft er ihn mit dem SubjektBegriff als lateinischer Übersetzung von ὑποκείμενον, insofern das das Wahre suchende »Erkennen, Erfahren und Denken […] auf ein Bleibendes, Beständiges, allem Zugrundeliegendes, d. h. im Sinne der überlieferten Metaphysik seit Platon und Aristoteles auf das ὑποκείμενον, d. h. das subjectum« gehe (HGA 49, 81). Über Descartes und den für Heideggers Willensauslegung, wie gesehen, so wichtigen Leibniz werde das Wesen dieses Subjekts sodann »zum Wesen der Subjektivität überhaupt […], d. h. zum Wesen des Seins eines jeden von sich her in sich Seienden« (HGA 49, 81). Dass »[v]ielleicht […] auch Schellings Kennzeichnung des Seienden als ›Grund‹ aus der neuzeitlichen Auslegung der Seiendheit der Subjektivität« entspringe, dies sucht Heidegger damit zu belegen, dass Schelling »bloß Grund von Existenz« sage, den ›Grund‹ mithin nur in Verbindung mit und auf die ›Existenz‹ hin zur Sprache bringe (HGA 49, 82). (2) Der gegenüber dem ›Grund‹ priorisierte Begriff der ›Existenz‹ wird von Heidegger des Weiteren gänzlich auf den auch schon in den Nietzsche-Vorlesungen 268 negativ konnotierten Gedanken der »Anwesung – ›Dasein‹ in dem gewöhnlichen Sinne des irgendwie ›Präsenten‹« hin ausgelegt (HGA 49, 17). Hierzu geht Heidegger vor allem von Kierkegaards Abschließender unwissenschaftlicher Nachschrift aus, 269 um mit Blick auf den dortigen Existenzbegriff zunächst zu266 So betont Heidegger, dass ›Grund‹ »Unterlage, Boden«, »Ursache« oder auch »Anspruch, Recht, Rechtsanspruch« bedeuten könne (HGA 49, 76), und fasst anschließend in HGA 49, 77 zusammen: »Grund: jedes Mal das, worauf eine Herstellung, Auf-stellung, ein Stehen und Gehen, eine ›Erklärung‹ (Durch-gehen), eine Berufung zurückgeht; das irgendwie Zurückliegende, aber dergestalt zurück, daß es zugleich voraufgeht und vorauswaltet und vorherwirkt.« 267 Vgl. Aristoteles, Physik, II 3 u. Metaphysik, I 3–7. 268 Vgl. dazu oben, Teil IV, Kap. 7.2 Anm. 255. 269 Vgl. bes. HGA 49, 19–22. Heidegger bezieht sich v. a. auf AUN2, 1–19, bes. 2 f. u. 8 (Kap. 3, § 1).

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zugestehen, dass darin zumindest »ein Anklang des Existenzbegriffes von ›Sein und Zeit‹« bestehe, wohingegen »Schellings Existenzbegriff, der ganz innerhalb der abendländischen und zugleich neuzeitlichen Meatphysik verbleibt, […] ohne jeden Bezug zum Existenzbegriff in ›Sein und Zeit‹ zu denken« sei (HGA 49, 75): Bei Kierkegaard werde nämlich Existenz entgegen der Tradition erstens analog zu Sein und Zeit als »auf den Menschen bzw. das Da-sein beschränkt« verstanden (HGA 49, 76). Zweitens insistiere Kierkegaard gegenüber der Philosophie Hegels darauf, dass die Existenz »in der Zeitlichkeit bleibe[…]«, wobei darüber hinaus »dieses Bleiben nicht als Verharren im Gegebenen« interpretiert werde (HGA 49, 24). 270 Kierkegaard gehe es nämlich drittens darum – wie Heidegger ebenfalls positiv vermerkt –, dass »das Selbstsein wesentlich wird« (HGA 49, 76). Sowohl Kierkegaard als auch Heidegger gehen denn auch in ihren Analysen von einem ursprünglichen, zu überwindenden ›Nichtselbstseinwollen‹ aus, wobei die von Heidegger beschriebene »Bewegung des Verfallens an die Welt und an das Man« vermutlich – wie Michael Theunissen bemerkt hat – von der »Verzweiflung der Notwendigkeit und der Endlichkeit« 271 aus der Krankheit zum Tode inspiriert ist. 272 Mithin anerkennt Heidegger 1941, wenn auch verhalten, den Ausgangs- und Abstoßungspunkt der kierkegaardschen ›Existenzanalyse‹. Jedoch insistiert Heidegger zugleich darauf, dass das Ziel dieser ›Selbstwerdung‹ als Überwindung eines ›uneigentlichen‹ Zustandes in seiner eigenen Philosophie gerade die »Inständigkeit in der Lichtung des Seins« darstelle (HGA 49, 76). Das Ziel markiere das Selbstsein »im Bezug zu diesem [zum Sein, P. H.], nicht zum Seienden, als Ich selbst« (HGA 49, 76) oder als »eigentlich[es] Christ-sein« (HGA 49, 24). Somit rückt Heidegger hier Kierkegaard wieder in die Traditionslinie der von ihm kritisierten Subjektivitätsphilosophie ein: »Kierkegaard denkt den Menschen im Sinne der ›Subjektivität‹, die der deutsche Idealismus begrifflich entfaltet hat« (HGA 49, 75). Dabei wird gerade Schelling eine Vermittlerrolle zugesprochen, insofern er nach Heidegger »eine Zwischenstellung ein

270 Heidegger übersieht dabei auch nicht, dass die Existenz als ›Synthese aus Ewigem und Zeitlichem‹ verstanden wird, jedoch liest er dies in Form eines »Entgehen dem Ewigen« (HGA 49, 24) sogleich auf das Christliche hin. 271 Theunissen 1993, 47 f. 272 Vgl. KT, bes. 29–31 u. 34–38.

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Heideggers Schelling-Kritik 1941

[nimmt] zwischen dem überkommenen Begriff existentia und dem eingeschränkten Existenzbegriff Kierkegaards und der ›Existenzphilosophie‹« (HGA, 49, 75). Wie schon in Sein und Zeit 1927 273 sucht sich Heidegger von Kierkegaard vor allem derart abzugrenzen, dass er dessen Existenzbegriff nur einen existenziellen Sinn zugesteht, während er selbst auf einen ›existenzial-ontologischen‹ Existenzbegriff abziele. Dabei ist es auffällig, dass er seinem ›existenzialen‹ Existenzbegriff nun allerdings einen anderen Sinn und Bezugspunkt als 1927 gibt, der in – gleichwohl problematischer Weise – den Unterschied zu Kierkegaard deutlicher als in Sein und Zeit zutage treten lässt: Während nämlich der »›existenzielle‹ Existenzbegriff (Kierkegaards und Jaspers’) […] das selbstseiende Selbst des Menschen« meine, »sofern es für sich als dieses Seiende interessiert ist«, gehe es Heideggers eigenem »›existenziale[n]‹ Existenzbegriff« um das »Selbstsein des Menschen, sofern es sich nicht auf das seiende Selbst, sondern auf das Sein und den Bezug zum Sein bezieht« (HGA 49, 39). Anders gesagt: Während Heidegger zufolge Kierkegaard mit der ›Selbstwerdung‹ nur auf das wahrhafte, für sich selbst interessierte Existieren des Einzelnen abhebe, geht es Heidegger selbst um das sich darin artikulierende Verständnis von ›Sein‹ überhaupt und nicht nur das ›Sein‹ des Menschen. Die nachträgliche Uminterpretation des Anliegens von Sein und Zeit in der Vorlesung von 1941 ist unverkennbar, insofern 1927 die ›existenziale‹ Frage nur als Frage danach, »was Existenz konstituiert« oder was die »Struktur von Existenz« ausmacht, verstanden wurde. 274 Auch die Struktur der Sorge – anders als Heidegger 1941 behauptet – meinte keineswegs die »inständige Behütung und Bewahrung der Wahrheit des Seins« (HGA 49, 55), sondern lediglich das ›In-derWelt-Sein‹ oder das »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)« (HGA 2, 256). Und das ›Sein‹ selbst wurde in der Daseinsanalyse von Sein und Zeit zunächst einmal als das ›Sein‹ des Daseins bestimmt: »Das Sein, darum es diesem Seienden [dem Dasein, P. H.] in seinem Sein geht, ist je

Vgl. HGA 2, 131 Anm.: »Im 19. Jahrhundert hat S. Kierkegaard das Existenzproblem als existenzielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich durchdacht. Die existenziale Problematik ist ihm aber so fremd, daß er in ontologischer Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit Hegels und der durch diesen gesehenen antiken Philosophie steht.« 274 Theunissen 1993, 45. 273

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meines.« (HGA 2, 57) Gleichwohl war – was Heidegger 1941 zu Recht betont – auch 1927 schon die »Analytik der Existenz« lediglich als »Fundament« (HGA 49, 30) oder methodischer Ausgangspunkt einer erneut nach dem ›Seins‹-Begriff fragenden Philosophie gedacht, wobei das menschliche Dasein in seinem Seinsverständnis gleichsam das Absprungbrett für die Frage nach einem Begriff von ›Sein‹ überhaupt – und nicht nur des menschlichen ›Seins‹ – liefern sollte, auch wenn Heidegger in Sein und Zeit die Ausführung dieses Programms noch nicht gelungen war. Genau an diese 1927 schon angelegte, aber nicht umgesetzte Perspektive suchte Heidegger schon in seinem wohl ersten Schelling-Seminar 1927/28 anzuknüpfen. 275 Auch in seiner rückblickenden Interpretation von Sein und Zeit 1941 (vgl. HGA 49, 26– 75) verfolgt Heidegger nochmals eben dieses Ziel – nun allerdings sowohl in Abgrenzung zu Schellings willenstheoretischem wie auch zu Kierkegaards existenzphilosophischem Ansatz, was mit Heideggers geschichtsphilosophischem Anliegen einer Abgrenzung gegenüber der gesamten abendländischen Tradition zu tun hat. 276 Heidegger betont denn auch entschieden mit Blick auf die Todesanalyse von Sein und Zeit den Abstand zu Kierkegaard, obgleich er hierbei eine nicht unproblematische Uminterpretation dieser Analyse in der Absicht einer Anschlussfähigkeit derselben an das Entzugsmoment seines ›Seins‹-Begriffes vornimmt. 1927 wandte sich Heidegger der Todesanalyse 277 mit dem Anliegen zu, das ›Sein‹ des Daseins in seiner Ganzheit in den Blick zu bringen, was nur über eine Reflexion von dessen ›Ende‹ einzuholen sei: »Das ›Ende‹ des In-derWelt-Seins ist der Tod. Dieses Ende, zum Seinkönnen, das heißt zur Existenz gehörig, begrenzt und bestimmt die je mögliche Ganzheit des Daseins.« (HGA 2, 310 f.) Als Ende »zum Seinkönnen« konnte Heidegger den Tod weiterhin mit einer geradezu paradoxen Formulierung als »Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit« verstehen, in der das Dasein »völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen« ist (HGA 2, 333). Diese Bestimmungen wiesen dabei zumindest ansatzweise noch zurück auf Kierkegaards Charakterisierungen der »Entscheidung des Todes« aus der Rede An einem Grabe, die dieser als »entscheidend« sowie als dasjenige versteht, in dem Vgl. oben, Teil IV, Kap. 4.1. Vgl. dazu Haeffner 1974 u. Höfele 2016b, 274–278. 277 Vgl. zu der bereits häufig interpretierten Todesanalyse von 1927 exemplarisch Figal 1988, 221–233 u. Steinmann 2010, 122–133. 275 276

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Heideggers Schelling-Kritik 1941

»[d]er Ernste […] sich selbst« betrachtet. 278 Auch in der weiteren Bestimmung des Todes als »unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins« (HGA 2, 343) klangen 1927 kierkegaardsche Motive nach – so das Momente des »Nichtbestimmbaren« des Todesereignisses, verbunden mit der »Gewißheit« seines Kommens, sowie das Moment des »[U]nerklärlich[en]«, das »über keine Beziehung« etwas weiß. 279 Zwar hatte sich trotz dieser unabweisbaren Nähen zur kierkegaardschen Todesanalyse bereits 1927 ein Abstand zu dieser angedeutet – etwa im von der Grabesrede kritisierten Begriff der ›Stimmung‹. Denn die »Stimmung« wertet Heidegger in Gestalt der »Grundbefindlichkeit« der Angst insofern positiv auf, als sich gerade in der letztgenannten »Stimmung« die »Geworfenheit in den Tod […] ursprünglicher und eindringlicher« enthülle (HGA 2, 334). 280 Der Abstand zu Kierkegaard tritt jedoch in aller Deutlichkeit zutage, wenn Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre der Tod nun nicht mehr, mit Kierkegaard gesprochen, als »Gegenstand für den Ernst« 281 eigentlichen Existierens bestimmt wird, das gerade im Bedenken des je eigenen Todes besteht, sondern der Tod nun vielmehr zum, wie es in den Beiträgen heißt, »höchste[n] und äußerste[n] Zeugnis des Seyns« überhaupt avanciert (HGA 65, 284). Somit soll der Tode genau jenen Zusammenhang der ›Selbstinterpretation‹ des ›Sein-verstehenden Daseins‹ mit dem Verständnis von ›Sein überhaupt‹ herstellen, den Heidegger 1927/28 gerade über den schellingschen Begriff des Wollens zu stiften suchte, was er sich selbst allerdings ab den vierziger Jahren im Zuge seiner Willenskritik und seines damit einhergehenden Gelassenheitsdenkens dann verwehrte. 282 So befremdlich es zunächst anmutet, dass Heidegger über seine Todesanalyse, die ja ursprünglich nur über das menschliche Sein Aufklärung geben sollte, nun auch Aufschluss bezüglich der Seinsfrage im Allgemeinen erhofft, so lässt sich die Zusammenführung beider Motive doch ansatzweise verständlich machen. Denn schon in Sein und Zeit hatte Heidegger das Dasein als ein solches beschrieben, das DRG, 173–205, hier 180 u. 196. DRG, 194, 198, 199. Vgl. dazu Theunissen 1955, 140–147. 280 Anders verhält es sich natürlich mit Blick auf den Begriff Angst (vgl. BA, bes. 39– 43; vgl. dazu auch Heideggers positive Erwähnung der Schrift in HGA 2, 131 Anm.). Vgl. zu Kierkegaards Begriff der ›Stimmung‹ Theunissen 1955, 141. 281 DRG, 175. 282 Vgl. dazu auch unten, Teil IV, Kap. 9. 278 279

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»ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist« sowie »schon immer sein Ende« (HGA 2, 326). Indem derart aber das ›Noch-nicht‹ und das ›Nicht-mehr‹ als untrennbar verbunden mit dem Sein des menschlichen Daseins gedacht werden, verweist der Tod, mit Michael Steinmann gesprochen, gleichsam auf das »Sein als Nichts« oder das »Nichts als Sein«. 283 Obwohl diese Auffassung der Struktur von ›Sein‹ als changierend zwischen Begreiflichkeit und Unbegreiflichkeit, zwischen Offenbarkeit und Entzug oder zwischen Sein und ›Nichtsein‹ bei Heidegger, wie gesehen, erst in den dreißiger Jahren aufkommt, zögert dieser 1941 nicht, sie auf Sein und Zeit zurückzuprojizieren: »Weil in »Sein und Zeit« nach dem Sinn des mit dem Nichts wesensverwandten Seins gefragt ist, darum und nur darum wird von der Angst, vom Tod […] und vom Nichts gehandelt.« (HGA 49, 58) Dass jedoch diese, so Steinmann, »heuristische Funktion« des Todes, »die einen Zugang zum Sein in seinem ursprünglichen Wesen eröffnen soll«, 284 ein Spezifikum der dreißiger und vierziger Jahre ist, das in Sein und Zeit noch nicht derart angelegt war, dürften bereits die kurzen Ausführungen zu 1927 gezeigt haben. Problematischer als diese nachträgliche Uminterpretation ist jedoch, dass sich die Bestimmung des Todes in den Beiträgen nicht mit der Todesanalyse von Sein und Zeit in Einklang bringen lässt – auch nicht, wenn man sie im Sinne einer Erweiterung des 1927 zum Phänomen des Todes Gesagten versteht. Denn dass das Dasein im ›Vorlaufen zum Tode‹ »völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen« werde, wie es 1927 heißt (HGA 2, 333; zweite Herv. v. Verf.), ist eine Bestimmung, die sich mit der ein Jahrzehnt späteren Deutung des Todes als eines solchen, der »das Ungewöhnlichste in allem Seienden, das Seyn selbst«, eröffne (HGA 65, 283; Herv. v. Verf.), nicht vereinbaren lässt – vielmehr muss diese Deutung des Todes die 1927 mit der Todesanalyse verbundenen Momente des Eigensten und der Vereinzelung geradezu konterkarieren. 285 Nur derart lässt sich »im MenschSteinmann 2010, 128. Steinmann 2008, 313. 285 Indem Heidegger derart zugunsten seiner gewandelten ›existenzial-ontologischen‹ Interpretation des Todes als ›höchstes und äußerstes Zeugnis des Seyns‹ die Todesanalyse aus Sein und Zeit teilweise einklammern muss und dabei auch die Parallelen zu den ›existenziellen‹ kierkegaardschen Überlegungen zurückdrängt, wird jedoch auch die Todesanalyse der Beiträge fragwürdig. So lässt sich in einer gleichsam ›spiegelverkehrten‹ Formulierung der heideggerschen Kritik an Kierkegaard fragen, ob Heidegger selbst in seiner Deutung des Todesphänomens in den Beiträgen nicht 283 284

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sein nicht nur das Sein des Menschen, sondern das Sein überhaupt« erfahren (HGA 49, 71). Heidegger muss sich denn auch 1941 mit seinem ›existenzialen Existenzbegriff‹ in eine, wenngleich problematische, Opposition zu Kierkegaard setzen, was auch erklärt, weshalb Kierkegaard in der Vorlesung gleichsam nur in Form einer exkursartigen Hinführung zur Interpretation der schellingschen Freiheitsschrift Erwähnung findet. Denn bei Schelling meint Heidegger noch eher finden zu können, was er in Kierkegaards rein ›existenziellem‹, auf den Menschen bezogenem Philosophieren vermisst, insofern nämlich gerade bei Schelling, so Heidegger 1936, »der Mensch […] im Hinblick in die Abgründe und Höhen des Seyns« überhaupt erfahren werde (HGA 42, 284). Der für Heidegger so wichtige »Bezug des Seins zum Menschen« werde denn auch bei Schelling ansatzweise in dessen »›Anthropomorphismus‹ des Seienden (und d. h. des Seins)« erfahren (HGA 49, 72 f.; vgl. auch HGA 42, 282–285). Gleichwohl grenzt Heidegger letztlich »Schellings Begriff der Existenz«, der »das Selbstsein des Seienden [betrifft] und somit das Selbstsein im Sinne der ›Subjektivität‹, d. h. der ›Egoität‹« denkt, ebenfalls wie im Falle Kierkegaards von seinem eigenen Existenzbegriff deutlich ab, der die »ekstatische Inständigkeit im Offenen der Wahrheit des Seins« meine und der derart »entspringt aus einem alle Metaphysik überspringenden Fragen nach der Wahrheit des Seins« (HGA 49, 74 f.). Obgleich gerade Schelling ähnliche Figuren kennt, 286 strebt Heidegger hier eine generelle Abgrenzung gegenüber der gesamten philosophischen Tradition an, was sich gerade im folgenden, rein Schelling gewidmeten Vorlesungsteil bezüglich der Auslegung des Wollens zeigt.

8.2. ›Sein ist Wollen‹: Die Freiheitsschrift als ›Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus‹ Heidegger versteht die Freiheitsschrift gleichsam als einen ›Kristallisationspunkt‹ negativer, die Wahrheit des ›Seins‹ verstellender philosophiegeschichtlicher Entwicklungen: Bereits zu Ende der Vorlesung von 1936 hatte Heidegger ja betont, dass die Freiheitsschrift über der ›existenzialen‹ Interpretation die von Kierkegaard betonte existenzielle Interpretation in unzulässiger Weise ausgeklammert und vernachlässigt hat. 286 Vgl. etwa oben, Teil II, Kap. 4.3.2.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

»Schwierigkeiten hervortreibt, die schon im Anfang der abendländischen Philosophie […] als von diesem aus unüberwindbar gesetzt sind« (HGA 42, 279). Gleichwohl hatte Heidegger zu Beginn der Vorlesung von 1936 zugleich noch das Andersartige und Zukunftsträchtige des schellingschen ›Scheiterns‹ hervorgehoben, das als »das Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs« (HGA 42, 5) zu werten sei. 1941 besteht das ›Tiefsinnige‹ oder Herausragende der Freiheitsschrift jedoch nicht mehr in der Andeutung eines neuartigen, anderen Anfangs der Philosophie, sondern lediglich darin, das Ganze einer verkehrten Metaphysikgeschichte wie in einem ›Brennglas‹ hervortreten zu lassen: »In der Besinnung auf das in der Freiheitsabhandlung Abgehandelte gelangen wir in wesentliche Bezüge zu dem, was ›ist‹«, und damit auch – so Heidegger weiter – zu dem »Grund der ›Schwierigkeit‹« der Erfahrung dieser »wesentlichen Bezüge«, welchen Heidegger in der »Seinsverlassenheit des Seienden« sowie der »Seinsvergessenheit des Menschen« ausmacht (HGA 49, 9). Um dies aufzuzeigen, nimmt die Vorlesung nach der ›begriffsgeschichtlichen Erläuterung von Grund und Existenz‹, die ja ebenfalls bereits auf diese ›Seinsvergessenheit‹ mit Blick auf den Existenz- sowie Todesbegriff aufmerksam zu machen suchte, nun nochmals eine Fokussierung auf jene Unterscheidung bei Schelling selbst in vier Argumentationsschritten vor. (1) Auch wenn sowohl Heideggers Auseinandersetzungen mit Schellings Freiheitsschrift von 1927/28 wie von 1936 sich ausgiebig mit der Unterscheidung von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ auseinandersetzen und 1936 Heidegger sie sogar als Vorausdeutung auf seinen eigenen Seinsbegriff der dreißiger Jahre würdigt, so stellt doch ohne Zweifel die Vorlesung von 1941 am deutlichsten diese Unterscheidung ins Zentrum. Die gesamte Vorlesung – angefangen bei der »Vorbetrachtung« (HGA 49, 11–104, Zitat 14) bis hin zur eigentlichen »Erläuterung des Kernstückes« der Freiheitsschrift (HGA 49, 85–140, Zitat 14) – fokussiert denn auch auf die Unterscheidung von ›Grund‹ und ›Existierendem‹ oder auf das von Heidegger als »Wurzel der Unterscheidung« (HGA 49, 83) angesehene ›Wollen‹. Für Heidegger ist nämlich die nunmehr kritische »Auseinandersetzung mit der Ansetzung der Unterscheidung, d. h. mit dem Entwurf des Seienden im Ganzen auf die so bestimmte Seiendheit: seynsgeschichtlich« relevant (HGA 49, 107). Das ›seynsgeschichtliche Denken‹ kann sich laut Heidegger dabei unter anderem gerade auch »[i]m Rückblick auf die 424 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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Geschichte der Metaphysik« vollziehen (HGA 65, 437), selbst wenn diese durch ›Seinsvergessenheit‹ gekennzeichnet ist. 287 Hierzu nimmt Heidegger nun zunächst eine Akzentuierung des ›Existenz‹-Begriffes zulasten des ›Grund‹-Begriffes vor, die sich, wie gesehen, bereits im Rahmen der ›begriffsgeschichtlichen Erläuterung‹ zeigt, – behandelt diese doch fast ausschließlich den Existenzbegriff, wenn man einmal von den letzten Seiten derselben zur zudem kritischen Auseinandersetzung mit dem ›Grund‹-Begriff absieht (HGA 49, 76–82). So sei die »Unterscheidung von Grund und Existenz als Wesenbestimmung der ›Existenz‹ im Sinne der Subjectivität« zu verstehen; »[i]n der Unterscheidung hat die Existenz die Priorität im Sinne der Superiorität im actus!«, wie Heidegger 1941 betont (HGA 49, 103 f.). 288 Außerdem erfährt der ›Existenz‹-Begriff eine charakteristische Uminterpretation gegenüber 1936: So gesteht Heidegger 1936 Schelling noch zu, dass dessen Existenzbegriff »dem Wortbegriff näher bleibt als die seit langem übliche Bedeutung von 287 Genauer erläutert Heidegger das Verhältnis von ›seynsgeschichtlichem Denken‹ und Metaphysik sowie nebenbei auch die Schreibung von ›Seyn‹ mit ›y‹ in HGA 65, 436: »Das seynsgeschichtliche Erfragen des Seyns ist nicht Umkehrung der Metaphysik, sondern Ent-scheidung als Entwurf des Grundes jener Unterscheidung [zwischen Sein und Seiendem, P. H.], in der sich auch noch die Umkehrung halten muß. Mit solchem Entwurf kommt dieses Fragen überhaupt ins Außerhalb jener Unterscheidung von Seiendem und Sein; und sie schreibt deshalb auch das Sein jetzt als ›Seyn‹. Dieses soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird.« 288 Bereits im Wintersemester 1937/38 hält Heidegger mit Blick auf Schellings Spätphilosophie sowie den »Zug zum ›Positiven‹« als »Grundzug seiner [Schellings, P. H.] Philosophie von Anfang an« (HGA 88, 137) fest: »Der Grundzug geht nach dem Seienden selbst als dem Existierenden, d. h. von sich her auf und aus sich heraus. Trotzdem; dieses aber im Gegensatz zum Seienden, sofern es Vorgestelltes (Gegenstand) ist, d. h. sofern die Seiendheit bestimmt ist als Gedachtheit des vor-denkenden Denkens, bestimmt in dem, was im Vorgestellten als solchem meist nicht gedacht werden kann, das ›bloß‹ Seiende.« Doch diese zunächst positive klingende SchellingInterpretation, in der Schelling in Absetzung von der durch Heidegger kritisierten Tradition eines Verständnisses des Seienden als reinem ›Vorgestelltsein‹ begriffen wird, wendet Heidegger sogleich ähnlich wie 1941 in eine grundlegende Kritik an dem Idealisten um: »Gemäß diesem Grundzug will Schelling wieder und zuerst das Existierende gewinnen und dieses in seinem eigenen Grund begreifen. Dieses Wiedergewinnenwollen ist eine ›Restauration‹ der christlich-aristotelisch-platonischen Erfahrung des Seienden als Existierenden« (HGA 88, 137 f.). So heißt es dann auch wenig später abgrenzend: »So kommt es, daß gerade Schelling in der Spätphilosophie, die man zuweilen als die vorausgenommene Erfüllung von ›Sein und Zeit‹ jetzt ausgibt […], am wenigsten etwas ahnt von dem, was zur Überwindung des eigentlichen ›Rationalismus‹ notwendig ist« (HGA 88, 141).

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›Existieren‹ als Vorhandensein«, um dann ausdrücklich zu vermerken, dass bei Schelling »Ex-istieren« ganz im Sinne von Sein und Zeit »das aus sich Heraus-tretende und im Heraus-treten sich Offenbarende« meine (HGA 42, 187). 1941 heißt es hingegen unmissverständlich und mit einer deutlichen Kritik, dass, wie bereits erwähnt, »Schellings Existenzbegriff […] ganz innerhalb der abendländischen und zugleich neuzeitlichen Metaphysik verbleibt« und »ohne jeden Bezug zum Existenzbegriff in ›Sein und Zeit‹ zu denken« ist (HGA 49, 75). Schellings Existenzbegriff komme durch seine Ausweitung auf alles Seiende einerseits und seinen Bezug auf ›Subjektivität‹ und ›Egoität‹ andererseits dabei eine »Zwischenstellung« zwischen dem traditionellen Existenzbegriff und dem auf den Menschen eingeschränkten Kierkegaards und der Existenzphilosophie zu (HGA 49, 75). Insofern werde in Schellings Freiheitsschrift »›Sein‹ – hier überall und entschieden als Existenz des Grundes: ›Subjectität‹« gedacht (HGA 49, 103), wie Heidegger mit einem bereits in den NietzscheVorlesungen herangezogenen Neologismus erklärt. Dieser soll ausdrücken, »daß das Sein zwar vom subjectum her, aber nicht notwendig durch ein Ich bestimmt ist« (HGA 6.2, 410), und benennt somit »die einheitliche Geschichte des Seins von der Wesensprägung des Seins als ἰδέα bis zur Vollendung des neuzeitlichen Wesens des Seins als Wille zur Macht« (HGA 6.2, 412). Dass Heidegger mit dieser Uminterpretation des schellingschen Existenzbegriffes als Struktur einer auf alles ausgreifenden ›Subjekt(iv)ität‹ 289 Schelling in der von ihm in den vierziger Jahren immer wieder kritisierten ›Präsenzmetaphysik‹ zu verorten sucht, zeigt umgekehrt auch seine oben bereits dargestellte, reduktionistische Auslegung des ›Grundes‹ im Jahr 1941 (vgl. HGA 49, 76–82). Diese blendet dessen Entzugsmoment generell ab und sucht Grund und Existenz auf ihre Strukturanalogie oder genauer auf ihre gemeinsame ›Wurzel‹, nämlich das ›Wollen als Ursein‹, hin durchsichtig zu machen. Nach Heidegger ist nämlich gerade das »Wollen als Titel der neuzeitlichen Auslegung des Seins im Sinne der existentia« aufzufassen (HGA 49, 101). (2) Hatte Heidegger 1936 noch ein Verständnis des ›Wollens als Urseins‹ lediglich dem rein idealistischen Freiheitsbegriff zugeschrie289 Heidegger versteht die »›Subjektivität‹ als eine Weise der Subjectität«: Während das »Sein […] in seiner Geschichte als Metaphysik durchgängig Subjectität« sei, werde hingegen erst mit Descartes die »Subjectität zur Subjektivität«, insofern dort »das seit Descartes ausgezeichnete subjectum, das ego, einen Vorrang« habe (HGA 6.2, 411).

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ben, welcher ganz im Sinne Schellings nur ein »formelle[r] Begriff der Freiheit« sei und damit gerade den »reale[n] und demzufolge lebendige[n] Begriff der menschlichen Freiheit« vernachlässige (HGA 42, 166), sodass beide auseinanderzuhalten seien, so avanciert 1941 jenes Verständnis des ›Urseins als Wollen‹ ausdrücklich zur »Wurzel der Unterscheidung« von Grund und Existierendem, die auch der spezifisch menschlichen Freiheit nochmals zugrunde liegt, und beschreibt mithin Heidegger zufolge bei Schelling »das Wesen des Seins« insgesamt (HGA 49, 83): »Die Unterscheidung entspringt aus dem Wollen«, so fasst Heidegger 1941 zusammen, »und das Unterschiedene hat den Charakter von ›Wille‹« (HGA 49, 89). Zwar unterscheidet Heidegger zunächst ›Sein‹ als »Wollen« von dem ›Sein‹ als »Unterschiedenheit« (von Grund und Existierendem), welches als »scheidend Einigendes« und »Sich-selbst-Vorstellen« zugleich den »Grundzug der ἰδέα« aufweise (HGA 49, 97). Die »Vollendung der Metaphysik« zeigt sich für Heidegger aber erst im Zusammenschließen beider Verständnisse von ›Sein‹, indem er die »Unterscheidung von Grund und Existenz als Wesenbestimmung der ›Existenz‹ im Sinne der Subjektivität« liest (HGA 49, 103) und letztere, die Existenz, wie gesehen, wiederum mit dem ›Willen‹ gleichsetzt: Die Unterscheidung sei nämlich zu denken »als die Realität des Realen im Sinne des Seins des Seienden (d. h. von der Existenz des Grundes her, d. h. aus ihr [der Existenz] selbst ihr Unterscheidung-sein begreifen; als Unter-scheiden, Wille, Wille des Verstandes, Existenz)« (HGA 49, 103). Bei dieser einfachen Gleichsetzung von Grund und Existenz über den Mittelbegriff des Willens greift Heidegger letztlich implizit wieder auf seine ›begriffsgeschichtlichen Erläuterungen‹ zurück, wonach der ›Grund‹ in der Neuzeit als Subjekt interpretiert werde, mithin als etwas, das »irgendwie auf sich selbst bezogen, durch Selbstsein bestimmt« sei, was »bei Schelling das Wesen der ›Existenz‹« kennzeichne (HGA 49, 82). Das Wollen avanciert derart nicht allein zur »Wurzel der Unterscheidung« (HGA 49, 83), sondern wird gleichzeitig als solche auch noch mit der ›Existenz‹ gleichgesetzt. (3) In einem weiteren Schritt sucht Heidegger zudem zu zeigen, wie bei Schelling diesem Wollen alle traditionellen Seinsprädikate zugesprochen werden. 290 Indem das Wollen nämlich zur Grundstruktur allen Seins erhoben werde, ist es in Heideggers Augen nur kon290 Vgl. zum Folgenden, allerdings mit Blick vornehmlich auf die Weltalter-Rezeption Heideggers 1941, auch bereits Höfele 2015, 70–72.

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sequent, dass Schelling auch alle traditionellen »Wesensprädikate des Seins« (HGA 49, 84) auf das Wollen überträgt. 291 Heideggers Kritik an Schelling artikuliert sich dabei innerhalb dieses Vorlesungs-Abschnittes vermutlich am deutlichsten, insofern er ihn hier einerseits in eine Frontstellung zu seinem eigenen Ansatz von Sein und Zeit rückt und ihn andererseits auf die von ihm immer wieder kritisierte ›Präsenzmetaphysik‹ zu verpflichten sucht, die jegliches Moment des Entzugs und der Unverfügbarkeit im ›Sein‹ aufhebe. In der Absicht, dies »[a]us dem letzten Stück von ›Weltalter‹ zu erläutern« (HGA 49, 84), bemerkt Heidegger dabei mit Bezug auf das Prädikat der »Ewigkeit«, dass Schellings Bestimmung des Seins als »Ständigkeit in einer einzigen Anwesung« zu verstehen sei (HGA 49, 85), obgleich er durchaus zur Kenntnis nimmt, dass in den Weltaltern die »Ueberwindung der Zeit« durch die »[w]irkliche Ewigkeit« (SW VIII, 260) deren »Einschluß« impliziere (HGA 49, 85). In deutlicher Kritik an Schelling heißt es dann aber bei den Ausführungen zur »Unabhängigkeit von der Zeit« mit Verweis auf zeitphilosophische Passagen des Weltalter-Fragments von 1814/15, in denen Schelling eine gleichzeitige Präsenz der drei als ›Ewigkeiten‹ verstandenen Zeitdimensionen behauptet (vgl. SW VIII, 260 f. u. 301 f.): »Wird hier nicht ganz eindeutig durch die Metaphysik selbst zum voraus gegen ›Sein und Zeit‹ entschieden?« (HGA 49, 85) Heidegger zufolge wird das Sein hier nämlich gerade nicht im transitiven Sinne mit seinem spezifischen Entzugscharakter beschrieben, sondern als »vom Wechsel des Verschwindens und Ankommens unbetroffene Anwesung« (HGA 49, 85). Doch erscheint Heideggers Kritik an Schellings Zeitkonzeption hier keineswegs der Sache angemessen. Analog zu Heideggers Denken eines ›Nichthaften‹ im Sein 292 ist es Schelling nämlich gerade um den Aufweis einer spezifischen Präsenz der gegenüber der Gegenwart absenten Zeitdimensionen zu tun. So kann Schelling zufolge das Vergangene […] freilich nicht als ein Gegenwärtiges, wohl aber muß es als ein Vergangenes mit dem Gegenwärtigen zumal seyn; das Zukünftige ist freilich nicht als ein jetzt Seyendes, wohl aber ist es mit dem Gegenwärtigen als ein zukünftig Seyendes zumal, und es ist gleich

291 Schelling nennt dabei folgende »Prädikate«: »Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung« (AA I,17, 123). 292 Vgl. etwa HGA 65, 264–268. Vgl. oben, Teil IV, Kap. 6.2.

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Heideggers Schelling-Kritik 1941

ungereimt, das Vergangen-seyn wie das Zukünftig-seyn als ein völliges Nichtseyn zu denken. (SW VIII, 302)

Heidegger geht es jedoch, wie die Ausführungen zum Prädikat der »Selbstbejahung« anzeigen, allein um die von ihm immer wieder kritisierte »neuzeitliche Auslegung des Seins«, unter die er auch Schelling zu subsumieren trachtet: »Seiendes ist, indem es sich selbst in seinem Wesen zustellt und in solcher Zustellung vorstellt und vorstellend sich erstrebt. (Ge-stell)« (HGA 49, 86). Vor allem der letzte, im Zusammenhang von Heideggers Technikdenken bedeutsame Begriff 293 zeigt deutlich dessen Kritik an, die Schelling auf einer Linie mit Nietzsches ›Willen zur Macht‹ zu verorten sucht und der zufolge die Neuzeit insgesamt und die moderne Technik im Besonderen die an sich unverfügbare ›Verbergung‹ und ›Entbergung‹ des Seins bedrohen: Das Sein werde in einer bloßen Anwesenheit, die keine Unverfügbarkeit kennt, gleichsam ›fest-gestellt‹, indem man dessen absolute Durchsichtigkeit und Verfügbarkeit ›erstrebe‹. (4) In einem vierten und letzten Schritt sucht Heidgger denn auch Schelling zusammen mit Hegel und Nietzsche als Vertreter einer zu kritisierenden Willens- und Präsenzmetaphysik zu exponieren. Heideggers These, dass die Freiheitsschrift nicht nur »der Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus« sei, sondern in ihr zugleich »überhaupt der Wesenskern aller Metaphysik des Abendlandes in der vollen Bestimmtheit herausgesetzt« werde (HGA 49, 1 f.), wird in der Vorlesung von 1941 zumindest in der Weise eingelöst, dass Heidegger infolge jener Festlegung Schellings auf eine reine Willensund Präsenzmetaphysik diesen in einer Linie sowohl mit Hegel als auch mit Nietzsche verortet. So seien als eine sich durchziehende, einheitliche Grundstruktur bei Hegel ein »Wille des Wissens (Anerkennens) – (Begierde)«, bei Schelling der »Wille der Liebe (Verstand – Universalwille)« und bei Nietzsche der »Wille zur Macht (Übermächtigung; Aufhebung der Unterscheidung von Sinnlichem und Nichtsinnlichem)« zu beobachten, deren gleichsam einheitlicher ›Nenner‹ nach Heidegger sich in dem »›Wille[n]‹ als Sich-selbst-Wollen, das Selbstsein, je verschieden – wahr« artikuliere (HGA 49, 102). Denn Hegels »Negativität« sei letztlich nur ein »über sich hinaus ›streben‹« (HGA 49, 100, vgl. auch GA 49, 182 f.) und Schellings Liebesbegriff sowie Nietzsches ›Wille zur Macht‹ stellten wiederum nur 293

Vgl. v. a. HGA 7, 20–35. Vgl. dazu Angehrn 2003.

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verschiedene Spielarten eines ›Sichwollens‹ dar, auch wenn Heidegger durchaus das »Gegenhafte und Zwieträchtige« von Liebe und Macht sieht. 294 Indessen sei das »Sichwollen« im Falle Schellings (wie auch Hegels) lediglich ein »Sichwollen als Zu-sich-selbst-kommen und so Sich-offenbaren und Erscheinen vor sich selbst (›absolute Idee‹); der Verstand als Wille im Willen; unbedingte Subjektivität als ›Liebe‹ (nichts mehr Eigenes wollen)«, während mit Blick auf Nietzsche es sich um ein »Sichwollen als Über-sich-hinausgehen [handle, P. H.]; Übermächtigung und Befehl; ›Wille zur Macht‹ ; der Befehl als Wille im Willen; ›Übermächtigung‹ ; unbedingte Subjektivität als ›Macht‹.« (HGA 49, 101) Heidegger erwähnt zwar, dass die Liebe bei Schelling zugleich auch ein »das Nichts wollen – gelassene Innigkeit« und insofern »das reine Wollen« meine (HGA 49, 102), ohne aber diese gelassenheitstheoretische Lesart 1941 für eine positive Anschlussnahme mit Blick auf Schellings Ansatz fruchtbar zu machen.

9. ›Der lautere Wille, der weder will noch nicht will‹: Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen« zu Schelling im Spiegel seines Gelassenheitsdenkens Eine andere, affirmative Perspektive insbesondere auf den späteren Schelling gewinnt Heidegger hingegen erst wieder – vermutlich angeregt durch die 1955 erschienenen Schelling-Monographien Karl Jaspers’ und Walter Schulz’ 295 – in Aufzeichnungen wohl aus den fünfziger Jahren mit Blick vor allem auf die Erlanger Vorlesung von 1821. 296 In Form von kommentierten Exzerpten notiert Heidegger 294 Auf die Parallelität zwischen Schellings und Nietzsches Willenskonzeptionen hatte Heidegger auch schon in ähnlicher Weise im Zusammenhang seiner NietzscheVorlesungen hingewiesen, vgl. HGA 6.1, 54 f. Vgl. dazu oben, Teil IV, Kap. 7.1. Anm. 250. 295 Vgl. Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen« in HGA 86, 520 f. u. 523, die der Herausgeber Peter Trawny als Anhang I unter diesem Titel ohne genauere Datierung zusammen mit Aufzeichnungen zu einem Hegel-Seminar von 1956/57 veröffentlicht hat. Die Exzerpte aus Jaspers 1955 u. Schulz 1955 schließen jedoch zumindest eine Entstehung der Aufzeichnungen vor 1955 zweifellos aus. – Heideggers ›affirmative Perspektive‹ auf den ›mittleren‹ Schelling könnte sich aber auch bereits im Zusammenhang der zeitweise geplanten Mitherausgabe der WeltalterFragmente von 1811 und 1813 ergeben haben, vgl. dazu Höfele 2015, 51 f. 296 Vgl. hierzu auch bereits Höfele 2015, 72–74.

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Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen«

darin mit Verweis auf SW IX, 221: »Der lautere Wille, der weder will noch nicht will – Gleichgültigkeit – ›die Indifferenz‹ – ›als Form des eigentlichen Absoluten‹« (HGA 86, 525). Außerdem hält er dort bezüglich des »Subjekt[es] der Philosophie« fest, dass es »schließlich indefinibel« sei (HGA 86, 524; vgl. dazu SW IX, 217). Heidegger gesteht Schelling hier nicht allein den Begriff einer jenseits der Opposition von Wollen und Nicht-Wollen sich bewegenden ›Gleichgültigkeit‹ oder auch Gelassenheit zu, sondern sieht darüber hinaus auch noch bei Schelling den Gedanken eines Unverfügbaren und sich letztlich Entziehenden hinsichtlich der ›Sache‹ der Philosophie gegeben, den er ihm 1941 bezüglich der Freiheitsschrift und der Weltalter gerade nicht einräumen wollte, obwohl Schelling auch dort schon einen solchen Begriff im Blick hat. 297 Dieser Form von Unverfügbarkeit kann im Falle des Menschen nur eine ihn »außer sich« setzende und die eigene Ohnmacht anerkennende »Ekstase« (SW IX, 229) oder ›Gelassenheit‹ entsprechen: »Aber nicht bloß die Objekte, auch sich selbst muß der lassen, der sich in jenen freien Aether [der Philosophie, P. H.] erschwingen will« (SW IX, 218), 298 so bemerkt Schelling in einer von Heidegger exzerpierten Passage aus der Vorlesung von 1821, die Heidegger von der Sache her ebenfalls in dem ihm zugänglichen Weltalter-Fragment von 1814/15 hätte finden können. So spricht Schelling auch dort von der Forderung, »sich von sich selbst zu scheiden«, oder einem »Außer-sich-gesetzt-werden«, an dem der Mensch nur durch sein »In-sich-gesetzt-seyn« gehindert werde (SW VIII, 295 f.). Diesen Gedanken, dass der Mensch – in genauem Gegensatz zu einer Selbstbezüglichkeit, die auf alles ausgreife und vereinnahme – sich angesichts seiner Endlichkeit und Begrenztheit gegenüber den Dingen zurücknehmen müsse, greift Heidegger auch in einem 1955 gehaltenen Vortrag über den Begriff der Gelassenheit auf, den er anlässlich einer Gedenkfeier für den Komponisten Conradin Kreutzer

Vgl. im Falle der Freiheitsschrift insbes. die Ausführung zum ›Ungrund‹ in AA I,17, 170–172, und bezüglich der Weltalter etwa SW VIII, 234: »Den meisten […] scheint es das Höchste, ein Seyendes oder Subjekt zu seyn, obwohl dieses Wort schon andeutet, daß alles, was nur ein Seyendes ist, inwiefern es dieß ist, ein Höheres über sich erkenne; daher fragen sie: was denn über allem Seyn gedacht werden könne, oder was das sey, das weder seyend sey noch auch nichtseyend, und antworten sich selbstgenügsam: das Nichts.« Vgl. auch WA I, 14 f. 298 Vgl. auch Heideggers Exzerpt in HGA 86, 524. 297

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

gehalten hat. 299 Darin fordert Heidegger eine Korrektur und Relativierung des rein technischen und alles vereinnahmenden Verhältnisses des Menschen zur Welt, das diesem »die Weite des Himmels und des Geistes« zu nehmen drohe, indem alles »in die Zange der Planung und Berechnung« gerate (HGA 16, 522). Dadurch aber lässt sich, mit Schelling gesprochen, ›nichts Neues‹ mehr erfahren. Dagegen erinnert Heidegger an eine »Gelassenheit zu den Dingen«, in der man die »Gegenstände zugleich auf sich beruhen lassen« kann. 300 Hierbei werde dem Menschen nicht nur – im Sinne der schellingschen Konzeption wirklicher Vergangenheit – »ein neuer Grund und Boden […] zurückgeschenkt« (HGA 16, 526), sondern auch die »Offenheit für das Geheimnis« (HGA 16, 528), die einem im Voraus alles planend sich vergegenwärtigenden Denken wieder einen Begriff des Unverfügbaren und sich Entziehenden zurückgebe. Obgleich hier Schelling mit keinem Wort erwähnt wird, reformuliert Heidegger damit implizit Grundgedanken insbesondere von Schellings Weltalter-Projekt: so etwa den Gedanken einer ›Scheidung von sich selbst‹, in der der Mensch durch das Lassen der eigenen Vergangenheit nicht nur erstmals seinen eigenen, ihm unverfügbaren Grund sich zu vergegenwärtigen vermag, sondern zugleich die Monotonie einer Welt hinter sich lässt, in der ›nichts Neues‹ mehr zu geschehen vermag. Die von Heidegger hierbei geforderte ›Offenheit für das Geheimnis‹ sucht dabei den jeweils Einzelnen dahin zu bringen, sich »auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten« (HGA 16, 528). Doch wie etwa die Vorlesung Was heißt Denken? von 1951/52 zeigt (vgl. HGA 8, 94–95 u. 102–105), sucht Heidegger selbst in den fünfziger Jahren trotz dieser offensichtlichen und auch, wie die Exzerpte belegen, von Heidegger wahrgenommenen Parallelen zu Schelling diese keineswegs offenzulegen. Wie bereits im Zuge der Nietzsche-Vorlesungen der dreißiger Jahre und der Schelling-Vorlesung von 1941 stellt Heidegger Schelling mit Bezug auf dessen Satz »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) in eine Linie mit Leibniz, Kant, Fichte, Hegel sowie Schopenhauer und Nietzsche: Was Leibniz […] denkt [nämlich das Sein des Seienden in Form der Monade als Einheit von Vorstellen und Anstreben, P. H.], kommt bei Kant und Fichte als der Vernunftwille zur Sprache, dem Hegel und Schelling, Vgl. dazu auch von Herrmann 1994, 371. HGA 16, 527. Vgl. zu Heideggers Gelassenheitskonzeption insgesamt, auch im Bezug auf Schelling, Ohashi 1975. 299 300

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Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen«

jeder auf seinem Weg, nachdenken. Das Selbe nennt und meint Schopenhauer, wenn er die Welt als Wille und Vorstellung denkt; das Selbe denkt Nietzsche, wenn er das Ursein des Seienden als Wille zur Macht bestimmt. Daß hier überall durchgängig das Sein des Seienden als Wille erscheint, beruht nicht auf Ansichten, die einige Philosophen vom Sein sich bilden. […] Das Sein des Seienden erscheint für die neuzeitliche Metaphysik als Wille. (HGA 8, 95 f.)

Wenn Heidegger gegenüber dieser willensmetaphysischen Tradition ein »Vorliegenlassen« (HGA 8, 204 passim) und, wie es in einer Randnotiz auch heißt, »Anwesenlassen: das Anwesende« (HGA 8, 235 Anm.) in Stellung bringt, so deutet hier der Wortstamm des ›Lassens‹ bereits darauf hin, dass Heidegger letztlich ein Denken der Gelassenheit anstrebt, das die Opposition von Wollen und Nicht-Wollen überwindet – was, wie von Heidegger bemerkt, auch Schelling in seiner ›mittleren‹ Philosophie mittels der Konzeption eines »Wille[ns], sofern er weder will noch nicht will« (SW IX, 220), vor Augen hat, 301 auch wenn Heidegger über die zitierten Exzerpte hinaus dies zumindest explizit nicht für sein eigenes Denkens fruchtbar macht. Heidegger zielt nämlich, wie der späte Vortrag »Zeit und Sein« von 1962 betont, darauf ab, gegenüber der Weise, wie »[f]rüher […] die Philosophie vom Seienden her Sein als ἰδέα, als ἐνέργεια, als actualitas, als Wille [dachte]«, das Sein als »eine Art des Ereignisses« zu denken (HGA 14, 26). Dies impliziert, dass Heidegger sich selbst als ein Denker versteht und positioniert, der gegenüber sämtlichen das Sein auslegenden ›Lehren‹ der Philosophiegeschichte gleichsam eine Metaebene einnimmt und sich derart von ihnen in grundlegender Weise abhebt. So kann er vor dem Hintergrund seines Verständnisses des Seins als ›eine Art des Ereignisses‹ erklären: »Wenn Platon das Sein als ἰδέα und als κοινωνία der Ideen vorstellt, Aristoteles als ἐνέργεια, Kant als Position, Hegel als den absoluten Begriff, Nietzsche als Willen zur Macht, dann sind dies nicht zufällig vorgebrachte Lehren, sondern Worte des Seins als Antworten auf einen Zuspruch, der in dem sich selber verbergenden Schicken, im ›Es gibt‹ spricht.« (HGA 14, 13) Wie es in einem Protokoll zu einem Seminar über diesen Vortrag heißt, kann diesem ›Zuspruch‹ des ›Ereignisses‹ nur eine gleichsam sich und alle bestimmten Artikulationen zurücknehmendes ›Lassen‹ im doppelten Sinne des »Anwesenlassen[s]: das An301

Vgl. dazu genauer oben, Teil II, Kap. 4.1.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

wesende« wie auch des »Anwesenlassen[s] (d. h. auf das Ereignis zu)« entsprechen (HGA 14, 45): 302 Im ersten Fall bezieht sich das Anwesen als Anwesen lassen auf das Seiende, das Anwesende. […] Lassen bedeutet dabei, ausgehend vom ursprünglichen Wortsinne: ab-lassen, weglassen, weglegen, weggehenlassen, d. h. freigeben ins Offene. […] Wird nun aber das Anwesenlassen eigens gedacht, dann ist das von diesem Lassen Betroffene nicht mehr das Anwesende, sondern das Anwesen selbst. Demnach wird das Wort im folgenden auch so geschrieben: das Anwesen-Lassen. Lassen bedeutet dann, zulassen, geben, reichen, schicken, gehören-lassen. (HGA 14, 45 f.)

Während das erste ›Lassen‹ gleichsam nur negativ auf das Ablassen von dem zu betrachtenden Seienden oder dem Erscheinenden mit Blick auf dessen damit einhergehende Freigabe ausgerichtet ist, geht es bei dem zweiten grundlegenderen und gewissermaßen positiven ›Lassen‹ um ein Hervortreten des Erscheinens oder ›Anwesens‹ selbst als Bedingung der Möglichkeit alles Erscheinenden im Zuge einer gänzlichen Selbstzurücknahme. Auf gleichsam methodischer Ebene hat dieser Ansatz bereits 1944/45 in dem Ἀγχιβασίη betitelten ›Feldweg-Gespräch‹ (vgl. HGA 77, 1–159) eine nicht zufällig auf die platonische Dialogform rekurrierende Darstellungsweise zur Folge. Diese sieht von einer eindeutigen, das ›Anwesen‹ womöglich festschreibenden Positionierung ab, auch wenn man unter den drei Gesprächspartnern in der als ›Weisen‹ bezeichneten Person am meisten noch Heideggers Position erkennen könnte, die aber zumeist in vagen Andeutungen verbleibt. In konsequenter Weise korrespondiert mit dieser Darstellungsform auf inhaltlicher Ebene die offensichtlich an die Nietzsche-Vorlesungen anschließende Äußerung des Weisen, dass »vielleicht überhaupt das Wesen des Willens sich im Befehl verbirgt« (HGA 77, 77), 303 sodass die Erörterungen der Gesprächspartner sich dem ›Nicht-Wollen‹ zuwenden, das gegenüber dem Willen für weniger übergriffig angesehen wird. Vor dem Hintergrund der Überlegung, dass selbst noch die Verneinung des Wollens eine voluntative Form besitzt, gelangen die Dialogpartner sodann zu der an Schellings Bestimmung 1821 erVgl. dazu auch Davis 2007, 233–237. Weniger zugespitzt, wenn auch in dieselbe Richtung verweisend, heißt es an anderer Stelle auch: »Denn jeder Wille will wirken und will als sein Element die Wirklichkeit« (HGA 77, 143). 302 303

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Heideggers »Späte Bemerkungen und Aufzeichnungen«

innernden Überlegung, dass das »Denken […] doch ein Nicht-Wollen sein [könnte], sowohl im Sinne einer Abwandlung des Wollens als auch in dem Sinne, daß es nicht ein Wollen ist.« (HGA 77, 82) Mit Blick auf die Frage nach dem ›Entwöhnen‹ von jedweder willentlichen Haltung gelangt der Weise dann im Verlauf des Dialogs – ganz im Sinne des 1962 erläuterten Gedankens der ›Schickung‹ – zu der Erkenntnis, dass »wir die Gelassenheit nicht von uns aus bei uns erwecken« (HGA 77, 108), was wiederum zu einer Potenzierung des ›Lassens‹ führt: Es verhalte sich nämlich derart, dass man »in die Gelassenheit eingelassen« sei (HGA 77, 109), dass die »Gelassenheit im Sinne des Losgelassenseins sich nur ereignen kann, wenn das Losgelassensein aus der horizontalen Transzendenz [wie es in Aufnahme eines Begriffes aus Sein und Zeit heißt, 304 P. H.] schon eingelassen ist in die eigentliche Gelassenheit« (HGA 77, 121). Im Anschluss an den auf den Überstieg der Welt abzielenden Transzendenzbegriff kann im Dialog die Gelassenheit in gleichsam erster Potenz als »das Wesen des Denkens« bestimmt werden, »das als die inständige Gelassenheit zum Welten von Welt jenes Verhältnis trägt, wodurch der Mensch in der Nähe zur Ferne wohnt.« (HGA 77, 151) Genau dieser Gedanke ist es auch, der dem Dialog seinen dem 122. Heraklit-Fragment entlehnten Titel Ἀγχιβασίη gegeben hat, den der Gelehrte abschließend als »In-die-Nähe-gehen« übersetzt (HGA 77, 156). 305 Das gelassene Denken sei dabei eine »Rückkehr […] im Sinne der Einkehr in die Gelassenheit« zweiter Potenz (HGA 77, 149). Zwar wird diese ›Einkehr‹ oder »Inständigkeit in der Gelassenheit zur Gegnet« im Sinne einer sowohl Wollen als auch Nicht-Wollen überwindenden Haltung als »das echte Wesen der Spontaneität des Denkens« bestimmt (HGA 77, 145), zugleich heißt es aber unmissverständlich an anderer Stelle, dass das rein passive »Warten […] im Wesen die Gelassenheit« sei (HGA 77, 123). Genauso unbestimmt wie jenes rein passive ›Warten‹ der Gelassenheit sich darstellt, bleibt dabei auch das als ›Gegnet‹ bezeichnete Gegenüber jener Gelassenheit: »Die Gegnet ist die verweilende Weite, die, alles versammelnd, sich öffnet, so daß in ihr das Offene gehalten und angehalten ist, Jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen« (HGA 77, 114). In dem Bestreben, alle in der Philosophiegeschichte vorgebrachten ›Lehren‹ zu vermeiden und allein, wie es 1962 heißt, jenen »Zuspruch« 304 305

Vgl. dazu HGA 2, 463–480. Vgl. auch oben, Teil IV, Kap. 2.3. und Kap. 2.4. Vgl. Heraklit, Diels/Kranz, 22 B 122.

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Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

sichtbar zu machen, »der in dem sich selber verbergenden Schicken […] spricht« (HGA 14, 13), liegt Heidegger bis in seine spätesten Texte hinein lediglich daran, die nicht festschreibbare Unverfügbarkeit oder auch das Sich-Entziehen als unabdingbaren Hintergrund für alles Erscheinende kenntlich zu machen. Heidegger geht es – wie er noch 1971 im Jahr der Edition seiner Schelling-Vorlesung von 1936 betont – allein um »das einfache Sagen in der Weise des Nennens des Vorenthaltenen […], dem das Denken ausgesetzt bleibt.« 306 Wie dieses ›Vorenthaltene‹ genauer zu fassen ist, bleibt hierbei bis auf lediglich vage Andeutungen unterbestimmt.

10. Abschließende systematische Überlegungen: Das Potenzial und die Grenzen von Heideggers und Schellings Willensdiskursen Es stellt ohne Zweifel eines der großen Verdienste Heideggers dar, Schellings philosophisches Werk und insbesondere dessen Freiheitsschrift – selbst noch in seiner vehementen Kritik derselben – als einen »Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus«, wenn nicht sogar als paradigmatischen Hinweis auf den »Wesenskern aller Metaphysik des Abendlandes« exponiert zu haben (HGA 49, 1 f.), insofern Schelling in der Bestimmung »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123) eine von zahlreichen philosophischen Ansätzen der Neuzeit explizit oder zumindest unterschwellig geteilte Annahme artikuliert habe. Gerade Paul Ricœur hat Heideggers Leistungen bezüglich der Entdeckung einer solchen, wie ersterer es nannte, »Tiefengeschichte der Erscheinungsweisen von Sein (depth history of modes of being), in der das Sein selbst sowohl verborgen als auch enthüllt ist«, 307 gewürdigt. Demnach stellt die von der ›Willensphilosophie‹ verfolgte Auslegung des Seins als Akt, ›energeia‹, Macht und Subjektivität nur eine Erscheinungsweise von Sein dar, die auf eine andere hin überwunden werden kann und derart auf die generelle Ambiguität von Sein selbst verweist. Dies macht aber zunächst einmal nur auf die Frage nach den Kriterien für eine Interpretation aufmerksam, die die richtige zu sein beanspruchen darf. 308 Man muss mit anderen Worten nicht soweit 306 307 308

Heidegger 1971b, o. S. Ricœur 1970, 289. Vgl. Ricœur 1970, 287–289.

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Abschließende systematische Überlegungen

gehen wie Heidegger und angesichts der Erkenntnis, dass die ›Willensphilosophie‹ lediglich eine Interpretation des Seins vorlege, deren generelle Zurückweisung anstreben. Zum einen vermag nämlich, wie gesehen, Heideggers Wollen und Nicht-Wollen hinter sich lassender Denkansatz in seiner Intention, die nicht festschreibbare Unverfügbarkeit des Seins generell zu respektieren, nur zu einem bloßen ›Nennen des Vorenthaltenen‹ vorzustoßen, aber gerade nicht zu einer in sich differenzierten Interpretation des Seins zu gelangen. Zum anderen ist umgekehrt gerade die voluntative Interpretation des Seins in der Lage, über eine vielschichte Auslegung des Wollens – angefangen etwa bei dem Phänomen der Sehnsucht über das zielgerichtete sowie potenzierte, sich zu sich verhaltende Wollen bis hin zu den voluntativen Grenzphänomenen des nicht-wollenden Wollens oder auch dessen Deformationen – eine differenzierte Explikation des Seins vorzulegen, die der Vielfalt des Phänomenalen durchaus in vielerlei Hinsicht gerecht wird. Heidegger hat in den zwanziger und dreißiger Jahre – vor der Zurückweisung jeglichen Wollens – diese Pluralität des Voluntativen in seinem Seinsdenken durchaus noch im Blick: In ähnlicher Weise wie Schelling sieht denn auch Heidegger hier lediglich in der Annahme einer gänzlichen Autarkie des Wollens die Gefahr einer Verleugnung der Endlichkeit und damit einhergehend eines dem Wollen unverfügbaren ›Anderen‹, auf das als immer schon vorausliegendes Sein ein jedes Wollen gleichzeitig immer angewiesen ist. Nur wenn im Wollen jene beiden Momente ausgeklammert werden, beraubt sich dieses gleichsam seiner eigenen Offenheit und kreist unfrei in einem Raum reiner Immanenz, wie Schelling vor allem in seiner ›mittleren‹ Philosophie im Rahmen einer Modernekritik zu zeigen unternimmt und wie allein mit Blick auf Heideggers willenskritisches Denken nach seiner ›Kehre‹ zuzugestehen ist. Während dem prinzipientheoretisch verabsolutierten Wollen jenes einzuverleibende Unverfügbare als Ausdruck seiner eigenen zu überwindenden Defizienz erscheint, sucht Schelling über Heidegger hinaus aber zugleich dieses Unverfügbare in seiner Alterität als die Ermöglichungsbedingung frei sich entfaltenden Wollens kenntlich zu machen. Darauf aufmerksam zu machen versucht Schelling durch eine Selbstzurücknahme des Wollens in ein ›Nicht(s)-Wollen‹ oder in eine Gelassenheit, die – wie mit Schelling gerade gegen Heidegger zu betonen ist – als Korrekturphänomene nicht das ganz Andere gegenüber dem Wollen ausmachen, sondern diesem letztlich nur zugrunde liegen. So ermöglicht 437 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Teil IV: Heideggers reduktionistische Aufnahme der Willenskonzeption

diese der Gelassenheit eigene Passivität und Offenheit für die Alterität des Seins doch erst das freie Wollen in der ihm möglichen und eigentümlichen Vielfältigkeit. Im Zuge der Betonung dieser Vielfältigkeit des Voluntativen im Unterschied zum späten Heidegger geht Schelling aber zugleich noch weiter: So sucht Schelling doch in gewisser Weise gerade jener von Ricœur gestellten Frage nach dem Zusammenhang der von ihm skizzierten drei unterschiedlichen Willensdiskurse 309 gerecht zu werden, womit auch allererst die Schlüssigkeit und Stringenz der voluntativen Seinsinterpretation sichergestellt ist. Schelling ist denn auch nicht nur bestrebt, in einem gleichsam ›hermeneutischen Diskurs‹ die Angemessenheit einer Auslegung des gesamten Seins als eines willentlich etablierten zu begründen; dabei sucht er diese etwa im Kontext einer ›anthropomorphistischen Methode‹ in seiner ›mittleren‹ Philosophie oder mit Verweis auf den geschichtlich gleichwohl noch ausstehenden Beweis in seiner Spätphilosophie, dass überhaupt etwas sinnhaft Verfasstes ist (vgl. etwa Schelling 1827/28, 101), abzusichern. Vielmehr hebt er auch seit seiner Frühphilosophie in gewisser Weise auf eine ›Phänomenologie des Wollens‹ ab, indem er zwischen verschiedenen Willensformen zu differenzieren sucht, was ihm mit Blick auf die zuerst genannte Diskursebene dann auch allererst eine Ausweitung des Willensbegriffes auf alles Sein hin erlaubt. Auch wenn er im Gegensatz zu Hegel nur am Rande zur politischen Philosophie und der dortigen Willensbildung Stellung bezogen hat, so geht es Schelling schließlich auf einer dritten Diskursebene mit Blick auf den Willensbegriff auch um die Frage nach ›sinnhaften Handlungen‹, was sich insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Bösen sowie des Tragischen als Verneinung alles Sinnhaften zeigt.

309

Vgl. Ricœur 1970, 288.

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Literatur

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BA

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Entweder/Oder. Ein Lebensfragment herausgegeben von Victor Eremita. Zweiter Teil, enthaltend die Papiere von B, Briefe an A, GW 2. Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard, GW 21.

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h) Weitere Siglen: Diels/Kranz

PL

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461 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

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Namensregister

Aischylos 278, 369 Aland, B. 243 Aland, K. 243 Angehrn, E. 413, 429 Antigone 372 f. Arendt, H. 1 f., 295, 364 f., 407 Aristophanes 147 Aristoteles 1, 86, 108, 137, 157, 170, 172 f., 201, 309, 405, 417, 433 Arndt, A. 282 Ast, G. A. F. 241 f. Augustinus, A. 1, 364 Babich, B. 402 Barash, J. A. 294 Barthel, L. F. 373 Baumgartner, H. M. 112 Begemann, V. 2 Berthold, D. 2 Beierwaltes, W. 90, 144 Bensussan, G. 4, 165, 180, 412 Berg, R. J. 5, 241 f. Bernhardt, S. 2 Bieri, P. 249 Bilda, A. 219 Binkelmann, C. 136, 209 Blasche, S. 54 Blond, L. P. 402 Bourke, V. J. 3 Böhme, G. 157 Böhme, J. 25, 90, 115 f., 137, 163, 233, 243, 271, 354 Braig, C. 294 Brandis, J. D. 62 Buchheim, T. 4, 85, 90, 103 f., 108, 116, 136 f., 354, 393, 401

Buridan, J. 134 Carrasco-Conde, A. 385 Casale, R. 402, 407 Casper, B. 294 Cattin, E. 4 Challiol-Gillet, M.-C. 160, 164, 280 Danz, C. 103 David, P. 159, 197 Davis, B. W. 5, 298, 304, 363, 365 f., 368, 371, 412, 434 Deleuze, G. 34, 179 Denker, A. 32, 38 f., 402 Derrida, J. 173, 315, 368 Diels, H. 363, 370, 435 Dionysos 189 Dorschel, A. 210 Durner, M. 213 Meister Eckhart 2, 158 f. Egloff, L. 4, 129, 188 Eidam, H. 4 Enders, M. 321 Eschenmayer, K. A. 90 f., 115, 164 f., 416 Ferrer, D. 4 Fetscher, I. 209 Feuerbach, P. J. A. 43 Fichte, J. G. 7 f., 11 f., 17–23, 27–30, 32, 34, 38 f., 43 f., 47 f., 51–54, 56 f., 65 f., 69, 71–73, 79, 81, 89 f., 96, 106, 110 f., 125 f., 136–138, 145, 148, 158, 163, 167, 172, 174, 176,

463 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Namensregister 222, 234, 269, 295–297, 317, 319, 321, 332–335, 337–346, 362, 389, 391, 432 Figal, G. 24, 157, 179, 305–307, 309, 321, 325, 329, 334, 336, 356, 360, 368, 370, 378, 407, 420 Fischbach, F. 255 Frank, M. 79, 282, 315, 319, 321 Frankfurt, H. 96 f., 116, 248 f., 268 Franz, A. 276 Freud, S. 180, 188, 192, 249 Friedrich, H.-J. 5 Früh, I. 2 Gabriel, G. 1, 117, 144 Gabriel, M. 283 Gadamer, H.-G. 196, 347 Gander, H.-H. 402 Gerhardt, V. 267, 404, 407 Gerlach, S. 266 von Goethe, J. W. 91, 123, 384 Gourdain, S. 5 Grøn, A. 250 Grün, K.-J. 30 Habermas, J. 115, 160, 163, 165, 191, 200, 309 Haeffner, G. 323, 420 Halfwassen, J. 156, 159 von Hartmann, E. 101 Hasebrink, B. 2 Hay, K. 114 Hegel, G. W. F. 1, 13, 28, 32 f., 54, 103, 108 f., 113, 117 f., 143, 148, 150, 164, 207–213, 215–218, 221, 225, 248, 256–258, 268, 281–283, 294–297, 309, 328, 333, 337 f., 342, 344–347, 362, 367 f., 370, 385, 387, 389, 390, 405 f., 410, 412, 415, 418 f., 429 f., 432 f., 438 an der Heiden, U. 1 Heidegger, M. 1–15, 17 f., 24, 58, 93, 95, 101–103, 113, 115, 128 f., 153, 190, 194, 207, 213 f., 246–248, 250, 267, 291, 293–438 Heinz, M. 402 Helting, H. 375

Hennigfeld, J. 106, 108, 120, 134, 144, 385, 394 f., 401 Henrich, D. 20, 24, 124, 128, 164, 308, 319 Heraklit 363, 370, 410, 435 Hermanni, F. 2, 115 von Herrmann, F.-W. 299, 432 Hesiod 148, 232 Hildebrandt, A. 5 Hildebrandt, H. 99 Hillebrand, J. 242 Hillmann, M. 2 Höfele, P. 3, 5, 70, 86, 152, 170, 183, 195, 207, 313, 360, 371, 373, 375, 388, 390, 396, 412, 420, 427, 430 Höffe, O. 124, 316 Hoffmeister, J. 208, 217 Hogrebe, W. 180, 189, 195, 246 Hölderlin, F. 32, 319, 365, 372 f., 375– 379, 382 Hoppe, H. 313 f., 331 Horn, C. 1, 117 Hühn, H. 1, 181 Hühn, L. 4 f., 25, 35, 52, 58, 74, 81, 89, 101, 117, 126, 165, 167 f., 171 f., 186, 189, 195, 197, 199, 202, 213, 244, 274, 333 f., 383 Husserl, E. 173, 299, 363 Hutter, A. 118, 274 f., 286 Iber, C. 27, 32, 52, 57, 101, 107, 231 f., 234, 240, 281, 397 van Inwagen, P. 97 Ixion 241, 243 f. Jacobi, F. H. 47, 91, 107, 125, 130, 219, 332, 390 Jacobs, W. G. 37, 62, 65, 126, 127, 139 Jähnig, D. 66 Janke, W. 145, 296 Jantzen, J. 5, 104, 111, 114, 139, 146, 183, 383 Jaran, F. 331, 335 Jaspers, K. 294 f., 338, 346, 362, 415, 419, 430 Jesus von Nazareth (Christus) 189, 288 f.

464 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Namensregister Jonas, H. 99 Jung, C. 159 Kambartel, F. 2 Kane, R. 2, 96 f. Kant, I. 1, 7 f., 11–13, 17–22, 24 f., 27, 30–32, 34, 38, 40, 44–57, 62, 66, 76, 87, 93, 96, 106, 109, 110 f., 115, 117 f., 123–132, 134–137, 139, 155, 157 f., 161–163, 170, 177 f., 183, 189 f., 200, 210, 218, 250, 255–257, 259 f., 270 f., 278, 290, 295 f., 298, 302, 308–333, 335–338, 340, 343 f., 346, 352, 366–369, 381, 391, 394, 400 f., 407, 432 f. Kasper, W. 284 Kaufmann, S. 397 Kierkegaard, S. 131, 339, 413–415, 418–423 Kisiel, T. 313 Kisner, M. 5, 241 Knatz, L. 105, 385 Knauer, R. 3 Köhler, D. 402 Koslowski, P. 2 Kranz, W. 363, 370, 435 Kronos 196 Lanfranconi, A. 152, 163, 201–204 Leibniz, G. W. 14, 52, 54, 58, 90, 107 f., 123, 392, 405 f., 411 f., 417, 432 Leinkauf, T. 93 Loer, B. 163, 171, 175 f., 178, 231 Löwith, K. 4, 14 Luther, M. 24, 129 Maio, G. 2 Marquard, O. 53 f. Marquet, J.-F. 171, 183, 185 Marx, W. 373 McTaggart, J. M. E. 251 Meck, S. 2 Metz, W. 332 Meyer, K. 403, 409 Müller, O. 133

Müller-Bergen, A.-L. 208, 227, 241, 276 Müller-Lauter, W. 402, 405 Müller-Lüneschloß, V. 150 Napoleon Bonaparte 384 f. Nestle, E. 243 Newton, I. 262 Nietzsche, F. 4–6, 8, 12, 15, 99, 114, 125, 134, 179, 181, 267, 286, 297 f., 309, 369, 377–380, 384, 399, 402– 412, 415, 417, 426, 429 f., 432–434 Noack, L. 387 Noller, J. 1, 4, 46, 76, 96, 116, 124, 211 Novalis (F. v. Hardenberg) 333 Norman, J. 4 Nusser, K.-H. 148 O’Connor, T. 2 Oedipus 36, 87, 98, 134, 166, 372 Oetinger, F. C. 25, 90, 115–117, 137, 232 f., 243 Ōhashi, R. 5 Oser, T. 4, 159, 165, 169, 172, 176, 181, 183, 185, 187, 196, 198–200 Osten, M. 37 f., 42 f. Osterwald, U. 4, 144, 267 Ottmann, H. 2 Ovidius Naso, P. 171 Pareyson, L. 240 Parmenides 176, 249 Patt, W. 403 Paulus, H. E. G. 389 Pedro, T. 4 Peetz, S. 4, 90 f., 108, 130, 135, 255, 257, 262 Peperzak, A. T. 209 Pieper, A. 33, 121, 123, 125, 131 Platon 1, 91, 118, 122, 147 f., 156, 201, 203, 235, 245, 260, 363 f., 369, 374, 388, 395, 417, 425, 433 f. Plessner, H. 263 Plitt, G. L. 28, 33, 208, 221, 276 Plotin 25, 90 f., 116, 144, 148 Plutarch 235

465 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Namensregister Pothast, U. 2 Prometheus 278, 369 Ramelow, T. A. 1, 117, 161 Rang, B. 93, 340 Rehbock, T. 2 Reinhardt, K. 372 Reinhold, C. L. 25, 41, 45–50, 72, 76, 96, 130 f., 290, 400 Ricœur, P. 1 f., 7 f., 10 f., 15, 140, 291, 412, 436, 438 Röd, W. 26, 27, 34, 81 Rosenau, H. 189 Rousseau, J.-J. 39 Roughley, N. 1, 117 Roux, A. 47, 255 Sallis, J. 332, 342, 402 Sandkaulen-Bock, B. 29, 57 Sartre, J.-P. 323 Scheier, C.-A. 396 Schiller, F. 24 f., 123 f., 132 Schirmacher, W. 247 Schlegel, F. 107, 110 f., 125, 145, 227, 390 Schlotter, S. 1, 117 Schmid, W. 2 Schmidt, A. 46 Schmidt, D. 369, 372 Schneider, H. 1 Schnell, A. 328, 334 Schopenhauer, A. 2, 5 f., 8, 12 f., 25, 99, 101, 117, 212, 233, 236, 241– 248, 309, 404–406, 408, 432 f. Schubbe, D. 247 Schulte, C. 151 Schulz, W. 24, 267 f., 274, 286, 296, 306, 317, 334, 338, 430 Schwab, P. 25, 103, 108, 144, 150 f., 155, 357, 387 f. Schwenzfeuer, S. 59, 63, 66, 81, 91, 103 f., 136, 242 Seebaß, G. 1 f., 248 Seubert, H. 402, 405 Silesius, A. 158 f.

Simon, R. 284, 327 Skowron, M. 402 Sommer, K. 5 Sophokles 232, 372 f. Spaemann, R. 2 Spinoza, B. 12, 18 f., 25–30, 32–34, 43, 59, 81, 107 f., 110, 115, 136, 158, 174, 264 Stederoth, D. 209 Stegmaier, W. 402, 407 Steinmann, M. 314, 319, 322, 340, 420, 422 Stolzenberg, J. 46, 339 Strube, C. 331, 335 Tauler, J. 159 Theunissen, M. 148, 181, 187 f., 195 f., 198 f., 201, 207, 249 f., 269, 296, 307, 309, 418 f., 421 Thomas, M. 108 Thomas von Kempen 158 f. Tilliette, X. 151, 240, 274, 284 Tömmel, T. N. 364 f. Trawny, P. 375, 430 Unger, D. 86 Vater, M. 91 Vedder, B. 402 Vetö, M. 3 Voigt, D. 2 Wagner, J. J. 387 Warnek, P. 388 Wiehl, R. 27 Wieland, W. 178, 189, 200, 206 Whitehead, A. N. 99 Xian, G. 173, 175 Xolocotzi, A. 408 Zaborowski, H. 402 Zachhuber, J. 91 Ziche, P. 25, 62, 95 Zöller, G. 7, 21–23

466 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Sachregister

Absolutes 18 f., 26–28, 32–35, 44 f., 51 f., 62, 65, 67 f., 71, 77, 79 f., 82– 86, 88 f., 92–95, 101, 103–105, 109, 112, 118, 120, 143 f., 150, 152 f., 158, 163–165, 168 f., 172, 174 f., 178, 185, 190, 192, 200–205, 207, 213–215, 220, 226 f., 231 f., 234, 237, 261–263, 333, 345, 353, 360, 368, 392, 416, 430 Abstraktion 55 f., 64, 72–74, 81, 84, 101, 112, 257 Alterität / Andersheit 9 f., 147–149, 164, 197, 233, 236 f., 240, 248 f., 287, 437 f. Anfang 25, 73, 104, 111, 116, 120 f., 159 f., 163–165, 168 f., 172 f., 175, 177, 182, 190 f., 194, 196, 221, 229, 256, 270, 285, 287, 290, 317, 370, 381, 388 f., 395, 401 – Anfänge, zwei ewige 94, 214 f., 357, 361 – anderer, zweiter 15, 69, 116, 121, 190, 194, 205 f., 237, 245, 399, 424 – erster 163, 165, 194, 223 – Von-selbst-Anfangen 318, 326 (Selbst-)Anschauung 53, 70, 73, 78, 217 – intellektuelle 58, 214, 234, 238–240 – ästhetische 78 Anthropomorphismus 115, 124, 152, 164 f., 172, 186, 282, 423, 438 anthropozentrisch 11, 44, 95, 248, 386 Anwesen(-heit) / Anwesung 6, 293, 360, 402, 409, 411 f., 417, 428 f., 433 f.

a posteriori 140, 255, 257–261, 267, 280, 284, 290 f. a priori 22, 113, 115, 140, 165, 240, 257–259, 279 f., 285, 299, 329–331 Autonomie 10, 13, 20 f., 24, 47 f., 56, 63 f., 67, 73, 98, 128 f., 161 f., 167, 173 f., 177, 181, 191, 193, 197, 199, 210, 248, 279, 309, 318, 366, 385, 391, 407 Böses 47 f., 50, 86, 102, 106, 113, 116, 121, 123–125, 127–135, 138–141, 153, 157, 161, 173, 188, 191, 212, 223, 249, 265, 291, 302, 356, 359, 361 f., 384, 387, 390, 393–398, 401 f., 407, 438 – Hang (zum Bösen) 127, 139, 299– 302 – Metaphysik des Bösen 356, 390, 393 f., 396, 402 Determinismus 97 f. Dezisionismus 1, 287 f. Ding an sich 5, 20 f., 46 f., 52–54, 72, 243, 257, 259, 333 f. Einbildungskraft 311–313, 326 f., 330, 332 f., 338, 340–343, 345, 394 Ekstase 5, 13, 102, 197 f., 213 f., 234, 237–240, 253, 263, 274, 276, 280 f., 329–331, 360, 380, 408, 423, 431 Entfremdung 55, 70, 233 Entschlossenheit 10, 24, 298 f., 304, 307–311, 314 f., 323, 329, 354 f., 367, 370, 380 f., 406–408

467 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Sachregister Entzug 103, 151, 195, 360, 373–375, 396–398, 401 f., 413, 415–417, 420, 422, 426, 428 Erinnerung / Anamnesis 180, 197, 203, 206, 214 Erzählung 140, 147, 192, 200, 202 Ewigkeit / aeternitas / sempernitas 28, 93, 111, 116, 137, 139, 153, 155, 157, 159, 170–174, 177 f., 181–183, 190, 192, 194, 196, 199 f., 203 f., 206, 250 f., 293, 428 first-order desires / second-order volitions 96, 248 f., 268 Freiheit – als Offenheit 222, 233, 237, 240, 248, 263, 318, 325, 339, 373 f., 380, 407, 432, 437 f. – Freiheit zu sein und nicht zu sein 265, 290 – absolute 37, 72, 85, 135, 167, 171 f., 138, 156, 165, 167, 220, 223, 284, 369 – ewige 95, 138, 155 f., 158, 166–168, 172, 183, 186, 189, 195, 199 f., 206, 216, 218–220, 222, 226, 228–231, 235 f., 238–240, 359, 377, 386 – transzendentale 30, 155, 325 – Wahl- / Willkürfreiheit 50, 75, 134 – Willensfreiheit 1 f., 19, 25 f., 28, 36, 48, 96 f., 105, 134, 288, 383–386, 388 Gegenwart 74, 155, 163, 171, 190, 193–198, 202–207, 213, 222, 227, 238, 250, 278, 300, 328 f., 360, 428 Gefühl 24, 50, 78, 117, 123, 128, 138 f., 156, 168, 198 f., 210, 305, 318, 321, 409 Geist 35, 45, 48, 53–57, 91, 120–122, 128, 130, 132 f., 137, 140, 142, 144, 146, 188, 209–212, 265 f., 268, 272, 277, 286, 290, 316, 341, 367, 371, 382, 385, 416 Gelassenheit / Lassen 2–5, 7, 9, 13– 15, 78 f., 94 f., 97, 101, 103, 146,

152, 159, 164, 174, 178, 190, 207, 213 f., 225 f., 228, 230, 232, 234, 239, 248, 253, 263, 269, 273 f., 276 f., 285, 290, 311, 346–348, 360– 366, 369, 379, 381–383, 431–435, 437 f. – In-sich-handeln-Lassen 128 f., 131, 308, 362 – Zulassen / Wirkenlassen 129, 131– 133, 140 f., 146 f., 190, 434 Gleichgültigkeit 159, 174, 214–217, 225, 228 f., 234, 431 Gott 12 f., 26, 27 f., 82–84, 106–110, 114–116, 119–124, 126, 129, 131 f., 138 f., 142, 144–146, 151, 159, 164 f., 173–175, 177, 183, 189, 194, 196, 235, 237, 253, 255 f., 262–271, 273, 278, 280, 283, 287 f., 350, 359 f., 369, 388, 395–397, 401 Herr des Seins 11, 13, 151, 212, 253– 256, 262, 264, 270, 273, 283, 287, 290 Hybris 167, 192, 194, 234, 249 Indifferenz 19, 63, 81 f., 86, 94, 121, 130, 143, 147, 158, 161, 185, 204 f., 214–216, 229, 357, 360 f., 431 Inkompatibilismus 97 Inständigkeit 379, 418 f., 423, 434 f. Kompatibilismus 97 f. Kontraktion / Anziehen 163–165, 167 f., 174, 176, 183, 193, 217 f., 230, 233 Kunst 52, 56, 65 f., 75, 77–79, 86, 88, 122, 259, 344, 365, 379, 406 Lichtung 360, 380 f., 397, 418 Liebe 7, 13, 15, 92, 94, 102, 105 f., 112, 120–122, 132, 141–150, 161, 183–185, 215, 248, 361–365, 378 f., 382, 392, 416, 429 f. Mitwissenschaft 189 Mythos / Mythologie 140, 147, 162, 171, 192, 202 f., 206, 254, 275, 343

468 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Sachregister Natur 3, 19, 22, 27, 32, 38, 42, 51 f., 55–63, 65–73, 79 f., 82, 87, 90 f., 93– 95, 98 f., 105, 110, 112, 115, 120– 122, 126, 130–133, 135, 142, 180 f., 183, 191 f., 194 f., 211, 222, 233, 236–238, 241, 243, 247, 259, 269, 278, 282, 285, 316, 344 f., 353, 359, 391 f. Negativität / Negativismus 102, 137, 150, 153, 156, 162, 165, 177 f., 182, 188 f., 191 f., 196, 213 f., 220 f., 245– 247, 250, 360, 429 Neigung 8, 123 f., 132, 210 f., 302 Notwendigkeit 26, 28 f., 32, 34, 36, 62, 69, 79, 81, 84, 86–88, 97 f., 135, 156 f., 160 f., 165, 167, 175, 194, 231, 286, 329, 333, 369, 373, 406, 418 Panpsychismus 99 Pantheismus 106–108, 110, 125, 350, 390, 392 Passivität 95, 107, 131, 141, 198, 207, 237 f., 240, 248, 310, 318, 332, 438 Person / Persönlichkeit 28, 94, 96, 105, 121 f., 145 f., 183, 188, 247, 249, 270–272, 283 f., 287, 289, 301, 317, 319, 322, 325, 361 f., 384 physiozentrisch 11, 98 f. Potenz 12, 70, 75 f., 86, 92, 97, 112 f., 117, 120, 142, 145, 148, 152, 211 f., 229, 231, 233–236, 243, 247, 266– 269, 271–273, 277–280, 284–289, 435 Prinzip 3, 8 f., 18, 20 f., 29, 44, 47, 51, 63, 91, 93, 98, 112–114, 119 f., 126, 131, 142 f., 145, 147–150, 154 f., 157, 165, 173 f., 176–178, 181–183, 185, 192 f., 216, 260–262, 269, 279, 284, 290, 390 – Prinzipiendualismus 170, 172, 175 f. Offenbarung 83, 122, 139, 170, 254, 264, 269, 275, 359 Organismus 67, 91, 95, 180, 206, 289, 345, 353

Rotation / Kreisen 153, 157, 160, 163, 170, 181, 188, 191–193, 195, 200, 205, 224, 226, 236, 238 f., 243, 245 f. Scheidung von sich / in sich 13, 74, 98, 102, 122, 148, 153 f., 164 f., 176, 180, 186–194, 197–200, 203, 206 f., 234, 239, 248, 264 f., 354, 432 Schicksal 36, 86 f., 134, 176, 191, 326, 369 f., 376–378, 384 f. Sehnsucht 8, 97, 106, 116–124, 142, 147, 174, 187, 212, 236 f., 243, 246 f., 271, 351, 408, 437 Seinkönnen 12, 220, 230 f., 233 f., 260, 267, 279 f., 284, 300 f., 305– 307, 314, 322 f., 326, 339, 351 f., 420, 422 Selbstbewusstsein 23, 52–54, 57–59, 66, 68, 73, 84, 91, 98, 105, 136, 212, 222, 317, 319, 321–323, 326 f., 331, 339 f., 343, 351 Selbsteinschränkung / Zimzum 151 Seynsfuge 93, 396, 398, 401 f. Streben / appetitus 1, 14, 29–31, 36– 39, 49, 60 f., 63, 76, 78, 95, 120, 123, 139, 162, 167, 170, 186, 199, 220, 233, 236, 372 f., 392, 406, 413 Sucht 90, 116, 131, 137, 139, 236, 244, 246, 261 Sünde / Abfall 80, 86, 88 f., 138 f., 167, 177, 191, 232, 258, 281, 283 System 8 f., 20, 29, 34–36, 45, 51 f., 56, 59, 66 f., 81, 86, 98, 102, 104– 107, 110, 112 f., 125–127, 131, 134, 141–143, 145–147, 149–151, 153– 156, 166, 173 f., 177, 201, 205–207, 209, 212–217, 220, 225, 234, 240, 253, 255 f., 281, 283, 286, 332, 338, 342–344, 362, 384, 386–388, 390– 392, 394, 398–402 Tat, intelligible / außerzeitliche 125– 129, 131, 135–138, 140 f., 157, 189, 278, 302, 381 Tathandlung 53, 89, 111, 136, 158, 172, 317, 334, 337

469 https://doi.org/10.5771/9783495820834 .

Sachregister Tatsache 256, 258–260, 262, 267, 290, 411 Tragik 3, 9, 13, 28, 33, 36 f., 70, 76 f., 80, 85–88, 98, 101, 105, 128 f., 131, 133–135, 137–141, 150, 157, 162 f., 166 f., 170, 174, 176–179, 184, 190, 212, 218–220, 223, 226 f., 229, 232, 244, 263, 276–278, 365 f., 369–373, 383 f., 388, 401, 438 Tragödie 36, 52, 86–88, 137, 140, 372 Transmutation / (Wieder-)Umwendung 127 f., 140, 157, 178, 181, 189, 191, 200, 213, 226, 238 Trieb 22, 41, 72, 75 f., 97, 123 f., 209– 211, 299 f., 303, 359 unbewusst / bewusstlos 50 f., 64, 66, 69 f., 73 f., 77–79, 97, 120, 122, 149, 174, 225, 411 Ungrund 13, 80, 94, 103–105, 119, 141, 143–145, 147, 149 f., 152, 156, 158, 161, 243, 261, 263, 274, 285, 290, 348, 350, 357–362, 401, 431 unvordenklich 9, 13, 227, 274, 284, 287 f., 290 unwillkürlich 121, 163, 166, 220, 230, 232 f., 263 Verbergung 269, 360, 369, 429, 433, 436 Vergangenheit 9, 65, 74, 98, 155, 162, 170 f., 180, 188, 190, 193–199, 204 f., 223, 251, 265, 328–330, 353, 396, 432 Verkehrung 39, 106, 182, 184, 191– 193, 212, 219, 245 Vernunft 1, 4, 13, 20, 22 f., 32, 36 f., 47–49, 76, 81 f., 91, 95, 107, 115, 117, 122, 124 f., 127, 129–132, 135, 145, 148, 164 f., 215, 218, 258, 260– 262, 265, 267, 274, 277, 279–281, 283–285, 290, 299, 302, 314, 325, 332, 342, 345, 391, 394, 412 – gelassene 274, 279, 281 Verstand 1, 82 f., 97, 106, 114, 117– 124, 130, 132, 142, 150, 187, 194, 212, 218, 225, 247, 260–262, 271,

273, 286, 305, 328, 332, 351, 356, 381, 394, 408, 427, 429 f. Wiederkehr (des Immergleichen) 162, 168, 179–181, 186–188, 190, 193, 195, 200, 234, 250, 404 f., 410 f. Wille / Wollen – als Ursein 6, 17, 80, 102, 104, 106, 111, 113 f., 116, 126, 138, 144, 149 f., 161, 242 f., 247, 263, 271, 275, 285, 293, 348, 351, 356–358, 392, 398, 403, 412 f., 416 f., 426, 432, 436 – Eigen- / Partikularwille 106, 121, 124, 131–133, 141, 150, 212, 356, 375, 377 f. – Gewissen-haben-Wollen 298, 304 f., 307, 309–312, 314, 318, 323, 326, 348 – Nicht(s)-Wollen 2, 7, 13 f., 102, 160, 213, 215, 217, 226, 246–248, 251, 253, 257, 265, 269 f., 272 f., 277, 281, 376 f., 410, 430 f., 433– 435, 437 – Sich-(selbst-)Wollen 61, 92, 112, 116, 144, 366, 429 f. – Wider- / Gegenwille 375–378 – Wille / Willensakt, absoluter 40 f., 50, 69, 72, 75 f., 97, 112, 136 – Wille der Liebe 121 f., 144, 146, 149, 161, 215, 365, 379, 429 – Wille des Grundes 106, 121 f., 132, 144, 146, 161, 215 – Wille in dem Willen 106, 117, 120, 187, 212, 225, 247, 430 – Wille zur Existenz 169, 170–172, 178, 184 f. – Wille zur Macht 4, 6, 12, 99, 267, 377, 403–408, 410–413, 415, 426, 429 f., 433 – Wissen-Wollen 102, 176, 212, 218–221, 223 f., 234, 244, 281, 371, 375, 381 – Universalwille 106, 124, 131–133, 138, 212, 249, 355 f., 429 – unselbstischer 225, 231 – Unwille 265

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Sachregister – Ur- und Grundwollen 137 f., 141 Willkür 46, 49 f., 68, 75 f., 96 f., 99, 127, 211, 222, 245, 263, 302 Zeitlichkeit 8, 10, 149, 153, 160, 182, 189 f., 192, 194, 198, 247, 300, 312, 326–328, 330, 333–336, 342, 360, 418

– chronologische (Sukzessions-)Zeit 196 f., 205 – Temporalität 312 f., 334, 336, 360 – Zeit, dimensionierte 171, 194, 197, 199, 205, 300, 303, 328, 330, 428 Zeitlosigkeit 93, 161, 182 f., 201 Zukunft 71, 155, 163, 165, 187 f., 194–200, 202–207, 251, 273, 300, 328, 330, 424, 428 f.

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